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DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Moralweltmeister

Die Angst
Deutschland

vor
Gunter Sachs zog daraus die
extremste Konsequenz und nahm
Fukushima, Libyen,
die Tötung Osama bin
Ladens: Die Deutschen
wissen es immer besser.
Gutmenschen nerven,
findet Josef Joffe. Sie sind
sich das Leben. Was Hoffnung nötiger denn je, antwortet
Katrin Göring-Eckardt
macht: Mediziner zeichnen längst
Politik Seite 2–4
ein positiveres Bild vom Umgang mit Feuilleton Seite 49
der Krankheit und den Patienten
Illustration: Smetek für DIE ZEIT

Der alte Mann und


das Drama der FDP
WISSEN SEITE 37–40

Ein Gespräch mit dem

Schluss mit luftig Es grünt im Klub Ehrenvorsitzenden


Hans-Dietrich Genscher.
Und: Philipp Rösler
versucht, sich die
Die EU hat alles versucht, um Griechenland aus der Krise zu helfen. Mit der Wahl Winfried Kretschmanns zum Ministerpräsidenten Zukunft vorzustellen
Jetzt hilft nur noch ein Schuldenschnitt VON UWE JEAN HEUSER etabliert sich die dritte deutsche Volkspartei VON GIOVANNI DI LORENZO Magazin; Politik S. 7

D A
er Fall Griechenland zerrt an Finnland – bis die europafeindlichen Rechts- uch wenn man die Grünen nie sie für die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte ZEIT ONLINE
Europa wie kein Problem zuvor. populisten im April fast 20 Prozent der Stimmen gewählt hat, jetzt kann man ihnen tatsächlich gewesen sind: eine große Erfolgs-
Doch das heißt nicht, dass sich holten. In Deutschland spielen FDP-Politiker nur Glück wünschen. Am Don- geschichte, jede Volkspartei für sich eine kleine Bienen am Schaalsee. Wellen
der Kontinent ins Weiter-so mit dem europäischen Feuer und torpedieren die nerstag wird die erste Landes- Koalition, bestrebt, möglichst viele Menschen am sardischen Strand. Kleine
flüchten darf. Er muss sich deutsche Beteiligung am Rettungsfonds. Die regierung in Deutschland unter mitzunehmen, statt Standesinteressen oder Be- Augenblicke, die verzaubern
öffnen für etwas Unerhörtes: Mehrheit haben sie nicht einmal in ihrer Partei Führung eines grünen Minister- rufsgruppen zu vertreten.
eine unerprobte Lösung mit ungewissen Folgen. hinter sich, wohl aber die Stimmung. Und wenn präsidenten vereidigt, und es steht dabei mehr Das alles haben die Grünen nahezu geschafft, Eine neue Videoserie unter
www.zeit.de/video-momente
Aus Berliner Sicht sieht jede Antwort zunächst auch Spiegel Online gerade mit der Meldung auf dem Spiel als der Erfolg einer grün-roten Ko- und darin liegt eine Chance: In einer Zeit, in
einmal gleich unattraktiv aus. Ob man Hellas überzog, die Griechen überlegten, aus dem Euro alition in Baden-Württemberg, die für sich schon der die Zersplitterung der politischen Land-
aufs Neue rettet oder umschuldet, man macht auszutreten: Selbst dort, im Land, in das so viel eine historische Zäsur in der Parteiengeschichte schaft in lauter Klientelparteien befürchtet wird, PROMINENT IGNORIERT
sich unbeliebt. Geld fließt, wächst die Lust auf einen Befreiungs- ist. Es geht auch um die Hoffnung auf politische könnte eine dritte Volkspartei entstehen – voraus-
»Retten« ist ein hübsches Wort, aber die Deut- schlag, so desaströs seine Folgen wären. Erneuerung in Deutschland und um die grund- gesetzt, die SPD, die zweite Volkspartei, bleibt
schen können es nicht mehr hören. Es kostet nur Jeder verfolgt eigene Interessen im Spiel um legende Frage, ob und in welcher Form Volks- auch eine.
wieder Milliarden, und trotzdem beschimpft die Zukunft des Euro. Der Rettungsfonds will parteien eine Zukunft haben. Die baden-württembergischen Sozialdemo-
Europa uns, weil wir – und was könnte uns im weiter retten, die EU dabei mitregieren. Sogar die Grün-Rot also – ein politischer Umsturz aus- kraten haben kaum mehr als 23 Prozent der
Ausland unbeliebter machen – Disziplin im Ge- Europäische Zentralbank ist Partei, seit sie gegen gerechnet in einem wohlhabenden Bundesland, Stimmen auf sich vereinen können, bei diesem
genzug für unser gutes Geld verlangen. den erklärten Willen des damaligen Bundesbank- das jahrzehntelang als Trutzburg von Parteien Ergebnis ist ein Kriterium der Volkspartei schon
»Umschulden«, die andere Möglichkeit, ist chefs Axel Weber die ersten Staatsanleihen kaufte. galt, die einst als bürgerlich bezeichnet wurden. nicht mehr erfüllt. Die Entscheidung Kretsch-
auch eine hässliche Sache, die im Englischen Käme es jetzt zum griechischen haircut, dann Man hat das als fällige Reaktion auf eine 58 Jahre manns, der SPD dennoch die Mehrzahl und die
haircut heißt. Dabei würden die Griechen einen würde ihre Bilanz besonders stark leiden. währende Herrschaft der CDU (mit zeitweiliger wichtigsten Ministerien der Landesregierung zu
Skandal auf Samoa
Teil ihrer Schulden einfach wegschneiden. Ver- Nein, Ruhe wird in keinem Fall eintreten, Hilfe der FDP) interpretiert. Als Ausdruck einer überlassen, ist ihm als Zeichen der Schwäche Dass der Inselstaat Samoa, bislang
gessen. Nicht mehr bezahlen. Auch das käme alle auch nicht beim haircut. Deutschland wäre mit Stimmungswahl, die ohne die Reaktorkatastro- ausgelegt worden. Womöglich war es aber auch östlich der Datumsgrenze gelegen,
teuer zu stehen. Die Griechen, denen erst einmal einem Schlag Milliarden los, einige seiner Banken phe in Fukushima undenkbar gewesen wäre. ein Akt der Klugheit gegenüber einem Partner, beschlossen hat, um den Austausch
niemand mehr Kredit gewährte, ebenso wie die brauchten neue Hilfen, und für Griechenland Aber die Diagnose ist unvollständig, wenn sie der sich tief gedemütigt fühlen muss. Das ist mit dem westlich gelegenen Aus-
Deutschen und andere, die ihnen Geld liehen müsste Europa eine Art Marshallplan auflegen, nicht ein anderes Symptom berücksichtigt, das umso generöser, als Kretschmann und seine Mit- tralien zu erleichtern, dessen Da-
und Teile davon nie mehr wiedersähen. damit der Südosten der Union nicht abstürzt. für die etablierten Parteien die stärkste Heraus- streiter in den Wochen der Koalitionsverhand- tum anzunehmen, also einen Tag
Und doch hätte der Schock etwas Heilsames. forderung seit der Wiedervereinigung darstellt: lungen schwer an der SPD gelitten haben: Sie zu überspringen, ist schlicht ein
Europa will sich Ruhe kaufen. Aber die Warum sind wir denn in einer fortdauernden Noch nie waren die Präferenzen der Wähler so beklagten das Fehlen jeder politischen Fantasie, Skandal. Wenn jeder das Datum
ist auch für Geld derzeit nicht zu haben Schuldenkrise? Weil Banken und Fonds zockten, schwer voraussehbar, noch nie schienen sie so das Beharren auf Posten und alten Positionen. (»das Gegebene« notabene) nach
als gäbe es kein Morgen – und der Staat, der entschlossen zu sein, ihre Wut zu demonstrieren Paradoxerweise stellte ein Erfolg von Grün- Belieben festlegte, würden Schul-
Retten oder nicht retten? Europa spielt eine neue nicht aufgepasst hatte, deshalb unser aller Geld – sei es durch Wahlboykott, sei es durch die Rot in Baden-Württemberg für die SPD eher ein den nicht getilgt, Geburten hinfäl-
Runde seines seit Ausbruch der Schuldenkrise retten musste. Wenigstens einmal sollten Finanz- Stimmabgabe für eine Partei, die sie früher nie Risiko dar. Der Rest der Republik könnte sich an lig, und dieses Glösslein wäre
währenden Spiels. Diejenigen, die – überwiegend institute und Spekulanten mitbezahlen. Viele gewählt hätten. Das hat diesmal Grüne und den Gedanken grüner Ministerpräsidenten ge- längst Makulatur. GRN.
mit anderer Leute Geld – großzügig neue Milliarden haben griechische Staatsanleihen gekauft. Grie- SPD an die Regierung gebracht. Doch dieser wöhnen, als Nächstes bei den Wahlen zum Ber-
ausschütten wollen, positionieren sich als die guten chenland umzuschulden würde deshalb das Si- Erfolg ist nicht mehr als eine Belobigung auf liner Abgeordnetenhaus. kleine Abb. (v.o.n.u.): DZ-Grafik (nach einer
Idee von Markus Roost); Jonas Unger für DZ;
Europäer. Die Skeptiker aus dem Norden stehen im gnal an alle Hasardeure senden: Nehmt eure Bewährung. Aus dieser Gefahrenlage kommen die Sozial- Mauritius
Süden als Geizhälse da, obwohl doch alle gleicher- Verantwortung ernst, der Staat steht nicht im- demokraten nur heraus, wenn sie wieder Anker
maßen wissen, dass es ohne Europa nicht geht. mer für euch ein! Grün-Rot – ein politischer Umsturz in die ganze Gesellschaft werfen, die sie aus ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Wir erleben einen Austausch von Forderun- So ungewiss die genauen Folgen einer Um- ausgerechnet in Baden-Württemberg Rücksicht auf ihre Parteibasis aus den Augen ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
gen, Schuldzuweisungen und Dementis, in dem schuldung sind – allein das wäre ein ungemein verloren haben, und bei der Auswahl ihrer Spit- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
eigentlich niemand seiner Sache sicher sein dürf- wertvolles Signal. Was dagegen geschieht, wenn Der neue Ministerpräsident Winfried Kretsch- zenkandidaten weniger auf die Stimmung der Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
te. Sooft dieser Tage in Ministerien, Geheimrun- Europa immer weiterzahlt, zeichnet sich schon mann ist sich seiner Verantwortung offenbar be- Parteifunktionäre als auf die Erfolgsaussichten DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
den und Medien die Szenarien rauf- und runter- ab. Irland, seit einem halben Jahr unter dem wusst. Schon in der Stunde des Wahltriumphs bei den Wählern achten.
ABONNENTENSERVICE:
buchstabiert werden – keiner weiß annähernd, Rettungsschirm, will weniger Vorgaben und erinnerte er daran, nun gelte es, die Erwartungen Auch in diesem Punkt haben die Grünen in Tel. 0180 - 52 52 909*,
was kommt. Klar ist einzig, dass die Griechen mit niedrigere Zinsen. Wer wollte sie den Iren ab- der Bürger zu erfüllen, die zum ersten Mal Grün Baden-Württemberg ein Beispiel gegeben: Vor Fax 0180 - 52 52 908*,
dem ersten, 110 Milliarden Euro schweren Hilfs- schlagen, wenn die Griechen sie bekommen? Es gewählt hätten. In Interviews sprach er davon, einem Jahr, bei der Aufstellung der Spitzenkan- E-Mail: abo@zeit.de
**) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz,
paket nicht auskommen und uns nicht nur Bürg- gäbe kaum noch ein Halten. Europa kann eben man wolle keine »feindliche Übernahme des didaten zur Landtagswahl, stellte eine linke max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz

schaften, sondern echtes Geld kosten werden. nicht nur an zu wenig Solidarität zerbrechen, Landes«, und er lobte den Amtsstil seines Vor- Fronde in der Partei dem Zugpferd Kretschmann PREISE IM AUSLAND:
Viel Geld. sondern auch an zu viel. vorgängers Erwin Teufel von der CDU. Auch noch misstrauisch ein Team zur Seite. Als Mi- DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/
Eigentlich sollte Griechenland schon im Jahr Sosehr sie die Gefahren einer Umschuldung wenn er vor der Wahl Wert auf die Feststellung nisterpräsident hat er sich nun der Jahrhundert- Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/
CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/
2012 wieder gesund sein, doch könnte die Gene- beschwören, so beharrlich verschweigen die legte, dass die Grünen eine volksnahe und keine aufgabe zu stellen, in einer der wirtschaftlich L 4,50/HUF 1605,00
sung das ganze Jahrzehnt über dauern. Gleich- »guten Europäer« also, an welche Abgründe ihr Volkspartei sein wollten, weil dies ein überholter stärksten Regionen Europas die Ökonomie des
AUSGABE:
wohl verlangen die EU, die Euro-Gruppe und die eigener Weg führt. Die entscheidende Frage ist Begriff sei, so lassen diese Erklärungen doch den Landes mit der Ökologie zu versöhnen; nun
2 0

Zentralbank, dass Europa weiter für die Griechen aber nicht, wer der bessere Europäer ist, da haben Schluss zu: Die Grünen unter Winfried Kretsch- muss er nach den aufreibenden Auseinanderset-

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bezahlt. Angeführt vom Euro-Gruppen-Chef alle führenden Politiker einschließlich Angela mann sind auf dem besten Wege, das zu werden, zungen um Stuttgart 21 auch einen Konsens
4 190745 104005

Jean-Claude Juncker, dem Vertreter des kleinen Merkel ihre Defizite. Die Frage ist vielmehr, was was gemeinhin eine Volkspartei ist. finden. Geschockt von einigen fanatischen For-
Luxemburgs, will das offizielle Europa Ruhe, was auf lange Sicht besser für Europa ist. Nach der Definition von Parteienforschern derungen von Baum- und Bahnhofsschützern,
sie auch kostet. Bloß ist Ruhe nicht zu haben. Die Antwort gibt die Wirklichkeit: Die Ret- zeichnen sich Volksparteien heute vor allem da- plädiert er bereits für den »zivilisierten Streit«.
Zwar beruhigen sich die Spekulanten in aller tung Griechenlands hat trotz aller Milliarden durch aus, dass sie ungefähr 30 Prozent der Wäh- Konsens? Zivilisierter Streit? Klingt verdammt
Welt, wenn Europa weiter zahlt. Aber was ist mit nicht funktioniert. Europa sollte die Umschul- ler vertreten und durch ein relativ unideologi- nach regierungsfähiger Volkspartei: Willkommen
Bürgern und populistischen Politikern? dung wagen. sches Parteiprogramm wählbar für Bürger aus im Klub!
Schon jetzt sind viele erzürnt. Niemand schien unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten 6 6 . J A H RG A N G
europäischer gesinnt als der EU-Musterschüler www.zeit.de/audio sind. Das klingt weit unattraktiver als das, was www.zeit.de/audio C 7451 C
2 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 POLITIK
M O R A LW E L T M E I S T E R D E U T S C H L A N D
Worte der Woche
Ob Deutschland sich bei der Entscheidung der Der Vorwurf steht im Raum: Die Deutschen Alleingang der Bundesregierung beim geplanten
» Das waren die längsten
40 Minuten meines Lebens.«
Vereinten Nationen über einen Militäreinsatz
gegen den libyschen Diktator Gadhafi enthält, die
wüssten wieder einmal alles besser. Aber stimmt
das? Sind wir wirklich Moralweltmeister?
Ausstieg aus der Kernenergie: »Jedes Land
diskutiert bestimmte Fragen besonders gründlich«
Barack Obama, US-Präsident, auf die Frage,
wie er sich während des tödlichen Angriffs auf
Regierung mal eben aus der Kernkraft aussteigen Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt (diese Seiten). Und Adam Soboczynski erklärt,
Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden gefühlt habe will oder das Land erregt über die Tötung des und ZEIT-Herausgeber Josef Joffe streiten über warum der moralische Idealismus, der nun wieder
»Pakistan behält sich vor, mit voller Al-Qaida-Chefs bin Laden diskutiert – manch das deutsche »Gutmenschentum« (Seite 4). zum Vorschein kommt, tief in der deutschen
Kraft zurückzuschlagen.« einer im Ausland wundert sich in diesen Tagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigt den Geistesgeschichte wurzelt (Seite 49)
Yousuf Raza Gilani, Regierungschef Pakistans,
nach dem aus seiner Sicht rechtswidrigen Einsatz
der Amerikaner auf dem Staatsgebiet seines
Landes, der sich nicht wiederholen dürfe

»Ausbüxen gibt’s nicht mehr«


»Diese Leute werden in den
sicheren Tod geschickt.«
Laura Boldrini, UNHCR-Sprecherin in Italien,
zum Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer

»Ich bitte alle: Lasst Griechenland


in Frieden seinen Job tun.«
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt ihre ganz persönliche Energiewende, warum die Deutschen besonders fundamental
Giorgos Papandreou, griechischer Premierminister,
zu den Gerüchten, sein Land drohe aus der über Kernenergie streiten und warum Deutschland auch mit mehr Windrädern ein schönes Land bleiben wird
Euro-Zone auszuscheiden

»Diejenigen, die das Treffen DIE ZEIT: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das ZEIT: Wo waren Sie am 12. März, wie haben Merkel: (lacht nicht) Ich habe nachgeschaut, ob nicht gestellt haben. Sie mahnen nun, wir soll-
organisiert haben, haben ein schwerste Projekt Ihrer Amtszeit vor sich: die Sie von der nuklearen Katastrophe erfahren? das Wort »Brückentechnologie« vorkommt. Es ten aufpassen, dass der Strom bezahlbar bleibt.
ziemliches Desaster angerichtet.« Energiewende. Ist Ihnen bewusst, dass Freund Merkel: Ich war in der Nacht vom EU-Rat aus kam vor. So war ich zufrieden. Schauen Sie, die Das war für die Union immer schon ein zen-
und Feind große Schwierigkeiten haben, da Brüssel zurückgekehrt. Schon das Erbeben und Volkspartei CDU ist vielleicht diejenige Partei, traler Gedanke. Dieser ganze Prozess führt nun
Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialisten im
EU-Parlament, zu dem zunächst geheimen mitzukommen? die Bilder von der gewaltigen Flutwelle hatten die in dieser Frage die größte Spannbreite von vielleicht dazu, dass die Gesellschaft den Aus-
Treffen von Vertretern der Euro-Zone Angela Merkel: Es ist ein interessantes, span- mich tief erschüttert. Während der Sitzung des Meinungen hat. stieg als gemeinsame Anstrengung annimmt
nendes und großes Projekt. Aber ich weiß nicht, EU-Rates haben mich Mitarbeiter des Kanzler- ZEIT: Der Riss geht quer durch CDU und und auch Nachteile – siehe Netzausbau, siehe
»Ich war immer gerne ob es das schwerste ist. amtes über die dramatischen Ereignisse stets auf CSU. Speicherwerke, siehe Windmühlen im Land-
Fraktionsvorsitzende.« ZEIT: Mit das schwierigste! dem Laufenden gehalten, am Freitagabend hat- Merkel: Ja. Die Grünen haben damit kein Pro- schaftsbild – in Kauf nimmt, weil wir uns alle
Merkel: Natürlich hat das entsetzliche Unglück te Japan ja den atomaren Notstand ausgerufen. blem, für sie ist die Sache klar, das Thema ist ein gemeinsam auf einen ehrlichen Weg machen
Birgit Homburger nach ihrem eher widerwilligen
von Fukushima, dessen ganzes Ausmaß ja im- Als ich Samstag früh aufstand, sah ich im Fern- Gründungsimpuls dieser Partei. Bei uns stellen müssen.
Verzicht auf den FDP-Fraktionsvorsitz
mer noch nicht abzusehen ist, uns vor eine un- sehen Berichte von der Wasserstoffexplosion im sich viele die Fragen: Kann Deutschland es ZEIT: Bevor wir uns der Zukunft zuwenden,
»Die FDP hat immerhin erwartete Situation gestellt. Daraus jetzt die Kernkraftwerk. Ich bin dann zu einer Wahl- schaffen? Ist es wirtschaftlich? Trägt das Ver- wollen wir noch ein paar Minuten nachtragend
nötigen Konsequenzen zu ziehen kann zum kampfveranstaltung nach Rheinland-Pfalz ge- trauen in die erneuerbaren Energien? Deshalb sein.
Humor.« ersten Mal zu einem umfassenden Konsens in fahren. Die Stimmung dort war sehr gedrückt. wird es in den kommenden Wochen wichtig Merkel: Bitte!
Volker Beck, Geschäftsführer der dieser Frage, zu einem Zusammenrücken der Alle standen unter dem Eindruck der vielen sein, diese Bedenken ernst zu nehmen und da- ZEIT: Haben Sie, als Sie die Bilder von Fukus-
Grünen-Fraktion, zu den Personalquerelen Gesellschaft führen, auch wenn einige Unter- Todesopfer, der Zerstörung und eben auch der rauf Antworten zu finden. hima gesehen haben, die Laufzeitverlängerung
der Liberalen schiede bleiben. nuklearen Gefahr, die offenkundig wurde. ZEIT: Sie haben ja zwei Wenden in der Atom- bereut?
ZEIT: Was war für Sie als Politikerin und als ZEIT: Sie haben sich gerade an die bedrückte energie vollzogen, erst eine Verlangsamung des Merkel: Nein, ich spürte aber sofort, dass das,
»Wenn wir alle ein bisschen Physikerin das Unerwartete? Stimmung im Wahlkampf erinnert. Glauben Ausstiegs und jetzt eine Beschleunigung des was ich damals aus Überzeugung vertreten habe,
zusammenrücken, haben wir Merkel: Ich habe persönlich nicht erwartet, dass Sie, den Deutschen wäre ein Festhalten an den Ausstiegs. Sie haben im letzten Herbst zur Lauf- auf den Prüfstand muss. Wir haben über die
dazwischen viel mehr Platz für das, was ich für mich bis dahin als ein theoreti- verlängerten Laufzeiten vermittelbar gewesen? zeitverlängerung gesagt, dass die Kernenergie Laufzeitverlängerung jahrelang gesprochen – im
Natur.« sches und nur deshalb verantwortbares Rest- Merkel: Ich habe mich nicht gefragt, was ver- nicht länger als »unbedingt notwendig« laufen Übrigen auch im Wahlkampf –, es konnte also
Matthias Horx , »Zukunftsforscher« und Gründer
risiko gesehen hatte, Realität wird – und zwar in mittelbar ist, sondern ich hatte – wie viele ande- solle. Damals waren für Sie aber viel längere keiner überrascht sein, dass wir das getan haben.
des Zukunftsinstituts, über eine ökologischere einem Hochtechnologieland wie Japan. Wie re mit mir – den Impuls, dass wir unsere Ent- Laufzeiten »unbedingt notwendig« als heute. Ich habe, wie gerade dargestellt, schon im
Stadtplanung sehr aber auch ein Industrieland wie Japan, das scheidungen vom letzten Herbst und damit die Wieso? Herbst bedauert, dass wir nicht ausreichend
an technischem Können, Disziplin, Ordnung, Sicherheitsstandards in Deutschland noch ein- Merkel: In der Tat: Wir haben gesagt, auch wir deutlich machen konnten, dass es uns wirklich
»Blut! Es ist immer Blut. Da Gesetzlichkeit uns in nichts nachsteht, davon mal auf den Prüfstand stellen müssen. Vermit- steigen aus der Kernenergie aus – dieser Kon- um einen konsequenten Weg ins Zeitalter der
schreien die Leute.« erschüttert werden kann und in welche Lage die telbar ist es dann – das sage ich jetzt auch als sens, den es in Deutschland gibt, wird oft über- erneuerbaren Energien geht. Gerade auch als
Menschen dort gestürzt wurden – das ist das Parteivorsitzende der CDU –, wenn wir nach- sehen –, allerdings später als bei Rot-Grün, des- ehemalige Umweltministerin habe ich das be-
Wes Craven, Horrorfilmregisseur, auf die Frage,
wovor sich die heutige Jugend grusele
« Einschneidende dieser Kata-
strophe. Ich weiß, dass andere
Menschen vor solchen Gefah-
» Ich habe nicht
weisen können, dass wir halb die Laufzeitverlängerung. Das unterschei-
Wirtschaftlichkeit und Um- det uns Deutsche von weiten Teilen Europas:
weltfreundlichkeit vernünf- Wir bauen keine neuen Kraftwerke. Wir steigen
dauert. Andere haben uns den Vorwurf ge-
macht, wir würden den Energieversorgungs-
unternehmen einen Gefallen tun, damit die
ren durchaus gewarnt haben; tig zusammenbringen. Die aus. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren möglichst viel erlösen.
ZEITSPIEGEL für mich lagen sie für ein Hoch- erwartet, dass das, was CDU hat mit der sozialen Energien erreichen. ZEIT: Und das stimmte gar nicht?
technologieland mit hohen Si- ich für mich bis dahin Marktwirtschaft schon ein- Unser Energiekonzept vom Herbst hat eine Merkel: Das hat nie gestimmt. Durch unser
cherheitsstandards bis vor Kur- als ein theoretisches mal vermeintlich Unver- klare Zielsetzung: Deutschland soll konsequent Energiekonzept wurden die Energieversor-
Ausgezeichnet zem außerhalb dessen, was ich
in meinem Leben erleben wer-
und nur deshalb
verantwortbares
söhnliches zusammen- den Weg in die erneuerbaren Energien gehen.
gebracht, nämlich Kapital Nur so lange, wie sie auf diesem Weg notwen-
gungsunternehmen erheblich belastet. Ihre
wirtschaftliche Lage ist im Übrigen nicht so ex-
de. und Arbeit. Jetzt haben wir dig ist, soll die Kernkraft noch eine Rolle spie- orbitant gut, dass sie jede Belastung schultern
Das ZEITmagazin wurde am vergangenen ZEIT: Was hat ein Physiker Restrisiko gesehen die Chance, auch die Ver- len. Wir haben also ein in sich schlüssiges Kon- könnten. Wir haben schließlich ein Interesse an
Wochenende mehrfach ausgezeichnet. Am
Freitag bekam Susanne Leinemann in Ham-
eher vor Augen, das Restrisiko
oder die große Wahrscheinlich-
hatte, Realität wird « pflichtung, Wirtschaftlich- zept erarbeitet. Aus heutiger Sicht würde ich
keit und Umweltfreundlich- sagen: Wir haben im Herbst einen durchaus
erfolgreichen großen heimischen Energieerzeu-
gern; die Stadtwerke alleine werden es nicht
burg den Henri-Nannen-Sonderpreis für ihr keit, dass nie etwas passieren keit unter der Leitlinie der machbaren Weg in das Zeitalter der erneuer- schaffen.
Stück »Der Überfall« (Nr. 49/10). Darin be- wird? Nachhaltigkeit zusammenzubringen. Es geht baren Energien beschrieben – und damit schon ZEIT: Es entstand auch der Eindruck, dass Sie
schrieb sie, wie Jugendliche sie brutal zusam- Merkel: Die Frage muss anders gestellt werden. darum, unseren Anspruch als Industrieland in weit mehr getan als Rot-Grün damals. bei Ihrer Entscheidung unter Druck gesetzt
menschlugen. Am Samstag wurde das ZEIT- Jeder Mensch muss in seinem Leben Risiken Einklang zu bringen mit unserem Ehrgeiz, eines ZEIT: Ein bequemer Weg! wurden.
magazin bei der Preisverleihung des Art Di- eingehen. Auch die Teilnahme am Verkehr, wo Tages ganz auf die erneuerbaren Energien zu Merkel: Nein, das im Herbst formulierte Ziel, Merkel: Ein falscher Eindruck, niemand setzt
rectors Club (ADC) in Frankfurt am Main ich jeden Tag überrascht werden kann, ist ein setzen. Wir werden es schaffen, viele dafür zu im Jahr 2050 80 Prozent unseres Stroms aus Er- mich unter Druck.
elfmal ausgezeichnet. Damit war es der meist- Risiko, das ich eingehe. Aber das Risiko bei der begeistern. neuerbaren zu beziehen, ist schon sehr ambitio- ZEIT: Mehrere namhafte Wirtschaftsvertreter
prämierte Titel und zugleich der einzige, der Kernenergie ist sowohl wegen der über Genera- ZEIT: Sie hatten bei Ihrer Entscheidung zwei niert, man darf sich da keinen Illusionen hin- und andere Prominente veröffentlichten damals
Gold gewann – und zwar für das Doppel- tionen reichenden zeitlichen als auch der über Landtagswahlen vor sich. geben. Aber gemessen an der Entschlossenheit eine Anzeige, um die Verlängerung der Lauf-
cover mit dem Schauspieler Gérard Depar- Ländergrenzen hinausgehenden räumlichen Merkel: Richtig. Und wenn man – wie ich nach heute, war es damals ein, sagen wir mal, ruhige- zeiten zu unterstützen. Haben Sie das als hilf-
dieu (Nr. 41/10). Die Infografik-Seite im Auswirkungen, wenn das an sich Unwahr- Fukushima – eine politische Position zu über- rer Weg, zurückhaltender. reich empfunden?
Ressort Wissen der ZEIT wurde zweimal aus- scheinliche doch eintrifft, ein völlig anderes. prüfen und zu verändern hat, dann ist Wahl- ZEIT: Sie haben in jenem Herbst auch gesagt, Merkel: Nein. Wenn ich so große Anzeigen
gezeichnet, darunter einmal mit Silber. Hinzu kommt die Unsichtbarkeit, also Nicht- kampf auf der einen Seite eine ungünstige Zeit, man dürfe aus der Atomenergie nicht vorzeitig sehe, bin ich eher traurig über das ausgegebene
Für seine Reportage »Ich denke, dass es fassbarkeit der Strahlung. Das Restrisiko der weil natürlich sofort der Vorwurf gemacht wird, »aus ideologischen Gründen« aussteigen. Sind Geld, weil ich als Parteivorsitzende aus Wahl-
meine Bestimmung ist, hier zu sein« ist der Kernenergie kann man deshalb überhaupt nur dass ich das jetzt nur mache, weil halt Wahl- Sie jetzt die Ideologin, oder waren Sie es da- kämpfen weiß, wie viel das kostet. Als hilfreich
Autor Frederik Obermaier mit dem CNN akzeptieren, wenn man überzeugt ist, es tritt kampf ist. Das kann man nicht vermeiden, aber mals? habe ich sie nicht empfunden.
Journalist Award ausgezeichnet worden. nach menschlichem Ermessen nicht ein. Für davor darf man auch keine Angst haben. Auf Merkel: Wäre ich das jemals gewesen, dann ZEIT: Sie haben im vergangenen Herbst auch
Obermaier hatte in Ausgabe 4/10 von ZEIT mich ist infolge Fukushimas deshalb die Frage der anderen Seite aber ist es genau die richtige hätte ich in den neunziger Jahren schon als Um- gesagt, sowohl die Atomenergie als auch Kohle-
CAMPUS die Radikalisierung der niederlän- übermächtig geworden: Welche Alternativen Zeit, weil man als Politiker auf all den Wahl- weltministerin keine Energiekonsensgespräche kraftwerke sind Brückentechnologien. Jetzt soll
dischen Studentin Tanja Nijmeijer nach- hast du, um zu zeigen, dass man ohne das Rest- kampfveranstaltungen mehr unter Menschen mit dem damaligen niedersächsischen Minister- die Brücke der Atomenergie verkürzt werden.
gezeichnet, die sich den Farc-Rebellen im risiko der Kernkraft leben kann? ist als sonst. Und da muss man einfach über die präsidenten Schröder führen können, die da- Muss dadurch die Kohlebrücke verlängert wer-
Kolumbianischen Dschungel angeschlossen ZEIT: In Japan haben ein Tsunami und ein Themen sprechen, die alle gerade bewegen. Ich mals übrigens auch nicht an uns beiden geschei- den? Und was sagt die Klimakanzlerin dazu?
hatte. DZ Erdbeben zugleich dieses Restrisiko eintreten sage Ihnen, auch wenn ich das tert sind. Dennoch: Die Merkel: Wenn wir nun schneller aus der Kern-
lassen. Halten Sie so etwas auch bei uns für nie beweisen kann: Wäre kein Auseinandersetzung um die energie aussteigen, dann wird sich zeigen, dass
denkbar? Wahlkampf gewesen, hätte ich
Merkel: Exakt mit diesen konkreten Ereignissen es genauso gemacht.
» Man kann die
zusätzlichen Wind-
Kernenergie
Deutschland
hatte
schon
in
lange
wir Ersatzkraftwerke brauchen, nach meiner
Meinung vornehmlich Gaskraftwerke. Auf je-
NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT natürlich nicht. Denn man weiß ja, dass Japan ZEIT: Wäre das Wahlergebnis auch eine fast kulturelle Di- den Fall werden wir hoch effiziente Kraftwerke
erdbebengefährdeter ist als Deutschland. Man schlechter ausgefallen, wenn räder entlang der mension, da standen sich mit fossilen Brennstoffen benötigen. Das ver-
Regional ist das neue bio. Das behaupten weiß, dass Japan anders als Deutschland schon Sie es anders gemacht hätten? Autobahnen bauen. Parteien und Milieus fast ändert unsere CO₂-Bilanz, was wiederum be-
die Marktforscher, so sagen es die Kochbuch- unter Tsunamis zu leiden hatte. Man weiß, dass Merkel: Meine These ist: eher Daran wird unser unversöhnlich gegenüber. deutet, dass wir Wege finden müssen, um an
verlage. Weil wir Lebensmitteln mehr ver- deswegen dort die Küstenregionen gefährdet ja, aber das ist natürlich rein Land nicht zerbrechen, Ein unguter Zustand, zu anderer Stelle mehr einzusparen, um das aus-
trauen, die aus unserer Nähe kommen? Weil sind, und trotzdem hat man dort Kernkraft- spekulativ, und das war es dem alle Seiten ihren Beitrag zugleichen. Wir müssen die Gebäudesanierung
Essen auch ein Kulturgut ist? – In einer 40- werke hingebaut. Wir in Deutschland brauchen nicht, was mich angetrieben
und es wird immer geleistet haben. schneller vorantreiben und die Energieeffizienz
seitigen Beilage zu regionalen Zutaten und
regionaler Küche beschäftigen wir uns mit
vor einer exakten Wiederholung der japanischen hat. Wahlkampf kann Politiker
Katastrophe bei uns natürlich keine Sorge zu durchaus eher schneller dazu
noch schön sein « Kernkraftgegner haben
gesagt, sie wollten mit die-
unserer Produkte und unserer ganzen Wirtschaft
noch rascher verbessern, um diese zusätzlichen
diesem Trend. Darin interpretieren zwölf haben. Aber wir haben dennoch allen Grund, bringen, das Richtige zu tun, sem Restrisiko nicht leben, CO₂-Emissionen anderswo einzusparen.
junge Spitzenköche exklusiv zwölf Rezepte zu fragen, ob sich auch bei uns unglückliche aber aus rein taktischen Gründen, also wenn sie haben sich aber immer sehr darauf konzen- ZEIT: Die Zahl steht: neun bis zehn neue Koh-
ihrer Heimat neu WISSEN Umstände zu etwas Katastrophalem zusammen- gar nicht ehrlich gemeint gewesen wäre, hätte triert, den Ausstieg umzusetzen, und die Frage, lekraftwerke in den nächsten zwei Jahren.
ballen könnten: zivilisatorische Risiken, aber ich diese Entscheidung, die neue Ausrichtung wie man in eine bessere Energieversorgung ein- Merkel: Das haben die Unternehmen und der
auch naturbedingte Ereignisse, verbunden etwa der Energiepolitik vom vergangenen Herbst steigt, schleifen lassen. Auch über das Problem, Markt zu entscheiden und teilweise schon ent-
mit einem Stromausfall über längere Zeit, eine deutlich zu beschleunigen, nie getroffen, weil dass man möglicherweise aus dem Ausland schieden. Bei künftigen Festlegungen über
Verkettung also von Umständen, die nach ich sie dann nie mit innerer Überzeugung hätte Strom, auch Strom aus Kernkraft importieren Kraftwerksprojekte spricht vieles auch für Gas:
menschlichem Ermessen und allen Wahrschein- vertreten können. Ich bin nun über fünf Jahre muss, haben sie zu sehr hinweggesehen. Uns Gaskraftwerke können am schnellsten gebaut
lichkeitsberechnungen bis jetzt nach bestem Bundeskanzlerin – nein, so etwas scheidet für dagegen haben viele im Herbst nicht abgenom- werden, sie sind flexibel als Ergänzung erneuer-
Wissen und Gewissen ausgeschlossen wurde. Es mich aus! men, dass wir das Zeitalter der erneuerbaren barer Energien einsetzbar, und Gaskraftwerke
geht also um die Belastbarkeit von Wahrschein- ZEIT: Wie haben Sie denn in diesem Zusam- Energien wirklich erreichen wollen, weil die haben weniger CO₂-Emissionen.
Foto: Michael Brauner/stockfood

lichkeitsanalysen und Risikoannahmen. Des- menhang den Namensbeitrag von Helmut Kohl öffentliche Diskussion nur um die Frage »Ver- ZEIT: Sehen Sie das Klimaziel für 2020 gefähr-
halb haben wir eine Sicherheitsüberprüfung al- am Tag vor der Wahl gelesen – der ja eine Auf- längerung, ja oder nein?« kreiste und es uns det?
ler Kernkraftwerke angeordnet. Nach einem forderung zum Festhalten an längeren Laufzei- nicht gelungen ist, mehr Augenmerk auf die Merkel: Nein, das müssen und werden wir
Ereignis der Größenordnung von Fukushima ten war? anderen wesentlichen Elemente des Energie- schaffen. Wir schalten ja ganz sicher nicht alle
sehe ich mich außerstande, diese bei uns zuvor Merkel: Ich habe ihn als Unterstützung wahr- konzepts zu lenken. Kernkraftwerke sofort ab. Danach erst stellen
nur theoretisch ins Auge gefassten Verkettungen genommen. Interessanterweise werfen andere, die immer sich die entscheidenden Fragen, die Schwierig-
von Risiken einfach zu verdrängen und zu sa- ZEIT: (Interviewer lachen) Wie haben Sie dieses einen schnellen Ausstieg verlangt haben, plötz- keit wird also sein, von etwa 2020 bis 2035 oder
gen, um die kümmere ich mich nicht. Wunder der Wahrnehmung vollzogen? lich Fragen auf, die sie sich selbst bis dahin gar 2040 zu kommen.
POLITIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 3

HEN POLITIK
BÜCHER MAC

Der Käfighalter
Geradlinig? Nun ja. Zwei Autoren
porträtieren Winfried Kretschmann

Der Mann, der an diesem Donnerstag in Stutt-


gart zum ersten grünen Ministerpräsidenten
der Republik gewählt werden soll, hat ein präg-
nantes Image: Winfried Kretschmann sei kon-
servativer, als es die CDU erlaube, heißt es,
prinzipienfest bis zur Halsstarrigkeit und ein
ausdauernder Leser der Philosophin Hannah
Arendt.
Nun ist pünktlich zur geplanten Vereidigung
des 62-Jährigen eine Biografie erschienen, in der
die gängigen Klischees über Kretschmann mit
Lust zerlegt werden. Zum Vorschein kommt ein
Mann, der einen weiten Weg hinter sich hat –
und unterwegs ziemlich geschmeidig agiert hat.
Ganze drei Wochen haben die Journalisten Peter
Henkel und Johanna Henkel-Waidhofer für
diese Neubewertung gebraucht, was der Sache
nicht geschadet hat. Das Tempo führt sie ohne
Umschweife zu den Themen, die ihnen am
Herzen liegen: Kretschmanns antiautoritärer
Katholizismus, sein Kulturpessimismus, seine
Art von Liebe zur Natur, der Weg »von Mao zur
Mitte«. Die beiden Stuttgarter Journalisten – er
jahrzehntelang bei der Frankfurter Rundschau,
sie Lokalkorrespondentin – kennen Winfried
Kretschmann, seit er seinen allerersten Auftritt
im Stuttgarter Landtag verpasste: Im März 1980
gehörte Kretschmann zu der sechsköpfigen
Fraktion, mit der die Grünen erstmals in das
Parlament eines Flächenstaates einzogen. Aber
die Vereidigung von Lothar Späth (CDU) zum
Ministerpräsidenten versäumte der Neupar-
lamentarier, weil er es wichtiger fand, in Gorle-
ben zu protestieren.
Als Kretschmann die Grünen mitgründete, war
er alles andere als ein Konservativer. Als Sohn einer
katholischen Vertriebenenfamilie aus dem Erm-
land war er mit der Erfahrung aufgewachsen, wie
man in der Fremde erst ver-
achtet und dann aufgenom-
men wird. Er hatte ein katho-
lisches Internat mit viel

Fotos: Anatol Kotte für DIE ZEIT; Vignette: Smetek für DIE ZEIT
schwarzer Pädagogik hinter
sich gebracht, aber auch die
befreiende Wirkung des Zwei-
ten Vatikanischen Konzils er-
fahren. Bei der Bundeswehr
erlebte er die klassische Schin-
derei, was ihn aber nicht daran
hinderte, den Pazifismus der Peter Henkel/
grünen Gründerjahre für eine Johanna
Lebenslüge zu halten – schon Henkel-
im Hinblick auf die Befreiung Waidhofer:
Winfried
Nazi-Deutschlands durch die Kretschmann.
Alliierten. »Ich bin von Hause Das Porträt
aus kein Pazifist«, hat er da- Herder, 14,95 €
mals klargemacht. »Ich habe
»Ich bin nun über fünf Jahre Bundeskanzlerin.« Angela Merkel am Dienstag der vergangenen Woche im Kanzleramt nicht den Kriegsdienst ver-
weigert und bin schon von
Natur aus ein Typ, der sich verteidigt und dem
anderen dabei auch mal eine in die Fresse bü-
ZEIT: Wie stellen Sie sich die Lastenverteilung unser Land nicht zerbrechen, und es wird noch Endlagerfrage kommt auf den Tisch, wir wer- manchmal, wir bezögen 80 Prozent aus Kern- gelt.«
dieser Energiewende vor: mehr zulasten des immer schön sein. den über sie sprechen, wenn das neue Energie- energie. Das ist ja gar nicht der Fall. Aus manchen Landtagsprotokollen der acht-
Verbrauchers oder des Steuerzahlers? ZEIT: Wir könnten stundenlang zuhören, wie konzept steht. Grundsätzlich bin ich überzeugt, ZEIT: Aber keiner hat so radikal und schnell ziger Jahre lässt sich die Verzweiflung ermessen,
Merkel: Jeder Steuerzahler ist auch Verbrau- Sie die Härten der Energiewende vertreten! dass es nicht dadurch leichter wird, dass man reagiert wie Deutschland. die Kretschmann gelegentlich in der CDU-ge-
cher, nicht alle Verbraucher sind Steuerzahler. Geschmacksfragen sind da nicht so wichtig? die Last der Suche und Erkundung auf fünf Merkel: Das ist richtig. führten Republik erfasste. »Es hört doch nie-
Wir haben uns schon vor Jahren entschieden, Merkel: Selbstverständlich ist der Erhalt der Orte verteilt. ZEIT: Wie kommt das? mand auf einen«, rief Kretschmann einmal ins
dass wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz Schönheit unserer Landschaft wichtig, aber die ZEIT: Was nutzt dieser ganze schöne Ausstieg, Merkel: So fundamental wie bei uns wird fast Plenum. »Erst wenn man mal ein Ei wirft, dann
alle Verbraucher in die Lastenverteilung ein- Diskussion ist nicht neu. Denken wir nur da- wenn wir umringt sind von Ländern, die die nirgendwo sonst über Kernenergie diskutiert. ist die Presse da. Wenn Grundrechte in ihrer
beziehen. Gerade zwischen 2009 und 2011 gab ran, was los war, als vor 150 Jahren plötzlich Kernenergie weiter ausbauen? Hier ist eine ganze Partei darüber entstanden. Substanz gefährdet werden, dann sind wir auch
es einen großen Sprung in der Umlage, die die Eisenbahnen zu rattern begannen. Da sa- Merkel: Eine sehr berechtigte Frage, zumal in ZEIT: Sind die Deutschen so ängstlich wegen zu Regelverletzungen bereit. Wir sind eine radi-
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ent- hen manche auch das Ende gekommen. Jede einem europäischen Binnenmarkt: Was nützt des Restrisikos, oder sind sie nur mutig genug, kale Partei, weil man eine Politik machen muss,
stand, nämlich von knapp 1,5 Cent auf über 3 Generation hat die Aufgabe, die Infrastruktur es Deutschland, wenn es sich nach seiner neue Wege zu gehen? die die Probleme an der Wurzel löst.« Keine
Cent pro Kilowattstunde. der Zukunft möglich zu machen. Auf der an- Überzeugung richtig verhält, und alle anderen Merkel: Jedes Land diskutiert bestimmte Fra- sonderlich konservative Position.
ZEIT: Die Frage nach den Kosten beschäftigt deren Seite bauen wir heute auch Industriebau- tun es nicht? Wenn ich jedoch zuallererst da- gen sehr gründlich. In den Debatten über die Im Laufe der Jahre hat sich Kretschmanns
die Menschen sehr. Wann können Sie ihnen ten wieder zurück. Kohlezechen sind heute nach frage, ob auch alle anderen von meiner Solidarität in der Euro-Zone und die Stabilität Verhältnis zu den beiden Volksparteien viel ra-
greifbare Zahlen nennen? Kulturstätten, und manch altes Tagebaugebiet Haltung überzeugt sind, oder wenn ich nur an unserer Währung stelle ich auf europäischer santer verändert, als es das Image vom stets
Merkel: Bald. In der Wirtschaftskrise hatten dient der Naherholung. die anfänglichen Nachteile meines eigenen, Ebene Fragen, die sonst kaum einer stellt und prinzipienfesten grünen Konservativen glauben
wir einen Ölpreis von 50 Dollar je Barrel, in ZEIT: Sie verteidigen diesen Weg ganz anders, von mir für richtig erachteten Verhaltens den- die manche wohl auch manchmal anstrengend machen will. 1982 wirbt er in einem ausführ-
den letzten Wochen lag er wieder zwischen 120 als Grüne das machen. Die Grünen sagen: Es ke – dann drehen wir uns im Kreis. finden, die sagen dann, das sei schon wieder so lichen Aufsatz für ein Bündnis mit der SPD,
und 130 Dollar. Mit diesen Schwankungen le- wird alles ganz schön, und Sie sagen: Stellt Als in Deutschland Ber- eine Merkel-Idee. Das ist viel- ausgerechnet wegen der großen Übereinstim-
ben die Menschen heute schon. Sie werden euch nicht so an! Ist das die Merkelsche Ener- tha Benz mit dem ersten Au- leicht eine Kehrseite unserer mungen in der Sozialpolitik; ein Bündnis mit
auch mit den Schwankungen beim Strompreis giewende? tomobil über die Straßen ge- Präzision und unseres Erfin- der Union hält er »auf absehbare Zeit kaum für
leben müssen, die sich aus veränderten Rest- Merkel: Ich sage nicht: Stellt euch nicht so an. rumpelt ist, haben auch viele dungsgeistes. möglich«. Schon ein Jahr später begeistert er
laufzeiten von Kernkraftwerken ergeben. Ich lese jetzt von Designerwettbewerben um Zeitgenossen gesagt: So ein Ich werde darauf achten, sich für ökolibertäre Überlegungen. Über die
ZEIT: Wird es ein schöneres Land sein, mit schöne Hochspannungsleitungen. Damit will Quatsch, die eine Pferdestär- dass wir den richtigen Weg Sozialpolitik sagt er in jener Phase: »Nur wo
neuen Stromtrassen, wärmegedämmten Häu- ich nicht kommen, ich versuche, die Aussich- ke einer Kutsche reicht doch, finden, unsere Energie zu er- Mangel herrscht, kann es Freiheit geben.« Dann
sern und vielen hohen Windrädern? ten ganz realistisch zu beschreiben. Ja, es wird und wer weiß, wie gefährlich zeugen, einen Weg, der zu ei- wieder, 1992, plädiert er für Rot-Grün, wäh-
Merkel: Im Vergleich zur Zeit vor 20, 30 Jahren sich mancherorts etwas ändern. Mancher wird diese neue Erfindung ist. In nem ökologisch denkenden rend er 1999 findet, es sei »bitter notwendig,
ist unser Land doch an vielen Stellen schöner erleben, dass in der Nähe seines Wohnorts eine ihren Augen war Bertha Benz Die Kanzlerin beim Inter- Industrieland und einer be- dass es irgendwo zu einer schwarz-grünen Ko-
geworden. Damals waren viele Flüsse vergiftet, Leitung gebaut wird, wo vorher keine war. Das eine Geisterfahrerin auf ei- view mit Bernd Ulrich (links) deutenden Wirtschaftsmacht alition kommt«. Die Republik, so glaubt er
heute baden und fischen die Menschen wieder hat es zu allen Zeiten und in vielen Formen nem seltsamen Sonderweg – und Giovanni di Lorenzo passt. Dieser Weg ist dann 2000, braucht die CDU. 2010 ist es dann »an
in ihnen. Die Industrie arbeitet insgesamt viel gegeben. Bei dem einen wird eine Straße ge- aber das Auto hat sich durch- aber auch eine Verpflichtung. der Zeit, dass die Schwarzen in der Opposition
umweltschonender, nicht nur in meiner ost- baut, bei dem anderen eine Fabrik. In Berlin gesetzt. Deutschlands Wohl- Dann kann nicht jeder kom- landen«.
deutschen Heimat, dort ist der Unterschied entsteht gerade ein Flughafen neu. Wir Politi- stand gründet sich auch darauf, dass wir men und sagen: So viele neue Leitungen wollen Auch zu Kretschmanns eigener Ökologie
natürlich frappierend. Also wirklich: Ich glaube ker haben die Pflicht, gut zu begründen, wa- manchmal als Erste einen neuen Weg gegangen wir nicht, und die Windenergie passt uns ei- haben die beiden Autoren Interessantes zutage
nicht, dass unser Land viel weniger schön wird, rum das manchmal nötig ist, wir müssen auf sind. Als ich 1994 Umweltministerin wurde, gentlich auch nicht, die Umlage für die Photo- gefördert. Die Familie von Kretschmanns Frau
nur weil wir Energie anders produzieren und die Fragen der Menschen Antworten haben. kamen 4 Prozent unserer Stromerzeugung aus voltaik ist eh zu hoch, und gegen den Anbau Gerlinde besaß in Laiz eine Hühnerfarm mit
den Strom auch durchleiten müssen. ZEIT: Planen Sie eine verbindliche Laufzeit für erneuerbaren Quellen. Heute sind wir bei 17 von Pflanzen zur Energieerzeugung bin ich aus 600 Tieren in Käfigen – die Art der Tierhaltung,
ZEIT: Das sagen Sie, obwohl Sie in Ihrem Hei- jedes einzelne AKW? Prozent. Das ist schon beachtlich. Jetzt wollen Prinzip auch, aber aus der Kernenergie müssen die demnächst verboten sein wird. Als die drei
matland so schöne Landschaften vor Augen Merkel: Es gibt die Möglichkeit, die Summe an wir bis 2020 auf 40 Prozent kommen, was sehr wir sofort raus. Kinder klein waren, machten die Kretschmanns
haben. Kilowattstunden festzulegen. Es gibt die Mög- ambitioniert ist. Das wird uns Kraft kosten. Einen Ausstieg mit Augenmaß zu schaffen dort regelmäßig Urlaub. Der künftige Minister-
Merkel: Mecklenburg-Vorpommern hat 1 Pro- lichkeit, die Restlaufzeit in Jahren festzulegen. Aber wenn wir glauben, dass wir Vorteile da- ist die große Herausforderung im Augenblick. präsident Baden-Württembergs sammelte die
zent seiner Fläche für Windenergie ausgewie- Und es gibt die Möglichkeit, diese beiden Va- von haben, und das ist ja offensichtlich, dann Wir müssen in den nächsten ein, zwei Mona- Eier ein, fütterte die Tiere, hielt die Käfige sau-
sen, 99 Prozent also nicht. Natürlich sieht man rianten zu mischen. Wir haben das noch nicht ist das zu schaffen. ten alle sagen: Dazu stehen wir! Ein Ausbüxen ber und reparierte. »Wer von der Eierproduk-
diese Windräder zum Teil schon von Weitem, entschieden. ZEIT: Unser Sonderweg ist also eine Avantgar- gibt’s jetzt nicht mehr. tion leben will«, so sah er es, »kommt ohne Kä-
in meinem Wahlkreis stehen zum Beispiel be- ZEIT: Wie wollen Sie die Endlagerfrage lösen? derolle? fighaltung in Probleme.«
sonders viele. Aber man kann die zusätzlichen Wollen Sie außer in Gorleben noch woanders Merkel: Es gibt eine ganze Reihe europäischer Das Gespräch führten GIOVANNI DI LORENZO Die Konstante in Kretschmanns Charakter
teilweise entlang der Autobahnen, der großen bohren? Erwarten Sie mehr Kooperation von Länder, die nicht auf Kernkraft setzt. Deutsch- und BERND ULRICH lassen die Autoren von einem Parteifreund zu-
Verkehrstrassen bauen. Hochspannungsleitun- Baden-Württemberg zum Beispiel? land hat immer einen Energiemix gehabt. Bei sammenfassen: »Winfried Kretschmann ist der
gen können vielleicht zum Teil entlang der Ei- Merkel: Ich denke nicht, dass man jetzt überall uns macht die Kernenergie ein Fünftel aus. Energie: Wie die Wende funktionieren kann anständigste Mensch, der je in Deutschland
senbahnstrecken geplant werden. Daran wird parallel bohren sollte. Das wäre Unsinn. Die Wenn man die Diskussion verfolgt, denkt man www.zeit.de/energie Regierungschef wurde.« MARIAM LAU
4 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 POLITIK

Wissen wir es besser?


D L
er sogenannte Gutmensch hat es Debatten der letzten Monate, der letzten Jahr- ibyen? Da machen wir nicht mit, weil Ist es aber nicht. Vorweg fehlt das moralische

Fotos: Peter Steffen/dpa (l.); Matthias Bothor/Photoselection (r.); Vignette: Smetek für DIE ZEIT
schwer. Bücher, die sich über seinen zehnte? Erlebten wir bei Stuttgart 21 und beim bekanntlich Gewalt keine politischen Augenmaß. Was ist denn das größere Übel: einen
politisch überkorrekten Betroffen- Thema Atomenergie, in der Verteidigung unse- Probleme löst. Atomausstieg? Auch hier Mann weiter morden zu lassen, der den Tod von
heitskitsch belustigen, füllen ganze rer multikulturellen Republik nicht vielmehr leitet uns die höhere Einsicht, während Tausenden verantwortet – oder im Einzelfall die
Regale. Er gilt als zurückgeblieben und naiv, als den wirkungsmächtigen Auftritt des Gutmen- ringsum in Europa 137 Kernkraftwerke den Regeln des Rechtsstaates zu verletzen? Auch
Vertreter einer typisch deutschen Weltbeglü- schen als Gut-Bürger? Dem geht es nicht um Strom erzeugen, den wir demnächst importieren Deutschland kennt den »finalen Rettungsschuss«,
ckungsfolklore, die es sich im Gewirr der Glo- eine abstrakt menschelnde Wohlfühl-Moral, werden. Bin Laden? Ein eklatanter Bruch des auch Helmut Schmidt hat in Mogadischu den
balisierung einfach und bequem macht. Im sondern um bürgerliche Werte wie Solidarität, Völker- und Kriegsrechts, den wir genüsslich Tod der wenigen autorisiert, um die vielen zu
politischen Alltag ertönt »Gutmenschentum« Öffentlichkeit, Transparenz, politische Teilhabe geißeln. retten. Auf dem Hochsitz der Moral aber sieht
meist dann als Vorwurf, wenn Einwände gegen und Partizipation, mitunter schlicht um die Deutschland ist wieder Großmacht, jedenfalls man keine Konflikte zwischen Schlimm und
Entscheidungen vorgebracht Einhaltung von Gesetzen. Im eine moralische. Der mahnende Schlimmer. Natürlich passt der
werden, die angeblich alterna- Gut-Bürger und in der Gut- Zeigefinger ist heute so deutsch, Terrorismus weder ins Völker-
Im Kampf gegen den
tivlos sind. Der Heuchler, der
Pharisäer, der lieber politisch
Ja Bürgerin verbinden sich Prag-
matismus und Idealismus, Ori- Terrorismus, im Streit um die
wie es einst Pickelhaube und
Knobelbecher waren. Bin Laden
Nein noch ins Landesrecht. Aber vom
»Nicht zuständig« das »Nicht zu-
korrekt ist als realistisch, das ist entierung und Maßstäbe mit Energieversorgung der ist der jüngste Beweis. Und er lässig« abzuleiten ist kein Beweis
der Gutmensch, wie ihn schon dem klaren Blick fürs Mach- zeigt exemplarisch, wie das Land des Besserseins, sondern der
die Nazipropaganda im Stürmer bare. Es ist das Gut-Bürgertum,
Zukunft, bei der tickt. Im stern-Titel heißt es: Denkverweigerung.
zum Feind erklärte. das Deutschland in den letzten Entscheidung über den Krieg Amerikas Rache, im britischen Terrorismus ist weder Krieg
Heute wirft man ihm vor, Jahrzehnten zu einem lebens- gegen Gadhafi: Stets denken Economist: Now, kill his dream. noch gewöhnliche Kriminalität,
Weichei und Nervensäge in ei- werten und zivilen Land ge- und handeln die Deutschen Rache, das klingt vorchristlich; sondern Massenmord mit kriege-
nem zu sein, seine übersteigerte macht hat. Und es ist das Gut- das ist die atavistische Selbstjus- rischen Mitteln. Ist das Verbre-
Gesinnungsethik wird zum Ge- Bürgertum, dem wir die kriti- anders, als die große Mehrheit tiz. »Jetzt wollen wir seinen chen geschehen, helfen nur noch
sinnungsterror, weil er einer ist, K AT R I N G Ö R I N G  sche Öffentlichkeit bei vielen im Westen es tut. Traum töten« spiegelt die reale JOSEF JOFFE Leichenwagen. Also muss der
der sich den Notwendigkeiten
der Macht und des Machbaren
ECKARDT Themen zu verdanken haben.
Ob es um Auslandseinsätze der
Sollten wir stolz darauf sein – Welt, in der Kontext zählt, also
Größenordnungen und Ursa-
ist Herausgeber der Staat vorbeugend jene treffen,
die im Dunkeln die Drähte zie-
verweigert. Ist er also nichts an- ist Vizepräsidentin Bundeswehr geht, um Atom- oder steckt ein wahrer Kern chen. Das britische Blatt nennt ZEIT. Er meint, hen. Leider wohnen sie dort, wo
deres als ein störender Geselle, des Bundestags, energie, Ökologie oder Einwan- im hässlichen Wort vom die Zusammenhänge; es spricht den Deutschen die Polizei keinen Haft- oder
der sich auf Moral beruft? Neh- Grüne und EKD- derung: Seit den Bürgerinitiati- »Gutmenschen«? von einer »Mord-Orgie«, die bin Auslieferungsbefehl präsentieren
men wir die Erschießung Osama ven der siebziger und achtziger Laden entfesselt hat, von einem
komme es nicht kann. Zum Beispiel in Pakistan,
bin Ladens und den schlichten Präses. Gut-Bürger, Jahre redet und streitet der Gut- »Kampf, der einen fürchterlichen darauf an, gut zu das bin Laden Unterschlupf ge-
Hinweis auf den Verstoß gegen sagt sie, nehmen die Bürger Gott sei Dank mit. Er Preis an Blut und Gut gefordert handeln; sie wollten währte – fünf Jahre lang. Wehe
internationales Recht und darauf, eigenen Werte ernst ist der lebende Beweis dafür, hat« und just den »Krieg der sich nur gut fühlen dem Staat, der in diesem Schat-
dass triumphale Freude über den dass werteorientierte Politik al- Kulturen« provozieren sollte, tenkrieg agierte, als befände er
Tod des Massenmörders bin La- les andere als naiv und wirklich- den der Getötete wollte. Fügen sich im eigenen Verfassungs-
den unangemessen sei – schon bekommt der Gut- keitsfern ist – sondern ganz reale Wirkungen wir hinzu, dass die Massaker an Unschuldigen gebiet. Er würde wider seine höchste Pflicht sün-
mensch das Attribut »antiamerikanisch« oben- hat. Übrigens sogar wirtschaftliche: Die Öko- das gemeinste Verbrechen in jeder Kultur sind. digen: den Bürgern Sicherheit und Freiheit zu
drauf. Dabei dachte man doch, es wären einfach logiebewegung hat zum Beispiel dafür gesorgt, Ein solches Sündenregister verdient Empö- garantieren – Sicherheit vor der Heimtücke,
nur Demokratie und Rechtsstaat, die wir da ein- dass Deutschland zum technologischen Vorrei- rung und Verdammung. Aber weite Teile des Freiheit vor dem totalen Überwachungsstaat, der
fordern. ter für erneuerbare Energien wurde. deutschen Kommentariats haben die Gräueltaten im Namen der Terrorabwehr die Bürgerrechte
Was also steckt an Gutem im Gutmenschen, Der Gut-Bürger meint es ernst mit dem, wo- allenfalls am Rande erwähnt. Ihr Mitleid galt daheim dezimiert.
jenseits von einfacher Polemik und schlichter für er sich einsetzt, im Zweifel lebt er oder sie nicht den Opfern, ihr Zorn nicht dem Täter, der Warum also die eifernde Selbstgerechtigkeit?
Pointe? Mit dem Gutmenschen-Vorwurf sollen selbst danach. Viele Debatten der letzten Monate als älterer Herr mit Familienanhang firmierte. Die Antwort ist nicht neu. Sie wurzelt in der
doch Moral und Maßstäbe insgesamt lächerlich haben es gezeigt: Der gute Bürger und die gute Die Entrüstung zielte auf die üblichen Verdäch- Selbstvergewisserung einer wieder gut geworde-
gemacht werden. Die Polemik hat es eben nicht Bürgerin sind informiert bis ins Detail. Mit tigen: die Amerikaner und ihre Soldateska, dazu nen Nation, die einst für das Menschheitsver-
auf selbstgerechten Gesinnungskitsch abge- werteorientiertem Handeln widersetzen sie sich auf die Kanzlerin, die es gewagt hatte, Freude brechen verantwortlich war. Eigentlich wäre der
sehen, sondern auf den wertegebundenen Ein- der pragmatischen Beliebigkeit und einer blinden über den Tod eines Massenmörders zu äußern. Zeigefinger nach 66 Jahren mustergültiger Ent-
wand gegen die angeblichen Zwänge der Real- Logik der Sachzwänge, stehen aber auch zu den Natürlich soll man sich auch über den Tod wicklung nicht mehr nötig; die Welt hat diese
politik überhaupt. Zugegeben: Allzu oft drängt Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklich- eines Feindes nicht freuen. Laut rabbinischer Leistung längst anerkannt. Doch der Reflex lebt
sich eine wohlfeile und populistische Variante keit. Sie weisen Thilo Sarrazin mit den von ihm Überlieferung ermahnte schon der liebe Gott fort, in der dritten Generation: die Enkel als Be-
des Gutmenschen in den Vordergrund: der Bes- selbst genannten Zahlen nach, dass seine Theorie seine Engel, die über den Untergang des pharao- währungshelfer der Noch-nicht-Geläuterten.
serwisser. Er redet bewusst undifferenziert und Unsinn und dem Fremden feindlich ist. Wer den nischen Heeres jubelten: Auch die Ägypter sind Warum? Weil Moralismus nicht nur erhe-
vereinfachend, weil das Publikum starke Sprü- Abgesang auf diesen Gut-Bürger singt, muss sich meine Kinder. Aber Erleichterung und Genugtu- bend, sondern auch nützlich ist. So entzieht man
che mag. Besserwisser sind allerdings auch die- darum fragen lassen, wie eine Welt ohne ihn aus- ung darf man sehr wohl empfinden, wenn ein sich den Händeln der Welt, so darf man im Na-
jenigen, die gegen den Gutmenschen polemi- sehen würde. Es wäre wohl eine zynische Welt, Unmensch stirbt. men der höheren Sittlichkeit der Verantwortung
sieren, sich selbst als wahre Faktenkenner und ohne Sinn für das Mögliche, in der die Werte, die Darf man das? Soeben hat ein Richter die ausweichen. Wer nicht handelt, muss keine mo-
gesunde Realisten darstellen und leider immer das Leben lebenswert machen, keine Rolle mehr Kanzlerin wegen »Billigung von Straftaten« ange- ralischen Konflikte bewältigen, abkanzeln ist ein-
nur die Seite der Münze mit der Zahl ansehen, spielen. Die Polemiker gegen den Gutmenschen zeigt. Ein Völkerrechtler dozierte: Kriegsrecht facher als abwägen. Dass so viele Deutsche die
weil ihnen die besser ins Konzept passt als der tun so, als bräuchten wir weder Ideale noch ge- gilt nicht, weil al-Qaida weder Staat noch Bür- Macht verachten, die sie nicht mehr haben (wol-
Charakterkopf auf der anderen. sellschaftlichen Zusammenhalt – noch die Zu- gerkriegspartei sei. Also: Beim nächsten Mal bitte len), ist eine Erblast der Geschichte. Doch mora-
Doch war der besserwisserische Pseudo-Gut- versicht, dass der Mensch zum Guten fähig ist. anklopfen und dem Mann seine Rechte vorlesen. lische Bescheidenheit ist auch eine Tugend, eine
mensch wirklich maßgeblich in den politischen Was für eine triste Welt das wäre! Siehe auch Feuilleton, Seite 49 So simpel ist das. der höchsten überhaupt.

Mail aus: ABIDJAN


Von: bartholomaeus.grill@zeit.de, Betreff: Freund und Helfer

Allein hätte ich mich niemals ins Café Cacao an fließend Deutsch sprach und über exzellente Lan-
der Rue Princesse in Abidjan gewagt. Dieser deskenntnisse und Kontakte verfügte. Ich wunder-
Nachtklub ist eine Höhle der Jeunes Patriotes, te mich zwar über seine Golduhr und die teuren
der militanten Anhänger des Ex-Präsidenten Designerklamotten. Auch der Zusatz »de Luxe« in
Laurent Gbagbo; sie verachten Weißnasen, ins- seinem Namen hätte mich stutzig machen müssen.
besondere Franzosen, die gerade Gbagbos Räu- Aber A. erwies sich als absolut zuverlässiger Führer
berregime stürzten. Aber ich hatte ja A. dabei, in der chaotischen, vom Bürgerkrieg geplagten
einen Gewährsmann, der die Jungpatrioten be- Metropole der Elfenbeinküste. Für ihn hätte ich
schwichtigte. Und so war ich als neutraler alle- meine Hand ins Feuer gelegt.
mand sogleich willkommen, durfte eine Flasche Zum Dank wollte ich A. ein Geschenk sen-
Johnny Walker ausgeben und bekam eine ver- den. »Das können Sie sich sparen«, bremste der
führerische Hostess zugeteilt – die ehemalige Botschafter. Warum? »Weil ich den Burschen
Miss Abidjan. feuern musste.« Er hatte nebenher einen lukrati-
Wir Korrespondenten sind auf Helfer wie A. ven Handel mit Einreisepapieren nach Deutsch-
angewiesen, vor allem in Kriegs- und Krisengebie- land betrieben. Der hilfsbereite, kompetente A.,
ten. Fixer werden sie genannt. Sie führen uns zu ein Visafälscher, dem ich vorbehaltslos vertraut
Informanten, arrangieren Interviews, sorgen für hatte! Wer weiß, welche Deals er nebenher im
unsere Sicherheit, zeigen uns Orte, die wir nie Café Cacao eingefädelt hatte. So kann man sich
finden würden. In brenzligen Situationen sind wir täuschen. A. soll sich unterdessen in Ghana he-
auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig. Mein rumtreiben. Er hatte sich nach dem Rauswurf
Fixer A. arbeitete als Presseattaché bei der deutschen flugs aus dem Staub gemacht und noch einen
Botschaft, ein aufgeweckter junger Mann, der Dienstwagen mitgehen lassen.

Mail aus: MOSKAU


Von: johannes.voswinkel@zeit.de, Betreff: Krieg und Eishockey

Einen Feiertag gibt es, der Russland vereint, den Verrätern in der Roten Armee. Familien und Lie-
9. Mai. Die einen setzen die Kartoffeln in die bespaare spazieren durch die Parks. An den Autos
Erde des Datschagartens, die anderen strömen hängen orange-schwarze Sankt-Georgs-Bänd-
ohne Befehl von oben auf die Straßen, um des chen als Erinnerung an den Krieg. Manche malen
Sieges über den Faschismus zu gedenken. auf die Heckscheibe, was einst auf den T34-Pan-
Der Morgen beginnt mit der Militärparade zern geschrieben stand: »Nach Berlin!« Der Fah-
auf dem Roten Platz und einem vieltausendstim- rer eines bayerischen Nobelwagens hat auf seine
migen »Hurra!« der Truppen. Manchmal gibt es dunkelblaue Motorhaube mit weißer Farbe das
ein neues Panzer- oder Raketenmodell zu bestau- Wort »Trophäe »gepinselt«, auf die Fahrerseite
nen. In diesem Jahr waren die neu geschneider- »Das Blut ist nicht vergeblich vergossen«. Den
ten Baretts der Soldaten die größte Innovation. Rückspiegel zierte ein roter Stern. Andere hielten
Später zogen die Kommunisten durch Moskau eine Russlandflagge aus dem Autofenster, bis der
und feierten den Generalissimo Stalin, dessen Arm schwer wurde oder Russland bei der Eis-
Abbild auf offiziellen Plakaten verboten war. Ein hockey-Weltmeisterschaft seine Führung gegen
paar Gadhafi-Anhänger und orthodoxe Monar- Finnland einbüßte. Russland verlor 2 : 3.
chisten durften sich anschließen. Es war die erste Niederlage der Eishockey-Na-
Das Fernsehprogramm ist patriotisch: Im ers- tionalmannschaft an einem Siegestag. Der russi-
ten Kanal verteidigt sich heroisch die Brester sche Trainer sagte im Interview nach dem Spiel,
Festung, im zweiten geht es um Sowjetspione im er werde jetzt erst mal den Fernseher anschalten
Hitlerregime (»Unser Mann in der Gestapo«), im und einen Kriegsfilm anschauen. Und riet dem
dritten läuft die Jagd auf militärische Werwölfe Journalisten, dasselbe zu tun. »Dann werden Sie«,
und im vierten ein Spielfilm über die Suche nach erklärte er, »ganz anders schreiben.«
POLITIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 5

O
peration »Lifeline« hat begon- ropa an seinen unsichtbaren Mauern baut. Soll
nen. In Abstimmung mit dem heißen: seit die Abwehr von Flüchtlingen zum
UN-Sicherheitsrat, der EU und ideologischen Kern der Migrationspolitik gewor-
der Nato werden in den nächsten den ist und eben diese Abwehr den Mitglieds-
Tagen mehrere Schiffe der deut- ländern am Rande Europas aufgebürdet worden
schen Marine ins Mittelmeer auslaufen, um ist. Wo der Flüchtling zuerst europäischen Boden
Bootsflüchtlinge zu retten und in mehrere euro- betritt, soll er auch bleiben. Schlupflöcher bieten
päische Aufnahmelager, darunter auch zwei in fast nur noch der Landweg über die Türkei nach
Deutschland, zu verteilen. Wie Außenminister Griechenland oder der Seeweg mithilfe von
Guido Westerwelle (FDP) und Verteidigungs- Schmugglern und verrotteten Booten nach Mal-
minister Thomas de Maizière (CDU) am Diens- ta und Italien. Wer die Reise übersteht, den er-
tag vor der Presse verkündeten, sehe es die Bun- wartet die Unterbringung in einem überfüllten
desregierung als ihre Pflicht an, die humanitäre Sammellager, einem Abrisshaus oder einer selbst
Katastrophe vor der libyschen Küste zu beenden. gezimmerten Bretterhütte. Diese Strategie der
Seit Ende März sind im Mittelmeer über 800 geduldeten oder gezielten Verwahrlosung ist die
Menschen bei dem Versuch ertrunken, in klei- logische Folge einer europäischen Politik, die den

Auf dem Wasser


verdurstet

Foto: Francesco Malavolta/dpa (Flüchtlinge erreichen Lampedusa, 7. Mai 2011)


Das Mittelmeer wird für immer mehr Flüchtlinge aus Libyen zur
Todesfalle. Kennt Europa keine Gnade? VON ANDREA BÖHM

nen Booten aus dem umkämpften Libyen nach Flüchtling nicht als Individuum mit Anspruch
Italien zu gelangen. An Operation »Lifeline« be- auf Würde und Schutz, sondern als in der Masse
teiligen sich auch die Küstenwachen Italiens, auftretendes Flutrisiko sieht. Und wenn das The-
Spaniens, Maltas und Griechenlands. Deutsch- ma Flucht und Migration auf ein Problem inne-
land, so betonte Westerwelle, habe sich zwar bei rer Sicherheit und öffentlicher Hygiene reduziert
der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über wird, dann findet sich auch in der Außen-und
eine Militärintervention in Libyen enthalten, Sicherheitspolitik niemand, der bei der Vorberei-
doch müsse es nun humanitären Prinzipien und tung einer Militäraktion darüber nachdenkt, wie
dem Flüchtlingsschutz gerecht werden. Das man mit dem erwartbaren Anstieg der Flücht-
UN-Flüchtlingshilfswerk und mehrere Men- lingszahlen umgeht.
schenrechtsorganisationen begrüßten die deut- Und doch stellen die 800 Toten der vergangenen
sche Initiative, Papst Benedikt XVI. sprach sogar acht Wochen einen Skandal dar, der weit über
von einer ... Europas inzwischen chronische Gleichgültigkeit Gerettet, aber nicht
STOPP! gegenüber Flüchtlingen hinausgeht. Warum? Weil willkommen:
Alles erfunden. Bis auf eines: Seit Ende März Europa, allen voran Frankreich und Großbritan- Libysche Flüchtlinge
sind nach Schätzungen des UNHCR tatsächlich nien, mit der Unterstützung des Aufstands gegen treffen auf Lampedusa ein
mindestens 800 Menschen bei dem Versuch er- Gadhafi doch eine moralische Läuterung reklamiert.
trunken, von Libyen über das Mittelmeer nach Nicolas Sarkozy aber fällt nichts anderes ein als die
Italien zu gelangen. Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen im
Sollten sich Berichte bestätigen, wonach Ende Schengen-Raum. Dass Silvio Berlusconi bei solchen
vergangener Woche ein Boot mit bis zu 600 Men- Vorschlägen sofort mit von der Partie ist, muss
schen vor der libyschen Küste auseinandergebro- niemanden überraschen. Dass Deutschlands Innen-
chen ist, könnte die Zahl der Toten um mehrere minister Hans-Peter Friedrich (CSU) dem zu-
Hundert steigen. Blieben noch jene rund 72 Flücht- stimmt, vielleicht auch nicht. Trotzdem ist es be-
linge zu erwähnen, die nach Recherchen der eng- schämend. Friedrich verkündete unlängst im
lischen Zeitung The Guardian am 25. März von deutschen Fernsehen – sichtlich von sich selbst
Libyen aus Richtung Italien aufgebrochen und beeindruckt –, dass Deutschland dem EU-Mit-
sechzehn Tage manövrierunfähig auf dem Mittel- gliedsland Malta 100 Bootsflüchtlinge abnehmen
meer umhergetrieben sein sollen. 61 Menschen, werde. Zur Einordnung dieser humanitären Geste:
darunter mindestes zwei Kleinkinder, sind nach In Dehiba, einer kleinen tunesischen Stadt an der
Aussagen von Überlebenden verdurstet und ver- Grenze zu Libyen, sind bis auf Weiteres 20 000
hungert, obwohl es den Bootsinsassen nach wenigen Flüchtlinge untergekommen – die meisten in den
Tagen auf See gelungen war, über einen katho- Häusern der Bewohner.
lischen Priester in Rom die italienische Küstenwache Nach Angaben des UNHCR sind seit Aus-
zu alarmieren. Überlebende behaupten, mindestens bruch der Kämpfe in Libyen über 600 000 Men-
ein Militärhubschrauber und ein Flugzeugträger schen geflohen, die meisten über die Landes-
hätten ihr Boot gesichtet, ohne einen Rettungsver- grenzen nach Tunesien und Ägypten. Dort sind
such zu unternehmen. Die UN und der Europarat ihre Lebensumstände alles andere gut. Aber Mit-
wollen den Vorfall nun untersuchen lassen. arbeiter des UNHCR zeigen sich verblüfft,
Egal, was dabei herauskommt: wie bereitwillig die ägyptischen und
Knapp zwei Monate nach der UN- EUROPA vor allem die tunesischen Behörden
Resolution 1973 und nach den und die Bewohner der Grenz-
ersten Angriffen westlicher gebiete die Flüchtlinge empfan-
Kampfbomber auf Stellungen Lampedusa gen und versorgen.
der Armee Muammar al-Gad- Tripolis Mittelmeer Im Vergleich dazu sind die
hafis steht man vor der Er- ALGERIEN Bootsflüchtlinge, die gen Eu-
kenntnis, dass ein erheblicher ropa aufbrechen, keine »Wel-
ÄGYPTEN
Teil der zivilen Opfer nicht LIBYEN le«, sondern ein Rinnsal – gan-
durch Bomben und Kugeln ge- ze zwei Prozent sind auf EU-
storben ist, sondern durch un- Territorium gelangt. Die meisten
terlassene Hilfeleistung. Denn es ZEIT-Grafik boat people sind übrigens keine Li-
500 km
gibt in dieser Militäroperation kei- byer, sondern Schwarzafrikaner, Mig-
nen koordinierten Schutz von Flüchtlin- ranten, die in Libyen gearbeitet haben,
gen. Es gibt bislang lediglich einen verzweifelten sowie Flüchtlinge aus Kriegsgebieten und Dikta-
Hilferuf des UN-Flüchtlingshilfswerks turen wie Somalia, Darfur oder Eritrea, die be-
(UNHCR) an die europäischen Staaten, endlich reits eine monatelange Odyssee hinter sich haben
eine effektive Aktion zur Rettung von Boots- und in Libyen gestrandet waren. Sie sind – und
flüchtlingen zu starten. Die Reaktion in London, dieses Detail ist wichtig – mit Beginn des Auf-
Paris und Berlin? Schweigen. stands gegen Gadhafi zwischen die Fronten gera-
Resolutionen des UN-Sicherheitsrats ver- ten. Offenbar werden manche von ihnen von
schleiern oft mehr, als sie klarstellen. Aber Reso- Gadhafis Soldaten erst ausgeplündert und dann
lution 1973 – besser bekannt unter dem Schlag- auch Flüchtlingsboote gezwungen. Der Diktator
wort »Stoppt Gadhafi!« – enthält einige sehr möchte Europa wohl zeigen, dass es mit seinem
weitreichende Sätze. Am 17. März ermächtigte Sturz den wichtigsten Türsteher verliert. Noch
der Sicherheitsrat die UN-Mitgliedsstaaten, in mehr müssen sich Somalis, Eritreer oder Sudane-
Libyen »alle notwendigen Maßnahmen zu er- sen aber vor den Rebellen fürchten. Weil sich
greifen, um von Angriffen bedrohte Zivilper- unter Gadhafi-treuen Kämpfern auch Söldner
sonen zu schützen« – mit Ausnahme der Entsen- aus anderen afrikanischen Ländern befinden,
dung von Besatzungstruppen. Seitdem beobach- stehen nun alle Ausländer mit dunkler Hautfarbe
ten AWACS-Flugzeuge jede Bewegung von unter dem Generalverdacht der Gadhafi-Gegner.
Gadhafis Militäreinheiten, Flugzeugträger und Flüchtlinge berichten von Misshandlungen und
kleinere Kriegsschiffe patrouillieren nahe der li- Menschenjagden. Vielleicht sollte man den Text
byschen Küste, westliche Kampfjets bombardie- von Resolution 1973 auch dem Übergangsrat im
ren Kommandozentralen des Diktators. Und befreiten Bengasi noch einmal vorlegen.
seitdem wähnt sich Europa, das in den vergange- Die Nato bestreitet übrigens vehement, zu
nen Jahren eher dazu neigte, arabischen Diktato- irgendeinem Zeitpunkt ein Schiff mit Flücht-
ren Waffen zu verkaufen, als sie damit zu be- lingen in Seenot bemerkt zu haben. Die maltesi-
kämpfen, wieder auf der richtigen Seite der Ge- sche und die italienische Küstenwache weisen
schichte: Auf der Seite eines prodemokratischen ebenfalls jede Schuld von sich. Die italienische
Aufbruchs, der für jeden Einzelnen Freiheit und Küstenwache hat übrigens gerade erst in einem
Würde einfordert. Dem steht nun eine düstere wagemutigen Manöver 500 Flüchtlinge gerettet,
Zwischenbilanz von mindestens 800, wahr- die vor Lampedusa auf einen Felsen aufgelaufen
scheinlich über 1000 Toten gegenüber. Auch waren. Und womöglich hat im Fall des Schiffs,
Flüchtlinge sind bedrohte Zivilpersonen, aber das mit 72 Menschen an Bord über zwei Wochen
offenbar fallen sie nicht unter Resolution 1973. im Mittelmeer umherirrte, niemand vorsätzlich
Natürlich kann man fragen: Was ist daran oder gar böswillig Hilfe verweigert. Vielleicht
neu? Seit Jahren schon ziehen italienische Fischer ging dieses Schiff einfach im Durcheinander der
mit ihren Netzen immer wieder die Gebeine er- Prioritäten, Zuständigkeiten und Befehlshierar-
trunkener Flüchtlinge an Bord. Das Mittelmeer chien verloren: ein tödliches Chaos.
ist längst nicht mehr nur Urlaubsraum und Han-
delsweg, sondern auch ein großes Grab, seit Eu- www.zeit.de/audio
6 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 POLITIK

Illustration: Beck für DIE ZEIT/www.schneeschnee.de


Die neue Berliner Balance
Immer mehr Politiker fordern Zeit für Familie und Privates ein. Aber wie viel Freiheit darf sein in ihrem Job? VON TINA HILDEBRANDT

E
s gibt Jobs, in denen verdient man keinen heutzutage? »Ich finde diesen Satz sehr sympathisch«, Karl-Theodor zu Guttenberg gesucht wurde, wink- türlich! Denn moderne Frauen, das muss sie als bekennen: »Für mich ist Politik ein Stück Sucht.«
Euro mehr als am Tag bevor man sie an- sagt Baum. Weil er zum Nachdenken anrege über ten mit Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und Ministerin sagen, können alles. Wenn sie ehrlich Zweimal hat er plötzlichen Machtverlust erfah-
trat, aber sie verändern den Alltag dra- die Frage: Was ist die Rolle eines Politikers? dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann ist, weiß sie: Nein, das würde wohl nicht gehen. ren. 1998, als die Regierung Kohl abgewählt wur-
matisch. Auf einmal steht ein BKA- Röslers Satz ist der Versuch eines Spitzenpoliti- gleich zwei konservative Politiker mit dem Hinweis Aber das wäre auch so ein Satz, den die Gegner de, und 2004, als er im Streit um die Gesund-
Kommando im Haus, und es heißt: Das kers, sich vor der Politik in Sicherheit zu bringen, ab, so einen Posten, Sicherheitsstufe 1, wollten sie schnell gegen einen verwenden können. »Meis- heitspolitik als Fraktionsvize zurücktrat. Einmal
Fenster hier muss raus, ins Schlafzimmer kommt einen Cordon sanitaire zu schaffen zwischen der sich und ihrer Familie nicht antun. Worauf der tens«, sagt Schröder mit einem feinen Lächeln, stand Seehofer am Fenster, sah draußen keinen
eine Stahltür, und übers Bett sollte ein Knopf. Damit Macht und dem Menschen. Es ist ein ungewöhn- CSU-Vorsitzende Horst Seehofer schließlich erbost »wird man in Deutschland unter 50 Jahren ja Fahrer mehr und keine Sicherheitsbeamten und
Sie die Polizei rufen können. licher Satz, weil Rösler sich damit angreifbar macht, verbot, dass irgendjemand noch irgendetwas erst ohnehin eher nicht Kanzlerin.« merkte voller Schreck, dass er keine Befreiung
Gerhart Baum hatte so einen Job. Wenn er im er stattet sich selbst mit einem Verfallsdatum aus. mit seiner Frau besprechen dürfe. Miriam Meckel war Staatssekretärin in Nord- empfand, sondern Angst und die bange Frage:
Auto saß, fuhr hinter ihm ein gepanzerter Wagen mit Der Satz ist auch zwiespältig, weil er das Klischee Das Thema Work-Life-Balance hat die Politik rhein-Westfalen, heute ist sie Professorin an der Gibt es mich eigentlich noch?
Sicherheitsleuten, vor ihm einer und daneben drei nährt, das Rösler bekämpfen will: dass die Politik erreicht. Immer mehr Politiker wollen nicht nur ein Universität in St. Gallen, sie hat ein Buch ge- Seehofer glaubt nicht an selbst gesetzte Ver-
Motorräder. Wenn nachts ein Hase durch den Vor- etwas Schmutziges ist, an dem man sich infizieren Leben nach der Politik, sondern ein Leben während schrieben, das vom Burn-out handelt. In der Po- fallsdaten, er glaubt, dass man die Macht umar-
garten hoppelte, wurde es taghell wegen der Licht- kann, vor dem man sich in Acht nehmen muss. der Politik. Vätermonate, politikfreie Wochenenden, litik hat Meckel Menschen gesehen, die in einem men muss: »Ich würde jede Wette eingehen, dass
schranken. »Ich bin viereinhalb Jahre nicht alleine Es gibt nicht viele wie Rösler in der Politik, aber es berufstätige Ehefrauen – was bei Grünen und Sozial- »Zwangssystem aus Terminen, noch mehr Termi- Philipp Rösler nicht mit 45 aufhört, jedenfalls
aufs Klo gegangen«, sagt Baum. Der FDP-Politiker gibt immer mehr, die so denken. »Ich werde alles daran- demokraten noch programmatischen Charakter nen, immer mehr Entscheidungen und auch einer wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.« Das
hatte, ist längst auch bei bürgerlich-konservativen Menge Alkohol im Grunde bedauernswerte Exis- Work-Life-Problem empfiehlt er auf traditionelle
Politikern normal. Begriffe wie »in den Sielen ster- tenzen führten«. Ein gutes Vorbild für die Gesell- Weise zu lösen, nämlich dadurch, »dass er künftig
ben«, wie eine Metapher aus der Welt der Zugtiere schaft sei das nicht, meint sie, und auch deshalb die Termine für die Telefonkonferenzen bestimmt.
lautet, sind out; wer sich für die Partei aufopfert, sei ein Satz wie der von Rösler gut. »Es ist wichtig, Dann werden andere die Probleme haben.«
wird nicht mehr bewundert, sondern beäugt. Aber dass Menschen sagen, ich bin nicht Instrument
das Familienleben mit dem Beruf zu vereinen, kann eines Systems.« Wie es ist, Instrument eines Sys- Bloß nicht wie Kohl werden oder wie
dieser Wunsch in der Politik Wirklichkeit werden? tems zu sein, beschreibt Walter Kohl, der Sohn Westerwelle, denken viele
Das ist die eine Frage. Die andere Frage lautet, was Helmut Kohls, in seinem Buch Leben statt gelebt
es mit der Politik macht, wenn immer mehr Politiker werden. Es handelt vom Preis der Politik für die, Bloß nicht wie Kohl werden oder wie Westerwel-
ihren Posten als Teilzeitjob statt als Lebensinhalt die nicht gefragt wurden, ob sie einen solchen le, denken viele und meinen: keine Maske, kein
begreifen. Preis zahlen wollten: die Familien und Angehöri- Gefangener der Macht. Und nichts wünscht sich
gen von Politikern. Einmal kommt das BKA und das Publikum mehr als Politiker, die »authentisch«
»Die Anforderungen werden immer legt den Höchstpreis, der im Fall einer Entfüh- sind, »menschlich«, Politiker, die mitten im Leben
heftiger«, sagt Kristina Schröder rung des kleinen Walter zu zahlen sei, in dessen stehen, Familie haben, immer für ihre Kinder da
Beisein auf fünf Millionen Mark fest. sind, aber natürlich jederzeit in der Lage, Staats-
Inzwischen lässt sich die Schwangerschaft nicht Kaum einer der jüngeren Politiker mag sich so krisen abzuwenden. Es ist einer von vielen Wider-
mehr verbergen. Kristina Schröder sitzt in einem etwas vorstellen, kaum ein Partner sieht sich heu- sprüchen, mit denen Politiker umgehen müssen.
Besprechungsraum in ihrem Ministerium, eine te noch als stiller Dulder. Als in Berlin die Nach- »Die Menschen haben ein realistisches Gespür
Hand auf dem Bauch, zwischen den Antworten folge von Guido Westerwelle ausgehandelt wurde, dafür. Wenn einer Kanzler ist und Kinder hat,
atmet sie ein bisschen schwerer als sonst. Schröder ließ sich Philipp Rösler telefonisch zuschalten, dann sind das arme Kinder«, sagt Thomas Steg,
wollte Privatleben und Politik immer trennen. weil seine Frau Facharztprüfung hatte. Man kann ehemaliger Regierungssprecher. Denn was wollen
Bei ihrer Hochzeit hat sie die Kirche gewechselt, sagen: Da ist einer der wichtigsten Politiker die Bürger im Zweifel lieber: dass ihr Kanzler
um die Paparazzi irrezuführen. Nun ist die Fami- Deutschlands in der wichtigsten Stunde seiner nachts am Schreibtisch sitzt oder am Kinderbett?
lienministerin in einer Situation, in der sie, wie Karriere nicht dabei. Man kann aber auch sagen: Die Röslers suchen jetzt eine große Wohnung
sie selbst sagt, »offenkundig Privatleben und Be- Was ist eine Partei-Intrige gegen eine Facharzt- in Berlin-Mitte, probehalber, ein Umzug sei das
ruf vereinbaren muss«. Sie hat sich vorgenom- prüfung? Einer wie Peer Steinbrück, der als Fi- noch nicht. Rösler sagt, er mache sich keine Ge-
men, das offensiv zu tun, »nicht verdruckst zu nanzminister einen der tragenden Jobs hatte und danken, ob er seinen Satz zurücknehmen müsse
sagen: Ich habe einen anderen Termin, sondern: als harter Hund gilt, sagt: »Ich will lieber von eines Tages. Darum gehe es ja: keine Ausrede zu
Nein, dieses Wochenende ist für die Familie reser- Leuten regiert werden, die sich auch vorstellen finden, warum man inzwischen unabkömmlich
viert.« Wo so viele nicht zu ihren familiären Ver- könnten, wieder aufzuhören, als von machtver- sei, wie es so schön heißt.
pflichtungen stehen, sehe sie für sich als Ministe- sessenen Typen, die sich ausschließlich über eine Gerhart Baum ist seit Jahren nicht mehr Politiker,
rin »eine Bringschuld«. politische Stellung definieren.« er ist wieder Rechtsanwalt, allerdings ein politischer.
Ein Enddatum würde Schröder ihrer politi- Aber wo genau kippt die Work-Life-Balance Er vertrat sowjetische Zwangsarbeiter und verklag-
schen Laufbahn nicht öffentlich setzen, weil sie in der Politik aus dem Politischen hinaus? Für te die Telekom wegen ihrer Datenskandale. Zurzeit
weiß, dass das gegen sie verwendet würde. Aber Horst Seehofer sind bei allem Verständnis für ärgert er sich über die Jungen in seiner Partei. Nicht
ein Leben lang Politikerin zu sein, kann auch sie mitentscheidende Ehegatten irgendwann die weil sie nicht hart genug seien, sondern weil sie die
sich nicht vorstellen. »Die Anforderungen an Po- »Grenzen der Verantwortungslosigkeit erreicht«. Politik nicht verstanden hätten. »Falsche Loyalität
litiker werden immer heftiger«, sagt Schröder, »Wenn jemand beispielsweise Fraktionsvorsitzen- darf es in der Politik nicht geben«, sagt Baum. Fal-
und viele ihrer Kollegen empfinden es ähnlich. der ist, muss er auch bereit sein, andere Spitzen- sche Loyalität sei es zum Beispiel, die private Kate-
Die Schnelligkeit, mit der man reagieren müsse, positionen in der Politik zu übernehmen.« Nach- gorie der Dankbarkeit ins Politische zu übertragen
sei »Lichtjahre« von früheren Verhältnissen ent- dem Peter Ramsauer nicht Verteidigungsminister und Guido Westerwelle nicht zu stürzen.
fernt. Gleichzeitig steigen die Anforderungen, die und Joachim Herrmann nicht Innenminister Er wünscht all den jungen Politikern, dass ih-
Familie und Partner stellen – die Modernisierung werden wollte, platzte Seehofer der Kragen; er nen das alles gelingt: ehrlich bleiben, sich selbst
der Gesellschaft macht auch vor ihren Volksver- befahl Hans-Peter Friedrich, gefälligst ein Amt im treu, der Familie gerecht werden und den Wäh-
war Innenminister unter Helmut Schmidt, am Ende setzen, zu beweisen, dass man auch als Politiker ein tretern nicht halt. Die Politiker werden weicher Kabinett anzutreten. »Es gibt heute ein anderes lern. »Ich habe es nicht geschafft«, sagt er. »Wenn
seiner Dienstzeit war der rechte Arm vom Öffnen normales Privatleben haben kann und sich nicht ver- – man könnte auch sagen: normaler –, während Rollenverständnis in der Familie, in der der Part- Sie in die Politik gehen, werden Sie verführt. Sie
der schweren Auto-Panzertür lädiert. Baum, Vater biegen muss«, sagt Rösler. Politiker müssten auch Vor- die Politik immer härter wird. ner viel mehr Einfluss nimmt«, stellt Seehofer entfremden sich Ihrem privaten Bereich, und
von drei Kindern, in zweiter Ehe verheiratet, kann bild sein. Der Berliner Volker Ratzmann zog 2008 Familienfeindlich seien andere Jobs auch, da- fest. Es sei eine neue Erfahrung, dass selbst eta- wenn der private Bereich dann auch noch Schwie-
etwas erzählen über die Zumutungen der Politik. seine Kandidatur für den Bundesvorsitz der Grünen rauf legt Kristina Schröder Wert. In Spitzenjobs blierte Politiker nicht ohne Weiteres bereit seien, rigkeiten macht, dann umso mehr, dann flüchten
Was denkt einer, der für die Politik härteste Ein- zurück, weil seine Frau ein Kind erwartete und sich im der Wirtschaft habe man es auch schwer. Nur auf »gefahrengeneigte Posten« zu wechseln, »die Sie.« Was verführt einen? »Die Möglichkeit, Ent-
schränkungen in Kauf genommen hat, wenn er Jahr darauf wieder für den Bundestag bewerben woll- schaut bei denen nicht die ganze Republik zu. nicht in die persönliche Lebensplanung passen scheidungen zu fällen, interessante Menschen zu
hört, dass der neue Parteichef Philipp Rösler seine te. Katja Kipping von der Linken erklärte kürzlich, sie Kristina Schröder hat sich auf das Gespräch vor- oder in denen Unwägbarkeiten drohen«. treffen, die Chance, die in all dem liegt.«
Frau fragt, ob er sein Amt antreten soll, und sagt: könne sich vorstellen, irgendwann mal ihre Partei an- bereitet, sie hat überlegt, was sie sagen wird, wenn Horst Seehofer gilt vielen als Prototyp des Das Gefährliche an der Politik, sagt Baum, das
»Mit 45 höre ich wieder auf«? Beneidet der 78-Jäh- zuführen, aber mit Mitte 35 stehe für sie »die Familien- die Frage kommt: Kann eine Kanzlerin Mutter Machtpolitikers, als Gegen-Rösler par excellence. sei ja nicht das Hässliche, Abstoßende. »Das Ge-
rige den 38-Jährigen, oder denkt er: Alles Memmen planung im Vordergrund«. Und als ein Nachfolger für werden? Von Amts wegen müsste sie sagen: Na- Doch Seehofer ist einer der wenigen, die offen fährliche ist das Anziehende daran.«
POLITIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 7

»Am Ende
DIE ZEIT: Herr Rösler, mit Ihnen an der Spitze ZEIT: Sie reden viel über Stilfragen, über Glaubwür- Rösler: Definitiv ja.
wollte die FDP attraktiver und sympathischer wer- digkeit, Gelassenheit. Gibt es kein großes Projekt, ZEIT: Hier steht aber keine Fahne.
den. Finden Sie, dass das mit dem Personalgerangel das Sie als FDP-Chef vorantreiben wollen? Rösler: Nein, aus Platzgründen. Wir haben einen of-
der vergangenen Tage gelungen ist? Rösler: Glaubwürdigkeit gewinnt man nicht da- fiziellen Saal, da stehen die Deutschlandfahne und die
Philipp Rösler: Wir wollen vor allem wieder erfolg- durch zurück, dass man alte, bekannte Forderungen Europafahne.
reicher werden. Ich will, dass unser Parteitag am ständig wiederholt, möglichst noch etwas lauter als ZEIT: Was ist cool an Deutschland?
Wochenende ein Neuanfang wird. Und ich wollte
nicht, dass wir schon am Montag danach statt über
den Euro oder die Energiewende über die Besetzung
der Fraktionsführung reden. Der beste Weg, die
Diskussion zu beenden, war eine schnelle Entschei-
bisher, sondern durch Verlässlichkeit, Berechenbar-
keit und Entschlossenheit in der Sache. Deswegen,
richtige Feststellung, kündige ich jetzt nicht groß
an, was wir Tolles machen werden.
ZEIT: Sie wollen also immer noch die Steuern sen-
gewinne ich« Rösler: Der Begriff patriotisch wirkt ja ein wenig pa-
thetisch, und cool passt irgendwie nicht. Deutschland
ist meine Heimat, hier bin ich groß geworden. Die-
sem Land habe ich nicht nur viel, sondern alles zu
verdanken. Deutschland bietet allen Menschen alle
dung. ken, reden aber weniger darüber? Führungschaos, Euro-Skepsis, Atomausstieg: Chancen. Eine ostdeutsche Frau ist hier Bundeskanz-
ZEIT: Sie werden Wirtschaftsminister, Rainer Brü- Rösler: Wenn die Wirtschaft weiter so gut läuft, gibt lerin geworden, ein in Vietnam geborenes Adoptiv-
derle wird Fraktionsvorsitzender. Sie wollen die es dafür zumindest mehr Spielräume. Wie Philipp Rösler die zerrüttete FDP erneuern will kind wird jetzt ihr Stellvertreter. Nirgends kann man
Partei programmatisch verbreitern, Brüderle fordert ZEIT: Sie haben der FDP mal in einem Essay emp- den Amerikanischen Traum besser leben als in
eine Konzentration auf die Kernthemen der Libera- fohlen, den Begriff der Heimat zu entdecken. Ist Deutschland.
len, Freiheit und Wirtschaftskompetenz. Kann das Europa für Sie Heimat? ZEIT: Wie hat Ihre Herkunft Ihren Blick auf Deutsch-
funktionieren? Rösler: Heimat – da denke ich an die Region, in der land geprägt?
Rösler: Wenn es diesen Gegensatz gäbe, wäre das ich aufgewachsen bin. Und insgesamt glaube ich, Rösler: Meine Dankbarkeit macht es mir leichter, das
schwierig. Ich halte Wirtschaftskompetenz nicht für dass meine Generation zu Europa leider ein weniger Positive zu sehen. Dass das ein großartiges Land ist,
weniger wichtig, als Rainer Brüderle es tut. Sonst emotionales, eher intellektuelles Verhältnis hat als das spüre ich jeden Tag, auch jedes Mal, wenn ich
wäre ich auch falsch in meinem künftigen Ministe- diejenigen, die noch das Ende des Zweiten Welt- zum Reichstag fahre und die große schwarz-rot-gol-
rium. Wir geben unseren Markenkern nicht auf, im krieges erlebt haben. dene Fahne da oben sehe.
Gegenteil – es ist ein Signal, wenn der Parteichef ZEIT: Wir wüssten gern, warum ausgerechnet zur ZEIT: Zwanzig Prozent sind gegen einen schnellen
gleichzeitig das Wirtschaftsministerium führt. FDP, einer Partei mit großer außenpolitischer Tradi- Atomausstieg. Sind das nicht Ihre Wähler?
ZEIT: Bisher haben viele Ihnen die nötige Härte für tion, heute so viele Euro-Skeptiker gehören. Rösler: Beim Atomausstieg müssen wir die Partei der
ein Spitzenamt nicht zugetraut. Haben wir gerade Rösler: Meine Erklärung ist, dass beides zusammen- Vernunft sein. Und dazu gehört, dass wir an die Jah-
eine Häutung zum Machtpolitiker erlebt? hängt: Wenn diejenigen, die kritisch über europäi- reszahlen, die aktuell diskutiert werden, Preisschilder
Rösler: Sie haben erlebt, dass wir auch schwierige sche Bürokratie oder mangelnde Transparenz spre- hängen. Was kostet der Ausstieg 2020, 2030, 2040?
Entscheidungen anders fällen als andere Parteien. chen, immer wieder hören: Bitte nicht, du darfst Wenn sich andere überbieten bei den Ausstiegsdaten,
Zwischen Birgit Homburger und mir wird mensch- nicht die europäische Idee gefährden, wenn Kritiker wollen wir ein realistisches Ausstiegsszenario anbieten,
lich nichts Negatives zurückbleiben. Das Gleiche also reflexhaft in die europafeindliche Ecke gestellt das Sicherheitsaspekte, Kosten und Versorgungs-
gilt für Guido Westerwelle und Rainer Brüderle. werden, führt das zu Gegenreaktionen. Es wird mei- sicherheit berücksichtigt. Christian Lindner und ich
ZEIT: Wird es mit Ihnen an der Spitze mehr oder ne Aufgabe sein, sachliche Kritik aufzugreifen und sind uns vollkommen einig, dass dieses Projekt ver-
weniger Konflikte in der Koalition geben? Ihre Par- zu zeigen, wo sich Europa ändern muss. gleichbar ist mit der Mondlandung.
tei wünscht sich beides: weniger Streit und dass die ZEIT: Was wollen Sie am geplanten Euro-Rettungs- ZEIT: Der Preis ist der FDP also wichtiger als ein
FDP sich häufiger durchsetzt. paket ändern? möglichst schneller Ausstieg?
Rösler: Mit den Inhalten ist es nicht anders als mit Rösler: Erstens brauchen wir harte Auflagen, etwa Rösler: Nein. Bisher haben wir aber zu Recht primär
dem Personal: Wenn Sie etwas für sich als wichtig für die Haushaltskonsolidierung, damit klar ist, dass über die Sicherheit der Kernkraftwerke diskutiert.
entschieden haben, müssen Sie es auch durchsetzen. es sich bei allen Hilfen nur um Maßnahmen zur Eine vernünftige Partei, also die FDP, muss dafür
Aber für das Ansehen der Regierung ist nicht nur Überbrückung von Schwierigkeiten handelt, nicht sorgen, dass auch über den Preis des Ausstiegs geredet
wichtig, welche Inhalte wir vorantreiben, sondern um Dauerlösungen. Zweitens sind Sanktionsmaß- wird. Das werden wir tun. Die Balance muss stimmen
auch, wie wir miteinander umgehen. Da sind viele nahmen erforderlich für Länder, die sich nicht an in dieser Debatte.
Menschen enttäuscht – leider wird dieser Frust vor die Vereinbarungen halten. Drittens muss das Par- ZEIT: Sie sind demnächst Wirtschaftsminister. Sehen
allem bei uns abgeladen. lament bei jeder Rettungsaktion mitentscheiden. Sie in der Energiewende eher eine Belastung für die
ZEIT: Sie wollen einen anderen Umgang mit Frau Das ist mir besonders wichtig. Wenn Sie mehr Ak- Wirtschaft wegen der steigenden Preise oder eher eine
Merkel pflegen als Guido Westerwelle? zeptanz für Europa wollen, müssen Sie neben den Chance zur Erneuerung?
Rösler: Das ist eine Selbstverständlichkeit, weil Regierungen auch die Abgeordneten beteiligen. Rösler: Da man keine Wahl hat, muss man Optimist
Menschen nun mal unterschiedlich sind. Ich bin zu- ZEIT: Die FDP steht für große außenpolitische sein. Ich sehe die Energiewende daher als Chance für
versichtlich, weil ich glaube, dass Frau Merkel und Grundsatzentscheidungen. Verpflichtet das einen Deutschland. Sie wird einen Innovationsschub aus-
ich grundsätzlich ähnliche Typen sind. jungen Parteichef wie Sie? lösen. Mein Ziel als Wirtschaftsminister muss es sein,
ZEIT: Inwiefern? Rösler: Zur Zeit des Kalten Krieges war das erste in Deutschland produzierte Windanlagen überall in
Rösler: Ohne mich auf eine Ebene mit der Kanz- Ziel, Stabilität und Frieden zu erhalten, dafür steht der Welt anzutreffen. Vielleicht gelingt es der deut-
Foto (Ausschnitt): Anatol Kotte für DIE ZEIT

lerin stellen zu wollen: Frau Merkel sieht sich Dinge die Generation von Hans-Dietrich Genscher. Das schen Industrie jetzt sogar, eine Kaffeemaschine zu
ruhig an, wartet ab, lässt sich nicht irritieren von hat sich verschoben. Es gibt keine Ost-West-Aus- entwickeln, deren Heizplatte man abschalten kann,
äußeren Einflüssen und Kommentaren – und am einandersetzung mehr, keine Blockkonfrontation. ohne dass man erst zehn Menüpunkte auf einem Dis-
Ende kommt oft das heraus, was sie sich wünscht. Deutsche Interessen zu vertreten bedeutet heute play durchblättern muss. Das wäre ein Renner.
ZEIT: Die FDP hingegen verliert, und im Herbst auch, Wirtschaftsinteressen wahrzunehmen. ZEIT: Bei der Katastrophe von Tschernobyl waren Sie
wird in drei Bundesländern gewählt. Wie kommt ZEIT: Wie lässt sich der Schaden beheben, der durch 13 Jahre alt. Wie haben Sie diese Tage erlebt?
Ihre Partei aus dem Vier-Prozent-Loch? den deutschen Alleingang in der Libyen-Frage ent- Rösler: Wir durften nicht rausgehen zum Sportunter-
Rösler: Indem ich mich als Bundespolitiker bei den standen ist? richt. Und neulich habe ich das erste Mal seit 25 Jah-
anstehenden wichtigen Entscheidungen über den Rösler: Ich halte die Entscheidung für richtig, keine ren frischen Rhabarber gegessen. Meine Oma hatte
Euro, die Bundeswehr oder die Energiewende nicht deutschen Soldaten in einen Auslandseinsatz nach ihn immer in ihrem Garten in Hamburg-Harburg,
von Wahlterminen in den Ländern beeindrucken Libyen zu schicken. Aber wir dürfen niemals einen damals hieß es aber, Rhabarber dürfe man wegen der
lasse. Das war ein Fehler, den wir zu Beginn der Le- Zweifel an unserer Bündnistreue auch nur aufkom- radioaktiven Verseuchung auf gar keinen Fall essen.
gislaturperiode gemacht haben. Übrigens hat es men lassen. Trotzdem habe ich später zu denen gehört, die Atom-
auch nicht funktioniert.
ZEIT: Mit welcher Bilanz soll die FDP 2013 um
ZEIT: Haben Sie sich gefreut über den Tod von bin
Laden, wie die Kanzlerin?
Der Neue kraft für eine akzeptable, beherrschbare Technologie
hielten. Mit Fukushima hat sich das auch für mich
Wiederwahl werben? Rösler: Ich habe großes Verständnis dafür, dass sich 1973 geboren in Vietnam, adoptiert fehlt«) kritisiert er die Bundespartei. geändert, weil ein Ereignis, das angeblich nur einmal
Rösler: Auch da gilt, dass Sie nur verkrampfen, wenn viele Menschen erlöst fühlen. Osama bin Laden war von einem Ehepaar in Norddeutschland Ihr »ordoliberaler Kurs« gehe »an den in 100 000 Jahren eintritt, plötzlich Realität wurde –
Sie ständig an den Wahltag denken. Wenn die FDP ein Terrorist, verantwortlich für den Tod Tausender. 1992–1999 Sanitätsoffizier und Menschen vorbei«. In der Wirtschafts- und das im Hochtechnologieland Japan. Die Welt ist
gute Regierungsarbeit macht, wird sie 2013 gewählt. Als Mitglied des Zentralkomitees Deutscher Katho- Medizinstudium bei der Bundeswehr krise müsse die FDP sich deutlicher zu schöner, wenn man immer Rhabarber essen darf.
Es ist jetzt die Aufgabe der FDP, und so wird es un- liken habe ich mich allerdings stets sehr stark enga- 2000–2009 FDP-Generalsekretär, Lan- Werten wie Solidarität bekennen
ter meiner Führung sein, für die nötige Gelassenheit giert gegen die Todesstrafe. desvorsitzender und, mit 36, 2009 Bundesgesundheitsminister, Das Gespräche führten PETER DAUSEND und
innerhalb der Regierung zu sorgen. Nehmen Sie die ZEIT: Und was war Ihr erster Gedanke? jüngster Wirtschaftsminister Vorbereitung der Krankenkassenreform ELISABETH NIEJAHR
Energiewende: Da ist man sehr hektisch von einem Rösler: Stimmt das wirklich? Der zweite: Wie war in Niedersachsen 2011 Kandidat für den Parteivorsitz
Extrem ins andere umgeschwenkt. Das muss anders das, was ist da passiert? Ich war einfach neugierig. 2008 In einem Thesenpapier (»Was uns Hobby: Bauchredner FDP: Berichte vom Parteitag auf ZEIT ONLINE
werden. ZEIT: Sind Sie patriotisch? www.zeit.de/FDP
8 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 POLITIK

Foto: Faisaal Mahmood/Reuters


Jungen an einer Koranschule im pakistanischen Abbottabad. In der Nähe wurde bin Laden getötet

Der Sieg wird unser sein


Von Osama bin Ladens Tod lassen sich die Islamisten nicht beirren. Sie wittern ihre Chance. Eine Reise durch Pakistan VON GEORG BLUME

Peschawar/Lahore/Islamabad nem neu gebauten Moschee-Komplex mit islamischer Universitätsprofessor, hat jedes betroffene Land Wo immer man in Pakistan heute hinhört – alle Gerichtshof von Lahore klingen wie Islamisten. Sie

D
er Tod Osama bin Ladens, der Krieg Schule liegt. Er stellt die Stühle in die Sonne auf den genau studiert. Besonders bedauert er die Lage in liberalen Kräfte betonen, wie abgewirtschaftet die alte sprechen davon, dass ausländische Mächte für Terror
um Libyen, die Revolutionen in grünen Rasen, im Westen erheben sich die Berge um Syrien: kein Licht am Ende des Tunnels. Und ein demokratische Elite, wie sehr das Militär von Isla- und Gewalt in Pakistan verantwortlich seien, dass die
Ägypten und Tunesien – weshalb den Khyber-Pass nach Afghanistan, im Osten strahlt allzu weltlicher Präsident an der Macht. »Die ara- misten unterwandert sei und wie sich letztlich das USA und auch Deutschland kein Recht auf Inter-
die Aufregung? Der Weg, sagt Mo- die weiße Moschee vor blauem Himmel. Bald tönen bischen Völker kämpfen gegen ihre Despoten. Ihre ganze Land Schritt für Schritt, mit großer Beständig- vention in der Region hätten. Das ist einer der größ-
hammed Ibrahim, ist klar, das Ziel Kinderstimmen aus der Schule herüber. Genau das Geduld ist aufgebraucht. Alle Räder stehen still.« keit seit über 20 Jahren dem islamischen Glauben ten Erfolge der Islamisten: Sie haben die Grenze
auch. Nur keine Eile. Nur nicht drängen lassen von will Ibrahim zeigen – seine heile islamische Welt. Für Ibrahim geht die Geschichte weiter. Weil er in zuwende. Und zwar nicht dem moderaten, sondern zwischen radikalen und gemäßigten Muslimen ver-
den Ereignissen. Unter den Mullahs herrscht nicht nur Chaos. Und einer Demokratie lebe, die ihre Despoten abge- dem strengen, sogar radikalen Islam, der keinen an- schwimmen lassen. So sehr, dass selbst radikalste Ko-
Ibrahim ist der politische Kopf der größten is- wenn, dann sind andere dafür verantwortlich. »Die schüttelt hat, komme es nun zum entscheidenden deren Glauben neben sich duldet. ranprediger in Pakistan salonfähig geworden sind.
lamischen Partei in Pakistan, Dschama’at al-Isla- wirkliche Gefahr für uns ist der sogenannte Krieg Kampf – dem zwischen den USA und der isla- Lahore zum Beispiel, acht Millionen Einwohner,
mija. Er war Senator im pakistanischen Oberhaus, gegen den Terror, den die USA führen«, sagt Ibrahim. mischen Welt. »Die USA haben Verbindungen mit alte Mogul- und Kolonialpracht, einst Vorzeigestadt »Der Heilige Krieg wird nicht durch
er war Provinzpräsident, noch immer ist er ein »Wenn unsere Führer es wagen würden, sich von allen Despoten der Region. Deshalb fürchten sie Pakistans, die lange abseits von Gewalt und Terroris- den Tod einer Person geschwächt«
Mann mit viel Einfluss in Peschawar. Kaum einer diesem Krieg zu distanzieren, wären die Taliban und jetzt, dass islamische Bewegungen die Herrschaft mus lag. Aber in den vergangenen Jahren gab es im-
in seiner Partei hat so viel Regierungs- und Amts- al-Qaida keine Bedrohung mehr für uns.« mer wieder brutale Anschläge. Nach und nach ist die Es ist ein warmer Tag, als Maulana Abdul Aziz aus
erfahrung wie er. Ibrahim ist ständiger Gast der Über Jahrzehnte konnten die säkularen Regierun- ZEIT-Grafik Stimmung gekippt – wann, das weiß niemand mehr der Hauptstadt Islamabad in ein kleines Dorf auf-
pakistanischen Talkshows. Würden die Islamisten gen in Islamabad derartige Äußerungen aus dem so genau. Die vielen liberalen Intellektuellen der bricht, um den Bau einer Mädchen-Koranschule zu
in Pakistan die nächste Wahl gewinnen: Ibrahim Lager des Islamisten ignorieren. Zwar gründet Ibra- Stadt, die einst Lahores Ruf als Kulturhauptstadt besichtigen. Er wird begleitet von vier bewaffneten
würde Regierungssprecher oder Außenminister hims Partei Dschama’at al-Islamija auf einer über Abbottabad Pakistans begründeten, haben Angst. Frauen ver- Männern mit AK-47-Gewehren. Aziz ist Vorsteher
Khyber-Pass
werden. »Ist es nicht denkbar, dass die USA heute hundert Jahre alten, in der Geistlichkeit tief verwur- schleiern sich und schicken die eigenen Kinder auf der Roten Moschee. Er trägt eine weiße Kutte und
AFGHANISTAN Islamabad
nur deshalb ein Osama-Drama aufführen, weil sie zelten antikolonialen Bewegung. Doch politisch die strengsten Koranschulen. Wer den islamischen einen schwarzen Turban, er lächelt. Als ihn später die
ihre peinliche Niederlage in Afghanistan kaschie- bedeutsam wurde sie erst, als sie vor acht Jahren die Peschawar Gesetzen öffentlich widerspreche, müsse um sein Nachricht von bin Ladens Tod erreicht, sagt er, dass
Lahore
ren und uns glauben machen wollen, Osama sei Wahlen in der Nordwestprovinz gewann. Ibrahim Leben fürchten, klagt eine Frau, die bei einer Stiftung er die islamische Sache nicht in Gefahr sehe. »Es muss
tot?«, fragt er seelenruhig am Telefon mit seiner gilt als Architekt dieses Wahlsiegs. Fünf Jahre lang INDIEN arbeitet. Kürzlich sind zwei Politiker ermordet wor- heute Tausende geben, die bereit sind, Osamas Platz
leisen, aber betonten Predigerstimme. Kein Wort erlebte seine Partei, was es heißt, zu regieren. Dann u s den, die sich gegen das strenge Blasphemie-Gesetz einzunehmen. Der Heilige Krieg kann nicht durch
I nd
davon, ob Pakistan Osama bin Laden all die Jahre verlor sie die Wahlen. Dennoch: Die politischen Isla- des Landes ausgesprochen hatten. Die Empörung war den Tod einer Person geschwächt werden.«
geschützt hat. misten hatten gelernt, wie man auf demokratischem PAKISTAN schwach. Dagegen rief die Erschießung bin Ladens Aziz entstammt einer berühmten Predigerfamilie,
PAKISTAN
Weg die Macht erobert. Ibrahims Partei ist heute in durch die US-Streitkräfte deutlich mehr öffentliche seit 1965 führt sie die Rote Moschee, ein Gotteshaus
Ibrahim glaubt, dass die Revolutionen modernen Wahlkampftaktiken erprobt. Und obwohl Kritik hervor. mitten im Regierungsbezirk der Hauptstadt. Ein
ein Kampf für islamische Ideen sind ihre radikalsten Anhänger dieser Tage Bin-Laden- Arabisches Meer »Pakistan ist der zukünftige Staat al-Qaidas. kompakter roter Backsteinbau mit roten Mosaikfens-
Arabisches INDIEN
Porträts auf den Straßen schwenken, hat sie sich im 200 km
Meer Die Gefahr eines Atomstaats in Terroristenhand tern, in dem vor wenigen Jahren eine spektakuläre
Ibrahim sieht aus wie ein Weiser aus dem Morgen- öffentlichen Meinungsbild erfolgreich von al-Qaida steht hier unmittelbar vor der Tür«, warnt der in- Geiselnahme der Taliban endete. Militärs hatten die
land: langer weißer Bart, ruhiger klarer Blick, vor- abgegrenzt. Seither wird sie auch in der Hauptstadt ternational bekannte Autor und Journalist Khalid Moschee gestürmt, es gab zahlreiche Tote. Aziz und
nehme beige Kleider. Kurz bevor die Nachricht vom Islamabad ernst genommen. in den arabischen Ländern erringen. Ich aber zwei- Ahmed. Ahmed hat Angst vor Anschlägen. Er lei- seine Predigerfamilie aber unterstützten die Geisel-
Tod bin Ladens eintraf, hatte er in das nordwest- Jeder, der Ibrahim trifft, erhält seine politische fele daran nicht. Ich habe volles Vertrauen in die tet eine Journalistenschule in Lahore, politisch hält nahme. Bestraft wurden sie dafür nie. Seitdem gilt
pakistanische Peschawar eingeladen. Eine ungewöhn- Bibel: eine Schrift des bedeutendsten Theoretikers Massen der Muslime. Sie werden die USA und ihre er sich zurück. Doch er reist immer noch viel in die Moschee als Hochburg der radikalislamischen
liche Reise, denn seit Monaten dürfen westliche von Dschama’at al-Islamija aus den dreißiger Jah- Ideen besiegen und das heutige politische Vakuum der Region. »Die Demokratie, die sich der Westen Bewegung. Und neuerdings als Ort der Hoffnung.
Journalisten nicht nach Peschawar. Zu gefährlich. Wir ren. Das Büchlein ist kein Appell, zu den Waffen füllen – sofern man sie frei wählen lässt«, sagt Ibra- wünscht, wird nicht kommen«, sagt er. »Sogar auf Aziz’ Neffe kommt, ein junger Mann mit Brille
können in keinem Hotel übernachten, da extremis- zu greifen. Aber es ruft zum Kampf gegen die Un- him. Es ist sein Vereinnahmungsversuch. West- dem Tahrir-Platz in Kairo warfen sich alle auf die und brauner Predigerkappe. Er führt durch die Mo-
tische Gruppen einen Anschlag auf Ausländer planen gläubigen auf. Es fordert die strenge Wahrung der liche Intellektuelle betonen, der Zorn Arabiens Knie und beteten. Es war angsterregend. Sehr bald schee. Überall liegen rote Teppiche aus, er zeigt auf
könnten. Jede Nacht schlafen wir woanders, meistens islamischen Gesetze, der Scharia. Es neigt zur Into- richte sich nicht gegen die USA, sondern gegen die werden die Bewegungen in den arabischen Län- kunstvolle Deckenmalereien und lässt sich vor einer
in irgendeinem Büro. Tagsüber fährt uns ein Taxi, die leranz gegenüber Andersgläubigen. Ibrahim muss eigenen Herrscher und sei deshalb ein Votum für dern islamistische Züge bekommen.« Bücherwand in seinem Büro nieder. »Im Augenblick
Scheiben sind verdunkelt. Aber Ibrahim will endlich sich mit diesem Büchlein nicht verstecken. Es zählt die westliche Demokratie. Ibrahim dagegen glaubt, Im Gegensatz zu westlichen Beobachtern, die herrscht in der islamischen Welt Aufruhr«, sagt er.
reden, worüber die Islamisten bisher geschwiegen heute zu den weltweit meistverbreiteten isla- dass die Revolutionen ein Kampf für die isla- glauben, die arabischen Revolutionen stünden für »Aber der Wandel hat gerade erst begonnen. In fünf
haben: über sein Land, über Tunesien, Ägypten, über mischen Schriften. Nicht zufällig stammt es aus mischen Ideen sind. Modernisierung und Säkularisierung, spricht Ah- bis zehn Jahren wird er dauerhaft sein. Bis dahin wird
die Hoffnungen, die seine islamistische Partei hegt, Pakistan: Operativ war das Land für die islamisti- Ibrahim schaukelt mit seinem Stuhl auf dem med aus pakistanischer Erfahrung. Für ihn schrei- eine neue Generation der islamischen Bewegung an
seit der arabische Frühling herrscht. Ibrahim sieht sche Bewegung bedeutungslos, ideologisch aber Rasen und schaut in den Himmel. »Ich sehe keine tet mit Revolution und Instabilität in der Region seiner Spitze stehen. Dafür müssen wir jetzt schon
darin die Chance für eine Wende. Keine demokrati- umso einflussreicher. Notwendigkeit, auf die Straße zu gehen. Wir nur die »Talibanisierung der Köpfe« voran. hart arbeiten.« Er ist erst 35 Jahre alt und Imam, ein
sche, sondern eine islamische. Für Ibrahim ist die Demokratie nicht Ziel, son- können friedlich entscheiden. In zwei Jahren ha- Längst ist die Ideologie der Islamisten in der Mit- Prediger wie sein Onkel. Er ist sich sicher, dass seine
Den Ort für das Treffen wählt er mit Bedacht. Er dern Mittel zum Zweck eines islamischen Staates ben wir Wahlen«, sagt er. Nur keine Eile. Nichts te der Gesellschaft angekommen. Angesehene Män- Stunde noch kommen wird. Dass die Geschichte ihm
lässt zwei Stühle aus seinem Büro bringen, das in ei- – wie die arabischen Revolutionen. Er, ein früherer überstürzen. ner wie der frühere ranghöchste Richter am Obersten noch recht geben wird. Bald schon, nur keine Eile.
POLITIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 9

»Ich fühle mich umzingelt«


Das syrische Regime verhaftet wahllos Menschen und kappt das Internet. Wie lebt es sich dort jetzt? VON RAZAN ZEITOUNEH

A
m vergangenen Freitag um 15 sehe, wird es noch schlimmer: Das syrische Immer wieder erwischen wir es bei Lügen: gefoltert haben, um unser Versteck zu finden
Uhr habe ich in meinem Ver- Staatsfernsehen zeigt stundenlang falsche Vergangene Woche zum Beispiel traten zwei (das er gar nicht kennt).
steck noch ein Stück Freiheit ver- Geständnisse von angeblichen Terroristen – Männer im Fernsehen auf, die als Fahrer im Bislang also keine guten Nachrichten diese
loren: Das Regime hat die Inter- deren Familien sich dann wenig später bei uns Grenzverkehr zwischen Libanon und Syrien Woche. Daraa wird immer noch belagert, und
netverbindung über unseren Aktivisten melden und uns erzählen, dass arbeiten. Sie wurden an der Grenze ohne er- wir bekommen von dort praktisch keine Infor-
Provider und vorübergehend auch die Ein- nichts davon stimme und die Geständnisse sichtlichen Grund festgenommen; zwei wei- mationen mehr. Allenfalls ab und an ein paar
wahl übers Telefon gesperrt. Seither habe ich allesamt unter Folter erzwungen worden sei- tere Fahrer, die sich weigerten mitzukommen, Updates über Satellitentelefon, davon gibt es
kaum noch Verbindung zur en. Die Waffen, die angeblich wurden erschossen, und einige wenige in der Stadt.
Außenwelt. Seit Tagen habe R A Z A N Z E I T O U N E H bei diesen »Terroristen« ge- am nächsten Tag behaup- Im Moment sieht es aus, als
ich mit keinem Menschen funden wurden? Lachhaft! teten die beiden anderen würde das Regime mit seiner
mehr gesprochen, weil ich Wenn ich die Bilder sehe, Männer im Fernsehen, TÜRKEI brutalen Unterdrückungs-
mich nicht mehr bei Skype weiß ich genau, dass die Sicher- diese zwei seien Terroristen strategie die Oberhand ge-
einwählen kann. Mein Mo- heitskräfte ihre eigenen Be- gewesen. Wir haben die winnen. Trotzdem werden
biltelefon hat die Regierung stände vorführen. Wer sonst Namen der Erschossenen SYRIEN
IRAK die Proteste weitergehen. Sie
schon vor Wochen gesperrt, hat denn in Syrien solche und wissen, dass diese Be- Mittelmeer können uns verlangsamen,
eine neue Sim-Karte auf mei- Waffen? Die Demonstranten schuldigung falsch ist. Damaskus aber nicht stoppen.
nen Namen zu besorgen wäre jedenfalls nicht. Ich fühle mich regelrecht Einen Lichtblick im-
zu riskant. Und alle Freunde, Natürlich sehe ich auch die umzingelt. Vor ein paar merhin gab es diese Wo-
die mir auf ihren Namen eine lebte in der Hauptstadt Berichte über die getöteten Si- Tagen haben Sicherheits- Kairo che: Ich habe meinen
kaufen könnten, sind entwe- Damaskus, bevor sie im cherheitskräfte, die Bilder kräfte ein Viertel in der SAUDI- Mann wiedergesehen. Er
der verhaftet oder werden März untertauchte aus misshandelter Körper. Aber ich Nähe durchkämmt. Oft ARABIEN hat mich kurz in meinem

R ot
es M
gesucht. Furcht vor Verhaftung. Die glaube einfach nicht, dass dies nehmen sie einfach alle ÄGYPTEN Versteck besucht. Das war
Online-Chats – wenn denn Anwältin wird auch in den das Werk der Protestierenden Männer eines Haushalts zwar riskant, aber das war

e er
die Telefoneinwahl funktio- kommenden Wochen ist. Immer wieder hören wir mit, die älter als 15 Jahre es uns wert. Jetzt sind wir
niert – sind jetzt meine Nabel- berichten, was ihr als von Familien getöteter Sol- sind. Wenn der Gesuchte SUDAN wieder jeder für sich, in
schnur zur Welt, Buchstabe Dissidentin widerfährt daten, diese seien erschossen nicht angetroffen wird, ZEIT-Grafik derselben Stadt und doch
für Buchstabe morse ich mei- worden, weil sie sich geweigert nehmen sie gern auch ein 400 km wie aus der Welt. Nicht
ne Nachrichten nach draußen, hätten, auf Demonstranten zu anderes Familienmitglied als einmal telefonieren kön-
im Telegrammstil laufen die Meldungen von schießen. Beweisen können wir es nicht, und Geisel, so wie meinen Schwager. Von dem haben nen wir im Augenblick. Nur kleine Textbot-
außen bei mir ein. Zwölfjähriger Junge bei Pro- das Regime sendet fleißig seine Propaganda. Es wir kein Lebenszeichen, seit Sicherheitskräfte schaften wandern zwischen unseren Verste-
testen in Homs getötet. Mehr als 250 Men- wundert mich aber, dass es damit offenbar ei- am 30. April in unsere Wohnung eingedrungen cken hin und her.
schen in Banyas verhaftet. Strom und Internet nen gewissen Erfolg haben und Skepsis an den sind und ihn mitnahmen, weil mein Mann und

Fotos: Reuters
in vielen Vierteln von Homs unterbrochen. Motiven unserer Bewegung säen kann. Die ich nicht da waren. Nicht ein Wort seither! Wir Aufgezeichnet von SUSANNE FISCHER
Die Isolation schlägt mir aufs Gemüt. Ich Welt sollte doch inzwischen wissen, wozu die- wissen nicht, wer ihn verhaftet hat, wo er fest-
esse kaum, rauche viel zu viel. Wenn ich fern- ses Regime fähig ist. gehalten wird, wie es ihm geht oder ob sie ihn www.zeit.de/audio
Steine gegen einen Panzer: Von den Protesten
gibt es keine Fotos, nur solche Internet-Videos

Feuer für den Propheten


Ägypten nach Mubarak: Wer sind die radikalen Muslime, die
Kirchen anzünden? VON MICHAEL THUMANN

N
ach dem Regimesturz nun der Reli- book wurde gemunkelt, die Sendung sei nach-
gionskonflikt? Die Angst geht um in träglich gefälscht worden. Schon hatten die Sala-
Ägypten. Im Kairoer Arbeiterviertel fisten wieder Munition.
Imbaba mussten sich koptische Die bekommen sie übrigens auch von den
Christen am vergangenen Wochenende Atta- Kopten frei Haus. Cornelis Hulsman, Leiter des
cken muslimischer Radikaler erwehren. In dieser ArabWestReport in Kairo und ein langjähriger
furchtbaren Nacht brannten zwei Kirchen. Beobachter konfessioneller Beziehungen, wirft
Zwölf Menschen starben, Hunderte wurden den Kopten »mangelnde Transparenz« vor. Die
verletzt. Die Armee nahm 190 Randalierer fest Kirche betreibe Geheimniskrämerei, wenn Frau-
und kündigte Militärgerichtsverfahren an. Zur en sich von ihren Männern trennen wollten.
Abschreckung. Doch die Fundamentalisten Scheidung ist verboten. Viele ultrakonservative
drohen wiederzukommen. Rollt nun die Welle Priester bestehen streng auf dieser Tradition.
des radikalen Islamismus an, vor der das alte Mitunter wechseln christliche Frauen nur den
Regime des gestürzten Herrschers Hosni Muba- Glauben, um endlich von ihrem Mann wegzu-
rak immer gewarnt hatte? kommen. Doch verbietet das koptische Bekennt-
Längst bedrohen die Übergriffe von musli- nis den Übertritt zu einer anderen Religion – wie
mischen Extremisten nicht mehr nur Christen. auch der Islam. In der hiesigen Kultur von »Ehre
Säkulare Politiker sehen sich im Fernsehen und und Scham«, sagt Hulsman, werde so etwas so-
im Internet verleumdet. Schreine von ägyp- fort zur öffentlichen Angelegenheit. Dann stür-
tischen Sufis, Anhängern eines mystischen Is- men die Salafisten dankbar die Bühne.
lams, werden beschädigt oder zerstört. Radikale Warum Fundamentalisten gerade nach der
schnitten einem Kopten in Qena ein Ohr ab, Revolution vom Februar so schrill und sichtbar
weil er seine Wohnung angeblich an Prostituierte geworden sind, darüber kursieren in Ägypten
vermietet hatte. Die Extremisten greifen Alko- zwei Lesarten. Viele Kopten sagen, dass nun die
holgeschäfte an. Medien berichten von Säure- Islamisten überall Auftrieb gewönnen. Viele ra-
attacken auf unverschleierte Frauen. dikale Muslime seien aus den Gefängnissen ent-
Die Angreifer sind meist Salafisten. Sie beru- lassen worden. Im Verfassungsreferendum hätten
fen sich auf die Vorfahren (as-Salaf ), bestehen Salafisten und Muslimbrüder Seite an Seite für
auf dem, was sie für die Lebensformen der Pro- die Annahme gekämpft, weil sie den Passus über
phetenzeit halten. Dabei huldigen sie oft erfun- den Koran als eine Hauptquelle der Gesetze er-
denen Traditionen, die sicherlich im Internet, halten sehen wollten. Das ist richtig und den-
aber nicht unbedingt für das 7. Jahrhundert ste- noch nur die halbe Wahrheit.
hen: ultralange Bärte, knöchelfreie Pluderhosen, Die zweite Lesart unterscheidet stärker zwi-
Musikhass, Vollverschleierung. Salafisten gibt es schen den oft unpolitischen Salafisten und den
heute in der gesamten islamischen Welt, jüngst Muslimbrüdern, die derzeit eine eigene Partei
brachten sie in Gaza einen italienischen Frie- gründen – und vielleicht gar mehrere. Die Mus-
densaktivisten um. Dort liefern sie sich auch limbrüder wurden vom alten Regime stark be-
Gefechte mit der islamistischen Hamas. Salafis- kämpft, sie saßen im Gefängnis, ihre Medien
ten konkurrieren von rechts mit den Muslim- wurden behindert und verboten.
brüdern, der mächtigsten islamistischen Bewe- Die Salafisten hingegen genossen erstaunliche
gung im Nahen Osten. Viele salafistische Predi- Freiheiten. Nicht nur, dass ihre Prediger geduldet
ger in Ägypten wurden in Saudi-Arabien aus- wurden, sie hatten unter Hosni Mubarak sogar
gebildet, prägten dann aber am Nil einen eige- Fernsehkanäle, welche die Massen mit hoch-
nen radikalen Stil. Wie viele Anhänger sie wirk- angereicherter spiritueller Nahrung versorgten.
lich haben, weiß niemand genau. Der Lärm, den Die Muslimbruderschaft konnte davon nur träu-
sie machen, dürfte ihre Bedeutung aber weit men. Ihr populärster Prediger, Jussuf al-Qarada-
übertreffen. wi, musste seine Botschaften aus dem fernen
Aufmerksamkeit im Westen erregen vor allem Qatar senden.
ihre Scharmützel mit Christen. Oft geht es dabei Deshalb sind viele Ägypter überzeugt, An-
um Frauen, die angeblich zum Islam übergetre- hänger des alten Regimes förderten die Salafis-
ten sind. Irgendjemand streut dann etwa das ten, um ein Chaos zu säen, in dem die Menschen
Gerücht, diese Frauen würden von Christen fest- nach bewährter Ordnung riefen. Der Verdacht
gehalten, damit sie keinen Muslim heiraten. So erhärtete sich, als voriges Wochenende vor der
ging jedenfalls das Gassengerede am vergangenen Koptenkirche ähnliche Schlägertrupps auftauch-
Wochenende. Die Salafisten in Imbaba forderten ten wie schon im Februar auf dem Tahrir-Platz
die Herausgabe Kamiliya Shihatahs, der Frau ei- und früher bei Wahlkämpfen der inzwischen
nes koptischen Priesters. Kopten, hieß es, hielten verbotenen Staatspartei.
sie gefangen, weil sie zum Islam übergetreten sei. Niemand hat dabei vergessen, dass der
Soweit das Gerücht. schlimmste Anschlag auf Kopten mit 21 Toten
Es half nicht, dass Shihatah mit ihrem Mann und 79 Verletzten am Neujahrstag dieses Jahres
in einem christlichen Satellitensender beteuerte, geschah. Damals saß Präsident Hosni Mubarak
nie übergetreten zu sein. Auf Twitter und Face- noch fest im Sattel.
10 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 POLITIK

R O B E RT O S AV I A N O :
I TA L I E N I S C H E L E K T I O N E N ,
TEIL 6

Italien ist uns fremd geworden.


Eine Serie zur Erklärung
eines rätselhaften Landes

Warum
versinkt
Neapel

Fotos: Laura Lezza/Getty Images; Franck Courtes/VU/laif


im Müll?
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Wie von Geisterhand immer wieder da: Abfall auf den Straßen von Neapel
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eapels Probleme mit der K ein Ausnahmezustand eben. Wenn er Boscoreale erzählte mir, wie sie jeden Morgen von das ist nicht alles: In den 1990er Jahren wurden kleiner Camorrista seinen Boss darauf aufmerk-
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Abfallentsorgung haben jedes Jahr wieder eintritt, dann handelt es ihrer Wohnung zur Schule nach Neapel fuhr, und viele Kippen eröffnet, die laut einem Bericht der sam macht, wie das nächste große Geschäft mit
nichts damit zu tun, dass die sich nicht mehr um einen »Notstand«. In der Gestank reiste mit. Ein beißender Fäulnisgeruch Umweltschutzorganisation Legambiente ein gan- Giftmüll das Grundwasser verschmutzen könnte,
Neapolitaner keine sauberen Men- Neapel ist die Müllkrise zum Normalzustand ge- hatte sich in den Sitzen des Autos und in ihrer Klei- zes Jahrhundert lang neapolitanischen Hausmüll antwortet der Boss ungerührt: »Was kümmert
schen wären. Da gibt es ganz andere worden: Wie es im Sommer heiß ist und im Winter dung festgekrallt, die arme Frau wurde deswegen hätten fassen können. Doch dazu kam es nicht uns das, wir trinken Mineralwasser.«
Gründe. Auf jeden Fall leiden die Neapolitaner kalt, so wachsen jedes Jahr die Müllberge. Neuer- von ihren Schülern gehänselt. – die Camorra füllte die Kippen umgehend mit Das Business der sogenannten Ökomafia
unter der ständigen Wiederholung des Müllnot- dings ereignet sich der Notstand sogar häufiger als Aber warum geschieht so etwas nicht in Genua, Müll aus ganz Italien. kennt keine Krisen, Abfall gibt es schließlich
standes, und sie leiden natürlich auch darunter, dass einmal im Jahr. Vor Weihnachten lagerten auf den Mailand oder Bologna, sondern nur in Neapel? Auf Der Abfall auf der Straße hat verheerende immer, und er wird sogar immer mehr. Laut Le-
ihre Stadt als »Müllhauptstadt« geschmäht wird. Straßen und Plätzen von Neapel 3000 Tonnen diese Frage gibt es eine einfache Antwort. Erstens Auswirkungen, wenn man versucht, das Volumen gambiente haben die Clans mit Müllgeschäften
Wenn der SSC Neapel auswärts Fußball spielt, ver- Müll, die schließlich mit Baggern weggeschafft wur- hat die Camorra bei dem dauernden Müllproblem der Müllberge zu verringern, indem man sie in allein in 2009 einen Umsatz von 20 Milliarden
spotten die gegnerischen Fans die Spieler als »Müll- den. Jetzt, wenige Tage vor der Bürgermeisterwahl, ihre Hand im Spiel. Sie verhindert zusammen mit Brand steckt. Es gibt da ein Dreieck im Hinter- Euro erzielt, ungefähr so viel wie die Telefonge-
männer«. Einige ausländische Fußballer wollten an- sind es erneut über 3000 Tonnen. Die Regierung korrupten Politikern eine funktionierende Entsor- land von Neapel zwischen den Orten Giugliano, sellschaft Telecom Italia und zehnmal so viel wie
geblich wegen der Abfallberge erst gar nicht beim hat wie so oft Soldaten geschickt, die in Neapel als gung, um den Clans riesige Gewinne durch eine in- Villaricca und Qualiano, das alle nur noch »Feu- die Kleiderfirma Benetton. Doch der Müllnot-
neapolitanischen Klub anheuern. Die Neapolitaner Müllmänner eingesetzt werden. effiziente, mit überhöhten Preisen operierende erland« nennen. Oft sieht man da an den Stra- stand war auch Manna für die Politik in Kampa-
vertreiben inzwischen sogar Postkarten, auf denen Um den Müll ranken sich mittlerweile viele Ge- Müllwirtschaft zu sichern. Zweitens wird die Abfall- ßenrändern pechschwarzen Rauch aufsteigen. nien, um ihn drehen sich schließlich Unmengen
Müllhaufen zu sehen sind, sie sind eben ein selbst- schichten, und manche sind geradezu grotesk. Da entsorgung in Neapel und der umliegenden Region Die Brände werden in bewährter Manier gelegt: von Beraterverträgen und Krisenmanagement-
ironisches Volk. Aber in Wirklichkeit empfinden sie gab es zum Beispiel im Hinterland plötzlich einen Kampanien zu einem ganz überwiegenden Teil Die besten »Brandstifter« sind ausländische Ju- Aufträgen. Wenn ganze Provinzen unter dem
die Dauerkonfrontation mit dem Müll als unwür- Boom von Klimaanlagen. Jeder Haushalt wollte durch Müllkippen betrieben. Diese Kippen füllen gendliche, denen die Clans der Camorra 50 Euro Müll begraben werden, muss man eben viel Geld
dig, für sie sind die Abfallhaufen ein weiterer Beweis eine haben, auch in den entlegensten Dörfern. Der sich mit der Zeit, und wenn das geschieht, verfügt pro verbrannten Müllhaufen zahlen. Die Jungen lockermachen, um sie von dem Abfall zu befrei-
dafür, dass sie nur Bürger zweiter Klasse sind, um die Grund dafür war der Müll, dessen Gestank derart ein Gericht die Schließung. Nicht selten erfolgt die umwickeln die Müllberge mit den Bändern von en. Wer aber viel Geld zu vergeben hat, der kann
sich der Staat nicht kümmert. aufdringlich in die Häuser drang, dass die Leute die Sperrung der Kippen auch wegen Umweltproble- Videokassetten, schütten Alkohol und Benzin auch auf viele Wählerstimmen hoffen, er kann in
Es gibt 16-jährige Jugendliche in Neapel, die Fenster geschlossen halten mussten. In der Ort- men, wenn austretende Flüssigkeit den Boden ver- darauf und entfernen sich. Mit dem Feuerzeug jedem Fall seine eigene Position festigen. Nur wer
ihre Heimatstadt praktisch noch nie ganz vom Müll schaft Maddaloni in der Provinz Caserta wurden schmutzt. Auf jeden Fall kommt der Schließungs- zünden sie die Videobänder an, die wie eine Neapel zumindest zeitweise vom Müll befreien
befreit erlebt haben. Denn der sogenannte Müllnot- 2008 die Schulen geschlossen, die Postangestellten befehl immer plötzlich, der Müll kann dann nicht richtige Zündschnur funktionieren. In wenigen kann, der darf auf politischen Erfolg hoffen.
stand existiert seit 16 Jahren – also so lange, dass die verweigerten die Arbeit, es wurden keine Märkte mehr abgeladen werden und bleibt auf der Straße. Sekunden brennt dann alles lichterloh, Haus- Im Notfall werden die Entsorgungsunterneh-
Bezeichnung »Notstand« schon gar nicht mehr an- mehr abgehalten – die Müllberge machten ein nor- Natürlich ist das grundlegende Problem dahinter müll und Gewerbeabfälle wie Lacke, Klebstoff, men nicht ganz so streng nach dem Antimafia-
gebracht ist. Ein »Notstand« ist nur eine Episode, males Alltagsleben unmöglich. Eine Lehrerin aus das Fehlen einer nachhaltigen Abfallpolitik. Aber Schmieröl, die jeden Quadratzentimeter Erde gesetz kontrolliert, Hauptsache, der Müll ist erst
mit Dioxin verseuchen. einmal weg. Und natürlich wird die Entsorgung
In Neapel hat die Mülltren- umso teurer, je länger der Abfall
nung nie funktioniert, und das schon auf der Straße liegt. Die
ist wirklich eine Schande. In der D E R A U F K L Ä R E R Camorra kennt die fundamen-
Millionenstadt gibt es nur weni- talen Regeln von Angebot und
ge Viertel, in denen der getrenn- Nachfrage. Von 1998 bis 2008
te Abfall zu Hause abgeholt wird wurden zur Bewältigung der Müll-
– die einzig effiziente Methode, krisen in Kampanien 780 Millio-
weil sie so etwas wie Sozialkon- nen Euro jährlich ausgegeben.
trolle impliziert. Wenn der Nach- Fast acht Milliarden in zehn Jah-
bar trennt, dann trenne ich auch, ren. Und das Ergebnis sehen wir
deshalb funktioniert das in die- auch jetzt wieder auf den Straßen
sen Vierteln hervorragend. Es von Neapel. Kein Zufall, dass der
sind nur zu wenige. Fast 84 Pro- Der Schriftsteller Müll kurz vor der Bürgermeister-
zent des Abfalls werden nicht Roberto Saviano wahl die Stadt verstopft. Die Ca-
getrennt und landen auf der wurde mit seinem morra benutzt den Abfall als Mit-
Müllkippe, dabei dürften es laut Buch »Gomorrha« tel der politischen Erpressung. Sie
Gesetz nur 35 Prozent sein. Die berühmt. Für die zeigt damit im Wahlkampf ihre
Mülltrennung funktioniert nicht ZEIT erklärt er Italien Macht.
etwa deswegen nicht, weil die in zwölf Lektionen. Was die Politik, links wie
Neapolitaner sie nicht beherrsch- Fünf sind bereits er- rechts, zur Lösung des Müllpro-
ten oder nicht wollten. Sie funk- schienen – zwei zu blems beigetragen hat, war bisher
tioniert nicht, weil das Geschäft Silvio Berlusconi, eine nur oberflächlich, kurzsichtig, ja
mit dem Abfall blüht, solange er zu der Frage, ob desaströs. Es wurden jede Menge
nicht getrennt wird. Mülltren- Italien eine Nation ist, Fehler gemacht, immer wieder fal-
nung bedeutet weniger Abfall, und zwei zur Macht sche Entscheidungen getroffen. In
und weniger Abfall bedeutet we- der Mafia Neapel regiert die linke Mitte, in
niger Verdienst für die Müllwirt- Kampanien die rechte Mitte. In
schaft, die mit dem Organisier- Rom regiert Berlusconi, der im-
ten Verbrechen verfilzt ist. So absurd es klingt: In mer wieder behauptet, er habe Neapel vom Müll
Neapel ist Mülltrennung eine Antimafiaaktion. befreit, in Wirklichkeit geht der Notstand auch
Bisher hat sich noch keine Stadtverwaltung ge- unter seiner Regierung weiter. Berlusconi hatte
traut, das wirklich durchzusetzen. zudem zum Staatssekretär im Finanzministerium
Am Geschäft mit dem Müll verdienen alle. Es einen Politiker berufen, den die Staatsanwalt-
verdient die Organisierte Kriminalität. Es ver- schaft beschuldigt, ein Gewährsmann der Ca-
dienen die Abfallunternehmen. Es verdienen am morra im Müllgeschäft gewesen zu sein. Inzwi-
Müll auch die sogenannten Entsorgungsgesellschaf- schen ist dieser Nicola Cosentino von seinem
ten. Das sind Konsortien mehrerer Kommunen, Amt als Staatssekretär zurückgetreten – aber er ist
die sich zusammentun, um die Mülltrennung immer noch Berlusconis starker Mann in Kam-
billiger zu machen. Doch in Wirklichkeit werden panien. Als Parteikoordinator des »Volkes der
diese Konsortien zum Paradies des Klientelismus, Freiheit« trat Cosentino trotz des schwerwiegen-
der getürkten Ausschreibungen und der gefälsch- den Verdachts nicht zurück. Berlusconi hat ihn
ten Rechnungen. Sie bilden regelrechte Kartelle auch nicht dazu gedrängt.
– nicht um den Preis zu senken, sondern um ihn Ich werde nie müde zu sagen: Wenn man den
in die Höhe zu treiben und den Müll letztendlich Müll, den die Clans der Mafia verwalten und ver-
von der Camorra »entsorgen« zu lassen. Längst waltet haben, aufeinandertürmen würde, dann
haben die Clans die Müllkonsortien mit ihren käme man bei einer Basis von drei Hektar auf
Mittelsmännern infiltriert. Denn der Abfallberg 15 600 Meter Höhe. Dieses schmutzige Business
ist jener Ort, wo Politik, Camorra-Clan und hat also ein langes Leben. Der Müll auf den Stra-
Unternehmen sich treffen. Die Grenzen sind da- ßen von Neapel bedeutet das Scheitern der Poli-
bei fließend. tik. Hoffentlich nicht mehr lange.
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Nea-
pel zeigen, dass diese Müllkonsortien zu wahren Aufgezeichnet und übersetzt von BIRGIT SCHÖNAU
Machtzentren der Organisierten Kriminalität
geworden sind. Die Camorra betätigt die Hebel © 2011 by Roberto Saviano – Agentur R. Santachiara
im Müllgeschäft – so wurde der Bock zum Gärt- Die früheren Folgen von
ner gemacht. Wie, das illustriert eine Anekdote Roberto Saviano finden Sie unter
des Kronzeugen Gianfranco Mancaniello. Als ein www.zeit.de/saviano
POLITIK & LYRIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 11

Seit dem 10. März versuchen wir im Anfang dieses Jahres erleben. Die
Politikteil der ZEIT, Politik von Gedichte wurden dabei
einer anderen Seite und auf andere häufig sehr aktuell, einige
Art wahrzunehmen. wurden am Tag nach politischen
Elf Lyrikerinnen und Lyriker Entscheidungen oder nach
verfassen eigens für die ZEIT Katastrophen verfasst. Diesmal
Gedichte, sie zeigen uns ihre Sicht handelt eines unserer beiden
auf die Politik. Mal schreiben sie Gedichte von der Erschießung
unabhängig von den Osama bin Ladens, während das
Ereignissen, mal gehen sie direkt auf andere sich mit dem starken
politische Erlebnisse ein. Andrang moralischer Anforderungen
Womit wir anfangs nicht gerechnet in letzter Zeit befasst.
hatten, das ist die Fülle und Dichte Bislang sind vierzehn Gedichte
der Ereignisse, wie wir sie seit erschienen.

POESIE NRO: 10
Inkarnation
In diesem Gedicht wird kein Fleisch gegessen.
Dieses Gedicht ist nicht animalisch, es besteht
aus Luftgespinst und Liebe, und stirbt es einmal,
wird es, ohne zu stinken, aus dem Buch rieseln.
Dieses Gedicht tötet kein Lebewesen, niemand
soll sagen: Der Täter war ein so freundlicher
Familienmensch! Es emittiert kein CO₂ und leistet
keine Kompensation, es fliegt nicht nach Fuerte
und sagt »Scheiß drauf!«, weil irgendwo Koniferen
dafür gepflanzt werden. Ab und zu ritzt es sich
mit Realität, um sich zu spüren. Licht dringt ein.
Es blutet nicht, es lebt vorzüglich von Substanz.
Das Gedicht rettet. Genießen Sie’s. Schlucken Sie
nicht alles. Bitte verschonen Sie Ihre Liebsten.

HENDRIK ROST,
Jahrgang 1969, wurde im Münsterland geboren. Studierte
Philosophie und Literaturwissenschaft. Lebt als Autor
und Übersetzer mit seiner Familie in Lübeck. Seine Über-
setzungen (zusammen mit Mirko Bonné) der Gedichte
Foto: privat

von Rutger Kopland erschienen 2008 im Hanser Verlag.


Im Frühjahr 2010 erschien sein fünfter Gedichtband »Der
Pilot in der Libelle« im Göttinger Wallstein Verlag

Die Lebenden sind Legenden


aber was sind die Toten?
(B. O.)

Nicht war es die Zeit in solche Leere


zu irren wie die morgens sehr früh
als die Katze einer Amsel Gedärme
über die Kellertreppe hochzog
die rechte Zeit war es nicht zum
Briefkasten zu gehen zu sagen:
nichts heute nacht ist nichts
geschehen nein nicht war es
die Zeit nicht war es wahr nicht
geschehen das Nichts als ich
im Schlaf einem Kampf zusah:
der Vogel im Sperrfeuer mir
aus dem Grau ins Gesicht fiel nicht
war es Zeit zu schlafen für sich sein
nicht Zeit gleichzeitig die Katze zu
loben und die Amsel begraben

DANIELA DANZ,
Foto: Nils-Christian Engel

1976 in Eisenach geboren, lebt nach Stationen in Tübingen,


Prag, Berlin und Leipzig in Halle (Saale). Die Autorin
und Kunsthistorikerin unterrichtet als Lehrbeauftragte
der Universität Hildesheim Methodik des kreativen
Schreibens. Ihr letzter Gedichtband »Pontus« erschien 2009
im Wallstein Verlag
12 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
MEINUNG
POLITIK
ZEITGEIST

Wer den Griechen hilft


JOSEF JOFFE:Europa wird für Hellas
bluten, um sich selber zu retten

Die Kassandras haben recht behalten: Geld- ohne HEUTE: 9.5.2011


Politikunion geht nicht. Vor zwölf Jahren hat Eu-
ropa mit dem Euro den »Zug der Hoffnung« auf
die Schiene gesetzt: 16 Lokomotiven mit 16 Füh-
rern. Die fromme Hoffnung? Jede Lok werde im Erinnern
gleichen Tempo – mit gleicher Steuer- und Aus-
gabenpolitik – fahren; sonst würden die Kupp- Als Deutscher ist man ja heut-
lungen brechen oder alle zusammen entgleisen. zutage eher wehrkraftzersetzend
Der Bruchpunkt ist jetzt. Um im Bild zu blei- eingestellt. Ordenbehangene Hel-
ben: Manche Lokführer, Athen vorweg, haben so denbrüste erinnern unsereinen an
lange so heftig geheizt, bis die Kohle ausging. Der Schützenvereine und Epauletten
Remeduren sind nur drei: 1. Athen nimmt Dampf an den Karneval. Hier aber ist das
weg, also spart und wird wieder wettbewerbsfähig. Original zu sehen, nicht die Ko-
2. Es wird zum europäischen Sozialfall, den die pie. So sehen Sieger aus.
anderen mit ihrer Kohle alimentieren. 3. Hellas Siegesfeier in Moskau: Was
koppelt sich ab oder wird abgehängt. muss das für ein Gefühl sein, vol-
Heute ist jede Lösung so hässlich wie die nächs- ler Stolz auf die Jahre 1941 ff. zu-
te. Griechenland, ein üppiger Sozialstaat mit ver- rückzublicken, auf den Großen
harzter Privilegienwirtschaft, kann nicht sparen. Vaterländischen Krieg, den sie mit
Trotz seiner Schwüre sind seine Schulden – private Recht so genannt haben? »Keiner
wie öffentliche – im Vorjahr gestiegen, von 325 ist vergessen«, singt die Sängerin
auf 340 Milliarden Euro. Und blähen sich weiter – wie sonst soll sich ein Volk an
auf. Das Wachstum lag im vierten Quartal 2010 eine Katastrophe erinnern, deren
bei einem Minus von knapp sieben Prozent. Opfer noch immer nicht auf eine
Weiter Kohle zuschießen? Griechische Bonds Million genau gezählt sind?
sind nach jeder Finanzspritze wieder abgestürzt; »Nichts ist vergessen«, singt sie.
die Zinsen liegen bei 15 Prozent, die Rating-Agen- Und man wünscht diesen alten

Foto: Denis Sinyakov/Reuters


tur S&P hat die Papiere auf »B« gedrückt – weit Herren, dass diese Zeile falsch sein
unter »Müll«. Wer nun den Griechen Geld leiht, möge. Wer hätte schon gerne ihre
sollte es besser im Kasino verjuxen. Mit Glück Erinnerungen? Und wenn die Or-
kriegt er 70 oder nur 50 Cent auf den Euro zu- denssammlung hilft, damit fertig
rück. Die Euphemismen für den Bankrott lauten zu werden, wer hätte das Recht,
»Umstrukturieren« oder »Umprofilieren«, sprich: darüber zu spotten? F. D.
Schuldenschnitt oder Stundung. Wie aber käme
dann Hellas zu neuem Geld – bei einem Schulden-
stand von 160 Prozent des Inlandsproduktes?
Also Abkoppeln (freiwillig) oder Abhängen (er-
zwungen), wie es der medienerprobte Ifo-Chef Sinn
fordert? Erstens erlauben die Verträge den Raus-
schmiss nicht, und zweitens ist die Medizin mörde-
rischer als die Sepsis. Noch bevor der Drachmen-
Mord und Totschläger Ein Land bleibt cool
Druck angelaufen wäre, bräche das Höllenfeuer aus:
Jugendgewalt: Zu viel Milde untergräbt das Vertrauen ins Recht Der Staat hätte bei der Volkszählung mehr Fragen stellen sollen
Wie Jugendliche zu grausamen Schlägern werden, schlag sieht das Jugendstrafrecht zehn Jahre Die Bürger bleiben cool. Am 9. Mai war Stichtag Leute auch nicht mehr, wenn der Staat etwas
das bleibt trotz aller Forschungen ein verstörendes Haft als Höchststrafe vor. Ob Torben P. die be- des »Zensus 2011«, der neuen Volkszählung. Der mehr wissen will.
Rätsel. Wie ihnen zu begegnen ist und ob die kommt, entscheidet das Gericht, Anklage ist ersten seit 1987. Volkszählung, das klingt nach Vor dem Hintergrund der digitalen Revolu-
Foto: Mathias Bothor/photoselection

Jugendgewalt insgesamt brutaler wird – all das ist nicht gleich Urteil. Aber die Anklage ist eine historischer Parallele, nach enormem Erregungs- tion und ihren technischen Möglichkeiten lässt
heftig umstritten. Nur über eines sind sich alle erste Weichenstellung. Für Täter und Opfer. potenzial. Am Montag aber mahnten bloß müde sich aber auch das entgegengesetzte Argument
Fachleute einig: Die Justiz muss schnell arbeiten, Und für die Öffentlichkeit. einzelne Landesdatenschützer, fanden sich ein führen: Die Bürger finden die Fragebögen
wenn sie es mit jugendlichen Gewalttätern zu tun Deshalb ist es auch legitim, wenn in Berlin paar nölige Kommentare in den Zeitungen (und okay. Dabei wissen sie sehr wohl um die Risi-
bekommt. Vergeht zwischen Straftat und Strafe jetzt nachgefragt wird, warum die Tat auf dem ebenso viele wohlwollende). Mehr öffentliche Re- ken der Datensammelei. Bloß sind die Chiff-
Josef Joffe ist zu viel Zeit, verpufft die Wirkung der Sanktion. Bahnsteig nicht als versuchter Mord angeklagt aktion war da nicht. ren dafür heute Apples Ortungsdatei, Googles
Herausgeber der ZEIT Das immerhin hat die Berliner Justiz im Fall worden ist. Die mögliche Höchststrafe wäre die- Mit Überrumpelung kann man das kaum Fotoautos oder Hacker-Raubzüge durch unsi-
des Torben P. richtig gemacht, der in der Nacht selbe, das Signal aber ein anderes. Mord ist mehr erklären: Schon 2010 fanden die Haus- und chere Onlineshops. Sammelwut und Schlam-
erst ein Run auf griechische Banken, dann Panikver- auf Ostersamstag am U-Bahnhof Friedrichstraße als ein Totschlag, eine besonders verwerfliche Tat, Wohnungsbesitzer Fragebögen in der Post. Seit perei sind die Zutaten jedes Datenskandals.
käufe von Griechenbonds im Ausland. Denn die einen Passanten offenbar ohne jeden äußeren An- sei es wegen besonderer Grausamkeit, sei es wegen Monaten wird plakatiert und informiert. Und Doch die Schauplätze sind stets Privatunter-
Besitzer müssten kalkulieren, dass die Neo-Drachme lass niedergeschlagen und dann immer wieder »niedriger Beweggründe«. Grausam ist nach den jetzt werden zufällig ausgewählten Bürgern 46 nehmen, vorzugsweise kalifornische Konzerne.
etwa die Hälfte ihres Wertes gegenüber Hartwährun- gegen den Kopf getreten hatte. Schon zwei Wo- gängigen Definitionen eine Tat, die dem Opfer Fragen zu Person, Lebensumständen, Ausbil- Im Vergleich zu deren Machen-was-geht-Men-
gen verliert, die Griechen also doppelt so viel zurück- chen später ist gegen den 18-Jährigen Anklage besonderes Leid zufügt, die gängige Hemm- dung und Beruf gestellt. Rund zehn Millionen talität erscheint die Neugier der Volkszähler
zahlen müssten, was sie erst recht nicht könnten. erhoben worden. Das ist ungewöhnlich schnell schwellen infrage stellt oder besonders erschüt- müssen antworten – ein ganz schöner Teil der verhältnismäßig, ja zurückhaltend.
Besonders pikant wäre die Lage in Deutschland, wo – und ein gutes Signal. Die Beweislage sei einfach, ternd wirkt. Wer das Video der Tat am Bahnhof Bevölkerung. Aber empört sie sich? Verweigert Vielleicht zu zurückhaltend. 700 Millionen
das meiste Gift bei Krisenbanken wie der HRE liegt. sagen die Staatsanwälte, der Täter habe gestanden, Friedrichstraße gesehen hat, kommt schon ins sie sich in nennenswerter Zahl? Nein. Euro soll der Zensus kosten, das ist nur eine
Schließlich: Wie würden die Pleitiers je wieder fri- der Tathergang stehe fest, da eine Videokamera Grübeln, ob hier von dem geradezu wie besin- Wer hätte das gedacht! Eine bürokratische Schätzung, also wird es teurer. Vor dem nächs-
sches Geld kriegen, um allein die steigenden Schulden den Angriff aufgezeichnet hatte. Allerdings darf nungslos zutretenden Täter nicht alle gängigen Großaktion (zumal eine, die Brüssel vor- ten Zensus 2021 wird es heißen: Können wir
zu bedienen? man wohl annehmen, dass auch das Entsetzen in Hemmschwellen überschritten werden. schreibt), doch die Deutschen bleiben cool. Bei für das ganze Geld nicht etwas mehr erfahren?
Europa wird also weiter zahlen müssen – auch der Öffentlichkeit über die Tat einiges zur Be- Nein, es geht nicht darum, eine möglichst jenem Thema, das in den achtziger Jahren zur Und zu Recht. 43 der Fragen schreibt die EU
bei einem Schuldenschnitt. Denn auch dann ge- schleunigung beigetragen hat. harte Strafe zu finden. Es geht darum, das Gesetz Chiffre für den vermeintlichen Überwachungs- vor. Nur drei fügte die Bundesrepublik hinzu
rieten die Euro-Zonen- und Griechenbanken mit Angeklagt wird Torben P. wegen versuchten ernst zu nehmen – und die friedensstiftende Funk- staat wurde. Die Reaktion lässt sich ganz gegen- (davon die freiwillige nach dem religiösen Be-
jeweils 80 und 65 Milliarden an Schuldscheinen in Totschlags. Das ist ein Mittelweg. Lange wurden tion des Rechts. Wenn einer wie Torben P. von sätzlich deuten – entweder als Zeichen von Ab- kenntnis). Dabei hatten Statistiker, Ökonomen
die Bredouille, derweil EU, IWF und EZB 100 vergleichbare Fälle milder beurteilt, meist als Kör- Untersuchungshaft verschont wird, wenn Heran- stumpfung oder von Akzeptanz. und Sozialwissenschaftler gefordert, weitere
Milliarden wertberichtigen müssten. Finanzkrise II perverletzung – mit entsprechend niedrigeren wachsende sehr häufig nach Jugendstrafrecht ver- Erklärung Nummer eins: Wir sind einfach Fragen zu drängenden gesellschaftlichen Pro-
nicht ausgeschlossen. Fazit: Wer den Griechen Strafen. Das haben Deutschlands höchste Straf- urteilt werden, obwohl für sie auch Erwachsenen- desensibilisiert durch ständige halb öffentliche blemen zu stellen: etwa zu Sprachen (Integra-
hilft, hilft seinen Banken. Europa wird zuschießen richter am Bundesgerichtshof gebilligt, sogar be- strafrecht in Betracht käme, wenn schon bei der Selbstinszenierung à la Facebook (wo fast 18 tion) und Kinderzahl (Demografie), zum
und stunden müssen. Es lebe die Transfer-Union! fördert. Denn sie wollten nicht einmal bei heftigen Anklage regelmäßig heruntergezoomt wird, dann Millionen Deutsche angemeldet sind). Außer- Pendlerverhalten (Verkehrsplanung) und, ganz
Wie lange? Bis der Euro-Zug nur einem ein- Tritten mit Springerstiefeln gegen den Schädel mag das in jedem Fall begründet sein. Das Rou- dem liegen in mehr als der Hälfte der Haushal- simpel, zur Heizung (Klimaschutz).
zigen Lokführer, also einer gemeinsamen Steuer- ohne weiteres einen Tötungsvorsatz annehmen. tinierte der Nachsicht jedoch, der Eindruck, te Kundenkarten (knapp 50 Millionen allein Der Staat – im Bestreben, die Befragten nur
und Ausgabenpolitik gehorcht. Und wenn er bis Das sahen die Berliner Staatsanwälte nun Spielräume würden nur in eine Richtung genutzt von Payback), die Spione der Konsumwirt- nicht zu verschrecken – verzichtete auf all das.
dahin entgleist? Vertrauen wir auf den Bushido- anders. Grobe Nachsicht wird man ihnen also – solche Tendenzen untergraben das Zutrauen ins schaft. Und selbst in einer H&M-Filiale wird Angesichts der Coolness der Bürger muss man
Song: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« nicht unterstellen können. Für versuchten Tot- Recht. WFG man beim Bezahlen gefilmt. Da schert es die sagen: Da wäre mehr drin gewesen. STX

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POLITIK MEINUNG
12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 13

WIDERSPRUCH

Zu früh gefreut
Der Terror ist noch nicht
besiegt VON PHILIP DINGELDEY

DAMALS: 1945 In seinem Leitartikel Ein Krieg weniger


(ZEIT Nr. 19/11) entwirft Jan Ross ein op-
timistisches Bild von der Zukunft. Er
schreibt, mit dem Tod von Osama bin La-
Vergessen den ende auch die irregeleitete Vorstellung
des war on terror als Epochenthema. Der
Nur Ahnungslose träumen davon, arabische Frühling könne sich entfalten,

Fotos: Alexander Meledin/Mary Evans Picture Library/Interfoto; Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V. (u.)
die Zukunft entschlüsseln zu kön- und der Westen solle sich dabei bescheiden
nen, und nur Verrückte wünschen, zeigen.
nicht zu vergessen. Wüsste sie, was Bei näherem Hinsehen ist dieses Szenario
kommt, würde sie dann so lachen? allerdings wenig realistisch. Ein Abzug aus
Könnte er so tief versinken in ihren Afghanistan wäre nicht sinnvoll, will man
Geruch und das Gefühl ihrer das Land nicht in Schutt und Asche zurück-
Haut? Könnten sie beide das, wenn lassen. Auch der Terrorismus ist mit bin
ihnen die vergangenen Jahre ge- Ladens Tod keineswegs am Ende. Der Al-
genwärtig wären? Die Gegenwart Qaida-Chef war schlau genug, ein Terror-
ist ein unmögliches Komprimat, netzwerk aufzubauen, in dem einzelne Zel-
ein Nichts zwischen dem, was len unabhängig von einer zentralen Figur
kommt, und dem, was war, und agieren. Das werden wir noch zu spüren be-
doch ist dieses Foto ein Beweis ih- kommen.
rer Wirklichkeit. Wie wäre so ein Für Ross gehört der amerikanische Jubel
strahlendes Glück in Moskau im noch einer »abschließenden Zeit« an, er sei
Jahr 1945 möglich, im Angesicht ein Rückfall in das emotionale Klima von
dieser Vergangenheit und dieser 2001. In Wirklichkeit handelt es sich aber
Zukunft? Das Foto selbst ist ein nicht um einen krönenden Abschluss, son-
undatierbares Dokument, so ver- dern um einen neuen Höhepunkt dieser
schwommen wie das Wissen über aufgeheizten Atmosphäre. Anstatt bin La-
die Zeit seiner Entstehung. Ein den festzunehmen, um ihn vor Gericht zu
Jahr, ein Ort, der Name des Foto- stellen – er wäre zweifellos verurteilt worden
grafen, mehr ist nicht bekannt. So –, ließen ihn die USA töten und unter Miss-
hat der Sieg ausgesehen. So hat er achtung muslimischer Bestattungsbräuche
sich angefühlt, an diesem Ort, in von einem Flugzeugträger aus ins Meer wer-
diesem Moment. F. D. fen. Damit schüren sie Rachegedanken.
Ross gibt dies zwar zu, doch im Gegensatz
zu seiner zuversichtlichen Prognose wird die
Gefahr größer, nicht kleiner. Nun werden
selbst moderate islamische Kräfte radikali-

Mit gebremster Macht siert und mobilisiert.


Dies ist also leider nicht der Anfang einer
neuen, sondern höchstens ein Erfolg inner-
halb der gegenwärtigen Epoche, der aller-
Die westliche Intervention in Libyen wird am Ende Erfolg haben – gerade weil sie auf Bodentruppen verzichtet VON THOMAS SPECKMANN dings leicht in Misserfolg umschlagen kann.
Der arabische Frühling bedeutet nicht, dass
In Libyen haben sich die Vereinigten Staaten Mittel, die anderswo schmerzhaft fehlen. Der Wirt- halten, sondern auch einen Regierungswechsel friedlich terventionen in Afrika und das kluge Handeln der USA der Terror auf der ganzen Welt besiegt ist.
und ihre europäischen Verbündeten auf eine schaftsnobelpreisträger sieht in der ökonomischen überstanden. auf dem Balkan zu einer neuen Doktrin verschmelzen: Und Länder wie das chaotische Jemen ste-
Strategie besonnen, die bereits in früheren Kon- Schwäche seiner Heimat eine unmittelbare Folge des Nach den Langzeitstatistiken über 66 Konflikt- In allen Fällen war Bedingung für den nachhaltigen hen bereit, um den Terroristen neuen Un-
flikten erfolgreich war: Anstatt sich wie in So- Waffengangs im Irak. herde, die Paul Collier, ehemaliger Forschungsleiter Erfolg, dass der Westen militärisch Partei ergriff und terschlupf zu gewähren.
malia, Afghanistan oder im Irak mit dem Ein- Dabei hätte die amerikanische Strategie auf dem der Weltbank, an der Universität Oxford zusam- damit den Konflikt entschied. Dies gelang ihm aber
satz von Bodentruppen auf das Risiko eines Balkan auch am Hindukusch und am Golf zum mengetragen hat, sorgten auch die von Paris unter- nur, weil er sich zugleich Einsatzrestriktionen auf- Philip Dingeldey, 20, studiert Geschichte und
langwierigen und verlustreichen Krieges ein- Erfolg führen können: Zu Beginn des »Krieges gegen haltenen Militärbasen in Afrika für Sicherheit – wie erlegte, die ihm vor Ort wie an der Heimatfront die Politikwissenschaft in Erlangen-Nürnberg
zulassen, setzt der Westen in Nordafrika auf die den Terror« beschränkten die USA ihre Operationen jüngst im Fall der Elfenbeinküste. Denn dort haben politische Unterstützung sicherten. Hierzu zählten vor
Überlegenheit seiner Luftwaffe und unterstützt gegen dieTaliban und al-Qaida auf den Einsatz von sich die französischen Schutzversprechen mit der allem der Verzicht auf einen langwierigen Einsatz von Jede Woche erscheint an dieser Stelle ein
mit Geheimagenten, Spezialeinheiten, Militär- Air Force und Spezialeinheiten – wie nun erneut bei Entsendung von Kampfhubschraubern als genauso eigenen Bodentruppen und die weitgehende Beschrän- »Widerspruch« gegen einen Artikel aus dem
beratern und Waffenlieferungen die Streitkräfte der Tötung Osama bin Ladens. Den Krieg am Boden glaubwürdig erwiesen wie die britischen Garantien kung auf Luftschläge und Waffenlieferungen – auch politischen Ressort der ZEIT, verfasst von einem
Redakteur, einem Politiker – oder einem
der verbündeten Konfliktpartei vor Ort. führte die Nordallianz in Afghanistan. Es waren ihre für Sierra Leone. wenn sich dadurch der Krieg scheinbar in die Länge ZEIT-Leser. Wer widersprechen will, schickt
Eine ähnliche Strategie brachte bereits im Truppen, die in Kabul einmarschierten. Erst danach Will der Westen auch in Konflikten wie in Libyen zog. In Wirklichkeit erwies sich ebendiese Zurück- seine Replik (maximal 2000 Zeichen) an
jugoslawischen Bürgerkrieg die Wende: Es wa- begann die Stationierung von größeren Verbänden militärisch und politisch die Oberhand behalten, dann haltung als die schärfste Waffe. Sie wird es auch im Fall widerspruch@zeit.de. Die Redaktion behält sich
ren nicht allein die Bombardements der Nato, westlicher Infanterie – rückblickend ein schwerer sollte er die Tradition britischer und französischer In- Libyens sein. Auswahl und Kürzungen vor
die Bosniens Serben und ihre Helfer in Bel- Fehler. Das ursprüngliche Ziel nach dem 11. Sep-
grad zur Waffenruhe zwangen – es war viel- tember 2001, Afghanistan den islamistischen Terror-
mehr die Entscheidung von US-Präsident Bill gruppen als Rückzugsraum zu nehmen, war bereits
Clinton, die kroatischen Streitkräfte im Kampf erreicht worden. Die Nordallianz und weitere ver-
gegen die serbischen Truppen von einer ame- bündete Afghanen hätten einen Staat aufbauen
rikanischen Beratungsfirma für Militärfragen können, der zwar nicht einer mustergültigen Demo-
ausbilden zu lassen; und es war der Beschluss kratie geglichen, aber zumindest keine Bedrohung
Washingtons, zusammen mit einer internatio- für den Westen dargestellt hätte. Heute, zehn Jahre
nalen Koalition, die schon damals islamische später, haben UN und Nato ebenfalls nicht viel mehr
Staaten einschloss, das UN-Waffenembargo erreicht – aber um welchen Preis?
zugunsten von Bosniern und Kroaten de facto Auch im Irak hätte sich ein neuer Staat ohne
aufzuheben. amerikanische Invasion aufbauen lassen – und das
Diese indirekte Form west- bereits direkt nach dem zweiten
licher Kriegsführung zeigte Golfkrieg. Die Schiiten wurden
T H O M A S S PE C K M A N N
Wirkung. Nur wenige Wochen von den USA nach der Befreiung
nach dem serbischen Massaker Kuwaits 1991 und angesichts der
in Srebrenica waren die bos- stark geschwächten Armee von
nischen und kroatischen Trup- Saddam Hussein zu offenem Wi-
pen im Sommer 1995 in der derstand ermutigt, dann aber im
Lage, eine Gegenoffensive zu Kampf gegen die verbliebenen
starten und mehr als die Hälfte Panzer und Kampfflugzeuge des
von Bosnien-Herzegowina zu- Bagdader Regimes im Stich gelas-
rückzuerobern. Die Operation sen – ein Fehler, der sich heute in
– bei der es ebenfalls zu schwe- Libyen nicht wiederholen darf.
ren Kriegsverbrechen kam – war lehrt am Institut für Schon 1991 wurde der Volks-
militärisch so erfolgreich, dass Politische Wissenschaft aufstand im Süden des Iraks von
sich die Serben zu Verhandlun- und Soziologie der Soldaten mitgetragen, die dem
gen bereit erklärten. Ergebnis Universität Bonn Despoten nicht länger dienen
war der Vertrag von Dayton. wollten. Diese oppositionellen
Doch um Symmetrie auf dem Kräfte hätten die Alliierten spätes-
Schlachtfeld und dann später tens bei ihrer Invasion 2003 för-
am Verhandlungstisch zu errei- dern müssen, um rasch einen neu-
chen, waren keine Bodentruppen des Westens en Staatsapparat aufbauen und die eigenen Bo-
eingesetzt worden. dentruppen in die Heimat zurückholen zu kön-
Im Kosovo-Krieg beschränkte sich die Nato nen. Doch die fahrlässige Auflösung der irakischen
gleichfalls auf Luftschläge. Wie heute in Liby- Sicherheitskräfte verhinderte dies – eine Fehlent-
en schreckte der Westen auch damals aus gu- scheidung mit gravierenden Folgen. Auch im
ten Gründen vor dem Einsatz von Bodentrup- Norden des Iraks warteten 1991 wie 2003 kur-
pen zurück. Ihre Rolle übernahm die Kosovo- dische Kräfte darauf, Saddam Husseins Diktatur
Befreiungsarmee UCK. Gemeinsam startete loswerden zu können. Mit wirkungsvoller Unter-
man koordinierte Angriffe. Zwar mussten Wa- stützung aus der Luft hätten sie sich selbst befreien
shington und Brüssel dafür 78 Tage Bomben- können.
krieg politisch rechtfertigen. Aber den Kampf In Krisenregionen, wo militärisch schlagkräftige
zwischen UCK, serbischen Truppen und der Partner fehlen, kann es für den Westen hingegen
Nato entschied die Allianz aus Albanern und notwendig erscheinen, mit eigenen Bodentruppen
westlichen Interventionsmächten schließlich einzugreifen. Ein langjähriges Engagement mit hohen
für sich. menschlichen wie materiellen Kosten muss daraus
Anstatt sich die Strategie in Bosnien und im aber nicht entstehen. Eine Alternative sind langfris-
Kosovo zum Vorbild für kommende Interventio- tige Sicherheitsgarantien, wie sie Sierra Leone von
nen zu nehmen, beschloss Washington 2001 in der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien er-
Afghanistan und 2003 im Irak den Großeinsatz halten hat. London hat der Regierung in Freetown
der eigenen Infanterie – mit fatalen Konsequen- zugesichert, dass umgehend Truppen eingeflogen
zen: Bis heute sind Tausende alliierter Soldaten werden, wenn es zu einem Konflikt kommt wie zu-
gefallen, Zehntausende wurden verwundet. Auch letzt im Jahr 2000, als die Briten einen Rebellen-
ökonomisch sind derlei Einsätze ein Desaster. angriff stoppten. Der Erfolg, damit bislang einen
Allein der dritte Golfkrieg hat den amerikanischen Rückfall in den mehr als zehn Jahre währenden Bür-
Steuerzahler nach Berechnungen von Joseph gerkrieg verhindert zu haben, spricht für das britische
Stiglitz drei bis fünf Billionen Dollar gekostet – Modell. Sierra Leone hat nicht nur Wahlen abge-
TITEL
IN DER ZEIT Thema:
Die Angst vor Alzheimer 14
26 Elektroauto Warum es falsch ist, 51 Fernsehen Gespräch mit RTL- AUSGABE:
POLITIK nur die Autokonzerne zu fördern Senderchefin Anke Schäferkordt

20
2 Interview Kanzlerin Angela VON PETRA PINZLER
52 Max Frisch Er würde jetzt 100.
Merkel erklärt den Ausstieg aus 27 Kinderarmut Die Not ist viel Wiederbegegnung mit dem jung
dem Ausstieg aus dem Ausstieg geringer als bisher gedacht, sagen gebliebenen Klassiker
3 Bücher machen Politik Forscher VON KOLJA RUDZIO VON IRIS RADISCH

4 Gutmenschen Ist Deutschland 28 Pharma Die Industrie verdient zu- 53 Biografie, Essay-Sammlung und
ein Vorbild für die Welt? Ein Pro lasten von altersblinden Patienten ein Bildband
Foto: Anatol Kotte für DIE ZEIT

VON A. ISENSCHMID
und Contra VON KATRIN GÖRING- Milliarden VON NICOLA KURTH Erfahrungen eines Journalisten 12. MAI 2011
ECKARDT UND JOSEF JOFFE
Atompolitik Was der Chef von mit Frischs Fragebogen
5 Libyen Die ersten Kriegsopfer Greenpeace International will VON STEPHAN LEBERT
sind die Flüchtlinge VON A. BÖHM
29 Lebensmittel Ein Internetportal 54 Essay Eberhard Straub
6 Generation Rösler Passen für Verbraucher ärgert die Industrie »Zur Tyrannei der Werte«
Familie und Politik zusammen? VON GUNHILD LÜTGE VON HUBERT WINKELS
VON TINA HILDEBRANDT
30 Kika-Skandal Gegenseitige Roman Nicolas Dickner
nah 7 FDP Ein Gespräch mit Philipp Schuldzuweisungen VON A. MAROHN »Tarmac« VON CATHARINA KOLLER
Rösler über seine Regierungspläne Soziale Netzwerke 55 Margaux Fragoso »Tiger, Tiger«
»Ein Ausbüxen gibt’s nicht mehr« 8 Pakistan Die Islamisten freuen Industriespionage wird erleichtert VON IJOMA MANGOLD
sich über die arabischen VON ULRICH HOTTELET
Nachruf Zum Tod von Gunter

Foto: Marco Valdivia


56
Dass gemeinsam mit Interviewern meist auch Foto- Revolutionen VON GEORG BLUME 31 Telekom-Aktie Das Urteil in Sachs VON H.-BRUNO KAMMERTÖNS
grafen anrücken, hält Bundeskanzlerin Angela Merkel 9 Syrien Tagebuch einer dem Massenverfahren steht bevor 57 Umbruch Eine Ägypten-Reportage
grundsätzlich für überflüssig; es gebe, sagt sie dann, Dissidentin VON RAZAN ZEITOUNEH VON MARCUS ROHWETTER
der Philosophin SUSAN NEIMAN
doch schon genug Bilder von ihr. Fotograf Anatol Ägypten Die neue Regierung 32 Tunesien Der schwierige 58 Brüssel Toshio Hosokawas neue
Kotte durfte trotzdem bleiben – für wenige Minuten. kämpft gegen religiöse Gewalt wirtschaftliche Neubeginn Oper »Matsukaze«, getanzt von Gutes Gras: Blumen werden
VON MICHAEL THUMANN VON KARIN FINKENZELLER überschätzt, glaubt der
Nach dem Gespräch – es ging um die Energiefrage – Sasha Waltz VON CLAUS SPAHN
waren sich die ZEIT-Redakteure Giovanni di Lorenzo 10 Italienische Lektionen Warum 33 Lettland Ein Krisenopfer kommt Landschaftsarchitekt Peter
Kunst Der Medienkünstler
Neapel im Müll versinkt auf die Beine VON JAN PALLOKAT Wirtz. Zu Besuch bei seiner
und Bernd Ulrich (oben im Büro der Kanzlerin) einig: Paul Pfeiffer in München legendären Familie
VON ROBERTO SAVIANO 34 Ratenzahlung Versicherer VON HANNO RAUTERBERG
Frau Merkel hat mehr Gesichter, als sie zeigen möchte.
11 Politische Lyrik »Inkarnation«/ verschleiern die wahren Kosten 59 Kunstmarkt Mit Asiatika erzielt Kulinarische Wüste:
Das aktuelle ist zu sehen auf Seite 2/3 »Die Lebenden sind Legenden« VON TOBIAS ROMBERG Wolfram Siebeck reist durch
das Stuttgarter Auktionshaus
Finanzkolumne Nagel Rekorde VON TOBIAS TIMM Ägypten und kostet aus
12 Zeitgeist VON JOSEF JOFFE
der Küche der Revolution
Volkszählung Warum der Zensus 35 Kohle Deutschland sollte die Museumsführer (101) Das
niemanden aufregt VON S. SCHMIDT CO₂-Speicherung ausprobieren Museum Rade am Schloss Der Schauspieler Robert
VON CHRISTIAN TENBROCK Reinbek VON SVEN BEHRISCH Hunger-Bühler über den Tag,
Justiz Eine milde Anklage im Fall an dem er fast ertrunken wäre
des Berliner U-Bahn-Schlägers ThyssenKrupp Der schwerfällige 61 Kino »Joschka und Herr Fischer«
VON HEINRICH WEFING Konzern startet den lange fälligen VON GÖTZ ALY
Abb.: Haus d. Bayerischen Geschichte/Augsburg

Umbau VON JUTTA HOFFRITZ Kulturkanäle Das neue


13 Libyen Wie der Westen erfolg-
reich sein kann VON T. SPECKMANN Prozesse Medienkampagnen Fernsehprogramm zdf.kultur
beeinflussen Richter kaum, sagt VON NINA PAUER
Widerspruch Auch nach dem Tod
Anwalt TOBIAS GOSTOMZYK 62 GLAU BE N & ZW EIF E LN
von bin Laden lebt der Terrorismus
weiter VON PHILIP J. DINGELDEY 36 Was bewegt ... Armin Falk, Öko- Islamismus Der Prediger Pierre

Foto: AllzweckJack/Photocase
nom und Verhaltensforscher? Vogel reagiert auf bin Ladens Tod
VON ANNABEL WAHBA
DOSSIER Vergeltung Ein junger Amerikaner
15 München Ein Prediger will ein
WISSEN über die Jubelvideos aus seiner
weltoffenes Islamzentrum gründen. 37 Plagiatsaffäre Eine Reform Heimat VON PATRICK BRUGH
Plötzlich gilt er als Verfassungs- der Promotion ist nötig Heuchelei Merkels Kritiker
Zucker und Wahn feind VON ALBRECHT METZGER Alzheimer Plädoyer für einen
20 WOCHE NSCH AU neuen Blick auf die Krankheit Das Netz zivilisiert sich selbst
VON CHRISTOPH DIECKMANN
Eurovision Song Contest Die VON THOMAS VAŠEK REISEN Das ganze Internet krawallig,
Sein »Königreich der Kunst« entzog sich zwar den Realitäten Geschichte eines Liedes aus Island 39 Besuch in einem Heim für 63 Schweiz In Berzona fand der ewige grob und unfair? Nein,
der politischen Welt, aber verrückt war der Mann keines- – und wovon Europa singt schwer demenzkranke Menschen Reisende Max Frisch ein Zuhause längst gibt es dort Räume,
VON D. STEINBORN UND C. RIETZ VON BURKHARD STRASSMANN VON BERNADETTE CONRAD in denen Selbstkontrolle funk-
wegs: Eine große Ausstellung in Herrenchiemsee entkitscht
40 Wie pflegende Angehörige 65 Eurovision Ein Lob auf tioniert, und Gemeinschaften,
den »Märchenkönig« Ludwig II. GESCHICHTE SEITE 21 in denen Menschen respektvoll
Urlaub machen können Düsseldorfs Kö, das Altbier und
GESCHICHTE VON FRAUKE LÜPKE-NARBERHAUS das japanische Viertel miteinander umgehen
21 Ausstellung www.zeit.de/ziviles-netz
41 Infografik Die Renaissance der 67 Seychellen Wo William und
Bayern feiert Ludwig II. Bilder in Medien und Wissenschaft Kate angeblich ihre Flitterwochen
Zeitmaschine VON U. SCHNABEL VON CHRISTOPH DRÖSSER verbringen Die so gekennzeichneten
Artikel finden Sie als Audiodatei
VON WINFRIED SCHUMACHER
22 CSU Schon 1949 zeigte die Partei 44 Der Medienforscher Michael Stoll im »Premiumbereich«
über gute und schlechte Grafik von ZEIT ONLINE
ihre besondere Fähigkeit zum unter www.zeit.de/audio
geschlossenen Sowohl-dafür-als- 47 KINDERZEIT
auch-dagegen VON RALF ZERBACK Fremde Was es bedeutet, CHANCEN Anzeigen in dieser Ausgabe
Flüchtling zu sein VON A. BÖHM 71 Bachelor und Master: Spielpläne (Seite 19),
Ein Spezial auf 10 Seiten Link-Tipps (Seite 28), Museen und
WIRTSCHAFT
Foto: Thomas Rabsch/RTL

48 Kinder- und Jugendbuch Galerien (Seite 45), Bildungsangebote


LUCHS – Anne-Laure Bondoux 96 ZEIT DE R LESE R und Stellenmarkt (ab Seite 80)
23 Euro Rettung oder Schuldenschnitt »Die Zeit der Wunder«
– die Politik ist überfordert
VON MARC BROST UND MARK SCHIERITZ Früher informiert!

Microsoft Der Kauf von Skype FEUILLETON RUBRIKEN Die aktuellen Themen der ZEIT
schon am Mittwoch im ZEIT-Brief,
2 Worte der Woche dem kostenlosen Newsletter
24 EZB-Chef Angela Merkel stützt 49 Gesellschaft Die Deutschen www.zeit.de/brief
Die Quotenfrau Mario Draghi im Geisterreich der Moral
VON ADAM SOBOCZYNSKI
24 Macher und Märkte
25 Staatsschulden Der Harvard- 44 Stimmt’s/Erforscht & erfunden
Mit Formaten wie »Deutschland sucht den Superstar« »EINE STUNDE ZEIT«
Historiker Niall Ferguson über die Kunst und Zensur Der Mut 54 Taschenbuch
hat sie die Konkurrenz überholt. Angeblich weiß Krise des Westens iranischer Filmregisseure
Das Wochenmagazin von radioeins
56 Impressum und der ZEIT, präsentiert von
sie, was Deutschland sehen will: Ein Gespräch mit der 26 V W Der Konzern will jetzt 50 Kulturgeschichte Eine Katrin Bauerfeind und Anja Goerz:
Senderchefin Anke Schäferkordt über das Menschenbild 61 Wörterbericht/Das Letzte Am Freitag 18–19 Uhr auf radioeins
auch noch die meisten Laster Ausstellung über das Schicksal vom rbb (in Berlin auf 95,8 MHz)
von RTL FEUILLETON SEITE 51 bauen VON DIETMAR H. LAMPARTER VON THOMAS ASSHEUER 95 LESE R BR I E F E und www.radioeins.de
DOSSIER
WOCHENSCHAU GESCHICHTE
Eurovision Song Contest: Große Entkitschung: Wer war
Wovon Europa singt S. 20 Ludwig II. wirklich? S. 21

12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 15

Fotos: Kai Wiedenhöfer für DIE ZEIT


Unter Verdacht
Ein Imam aus Bayern will ein weltoffenes Islamzentrum in München gründen, Politiker aller Parteien sind begeistert. Doch plötzlich
gilt der Prediger als Verfassungsfeind. Bedroht er den Staat, oder fürchten Staatsschützer nur den Islam? VON ALBRECHT METZGER

A
m 25. Mai 2007 schreibt Imam verzeichnen«, die Stadt München sei informiert. Benjamin Idriz kam 1994 nach Penzberg und weil Idriz nicht provozieren will. Den Bauplan
Benjamin Idriz einen Brief an Jetzt möchte der Imam den Innenminister treffen. trat bald darauf seine Stelle als Imam an. Ein Imam sprach er mit dem Bürgermeister ab. »Was würden
den damaligen bayerischen In- Sein Gesprächsangebot versteht er als vertrauens- steht der Gemeinde vor und hält jeden Freitag die Muslime im Nahen Osten denken, wenn Christen
nenminister Günther Beckstein, bildende Maßnahme. Schließlich gibt es genug isla- Predigt. Idriz trägt stets ein mildes Lächeln im Ge- kämen und eine Kirche mit extra hohem Kirchturm
um ihm von einem neuartigen mische Geistliche in Deutschland, die vom Verfas- sicht, kleidet sich mit T-Shirt und Jeans. Nur wenn errichteten?«, fragte sich Idriz. Er hat seiner Moschee
Plan zu berichten. Als Absender sungsschutz als extremistisch eingestuft werden. er auf die Kanzel steigt, setzt er sich einen weißen sogar einen deutschen Namen gegeben: »Islamisches
steht oben rechts die Islamische Idriz rechnet sich nicht zu ihnen. Noch glaubt der Turban auf und legt einen schwarzen Umhang um. Forum«. Moscheen, die nach islamischen Eroberern
Gemeinde Penzberg, in den Sprachen Deutsch, Imam, er sei ein unverdächtiger Mann. Aber vier Seiner ruhigen Stimme hört man gerne zu, oft pre- benannt sind, mag er nicht.
Arabisch, Englisch, Türkisch, Bosnisch und Alba- Jahre später, im Mai 2011, wird Imam Idriz als digt er die Vorzüge der Demokratie. Er ermahnt die Der Imam will Deutschland beweisen, dass der
nisch – Ausdruck der nationalen Vielfalt der kleinen Feind der deutschen Verfassung gelten. Er wird ei- Männer, ihre Frauen gut zu behandeln, und 2009, Islam zu Europa gehört und mit den Werten der
Gemeinde des Imams. »Sehr geehrter Herr Innen- nen Rechtsanwalt engagiert haben und Gerichts- zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes, lobt er das Aufklärung vereinbar ist. Er versteht sich als euro-
minister«, so geht es los. »Wie Sie sicherlich in der prozesse führen, und er wird sich fragen: Was ist politische System der Bundesrepublik. päischer Muslim. 1972 wurde er in Makedonien
Presse mitverfolgen, setzt die Islamische Gemeinde nur mit mir geschehen? Und warum? Progressiven Muslimen gilt Idriz als Hoffnungs- geboren, er spricht fließend Makedonisch, Türkisch,
in Penzberg seit Jahren auf die Schwerpunktarbeit Von Penzberg aus, eine Zugstunde südlich von träger. Er hat eine Buch mit dem Titel Grüß Gott, Bosnisch, Arabisch und Deutsch. Mit 15 ging er
einer gesunden Integration von Muslimen in die München, kann man schon die Umrisse der Alpen Herr Imam! geschrieben, das die Süddeutsche Zei- nach Damaskus und besuchte ein Gymnasium mit
hiesige Gesellschaftsverordnung.« am Horizont sehen. Die kleine Moschee am Orts- tung in den höchsten Tönen lobte. Zwangsheiraten dem Schwerpunkt islamischer Theologie. Sieben
Der Imam sucht Unterstützung für ein Islam- ausgang liegt inmitten eines Gewerbegebietes, ge- hält er für einen Rückfall in die Steinzeit; die Jahre später schrieb er sein Diplom zum Thema
zentrum, das er in München gründen möchte und genüber ein Autohändler, nebenan ein Getränke- ungleiche Erbverteilung, welche die Söhne den »Emanzipation der Frau im Islam«.
in dem er muslimische Geistliche in deutscher markt. Bis 1966 war ein Kohlebergwerk der größte Töchtern vorzieht, verurteilt er. Imam Idriz ist der Idriz will der islamischen Welt den »Geist der
Sprache ausbilden lassen will. Es habe schon zwei Arbeitgeber, dann siedelte sich der Lkw-Hersteller Muslim, den sich Deutschland wünscht: weltoffen, Erneuerung« bringen, ein »europäisches Klima der
Treffen mit Münchner Muslimen gegeben, das MAN an, später der Schweizer Pharmakonzern Benjamin Idriz, Imam der tolerant, eloquent. Offenheit«. Die rechtlichen Anweisungen im Ko-
»Projekt fand großes Interesse und stieß auf einen Roche Diagnostics. Als die Firmen Menschen aus Islamischen Gemeinde Penzberg, Die Penzberger Moschee, ein zweistöckiger Bau ran müssten aus ihrer Zeit heraus verstanden wer-
positiven Anklang der Teilnehmer«, fährt der Imam der Türkei, aus Bosnien, aus dem Nahen Osten gilt als Erneuerer. Im Gebetsraum aus Kalksandstein mit großen Fenstern und einem den, findet er. »Es muss darum gehen«, sagt Idriz,
in seinem Brief fort. Erste Kontakte mit der bayeri- einstellten, wurde auch der Islam heimisch in der Moschee (Bild oben) dürfen Minarett, ist als solche erst auf den zweiten Blick zu
schen Staatsregierung »sind bereits erfreuend zu Penzberg. 2005 eröffnete die Moschee. auch Frauen beten erkennen. Das Minarett hat deshalb keine Spitze, Fortsetzung auf S. 16
16 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 DOSSIER
Fortsetzung von S. 15 Extremismus distanziert. Allerdings sagt er jetzt, es
sei nicht seine Aufgabe, einzelne islamische Ge-
»eine Verbindung zwischen der Lehre und der meinschaften für verfassungsfeindlich zu erklären.
Wirklichkeit herzustellen – eine auf die Bedingun- »Diese Verantwortung obliegt allein den zuständi-
gen unserer Zeit passende Antwort: Was hat Gott gen Behörden«, schreibt er. Wenige Wochen spä-
gemeint?« Leider, sagt der Imam, hätten im Laufe ter lobt Staatssekretär Schmid in einem Brief die
der islamischen Geschichte »texttreue Dogmatiker« Distanzierungen der Penzberger von Milli Görüș.
die Vorherrschaft bei der Koranauslegung über- »Sie sind ein erster und auch notwendiger Schritt
nommen: »Sie verteufelten im Namen der Herr- Ihrerseits gewesen, um für die Zukunft eine neue
schaft des Textes die Realität und die Vernunft, so- Bewertung zu ermöglichen«, schreibt Schmid.
dass die islamische Kultur erstarrt ist.« Idriz glaubt nun, in Zukunft keine Probleme
Idriz geht noch weiter. Er kritisiert die isla- mehr zu bekommen – auch wenn islamische Or-
mischen Verbände in Deutschland für ihre Fixierung ganisationen wie Milli Görüș ihn jetzt für einen
auf ihre Herkunftsländer. Die Vermischung von Lakaien der Staatsschutzbehörden halten. Doch
Religion und Herrschaft habe dort zur »Entstehung Idriz versteht nur wenig vom Innenleben eines
und Zementierung von Despotien« geführt, meint Innenministeriums.
der Imam. Seine Worte provozieren die mächtigen Als am 30. März 2008 der bayerische Verfas-
Verbände und konservative Muslime gleicherma- sungsschutzbericht für das Jahr 2007 veröffentlicht
ßen. Idriz sucht den Kontakt zu den christlichen wird, ist Staatssekretär Georg Schmid längst nicht
Gemeinden in Penzberg, es gehe nicht mehr nur um mehr im Amt. Geblieben sind all die Ministerialdi-
einen Dialog, sondern um Freundschaft, sagt er. rigenten und Ministerialräte, die Staatsbeamten
Der katholische Pfarrer sagt dasselbe. auf Lebenszeit, die offensichtlich den Beteuerun-
In der modernen Moschee hängen nur wenige gen des Imams aus Penzberg nicht glauben.
religiöse Symbole, man sieht einige Frauen mit Da sind vor allem der Ministerialdirigent Wolf-
Kopftüchern und einige ohne, sie geben Männern Dieter Remmele und die Ministerialrätin Marion
die Hand. Im zentralen Gebetsraum, der in Mo- Frisch. Beide machen im Gespräch mit der ZEIT
scheen normalerweise den Männern vorbehalten keinen Hehl aus ihrem Misstrauen gegenüber Idriz
ist, beten auch Frauen. In der Bibliothek stehen und seinen Plänen. Sein Verein sei noch im Jahr
neben islamischen Klassikern die Werke von Islam- 2004 auf Mitgliedslisten von Milli Görüș geführt
kritikern, zum Beispiel von der evangelikalen Auto- worden, heißt es im Verfassungsschutzbericht,
rin Christine Schirrmacher und dem Amerikaner wenngleich der Vereinsvorsitzende Bayram Yerli
Mark A. Gabriel. Diese kontroverse Welt möchte mittlerweile Schreiben vorgelegt habe, »mit denen
Idriz nach München exportieren. Einer seiner Un- er um Streichung des Vereins aus dem IGMG-
terstützer ist Alois Glück, der frühere CSU-Frakti- Register bittet und seine persönliche Mitgliedschaft
onschef im Bayerischen Landtag, ein Vordenker der ab März 2006 kündigte«, heißt es in dem Bericht.
Partei. Glück hält Idriz für einen Hoffnungsträger Das stimme mit den Methoden der IGMG überein,
im Dialog der Religionen. gesellschaftliche Akzeptanz zu suchen und Ortsver-
eine zu gründen, bei denen direkte Bezüge zur ei-
Der Imam will kämpfen, aber er weiß genen Organisation fehlten.
noch nicht, was auf ihn zukommt
Alois Glück von der CSU rät den
Am 24. Juli 2007, zwei Monate nachdem Idriz den Muslimen, vor Gericht zu ziehen
Brief abgeschickt hat, antwortet ihm das bayerische
Innenministerium, unterschrieben hat Ministerial- Imam Idriz hat noch nie einen Verfassungsschutz-
dirigent Dr. Wolf-Dieter Remmele. Er schreibt: bericht in den Händen gehalten. Erst sein Rechts-
»Dem Bayerischen Landesamt für Verfassungs- anwalt macht ihm klar: Wer im Verfassungsschutz-
schutz liegen Erkenntnisse über die Zuordnung der bericht auftaucht, gilt als verfassungsfeindlich; und
Islamischen Gemeinde Penzberg e. V. und von Füh- wer als verfassungsfeindlich gilt, kann nicht darauf
rungsmitgliedern der Gemeinde zu der islamisti- hoffen, von staatlicher Seite unterstützt zu werden.
schen Organisation IGMG vor.« Gemeint ist offen- Idriz, meint der Anwalt, müsse schleunigst daran
bar Bayram Yerli, der Vorsitzende der Islamischen arbeiten, dass er aus diesem Bericht gestrichen wer-
Gemeinde Penzberg. de. Noch hält die Stadt München zu Idriz, die Ver-
Yerli ist ein Schlosser, der als Kind aus der Türkei handlungen über sein Projekt laufen weiter. Aber
nach Deutschland kam. 1985 trat er in Bad Tölz selbst Oberbürgermeister Christian Ude macht sich
einer Gemeinde der Islamischen Gemeinschaft Mil- angreifbar, wenn er mit einem Imam verhandelt,
li Görüș (IGMG) bei. Er bleibt auch dann Mitglied, der als extremistisch gilt. »Die bisherige Nennung
als er nach Penzberg zieht und sich der Gemeinde im Verfassungsschutzbericht konnte alle anderen
von Imam Idriz anschließt. Am 21. März 2005 Eindrücke und Informationen nicht widerlegen,
schließlich kündigt er schriftlich seine Mitglied- neue Tatsachen müssten natürlich neu geprüft wer-
schaft bei Milli Görüș, ein Vorgang, der dem Ver- den«, betont Ude. »Einen negativen Automatismus
fassungsschutz bekannt wird. Trotzdem glauben die gibt es nicht, aber auch keinen fahrlässigen Um-
Verfassungsschützer in Bayram Yerli einen Islamis- gang mit Erkenntnissen des Verfassungsschutzes.«
ten vor sich zu haben, denn die IGMG wird als ex- Imam Idriz kommt sich vor wie in einem
tremistisch eingestuft. Hamsterrad: Er läuft und läuft und kommt nicht
Die Staatsschützer sehen weitere Verbindungen voran. Als der neue Innenminister vereidigt wird,
zu den türkischen Islamisten: Bevor die Islamische schöpft er Hoffnung: Joachim Herrmann war
Gemeinde Penzberg 1994 entsteht, gibt es dort ei- CSU-Fraktionschef im Bayerischen Landtag, und
nen Ortsverein von Milli Görüș, der sich allerdings nachdem Idriz ihm zu jener Zeit die Entwürfe sei-
bald auflöst. Dennoch, der Regionalverband Süd- nes Zentrums geschickt hatte, schrieb Herrmann
Foto: Kai Wiedenhöfer für DIE ZEIT

bayern von Milli Görüș führt danach die Islamische zurück: »Das von Ihnen angestoßene Projekt ist
Gemeinde Penzberg als Ortsverein in seinem Re- sehr interessant und sollte auf jeden Fall Gegen-
gister weiter. Mehrfach verlangen die Penzberger, stand eines intensiven und kontinuierlichen Dia-
aus dem Vereinsregister entfernt zu werden, zuletzt logs zwischen Ihnen und der CSU-Fraktion im
in einem Brief vom 14. März 2006. Auch davon Bayerischen Landtag bleiben.« Idriz hofft jetzt,
erfährt der Verfassungsschutz. Trotzdem hält der dass Herrmann sich daran erinnern und mithelfen
Ministerialdirigent Remmele an dem Vorwurf fest, werde, dass die Islamische Gemeinde Penzberg aus
die Islamische Gemeinde sei eine Zelle von Milli dem Verfassungsschutzbericht gestrichen wird.
Görüș. »Als Imam können Ihnen die Verbindungen Idriz bittet um ein Gespräch, bekommt eine Zu-
dieser Gemeinde zur IGMG nicht verborgen ge- Imam Benjamin Idriz (oben) beim Freitagsgebet im Gebetsraum der Moschee im bayerischen Penzberg sage – und kurz darauf eine Absage: Der Innen-
blieben sein«, schreibt der Ministerialdirigent. Idriz’ minister sei verreist.
geplantes Islamzentrum in München, »unter der Im März 2009 wird der Verfassungsschutz-
Trägerschaft einer extremistischen Bestrebung«, 2,5 Millionen Euro unterstützt. Allein für das neue Staatsschutzbehörden anzuschließen, »dass es sich »Chef der Muslimbrüder in Deutschland«. Ibrahim bericht für das Jahr 2008 vorgestellt – und wieder
könne nicht unterstützt werden. Deshalb gebe es Grundstück in zentraler Lage in München ver- bei der IGMG um eine Organisation mit verfas- el-Zayat selbst bestreitet jegliche Verbindungen zur steht die Islamische Gemeinde Penzberg e. V. da-
auch keinen Gesprächstermin beim Minister. Ende anschlagt Idriz bis zu zehn Millionen Euro. Der Bau sungsfeindlicher Zielsetzung handelt«. Eine isla- Muslimbruderschaft, im April 2005 verklagt er die rin. Die Gemeinde sei ein Beispiel für »formal
der Debatte. selbst würde um die 30 Millionen Euro kosten. Den mische Organisation als »verfassungsfeindlich« zu damalige CDU-Abgeordnete Kristina Schröder, nach außen hin vollzogene Distanzierungsbemü-
Idriz liest den Brief und ist geschockt. Er will jährlichen Unterhalt in Höhe von 500 000 Euro bezeichnen wäre jedoch sehr ungewöhnlich für ei- heute Bundesfamilienministerin, die ihn als »Funk- hungen« gegenüber Milli Görüș, heißt es nun,
aber nicht aufgeben. Er will kämpfen, aber er weiß will Idriz jedoch ohne ausländische Hilfe finanzie- nen Imam und könnte ihm von muslimischer Seite tionär der Muslimbruderschaft« bezeichnet hat. Er doch im Berichtsjahr habe die Gemeinde erneut
noch nicht, was auf ihn zukommt. Er hat es mit ren, durch Mitgliedsbeiträge und die Verpachtung viele Anfeindungen einbringen. verliert den Prozess, die Bezeichnung sei eine zuläs- für eine Veranstaltung der Islamisten in Ingolstadt
einer Bürokratie zu tun, einem Gegner, der ihm von Läden und einem Restaurant im neuen Zen- sige Meinungsäußerung. geworben. Es handelte sich um eine Koranrezitati-
nicht vertraut ist. trum. Außerdem hofft Idriz auf Zuschüsse der Stadt Andere Muslime halten den Imam jetzt Kenner der islamischen Szene bezeichnen Ibra- on, die auch der dortige Oberbürgermeister be-
Am 1. August 2007 macht das Innenministe- München, zum Beispiel für Deutsch- und Integra- für einen Lakaien des Staatsschutzes him el-Zayat als Strippenzieher. Jahrelang ist er suchte – ein Mitglied der CSU. Die Geschichte
rium in einer Presseerklärung seine Bedenken ge- tionskurse. Bei der Imam-Ausbildung in deutscher Europavertreter der World Assembly of Muslim lasse sich leicht aufklären, sagt Imam Idriz heute:
genüber Idriz’ Projekt »Zentrum für Islam in Eu- Sprache will er mit deutschen Hochschulen koope- Aus der Sicht des Innenministeriums war alles Youth, einer aus Saudi-Arabien stammenden Ju- Die Penzberger Moschee stehe immer offen, jeder
rieren und hofft auch hier auf öffentliche Gelder. ganz anders: Demnach sind es die Vertreter der gendorganisation. Außerdem ist er Generalbevoll- könne ein und aus gehen. Gleich links neben dem
Im August 2007 glaubt Imam Idriz immer noch Islamischen Gemeinde Penzberg, die sich vom mächtigter der Europäischen Moscheebau- und Eingang hänge ein Schwarzes Brett, wo jemand,
an ein Missverständnis. In einem unterwürfigen Extremismus distanzieren wollen, um ihr Münch- Unterstützungsgemeinschaft, die auch die etwa ohne zu fragen, das Milli-Görüș-Plakat angebracht
Brief an Staatssekretär Schmid bedauert er die »Ir- ner Projekt nicht zu gefährden. Die Presseerklä- 300 Moscheen der Islamischen Gemeinde Milli habe. Es sei umgehend entfernt worden, nachdem
ritationen« über sein Konzept und bittet erneut um rung sei in beiderseitigem Einvernehmen erarbei- Görüș verwaltet. Zur Zeit des Telefonats läuft ein es entdeckt worden sei.
ein Gespräch. Die Gelegenheit dazu kommt tet worden. Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Bildung Das Innenministerium sieht die Sache anders:
schneller als erwartet: Der Staatssekretär schlägt In jedem Fall kommt es zur Unterschrift, und einer kriminellen Vereinigung, das später einge- Diese Begebenheit bestätige die Nähe der Penzber-
den 13. August vor, der Imam bläst seinen Urlaub das Gespräch ist beendet. Noch am selben Tag ver- stellt wird; es geht um Spenden an die islamistische ger zu Milli Görüș. Jetzt schaltet Idriz seinen Anwalt
in Makedonien ab. Das Treffen findet in den Räu- öffentlicht das Innenministerium die Erklärung Hamas in Palästina. Die Münchner Polizei hört Hildebrecht Braun ein. Er soll herausfinden, was
men des Verfassungsschutzes im Innenministerium auf seiner Website. Die Penzberger aber gehen in also mit und schneidet das auf Deutsch geführte genau der Verfassungsschutz verfolgt: Was konkret
statt. Staatssekretär Schmid nimmt teil sowie die den Pizza Hut am Münchner Hauptbahnhof und Gespräch mit. Demnach sagte el-Zayat: »Du musst wirft man ihm vor? Braun trifft sich mit Innen-
Sachgebietsleiterin Ausländerextremismus, Marion diskutieren. Sie sind nicht glücklich mit der Presse- dich fragen, wer du sein möchtest. Wer ist der Ben- minister Herrmann. Der windet sich und rät dem
Frisch. Aus Penzberg ist neben Imam Idriz auch erklärung und beschließen, eine zweite Presseerklä- jamin Idriz? Möchtest du jemand sein, der sich ge- Anwalt, er solle das Gespräch mit den zuständigen
Bayram Yerli gekommen, der Vorsitzende der Isla- rung zu veröffentlichen, in der Imam Idriz das gen die Muslime wendet?« Beamten suchen. Am 12. Februar 2009 trifft Braun
mischen Gemeinde. Unterschriebene relativiert. Imam Idriz: »Ich sage doch, dass ich damit unter anderem den Ministerialdirigenten Remmele.
Nach vier Stunden glauben die Penzberger, die Am selben Abend noch erhält Idriz einen Anruf, nicht einverstanden bin, aber was ist die Lösung?« Seit 1994 sitzt er auf seinem Posten, inzwischen ein
Staatsschützer von sich überzeugt zu haben. Doch der ihn noch Jahre später verfolgen wird. Er wächst El-Zayat: »Das Richtige zu sagen. Du musst grau melierter Herr von 63 Jahren. Auch Ministeri-
dann passiert etwas, womit die Besucher nicht ge- sich zum wichtigsten Beweisstück aus, mit dem das wissen, wofür du stehst, wenn du gemeinsam mit alrätin Marion Frisch ist wieder dabei. Sie begrüßt
rechnet haben. Von dem Vorfall gibt es zwei Ver- bayerische Innenministerium belegen will, dass dem Innenministerium der Meinung bist, dass die den Anwalt Braun mit den Worten: »Eigentlich
sionen. Das Innenministerium, sagen die Penzber- Imam Idriz mit Extremisten gemeinsame Sache IGMG verfassungsfeindlich ist, dann kannst du treffen wir uns nicht mit den Objekten unserer Be-
ger, habe ihnen eine Presseerklärung vorgelegt, die mache. Bei Idriz meldet sich Ibrahim el-Zayat, eine aber nicht damit rechnen, dass dir islamische Or- obachtung.« Das sind die Worte, an die Braun sich
ropa München« (ZIEM) öffentlich. Viele Medien sie sofort unterschreiben sollten, ohne sich beraten schillernde Figur in der islamischen Szene. Geboren ganisationen in Zukunft helfen. Es ist nicht deine erinnert. Frisch sagt heute, sie wisse nicht mehr ge-
greifen das Thema auf, und Staatssekretär Georg zu können. Das Innenministerium habe die Unter- und aufgewachsen in Deutschland, der Vater ist Angelegenheit, andere islamische Organisationen nau, was ihre Worte waren.
Schmid aus dem bayerischen Innenministerium schriften zur Bedingung gemacht, andernfalls werde Ägypter. Bis zum Januar 2010 ist er Vorsitzender zu beurteilen. Der Anwalt ist über die Begrüßung pikiert, er
weist auf die Verbindungen zu Milli Görüș hin. man das Treffen als gescheitert betrachten. In dem der Islamischen Gemeinde in Deutschland, der Imam Idriz: »Ich bin ja deiner Meinung. Was hat mehrere Jahre lang im Bundestag gesessen, für
Dass ausländische Geldgeber das Projekt finanzie- Schreiben sollen die Penzberger erklären, nichts mit IGD. Sie ist nach Einschätzung des Verfassungs- soll ich tun?« die FDP. Er bekommt keine Einsicht in die Akten
ren wollten, gebe Anlass zu der Befürchtung, dass Milli Görüș zu tun zu haben, außerdem sollen sie schutzes der verlängerte Arm der islamistischen El-Zayat: »Du musst das richtigstellen. Du des Verfassungsschutzes. Und so bleibt unklar, was
ein »fundamentalistisch geprägtes Islamverständ- sich verpflichten, künftig keine Milli-Görüș-Mit- Muslimbrüder, die in Kairo ihren Ursprung haben kannst ja sagen, dass du sie nicht unterstützt. genau gegen die Penzberger vorliegt. Allerdings
nis« dahinterstecke. glieder in ihren Reihen zu »dulden« beziehungs- und bis zum Umsturz des Mubarak-Regimes offi- Aber du kannst nicht sagen, dass sie verfassungs- lernt der Anwalt etwas über das bayerische Innen-
Als Finanziers nennt der Imam Scheichs aus den weise sie »auszuschließen«. Unter Punkt 5 soll sich ziell verboten waren. Der damalige Führer der ägyp- feindlich sind.«
Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Emir von Imam Idriz von jeglichen islamistischen Organisa- tischen Muslimbrüder, Mohammed Mahdi Akef, Tatsächlich veröffentlicht Idriz am nächsten Fortsetzung auf S. 17
Schardscha hat bereits die Moschee in Penzberg mit tionen distanzieren, er hat sich der Bewertung der bezeichnet Ibrahim el-Zayat im Februar 2007 als Tag eine Presseerklärung, in der er sich erneut vom
DOSSIER 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 17

»Da wird ein Popanz aufgeblasen«


Um sich selbst wichtiger zu machen, übertreibe der Verfassungsschutz seine
Informationen unzulässig, kritisiert der Sozialwissenschaftler Werner Schiffauer

Fotos: Kai Wiedenhöfer für DIE ZEIT; Heide Fest (r.)


DIE ZEIT: Was bedeutet es für islamische Ge- noch unterstellt man ihnen, langfristig eine Organisation enttäuscht ist, oder auch, wer ein-
meinden, im Verfassungsschutzbericht erwähnt islamische Ordnung in Deutschland errichten fach Geld braucht. Solche Leute können zwar
zu werden? zu wollen. Indizien dafür sind dann oft per- benötigt werden, wenn es um Sachinformatio-
Werner Schiffauer: Das kommt einem Urteil sonelle Verflechtungen mit Organisationen in nen geht, etwa um Pläne zu einem Attentat.
gleich. Die Aussage »vom Verfassungsschutz den Herkunftsländern – etwa mit den Muslim- Aber wenn sie Wertungen über ihre Organisa-
beobachtet« wird gleichgesetzt mit: »ist verfas- brüdern in Ägypten. Auch wer für die Be- tion abgeben, ist das mit Vorsicht zu genießen.
sungsfeindlich«. Damit hat der Verfassungs- wahrung einer »islamischen Identität« eintritt, ZEIT: Schafft sich der Verfassungsschutz manch-
schutz in der Öffentlichkeit eine Rolle über- erregt schon den Verdacht, er wolle Parallel- mal seine Objekte auch selbst, um die eigene
nommen, die ihm ursprünglich nicht zugedacht gesellschaften bilden und die jungen Leute in Existenz zu rechtfertigen?
war. Er ist zur Prüfinstanz der Verfassungstreue Distanz zur gesellschaftlichen Ordnung der Schiffauer: Kurz nach dem 11. September 2001
geworden. Eigentlich soll aber das Verfassungs- Bundesrepublik bringen. war ich einmal bei einer Tagung des Verfas-
gericht darüber entscheiden. ZEIT: Ist das plausibel? Verläuft so die Radikali- sungsschutzes, da sagte ein Amtschef: Die
ZEIT: Wie entsteht ein Verfassungsschutz- sierung? schweren Zeiten sind vorbei. Nach dem Ende
Große Fenster, dezentes Minarett: Die Penzberger Moschee soll Offenheit ausstrahlen bericht? Schiffauer: Nein. Die islamistischen Attentäter des Kommunismus hatten sie befürchtet, der
Schiffauer: Die Mitarbeiter fassen aufgrund der letzten Jahre waren entfremdete und ent- Verfassungsschutz könnte als überflüssig be-
verschiedener Quellen – vor allem von Infor- wurzelte junge Männer, die sich trachtet werden. Nach 2001 wur-
Fortsetzung von S. 16 bericht 2008. Sie wollen eine einstweilige Anordnung manten und Publikationen – Erkenntnisse zu- im Internet selbst radikalisiert den dann viele junge Islamwis-
erwirken. Ein solches Eilverfahren dauert normaler- sammen, die dann im Innenministerium die haben. Sie waren gerade nicht senschaftler eingestellt. Und die
ministerium. Auf die Frage, was denn so gefährlich weise wenige Wochen. In diesem Fall lässt sich das Behördenleiter rauf und runter gehen. Am Mitglieder »legalistisch islamis- müssen nun auch etwas tun, um
an der Islamischen Gemeinde Penzberg sei, habe der Gericht ein Jahr Zeit. Ende kommt ein politisch gewichteter Text tischer« Gemeinden. Und wenn ihre Beschäftigung zu rechtfer-
Ministerialdirigent Remmele erwidert: »Uns macht Das Vorgehen des Innenministeriums bringt heraus. Ich kenne Fälle, bei denen Beamte sie doch Kontakt zu ihnen hat- tigen. Also üben sie das Lesen
die Gefahr islamistischer Gewalttäter deutlich weni- auch Idriz’ christliche Freunde auf. Sie sehen in ihm nicht sehr glücklich darüber waren, was aus ten, sind sie meist schnell wie- gegen den Strich ein, wo aus
ger Sorge als die Gefahr der schleichenden Islamisie- einen Hoffnungsträger, der zerrieben werden soll. ihren Erkenntnissen geworden ist. Einige von der ausgestiegen, weil ihnen das scheinbar unbedenklichen Äuße-
rung unserer Gesellschaft.« Und dann habe er noch »Wenn wir den wegbeißen – wer bleibt dann noch ihnen kenne ich seit Langem. Die haben ein Angebot dort zu langweilig und rungen durch Zuspitzung und
von der hohen Geburtenrate der Muslime gespro- übrig?«, fragt etwa Mathias Rohe, Professor für Berufsethos als unabhängige Ermittler. Der kompromisslerisch war. Das soll- Professor Werner Selektion Verdachtsmomente wer-
chen, die ein Problem für Deutschland sei. So lautet Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen. Verfassungsschutz ist aber nicht politisch un- te den Sicherheitsbehörden viel Schiffauer lehrt an der den. Auf einer Tagung hat zum
die Version des Anwalts Braun, die in den Prozess- Von Anfang an hat Stefan Jakob Wimmer, Lehr- abhängig. mehr Sorgen machen, weil man Europa-Universität Beispiel ein führender Kopf von
akten des Verfahrens auftaucht, das die Penzberger beauftragter an der Katholisch-Theologischen Fa- ZEIT: Diese Ermittler liefern Belege für eine solche hoch individualisierten Viadrina in Milli Görüș gesagt, es gebe Pro-
später gegen das Innenministerium wegen der Nen- kultät der Universität München, den Konflikt mit- politische Wertung, die schon feststeht? Prozesse nicht beobachten kann Frankfurt (Oder) bleme mit gewissen antisemiti-
nung im Verfassungsschutzbericht anstrengen. erlebt. Er ist das einzige nichtmuslimische Mitglied Schiffauer: Das Material wird oft sehr zugespitzt wie das Leben in einem Mo- schen Äußerungen von Imamen,
Hat Ministerialdirigent Remmele etwas gegen im Vorstand von ZIEM. und stark gewertet. Zum Beispiel wird aus je- scheeverein. die er sich deshalb zur Brust nehme. Im Ver-
den Islam? »Das ganze Gespräch drehte sich um isla- Wimmer ist seit Langem im interreligiösen Dia- mand, der zur Zeit des Kriegs im Irak Solidari- ZEIT: Heißt das, man beobachtet eben, was fassungsschutzbericht von Baden-Württemberg
mischen Extremismus und nicht um den Islam«, log engagiert, er hat in Jerusalem an der Hebräischen tät mit dem irakischen Volk fordert, einer, der man beobachten kann, auch wenn es die Fal- wurde daraus: Der Funktionär bestätigt die
wehrt sich Remmele im Nachhinein. »Hildebrecht Universität studiert. Seine Frau ist Palästinenserin. zur Rekrutierung von Selbstmordattentätern schen sind? Existenz von Antisemitismus bei Milli Görüș.
Braun hat das Gespräch verfälscht wiedergegeben, Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern hat er die aufruft. Schiffauer: Ja, ich glaube, es geht manchmal Wenn die Sicherheitsperspektive den Blick so
ich könnte gegen ihn eine gerichtliche Unterlassungs- »Freunde Abrahams« gegründet, ein Dialogforum ZEIT: Welche islamischen Organisationen soll- mehr darum, zu zeigen, dass man etwas tut, um stark bestimmt, macht sie die Integrations-
anordnung erwirken.« Hat er aber bislang nicht. für Christen, Juden und Muslime. Im März 2010 ten Ihrer Meinung nach beobachtet werden? das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu politik kaputt.
Idriz’ alter Freund Alois Glück von der CSU rät schreibt Wimmer einen öffentlichen »Brandbrief«: Schiffauer: Bei manchen Islamisten ist das ab- befriedigen. Da wird dann ein Popanz aufgebla- ZEIT: Wozu brauchen wir den Verfassungs-
den Penzbergern, vor Gericht zu ziehen. Lange dis- Im bayerischen Innenministerium, so der Religions- solut unstrittig wie etwa bei Hisb ut-Tahrir oder sen. Das ist für die Sicherheit unseres Landes schutz? Was wäre seine Aufgabe?
kutiert der Vorstand der Gemeinde darüber, doch wissenschaftler, säßen Beamte, die offensichtlich der Gruppe Kalifatstaat, die beide eindeutig die kontraproduktiv, denn man trifft damit diejeni- Schiffauer: Er muss nachweisbaren Gefahren
manche fürchten, ihnen könnte die Moschee genom- inspiriert seien von der islamfeindlichen Website verfassungsmäßige Ordnung beseitigen möch- gen, die sich für die Integration eines konser- nachgehen. Dieses allgegenwärtige Misstrauen
men werden, wenn sie den Freistaat verklagen. Auch Politically Incorrect, deren Methoden man mit der ten. Schwieriger wird es beim sogenannten le- vativen Islams in die Gesellschaft einsetzen. war vielleicht in den fünfziger Jahren angemes-
der SPD-Bürgermeister von Penzberg, der bei Festen »antisemitischen Hetze« früherer Zeiten vergleichen galistischen Islamismus. ZEIT: Was sind die Quellen des Verfassungs- sen, in einer Zeit mit vielen alten Nazis und ei-
die Moschee in Lederhosen betritt, hat Bedenken. könne. Bloß seien diesmal nicht Juden die Opfer, ZEIT: Was sind »legalistische Islamisten«? schutzes? ner kommunistischen Gefahr im Kalten Krieg.
»Den Staat verklagen – da kann doch nichts Gutes bei sondern Muslime. Was wäre, fragt der Religionswis- Schiffauer: Aus der Perspektive der Sicherheits- Schiffauer: Auf der untersten Ebene sind das die Inzwischen ist die Demokratie längst gefestigt.
rauskommen«, sagt er. Am Ende klagen die Penzber- organe: Wölfe im Schafspelz. Sie halten sich an Informanten. Die sind von Natur aus problema-
ger gegen ihre Erwähnung im Verfassungsschutz- Fortsetzung auf S. 18 die Gesetze und verzichten auf Gewalt. Den- tisch. Informant wird oft, wer von seiner eigenen Das Gespräch führte JÖRG LAU
18 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 DOSSIER
Fotos (v.o.n.u.): Kai Wiedenhöfer für DIE ZEIT; Frank Leonhardt/picture-alliance/dpa; Peter Frischmuth/argus

Angehörige der Islamischen Gemeinde Penzberg beim Gebet in der Moschee

Fortsetzung von S. 17 steht. Wer das Gegenteil behauptet, betreibt be- Der Staatsminister habe sich deswegen in Inter- Am 2. April 2010, es ist Karfreitag, verteilt die Der Kontakt zu el-Zayat schadet Imam Idriz’
wusste Fälschung.« views immer dagegen ausgesprochen, Islamkritik Organisation Pax Europa vor den Kirchen in Penz- Glaubwürdigkeit. Andererseits: Ist es verboten, mit
senschaftler, »wenn in einer bayerischen Behörde Die radikale Bürgerbewegung Pax Europa als »Islamophobie« abzustempeln. »Wir dürfen berg Flugblätter: »Penzberger Bürger!, wussten Sie, Ibrahim el-Zayat zu telefonieren? Wer sich in
Personen mit offen antisemitischer Gesinnung fühlt sich bestärkt vom Innenministerium. Sie uns nicht scheuen, antiemanzipatorische und dass die Islamische Gemeinde Penzberg mit Hilfe der der islamischen Szene in Deutschland engagiert,
mit der Zuständigkeit für jüdische Gemeinden warnt schon lange vor der Islamisierung der deut- menschenrechtsferne Mentalitäten, Sitten, Ge- extremistischen Milli Görüș gegründet wurde? Wuss- kommt um den umtriebigen Funktionär kaum he-
betraut wären?« schen Gesellschaft und vergleicht den Islam mit bräuche und Traditionen der muslimischen Min- ten Sie, dass laut Koran alle Christen ›Ungläubige‹ rum. Und el-Zayat hat nicht nur Kontakt mit isla-
Kurz darauf erhält Wimmer Post von einem dem Nationalsozialismus. Das Minarettverbot in derheit klar zu thematisieren. Für die Unterdrü- sind? Wussten Sie, dass im Koran an 27 verschiede- mischen Organisationen. Er nahm im Jahr 2006
Ministerialdirektor im bayerischen Innenminis- der Schweiz hat sie begeistert gefeiert. Statt sich ckung von Frauen oder die Scharia ist bei uns nen Stellen in Befehlsform zum Töten der Ungläubi- auch an einer Konferenz in Südafrika teil, die von
terium. »Ihren Unterstellungen trete ich mit von diesen Leuten zu distanzieren, lässt Minister kein Platz.« gen aufgefordert wird?« der Evangelischen Akademie Tutzing veranstaltet
Nachdruck entgegen«, schreibt der Beamte. Die Herrmann im Jahr 2010 einen Ministerialrat in Nachvollziehbare Positionen, die jedoch Pax Am 30. März 2010 erscheint der Verfassungs- wurde. Emilia Müller, Ministerin für Bundes- und
Arbeit des bayerischen Innenministeriums richte seinem Namen an Pax Europa schreiben. »Kritik Europa für seine Zwecke benutzt. Es stellt den schutzbericht für das Jahr 2009, und wieder tauchen Europaangelegenheiten, sprach ein Grußwort. »Die
sich keinesfalls gegen den Islam als Religion, an bestimmten Ausprägungen des Islam ist auch Brief ins Internet. »Chapeau, Herr Innenminis- die Penzberger darin auf. Jetzt wird Imam Idriz zu- Regierung hat selbst Kontakt mit Ibrahim el-Zayat,
»sondern gegen den Islamismus, der im Wider- in muslimischen Gemeinden in Bayern nicht nur ter«, heißt es dazu. »Auf dieser Basis können wir sätzlich vorgeworfen, er habe sich von den Muslim- und mir wird vorgeworfen, ich sei ein Extremist«,
spruch zu unserer freiheitlichen Grundordnung legitim, sondern geradezu notwendig«, heißt es. Islamkritiker gut weiterarbeiten.« brüdern helfen lassen, eine Aufenthaltsgenehmigung sagt Imam Idriz.
zu bekommen. Was ist geschehen? Ibrahim el-Zayat selbst sich hat sich zu der ganzen
Imam Idriz hat zweimal die Hilfe eines gewissen Angelegenheit bislang nicht geäußert. Gegenüber
Ahmad Khalifa angenommen. Khalifa ist ein Prediger der ZEIT beschreibt er Imam Idriz als naiv, weil der
im Islamischen Zentrum München, der ältesten Mo- glaube, er könne sich mit dem Innenministerium ei-
schee der Stadt, die mithilfe der Muslimbrüder gebaut nigen. Diese Beamten seien doch nur darauf aus, ei-
wurde. Sie gilt als europäische Anlaufstelle der Orga- nen Keil zwischen die Muslime zu treiben. Idriz
nisation und wird deswegen im Verfassungsschutz- könne das aber nicht erkennen. Der Frage nach den
bericht erwähnt. Khalifa hatte Kontakt zu vielen fins- finanziellen Quellen, die er dem Imam verschließen
teren Gestalten, wie etwa Mahmud Abouhalima, der wollte, weicht er im Gespräch mit der ZEIT aus.
1993 versuchte, das World Trade Center in die Luft Idriz hingegen bestreitet vehement, jemals Geld von
zu jagen, oder Mamduh Mahmud Salim, einem en- Ibrahim el-Zayat oder Leuten, die ihm nahestehen,
gen Vertrauten Osama bin Ladens. Ungeachtet dessen bekommen zu haben. Finanziert werde die Gemein-
galt Khalifa lange Zeit als angesehener Mann in Mün- de aus Mitgliedsbeiträgen und den Mieteinnahmen
chen, die Moschee wird von vielen unbescholtenen aus einer Immobilie.
Muslimen besucht, und noch im Jahr 2008 rühmte Im November 2010 erfährt Imam Idriz etwas
sich der Staatsminister für Unterricht und Kultus, Neues über sich: Unter dem Titel Hitler? Ach so ver-
Ludwig Spaenle, er besuche regel- öffentlicht der Focus einen Bericht
mäßig das Islamische Zentrum Mün- über Hussein Djozo, einen bos-
chen – es sei ein Beispiel dafür, »wie nischen Militärimam der Waffen-
Integration funktioniert«. SS. Ausgerechnet diesen Hussein
So auch für Imam Idriz. Als er Djozo zählt Imam Idriz zu seinen
1994 nach Deutschland kommt, Vorbildern. Er bezieht sich dabei
braucht er eine Bestätigung von einer auf die Schriften, die Hussein Djozo
islamischen Autorität, damit er als nach dem Zweiten Weltkrieg ver-
Imam arbeiten darf. So verlangt es öffentlichte. Über dessen Ver-
das Landratsamt im bayerischen gangenheit als Imam der Waffen-SS
Weilheim, in dessen Landkreis Penz- habe er, beteuert Idriz, bis dahin
berg liegt. »Außer Ahmad Khalifa gab nichts gewusst. Ist Idriz naiv, oder
es damals niemanden, der so etwas lügt er?
auf Deutsch schreiben konnte«, sagt Der Focus muss ein paar Wochen
Idriz. Ein ähnlicher Vorgang wieder- später unter Androhung einer Ver-
holt sich fünf Jahre später. Die Auf- leumdungsklage eine Gegendarstel-
enthaltsgenehmigung ist abgelaufen, lung drucken, in der Idriz schreibt,
das Landratsamt in Weilheim sieht dass er die Shoah als »beispielloses
sich nicht in der Lage, sie eigenmäch- Ministerialdirigent Menschheitsverbrechen« verurteile.
tig zu verlängern, und ein Beamter Wolf-Dieter Remmele Zudem entschuldigt sich das Maga-
rät Idriz, sich Unterstützung zu ho- (oben) und der bayeri- zin: »Focus bedauert, dass der Ein-
len. Sein Anwalt wendet sich ganz sche Innenminister druck entstand, der Penzberger
nach oben, an Ministerpräsident Ed- Joachim Herrmann Imam nehme sich die Waffen-SS
mund Stoiber, zu dessen Wahlkreis zum Vorbild.«
Penzberg gehört. Die Penzberger Trotz dieser Irritationen halten
schicken Stoiber einen Brief ihres die nichtmuslimischen Unterstützer
Bürgermeisters und ein weiteres Schreiben von Ah- weiter zu Idriz. Unter ihnen ist auch Marian Off-
mad Khalifa, dazu Zeitungsartikel, aus denen her- man, CSU-Mitglied und Vizepräsident der Israeliti-
vorgeht, dass sich die Penzberger Gemeinde um die schen Kultusgemeinde in München. Er hat erlebt,
Integration von Muslimen bemühe. Kurze Zeit spä- wie das Jüdische Zentrum in München das jüdische
ter trifft die Nachricht ein: »Die von Herrn Minister- Leben erneuert hat. Er glaubt, ein Islamzentrum
präsident veranlasste Prüfung durch das Bayerische könnte für die Muslime dieselbe Wirkung haben.
Staatsministerium des Innern hat ergeben, dass der Auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-
Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung nichts Schnarrenberger von der FDP steht hinter Idriz. Am
entgegensteht«, schreibt die Staatskanzlei. Obwohl Tag, als der Verfassungsschutzbericht 2008 veröffent-
sich der düstere Islamist Ahmad Khalifa für Imam licht wird, besucht sie demonstrativ die Gemeinde in
Idriz starkmachte, hatte das Innenministerium da- Penzberg. Auch der amerikanische Konsul in Mün-
mals keine Bedenken. Zehn Jahre später taucht der chen kommt regelmäßig vorbei. Der evangelische
Fall im Verfassungsschutzbericht auf. Landesbischof Johannes Friedrich sagt nach seinem
Im Mai 2010 urteilt das Verwaltungsgericht, die Besuch in Penzberg: »Ich bin beeindruckt von der
Islamische Gemeinde Penzberg werde zu Recht im Offenheit der Gemeinde.«
Verfassungsschutzbericht 2008 erwähnt. Die Verbin- Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2010,
dungen zur Islamischen Gemeinde Milli Görüș seien der am 3. März 2011 veröffentlicht wird, tauchen
unbestreitbar. Kurz darauf findet jenes Treffen im die Penzberger wieder auf, diesmal auf zweieinhalb
Innenministerium statt, in dessen Anschluss Imam Seiten, so ausführlich wie nie zuvor. Benjamin Idriz
Idriz die IGMG als verfassungsfeindlich bezeichnet. hofft noch immer darauf, dass er den Kampf gegen
Ibrahim el-Zayat, der umstrittene Strippenzieher, die bayerischen Behörden gewinnen wird, die Hoff-
der Idriz zuvor am Telefon genau davor gewarnt hat, nung ist kleiner geworden von Jahr zu Jahr, und sie
ist erbost. In einem Gespräch mit einem hohen wäre vollständig zerstört, wenn da nicht dieser eine
Funktionär von Milli Görüș bezeichnet er Imam Satz stünde: »Neue Erkenntnisse über verfassungs-
Idriz als »Schwachkopf« und »Idioten«. »Das ist ja widrige Aktivitäten«, heißt es jetzt über die Penz-
nur noch peinlich«, sagt el-Zayat. »Ich werde ihm berger im Bericht des Verfassungsschutzes, »ergaben
jetzt drei bis vier Geldquellen schließen.« sich im Berichtsjahr jedenfalls nicht.«
WOCHENSCHAU 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 20

Frohnaturstatus im Härtetest
Kaum ist die Londoner Hochzeit verklungen, aus dem Leben verabschiedete. »Die Kugel sei ausgerechnet, informierte vor geraumer Zeit über ins Rheinische über, dessen Frohnaturstatus sich selbst (unten). Die Stadt hat sich auf das Event
kaum ist Osamas Leichnam bei den Haien, zur einen Schläfe ein- und zur anderen wieder das Berufsbild des Putzmannes im Sondereinsatz: diese Woche einem Härtetest ausgesetzt sieht. eingestimmt. Man singt seit Jahrzehnten und
wird schon wieder gejubelt, wieder geschossen. ausgetreten«, konnte Bild am Schreibtisch »Wer Tatortreiniger werden möchte, muss starke Drei Tage lang geht es um die Endausscheidung durchaus Bedenkenswertes: »Wärst du doch in
In Gstaad gibt es einen prominenten Toten zu ermitteln. Ein sauberer Schuss. Aber richtet ein Nerven haben.« Und natürlich Feudel und Eimer. beim Eurovision Song Contest. Endausscheidung, Düsseldorf geblieben, schöner Playboy, du wirst
beklagen, der sich nach Meinung vieler »stilvoll« Mann von Welt ein Blutbad an? Penthouse, Und damit gleiten wir zwanglos nach Düsseldorf besser kann man es nicht sagen. Aber lesen Sie nie ein Cowboy sein.« (Mehr Düsseldorf auf S. 65)

Trauern und hoffen


Eurovision Song Contest in Düsseldorf: Ein Sänger stirbt, seine Freunde singen statt seiner.
Die Geschichte des Liedes aus Island VON DEBORAH STEINBORN

Fotos [M]: ESC/RÚV/Gassi (2); Nigel Treblin/dapd (u.)


Sjonnis Friends – sie trugen Sjonni zu Grabe, zwei Tage später traten sie erstmals auf

M
atthias Matthiasson war auf dem geholfen. Am Abend vor dem Abgabetermin mit ihnen die Gruppe Sjonnis Friends. Matthias- einem Sattel, denn Sjonni ritt so gern. Das Video Ganz anders 2011: »Warum er Coming Home
Weg zu seinem Freund Sjonni, sie schrieb er mit ihr die letzten Zeilen auf Englisch, son singt, die anderen spielen, Thorunn Clausen zum Lied wurde in einem Stall bei Reykjavík ge- ausgesucht hat, so kurz vor seinem Tod, bleibt mir
wollten zusammen frühstücken, sie übersetzte den Text ins Isländische. produziert und managt. Sie sagt: »Wir können dreht, in dem Sjonni sein Pferd hatte. Sein Bruder ein Rätsel«, sagt seine Witwe. Vielleicht hatte das
da klingelte das Telefon: Sjonni Unüblich war diese Zusammenarbeit nicht. Sjonni nicht ersetzen, aber die sechs Freunde zu- und ein Cousin haben das Video gedreht, seine Lied mit ihr zu tun, sie hatte vor zwei Jahren einen
habe gerade eine Hirnblutung er- Die beiden waren sich 2002 während der Arbeit sammen können ihn vertreten, und wir helfen ei- Witwe, seine Söhne und seine Freunde tanzen. Schlaganfall erlitten. »Das Lied erinnert uns daran,
litten. Er starb, mit 36 Jahren. An jenem 17. Januar am Musical Le Sing in Reykjavík begegnet, seitdem nander. Einfach ist es für keinen von uns.« Sjonni Brink sei zwar ein Rocker gewesen, wie dass wir unser Leben heute leben müssen«, erklärt
2011 waren es noch zwölf Tage bis zur Vorrunde hatten sie gemeinsam Liedertexte fürs Theater ge- Zwei Tage nach der Beerdigung traten Sjonnis die Witwe sagt, aber auch ein großer Fan des Euro- sie. »Es erzählt die Geschichte eines Menschen, der
im Eurovision Song Contest. Dann würden die schrieben, für Sjonnis Band The Flavors und für Friends erstmals auf. Dann, im Finale, einige Tage vision Song Contest, und er habe alles gewusst: es nicht abwarten kann, nach Hause zu kommen zu
Isländer entscheiden, welche Lieder es ins nationa- sein Soloalbum, das im Jahr 2009 erschien. Sjonni später, entschied sich ein Zehntel der Bevölkerung Wer im Jahre 1986 Island zum ersten Mal vertrat, seiner Familie oder seinen Freunden, um ihnen zu
le Finale schaffen. Zwölf Tage, bevor Matthiassons war seit mehr als einem Jahrzehnt als Sänger in Is- für sie. Das war der Sieg. »Ein sehr merkwürdiges in welchen Jahren Island später fehlte, wie viele sagen, dass er sie liebt. Und dass, egal, was auch ge-
Freund Sigurjon »Sjonni« Brink mit Coming Home land bekannt, außerdem hatte er die Theatergrup- Gefühl, wir sind furchtbar traurig und doch so Punkte die Sänger in anderen Jahren sammelten. schieht, sogar nach dem Leben auf der Erde, diese
in der Hauptstadt Reykjavík auftreten sollte, einem pe Vesturport mitgegründet. froh darüber, dass sein Lied ausgewählt wurde und Viermal schon hatte Sjonni Brink an Liebe uns wieder zusammenführen wird.«
Song, halb Folk, halb Rock, zum Mitsummen. Und nun das: Er war als Solist schon bis ins in ganz Europa gehört werden kann«, sagt Tho- der heimischen Vorauswahl teilgenommen. »Wenn meine Zeit auf der Erde endet,
Der Text handelt von der Flüchtigkeit des nationale Halbfinale gekommen. »Als Sjonni dann runn Clausen. 2010 kam er mit Waterslide ins Finale: ein finde ich dich, und ich weiß, du wirst wieder
Seins. Es war ein Appell, das Leben so zu leben, als so unerwartet starb, war uns allen klar, dass wir nur Seither bereiten sich die Freunde auf Halb- lustiges, lebendiges Lied über die Wasser- meine Liebe sein«, heißt es im Lied.
ginge es morgen zu Ende – eine Botschaft an seine eine Wahl hatten«, sagt Matthias Matthiasson, finale (10. 5.) und Finale (14. 5.) des Eurovision rutschen in Reykjavíks Thermalbädern, Es gilt in Düsseldorf als ein Favorit.
krisengeschüttelten Landsleute, ja an alle Euro- »wir mussten das Lied in seinem Namen singen.« Song Contest in Düsseldorf vor. »Es wird unsere die er oft mit den vier Kindern – sie
päer. Im letzten Moment hatte Sjonni Brink das Sjonnis Witwe stimmte zu. Noch vor dem Be- Hommage an den Freund«, sagt Matthias Matthi- sind jetzt drei, fünf, elf und 16
Lied beim Wettbewerb eingereicht. Seine Frau gräbnis versammelte die 35-Jährige sechs Freunde, asson. Sie werden ihren Auftritt so inszenieren, wie Jahre alt – besuchte. Es war ein Sigurjon »Sjonni« Brink.
Thorunn Clausen, eine Schauspielerin, hatte ihm alle aus der isländischen Musikszene, und gründete Sjonni es gefallen hätte. Der Schlagzeuger sitzt auf Lied ohne Zweifel. Eine Hirnblutung, und
sein Leben war vorbei

Na na na, uo uo, ding dong!


Beim Eurovision Song Contest starten 43 Länder: Wovon singt Europa? Eine Textanalyse VON CHRISTINA RIETZ

I
m Anfang war die Geschichte. Eine gesungene Wir leben menschliche Leben Ich höre ein stilles Gebet, und das macht mich Abou-Dakn hört im Refrain eine sexuelle Fantasie es hier, aber da: »Wäre es der Eurovision Propagan-
Geschichte merkte sich der frühe Mensch bes- Wir sind Engel, wir sind in Gefahr High und ich fliege. Ich weiß, wo ich hinmuss anklingen, die dann in den Strophen, in denen von da Contest, würde Weißrussland einen Kantersieg
ser als eine erzählte. So entstand das Lied, als Wir sind kristallweiß, kristallweiß Und ich komme jetzt! Augenbinden und Stühlen die Rede ist, präzisiert hinlegen. Das Ganze ist grauenhaft und eine
noch niemand ans Aufschreiben dachte. Später, als Der Makedonier Vlatko Ilievski träumt wäh- Zarte Ansätze von Komplexität sind womög- werde. »Aber die Strophen interessieren sowieso Schande für den Wettbewerb.«
man schreiben konnte, behielt man das Singen bei, renddessen vom Wodkatrinken mit einer Russin, lich in den deutschen Beitrag der Vorjahressiegerin keinen mehr.« Für den Song Contest zu kom- Die eingereichte Liebeslyrik ist in jeder Hin-
verfeinerte es und machte es zur Kunstform. deren Haut so rein sei wie »ungeschlagener Schnee« Lena hineinzuinterpretieren. Taken By A Stranger ponieren sei so ähnlich, wie für Bild Schlagzeilen zu sicht grauenhaft. Im vergangenen Jahr enthielt
Viele, viele Hundert Jahre später entstand der und deren Augen so »schön und strahlend wie der ist ein Liebeslied der Kategorie »Bleib hier«. Ein machen. Der Impuls zählt, der Verstand weniger. das Gewinnerlied wenigstens so etwas wie einen
Eurovision Song Contest, und immer noch ging es Himmel über Moskau« seien. Dabei verlangt es den Mann und eine Frau sind sich nähergekommen, er Einen eingängigen Haken hat auch die Weiß- originellen physikalischen Vergleich. »Wie ein
um die Liebe. Aber beim europäischen Gesangs- Sänger ständig nach »Wodka!«, »Raki!« – zur Hilfe! würde das gern fortführen, sie geht. Der mysteriö- russin Anastasia Vinnikova: »I love Belarus!« Ihre Satellit« wollte Lena in elliptischen Bahnen um
wettstreit im Jahre des Herrn 2011, der an diesem Viele Komponisten haben Buchstabengebilde se Refrain fasst den Stand der Dinge zusammen: Liebe gilt dem Vaterland. Ursprünglich hatte sie den Geliebten fliegen, stets auf Kurs gehalten
Samstag in Düsseldorf sein pompöses internatio- eingebaut, die nichts bedeuten, die man aber gut Taken by a stranger einen Song namens Born in Belorussia eingereicht, durch seine Anziehungskraft. »Es ist Physik, da
nales Fernsehende findet, wollen die Lieddichter mitsingen kann – als da sind »eeeeeh«, »chaka cha- Stranger things are starting to begin der den weißrussischen Diktator Alexander Luka- gibt es kein Entkommen«, sang sie. Atomkraft-
keine Geschichten mehr erzählen. Sie wollen nur ka«, »da da da da da da«, »da da dam«, »oh-oh-pop Lured into the danger schenko mutmaßlich entzückte: gegner wissen das.
noch wegfliegen und möglichst viele möglichst oh-oh-pop«, »na na-na na na na«, »ouo uo uo«, Trip me up and spin me round again Als ich einen Stern trug Apropos Politik. »Da da dam« heißt der Haken
platte Metaphern aneinanderreihen. So begegnet »ding dong«. Auf Deutsch hieße die letzte Zeile wohl: »Führ Damals in der UdSSR des gleichnamigen finnischen Lieds, es ist der ein-
man in den 43 Liedern, die es dieses Jahr ins Halb- Haben sich die Librettisten an Shakiras WM- mich aufs Eis, und dreh mich im Kreis.« War ich so gut wie Mama zige gesellschaftlich ambitionierte Beitrag in Düs-
finale geschafft haben, fast durchweg einer geist- Kiefergymnastik orientiert? Waka waka? Im spa- Der Fairness halber muss man sagen: Überset- Fühl meine Leidenschaft seldorf. Der 20-jährige Axel Ehnström tritt unter
losen Vögel-und-Engel-Metaphorik. Die Lieben- nischen Lied macht das »ouo uo« fast den ganzen zung hat noch keinem Song gutgetan. Der von Wenn alles vorbei ist dem Decknamen Paradise Oskar an, um die Welt
den mögen ihre Flügel spreizen und wegfliegen, Refrain aus. Das »ding dong« stammt den Briten immerhin zum besten Lied der ver- Wird dein Name wie die Sonne strahlen zu retten. In Da da dam erfährt sein kleiner Held
höher fliegen, weiterfliegen, niemals landen. Him- aus dem Lied von Dana Interna- gangenen 25 Jahre gewählte Robbie-Williams- Du bleibst immer noch das Beste Peter von seinem Lehrer, »dass dieser Planet stirbt«.
mel! Mühelos erkennt der Analytiker vier Katego- tional. Die Gewinnerin des Song Angels verliert an Kraft, wenn »my pain walks Schön altmodisch Das will Peter verhindern:
rien des Begehrens: »Komm her«, »Komm nä- Jahres 1999 tritt nochmals für down a one-way street« zu »mein Schmerz geht eine Im März musste das Lied zurückgezogen wer- Und ich komme nicht zurück
her«, »Bleib hier« oder »Wo bist du hin?«. Israel an. »Ding dong« machen Einbahnstraße hinunter« wird. den, nicht etwa, weil Propaganda in Weißrussland Bis er gerettet ist
Beispiele? Lettland bringt Angel In Disguise die »Glocken der Seele«, ge- Für Lenas Quasi-Sado-Hymne Taken By A verboten worden wäre, sondern weil es regelwidrig Ich werde zum König gehen und zum Parlament
an den Start, den »verkleideten Engel«: flogen wird auch wieder: Stranger bediente sich ihr Komponist, der Ame- bereits im vergangenen Jahr veröffentlicht worden Und wenn sie nicht helfen wollen
Kill mich mit einem Killer-Kuss Ding dong, rikaner Gus Seyffert, bewährter Stilmittel. Im Re- war. Der Lieddichter ließ sich nicht entmutigen Tu ich’s eben selbst
Liebe mich mit üppigen Schenkeln sag nichts frain treffen die beiden betonten Schläge des Vier- und hatte flugs ein paar neue patriotische Zeilen Ein dummer Text, aber wenigstens nicht erz-
Verkleideter Engel mehr vierteltakts mit den metrisch betonten Wortsilben auf Lager. Ich liebe Weißrussland heißt also das dumm. Für den könnte man stimmen.
Die Ukraine setzt Angel da- zusammen – der Refrain wird dem Hörer ins Ohr Stellvertreterlied, und es fällt insofern etwas tau- Oder man sehnt sich, wie einst, nach einer Ge-
gegen, einen schlichten »Engel«: gehämmert. Am Ende jeder Zeile endet auch der wettrig aus, als es nicht mehr von Bedrohungen schichte. Dann votiere man für Islands Beitrag
Wir sind Vögel Satz. Vier Verse, vier Einheiten, der Kreuzreim tut durch den Westen spricht, an dessen Wettbewerb Coming Home. Dessen Zeile »Denn niemand
Wir fliegen so hoch ein Übriges: reimt sich rhythmisch. es ja gerade teilnimmt. kennt sein Wann oder Wo« hat sich als hellsichtig
Und wir fallen runter Masen Abou-Dakn, Dozent an der Mannhei- In den Foren des Internets gehen die Meinun- entpuppt, das Schicksal hat eine Geschichte ge-
Wenn ich von dir träume Deutschlands Lena singt mer Pop-Akademie, erklärt uns auf Anfrage, dass gen dazu auseinander. »Schön, endlich ein biss- schrieben – siehe oben. Freilich singen sie auch in
Ist mein Traum so furchtlos quasi eine Sado-Hymne, Taken By A Stranger doch ein ganz guter »Hook« chen Patriotismus zu hören, es ist eine Schande, Coming Home von wenig mehr als vom »Lachen in
Wir sind Menschen des Planeten mit betonten Schlägen sei, ein Haken, an dem der Hörer hängen bleibe. dass sie nicht in ihrer Muttersprache singt!«, heißt den Bäumen« und vom »Flüstern im Wind«.
GESCHICHTE
Gehört Bayern zur Bundes-
republik? Sein Landtag lehnte

21 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20


1949 die Verfassung ab S. 22

Zucker und Wahn Zeitmaschine


Ein Ausflug in die Vergangenheit –
Eine große Ausstellung auf der Herreninsel im Chiemsee entkitscht den »Märchenkönig« Ludwig II. VON CHRISTOPH DIECKMANN diese Woche mit ULRICH SCHNABEL

W
ir kommen spät. Der Chiemsee gar. Ratlos staunend stehen wir im Paradeschlaf- Tod und Mythos. Man sieht Ludwigiana vom All das brach den Realpolitiker und trieb ihn Kernie’s Familienpark verspricht eine Kettenreak-
leuchtet im Abendschein, alpin zimmer; soeben hat Bayern die Orgie aus Gold Taufkleid bis zu seinem letzten Regenschirm. Da, in die Gegenwelt der Kunst. Die Schlossbauten tion des Vergnügens. Auf dem Gelände des eins-
überragt von Hochfelln und und Brokat weihwürdig restauriert. Auroras die Kinderflinte, eine funktionable Waffe, mit wurden Ludwigs »Hauptlebensfreude«. Zum tigen Kernkraftwerks in Kalkar am Niederrhein,
Kampenwand. Gegenüber liegt Strahl bricht durch purpurbeschleierte Lünetten aufgepflanztem Bajonett. Ludwigs Ausspruch: Weibe, gar zur Ehe zog’s ihn nicht. Die Ver- das nie in Betrieb ging, locken heute Karussell,
die Herreninsel. Ihr dichter und rötet den Raum. In diesem güldenen Alko- »Ich hasse, ich verachte den Militarismus.« Da- lobung mit seiner Cousine Sophie von Bayern Achterbahn und Kletterwand am Kühlturm. Doch
Wald birgt König Ludwigs Schloss. Die Schiff- ven unterm Baldachin, von Venus neben Bismarcks Diktum: »Nicht durch löste er 1867 auf. Gewaltiger Skandal! Allerdings was ist das? Bei unserem Besuch stehen wir plötz-
fahrt ruht bereits, doch der Priener Bootsver- malerisch umschlungen, täten Reden und Majoritätsbeschlüs- fühlte Sophie sich insgeheim nicht minder befreit lich vor einer Attraktion, die nicht im Plan ver-
mieter Stöffl hat noch auf. Wir entleihen den wir kein Auge zu. Der se werden die großen Fra- als der entsprungene Gespons; sie hatte sich in zeichnet ist: »Nukleus Panopticum« wirbt ein
Nachen Hansl und rudern zur Insel, in die Mün- König desgleichen. gen der Zeit entschie- Edgar Hanfstaengl, den Verlobungsfotografen, atomgelbes Schild. Fröhlich winkt uns ein Herr im
dungsbucht des Grand Canal. Dort klafft der Nie schlief er den [...], sondern verknallt. Ludwig erfuhr es wohl nie. Er notierte Strahlenschutzanzug heran.
Wald. Ein Rehkitz äst. Fern und in letzter Sonne hier, noch durch Blut in sein Tagebuch: »Sophie abgeschrieben. Das »Herein, herein«, ruft er mit fremdländisch
schimmert ein Orplid: Herrenchiemsee, das hatte er es und Ei- düstere Bild verweht; nach Freiheit verlangt klingendem Akzent und drückt uns Geigerzähler
bayerische Versailles. vor. sen.« mich, nach Freiheit dürstet mich, nach Aufleben in die Hand. Wir betreten einen Geisterbahn-ähn-
Wir kommen früh, am nächsten Morgen. von qualvollem Alp.« Der Schwulst ist Zitat. Mit lichen Tunnel. Gleich am Eingang schlagen die
Der Dampfer Barbara wimmelt von Kindern. ähnlichen Worten entringt sich Tannhäuser den Geigerzähler wild aus, links sehen wir die geister-
Südtiroler Schüler aus Meran wallfahrten auf Armen der Venus. haften Gerippe von Fukushima, rechts den noch
König Ludwigs Spuren. Was wisst ihr denn vom Denn Ludwig hatte Gott gefunden: Richard rauchenden Trümmerhaufen von Tschernobyl.
Ludwig? Wagner. Er wurde der Mäzen des sächsischen Doch unser Führer drängt weiter. In der Ferne
Dass er der Sonnenkönig war, sagt Isabella Komponisten; Wagner dankte es dem hochfüh- erklingt Swingmusik. Wir nähern uns dem golde-
Modanese. Nein, ruft Esther Osenberg, das ist ligen Monarchen mit Ideologie. Die heilige Mis- nen Zeitalter der Physik. Heisenberg grübelt über
der andere gewesen, der Ludwig von Frank- sion des Königs sei der bewusste Wahn. Als der Unschärfe, Otto Hahn gelingt die Kernspal-
reich. Ludwig II. von Bayern, erklärt Kathrin Mönch der Kunst müsse er sie leben und zur tung, Enrico Fermi bringt in einem Stapel von
Holzknecht, war ein bisschen verrückt, weil idealen Blüte bringen. Uran- und Grafitblöcken – mitten in der Groß-
er niemals einen Menschen sehen wollte. Durchaus war Ludwig kein bloßer Fantast. stadt Chicago – die erste Kernreaktion zum Lau-
Ludwig, der Kron- Er lebte im Zeitalter der Industrialisierung
Man weiß nicht, wie er gestorben ist. Er fen. »Das waren noch heldenhafte Zeiten«, seufzt
prinz, Porträtpost- und Elektrifizierung. Schön zeigt die Aus-
hat ganz viel Schönes bauen lassen, damit unser Führer und zieht den Schutzanzug aus.
karte (1910) nach stellung Ludwigs Faible für die technische
er sich in eine andere Welt und Zeit ver- Darunter kommen ein antikes Gewand und
einem Foto von Moderne – im Kontrast zu seinem ana-
setzen kann. Sandalen zum Vorschein. »Hätte nie gedacht, was
Joseph Albert 1863 chronistischen Eigenbild. Entschlossen
Ist euer Berlusconi auch ein Sonnen- aus meiner Idee alles werden würde«, sagt er mit
könig? ignorierte er das Wesen des konstitutio- unverkennbarem Stolz. Da erkennen wir ihn: De-
Schreckenskreischen, Augenrollen. nellen Königtums, dieser Friedensbrücke mokrit! Der »lachende Philosoph«, der 400 v. Chr.
Nein! vom Absolutismus zur Demokratie. In behauptete, die Natur sei aus kleinsten, unteil-
Barbara legt an. Zunächst durch- politicis war Ludwig rechtlich einge- baren Einheiten zusammengesetzt. »Ja, átomos
wandern wir den wunderbaren Buchen- schränkt, gestraft mit Kabinett, Parla- habe ich das genannt, das Unzerschneidbare«, ki-
wald. Es amselt, finkt und piroliert. ment, aufkommender Sozialdemokratie chert er. »Damals hat mir das ja keiner geglaubt.
Vom See her quarren Enten. Dem Wald und ähnlichem Erdenleid. Also schwelg- Aber die Wissenschaft hat mir recht gegeben.«
verdankt sich das Schloss. 1873 wollte te er in artibus, als gottunmittelbarer »Ihnen haben wir also den ganzen Schlamassel
ein württembergisches Holzkonsortium Königskünstler. Überließ seinen Minis- zu verdanken«, antworte ich vorwurfsvoll. Aber da
die urmächtigen Bäume fällen. Lud- tern das Regieren. Empfing und sprach wird der Alte grantig. »Mir ging es doch um etwas
wig II., von empörten Fischern zu Hilfe sie nie. Unterzeichnete, delegierte, schot- ganz anderes«, brummt er, »mir ging es um die
gerufen, erwarb die Herreninsel für seine tete sich ab. Machte die Nacht zum Tage. Seele. Denn wer das Wesen der Dinge erkennt,
Versailles-Kopie, die ursprünglich nahe Ließ mitternachts Theater spielen, nur für weiß: Auch Seelenatome haben ewigen Bestand!«
Linderhof im Graswangtal entstehen soll- sich. Wallte durchs nächtliche Hochgebir- Dann bricht er in lautes Gelächter aus. »Atom-
te. Der Chiemgau war dem Hochgebirgs- ge, wandernd oder im Rokoko-Schlitten. kraft, pff. Um Seelenfrieden ging es mir!«
schwärmer eigentlich zu flach. Der Wald Und er baute, baute, baute. Unvermittelt öffnet er eine Tür und schiebt uns
blieb, damit Ludwig das ebene Land und Ludwigs uferlose Schlossprojekte wurden zur ins Freie. »Wie konntet ihr meine Theorie nur so
den See nicht sähe und das Volk nicht seines einzigen Realität seines Königtums. Er lief aus missverstehen!«, ruft er uns hinterher. Verwirrt
Königs Schloss. dem Ruder. Er wurde zum Freak. Die Schulden blinzeln wir ins Sonnenlicht. Nur das Lachen De-
Bekanntlich kam es anders. Nach Ludwigs wuchsen. Die Staatskasse konnte Ludwig nicht mokrits dröhnt noch lange in unseren Ohren.
Amtsenthebung wegen angeblicher Geisteskrank- plündern, aber die Erbschatulle der Wittels-
heit und seinem mysteriösen Tod am 13. Juni bacher. Sein Finale bleibt dunkel. Drei Tage nach
1886 im Starnberger See öffnete Bayerns Regie- seiner Verhaftung und Amtsenthebung starb
rung die Königsschlösser. Man wollte den Ver- Ludwig, erst vierzig Jahre alt, im Flachwasser des ZEITLÄUFTE
schwendungswahnsinn des Verewigten beweisen Starnberger Sees. Dort endete auch sein Begleiter,
und mit den Eintrittsgeldern die Staatsfinanzen der Irrenarzt Bernhard von Gudden. Das Sterbe-
aufbessern. Letzteres glückte, bis zum heutigen Formal Mit register vermerkt: »Seine Majestät [...] hat sich in l y a des juges à Berlin«, »es gibt noch Rich-
Tag. Begeistert walzen die Touristenvölker dieser
Welt durch Ludwigs Prunkrefugien. Die Kitsch-
industrie überkleisterte den »Märchenkönig« mit
einer dicken Zuckerkruste. Ein Übriges taten
bietet die-
ses Chambre
de Parade, dop-
pelt so groß wie das
18 Jahren
musste Lud-
wig König wer-
den. Der plötzliche
seiner Geisteszerrüttung selbst in den See ge-
stürzt.« Das wäre ein Tristan-Schluss: »Ertrinken,
versinken – unbewusst – höchste Lust!«
War es so? Oder Mord? Und von Guddens
I ter in Berlin«. So lautet die hübsche Poin-
te einer hübschen historischen Legende.
Sie erzählt von einem Müller in Potsdam,
der sich gegen Friedrich den Großen zur Wehr
Filme, von Käutner bis Visconti. Die Ikone des in Versailles, eine histo- Tod seines Vaters Maxi- Tod? Die Ausstellung bietet ein Pro und Contra setzte und am Ende vor Gericht in Berlin obsieg-
Verklärten verdeckt die historische Gestalt. ristisch perfektionierte Nach- milian II. beförderte den kunst- möglicher Varianten und Motive. Eines fehlt: te. Eine Legende, nichts weiter. Aber in der Pointe
Ändern soll das die Bayerische Landesausstel- schöpfung. Ideell ist es ein Memorial durchglühten Jüngling 1864 auf den Wurde Ludwig von den Wittelsbachern exe- versteckt sich die ewige Hoffnung, dass die Ge-
lung 2011. Vom 14. Mai bis zum 16. Oktober der absoluten Monarchie, wie Ludwig II. sie im Thron der Wittelsbacher. Zwei Jahre später be- kutiert, als Verschleuderer des Sippenschatzes? rechtigkeit die Macht in die Schranken weist, dass
erzählt sie im Schloss Herrenchiemsee die Göt- »Sonnenkönig« inkarniert empfand und selbst fand sich Bayern im Krieg gegen Preußen, an Davon orakelt mit Begeisterung unser Bootsver- ein Richter den Souverän daran hindert, Unrecht
terdämmerung König Ludwigs II. Wir dürfen ersehnte. Auch der Spiegelsaal von Herren- Österreichs Seite. Königgrätz: Die Niederlage mieter Stöffl. Man kann nur rätseln, sagt er. Der zu tun.
Abb. [M]: Haus d. Bayerischen Geschichte/Augsburg

schon vorher gucken. Auf der Schlosstreppe, chiemsee steigert das Versailler Original. Uns geriet katastrophal. Ludwig liegt in der Gruft der Münchner Micha- Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr, der Sou-
zwischen Fama- und Fortunabrunnen, erwartet platzen die Augen. Genug! 1870 provozierte Bismarck den nächsten Krieg elskirche, und die Familie lässt den Sarg nicht verän ist das Volk. Das Volk hatte die Wahl, und es
uns geballte Ludwig-Kompetenz: der Projektlei- Und dann die Erlösung: das nördliche Trep- und nötigte Ludwig zur deutschen Waffenbru- öffnen. geruhte in Rheinland-Pfalz, die alte Industrie-Partei
ter Peter Wolf vom Augsburger Haus der Bayeri- penhaus. Kahl. Nackte Ziegel, blankes Licht. derschaft wider Preußens »Erbfeind«, Ludwigs Wären Sie dafür? SPCDU zu wählen (70,9 Prozent). Der Souverän
schen Geschichte sowie Katharina Heinemann Viele Schlossgemächer blieben unvollendet: Traumland Frankreich. Alsdann diktierte Bis- Nein, sagt Stöffl. Dann käme höchstens die also will diese grauenvolle Brücke über das Moseltal,
und Sybe Wartena von der Schlösserverwaltung. funktionsloser Hohlraum. Versailles war Hof- marck ihm den »Kaiserbrief«. Namens der deut- Wahrheit raus. Der Mythos ist viel schöner. wo einer der besten Weine der Welt wächst, will dieses
Der Palast empfängt wie einst Versailles: mit der staat, politisches Zentrum; Herrenchiemsee ist schen Bundesfürsten hatte Ludwig dem Preu- Monstrum, das die Landschaft mit den uralten
Escalier des Ambassadeurs im südlichen Treppen- L’art pour l’art. In den Rohbauräumen wird die ßenkönig Wilhelm die Kaiserkrone anzutragen. Die Ausstellung »Götterdämmerung – Rebhängen zerschneidet. Seine Majestät, das Volk,
König Ludwig II.« des Hauses der Bayerischen
haus, wobei die doppelläufige Protzstiege Lud- Landesausstellung gezeigt. Sie inszeniert Ludwigs Die Krönung stieg 1871 ausgerechnet im Spie- Geschichte (Augsburg) wird vom 14. Mai wünscht es, daran besteht überhaupt kein Zweifel.
wigs XIV. bereits 1752 wieder abgebrochen wur- Lebensdrama in fünf Akten: Die Werdejahre. gelsaal von Versailles. Wenigstens diesem idio- bis zum 16. Oktober im Neuen Schloss auf der Aber wer die Modellzeichnung sieht, dieses angekün-
de. Der bayerische Ludwig kopierte, zelebrierte, Wie der König Krieg führen musste. Wie er seine tischen Akt des antifranzösischen Triumphalis- Insel Herrenchiemsee gezeigt; Katalog (2 Bde.), digte Verbrechen betrachtet, der fragt sich doch:
imaginierte sein französisches Idol; er überbot es Gegenwelten schuf. Bayerns Modernisierung. mus hat Ludwig sich entzogen. Primus Verlag, 39,90 €. Tel. 0821/329 51 21 Gibt es denn keine Richter mehr in Mainz? B.E.
GESCHICHTE 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 22

Heimaterde,
»Volks-«,
»Rechts-«,
»Sozial-« und als
»Kulturstaat« be-
zeichnet. Gut 70 Pro-
zent aller abstimmenden
Bayern billigen am 1. De-
zember 1946 die neue Ver-
wei-
terer
Entwurf
hervor. Das ist
der Beitrag der
Länder zum Grund-
gesetz. Dementsprechend
fallen deren Rechte üppig
Vaterland
Gehört Bayern überhaupt zur Bundesrepublik Deutschland?
fassung. Es ist die vierte in der aus. Der Text bildet eine Im Mai 1949 lehnte sein Landtag das Grundgesetz ab.
bayerischen Geschichte nach 1808, wichtige Basis für den Par-
1818 und 1919. Zugleich finden die lamentarischen Rat in Bonn, Dabei zeigte vor allem die CSU schon früh ihre
ersten Landtagswahlen statt, die der CSU der am 1. September seine Arbeit besondere Fähigkeit zum geschlossenen
erneut eine kräftige Mehrheit bescheren. Nun aufnimmt.
muss Hoegner weichen. In seiner Bilanz hält er als 65 Delegierte entsenden die Länder- Sowohl-dafür-als-auch-dagegen VON RALF ZERBACK

W
eiß-blau knattern die Fah- einen Haupterfolg den »Kampf um die Eigenstaat- parlamente nach Bonn, hinzu kommen
nen, weiß-blau glühen die lichkeit Bayerns« fest. Immer wieder hat er wegen fünf Abgesandte aus West-Berlin, die aber
Herzen der Volksvertreter. seiner Heimatliebe Rüffel von der SPD-Zentrale in nicht stimmberechtigt sind. 14 Abgeordnete
Aus allen Winkeln des Hannover erhalten, wo der allzeit explosionsbereite stellt Bayern, davon sind acht Mitglied der CSU,
Freistaats sind sie nach Kurt Schumacher sogar das Recht auf einen eigenen fünf der SPD, einer ist Freidemokrat. Als V-Mann
München geeilt, zu strei- bayerischen Landesverband der SPD infrage stellt. Ehards dient der gebürtige Pfälzer Anton Pfeiffer.
ten für Bayerns Freiheit. Die FDP höhnt über »Hoegners Traum, aus der Er ist sogar Leiter der CDU/CSU-Fraktion. Ehard
Es ist der 19. Mai 1949. Der Landtag, den die SPD eine SPB (Sozialdemokratische Partei Bayerns) ist der einzige Ministerpräsident, der regelmäßig in
Nazis 1934 aufgehoben und dessen Sitz die Bom- zu machen«. die Debatten eingreift, seine Regierung die einzige,
ben zerstört haben, ist in sein neues Quartier, das Die neue starke Kraft im Lande, die CSU, streitet die in Bonn ein Verbindungsbüro unterhält.
wiederhergerichtete Maximilianeum, gezogen; es indessen hingebungsvoll vor sich hin. Schon bei der Seinen größten Coup landet der Bayer bei der
thront über der kriegsversehrten Stadt wie zu Kö- Wahl von Hoegners Nachfolger kann man sich nicht Gestaltung der zweiten Kammer, des Bundesrats. Von Vom
nigs Zeiten. Unterm Arm tragen die Parlamentarier einigen. Der erste Nachkriegslandtag versammelt sich Pfeiffer eingefädelt, trifft sich Ehard am 26. Oktober Wäh-
die Verfassung des Freistaats Bayern vom 2. Dezem- am 21. Dezember 1946 noch in der Aula der aus- 1948 im Bonner Hotel Königshof am Rhein zu ei- lervolk
ber 1946. Doch heute wird im Plenum über eine gebombten Universität. Die Fenster sind mit Brettern nem Abendessen mit dem nordrhein-westfälischen ganz zu
andere Verfassung abgestimmt, eine Verfassung, vernagelt, es ist eisig kalt, die Beleuchtung schummrig. Innenminister Walter Menzel, einem SPD-Mann. schweigen.
die sich – verdächtig bescheiden – »Grundgesetz« Die beiden Hauptkontrahenten innerhalb der CSU, Gemeinsam heckt die Rhein-Isar-Entente eine »Bun- Schäffer in-
nennt. Soll Bayern Teil eines westdeutschen Bundes- die Liberalkonservativen und die Erzkonservativen, desrats-Lösung« aus, in der die Länderregierungen trigiert be-
staats werden, einer »Bundesrepublik«? Um neun versuchen, die SPD zu sich herüberzuziehen, um einen das Sagen haben und nicht – wie bei der »Senats- reits seit 1948.
Uhr morgens beginnt die Debatte, sie endet um Kandidaten gegen den jeweils anderen Flügel durch- Lösung« – die Wähler. Der Präsident des Parlamen- Er will ein brei-
halb drei nachts. Dann stimmt eine große Mehrheit zusetzen. Die Ämter sind genau verteilt: Alois Hund- tarischen Rats, Konrad Adenauer, ein Anhänger der tes Bayern-Bündnis
gegen das Grundgesetz. hammer, der Heros des rechten Flügels, ist Fraktions- Senats-Idee, schäumt, als er von der Absprache hinter schmieden mit Bonn-
Zu diesem Zeitpunkt ist das neue, das Nach- vorsitzender, Josef Müller, der »Ochsensepp« und seinem Rücken erfährt. Doch die Bayern siegen. Gegnern aus CSU, Bayern-
kriegsbayern unter US-Verwaltung bald fünf Jahre Vertreter des liberalen Flügels, ist Parteichef. Doch Und setzen ihren Kampf sogleich fort. Der Bund partei und SPD. Man träumt von
alt. Territorial blieb es fast unberührt. Lediglich die keiner von beiden hat eine Chance. ist ihnen im Grundgesetz-Entwurf immer noch viel einem Aufstand des Volkes gegen das
verlorenen Westgebiete – die Rheinpfalz und der Schließlich präsentieren die Hundhammer-Leute zu dominant geraten, etwa bei der Finanzverwaltung Grundgesetz. Am 1. Mai 1949 halten
Kreis Lindau am Bodensee – stehen unter französi- einen Kompromisskandidaten: Hans Ehard, einen oder bei der Aufteilung der Steuern. Da kommt Hundhammer wie auch Bayernparteiler flam-
scher Verwaltung. Schon im Mai 1945 haben die bedächtigen Fahrensmann, der keinem der Flügel Hilfe in höchster Not. Die Alliierten monieren am mende Reden für ein freies Bayern. Hundhammer
Amerikaner Fritz Schäffer zum Ministerpräsidenten angehört und der zudem auch der SPD zu vermitteln 2. März 1949 den Grundgesetz-Entwurf, und zwar werden – nicht zum ersten Mal und nicht ohne
ernannt, einen strammen Konservativen; bis 1933 ist. Ehard berichtet später, er habe beim ersten Wahl- – oh Wunder! – in denselben Punkten wie die CSU: Grund – separatistische und monarchistische Nei-
war er Vorsitzender der Bayerischen Volkspartei. Bald gang noch »mit Mantel und hochgeschlagenem Kra- Die Bundesrechte seien zu stattlich. Zwar empfindet gungen nachgesagt.
kommt es zu Spannungen zwischen ihm und der gen im hinteren Teil des Saales« gestanden, »an einen Pfeiffer den Beistand als »peinlich«, denn noch im- Ehard muss dem Hundhammer-Flügel etwas
Militärverwaltung, nach einem halben Jahr wird er Heizkörper gelehnt«, nicht ahnend, dass er in Kürze mer ist es unpopulär, allzu eng mit den Besatzern zu bieten: das Nein zum Grundgesetz. Doch eigentlich
seines Amtes enthoben. zum neuen Chefbayern bestellt werden sollte. kooperieren. Ehard aber ist zufrieden. will Ehard den Beitritt Bayerns zum Bund. Zumal
Unter Ehard zeigt die Regierung zunächst gesamt- Denn er selber ist es, der die Amerikaner um das Verfassungswerk zu einem beträchtlichen Teil gefähr-
Den Herren aus dem protestantischen deutsches Engagement. Als die Diskussion um die Unterstützung gebeten hat. Weiteren Geländegewinn sein eigen Kind ist, auch wenn er es sich noch föde- det,
Norden ist nicht zu trauen zukünftige deutsche Verfassung beginnt, lädt er Ex- vor Augen, empfiehlt er seinen CSU-Freunden nun ralistischer gewünscht hätte. kritisiert
perten aus den elf westdeutschen Ländern für den die Zustimmung: Man könne nicht immer Nein Es gibt jedoch einen Ausweg. Die Alliierten und die Fi-
Die Ministerpräsidenten lösen sich nun ab wie die August 1948 auf die Herreninsel im Chiemsee ein. sagen. Bayern habe eine »Chance, wie sie nie mehr der Parlamentarische Rat haben festgelegt, dass eine nanzver-
Faschingsprinzen. Der Nachfolger Schäffers, der Der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeif- wiederkehrt«. Doch da revidieren die Alliierten ihr Zustimmung von zwei Dritteln der elf Landtage zum fassung und
SPD-Mann Wilhelm Hoegner, ist ebenfalls nur kurz fer, führt den Vorsitz. Auch die Diskussionsgrundlage, Urteil und zeigen sich am 22. April auf einmal fle- Grundgesetz ausreichen soll. So kann die CSU in die zu gerin-
im Amt, gut ein Jahr. Derweil ertrinken die deutsche der »Entwurf eines Grundgesetzes«, ist von baye- xibler gegenüber dem Verfassungsentwurf – schlecht Bonn wie in München guten Gewissens gegen das gen Rechte des
Zivil- und die amerikanische Militärverwaltung in rischen Experten verfasst. Aus dem berühmten für die CSU, die SPD jubiliert. Grundgesetz stimmen – folgenlos, sofern die meisten Bundesrats.
Arbeit. Überall herrschen Zerstörung und Mangel. »Verfassungskonvent von Herrenchiemsee« geht ein Die Bayern querulieren weiter. Mal ist es die Fi- anderen Landtage Ja sagen. Das Elternrecht
Zur Not der Einheimischen kommt die der Flücht- nanzverfassung, die ihnen nicht passt, dann wieder Mehr noch: In einer höchst akrobatischen Volte sei geschmälert.
linge aus dem Osten und der Displaced Persons. sind es die Rechte des Bundesrats. Einigen Herrgotts- kommen Ehard und seine Christgenossen auf die Für Joseph »Pep-
Das alles aber hindert Bayerns Politiker nicht, winkel-Advokaten ist das Ganze auch zu wenig christ- Idee, in einer zweiten Abstimmung im Landtag dann perl« Baumgartner
sich dem wichtigsten Thema überhaupt hinzugeben: lich. Außerdem böte das Grundgesetz »unheilvollen ausdrücklich den Grundsatz der Zweidrittelmehrheit von der Bayernpartei
der »bayerischen Frage«. Wie kann das Land seine Entwicklungen im Parteileben« keine Schranke. zu billigen und das Grundgesetz für rechtsgültig auch ist das Grundgesetz ein
Identität wahren? Soll es mitmachen bei einem Der Argwohn der Südländer ist gewaltig. »Ich in Bayern zu erklären. Die Formel für diese wirre Bruch der bayerischen
künftigen geeinten Deutschland? So schickt Hoeg- traue den Herren, je weiter sie im Norden wohnen, Dialektik ist rasch gefunden: Nein zum Grundgesetz, Verfassung. Manchem er-
ner gleich eine Sonderration Kartoffeln in die Rhein- umso weniger«, meinte bereits 1946 der spätere ja zu Deutschland. Ein denkwürdiger Doppelbe- scheint das Bonner Werk als
pfalz, allein in der Hoffnung, dass sich die Bevölke- Landtagspräsident Michael Horlacher. Einmal platzt schluss. Die Militärregierung kennt Ehards Nöte und der pure Gottseibeiuns. So be-
rung für den Wiederanschluss an Bayern erklärt. Und Ratspräsident Adenauer der Kragen ob der »bayeri- billigt am 5. Mai seine Kompromissformel. schwört der fromme CSU-Abge-
er jammert, als die Amerikaner ihm zunächst das schen Parteifreunde«. Die CSU habe »immer und ordnete Georg Meixner, seit 1910
Hissen der geliebten weiß-blauen Fahne verbieten. immer wieder« die Frage der Bundes- oder Landes- Die neue deutsche Republik priestergeweiht, die Heraufkunft eines
Am 15. Juli 1946 tritt die Verfassunggebende Ver- finanzverwaltung als Hindernis bezeichnet, und nun, wird ein »gottloser Zwangsstaat« »gottlosen Zwangsstaats«. Und Eugen
sammlung in München zusammen. Bei den Wahlen »nachdem im Sinne der Bayern die Entscheidung Rindt, ebenfalls von der CSU, lässt in Ab-
zu diesem Konvent haben sich 58,3 Prozent der Wäh- gefallen ist«, bedeute die Sache plötzlich nichts mehr. Drei Tage später stimmt der Rat in Bonn ab. Die bei- wesenheit zu Protokoll geben, die Formel,
ler für die CSU entschieden, auf die SPD entfielen Tatsächlich bringt die CSU am Ende ganz neue den Abgeordneten der katholischen Zentrumspartei wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe,
28,8 Prozent. Trotz des Ergebnisses bleibt Hoegner Themen auf wie zum Beispiel das Elternrecht – ge- und die beiden Kommunisten (alle vier aus NRW), stehe dem christlichen Glauben an die göttliche All-
auf Wunsch der Militärregierung Ministerpräsident, meint ist das Recht, die Kinder auf »Bekenntnis- die beiden Delegierten der rechtsnationalen Deut- gewalt diametral entgegen.
da es sich noch nicht um Landtagswahlen gehandelt schulen« zu schicken, säuberlich getrennt nach schen Partei aus Niedersachsen und sechs der acht SPD und FDP sind empört. Es gebe »keine
hat. Hoegner ist es auch, der den Versammelten einen Konfessionen. Thomas Dehler, damals bayerischer, CSU-Männer aus Bayern votieren gegen das Grundge- Freiheit in Portionen« und »auch kein Deutschland
Verfassungsentwurf präsentiert, den er im Schweizer später Bundesvorsitzender der FDP, resümierte, über setz (nur zwei fränkische CSU-Abgeordnete sind in Portionen«, ruft Thomas Dehler. Knoeringen
Exil ausgearbeitet hat. Dort ist er, im Geiste der Con- allen Verhandlungen in Bonn habe der »bayerische dafür). Vergebens hat Adenauer noch am Tag zuvor spottet, mit ihrem Nein geselle sich die CSU den
foederatio Helvetica, vom deutschen Zentralisten zu Zweifel« gestanden. Ehard um ein Votum zur neuen Verfassung gebeten. Kommunisten zu. Spannend wird es, als gegen Ende
einem überzeugten Föderalisten geworden. Bereits Das hehre Werk der Verfassungsgebung, es ver- Jetzt steht die Ratifizierung an, jetzt muss Ehards der Debatte Wilhelm Hoegner das Wort ergreift.
im November 1945 gab er die Parole aus: »Vor allem kommt zu einem Klein-Klein. Und doch hat sich komplizierter Plan glücken. Schon am 13. Mai geht Er ist schon seit 1947 nicht mehr Chef der bayeri-
aber wollen wir wieder unsere eigenen Herren im die Renitenz der Bayern am Ende für sie gelohnt. es im Landtag zur Sache. Die SPD hat eine »Inter- schen SPD und hat sich mit seiner erzbajuwarischen
›Gasthaus zum Bayerischen Löwen‹ sein.« Sie haben »viel erreicht«, wie Adenauer mürrisch pellation gegen die Bemühungen monarchistisch- Position weit von der Haltung seiner Partei entfernt.
Die Mehrheitspartei der Konstituante, die CSU, bilanziert. Auch andere Verfassungsväter sehen über- separatistischer Kreise in Bayern« eingebracht. Ehard Während seiner Rede bekommt er vor allem Beifall
kennt, abgesehen von einigen wenigen Mitgliedern, all Weiß-Blau. Theodor Heuss reimt ein ABC des muss mehrere Spagatkunststückchen zugleich vor- von der CSU. Am Ende freilich bekennt er sich
bloß zwei Gruppen: entschlossene Anhänger einer Parlamentarischen Rates, gleich die beiden ersten führen: zum einen stolz präsentieren, was er an »angesichts der weltpolitischen Lage« zur neuen
bayerischen Eigenstaatlichkeit und feurige Anhänger Buchstaben A und B behandeln die Bayern-Frage: Länderrechten im Grundgesetz durchgeboxt hat, Konstitution.
einer bayerischen Eigenstaatlichkeit. Wenn über- »Der Anton pfeift aus dem ff / adagio jetzt und jetzt zum andern begründen, warum dies nicht genug ist. Dann die Abstimmung, lange nach Mitternacht,
haupt, dann wollen sie nur einem stark föderalisti- andante / die Arien des Ochsenseph / der Aloys Außerdem muss er einerseits Hundhammer vom der 20. Mai ist angebrochen. Geschlossen votiert die
schen Deutschland beitreten. Nicht immer freilich schnalzt die Älplervariante ...« Und Carlo Schmid Vorwurf des Separatismus freisprechen, andererseits CSU gegen das Grundgesetz. 101 zu 64, so lautet
herrscht Eintracht. Um die Souveränität zu betonen, dichtet im homerischen Stil: »Wo auf den Bergen ihn dazu bringen, dass er dies selbst vor dem Par- das Ergebnis. Aus der SPD-Fraktion sind »Pfui«-Rufe
fordern einige Mitglieder neben dem Ministerprä- der Schütz, talwärts gezwiebelter Turm / Hüten die lament deutlich macht. zu hören. Es folgt die zweite Abstimmung. 97 Par-
Fotos (Ausschnitte v.o.n.u.): AP, Archiv Friedrich (2); Grafik: Anne Gerdes

sidenten auch ein richtiges Staatsoberhaupt, einen Freiheit, die fernher vom Norden der grimmige Prompt schießen die Wogen hoch. »Separatis- lamentarier bekennen sich zur Rechtsgültigkeit der
eigenen bayerischen Staatspräsidenten. Eine knappe Preusse / Heldentümlich bedroht. Doch er wütet ten!«, tönt es von links nach rechts, »Landesverräter!«, Bonner Verfassung; SPD und FDP enthalten sich.
Mehrheit verwirft die Idee. umsonst« – umsonst, denn Pfeiffer und Ehard haben schallt es von dort zurück. Gegenseitig schlägt man Orgeltöne erklingen, als am 23. Mai das Grund-
Die US-Besatzer haben ihre liebe Not. Sie wollen ganze Arbeit geleistet. sich die Geschichte um die Ohren: vom Heiligen gesetz in der Pädagogischen Akademie zu Bonn
eine zu weit gehende Eigenstaatlichkeit vermeiden. Bayern im Glück. Doch da passiert etwas Seltsa- Römischen bis zum »Dritten Reich«. Waldemar von feierlich verkündet und unterzeichnet wird. Auch
Der Stellvertretende Militärgouverneur Lucius D. mes: Ehard empfiehlt, das Grundgesetz abzulehnen. Knoeringen (SPD) reizt die Rechte bis aufs Blut mit Hans Ehard setzt seinen Namen unter die Urkunde.
Clay hält in einem Schreiben fest, dass der Ausdruck Was treibt ihn um? Es ist die Angst. Angst vor der These, Hitlers Münchner Anfänge hätten im Er hat am 19. Mai die Ablehnung als visionären
»bayerischer Staatsangehöriger« nicht im Gegensatz dem rechten Flügel der CSU. Angst dazu noch vor Dunstkreis des bayerischen Föderalismus gelegen; Schachzug präsentiert, der »die föderalistischen Prin-
zum Begriff des deutschen Staatsangehörigen zu einer anderen Partei, die sich als junge Alternative die Gegenseite sieht ebendiesen Föderalismus als zipien im neuen Bundesstaat stärken« werde.
sehen sei. Zudem beinhalte Artikel 178 der neuen empfiehlt: die Bayernpartei. In ihr versammeln sich Hitlers erstes Opfer. Man sollte also meinen, dass die Partei heute stolz
bayerischen Verfassung, wonach Bayern einem künf- Anhänger eines souveränen Freistaats; auch die Mo- Am 19. Mai dann die entscheidende Sitzung. auf ihren Kampf gegen das Grundgesetz zurück-
tigen deutschen Bundesstaat beitreten wolle, kein narchisten, treu dem Hause Wittelsbach, finden dort Ehard muss um seinen Doppelbeschluss fürchten, blickt. Doch seltsam: Auf der Internetseite der CSU
Recht, dies gegebenenfalls zu verweigern. Auf Druck Bild oben: Bayerns Ministerpräsident Unterschlupf. Selbst aus der Bayernhymne will die denn in einer Probeabstimmung hat sich Hundham- findet sich zwar eine detaillierte Chronik jener Jah-
der Amerikaner war der Artikel ohnehin umformu- Ehard (l.) mit Adenauer (r.). Darunter Partei jeden Hinweis auf Deutschland getilgt sehen. mer beim zweiten Teil der Kompromissformel – dem re. Aber über das gloriose Votum vom 20. Mai er-
liert worden, hatte es doch zunächst »deutscher eine turbulente Szene im Landtag: Statt »deutsche Erde, Vaterland« soll es jetzt »Hei- »Ja zu Deutschland« – enthalten. Ehard droht nun fährt man dort nichts. Warum nur?
Bund« und nicht »Bundesstaat« geheißen. Ehard (l.), Alois Hundhammer (mit Bart) materde, Vaterland« heißen. mit Rücktritt für den Fall eines doppelten Nein.
Staatsstolz wird das Land in den ersten drei Ar- und Josef »Ochsensepp« Müller (M.). Ehard befürchtet, dass die Mannen um Hund- Im Plenum stimmt die CSU ihren Klagegesang Der Autor ist Historiker und Journalist,
tikeln als »Freistaat« – also als Republik –, ferner als Unten: Hundhammer stimmt ab hammer und Schäffer zur Bayernpartei wechseln. an. Ehard sieht im Grundgesetz die Hoheit der Länder er lebt in Frankfurt a. M.
WIRTSCHAFT
Schutz vor Schwindlern?
Lebensmittelverbraucher
wehren sich im Netz S. 29

12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 23

INTERNET

Punkt für Microsoft


Mit dem Kauf von Skype greift
der Konzern Apple und Google an

D
ie jüngste Niederlage hat Verließe Griechenland die Euro-Zone, käme das Microsoft kauft Skype. Für 8,5 Milliarden
ihn siegessicher ge- Deutschland teuer zu stehen. Dollar übernimmt der Softwarekonzern den
macht. Frank Schäff- Die Griechen haben ihre Schulden in Euro auf- Anbieter von kostenlosen Internettelefona-
ler, 42 Jahre, Fi- genommen. Diese blieben auch nach Wiedereinfüh- ten. Mit dem Kauf zeigt Microsoft Sieges-
nanzexperte der rung der Drachme bestehen. Würde die Drachme willen im Kampf um die Kommunikation
FDP, Euro-Gegner und Partei- dann gegenüber dem Euro deutlich abgewertet, von morgen.
rebell: Ginge es nach ihm, bekä- könnten die Griechen ihre Euro-Schulden erst recht Skype betrachtet Telefonate und Video-
men die Griechen schon lange nicht mehr bezahlen. Die Staatspleite wäre perfekt. gespräche ebenso als Datenverkehr wie das
kein Geld mehr aus Deutschland. Weil deutsche Banken sehr viel Geld in Griechen- herkömmliche Surfen im Internet. Warum
Die deutschen Steuerzahler müssten land verliehen haben – geschätzte 17 Milliarden Euro also Gesprächsminuten extra zahlen, wenn
auch nicht für Irland oder Portu- allein an den griechischen Staat –, müsste die deut- man schon eine Flatrate fürs Surfen hat? 145
gal bürgen. 22 Milliarden Euro sche Regierung bei einer Staatspleite erst einmal ei- Millionen aktive Kunden konnte Skype damit
soll Deutschland vom Herbst nige deutsche Banken retten. Auch die Europäische gewinnen, zum Argwohn von Deutscher Te-
an für den europäischen Ret- Zentralbank ist in Griechenland engagiert – angeb- lekom & Co., die Skype in ihren Netzen lange
tungsfonds aufbringen. Für lich mit 153 Milliarden Euro. Auch sie bräuchte wohl unterdrückt haben, um ihr eigenes Geschäfts-
einen wie Schäffler sind das eine Kapitalspritze. Und der europäische Rettungs- modell zu schützen.
22 Milliarden Euro zu viel. fonds hat 37,9 Milliarden Euro verliehen, ein Drittel Mit Microsoft hat Skype nun einen starken
Am vergangenen Wochenende, der Verluste müsste Deutschland tragen. Partner, der viel Geld investiert, um seinen
beim Landesparteitag der FDP Nord- All das wären freilich nur die direkten Kos- Rückstand zu Apple und Google aufzuholen.
rhein-Westfalen, brachte er seine Forderungen als ten. Die indirekten wären weitaus größer – In die Spielekonsole Xbox, in ein neues Be-
Antrag ein – und scheiterte knapp. Am kommenden für die Deutschen und für die Griechen. triebssystem für Mobiltelefone, in eine Koope-
Wochenende, beim Bundesparteitag in Rostock, Wie hoch sie genau wären, ist unkal- ration mit dem Handyhersteller Nokia. Über-
werde die Abstimmung anders ausgehen, daran glaubt kulierbar. all könnte Skype nun eingebunden werden
Schäffler fest. »Die Basis tobt«, sagt er. »Viele Dele- In Griechenland würden die und Menschen verbinden: ob beim virtuellen
gierte wollen sich nicht länger hinhalten lassen.« Bürger die Banken stürmen, aus Tennismatch vor dem Wohnzimmerbild-
750 Milliarden Euro nahmen die Regierungen Angst vor der Zwangsumstel- schirm, unterwegs bei der Autofahrt oder beim
Europas vor genau einem Jahr in die Hand, um die lung und dem Wertverlust Spaziergang. Die Erlebniswelten von Microsoft
Probleme der Krisenstaaten zu lösen. Nun ist das ihrer Sparguthaben. Das werden gegenüber denen von Apple und
Geld fast weg, die Probleme aber sind immer noch Bankensystem würde kol- Google attraktiver.
da. Griechenland steht vor der Pleite, Portugal und labieren, der Zahlungsver- Ist der Kaufpreis nun zu hoch? Schwer
Irland wackeln. Europaweit rebellieren Bürger und kehr zusammenbrechen. zu sagen. Es kommt auf die Zahlungsbereit-
Parlamentarier. In Deutschland, in den Niederlanden, Das würde auch in Irland, schaft der Kunden an. Die ist bei Microsoft
in Finnland, wo die Euro-Skeptiker bei den jüngsten Portugal oder Spanien drohen. traditionell stärker ausgeprägt als bei Skype:
Wahlen 22 Prozent der Stimmen abräumten. Auch dort müssten Bürger und Gerade mal sechs Prozent nutzen dort bisher
Es hat sich eingebürgert, von Europa als »Schick- Investoren um ihr Geld fürchten. Pa- die kostenpflichtigen Zusatzdienste, die das
salsgemeinschaft« zu sprechen. Doch nun erlebt nik wäre die Folge. Ein Land nach dem Unternehmen neben den Gratisgesprächen
dieses Europa seine Schicksalstage. In der kommen- anderen könnte aus dem Währungsverbund anbietet. Umgerechnet zahlt Microsoft für
den Woche treffen sich die Finanzminister der 17 herausbrechen. Für Deutschlands Steuerzahler hieße jeden Nutzer knapp 1000 Dollar. Das
Euro-Staaten, um zu beraten, ob man den Griechen das: noch mehr Verluste, noch höhere Kosten. Das scheint nicht allzu viel, wenn es um die ei-
überhaupt noch helfen kann – und wie. Möglich, Ende der Währungsunion würde auf dem ganzen gene Zukunft geht. MARCUS ROHWETTER

Wie kommen
dass die FDP zu diesem Zeitpunkt beschlossen haben Kontinent eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
wird, dass Deutschland nicht mehr mitmacht. Ver- Die schöne Option vom griechischen Ausstieg
weigert die Regierungspartei der eigenen Regierung könnte also grässliche Folgen haben. Zwar muss es
die Gefolgschaft, wäre das ein dreifacher Schaden – so weit nicht kommen. Aber zur Realität in einer
für die Partei, für die Koalition, für Europa. komplexen Welt gehört, dass man sich immer wieder
All das ist typisch für die Krise des Euro: Interna- fragen muss, welche Risiken man eingehen will – und
tionale Entscheidungen haben nationale Folgen, das welche nicht. 30 SEKUNDEN FÜR

wir da raus?
Nationale drückt aufs Internationale. Die Regierun- Deshalb bereitet die EU ein neues Hilfsprogramm
gen agieren unter enormem Zeitdruck. Und mit je- vor, mit neuen Auflagen. In der Hoffnung, dass die
dem Versuch, das Problem zu lösen, erschaffen sie zig Griechen ihre Kredite zurückzahlen können, wenn Generation 55 plus
neue. Es ist wie in einer antiken Tragödie: Es mag sie nur genug Zeit bekommen – und genug Geld.
zwar Alternativen geben – aber alle erscheinen sie 110 Milliarden Euro wurden schon zugesagt, allein Bundesregierung, Parteien und Arbeitgeber
schrecklich. im kommenden Jahr braucht die Regierung rund 27 betonen neuerdings, wie wichtig ihnen ältere
Milliarden Euro zusätzlich, sollte sie sich am Markt Arbeitnehmer seien. Kein Wunder: Schließ-
Die Deutschen ringen um die Zukunft des Euro. Und keiner kein Kapital leihen können. Im Jahr darauf wären lich wird uns der demografische Wandel
1. Drama, Baby, Drama
gibt zu, wie wenig er weiß VON MARC BROST UND MARK SCHIERITZ weitere 38 Milliarden Euro nötig. »Wir retten Grie- schon bald einen akuten Nachwuchsmangel
Wenn Frank Schäffler redet, klingt es, als könne man chenland seit einem Jahr, und wir werden damit wei- bescheren.
die Probleme Europas mit der Präzision eines Chi- termachen«, sagt die französische Finanzministerin Positiv zu spüren bekommt das die Gene-
rurgen lösen. Ein einziger Schnitt, und alles wäre Christine Lagarde. Gebracht hat die Retterei wenig. ration 55 plus aber kaum, wie sich nicht nur
vorbei. Die Griechen haben zu viele Schulden an- Die Griechen sparen, aber die Kürzungen haben die an den vielen Langzeitarbeitslosen dieser Al-
gehäuft? Dann werfen wir sie aus der Währungs- Krise weiter verschärft. Allein in diesem Jahr könnte tersklasse zeigt, sondern auch daran, dass sie
union! Oder lassen sie pleitegehen! Deutschland wäre die griechische Wirtschaftsleistung um mehr als drei bei betrieblichen Fortbildungsangeboten meist
Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de

nicht länger Zahlmeister, die Griechen könnten frei Prozent schrumpfen. Und der Widerstand gegen neue außen vor bleibt.
von Spardiktaten agieren. Statt mühsam die Löhne Kürzungen wächst. Genau wie der Schuldenberg. Auch wenn man die Vorgänge bei der FDP
zu senken, um wieder konkurrenzfähig zu werden, Schrecken ohne Ende oder Ende mit Schrecken? beobachtet, bei der jetzt schon die 45-Jährigen
könnten sie die Drachme wieder einführen. Der Vor- Sicher kann niemand sagen, was besser ist. Und das zu alt für einen Führungsjob sind, ist das wenig
teil für Griechenland: Man könnte die eigene Wäh- ist das wahre Euro-Drama. ermutigend. Gerade noch rechtzeitig haben
rung beliebig abwerten, damit würden griechische Mannheimer Forscher entdeckt: Arbeitnehmer
Waren im Ausland billiger. Die Abkehr vom Euro 2. Wieselwörter bis 65 sind nicht weniger leistungsfähig als
verspräche ein Exportwunder ohne Schmerzen. jüngere. Die Oldies könnten sogar besser mit
Diese Option klingt so verlockend, dass sie auch ZUM THEMA: Ende März vergangenen Jahres erscheint in der Bild Stress umgehen und machten weniger Fehler.
in der Bundesregierung erörtert wird. In verschiede- Interview zur Schuldenkrise mit am Sonntag ein Artikel über das Treffen der europäi- Für die FDP ist es wohl zu spät, aber vielleicht
nen Ministerien beschäftigen sich Regierungsbeam- dem Harvard-Historiker Niall Ferguson könnten ja andere Organisationen aus der
te mit den Details. Und sie rechnen. Das Ergebnis: auf Seite 25 Fortsetzung auf S. 24 Studie lernen. DIETMAR H. LAMPARTER
24 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
STAATEN IN DER SCHULDENKRISE
WIRTSCHAFT
MACHER UND MÄRKTE

Atom-Versicherung Sozialbewusst
Müssten RWE & Co. ihre Kernkraftwerke ge- In Deutschland haben Verbraucher im ver-
gen einen schweren Atomunfall wie in Fukushi- gangenen Jahr Fair-Trade-Produkte im ge-

27
ma versichern, wäre Atomstrom in Deutsch- schätzten Wert von rund 340 Millionen Euro
land unbezahlbar – und alle 17 Meiler würden gekauft. Das war fast
sofort stillgelegt. Das geht aus einer Studie der ein Drittel mehr als
Versicherungsforen Leipzig GmbH hervor, im Jahr zuvor. Die vor
einer Ausgründung aus der Universität Leipzig, allem nach sozialen
die sich als »Brücke zwischen Versicherungs- Produktionsbedingun-
wissenschaft und Versicherungspraxis« versteht. gen ausgewählten Wa-
Pro Kilowattstunde würde sich Atomstrom laut ren werden in etwa
der Expertise um mindestens 14 Cent verteu- 30 000 Supermärkten,
ern. Das ist weit mehr als doppelt so viel wie Bioläden und soge-
der Preis an der Leipziger Strombörse. Prozent beträgt das nannten Weltläden an-
Schon der noch moderat erscheinende Wachstum von geboten. Am beliebtes- Geheimtreffen in Luxemburg: Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker am vergangenen Freitag
Cent-Betrag bedeutete deshalb das ökonomi- Fair-Trade-Produkten ten war zuletzt wiede-
sche Aus für die Meiler. Tatsächlich dürfte aber rum fair gehandelter
die zu erwartende Kostensteigerung weit höher Kaffee (7200 Tonnen). Auch Rosen gehen gut,
sein. Denn bei den 14 Cent bliebe es nur, wenn aber ihr Marktanteil betrug zuletzt erst 2,4
die Versicherungssumme über 100 Jahre an- Prozent. LÜT
gespart werden könnte, eine unrealistische An-
nahme. Kürzere Ansparfristen, beispielsweise
zehn Jahre, verteuerten den Atomstrom um
mindestens vier Euro pro Kilowattstunde. »An-
ders als bislang vielfach behauptet, wäre der
durch Kernenergie erzeugte Strom nicht mehr
Ungleiche Erben
als preisgünstig im Vergleich zu anderen Ener- Ost- und Westdeutsche erben annähernd gleich
giequellen anzusehen«, heißt es in der 150-sei- oft, aber im Westen erbt man üblicherweise
tigen Studie der Versicherungsfachleute. deutlich mehr. Das ergab eine Studie der Post-
Finanziert wurde sie vom Bundesverband bank. Ihr zufolge beträgt der Wert eines Erbes
Erneuerbare Energie (BEE) – und der Auf- im Osten in rund 60 Prozent der Fälle weniger
trag erging schon im Januar, noch vor der Ka- als 25 000 Euro; im Westen trifft das nur auf
tastrophe von Fukushima. Die Ergebnisse zeig- 45 Prozent zu. Dagegen haben in den alten Bun-
ten, so Björn Klusmann, Geschäftsführer des desländern 19 Prozent aller Hinterlassenschaften
BEE, »wie verlogen die Debatte um die Kosten einen Wert von mehr als 100 000 Euro. Im Osten
unserer Energieversorgung geführt wird«. VO gilt das nur für knapp drei Prozent. LÜT Fortsetzung von S. 23

schen Staats- und Regierungschefs wenige Tage fessor und Chef des Münchner ifo Instituts. Griechenland, Irland, Portugal und Spanien plei-

Fotos: www.tvr-news.de (4); action press (u.)


zuvor. Die griechische Krise hat sich zugespitzt, Ein Mann, der polarisiert. Einer, den die Geg- tegingen. 400 Milliarden Euro sind mehr als der
dem Land geht das Geld aus. Die Zeitung be- ner der Griechenlandhilfen gern als ihren Kron- gesamte Bundeshaushalt.
schreibt, wie sich Angela Merkel in Brüssel erfolg- zeugen anführen. Das Grauen trägt bei Sinn Hans-Werner Sinn hat eine klare Vorstellung
reich gegen andere Mitgliedsstaaten zur Wehr den Titel Warum Deutschland ein Schulden- von der Welt. Früher ging es den Deutschen
gesetzt habe, die Griechenland konkrete Hilfs- Tsunami droht; so heißt ein Vortrag, den er in schlecht, weil es den Griechen und den Iren gut
zusagen machen wollten. Als »Kämpferin für die diesen Tagen oft hält. Die Rettungsprogramme ging. Heute geht es den Deutschen gut, weil es
Stabilität des Euro und deutsche Interessen« wird sind für ihn »eine tickende Zeitbombe, deren den Griechen und den Iren schlecht geht. Denn
sie bejubelt, als »eiserne Kanzlerin« gefeiert. Sprengkraft selbst die schlimmsten Ahnungen das Kapital bleibt zu Hause, statt in die Peripherie-
Merkel braucht solche Berichte, denn wenige der Öffentlichkeit übersteigt«. Und so be- staaten zu fließen. Für Sinn ist das weitgehend ein
Wochen nach dem Treffen wird in Nordrhein- schränkt er sich nicht mehr darauf, die Politik Nullsummenspiel – was der eine gewinnt, verliert
Westfalen gewählt. Die deutschen Bürger sind zu analysieren und zu bewerten – sondern greift der andere. Seine These ist umstritten, für viele
gegen ein Hilfspaket für Griechenland. Merkels selbst ein. Als der Bundestag im vergangenen Bürger und Parlamentarier aber auch attraktiv.
Koalition hat einen schlechten Start hingelegt, die Jahr über das Griechenlandpaket abstimmte, Als Sinn fertig ist, ergreift Michael Burda das
Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers empört schrieb er Abgeordnete an und riet ihnen, da- Mikrofon, gebürtiger Amerikaner und Wirt-
das Volk, die Umfragewerte sind mies. Wenn das gegen zu votieren. schaftsprofessor an der Humboldt-Universität. Er
größte Bundesland verloren geht, ist die schwarz- Am Montag dieser Woche präsentiert er seine stimme seinem »Freund Hans-Werner« in fast
gelbe Mehrheit im Bundesrat weg. Von einer Thesen an der Humboldt-Universität in Berlin. allen Punkten zu, sagt Burda. Seine Sicht sei je-
drohenden Regierungskrise ist die Rede, sogar von Sinn wirft lange Zahlenreihen an die Wand; er doch ein wenig »national«.
der Gründung einer rechtspopulistischen Partei. zeigt Diagramme mit Kurven, die ins schier Bo- Bisher war die Idee der europäischen Integra-
Was damals keiner ahnt: Im Prinzip haben denlose stürzen; er häuft einen Turm aus bunten tion, dass vom engeren Zusammenrücken alle
Europas Politiker das Hilfspaket längst beschlos- Bausteinen an, wobei jeder Stein für einen Geld- profitieren. Dass die Deutschen mehr exportieren
sen. Sie haben es sogar verkündet – in einem betrag steht, den Deutschland zahlen muss. Am können, wenn in Griechenland die Wirtschaft
dieser diplomatisch verschwurbelten Bulletins, Ende ist der Turm unfassbar hoch. Fast 400 Mil- rund läuft. Dass griechische Rettungspakete auch
direkt nach einem Gipfeltreffen Monate zuvor. liarden Euro würde es Deutschland kosten, wenn deutschen Unternehmen zugutekommen. Dass
Am 11. Februar 2010 heißt es in der Ab- die Menschen sich irgendwann einmal nicht in
schlusserklärung nach dem Treffen der Staats- und erster Linie als Deutsche oder Franzosen begreifen,
Regierungschefs: »Die Mitgliedstaaten der Euro- sondern als Bürger eines geeinten Europas – in
Gruppe werden entschlossen und koordiniert dem es keinen Unterschied macht, ob ein reicher
handeln, sofern das nötig ist, um die finanzielle Draghis Chancen Bayer für einen armen Saarländer bezahlt oder ein
Stabilität in der Euro-Zone insgesamt zu sichern.« reicher Finne für einen armen Griechen. Ob be-
Entschlossen und koordiniert bedeutet: Europa Es ist die wichtigste Personalentscheidung, wusst oder unbewusst: An diesem Abend entwift
ist bereit, Griechenland zu stützen. Nur sagt das die in Europa 2011 zu treffen ist: Wer wird Hans-Werner Sinn das Gegenmodell.
niemand offen. Weil der Druck auf die Griechen der nächste Präsident der Europäischen
aufrechterhalten werden soll. Aber auch, weil in Zentralbank (EZB), der neue Herr über 4. Geheimdiplomatie, ganz offen
Nordrhein-Westfalen gewählt wird. den Euro? Der Amtsinhaber Jean-Claude
Als Griechenland dann Ende April tatsächlich Trichet tritt im Herbst ab. Seit sich der Als Wolfgang Schäuble am vergangenen Freitag
Finanzhilfe beantragt, wird sie innerhalb von deutsche Kandidat, der frühere Bundes- im Luxemburger Schloss Senningen eintrifft, muss
wenigen Tagen genehmigt. bankpräsident Axel Weber, zurückgezogen er eigentlich gar nichts mehr sagen. Seine euro-
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich hat, ist der italienische Notenbankgouver- päischen Kollegen, die mit ihm an der geheimen
August von Hayek hat den Begriff der Wiesel- neur Mario Draghi Favorit. Neben Italien Zusammenkunft der Finanzminister teilnehmen,
wörter bekannt gemacht. Gemeint sind Sprach- hat sich auch Frankreich für Draghi aus- wissen bereits, was ihn beschäftigt. Sie kennen
hülsen, gut klingend, aber ihres Inhalts beraubt gesprochen. Nur die Bundesregierung seinen Sprechzettel.
– so wie ein von einem Wiesel ausgesaugtes Ei, hatte sich noch nicht festgelegt – und als Wenige Stunden zuvor hat Spiegel Online be-
denn das Tier schafft es, keine Spuren an der größte Wirtschaftsmacht hat Deutschland richtet, Griechenland wolle die Euro-Zone ver-
Schale zu hinterlassen. »Eisern« ist so ein Wiesel- de facto ein Vetorecht. lassen. Das Nachrichtenportal zitiert aus einer
wort. Denn was bedeutet es, »deutsche Interessen« Im Gespräch mit der ZEIT (siehe S. 2/3) »internen Vorlage« des Bundesfinanzministeriums.
zu verteidigen? Hart sein um der Härte willen? hat sich Angela Merkel nun erstmals direkt Das Papier ist das für solche Treffen übliche Brie-
Die Griechen pleitegehen lassen, auch wenn es zur Kandidatenfrage geäußert – und ihre fing der Beamten für ihren Minister: eine Auf-
der hiesigen Wirtschaft schadet? Vielleicht wäre Sympathien für Draghi erkennen lassen. listung von Optionen, Szenarien, Kosten. Im
es ja im deutschen Interesse gewesen, einzugreifen, »Ich kenne Mario Draghi«, sagte sie. »Er ist Ministerium kennen diesen Sprechzettel nur acht
bevor die Lage eskaliert? Auch um den Preis, als eine sehr interessante und erfahrene Per- oder neun Personen. Dass er überhaupt bekannt
»weich« zu gelten. sönlichkeit. Er steht unseren Vorstellungen wird, zeigt: Der Konflikt um die Rettung des Euro
Der Streit um die Rettung des Euro ist voller von Stabilitätskultur und solidem Wirt- teilt nicht nur Europa. Er geht auch mitten durch
Wieselwörter. Etwa die »Gläubigerbeteiligung«. schaften sehr nahe. Deutschland könnte die deutsche Regierung.
Anstelle der Steuerzahler sollten die Banken ran, eine Kandidatur von ihm für das Amt des Schäuble gilt als Verfechter eines weiter zu-
wenn ein Staat pleitegeht – das klingt sozial ge- EZB-Präsidenten unterstützen.« sammenwachsenden Europas. Viele in CDU und
recht und ordnungspolitisch sauber. Es klingt Damit geht die Bundeskanzlerin ein innen- CSU sind dagegen, erst recht in der FDP. Sie
nach Eigenverantwortung und Härte gegenüber politisches Risiko ein. Ein Italiener an der fürchten vor allem das T-Wort – T wie Transfer-
der Finanzindustrie. Dabei würde sich die Politik Spitze der Notenbank – das wird jenen union. Europa darf alles sein, nur keine Haftungs-
nur den Launen der Märkte ausliefern. Wenn Kritikern neue Nahrung liefern, die Ange- gemeinschaft, bei der die Starken dauerhaft für
Investoren wissen, dass sie ihren Einsatz verlieren la Merkel vorwerfen, sie knicke vor den die Schwachen bezahlen. Das war die Leitlinie bei
könnten, ergreifen sie erst recht die Flucht. Dann Staaten Südeuropas ein. Dagegen kann sie den Verhandlungen über den Vertrag von Maas-
steigen die Marktzinsen für alle Staaten. Und für auf das Lob der Fachwelt zählen. Draghi tricht, und es war die Leitlinie bei den Beratungen
die angeschlagenen Länder könnten sie schnell zu gilt nach dem Rückzug Axel Webers weit- zu den Rettungspaketen. Deshalb dürfen bis jetzt
hoch sein. Je öfter in Berlin die Beteiligung der hin als der beste Mann für den Posten. Er nur Kredite vergeben werden, die von den Kri-
Gläubiger gefordert wird, desto näher rücken die ist ein Anhänger einer stabilen Währung, senländern mit Zinsen zurückbezahlt werden
Krisenländer dem Staatsbankrott. Alle wissen das er ist erfahren im Zentralbankgeschäft, und müssen. Und deshalb betonen deutsche Politiker
– es sagt nur keiner. Aus Angst vor der Wut des er hat für die G 20 die Reform der interna- immer wieder, die Krise habe den Steuerzahler
Volkes. tionalen Finanzmärkte koordiniert. noch keinen Cent gekostet.
Es sei nicht Aufgabe der Politik, »ein natur- Ohnehin waren Merkels Optionen be- Bis jetzt stimmt das auch. Das Problem ist nur,
wüchsiges Meinungsspektrum bloß abzubilden«, grenzt: Außer Weber hatte Deutschland dass in der Wirtschaftsgeschichte alle Versuche
schrieb der Philosoph Jürgen Habermas kürzlich keinen qualifizierten Kandidaten. scheiterten, einen Währungsraum ohne Haftungs-
in der Süddeutschen Zeitung. Vielmehr gehe es gemeinschaft zu errichten. Zumal wenn er so
darum, an »einem öffentlichen Prozess der Mei- unterschiedliche Länder umfasst wie Deutschland
nungsbildung« mitzuwirken. und Griechenland.
Die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Europa müsse jetzt für die Fehler der Ver-
Eine Diktatur des Volkes sollte sie nicht sein. gangenheit bezahlen, heißt es oft. Vielleicht ist es
eher so: Entweder korrigiert Europa die Fehler der
3. Dort steht er und kann nicht anders Vergangenheit. Oder es bezahlt.

Dies ist der Mann, der über das Grauen spricht. Weitere Informationen im Internet:
Hans-Werner Sinn, 63 Jahre, Wirtschaftspro- www.zeit.de/finanzkrise
WIRTSCHAFT STAATEN IN DER SCHULDENKRISE
12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 25

»Russisches Roulette mit dem Haushalt«


Der britische Historiker Niall Ferguson glaubt, dass die USA mit ihren Schulden in die gleiche Lage geraten könnten wie Griechenland

DIE ZEIT: Professor Ferguson, Europa debattiert Afrika und Mittel- und Südamerika aus, und al- Ziele zu verfolgen, nämlich das Bankensystem
über die drohende Pleite Griechenlands, aber les sah danach aus, als würden die Russen den über Wasser zu halten und gleichzeitig die Infla-
auch die amerikanischen Staatsschulden haben Kalten Krieg gewinnen. Die Zukunft könnte tion unter Kontrolle zu bekommen. Ich halte es
ein Niveau erreicht, das die Finanzmärkte beun- ganz ähnlich aussehen: Die Prognosen sagen der für plausibel, dass wir von Europa in Zukunft
ruhigt. Unter den Rating-Agenturen macht sich US-Wirtschaft allenfalls ein Wachstum von 1,25 ebenfalls nur ein schwaches Wachstum erwarten
Zweifel über die Kreditwürdigkeit der Amerika- Prozent voraus, und steigende Inflation wird dürfen. Der Unterschied zwischen den Kernlän-
ner breit. Kurzum, Amerika hat ein Problem ... immer wahrscheinlicher ... dern und der Peripherie wird zunehmen, und als
Niall Ferguson: Das ist milde ausgedrückt. Ame- ZEIT: ... Stagflation also. Konsequenz werden populistische Bewegungen an
rika hat ein Riesenproblem, denn die Regierun- Ferguson: Genau, davon gehe ich aus. Wenn Sie Einfluss gewinnen. Nehmen Sie das Problem der
gen spielen seit fast zehn Jahren russisches Rou- den steigenden Goldpreis als Anzeichen dafür schlecht integrierten muslimischen Immigranten
lette mit dem Staatshaushalt. Es ist eine ziemlich nehmen, dass Investoren immer weniger Ver- und die demografische Entwicklung von immer
gefährliche Strategie, wenn die gesamte Haus- trauen in die Zukunft des Dollar haben, ist das älter werdenden Gesellschaften. Angesichts dessen
halts- und Fiskalpolitik darauf basiert, riesige ein ziemlich wahrscheinliches Szenario. Und können Sie zu keinem anderen Schluss kommen,
Konjunkturpakete zu schnüren, wenn die Geld- auch außenpolitisch scheint Amerika schwächer als dass Europa keiner besonders rosigen Zukunft
druckmaschine der wichtigsten Leitwährung denn je. Die Ermordung von Osama bin Laden entgegenblickt. Wenn es einen Wirtschaftsraum
heiß läuft und wenn sich die USA bei den Chine- mag den Abzug amerikanischer Truppen aus Af- gibt, der die japanische Stagflation der neunziger
sen immer mehr verschulden. Die Märkte haben ghanistan zwar vereinfacht haben, aber als Sieger Jahre erleben wird, dann ist es Europa.
allen Grund, unruhig zu sein. werden sie sich dennoch nicht feiern können. Af- ZEIT: Das klingt ja danach, als könnten wir alle
ZEIT: Amerika stellt nicht nur eine Gefahr für ghanistan ist so instabil wie eh und je. einpacken. Oder ist es doch nur Ihr Kulturpessi-
sich dar, sondern auch für den Rest der Welt? ZEIT: Sie sprechen von einer Verschiebung des mismus? Der »Untergang des Abendlandes« wurde
Ferguson: Ganz genau. Die USA sind immer globalen Weltmachtanspruchs nach Osten. Aber ja von dem Historiker Oswald Spengler schon vor
noch die größte Volkswirtschaft, und wenn die bisher gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die neunzig Jahren vorausgesagt.
ihre Schulden nicht in den Griff kriegt, wird das Chinesen ihren wirtschaftlichen Einfluss in stra- Ferguson: Also, was Spengler angeht, der hat argu-
viel schlimmere Konsequenzen haben, als wenn tegische und militärische Macht ummünzen ... mentiert, dass Geschichte saisonal verläuft und
Griechenland oder Portugal pleitegehen ... Ferguson: Wir wissen, dass die Chinesen ihre jede Zivilisation eines Tages einen schrecklich kal-
ZEIT: Hat die Politik eine Antwort darauf? U-Boot-Flotte erneuern, und wir müssen eben- ten Winter erlebt. Ich sage dagegen, dass der Lauf
Ferguson: Allmählich sehen nicht nur die Politi- falls davon ausgehen, dass sie einen Flugzeugträ- der Geschichte eben nicht so linear ist. Davon ab-
ker ein, dass es so nicht weitergehen kann. Auch ger bauen. Dennoch wird es Jahrzehnte dauern, gesehen, bin ich absolut kein Kulturpessimist.
die Öffentlichkeit hat langsam begriffen, dass die bis China die US-Militärdominanz im Pazifik ZEIT: Ein Optimist sind Sie nicht gerade.
Schulden ein Problem sind. Dennoch herrscht herausfordern kann. Eine akute strategische Ge- Ferguson: Doch, denn am Ende rede ich doch
keine große Eile in Washington, und das liegt vor fahr existiert im Cyberspace. Wir bilden uns ein, vom Aufstieg des Ostens. Mal abgesehen von den
allem daran, dass die Amerikaner sich an ihren dass uns das Internet gehört, weil wir es erfunden möglichen ökonomischen und strategischen Kon-
Status als Supermacht zu sehr gewöhnt haben. haben. Darauf basiert das amerikanische Selbst- sequenzen für die Zukunft des Westens: Was wir
Seit 1872 sind sie die größte Volkswirtschaft, seit bewusstsein. Aber der Paradigmenwechsel, von erleben, ist, dass höhere Produktivität in den asia-
1945 eine politische Supermacht, und seit 1991 dem ich rede, lässt sich auch auf geostrategische tischen Ländern zu einem höheren Lebensstan-
ist diese Vorherrschaft konkurrenzlos. Kaum ein Fragen anwenden. Die Chinesen haben längst dard führt und dort viel weniger Menschen in Ar-
Amerikaner kann sich eine Welt vorstellen, in der das Know-how, um den Status quo mit neuen mut leben als noch vor zwanzig Jahren. Und das ist
das anders wäre. Deswegen wird in Washington Technologien aus den Angeln zu heben. Es ist doch positiv, oder nicht? Verstehen Sie mich nicht
auch kein glaubwürdiges Szenario diskutiert, das bekannt, dass amerikanische Militärausrüstung falsch, ich bin nicht für den Niedergang Amerikas.
die Schuldensituation in den nächsten fünf bis mit chinesischen Computerchips ausgestattet Schließlich lebe ich dort. Ich sehe mich als Warn-
zehn Jahren stabilisieren würde. Bitte betrachten wurde. Aber sind die sauber? Oder werden sie licht, das die Amerikaner vor einer unmittelbar
Sie das in einem größeren Zusammenhang: Der eines Tages unvermittelt den Dienst versagen? drohenden Gefahr warnt. Noch können sie den
Aufstieg des Westens, der vor sechshundert Jah- Wenn das militärische Ziel darin besteht, mit Niedergang abwenden. Aber in zwei Jahren oder

Foto (Ausschnitt): Tom Stockill/Camera Press/Picture Press


ren mit den portugiesischen Seefahrern begann, Computerviren das Stromnetz des Gegners aus- sogar noch früher könnte es zu spät sein.
hat seinen Höhepunkt längst überschritten. Wir zuschalten, dann hat China längst aufgeholt und ZEIT: Was muss also geschehen?
erleben gerade das Ende der westlichen Vorherr- könnte ein sehr aggressiver Gegner sein. Ferguson: Die Amerikaner haben jetzt die Wahl:
schaft. Indien und China holen auf. Das wirt- ZEIT: Wo sehen Sie Europa und die Euro-Zone Entweder kehren sie zu dem alten Modell zurück,
schaftliche Zentrum der Welt wandert vom Wes- in dieser apokalyptischen Zukunftsvision? Im- senken die Steuern und führen die Staatsquote zu-
ten in den asiatisch-pazifischen Raum, und dieser merhin herrscht in der europäischen Politik Ent- rück, oder sie entscheiden sich für den europäi-
Prozess könnte ohne Weiteres beschleunigt wer- schlossenheit, das Schuldenproblem zu lösen. schen Weg, den Obama gehen will. Der bedeutet
den, wenn Amerika seine Schulden nicht in den Ferguson: Ich frage mich, wie entschlossen die hier und da ein paar Einsparungen und höhere
Griff bekommt. Europäer wirklich sind. Schließlich haben sie erst Steuern. Ich würde ihnen zu der ersten Alternative
ZEIT: Die Tage der Weltmacht Amerika sind also gehandelt, als die Finanzmärkte nacheinander raten. Die Republikaner müssen einen neuen Ro-
Ihrer Meinung nach gezählt? den Griechen, den Iren und den Portugiesen das nald Reagan finden. Gesucht: Hollywoodschau-
Ferguson: Nicht nur die Tage Amerikas sind ge- Vertrauen entzogen haben. Was Amerika von spieler fürs Präsidentenamt. Charaktereigenschaf-
zählt. Der Aufstieg des Westens insgesamt geht den Europäern lernen kann, ist, dass man han- ten: jovial, volkstümlich und genial.
zu Ende. Ich habe mich in letzter Zeit viel deln muss, bevor das Vertrauen verloren geht.
mit Komplexitätstheorie beschäftigt, und ich ZEIT: Was hätten die tun sollen? Niall Ferguson vor dem Swiss-Re-Tower in London Das Gespräch führte JOHN F. JUNGCLAUSSEN
glaube, wir Historiker müssen uns von den zykli- Ferguson: Das ist ja das Problem der Euro-Zone.
schen Modellen verabschie- Sie war von Anfang an insti-
den, mit denen wir bisher tutionell defekt und wirt-
gearbeitet haben. schaftlich extrem ungleich.
ZEIT: Was nimmt man statt-
dessen?
Zur Person Und anstatt Konvergenz zu
schaffen, hat das Ungleich-
Ferguson: Wir müssen von Der Wirtschaftshistoriker Niall gewicht zwischen den gro-
der Wissenschaft lernen, dass Ferguson begann seine Karriere ßen Ländern und denen an
komplexe Systeme nicht vor knapp zwanzig Jahren mit der Peripherie zugenommen.
unbedingt linearen Gesetzen einer Detailstudie über die Nehmen Sie das Beispiel
folgen, sondern sich sehr Hyperinflation von Weimar, Lohnstückkosten: Sobald die
plötzlich verändern. Zivili- die das große Bild der Geschich- wirtschaftlich schwächeren
sationen sind komplexe Sys- te um ein Puzzlestück vervoll- Länder dem Euro beigetre-
teme, und die Geschichte ständigte. Mittlerweile schlägt ten waren, fingen sie an,
zeigt, dass Weltmächte nicht der Harvard-Professor mit sei- deutsche Löhne zu zahlen,
langsam verschwinden, son- nen Büchern und Fernsehdoku- ohne dabei jemals das Ni-
dern plötzlich in sich zusam- mentationen lieber den großen veau deutscher Produktivität
menfallen. Das Römische historischen und globalen Bo- zu erreichen.
Reich verschwand binnen gen. »Dass wir aus der Ge- ZEIT: Gleichwohl hat die
weniger Generationen. Ge- schichte lernen können, ist eine europäische Politik es unter
nau wie das Byzantinische alte Weisheit«, sagt er. »Nur tut den gegebenen institutionel-
Reich und die Habsburger- es keiner.« Ferguson will Ge- len Voraussetzungen immer
monarchie. Bedenken Sie, schichte anwendbar machen wieder geschafft, die Märkte
wie rasant die Sowjetunion und einen Beitrag zu den poli- zu beruhigen.
kollabierte. Warum sollte der tischen Entscheidungen der Ferguson: Fürs Erste viel-
Niedergang Amerikas schritt- Gegenwart leisten. JFJ leicht, aber das war schwierig
weise vonstattengehen? Bei genug, und es hat vor allem
einer Analyse der amerika- eines gezeigt: Zum ersten Mal
nischen Wirtschaftskrise wird oft ein willkür- in seiner Geschichte hat das europäische Projekt
licher Zeithorizont gesetzt. 2050 könnten unsere den Rückwärtsgang eingelegt, und zwar so über-
Enkelkinder ein Problem haben, heißt es dann. raschend, dass wir es noch gar nicht wahrgenom-
Aber wenn der Anleihenmarkt die Risikoprämie men haben. Und im Zentrum der europäischen
für US-Staatsanleihen nächste Woche verdop- Desintegration liegt Deutschland. Zum ersten
pelt, wird das Problem schon nächste Woche ver- Mal seit drei Generationen fühlen die Deutschen
dammt ernst. sich nicht dafür verantwortlich, den europäischen
ZEIT: Angenommen, die Weltmacht Amerika Integrationsprozess durch ihre Wirtschafts- und
stürzt von der Klippe, was passiert dann genau? Finanzkraft auf Kurs zu halten. Wenn Sie so wol-
Ferguson: Ganz einfach, viele Amerikaner wer- len, ist das historische Mandat verloren gegangen,
den sich mit einem wesentlich niedrigeren Le- und unzufriedene CDU-Wähler fragen sich, wa-
bensstandard abfinden müssen. Und genau ge- rum sie Iren oder Portugiesen unterstützen sollen.
nommen ist das ja jetzt schon der Fall. In weiten Wenn es eine Gruppe gibt, die von der Euro-Krise
Teilen des Landes müssen die Menschen schon bisher verschont geblieben ist, dann ist es der
jetzt mit viel weniger Geld auskommen – und deutsche Mittelstand, der still und zufrieden seine
zwar nicht erst seit der Finanzkrise. Durch den Produkte weiter nach China exportiert. Das sind
Aufstieg von China und Indien ist mehr als ein die Stammwähler, die Frau Merkel nicht verscheu-
Fünftel der Weltbevölkerung dem globalen Ar- chen will. Das größte Versagen der Bundesregie-
beitsmarkt zusätzlich beigetreten. Das Leben für rung liegt darin, den Wählern nicht deutlich zu
den ungelernten amerikanischen Arbeiter ist da- machen, dass deutsche Banken vom Zusammen-
durch ungleich schwieriger geworden, als es für bruch bedroht sind, wenn anderen Euro-Ländern
frühere Generationen war. Um sich aber aus- nicht geholfen wird.
zumalen, wie die Zukunft aussehen könnte, ZEIT: Dann ist der Zusammenbruch des Euro
lohnt sich ein Blick zurück in die siebziger Jahre. Ihrer Meinung nach nur eine Frage der Zeit?
Als ich ein Teenager war, befand sich Amerika in Ferguson: Nein, ganz so spektakulär wird es,
einem lausigen Zustand. Das Wirtschaftswachs- glaube ich, nicht kommen, dafür ist der Austritt
tum war schwach, die Inflation außer Kontrolle, aus dem Euro zu teuer. Aber die Zukunft wird
und nach dem verlorenen Vietnamkrieg herrsch- scheußlich genug werden: Griechenland wird
te ein allgemeines Gefühl von amerikanischer pleitegehen, Irland auch, und die EZB wird wie
Schwäche. Die Sowjetunion breitete sich in immer versuchen, zwei sich widersprechende
26 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 WIRTSCHAFT

Und bist du nicht willig ...


ZWISCHENRUF

Umdenken, dann umsteigen


Volkswagen ergreift die Macht bei MAN, um Synergien bei den Lkw zu erzwingen VON DIETMAR H. LAMPARTER Nicht das E-Auto gehört gefördert, sondern E-Mobilität VON PETRA PINZLER

N
eu, umweltfreundlich, aber für das nor- voll, um die Menschen an die neue Technologie
male Leben ziemlich unbrauchbar: So heranzuführen. Und warum nicht das Dienst-
knapp lässt sich das Elektroauto bisher wagenprivileg für große Spritschlucker kürzen –
beschreiben. Denn die Autos, die nicht Benzin zugunsten von E-Mobilen? Noch wichtiger aber
im Tank, sondern Strom in der Batterie haben, wäre etwas, das auch im Gutachten der Plattform

E
in Drama in drei Akten: Erst versucht übergangen fühlte. Danach ging Volkswagen in die te immer befürchten, als kleinerer Partner unterge- sind zwar gut fürs Klima – wenn sie Ökostrom nur beiläufig erwähnt wird: das Umdenken.
der Münchner Lkw-Bauer MAN, den Offensive, erwarb ein größeres Aktienpaket bei MAN buttert zu werden. Beim Traditionsunternehmen laden. Doch noch fehlt es an günstigen Model- Statt über das »Auto« sollten alle Beteiligten
Konkurrenten Scania zu übernehmen, und stockte seinen Scania-Anteil bis zum Erreichen MAN wiederum herrschte stets die Sorge, dass nach len, am Service, an Ladestationen, an der Be- mehr über »Mobilität« nachdenken. Das klingt
die Schweden wehren sich erfolgreich der Stimmenmehrheit auf. Piëch selbst übernahm einer Fusion der Lkw-Sparten das zweite Standbein kanntheit und damit an fast allen Zutaten, die theoretisch, hat aber praktische Folgen: In den
gegen den als feindlich empfundenen den Aufsichtsratsvorsitz bei MAN. Die beiden VW- des Unternehmens, zu dem Schiffsdiesel, Turbinen ein neues Produkt für eine erfolgreiche Markt- kommenden Jahren werden sich Menschen
Akt. Dann holt sich Scania bei seinem Großaktio- Beteiligungen wurden zur engeren Kooperation auf- und Turbopumpen gehören, abgestoßen wird. einführung braucht. anders als in der Vergangenheit von einem Ort
när Volkswagen das Plazet, seinerseits MAN zu gefordert. Seither wurde viel geredet, aber wenig er- Vorsorglich erklärte Winterkorn alle Geschäfts- Das alles soll sich nun ändern. In der kom- zum anderen bewegen. Sie werden weiterhin
übernehmen, was bei den Münchnern prompt Ab- reicht. Selbst die wiederholten Mahnungen von felder und die markenspezifischen Eigenschaften von menden Woche wird die Nationale Plattform mobil sein, aber nicht mehr unbedingt das ei-
wehrreflexe auf allen Ebenen auslöst. Eine ver- Martin Winterkorn, dem mittlerweile zum Volks- Scania und MAN für »unantastbar«. Reicht das, um Elektromobilität, in der Vertreter von Auto- gene Auto benutzen. Denn gerade viele junge
trackte Situation. Und nun das dramatische Finale: wagen-Konzernchef avancierten langjährigen Piëch- die Ängste in München und Södertälje abzubauen? industrie, Stromkonzernen und verschiedenen Leuten träumen heute nicht mehr vom eigenen
Volkswagen will selbst die Macht bei MAN über- Weggefährten, bewirkten keine sichtbaren Fort- Viele Branchenbeobachter sind skeptisch. »Das wäre, Verbänden sitzen, der Bundeskanzlerin ihren Auto. Vor allem in den großen Städten taugt es
nehmen, die Stimmenmehrheit bei Scania besitzen schritte. Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer wie wenn man bei Pkw Mercedes und BMW zwangs- Bericht übergeben, verbunden mit großen offensichtlich immer weniger als Statussymbol,
die Wolfsburger bereits. So wollen sie die beiden »integrierten Nutzfahrzeug-Gruppe« gelang immer- verheiraten würde«, sagt einer. Hoffnungen. Denn danach soll die Bundes- es wird im Gegenteil zu einer teuren Last, für
störrischen Lkw-Bauer unter ihrer Regie endlich hin, als MAN die brasilianische Lkw- und Busfabri- Rein zahlenmäßig würde eine MAN-Scania-VW- regierung der E-Mobilität endlich zum Durch- die man auch noch stundenlang einen Park-
zum gemeinsamen Glück zwingen. kation von VW übernahm. So kamen die Münchner Allianz aber an Marktmacht gewinnen: Bislang bruch verhelfen und dafür tief in die Staats- platz suchen muss.
Dahinter steckt zuallererst der Traum eines Man- zu einem starken Standbein in Südamerika. führen bei den international tätigen Herstellern noch kasse greifen. Die Autoren wünschen sich eine Für die E-Mobilität wäre genau das die
nes: Ferdinand Piëchs. Der Aufsichtsratsvorsitzende Anfang der Woche hat Volkswagen seinen Anteil Daimler (252 000 Lkw von 6 Tonnen aufwärts im Hilfe von fast vier Milliarden Euro. Damit soll Chance – wenn Bund, Länder und vor allem
von Volkswagen hatte seine Liebe zu den großen an MAN auf mehr als 30 Prozent erhöht, deshalb Jahr 2010) und Volvo (129 000) das Feld an, MAN der Bund die Entwicklung neuer Batterien auch Städte durch viele kleine Maßnahmen die
Brummern bereits entdeckt, als er noch selbst Vor- müssen die Wolfsburger nun ein Übernahmeangebot (98 000) plus Scania (46 000) könnten deutlich auf- und eine Antriebstechnologie fördern, das Re- kluge Kombinationen von Leihautos, Fahr-
standschef in Wolfsburg war. Mitte der neunziger an alle übrigen Aktionäre machen. Das könnte mehr rücken. In Wachstumsmärkten wie China oder In- cycling und die neue Infrastruktur. Lang ist rädern, Elektroscootern, Bahn und Bus erleich-
Jahre ließ er seinen damaligen Wundermanager, als zehn Milliarden Euro kosten. Das Geld dafür dien wäre Größe ein Vorteil. die Wunschliste, ordentlich teuer, und sie legt terten. Gerade kompakte Elektroautos böten
Ignacio López, eine völlig neuartige Lkw-Fabrik in hätte VW nach dem Höhenflug der jüngsten Zeit, Die jetzt fällige Kartellprüfung (mit positivem die Vermutung nahe, dass sich wieder einmal sich als Teil eines solchen Konzeptes dann wie
Brasilien hochziehen. Später, als ein größeres Paket doch bietet man den MAN-Aktionären einen wenig Ausgang) werde eine engere Zusammenarbeit er- eine Industrie die Entwicklung neuer Produkte von selbst an. Denn deren Batterien reichen für
des schwedischen Lkw-Bauers Scania zu haben war, attraktiven Preis. Das Ziel sei erst mal nur ein Stimm- möglichen, sagt Finanzchef Pötsch. Rund 200 zumindest zum Teil vom Steuerzahler finan- längere Touren noch nicht aus, gut sind die
schlug Piëch zu. Dahinter, so erläuterte der Stratege rechtsanteil »zwischen 35 und 40 Prozent«, erklärte Millionen Euro könne man etwa durch einen ge- zieren lassen will. Noch-Wirtschaftsminister kleinen Wagen hingegen für kurze Strecken.
seinerzeit, stehe ein Kalkül: Für das Flottengeschäft VW-Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch. Die Mo- meinsamen Einkauf einsparen. Rainer Brüderle hat denn auch schon mal vor- Das macht sie zu den idealen Verleihautos für
mit Großkunden sei es von Vorteil, wenn man die tivlage hatte Konzernchef Winterkorn eine knappe Wenn Scania und MAN sich eher zusammenge- sorglich abgewinkt. die Stadt. Wenn ihre Nutzung auch noch durch
komplette Fahrzeugpalette aus einer Hand bieten Woche zuvor schon auf der Hauptversammlung in rauft hätten, wäre mehr drin gewesen. In diesen Doch zu Ende ist die Geschichte damit noch reservierte Parkplätze, den Erlass von Park-
könne – vom Vertreterkombi über den Transporter Hamburg dargelegt: »Der Volkswagen-Konzern hat Wochen führen die großen Lkw-Bauer die neue nicht, und das ist auch gut so. Denn in einem sind gebühren, gut erreichbare Ladestationen und
bis hin zum schweren Lkw. es sich zum Ziel gesetzt, der weltweit führende Mo- Motorengeneration Euro 6 ein, die von 2013 an sich Industrielobbyisten wie auch unabhängige kluge Buchungssysteme unterstützt würde,
Das Engagement in Brasilien entwickelte sich gut, bilitätskonzern zu werden! Daher ist für uns das Pflicht ist. Rund eine Milliarde Euro kostet so eine Verkehrsexperten sicher: Elektromobilität ist könnten sie tatsächlich eine attraktive Alterna-
mit Scania aber lief wenig. Was Piëch gewaltig wurm- Segment der schweren Lkw und Busse ein hoch- Entwicklung. Branchenprimus Daimler etwa kann tatsächlich ein Thema mit Potenzial. Überall auf tive zum eigenen Auto werden. Nötige Geset-
te. Die stolzen Schweden vertrauten auf ihren eigenen interessantes, strategisches Geschäftsfeld.« die Entwicklungskosten jetzt auf seine drei Haupt- der Welt entstehen auf diesem Gebiet derzeit neue zesänderungen sollten ein Leichtes sein.
Erfolg. Schließlich gilt Scania, das sich ausschließlich Fraglich bleibt, ob sich die Zwangsheirat der marken Mercedes-Benz (Europa, Südamerika), Ideen, neue Produkte und damit auch neue Ar- Dass viele Autobauer immer noch lieber nur
auf das lukrative Segment schwerer Laster konzen- widerstrebenden Lkw-Bauer am Ende auch lohnt. Freightliner (USA) und Fuso (Asien) umlegen. Scania beitsplätze. Das klassische Autoland Deutschland den Ottomotor einfach durch einen Elektro-
triert, mit seinen Spitzenrenditen »als Porsche unter Weitere Querelen bei der »Ingegration« könnten und MAN haben beide ihre Euro-6-Aggregate völlig kann und sollte das nicht ignorieren, ebenso wenig antrieb austauschen und den Rest beim Alten
den Lkw-Bauern«, wie es ein Manager der Konkur- das Wolfsburger Management über Gebühr belas- unabhängig entwickelt. Klar, dass jeder seinen Motor wie seine Wirtschaftspolitiker. Zwar darf der Staat lassen würden, ist verständlich. Denn die neuen
renz formuliert. ten. Denn Winterkorn und Co. müssen auch noch auch in die eigenen Lkw einbauen will. Etwa zehn der Industrie nicht die Forschungs- und Entwick- Mobilitätskonzepte könnten irgendwann auch
Dann kam im Jahr 2006 der damalige MAN- die unvollendete Fusion mit Porsche und die un- Jahre ist eine Motorengeneration im Einsatz – so lungskosten für neue Produkte abnehmen. Über mal dazu führen, dass weniger Autos gekauft
Chef Håkan Samuelsson auf die Idee, Scania zu über- erwartet zähe Annäherung an den Kleinwagen- lange sind die Synergien jetzt in diesem zentralen eine kluge Hilfe, beispielsweise beim Aufbau der werden. So etwas ist zwar heute noch ein Tabu,
nehmen. Der Schwede, zuvor selbst Scania-Manager, partner Suzuki meistern. Bereich verstellt. Diese vergeudete Milliarde wird nötigen Infrastruktur, aber sollte er schon nach- zumindest darf es wohl kein Politiker laut fordern.
holte sich eine Abfuhr. Der Coup war psychologisch Und die Widerstände bei den beiden Lkw-Bauern Ferdinand Piëch gehörig geärgert haben. denken. So könnte der Bund beispielsweise dabei Aber wer sagt denn, dass Deutschland in der Welt
und taktisch schlecht vorbereitet. Die VW-Führung scheinen fest in deren Identität verwurzelt: Beide helfen, Standards für die Ladestationen zu ent- künftig nicht statt Autos gleich ganze Mobilitäts-
ergriff Partei für Scania, wohl auch, weil sich Piëch fühlen sich als technologische Vorreiter. Scania muss- www.zeit.de/audio wickeln oder Schilder für Plätze erfinden, an de- konzepte für Städte ohne Staus und Luftver-
nen die neuen, umweltfreundlichen Autos überall schmutzung verkaufen könnte? Von »systemischen
ans Netz können. Und auch die Förderung von Lösungen« träumt die Nationale Plattform. Mehr
Modellprojekten oder die steuerliche Begüns- Elektromobile auf Deutschlands Straßen wären
tigung der klimafreundlichen E-Autos sind sinn- dann tatsächlich ein Einstieg.
WIRTSCHAFT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 27

Auf einmal gut?


Anteil der Kinder bis 18 Jahre, die in
Armut* leben, Angaben in Prozent

Dänemark 3,7
Norwegen 5,5
Frankreich 8,0
Deutschland 8,3 (2008)
Schweiz 9,4
Niederlande 9,6
Großbrit. 10,1
OECD ** 12,7
Japan 14,2
Italien 15,3
Deutschland 16,3 (2004)
Spanien 17,3
Foto: Jens Gyarmaty/VISUM

Polen 21,5
USA 21,6
Israel 26,6
*Arme Haushalte verfügen über weniger als 50 % des jeweiligen
mittleren Einkommens; die Daten stammen meist aus dem
Jahr 2008, **Durchschnitt
ZEIT-Grafik/Quelle: OECD
Ein Junge in Berlin sammelt Pfandflaschen, um sich etwas Geld zu verdienen

Der Armuts-Irrtum
Es gibt in Deutschland offenbar viel weniger arme Kinder als bisher gedacht – Forscher wollten das für sich behalten VON KOLJA RUDZIO

D
ie Zahl platzte mitten in den Bun- alsystem nun eher zu den erfolgreichen. Auch mensunterschiede stärker dämpfen, als es hier- Dass die Armut zunimmt, scheint plausibel, ders schwer, aus der Armut herauszukommen.«
destagswahlkampf. Jedes sechste wenn, wie Familienministerin Kristina Schröder zulande der Fall ist. schließlich breitete sich in den vergangenen einein- Was tatsächlich die Ursachen für die Kinderarmut
Kind in Deutschland, verkündeten nach Bekanntwerden der revidierten Werte ver- Was zeitliche Trends betrifft, gibt es widersprüch- halb Jahrzehnten der Niedriglohnsektor aus. Aller- sind – niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit, zerfallende
Experten der Industrieländer- lauten ließ, »jedes arme Kind eines zu viel ist«. liche Signale. Nach den DIW-Zahlen ist die Kinder- dings ist auch das Gegenteil denkbar: Die Armut Familien, ungleiche Bildungschancen –, untersucht
organisation OECD im Septem- Fragwürdig erscheint jetzt eher, wie Teile des armut bis 2004 rasant gestiegen und danach etwas verringert sich, weil heute mehr Menschen einen der Professor gegenwärtig. Er arbeitet zusammen
ber 2009, lebe in Armut. Schlimmer sei die Situa- hiesigen Wissenschaftsbetriebs funktionieren. gesunken. Nach Berechnungen des Statistischen Job haben und Arbeitslosigkeit das Armutsrisiko mit anderen Wissenschaftlern an einem neuen,
tion nur in wenigen Ländern der entwickelten Wenn die Datengrundlage so wackelig ist, dass Bundesamtes wuchs sie beständig. Allerdings ist des- schlechthin darstellt. »Wahrscheinlich gibt es beide umfassenden Armutsbericht für die Bundesregie-
Welt, etwa in Mexiko, Polen und der Türkei. Es eine Neuberechnung frühere Ergebnisse auf den sen jährliche Erhebung noch recht neu und wurde Effekte«, sagt Christian Arndt. »Unklar ist, welcher rung. Nach den Erfahrungen der jüngsten Zeit ist
war ein Schock und eine Blamage für die deut- Kopf zu stellen vermag – hätten die DIW-For- methodisch verändert. So bleibt ausgerechnet bei überwiegt.« Armut sei allerdings auch nicht allein jede verlässliche Studie recht. Datensalat gab es
sche Politik. scher das nicht früher erkennen und warnen dieser brennenden Frage unklar: Befindet sich ein Geldproblem. »Das Schlimmste für ein Kind ist schon genug.
Die Berechnungen sorgten in Berlin zuerst müssen: Achtung, unsere Armutszahlen sind mit Deutschland auf einer schiefen Ebene – oder auf dem sicher, wenn es in einem Elternhaus aufwächst, in
für hitzige Debatten – und dann für Milliarden- extremer Unsicherheit behaftet? Statt die Werte richtigen Weg? dem niemand eine Arbeit hat. Dann ist es beson- www.zeit.de/audio
ausgaben. Sie werde die Kinderarmut entschie- bis auf eine Stelle nach dem Komma auszuwei-
den bekämpfen, versprach Ursula von der Leyen, sen, was aus heutiger Sicht eine absurde Schein-
damals noch Familienministerin. Dazu wolle sie genauigkeit darstellt. »Es wird viel zu selten auf
als Erstes das Kindergeld erhöhen. Was wenig die Unsicherheit von Stichprobenuntersuchun-
später auch geschah. gen hingewiesen«, sagt Christian Arndt, Profes-
Heute, eineinhalb Jahre später, ist klar: Die sor an der Hochschule für Wirtschaft und Um-
Zahl von der OECD war falsch. Datenmüll. welt Nürtingen-Geislingen. »Das ist aber nicht
Einige Experten wissen das seit Langem. Sie nur ein Problem des DIW.«
mochten es aber nicht an die große Glocke hän- Befremdlich erscheint allerdings der Um-
gen – schließlich hätten sie einräumen müssen, gang des öffentlich finanzierten Instituts mit
dass die Lage anders ist, als sie es bisher dar- der Öffentlichkeit. Bekannt wurde der extreme
gestellt haben: Deutschland rangiert bei der Be- Rückgang der Armutsquote, weil einer Journa-
kämpfung der Kinderarmut im internationalen listin der Financial Times Deutschland auffiel,
Vergleich tatsächlich nicht ganz hinten, sondern dass von der OECD veröffentlichte Zahlen
weit vorne. Hierzulande sind nicht mehr, sondern plötzlich nicht mehr zu früheren Angaben pas-
deutlich weniger Kinder von Armut betroffen als sen. Nach einem entsprechenden Zeitungs-
im OECD-Durchschnitt. Im Untersuchungsjahr bericht (Fauler Zahlenzauber) berief das DIW
2004 waren nach den neuen Erkenntnissen statt eilig eine Pressekonferenz ein, auf der der neue
16,3 Prozent nur 10 Prozent aller Jungen und Institutschef Gert Wagner nun behauptete,
Mädchen in der Bundesrepublik arm. Und zu- man habe in früheren Veröffentlichungen längst
letzt – 2008, neuere Zahlen gibt es nicht – waren »auf die verbesserte Methodik und ihre Kon-
es bloß 8,3. So rasant hat sich die Armut wohl sequenzen« hingewiesen.
noch nirgendwo halbiert. Das ist nur zur Hälfte richtig. Denn in den
Hinter der wundersamen Schrumpfung ver- angeführten Publikationen erläutern die For-
birgt sich ein Skandal. Ein Zahlenspiel, das zeigt, scher zwar veränderte Berechnungsmethoden
wie wenig verlässlich wissenschaftliche Experti- und allerlei Detailergebnisse – wie radikal sich
sen bisweilen sind, selbst bei einem gesellschaft- die Kinderarmut insgesamt verändert hatte,
lich so brisanten Thema wie der Armut von blieb aber bewusst ausgeblendet. Das geben Mit-
Kindern. Und wie schwer es den beteiligten Ex- arbeiter offen zu: »Wir hatten erwogen, die alten
perten fällt, das einzugestehen. Das Armutspro- und die neuen Zahlen einander gegenüber-
blem ist auch nach den neuen Zahlen nicht ge- zustellen«, sagte Markus Grabka der ZEIT, »aber
löst, aber die Frage, wie erfolgreich die deutsche wir wollten dann nicht noch Salz in diese Wun-
Politik es angeht, muss neu beantwortet werden. de streuen und haben darauf verzichtet.« So
wurde die Öffentlichkeit absichtlich im Unkla-
Eine vierköpfige Familie mit weniger ren darüber gelassen, von was für einer Qualität
als 1985 Euro netto gilt als arm die von ihr mitfinanzierten Untersuchungen
tatsächlich waren.
Im Mittelpunkt dieser Datenaffäre steht aus- Der Vorgang dürfte das Vertrauen in wissen-
gerechnet das Deutsche Institut für Wirtschafts- schaftliche Expertisen auf sozialpolitischem Ge-
forschung (DIW) in Berlin, das nach einer Reihe biet erschüttern. Einmal mehr scheint sich der
negativer Schlagzeilen und hausinterner Quere- Uralt-Spruch von der Statistik zu bestätigen, der
len gerade einen neuen Chef bekommen hat. man nur trauen dürfe, wenn man sie selbst ge-
Die von der OECD für Deutschland publizier- fälscht habe. Dabei ist die Politik auf me-
ten Zahlen stammen vom DIW. Das Berliner thodisch sauber ermittelte Daten angewiesen.
Institut lässt jedes Jahr einige Tausend Bundes- Sie bewegt sich sonst im Blindflug, und es lässt
bürger nach ihren Einkommen befragen. Daraus sich kaum beurteilen, welche Wege zur Armuts-
ermitteln die Forscher die Armutsquoten. bekämpfung tatsächlich Erfolg bringen und
Vor knapp zwei Jahren haben die Experten welche nicht.
begonnen, alte Befragungen neu auszuwerten. Klar ist, dass Deutschland auch nach den neuen
Der Grund: »Wir bekommen immer häufiger Zahlen ein Armutsproblem hat. Rund 1,1 Millio-
nur lückenhafte Auskünfte«, sagt Markus Grab- nen Kinder und Jugendliche lebten danach zuletzt
ka, der beim DIW für die Erhebung zuständig in finanzieller Bedürftigkeit. Wohl kaum ein Grund,
ist. »Früher war das Problem vernachlässigbar, im Kampf gegen Kinderarmut nachzulassen. Für
aber in den vergangenen Jahren wurde es immer die OECD ist ein Haushalt arm, wenn er netto über
größer.« Deshalb sei es nötig geworden, die Me- weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens
thoden zu verfeinern, mit denen fehlende Anga- im Land verfügt. Es geht dabei also um relative
ben ergänzt würden. Dazu werden komplexe Armut, um Einkünfte, die in Bezug zur Haushalts-
Hochrechnungsverfahren und Plausibilitätsüber- größe und zum Durchschnitt besonders niedrig
legungen genutzt. Das ist bei solchen Erhebun- liegen. In Deutschland hieß das im Jahr 2008: Eine
gen durchaus üblich, und dass sich Daten bei ei- Familie mit zwei kleinen Kindern war arm, wenn
ner Neujustierung ändern, gehört zum Alltag sie netto weniger als 1667 Euro im Monat zur Ver-
von Statistikern. Aber so krasse Veränderungen fügung hatte. Bei zwei älteren Kindern (über 14
wie bei den neuen Armutszahlen sind unge- Jahre) erhöht sich die statistische Armutsschwelle
wöhnlich. Zentrale Botschaften der früheren auf 1985 Euro.
Untersuchungen werden dadurch in ihr Gegen- Viele Sozialexperten setzen die Grenze zur
teil verkehrt. Armut deutlich höher an, etwa bei 60 Prozent
So warnte Monika Queisser, Leiterin der Ab- des mittleren Einkommens. Deshalb gibt es je
teilung Sozialpolitik bei der OECD, als sie die nach Definition unterschiedliche Armutszahlen.
alten Zahlen auf einer Pressekonferenz vorstellte, Aussagekräftiger als ein einzelner Wert ist aber
das deutsche Sozialsystem funktioniere nicht ein Vergleich – zu anderen Ländern oder zur Ver-
richtig. Die Bundesrepublik gebe besonders viel gangenheit. International schneidet Deutschland
Geld für die Familien aus, doch bei den Bedürf- nun offenbar besser ab als gedacht, allerdings
tigsten komme wenig davon an, deshalb lebten bleiben einige Länder ein gutes Stück voraus.
hier überdurchschnittlich viele Kinder in Armut. Das gilt vor allem für die skandinavischen Staa-
Nach den neuen Zahlen gehört das hiesige Sozi- ten, deren Steuer- und Sozialsysteme Einkom-
28 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 WIRTSCHAFT

»Sie sind Vorreiter!« Gleiche Wirkung


Kumi Naidoo, Chef von Greenpeace International, über die Bei Altersblindheit helfen zwei Medikamente.
Versorgung der Welt mit Energie und den deutschen Atomausstieg Weiter verbreitet ist das teure. Warum? VON NICOLA KURTH

F
ZEIT: Herr Naidoo, halten Sie den deutschen ZEIT: Ein Argument der Kernkraftbefürworter ür diese Studie interessieren sich Augen- Bei AMD ist das nicht mehr der Fall. Im Januar 2007 Studie keinesfalls eindeutig. Sowohl Lucentis als auch

Fotos: Thomas Einberger/argum (2); Tim Brake/dpa (l.)


Atomausstieg für einen »Sonderweg«? stimmt ja: Kernkraftwerke emittieren weniger ärzte weltweit. Sie wollen wissen, welches kam Lucentis auf den Markt. Der Preisunterschied Avastin waren ihr zufolge insgesamt gut verträglich
Kumi Naidoo: Nein, Sie sind Vorreiter! Aber CO2, und die Zeit drängt beim Klimaschutz. von zwei patentgeschützten Medikamen- empörte Kassen wie Mediziner schon bei der Zu- hinsichtlich relevanter Nebenwirkungen, da sind sich
auch Angela Merkel scheint zu beschäftigen, Naidoo: Tatsächlich ist unsere größte Heraus- ten besser gegen die feuchte Makula- lassung. Viele boykottieren es bis heute und bleiben Mediziner einig. Unterschiede gibt es bei sogenann-
dass ein Alleingang Deutschland isolieren forderung, den Ausstieg aus der fossilen Ener- degeneration hilft, die häufigste Ursache bei Avastin, eine Praxis, die von der zuständigen Auf- ten serious adverse events wie einem stationären Kran-
könnte. gieversorgung zu beschleunigen. Aber derzeit für Blindheit im Alter (AMD). Gegenstand des sichtsbehörde in Deutschland noch toleriert wird – in kenhausaufenthalt oder Durchblutungsstörungen im
ZEIT: Vergangene Woche waren Sie ja bei der decken AKWs nur zwei bis drei Prozent des abgekürzt CATT genannten Vergleichs, den das einer »wohlwollenden Duldung«, wie sich das offiziell Gehirn. Diese traten bei Patienten, die mit Avastin
Kanzlerin. Konnten Sie sie beruhigen? weltweiten Energiebedarfs, der Bau einer re- staatliche National Eye Institute in den Vereinigten nennt. Viele Krankenkassen schlossen mit Novartis behandelt wurden, etwas häufiger auf als bei Patien-
Naidoo: Wir sind die Länder durchgegangen, levanten Zahl würde zu lange dauern, und es Staaten angestellt hat, waren das für die Augen- Rabattverträge über die Nutzung von Lucentis ab, ten, die Lucentis injiziert bekamen. Allerdings war
um zu zeigen, dass die Bevöl- käme zu wenig Strom dabei erkrankung an sich nicht zugelassene Krebsmittel zugleich aber eigene Verträge mit die Anzahl der Patienten relativ
kerungen die Atomkraft welt- heraus. Es ist also eine völ- Avastin von Roche und das Spezialmedikament den operierenden Augenärzten, in klein, und ihr Alter lag im Schnitt
weit ablehnen. Selbst in lig unrealistische Darstellung, Lucentis von Novartis. Die Ergebnisse, die nun vor deren Folge sich der Einsatz von der Studie bei über 80 Jahren.
Frankreich mit seinem hohen dass die Atomkraft das Klima wenigen Tagen bekannt wurden, sind brisant. Der Avastin für die Ärzte mehr lohnt. Schon widersetzen sich Medizi-
Anteil an Atomstrom sind wirksam schützen könnte. Fall weist über sich selbst hinaus, er steht exempla- Es geht um sehr viel Geld. Ge- ner der Produkt- und Preispolitik
57 Prozent der Menschen für ZEIT: Weltweit droht der Ver- risch für die Frage, inwieweit der Staat den Konflikt schätzte 100 000 AMD-Patienten der Hersteller. So fordern die füh-
einen Ausstieg. zicht auf Atomenergie eine mit den Herstellern von Medikamenten wagt – und gibt es derzeit in Deutschland, sie renden Berufsverbände der Augen-
ZEIT: In den energiehung- Renaissance der Kohle nach wie viel die Gesellschaft für Gesundheit zu zahlen erhalten im Jahr rund 500 000 In- ärzte in Deutschland klärende Ent-
rigen Schwellenländern ist sich zu ziehen. bereit ist. Fragen, die sich in Zeiten technisch im- jektionen. Bei der Zulassung von Kostet rund 1300 Euro je scheidungen seitens der Politik.
das aber anders. Naidoo: Das werden wir ver- mer komplexerer Behandlungsmethoden und im- Lucentis errechneten Ökonomen, Injektion: Lucentis Wirkten beide Mittel gleich, bleibe
Naidoo: Ob in der Türkei, in
Brasilien oder Chile: Auch » Es ist also eine
völlig unrealistische
hindern, wenn wir mit Voll-
dampf in erneuerbare Quellen
mer kostspieligerer Mittel zunehmend stellen.
Im Kern zeigt die erste große Studie über die
dass es die Krankenkassen drei
Milliarden Euro pro Jahr kosten
die Frage, wie viel die Solidar-
gemeinschaft für mehr Sicherheit
dort gibt es überall Debatten und eine effizientere Nutzung Wirksamkeit der beiden Medikamente, dass die Be- könnte, sofern alle Patienten damit bereit sei zu bezahlen, so der Tenor.
über die Risiken der Atom- Darstellung, dass der Energie investieren. Wenn handlung mit dem Krebsmedikament Avastin gleich behandelt würden. Das entsprach Avastin solle offiziell erlaubt werden,
kraft. Im indischen Jaitapur die Atomkraft Deutschland dabei weiter vo- gute Ergebnisse erzielt wie die mit Lucentis, wenn es seinerzeit einem Achtel des gesam- die Überwachung der Sicherheit
wurden gerade Demonstran- das Klima rangeht, werden andere Län- um den Erhalt und die Verbesserung der Sehschärfe ten deutschen Arzneimittelbudgets. könne ein unabhängiges Institut
ten gegen ein geplantes der nachziehen. der Patienten geht. »Mit CATT wurde bestätigt, was Aktuell werden noch rund ein Drit- übernehmen. Eine nachträgliche
Atomkraftwerk von Areva wirksam schützen ZEIT: Gerade in Entwick- sowieso schon alle wussten«, sagt ein Insider. Brisant tel der Patienten mit Avastin be- Ist im Preis etwa 30-mal Nutzenbewertung könne dazu füh-
festgenommen.
ZEIT: Proteste gibt es da
könnte « lungs- und Schwellenländern
gilt es, die wachsenden Volks-
wird diese Einschätzung dadurch, dass die Präparate
zwar nach Meinung vieler Experten im Wirkstoff
handelt. Die Ergebnisse der Studie
könnten diesen Anteil schnell auf
günstiger: Avastin ren, dass sich die beiden Medika-
mente preislich annäherten.
zwar, aber auch die Hoff- wirtschaften von vorneherein vergleichbar sind, sich aber enorm in den Kosten über die Hälfte und mehr steigen Freiheit in der Therapie, Haf-
nung, dass Atomkraft den Klimawandel brem- emissionsarm aufzubauen. Wie stark ist Green- unterscheiden: Lucentis ist mit 1300 Euro pro Injek- lassen, schätzen Experten. tungsfragen, Kontrollen, die Initiierung neuer oder
sen kann. Man investiert weiter in Atom. peace dort vertreten? tion rund 30-mal so teuer wie Avastin von Roche. Heikel wird der seit Jahren schwelende Streit die Unterstützung laufender Studien – Stellschrauben
Naidoo: Die realen Investitionen decken aber Naidoo: Jedenfalls tun wir schon eine Menge. 4,5 Millionen Deutsche leiden an einer Form der durch die Verflechtungen der beteiligten Pharma- gäbe es für den Staat zur Genüge, wollte er eingreifen
nicht die Behauptung, dass es da eine Renais- Zum Beispiel haben wir vor Kurzem bei einer Altersblindheit, jeder Fünfte muss sich behandeln konzerne. Das Unternehmen, das einst sowohl Lu- und den Status quo überwinden. Ein Sprecher des
sance gebe. Regierungen finden weltweit kaum Solar-Tour durch den indischen Bundesstaat lassen. Die Sehzellen sterben ab, weil sich hinter der centis als auch Avastin entwickelt hat, gehört seit 2009 Gesundheitsministeriums aber lässt nur wissen, dass
Finanzierungsmöglichkeiten, weil die Atom- Bihar die Chancen solarer Kleinanlagen für die Netzhaut kleine Blutgefäße bilden, aus denen Flüssig- zu Roche. An Roche, das Avastin in Europa ver- Krankenkassen längst angemessene Preise mit den
kraft zu teuer und zu riskant ist. Gerade haben Allerärmsten demonstriert. 1,6 Milliarden Men- keit austritt. Seit 2005 kann diesen Patienten mit marktet, ist wiederum Novartis, das Lucentis heute Herstellern aushandeln könnten. Dass am Bundes-
wir erlebt, wie hilflos selbst die Hightechnation schen haben ja noch gar keinen Zugang zu Injektionen von Avastin ins Auge geholfen werden. herstellt, zu 30 Prozent beteiligt. Da verwundert es institut für Arzneimittel bereits zu Jahresbeginn eine
Japan war. Stellen Sie sich einen atomaren Un- Strom. Deshalb gilt aber auch weiterhin: Sie in Der Wirkstoff unterbindet die Blutversorgung von nicht mehr, dass Roche es ablehnt, Avastin als Mittel Expertengruppe eingerichtet worden ist, die sich mit
fall im indischen Rajasthan vor! den Industrieländern haben erst mal noch eine Tumoren – im Fall von AMD lässt sich mit ihm das für AMD zu testen und die dazu nötigen Studien den Fragen der Therapie einer altersbedingten Ma-
ZEIT: Viele rechnen aber mit einem Geschäft. Menge Kohlenstoffschulden abzuzahlen. Sie abnorme Wachstum der Blutgefäße hinter der Netz- durchzuführen. Derweil Novartis die neue Studie kuladegeneration befassen soll, dass also womöglich
Die Bundesregierung, die daheim aussteigt, verfügen über Technologien und Wirtschafts- haut stoppen. Ein amerikanischer Augenarzt hatte dahingehend interpretiert, dass Lucentis zwar teurer, Bewegung in die Sache kommt, sagt er nicht.
unterstützt den Export deutscher Atom- kraft. Sie sollten Ihr lebensrettendes Wissen Avastin erstmals erfolgreich off label, also abseits des aber so etwas wie der Goldstandard in der Therapie Weitere Vergleichsstudien könnten die Debatte
technik. den Entwicklungsländern großzügig weiter- eigentlichen Behandlungszwecks, angewendet. Seit- der Altersblindheit sei. Das Risiko, einen Schlaganfall beenden. Neuer Druck könnte entstehen, sollte
Naidoo: Ja, da wird mit zweierlei Maß gemes- geben. Die Hauptrolle spielen Sie. her folgten Mediziner weltweit seinem Beispiel. Doch zu erleiden oder gar zu sterben, sei unter Avastin Bayer wie geplant 2012 ein neues, eigenes Mittel zur
sen. Nach meinem Eindruck ist das der Kanz- solche Therapien sind nur erlaubt, wenn kein ande- deutlich höher als bei Lucentis. Dabei ist die Aus- Bekämpfung der Altersblindheit auf den Markt
lerin bewusst. Das Gespräch führte CHRISTIANE GREFE res zugelassenes Spezialmittel zur Verfügung steht. legung der festgestellten Unterschiede in der CATT- bringen. Wie teuer es sein wird, weiß noch keiner.
WIRTSCHAFT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 29

Alles wahr
oder was?
Auf einem neuen Portal im Internet können sich
Verbraucher demnächst beschweren, wenn sie sich von
Lebensmittelherstellern getäuscht fühlen. Die Industrie
läuft Sturm dagegen VON GUNHILD LÜTGE

B
ananenschokolade ohne Banane, Zu- bensmittelbehörde, nicht aber ein Bundesminis- stellt die Ministerin klar, könnten die Verbraucher spricht, diese selbst aber das Problem sind. So muss genannten Arztnavigator, den die Krankenkassen
ckersirup statt Honig, Kräuterbutter terium«, sagt er. Auch Rechts- und Staatswissen- bei der Nutzung des Angebots eindeutig erkennen, beispielsweise eine Kalbswiener lediglich 15 Pro- AOK und Barmer in der vergangenen Woche im
mit Margarine. So etwas ist – wenn schaftler Fritz Ossenbühl bemängelt, dass der dass es als Informations- und Meinungsforum die- zent Kalbsfleisch enthalten. Und das Fleisch für den Internet starteten. Dort können die Kassenmitglie-
überhaupt – nur dem Kleingedruck- Ministerin die Zuständigkeit fehle, und kritisiert nen soll und kein Organ der amtlichen Über- Schwarzwälder Schinken darf auch aus Dänemark der nicht nur Ärzte suchen, sondern sie auch gleich
ten auf der Packung zu entnehmen. zugleich, dass »hoheitliche Gewalt durch gesell- wachung sei. Aigner: »Die Lebensmittelüber- stammen. Obwohl sich Hersteller völlig korrekt bewerten.
Vollmundige Werbeversprechungen suggerierten schaftliche Zwänge ersetzt werden soll«. Außer- wachung ist und bleibt Aufgabe der Länder.« verhalten, wenn sie sich nach diesen Vorgaben rich- Die Doktoren liefen zunächst dagegen Sturm.
Qualität oder Nähe zur Natur, monieren Ver- dem hat er Zweifel an der notwendigen Neutrali- Zudem haben die Konstrukteure des Portals aus ten, fühlen sich manche Verbraucher dennoch ge- Sie fürchteten, verunglimpft zu werden. Doch die
braucherschützer. Oftmals sei es damit aber nicht tät des Portals. der bisherigen Kritik bereits ihre Lehren gezogen. täuscht. Daraus, so hoffen die Initiatoren des Por- Konstruktion des Portals verhindert das. So sind
weit her. Die Mogler und Trickser sollen schon Das Vorhaben löst deshalb so viel Aufregung Dem Vorwurf, es würden auch Produkte angepran- tals, könnte auch der Gesetzgeber beim Erlass seiner beispielsweisen frei formulierte Texte nicht möglich.
bald ausgebremst werden: mit einem neuen In- aus, weil befürchtet wird, dass künftig lockere gert, deren Kennzeichnung rechtlich in Ordnung Vorschriften lernen. Es können nur vorgegebene Fragen beantwortet
ternetportal. Es trägt den Namen »Klarheit und Debattierzirkel erboster Verbraucher das strikte sei, begegnen sie mit einer speziellen Rubrik. Dort Digitale Sammelstellen dieser Art schrecken in- werden. Die anfängliche Aufgeregtheit hat sich des-
Wahrheit«. Reglement amtlicher Kontrolleure ersetzen werden jene Lebensmittel präsentiert, deren Kenn- zwischen nicht nur Unternehmen auf. Auch in ei- halb gelegt. »Wir können damit leben«, heißt es bei
Schon diese zwei Wörter reichen aus, um die könnten. Lebensmittelbehörden müssen vor- zeichnung zwar den gesetzlichen Vorschriften ent- nem anderen Fall gab es heftigen Ärger: beim so- der Bundesärztekammer heute.
Nahrungsmittelindustrie aufzuregen. Der Name sichtig agieren, sie haben strenge Vorschriften zu
suggeriere, dass in dieser Branche hauptsächlich beachten, bevor sie bei Nahrungsmittel-Skan-
Gauner unterwegs seien. Das ist nicht das einzige dalen Ross und Reiter nennen dürfen. Die Wah-
Argument, mit dem sich Vertreter der Branche rung von Geschäftsinteressen ist ein wichtiges
gegen die Initiative wehren. Was sie vor allem Gebot. So will es unter anderem selbst das Ver-
stört, ist, dass Bundesverbraucherministerin Ilse braucherinformationsgesetz.
Aigner das Portal finanziell unterstützt. Deshalb müssen die betroffenen Firmen zum
Nächsten Monat soll es laut Janina Löbel Beispiel angehört werden. Und sie haben ein
trotzdem losgehen. Sie koordiniert das Projekt Recht auf Akteneinsicht. Außerdem sind Be-
beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. schwerden gegen Entscheidungen der Lebens-
Betrieben wird das Portal vom Verbraucherver- mittelkontrolleure möglich. Bis endgültig klar
band Hessen. ist, wann und was im Einzelfall an die Öffent-
Das Angebot ist dreigeteilt: Im Informations- lichkeit darf, vergeht – zum Ärger vieler Verbrau-
bereich können sich die Besucher der Website in cherschützer – deshalb meist viel Zeit. Auf einem
rechtlichen Fragen kundig machen, etwa über Portal wie dem geplanten können sich die Teil-
Vorschriften zur Kennzeichnung von Lebens- nehmer sehr viel freier äußern als Beamte in den
mitteln. Außerdem wird es die Möglichkeit ge- Behörden.
ben, sich im Diskussionsbereich an Debatten zu
beteiligen oder Fragen an ein Expertenforum zu »Das Portal ist von Rechts wegen
richten. Darf im Schwarzwälder Schinken auch nicht akzeptabel«
Fleisch aus Dänemark sein? Oder Hühnchen in
der Kalbswiener? Auch Professor Winfried Hassemer, ehemaliger
Im sogenannten produktbezogenen Bereich Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts,
können Verbraucher konkrete Beispiele melden, geht mit dem Projekt streng ins Gericht. Dabei
bei denen sie sich durch die Aufmachung und findet er es grundsätzlich gar nicht schlecht. Da-
Kennzeichnung in die Irre geleitet fühlen. Fach- raus machte er in einer Stellungnahme für den
leute in der Internetredaktion prüfen die Kritik Verband BLL auch keinen Hehl. »Lebensmittel
und bitten die betroffenen Hersteller um eine sind heute ein komplexes Gut, dessen Eigen-
Stellungnahme. schaften die Verbraucher aus eigener Anschau-
Wenn die Verbraucherschützer eine Be- ung regelmäßig nicht kontrollieren können, ob-
schwerde fachlich nachvollziehen können und wohl sie lebenswichtig sind«, schreibt er. Ohne
sie für plausibel halten, wird das Produkt im In- vernünftige Information könne Vertrauen nicht
ternet abgebildet; versehen mit dem Kommentar bestehen und Kritik nicht wirksam sein. Dass die
des Herstellers, vorausgesetzt, er hat tatsächlich Meinung der Verbraucher nicht nur erforscht,
reagiert. »Manchmal stellt sich auch heraus, dass sondern auch zum Bestandteil von Auseinander-
ein Verbraucher lediglich schlecht informiert ist«, setzungen und Interventionen gemacht würden,
sagt Janina Löbel. In diesem Fall wird er nur auf sei eines modernen Staates und einer Informa-
den Informationsteil verwiesen. tionsgesellschaft würdig. Hassemer: »Es markiert
einen Weg zu bürgerlicher Autonomie.«
Lebensmittelbehörden können nur in Aber dann: Es gehe in dem Konzept weder
engen Grenzen agieren um Recht noch um Kontrolle oder Sanktion; es
gehe vielmehr um eine spezifische Form von
Obwohl das komplette Portal mit allen Funktio- Kommunikation. Gerade aber im Ausblenden
nen noch nicht in Betrieb ist, können schon des Rechts liege das Problem. Hassemers klares
heute Meldungen abgegeben werden. Manche Urteil: »Dieses Internetportal ist von Rechts we-
Hersteller sind deshalb bereits alarmiert. »Man- gen nicht akzeptabel.«
che reagieren direkt und ändern, was kritisiert Die Eingriffe, die davon ausgingen, könnten
wurde. Andere setzen sofort Rechtsanwälte in die Eigentumsgarantie, das Grundrecht auf Be-
Bewegung«, sagt Janina Löbel. Sie und ihr Kolle- rufsfreiheit oder das auf Gleichbehandlung ver-
ge Hartmut König, der bei der Verbraucherzen- letzen. Betroffene Interessen würden ausgeblen-
trale Hessen das Projekt leitet, bauen auf die Ein- det, der Markt würde womöglich gestört. Pro-
sicht der Hersteller. »Wir hoffen, dass sie die blematisch sei vor allem der produktbezogene
Kennzeichnung schnell verbessern, ohne dass wir Bereich. Dort ginge es um die »gefühlten Rechts-
rechtlich, zum Beispiel mit Abmahnungen, vor- verletzungen« von Laien. Hassemer gibt zu be-
gehen müssen«, sagt König. denken: »Allein das subjektive Gefühl einer Per-
Im Augenblick aber sind große Teile der Le- son, hintergangen oder enttäuscht worden zu
bensmittelwirtschaft regelrecht empört. Sie stört sein, ist nicht imstande, einen solchen Eingriff
insbesondere, dass einzelne Unternehmen und durch eine derart mächtige Institution zu recht-
deren Marken an den Pranger gestellt werden fertigen.« Als juristische Schludrigkeit bezeichnet
können. Und das im Zusammenhang mit einer er es, dass dem Hersteller zwar eine kurze Frist
lediglich »gefühlten Täuschung«, so Werner zur Kommentierung eingeräumt werde, die Ver-
Wolf, Präsident des Spitzenverbandes der deut- breitung der Sache aber dann auch ohne diesen
Illustration: Birgit Lang für DIE ZEIT/www.birgitlang.de

schen Lebensmittelwirtschaft (BLL). Er weiß et- Kommentar erlaubt sei.


liche Juristen auf seiner Seite. Auf einer Fachta- Ilse Aigner versucht derweil die Wogen zu
gung übten sie jüngst massiv Kritik. glätten: »Wir haben erstklassige, hervorragende
Skepsis löst bereits die Konstruktion der Platt- Lebensmittel in der Bundesrepublik Deutsch-
form aus: die Mischung aus Staat und privatwirt- land«, sagt sie. Und niemand müsse eine Ver-
schaftlicher Initiative. So bezweifelt Friedhelm unglimpfung befürchten. »Das Portal wird so
Hufen, Professor für Öffentliches Recht, Staats- konzipiert sein, dass ein fairer und sachbezogener
und Verwaltungsrecht an der Universität Mainz, Dialog zwischen Wirtschaft und Verbrauchern
ob die Bundesverbraucherministerin überhaupt gewährleistet ist.«
für ein solches Projekt zuständig ist. »Informati- Die Initiative liefe im Rahmen einer ganz
onseingriffe sind von vornherein nur rechtmäßig, normalen Projektförderung, die rechtlich in je-
wenn die zuständige Behörde tätig geworden ist. der Hinsicht zulässig sei. Insgesamt rund
Das ist in der Regel die örtlich zuständige Le- 775 000 Euro gibt es vom Staat. Im Übrigen,
30 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 WIRTSCHAFT

Brot und Spiele


Millionenbetrug beim Kinderkanal: Die beteiligten Sender streiten VON ANNA MAROHN

E
inmal im Jahr verleiht der Norddeutsche Frank Beckmann hat sich bislang nur einmal öf- »Wir prüfen die Vorgänge und behalten uns
Rundfunk intern den Sehstern. Die Ver- fentlich zu der Sache geäußert – in seinem eigenen Schadensersatzansprüche in alle Richtungen
anstaltung ist für den Sender eine gute Programm bei Zapp. Allerdings muss man fairer- vor«, sagt Hahn.
Gelegenheit, sich selbst, garniert mit ein weise sagen, dass er dabei trotzdem nicht besonders In dem etwas trockeneren Teil des Revisions-
paar launigen Worten, für gelungenen gut wegkam. »Ich habe bei dem Herstellungsleiter in berichts von MDR und ZDF, der nicht vom Zo-
öffentlich-rechtlichen Journalismus zu feiern. Nor- keinster Weise Verdacht schöpfen können«, antwor- cken in Casinos und der Übergabe von Geld in
malerweise. tet Beckmann auf die Frage, ob er etwas von der DVD-Hüllen handelt, steht: Schon 2009 waren
In diesem Jahr eröffnete Fernseh-Programmdirek- Spielsucht gewusst habe. Rechnungen aufgefallen, die nicht ordentlich ge-
tor Frank Beckmann die Veranstaltung mit einer Ver- Im Bericht, den die Revisoren von MDR und prüft worden waren. Das hatte ein Revisions-
teidigungsrede in eigener Sache. Es ging um seine Ver- ZDF verfasst haben, liest sich das anders. Nach bericht von ZDF und HR ergeben.
gangenheit beim Kinderkanal. Und die Frage, was Angaben eines Kika-Redaktionsleiters soll es schrift- Damals wurde auf die Schwachstellen im
Beckmann gewusst habe oder fahrlässig übersehen. Die liche Memos an die Programmgeschäftsführer gege- Kontrollsystem von MDR und Kika hingewie-
Ansprache sei in diesem Umfeld ein bisschen befremd- ben haben. »Dieser Schriftverkehr sei dem Redak- sen, und konkrete Änderungsvorschläge wurden
lich gewesen, sagt ein Mitarbeiter, der dabei war. tionsleiter im Zeitraum Ende Oktober bis Anfang gemacht. So wurde etwa beanstandet, dass Mit-
Beckmann ist seit Ende 2008 in Hamburg beim Dezember 2010 aber aus einem Ordner in seinem arbeiter die »Sachlich richtig«-Abzeichnung vor-
NDR, zuvor hat er acht Jahre lang in Erfurt die Ge- Büro entwendet worden.« Im November 2007 habe nahmen, die das nicht beurteilen konnten und
schäfte für den öffentlich-rechtlichen Kinderkanal außerdem ein Kika-Mitarbeiter über eine mit ihm teilweise auch nicht berechtigt waren. Dummer-
geführt, bei dem etliche Millionen Euro veruntreut befreundete Casinomitarbeiterin von den Spiel- weise beauftragte der MDR mit der Verbesserung
wurden. Auch sein Nachfolger als Programm- gewohnheiten des Herstellungsleiters erfahren. Er der Kontrollen aber denjenigen, bei dem die Feh-
geschäftsführer bemerkte den Betrug nicht und unterrichtete damals den Redaktionsleiter, der der ler beanstandet wurden – Marco K.
wurde dafür bereits abgemahnt. Information jedoch nicht nachging. Programm- Dafür mitverantwortlich war MDR-Verwal-
Der vorläufige Gesamtschaden beläuft sich auf geschäftsführer Beckmann wurde damals ebenfalls tungsdirektor Holger Tanhäuser, der im Zuge
8 183 815,24 Euro. Die Nummer zwei im Kika, Her- informiert und soll geantwortet haben: »Ich kenne der Affäre »ohne Anerkennung eines eigenen
stellungsleiter Marco K., hat über diese Summe Schein- Marco, so ist er nun mal.« An Skatrunden bei sei- Verschuldens sein Amt zur Verfügung stellte«,
rechnungen bezahlen lassen. Dabei wurden zum Bei- nem Mitarbeiter zu Hause hat Beckmann auch wie der MDR in einer Pressemitteilung schrieb.
spiel Aufträge für Trailer oder Onlineseiten gefälscht. schon mal selbst teilgenommen. Wie viel diese gesichtswahrende Lösung den Ge-
Kika-Star Bernd das Ein Teil des Geldes ging an K.s Komplizen bei den Marco K. trennte zwischen Beruflichem und Pri- bührenzahler gekostet hat, will der Sender mit
Brot musste für Schein- Firmen, die diese Rechnungen ausstellten. Viel floss an vaten kaum. Um ihn verhaften lassen zu können, muss- Hinweis auf vereinbarte Vertraulichkeit nicht
rechnungen herhalten den Geschäftsführer der Koppfilm. Er brachte das te ihn der MDR aus einem Las-Vegas-Urlaub mit einem preisgeben. Dass Tanhäuser erst im September
System durch eine Selbstanzeige im Herbst zu Fall, als Freund und Mitarbeiter holen. für weitere fünf Jahre wiedergewählt worden war,
seine Firma trotz der zusätzlichen Einnahmen auf die Beim NDR debattieren die Mitarbeiter nun, ob dürfte die Sache aber teuer gemacht haben.
Insolvenz zusteuerte. sich Beckmann auf seinem Posten halten kann. Als Den Gebührenzahler tröstet vielleicht die In-
Zu den großen Profiteuren des Betrugs gehört auch möglicher Nachfolger wird Fernsehchefredakteur formation der Westspiel Casinos, dass mit dem
das Spielcasino in Erfurt. Dort hielt man fest, Marco Andreas Cichowicz genannt. NDR-Justiziar Wer- Gewinn am Ende Gutes getan wird. Sie führen
K. sei im Jahr 2010 103-mal zu Besuch gewesen, er ner Hahn betont hingegen, Beschäftigungen vor bis zu 80 Prozent an die Länder und Kommunen
habe dabei vorzugsweise an einem Hyperlink-Auto- der NDR-Zeit könnten arbeitsrechtliche Maßnah- ab, die damit wichtige gesellschaftliche Projekte
maten mit einem Einsatz von 40 Euro gespielt und pro men grundsätzlich nicht begründen. Bei ARD und fördern. In Thüringen ist das die Ehrenamtsstif-
Woche zirka 20 000 Euro verdaddelt, unter Einrech- ZDF verweist man lieber auf die Fahrlässigkeiten tung, die 700 000 Menschen in ihrem Engage-
nung der Gewinne. des MDR, in dessen Verantwortung der Kika fällt. ment unterstützt.

Falsche Freunde
Ideen klauen, Mitarbeiter aushorchen – Soziale Netzwerke taugen
bestens dazu VON ULRICH HOTTELET

S
oziale Netzwerke eignen sich gut, um Kon- zutage Soziale Netze«, sagt Costin Raiu, Direktor

Foto: interTOPICS; Montage: DZ


takte zu schließen – und persönliche Infor- für Forschung und Analyse beim Virenschutz-
mationen einzuholen. Da erscheint es fast anbieter Kaspersky. Zum schnellen und effekti-
logisch, dass diese Netze auch vom zweitältesten ven Auskundschaften schreiben die Kriminellen
Gewerbe der Welt für seine Machenschaften ge- sogar Programme, die automatisch die Profile
nutzt und missbraucht wird: der Spionage. Wie durchforsten und analysieren, erklärt Sicherheits-
gerissen die Recherchen mit den Mitteln des Web forscher Stefan Tanase von Kaspersky. Wer die
2.0 betrieben werden, zeigt ein Fall aus Berlin, der Hintermänner dieser Aktionen und der darauf
an die erfolgreiche Romeo-Masche von DDR- beruhenden Spionageangriffe sind, lässt sich oft
Spionen gegenüber Bonner Ministerialsekretä- nur schwer ausmachen. »Geheimdienste und
rinnen erinnert. Konkurrenzfirmen gehen nach dem gleichen
Eine Frau hatte nach dem gemeinsamen Hoch- Muster vor«, sagt Zitting.
schulabschluss mit einem Studienkollegen ein Abhilfe ist schwierig: »In vielen Fällen sind
Unternehmen gegründet. Die Geschäftsidee war uns die Hände gebunden, und wenn Sie meinen
neu, und »die Firma lief richtig gut«, sagt Heike Schreibtisch sehen, werden Sie meine Bissspuren
Zitting, Leiterin des Wirtschaftsschutzes beim an der Tischkante wahrnehmen.« Zittings Pro-
Berliner Verfassungsschutz. Die Gründerin be- blem: Rechtlich ist der Verfassungsschutz nur für
schrieb die Dienstleistung auf ihrer Facebook- die Abwehr gegnerischer Nachrichtendienste,
Seite, auf die im Onlineprofil der Firma verwiesen nicht für die Spionage durch Firmen zuständig.
wurde. Irgendwann meldete sich Die Wirtschaft reagiert inzwi-
ein Mann bei ihr, »der erst sehr schen auf die Bedrohungslage.
nett schrieb«, so Zitting, und da- Aus Sicherheitsgründen haben
durch einen privaten Kontakt viele deutsche Großunterneh-
knüpfen konnte. men, darunter knapp ein Drittel
Später erzählte ihm die Frau der Dax-Konzerne, den Zugang
bei mehreren Treffen noch mehr zu Facebook oder ähnlichen
von ihrer Firma. »Sie ist in ihrer Plattformen gesperrt.
Naivität darauf hereingefallen«, Ein Beispiel, das auf Zittings
lautet die Einschätzung der Ver- Tisch landete und bei dem un-
fassungsschützerin. Der Mann klar ist, ob ein ausländischer
überredete sie, sich mit ihm Kanal geschlossen Wettbewerber oder ein Nach-
selbstständig zu machen. »Damit richtendienst dahintersteckte,
tappte sie endgültig in die Falle.« Knapp ein Drittel ist ein fingiertes Bewerberge-
Als der neue Partner die Ge- der DAX-Unternehmen spräch. Mitarbeiter in Schlüs-
schäftsdetails und den Kunden- sperrt den Zugang zu selpositionen haben oft Profile
stamm kannte, sei die Gutgläu- auf Businessportalen wie Xing
bige aus der Firma ausgebootet Sozialen Netzwerken – oder LinkedIn. Der bei einem
worden, berichtet Zitting. Der auch um Spionage Softwareentwickler beschäftigte
Inhaber des ursprünglichen Un- vorzubeugen Mann wurde von einem angeb-
ternehmens musste alles machtlos lichen Headhunter angeschrie-
mit ansehen. Weil er seiner Ex- ben: »Wir hätten eine interes-
Kommilitonin vertraut hatte, gab sante und hochdotierte Stelle
es keine Konkurrenzschutzklausel. Beide Unterneh- für Sie.« Zur anschließenden Unterredung traf
men existieren noch heute. man sich in einem Hotel. Da dem Mann die
Der Fall steht exemplarisch für den Trend. Fragen aber zunehmend merkwürdig vorkamen,
»Ich beobachte das Ausspähen von Profilen durch beendete er das vermeintliche Vorstellungs-
Konkurrenzfirmen und Nachrichtendienste seit gespräch. Offensichtlich handelte es sich um
vier Jahren. Heute wird zuerst versucht, über Ausspähung der Konkurrenz.
Soziale Netzwerke an die Informationen zu kom- Bei der Kontaktaufnahme in Sozialen Netz-
men«, sagt die Verfassungsschützerin. Und das werken sind Umwege beliebt: »Die Kriminellen
gilt allgemein mit steigender Tendenz. Auch versuchen zunächst, von einem Freund der Ziel-
wenn es keine offiziellen Statistiken dazu gibt, person akzeptiert zu werden. Als Freund eines
sind sich die Fachleute in dieser Frage einig. »Von Freundes wirken sie dann viel vertrauenswürdiger,
rund 50 Fällen, die wir pro Jahr bearbeiten, wenn sie die Zielperson anschreiben«, erklärt Raiu.
haben sechs mit Sozialen Netzwerken zu tun«, Bei den Tätern sind oft »kleine, sehr private oder
berichtet Michael Hochenrieder, Berater für In- fachliche Foren gefragt, weil sie leichter Vertrauen
formationssicherheit bei HvS Consulting. Das schaffen«, sagt Zitting. Eine gern angezapfte Quel-
Unternehmen ist auf die Bekämpfung von In- le sind laut Sicherheitsberater Hochenrieder auch
dustriespionage spezialisiert und zählt die im die Einträge von IT-Experten, die in Fachforen nach
Dax gelisteten Konzerne und den gehobenen Tipps fragen, um Sicherheitslücken in ihren Unter-
Mittelstand zu seinen Kunden. nehmenssystemen zu schließen. Oft scheint ihnen
Noch höher ist die Quote in der Cyberkrimi- nicht klar, dass sie damit diese Lücken ungewollt
nalität. »Alle gezielten Attacken nutzen heut- auch potenziellen Angreifern verraten.
WIRTSCHAFT höchster
Stand am
12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 31
6. 3. 2000
103,50 €

Fotos: Bernd Kammerer/AP/ddp; Nestor Bachmann/dpa; Stephanie Pilick/AP (v.l.n.r.)


Sie schufen einen
Börsenalbtraum
(v. l.): Ex-Telekom-
Chef Ron Sommer,
Schauspieler Manfred
Krug, Finanzminister
Theo Waigel (rechtes
Bild in der Mitte)
Start am
15.11.1996
15,57 €

1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

Stand am

Der Zorn der siebzehntausend


10. 5. 2011
um 17 Uhr
11,22 €

Das Urteil zum Börsengang der Telekom fällt bald. Kleinanleger hoffen auf Entschädigung – die Justiz ist mit solchen Riesenprozessen überfordert VON MARCUS ROHWETTER

D
ie Telekom geht an die Börse, »und gesetz sollte ein wenig amerikanische Effizienz in Jurist, der eine Sammelklage gegen ein Unternehmen fahrensdauer auf der anderen: In den USA wächst Die Fälle, die zukünftig Sammelklagen provozieren,
ich geh’ mit«, versprach Manfred die Zivilprozessordnung bringen und anhand eines erfolgreich durchsteht oder einen Vergleich erzielt. Im ebenso wie hierzulande die Unzufriedenheit beim ju- werden alle etwas gemeinsam haben. Sie sind Ausdruck
Krug im Werbefernsehen, irgend- exemplarisch ausgewählten Musterklägers bürokra- Fall der Telekom wären das also bis zu 24 Millionen ristischen Umgang mit Massenschäden. Wichtige einer globalisierten Wirtschaft, als solche hochkomplex
wo zwischen Spots für Waschmittel tischen Wahnsinn verhindern. Etwa den, dass jeder Dollar Anwaltshonorar gewesen. Angesichts solcher Änderungen, etwa bei document discoveries oder den und von Einzelnen kaum zu durchdringen. Die Be-
und Tütensuppe. Der Schauspieler einzelne Kläger denselben Fehler im Börsenprospekt Summen kann es sich lohnen, gründlich zu recher- Anwaltshonoraren, könnte nur der amerikanische troffenen sind aber meist Laien – ob als Patienten, die
gab der Privatisierung des Staatskonzerns ein Ge- hätte nachweisen müssen. Diesen Musterfall klärt chieren und komplizierten Wirtschaftsfällen bis ins Gesetzgeber vornehmen. Zumindest die Demokraten zehntausendfach ein unzureichend getestetes Medi-
sicht und buhlte um das Geld der Massen. Damals demnächst das Oberlandesgericht: Ein süddeutscher Detail nachzuspüren. Die Anwälte bemühen sich, weil aber scheinen den Klägeranwälten eng verbunden zu kament schlucken. Oder als Anleger, die scharen-
galten T-Aktien noch als Volksaktien, und die Pensionär hatte ein Vermögen mit T-Aktien ver- sie extrem viel gewinnen können. sein. Der Washington Examiner hat herausgefunden, weise Problemaktien erwerben.
Aussichten schienen rosig. Es war einmal. Lange loren. Der Mann will darüber nicht öffentlich reden, In Deutschland sind die Anreize andere. Kläger dass die Parteispenden der 110 bedeutendsten Kläger- Man kann den Kampf ums Recht folglich als Ge-
Zeit grübelte Krug, und im Jahre 2007 entschul- und seine Anwälte von der Kanzlei Tilp aus Kir- können sogar mehr verlieren als gewinnen – was viele anwälte sowie ihrer Dachorganisation ATLA im ver- schäft begreifen, so wie es die Amerikaner tun. Oder
digte er sich schließlich dafür, Aktien der Telekom chentellinsfurt schotten ihn von den Medien ab. abschreckt, ihr Recht überhaupt erst zu beanspruchen. gangenen Jahr zu rund 97 Prozent an die Partei von als Suche nach der Wahrheit, so wie die Deutschen.
empfohlen zu haben. Das Parlament muss gehofft haben, dass die Das Prozesskostenrisiko bei Massenverfahren beträgt Präsident Obama flossen. Aber die Wahrheit ist womöglich eine ganz andere
Krug tat etwas, was Tausende andere noch nicht Sache längst erledigt gewesen wäre. Ursprünglich wegen der Gerichts- und Anwaltsgebühren mehr als Die deutsche Methode könnte künftig stärker von als diejenige, die das Frankfurter Oberlandesgericht
getan haben: Er setzte sich mit seiner Verantwortung sollte das Sondergesetz nämlich zum November das Eineinhalbfache des geforderten Schadensersatzes, Brüssel geprägt werden. Zwischen Februar und April nun versucht aufzuklären. Tatsächlich waren es wohl
während des größten deutschen Börsenversuchs 2010 wieder außer Kraft getreten sein. Doch zwi- haben Wissenschaftler bei einer Evaluation des neuen befragte die EU-Kommission Regierungen, Anwalts- nicht die fragwürdigen Detailangaben im Börsenpro-
auseinander und machte seinen Frieden. schenzeitlich wurde die Laufzeit um zwei Jahre ver- Gesetzes ausgerechnet. Wer mit Telekom-Aktien 5000 verbände und Juristenorganisationen zur Modernisie- spekt, die auch unbedarfte Anleger damals zum Kauf
Die meisten anderen hoffen auf die nächste längert. Bis auf Weiteres. Euro verloren hat, riskiert schlimmstenfalls auf mehr rung der europäischen Sammelklage. Das Ergebnis der Papiere animierten, sondern die Werbung des
Woche. Dann will das Oberlandesgericht in Frank- Dass sich der Fall so hinzieht, liegt an der deut- als 8000 Euro Kosten sitzen zu bleiben. dürfte in einigen Monaten veröffentlicht werden. Die privatisierten Staatskonzerns und die gezielt geschür-
furt entscheiden, ob die Deutsche Telekom beim schen Verfassung. Das Grundgesetz garantiert jedem Für Anwälte ist es zudem oft nicht attraktiv, sich Kommissare Viviane Reding und Joaquín Almunia te Masseneuphorie.
letzten ihrer drei Aktienverkäufe im Jahre 2000 das Recht, sein Anliegen einem Richter vorzutragen. in komplizierte Wirtschaftssachen einzuarbeiten. Ihr erwägen, die europäischen Ansätze für Massenver- Zur Wahrheit gehört aber auch, sich einzugestehen,
massenhaft Kleinanleger getäuscht und um Teile Und so mischen – vertreten von rund 800 Anwalts- Honorar bemisst sich in der Regel am Streitwert der fahren zu reformieren – an amerikanischen class actions dass man damals weit weniger vom Kapitalmarkt ver-
ihres Vermögens gebracht hat. Die Begeisterung für kanzleien – auch die übrigen Kläger munter mit in einzelnen Klagen und ist damit oft viel niedriger als wollen sie sich dabei ausdrücklich nicht orientieren. stand, als man zu verstehen glaubte. Masseneuphorie
die T-Aktie machte damals Hausfrauen und Rent- dem Musterverfahren, machen Eingaben und das ihrer amerikanischen Berufskollegen. Das hält Politisch ist das Thema gleichwohl heikel, denn das kann nur dort entstehen, wo es Massen gibt, die sich
ner, Arbeiter und Angestellte zu Börsenfans. Viele stellen Ergänzungsanträge. Deswegen wurde die nicht dazu an, Prozesse gut und schnell zu führen. Zivilrecht ist Sache der Mitgliedsländer. Doch Brüssel leicht lenken lassen.
verloren vieles, manche alles. Weil aber der Konzern Entscheidung in der Vergangenheit immer wieder Erpressungspotenzial und enorme Kosten auf der dürfte mit dem Binnenmarkt argumentieren: Grenz- Diesen Teil der Wahrheit ans Licht zu bringen
im Börsenprospekt falsche Angaben gemacht haben vertagt, und deswegen wackelt auch der Termin in einen Seite, ein schlechtes Anreizsystem und lange Ver- überschreitender Streit braucht ebensolche Regeln. überfordert jedes Gericht.
soll, klagten rund 17 000 einst stolze T-Aktionäre der nächsten Woche.
auf Schadensersatz. Wenn die Entscheidung aber kommt und die
Zu Recht? Bald wissen sie mehr. Es ist gut mög- Telekom tatsächlich zu Schadensersatz verurteilt
lich, dass der Termin der Urteilsverkündung noch werden sollte, müsste allerdings noch in jedem der
einmal verschoben wird. Nach mehr als zehn Jahren 17 000 Einzelverfahren geklärt werden, wie hoch
Kampf kommt es auf ein paar Tage nicht an. Der der individuelle Schaden gewesen ist. Reichlich
bedeutendste Massenprozess der deutschen Wirt- Stoff also für viele weitere Prozessjahre. Für den
schaftsgeschichte erreicht nun seinen Höhepunkt. Frankfurter Anwalt Bernd-Wilhelm Schmitz, der
Zugleich endet ein gewaltiges soziales Experiment: die Telekom gegen die Aktionärsstreitmacht ver-
Nirgendwo sonst lässt sich die deutsche Einstellung teidigt, dürfte es der Fall seines Lebens sein.
zu Chance und Risiko besser beobachten als am
Börsengang der Telekom und seiner juristischen Eine Sammelklage in den USA war
Aufarbeitung. Eine neue Aktienkultur sei entstan- nach wenigen Jahren erledigt
den, hieß es damals, Sparbuchfetischisten wären zu
besonnenen Investoren gereift. Dabei trieb die in In den Vereinigten Staaten wäre es undenkbar, sich
Wahrheit oft nur die Gier. Der Kurs der Papiere fiel mit einem Fall so lange aufzuhalten. Auch die
von 66,50 Euro auf heute gut 11 Euro, die Volks- T-Aktie ist dort längst kein Thema mehr. Die
aktie weckte Volkszorn. Nun soll Justitia den An- schnelle Ruhe hatte freilich einen hohen Preis, wie
legern zurückgeben, was ihnen Kapitalmarkt und so oft bei juristischen Auseinandersetzungen in den
Selbstüberschätzung genommen haben. USA. Wie praktisch alle class actions endete auch
Das kann nur schiefgehen. die gegen die Telekom nicht mit einem Urteil,
Denn selbst nach der Entscheidung der Ober- sondern mit einem Geschäft zwischen den Be-
landesrichter wird die Sache noch lange nicht vorbei teiligten: Wichtiger als die Frage, wer das Börsen-
sein. Wer unterliegt, wird wohl Beschwerde beim debakel letztlich zu verantworten hat, sind öko-
Bundesgerichtshof einlegen. Geduld ist die Tugend nomische Rechnungen. Das birgt grundsätzlich das
enttäuschter Aktionäre, und ein Jahrzehnt reicht Risiko, dass Unternehmen auch dann zahlen, wenn
offenbar immer noch nicht aus, um die Grenze sie sich eigentlich nichts vorzuwerfen haben. Weil
zwischen Börsenschwindel und Fehlspekulation zu ein Rechtsstreit so teuer werden kann, dass man sich
ziehen. Derartige Massenprozesse sind vergleichs- lieber vergleicht.
weise neu für die deutsche Justiz, entsprechend Vor allem die bei Klägeranwälten beliebte docu-
schwer tut sie sich damit. Wer sich Gerechtigkeit ment discovery lädt zum Missbrauch ein. Damit
erhofft, wird enttäuscht werden. kann ein Unternehmen gezwungen werden, alle
Dokumente, die für den Fall relevant sein könnten,
Rund 800 Anwaltskanzleien mischen herauszurücken und auf eigene Kosten neu auf-
in dem Verfahren mit zuarbeiten. Vertragsentwürfe, Vorstandskorres-
pondenz, Sitzungsprotokolle, Testergebnisse und
In den Vereinigten Staaten gibt es solche Mammut- viele Papiere mehr, oft über Jahre und Ländergren-
verfahren viel häufiger. Bei Bilanzfälschung oder zen hinweg entstanden, müssen neu katalogisiert
unterschlagenen Nebenwirkungen von Medika- werden. Das erledigen dann Scharen von Anwälten
menten werden Konzerne regelmäßig mit Sammel- in teils monatelanger Arbeit zu Stundensätzen von
klagen konfrontiert, die dort class actions heißen. mehreren Hundert Dollar. Irgendwann wird die
Die Telekom wurde nach ihrem Börsengang auch Verteidigung extrem teuer. Ein Beispiel: Als der US-
in den USA verklagt, weil ihre Aktien dort gehandelt Pharmakonzern Merck wegen seines Schmerz-
wurden. Doch während man hierzulande noch mittels Vioxx vor einigen Jahren mit einer Sammel-
viele Jahre lang weiterprozessieren dürfte, schloss klage konfrontiert war, plante er dafür vorsorglich
der Konzern in den Staaten bereits 2005 einen Ver- die Riesensumme von 1,9 Milliarden Dollar als Ver-
gleich: Er zahlte 120 Millionen Dollar, und damit teidigungskosten ein. Vom eigentlichen Schadens-
war die Sache erledigt. ersatz war da noch nicht einmal die Rede – und
Warum geht das dort so schnell? Und warum auch nicht von den möglichen Strafzahlungen, die
dauert es hier so lange? Weil sich Deutschland und amerikanische Laienjurys in solchen Fällen gern
die USA nicht nur bei der Aktionärskultur, sondern zusätzlich anordnen. Merck beendete den Fall au-
auch in der Abwicklung von Gerichtsprozessen ßergerichtlich.
unterscheiden. Der amerikanische Ansatz führt zu In den USA wird schnell geklagt, weil Kläger
ökonomischer Effizienz, der deutsche sucht Gerech- kein finanzielles Risiko tragen. Selbst im Fall einer
tigkeit im Einzelfall. Niederlage müssen sie nicht einmal ihren eigenen
Dabei hatte Deutschland eigens ein Gesetz ge- Anwalt bezahlen – denn mit dem haben sie typi-
schaffen, um die Causa Telekom zügig abwickeln scherweise ein Erfolgshonorar vereinbart. Zwischen
zu können. Das Kapitalanleger-Musterverfahrens- 10 und 20 Prozent bekommt normalerweise ein
32 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 WIRTSCHAFT

Streiken
und pokern
Vor knapp vier Monaten triumphierten in Tunesien die
Menschen über die Diktatur. Doch ein wirtschaftlicher

Foto: Jonathan Alpeyrie/Polaris/laif


Aufbruch steht noch aus VON KARIN FINKENZELLER

Das Leben geht weiter. Wandzeichnung des Ex-Diktators Ben Ali in einem Souk in Tunis

D
as Hotel Africa ist geschlossen. Ein spiel erschien. Am Sonntagnachmittag kommen viele geht davon aus, dass Tunesiens Wirtschaft dieses Jahr kas, peitscht der Wind die Wellen des Mittelmeers für 2011 deutlich angehoben. Ein Teil der 6000
Schild an einer weißen Metallabsper- Hauptstadtbewohner gerne auf die Avenue Bourgui- um lediglich 1,3 Prozent wachsen wird – nach 3,7 an die Felsen. »Ein Volk, das einen Diktator ver- Mitarbeiter im tunesischen Leoni-Hauptwerk in
rung vor dem Haus verspricht, das ba, um ihre neue Freiheit zu genießen. Sie bevölkern Prozent 2010. Und so mancher ausländische Investor, trieben hat, lässt sich von einem Unternehmer nicht Sousse arbeitet auch samstags. Auf der einen Seite
Hotel werde »in Kürze« wieder den dort die Straßencafés, und dass auf dem Mittelstreifen der Tunesien in den vergangenen Jahren als Billiglohn- mehr alles gefallen«, sagt Sonia Ben Salid. Sie ist des Hofes entstehen die Kabelstränge für die Mer-
Betrieb aufnehmen. Das Fünfsterne- ein Panzer steht und keinen Meter neben der Kaffee- land in Europas Nähe schätzte, fragt sich, ob er sich Personalchefin bei Goldtex. 200 Beschäftigte, meist cedes-E-Klasse und die BMW-3er-Serie, auf der
haus im Zentrum von Tunis ist nicht wegen ein paar tasse Stacheldrahtrollen aufgetürmt liegen, hinter nach einer neuen Werkbank umsehen muss. Frauen, arbeiten für den Ableger der portugiesischen anderen die für den VW-Konzern. Als Kompromiss
Umbauarbeiten abgesperrt, sondern wegen der Re- denen Militärs mit lässig umgehängten Maschinen- »Muss er ganz und gar nicht«, ist Claude Cheneval Textilfirma Petratex. 48 Stunden pro Woche ent- sollen demnächst 480 Beschäftigte, die schon seit
volution. Oder genauer: wegen der neuen Offenheit, pistolen das Innenministerium vor einer Demons- überzeugt. Gerade hat der französische Unternehmens- stehen bei Neonlicht in den Hallen einer ehemali- mindestens sechs Jahren im Betrieb arbeiten, unbe-
mit der jetzt auch in Tunesiens Wirtschaft miteinan- tration schützen, kümmert niemanden. Doch der berater, der seit Jahren im Land lebt und auch mit der gen Schokoladenfabrik T-Shirts für die französische fristete Verträge bekommen, sagt Rouis. Das habe
der gestritten wird. Neuanfang nach 23 Jahren Diktatur in Tunesien ist deutsch-tunesischen Handwerkskammer zusammen- Marke Isabel Marant, Blusen für Trussardi Jeans er den streikenden Mitarbeitern versprochen. »Da-
Ein erbitterter Arbeitskampf hat zur Schließung nicht so entspannt, wie er aussieht. Nicht in der Poli- arbeitet, in der Lobby eines Nobelhotels in Tunis ein oder Jacketts für Zara und Massimo Dutti. An je- ran halte ich mich.« Und die Forderung nach Lohn-
des Hotels geführt. Die Direktion des Hauses wenige tik, wo es zuletzt erneut zu gewaltsamen Auseinander- Bewerbungsgespräch mit einer jungen Ingenieurin dem Arbeitsplatz zählt ein Computer die fertigen erhöhungen? »Sie müssen sich entscheiden, ob wir
Meter neben dem Innenministerium auf der Pracht- setzungen zwischen Sicherheitskräften und Gegnern beendet. Trotz sechsjähriger Berufserfahrung, zwei Stücke. So kann die Zentrale in Portugal ohne Zeit- hier mit 6000 Leuten und moderaten Löhnen ar-
straße Avenue Habib Bourguiba hat Hunderte interna- der Übergangsregierung kam und sich bereits mehr Masterabschlüssen zusätzlich zum Studium und einer verzug mitlesen, was in Nordafrika gerade passiert. beiten, oder mit 3000, deren Einkommen auf-
tionaler Konferenzen organisiert und diskret auch so als 50 Parteien für die Wahlen zu der wegen der Un- Position als Teamleiterin bei einem Autozulieferer ver- Goldtex bezahlt besser als so manches andere Tex- gebläht werden.«
manches Geheimtreffen, als die PLO von Jassir Arafat ruhen nun unsicheren verfassungsgebenden Versamm- dient sie derzeit lediglich 900 Dinar brutto im Monat tilunternehmen. Dennoch sind die Löhne in Bizer- Mehdi Rouis muss da nicht lange überlegen.
ihren Sitz noch in der tunesischen Hauptstadt hatte. lung im Juli registrieren ließen. Und nicht in der Wirt- – umgerechnet nicht einmal 500 Euro. te mit 450 bis 600 Dinar um 30 bis 40 Prozent Mit einem Diplom von einer der renommiertesten
Doch mit den Folgen der Revolution im eigenen Land schaft. Streiks und Straßenblockaden behindern seit »Wenn die Arbeitgeber ein bisschen was drauflegen, niedriger als in der portugiesischen Heimat des tunesischen Ingenieurschulen und zwei Master-
wusste sie nicht umzugehen. Anstatt auf die Forderung Wochen immer wieder die Industrieproduktion und bekommen sie höchst qualifizierte Leute zu einem Unternehmens. abschlüssen in Mikroelektronik und Qualitäts-
der 190 Mitarbeiter nach höheren Löhnen und der Anlieferung wichtiger Materialien. immer noch sehr guten Preis«, sagt Cheneval. Ebenso »L’Union fait la force« steht auf den Kitteln der sicherung war der 30-Jährige ein Jahr lang arbeits-
gesetzlich festgeschriebenen Entfristung der Arbeits- wichtig sei aber die Wertschätzung der Mitarbeiter Arbeiterinnen, »Einheit macht stark«. Auch sie los, bevor er 2009 den Job als Vorarbeiter bei
verträge nach vier Jahren Betriebszugehörigkeit ein- Die Tunesier wollen sich auch von etwa durch Investition in deren Aus- und Fortbildung. haben gestreikt, für mehr Geld und eine 40-Stun- Leoni bekam. Die Aufgabe entspricht zwar nicht
zugehen, machte sie das Hotel lieber zu. Er lasse sich Unternehmern nichts gefallen lassen Daran hätten es viele der Offshorebetriebe, die durch den-Woche. Der Chef persönlich kam aus Portugal seiner Qualifikation, aber immerhin. »Studien-
nicht unter Druck setzen, ließ der Inhaber, Néji Mhi- die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben ange- angereist und nahm sie ins Gebet. Seither ist erst kollegen von mir haben bis heute keine Arbeit.«
ri, wissen. Ihm gehören rund zehn Prozent der Hotel- Fast immer geht es dabei um die Höhe der Löhne und lockt wurden, in der Vergangenheit mangeln lassen, einmal Ruhe – auch, weil die Bezahlung dieses Jahr Einer von ihnen gehörte zu den jungen Tunesiern,
betten in Tunesien sowie ein Möbelimperium. Dass die Umgehung des Arbeitsrechts mithilfe von Sub- kritisiert er. Maximalforderungen von heute streiken- noch um 10 Prozent steigen soll, wie Directrice die in den vergangenen Wochen illegal nach Italien
ihm hervorragende Beziehungen zu Ex-Diktator Ben unternehmen oder anderen Tricks. Um 12,2 Prozent den Arbeitnehmern hätten auch mit Jahrzehnten des Lurdes Silva sagt. »Das müssen wir schon deshalb übersetzten.
Ali nachgesagt werden, macht den Arbeitskampf zu- sei allein im ersten Quartal die Industrieproduktion erzwungenen Schweigens und völliger Unerfahrenheit tun, weil auch die Preise für Lebensmittel und an-
sätzlich brisant. gesunken, warnt Abdelaziz Rassaâ, Industrieminister mit Tarifverhandlungen zu tun. »Aber wer nur über dere Waren steigen.« »Der Niedergang der Wirtschaft ist eine
Vier Monate nach der Jasmin-Revolution ist unklar, der Interimsregierung. Der Tourismussektor, der in Geld spricht, dem hat der Arbeitgeber bisher nichts Rund 600 000 Menschen arbeiten in Tunesien große Gefahr für die Demokratie«
ob Tunesien auch ein wirtschaftlicher Aufbruch ge- den vergangenen Jahren für 10 Prozent der Wirt- anderes geboten.« für Offshoreunternehmen. Das sind etwa 30 Pro-
lingt. Diktator Sein al-Abidin Ben Ali war so schnell schaftsleistung stand, ist aufgrund der ausbleibenden Besuch in Bizerte, etwa eine Autostunde nördlich zent der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer. Für 75 Prozent der Schulabgänger in Tunesien haben
und leicht vertrieben, dass Revolution wie ein Kinder- Urlauber gelähmt. Der Internationale Währungsfonds von Tunis. Am Cap Blanc, dem nördlichen Ende Afri- Diktator Ben Ali, der keine wirtschaftliche Neben- Abitur. Viele studieren. Aber es ist nicht ungewöhn-
macht fördern wollte und Lizenzen für einheimische lich, dass ein Jurist mangels adäquater Alternativen
Unternehmensgründungen von Gunstbezeugungen als Verkäufer für einen Mindestlohn von 280 Dinar
der Antragsteller abhängig machte, waren die Pro- an einem Obststand arbeitet oder ein ausgebildeter
duktionsstätten ausländischer Betriebe praktisch. Ingenieur in einem Callcenter. Auch Mohamed
Eines der ausländischen Unternehmen, das in Bouazizi, der sich selbst anzündete, nachdem die
Tunesiens Wirtschaft eine größere Bedeutung er- Polizei seinen Gemüsekarren konfisziert hatte, be-
langt hat, ist der Nürnberger Kabelhersteller Leoni. saß ein Universitätsdiplom. Den 85 000 bis 90 000
Er beschäftigt in Tunesien 13 000 Mitarbeiter. Die jungen Leuten, die jedes Jahr Schule oder Hoch-
Entourage des Diktators glaubte sogar, sie könne schule verlassen, stehen lediglich 60 000 bis 65 000
den Umsturz mit seiner Hilfe verhindern. »Der freie Stellen gegenüber.
Minister für Internationale Zusammenarbeit und Interims-Finanzminister Jalloul Ayed hat einen
Ausländische Investitionen hat mich angerufen und »Marshallplan« für die arbeitslose Jugend angekün-
gebeten, wir sollten ein Werk mit tausend Leuten digt und das Ziel ausgegeben, binnen fünf Jah-
in Sidi Bouzid eröffnen«, er- ren mehrere Hunderttausend
zählt Mohamed Larbi Rouis, neue Jobs etwa durch öffent-
Operating Manager Tunesien Tunis liche Infrastrukturprojekte zu
Bizerte
von Leoni. Sidi Bouzid, das schaffen. Finanziert werden
ist jene Stadt im verarmten sollen diese unter anderem
Landesinnern, wo die Revo- Sousse durch die Privatisierung von
lution mit der Selbstverbren- Sidi Bouzid Unternehmen und Betei-
nung des jungen Mohamed ligungen von Ben Ali und
Buazizi ihren Ausgang nahm. seinem Clan. Schätzungen
Mittelmeer
Am Telefon in seinem Büro zufolge entzogen der Ex-
im Industriegebiet des Küs- TUNESIEN Diktator und seine Familie
tenortes Sousse signalisierte der tunesischen Wirtschaft
ZEIT-Grafik
Rouis dem Minister tags ALGERIEN LIBYEN
200 km
jährlich rund zwei Prozent
darauf, dass er grundsätzlich des Wachstums.
offen sei für den Standort. Er Ausländische Investoren
machte aber auch klar, dass Tunesien in Zahlen müssten aber auch aufhören,
das Unternehmen die Wirt- Tunesien als billigen Pro-
10,6
schaftlichkeit seiner Aktivi- Einwohner in Millionen: duktionsstandort zu begrei-
täten gewährleisten muss. Arbeitslosigkeit in Prozent*: 14,4 fen, mahnt Ayed. Demnächst
Die kostenlose Überlassung Inflationsrate in Prozent*: 4,0 will die Regierung Gespräche
einer Werkshalle sei daher Wirtschaftswachstum in Prozent*: 1,3 mit Gewerkschaftern und
eine der Voraussetzungen *Schätzung für 2011 Unternehmern über Tarifver-
gewesen, wie er sagt. »Aber handlungen aufnehmen. Die
EXPORT 11,1
es war schon zu spät. Die Er- Tunesien EU Sorge geht um, dass finan-
9,5 IMPORT
eignisse ließen sich nicht zielle Not und die Ent-
mehr aufhalten.« Handelsdaten von 2010, in Mrd. Euro täuschung über die wirt-
Inzwischen hat Rouis die ZEIT-Grafik/Quelle: GTAI schaftliche Entwicklung den
zu Diktaturzeiten obliga- politischen Neuanfang ge-
torischen Fotos von Ben Ali im Werk abhängen fährden könnten. Vor allem wird befürchtet, dass
lassen. Nur Haken an den Wänden erinnern noch die unter Ben Ali verbotene islamisch geprägte
daran, dass da mal was war. Auch die Übergangs- Partei Ennahda bei der Wahl am 24. Juli aus Un-
regierung geht jedoch fest davon aus, dass die zufriedenheit Profit schlagen könnte. Schon geht
Werksgründung kommt. Nichts sei entschieden, das Gerücht um, die Militärs könnten, wie 1992
betont Rouis. Er pokert. Gut möglich, dass der im benachbarten Algerien, bei einem Wahlsieg der
Operating Manager auch künftig nicht automatisch Partei einschreiten. Ennahda ist nach dem Verbot
nach vier Jahren unbefristete Verträge gewähren der früheren Regierungspartei RCD die einzige
muss. »Würden wir das umsetzen, hätten wir nicht Gruppierung, die aufgrund ihrer langjährigen Ar-
mehr die Flexibilität, die wir als Unternehmen beit im Londoner Exil über Parteistrukturen und
brauchen.« So wird auch in den neuen Zeiten, die einen gewissen Organisationsgrad verfügt.
zu Demokratie und Rechtsstaat führen sollen, um »Der Niedergang der Wirtschaft ist eine große
die Einhaltung von Vorschriften gefeilscht. Gefahr für den Übergang zur Demokratie«, warnt
Dabei läuft das Geschäft von Leoni und seinen Tunesiens Zentralbankchef Mustapha Kamel Nabli.
Abnehmern glänzend. Der Automobilzulieferer hat Leuten wie ihm graut schon vor den Schlagzeilen
seinen Konzerngewinn im ersten Quartal mehr als im Ausland, sollte die Islamistenpartei als stärkste
verdreifacht und die Umsatz- und Gewinnprognose Kraft aus den Wahlen hervorgehen.
WIRTSCHAFT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 33

»Das geht nur mit Arbeit«


Lettlands Wirtschaft brach in der Krise ein. Nach harten Reformen könnte es 2011 wieder aufwärts gehen VON JAN PALLOKAT

S
eit die bekannte lettische Kosmetikkette nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – die- ginnen werde, wieder Rücklagen zu bilden. Das Das verarbeitende Gewerbe zu fördern ist erklärtes
Kolonna ihre Preise um rund ein Viertel ser war weit drastischer als der gegenwärtige Ab- könnte auch Lettlands erklärtem Ziel helfen, schon Ziel der Regierung. Allerdings errichten Industrie-
gesenkt hat, ist Schönsein in Lettland so sturz. Also werden alte Überlebensstrategien neu im Jahr 2014 den Euro einzuführen und es damit konzerne aus dem Ausland im Baltikum keine Fa-
billig zu haben wie lange nicht mehr. belebt: Die Oma auf dem Land, im Boom eher dem Nachbarn Estland gleichzutun, wo die Ge- briken; Lettland ist zu klein und zu abgelegen. Und
Auch das Bier in den Gaststätten der eine Last, versorgt jetzt die meinschaftswährung seit Jah- wer den benachbarten russischen Markt bedienen will,
Hauptstadt, die Miete für die Rigaer Wohnung, ganze Familie mit preiswer- resbeginn gilt. produziert dort besser direkt. So verlässt zum Beispiel
der Käse auf dem Wochenmarkt: Vieles ist preis- tem Essen aus dem eigenen ESTLAND Die Chancen darauf stehen Holz das Land tonnenweise, unverarbeitet, als roher
werter als noch vor zwei, drei Jahren. Freuen kann Garten. »Wir gehen weniger gar nicht schlecht. Alle Zahlen Stamm, nur um als teures Importpapier wieder zu-
Ostsee
sich jedoch niemand darüber. Sinkende Preise sind aus«, sagt eine Mitarbeiterin deuten darauf hin, dass Lett- rückzukehren. Papierfabriken zu errichten würde viel
ein Krisensymptom. im Rigaer Day Spa. Und eine lands Wirtschaftsabsturz vorerst Kapital erfordern, das in Lettland nicht vorhanden ist.
Während des lettischen Booms, der etwa von der Kollegin fügt hinzu: »Beim LETTLAND gestoppt ist; dieses Jahr scheint »Zudem braucht es Knowhow, auch das gibt es zu
Riga
Jahrtausendwende bis 2008 währte, zeigten noch alle Einkaufen schaue ich jetzt ein leichtes Wachstum wieder wenig«, urteilt der Ökonom Morten Hansen.
Zahlen nach oben: das Wachstum, die Preise, die genauer hin, früher haben wir möglich. Getragen wird es fast Für wirtschaftliche Dynamik sorgen dagegen eine
Löhne. Die Welt sprach bewundernd vom »baltischen einfach in den Wagen gelegt, allein von der kleinen Export- Vielzahl kleiner Firmen, die mit Fleiß, Zuverlässigkeit
Tiger«, und die Letten glaubten der Welt sehr gern. was uns gefiel.« LITAUEN wirtschaft. Die deutlich reduzier- und den inzwischen wieder niedrigeren Löhnen Ni-
ZEIT-Grafik
Dann aber ging es in die umgekehrte Richtung. Auch Viel härter trifft es hin- 100 km ten Produktionskosten haben schen bedienen. Zum Beispiel die Firma von Ginta
im Baltikum schlug die globale Finanz- und Wirt- gegen jene, die sich in den lettische Waren wieder attrak- Amerika: Ehemals Beamtin in der Rigaer Stadtver-
schaftskrise mit unerbittlicher Härte zu: Die Wirt-
schaft schrumpfte allein 2009 um 18 Prozent, 2010
Boomjahren von den rasant
steigenden Löhnen dazu hin-
Lettland in Zahlen tiver gemacht.
Das merkt zum Beispiel
waltung, gründete Amerika vor einigen Jahren ein
Modelabel, um »endlich mal was Kreatives zu ma-
ging es noch ein bisschen weiter nach unten. reißen ließen, Wohnungen Einwohner in Millionen: 2,3 der Holzverarbeiter Osukalns chen«. Während ihre Landsleute noch mit Immobilien
Anders als in Deutschland, wo ein ziemlich starker oder Häuser auf Kredit zu aus Jekabpils (Jakobstadt) in zockten, baute Amerika mit ein paar Freundinnen auf
kaufen. Ihr Besitz ist nach Arbeitslosigkeit in Prozent*: 17,2 Ostlettland. Das Unterneh-
Staat die Beschäftigten mittels Kurzarbeit und Kon- ein Netz kleiner Boutiquen in Deutschland und Skan-
junkturprogrammen einigermaßen vor der Krise dem Absturz meist deutlich Inflationsrate in Prozent*: –1,1 men spürt den Wirtschafts- dinavien, die Pullis und Röcke aus Lettland in ihr
schützte, zahlten in Lettland überwiegend Arbeiter weniger wert als die Hypo- *Ende 2010 aufschwung in Mittel- und Sortiment aufnahmen. Inzwischen arbeiten zwölf Mit-
und Angestellte die Zeche. Die Arbeitslosenrate thek. Laut Statistik haben von Bruttosozialprodukt in Milliarden Euro Nordeuropa und besonders in arbeiter für die Firma Ameri, die sich in einem Haus
schnellte nach oben, auf zuletzt 17,2 Prozent. Die 600 000 lettischen Haushal- 23,0 Deutschland, wo Bauholz und am Rande der Rigaer Altstadt einquartiert hat.
18,6 18,1
Kosmetiker und Masseure bei Kolonna mussten ten 120 000 Kredite aufge- Stecklatten für Saunen und Ein weiteres Beispiel für die Chancen in der Nische
Lohnkürzungen um bis zu 40 Prozent hinnehmen. nommen; davon kann inzwi- Blockhäuser wieder stärker ge- ist der Holzspielzeughersteller Varis. Der Familien-
Damit ließen sich die Preissenkungen finanzieren. schen jeder dritte die Raten fragt sind. Allerdings fehlen betrieb lässt in der lettischen Provinz Holzbaukästen
Immerhin: »Am Ende brauchten wir keine einzige nicht mehr regelmäßig bedie- 2008 2009 2010 Vertriebschef Juris Kudeiko fertigen, aus denen sich Bauernhöfe oder Flugzeuge
unserer 40 Niederlassungen aufgeben«, sagt Kolonna- nen. Noch halten sich die ZEIT-Grafik/Quelle: Zentr. Statistikbüro Lettland nun die Lastwagen, um seine zusammenstecken lassen. Auch Varis verkauft direkt
Chefin Ieva Plaude-Röhlinger. Banken mit Zwangsversteige- Waren nach Westen zu brin- an ausgesuchte Spielwarenläden in ganz Europa, vor
Es war ein kreditfinanzierter Immobilien- und rungen zurück, weil es kaum Käufer gibt. Das dürf- gen. Örtliche Spediteure sind während der Krise allem in Deutschland.
Konsumboom, der die lettische Wirtschaft hatte te sich allerdings ändern, sobald der Markt wieder pleitegegangen, und ausländische Anbieter steuern Kann man aber mit Kleinstfirmen, mit Holzspiel-
heißlaufen lassen. »Es war im Prinzip das gleiche in Schwung kommt. das Land am Rand der EU kaum noch an. »Ich zeug und Ökopullis ein Land zum Wohlstand führen?
Spiel, das man auch in Ländern wie Spanien gese- Immerhin lag die Verschuldung des Staates in muss manchmal tagelang telefonieren, bevor ich Wahrscheinlich bleibt den Letten vorerst nichts ande-
hen hat«, erklärt der in Riga lehrende Ökonom Lettland vor Beginn der Krise bei nur etwa 20 Pro- einen freien Lkw bekomme«, sagt Kudeiko. Zu res übrig. Auf Knopfdruck lässt sich die industrielle
Morten Hansen. »Nur war die Blase, relativ zur zent des Bruttosozialprodukts und damit weitaus Boomzeiten war das anders; da transportierten die Basis nicht vergrößern. »Die Lehre aus der Krise ist:
Größe des Landes, viel gewaltiger.« niedriger als in westeuropäischen Krisenländern. Lastwagen aus dem Westen Baustoffe nach Lettland Es gibt nicht den einfachen Weg zum Wohlstand«,
Als die Blase platzte, nahm die Baltenrepublik Finanzstaatssekretär Bicevskis verspricht zudem, und luden für die Rückfahrt die Bretter und Latten sagt die Kleinunternehmerin Amerika. »Das geht nur
eine Entwicklung, die der Griechenlands ähnelt, dass die Regierung mit dem Ende der Krise be- aus Jekabpils auf. mit Mühsal und Arbeit.«
aber bereits weiter fortgeschritten ist – und die
manche Beobachter als Blaupause für Athen be-
trachten. Ende 2008, Lettland stand kurz vor der
Pleite, nahm der Staat Notkredite der Europäi-
schen Union und des Internationalen Währungs-
fonds in Anspruch und beugte sich im Gegenzug
dem Spardiktat der Geldgeber. Vom Gipfel des
Booms bis zum bisherigen Tiefpunkt der Krise
verlor das Land ein Viertel seiner Wirtschaftsleis-
tung und brach damit so stark ein wie kein ande-
res europäisches Land. Inzwischen allerdings,
nach harten Reformen und Einschnitten, scheint
ein neuerlicher Aufschwung möglich. Manchen
Wirtschaftsexperten gilt Lettlands Rosskur als
beispielhaft.
Mit seiner Hauptstadt Riga, der einzigen Me-
tropole des Baltikums, war das dünn besiedelte
Land als Teil der ehemaligen Sowjetunion einst zu
einem Industriestandort aufgebaut worden. Der
Kollaps des sozialistischen Riesenreichs traf Lett-
land hart. Er hinterließ Zigtausende arbeitslose
Industriearbeiter. Der Anteil des verarbeitenden
Gewerbes lag 2009 bei nicht einmal neun Prozent.
Sogar im traditionell agrarischen Litauen liegt er
weit höher. Lettland lebte dank seiner drei Ostsee-
häfen Riga, Liepaja (Libau) und Ventspils (Win-
dau) von Transport und Transit, vom Tourismus
und – wegen seiner ausgedehnten Wälder – vom
Holzexport. Im Boom allerdings blähten sich vor
allem der Einzelhandel, das Bauwesen und der Fi-
nanzsektor auf. Das Ende kam abrupt und mit
Wucht, die Rettung der wankenden Parex-Bank,
des einzigen lettischen Kreditinstituts von Bedeu-
tung, das nicht in ausländischen Händen ist, rui-
nierte die Staatsfinanzen.
Lettland machte durch, was im Ökonomen-
deutsch »interne Abwertung« genannt wird. Dabei
geht es darum, mit aller Kraft Löhne und Preise zu
drücken, damit die Wirtschaft zu wettbewerbs-
fähigen Kosten produzieren kann. Eine Abwertung
der eigenen Währung, des Lats, hätte zwar den
gleichen Effekt gehabt, aber auch jegliches Ver-
trauen internationaler Investoren in die Über-
lebensfähigkeit der Baltenrepublik untergraben –
und noch mehr Unternehmen und Privatleute in
den Ruin getrieben, vor allem jene, die sich bevor-
zugt in Euro verschuldet hatten. Deren Verbind-
lichkeiten wären weiter gestiegen.
Die daher verfügten Sparmaßnahmen summie-
ren sich bisher auf mindestens 16 Prozent der
Wirtschaftsleistung; die Löhne im öffentlichen
Dienst wurden um 40 Prozent gesenkt. Lettland
erhöhte die Umsatzsteuer auf 22 Prozent, verkürz-
te die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld und
kappte die Zuschüsse an den öffentlichen Nahver-
kehr. »Jahrelang ging es darum, Geld auszugeben.
Nun war plötzlich die Frage, wie man spart und
neue Einnahmequellen auftut. Das war hart«, sagt
Fotos (Ausschnitt): Roman Koksarov/AP/ddp (u.) ; ddp (2)

Finanzstaatssekretär Martins Bicevskis.


Erstaunlicherweise erlebte das Land keine Un-
ruhen. Zu Beginn der Krise gab es genau eine ein-
zige größere Demonstration. Als dabei ein paar
Fensterscheiben zu Bruch gingen, »waren die Let-
ten wohl derart erschrocken, dass sie es seither nie
mehr wagten, zu protestieren«, spottet ein Diplo-
mat in Riga. Die konservative Regierung wurde im
vergangenen Herbst sogar wiedergewählt.
Wahrscheinlich liegt die nachgerade unwirk-
liche Ruhe daran, dass die Balten in Jahrhunder-
ten der Fremdherrschaft gelernt haben, dass es
bisweilen klüger ist, sich dem Unvermeidlichen
zu beugen und auf ihre Chance zu warten. Viele
Letten hatten auch gar keine Gelegenheit, sich an
Blick von Rigas Kathedrale (oben), ein Café einen hohen Lebensstandard zu gewöhnen, sie er-
im Zentrum (Mitte), das Freiheitsdenkmal innern sich noch an den wirtschaftlichen Kollaps
34 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
FINANZSEITE
WIRTSCHAFT

Kursverlauf
$ RUSSLAND-
€ GOLD MAIS ALUMINIUM
DAX DOW JONES JAPAN-AKTIEN AKTIEN EURO ROHÖL (WTI) 1514 US$/ 7,17 US$/ 2659 US$/
Veränderungen 7526 12 745 NIKKEI: 9819 RTS: 1928 1,44 US/$ 103 US$/BARREL FEINUNZE SCHEFFEL TONNE
seit Jahresbeginn +7,9 % +10,1 % –5,2 % +8,9 % +7,5 % +15,1 % +6,5 % +14,4 % +6,4 %

GELD UND LEBEN

Boom, Crash, Boom


Der Silberpreis steigt wieder, doch
Investitionen bleiben gefährlich

Der Silberpreis steigt rasant! Nein, er fällt ins Boden-


lose! Oder halt: Jetzt steigt er ja doch wieder!
Was denn nun?
Das begehrte Metall hat vielen in der Finanz-
branche gleich mehrfach glänzende Augen beschert.
Zunächst waren es Freudentränen, stieg doch der
Silberpreis binnen eines Jahres von weniger als 20
Dollar je Feinunze auf rund 50 Dollar. Dann kamen
Abgesichert oder
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT/www.splitintoone.com

Tränen der Angst, denn binnen weniger Tage Anfang


Mai verlor der Silberpreis rund 20 Prozent (was öffent-
lich allerdings nur wenig beachtet wurde, weil zur
selben Zeit die Tötung Osama bin Ladens diskutiert
wurde). Und schließlich flossen Tränen der Erleich-
abgezockt?
terung, denn der Silberpreis erholte sich etwas.
Für Normalanleger ist Viele Versicherte begleichen ihre Prämien in Raten.
das ein sicheres Zeichen: Dafür zahlen sie einen Aufschlag. Doch die Firmen
Diese Woche von Finger weg! Als der deut-
Marcus Rohwetter sche Edelmetallkonzern verschleiern die wahren Kosten VON TOBIAS ROMBERG
Heraeus am vergangenen
Montag in Hanau seine
Bilanz vorlegte, berichte-
ten Manager davon, dass
beim Silber immer noch
sehr viele Spekulanten
unterwegs seien. Umge-
kehrt heißt das: Mit den Aussichten der Weltwirt-

P
schaft, mit Inflations- oder Deflationsszenarien hat ia Lanze wollte Gerechtigkeit, zent war, schwante ihr erst Anfang 2010. Damals Es geht um Riesterverträge und Lebensver- sicherung am Landgericht Stuttgart verurteilt, ihre
der Silberpreis womöglich weniger zu tun als gedacht. wie sie sagt. Die 53-Jährige, die erfuhr sie von einem langen Rechtsstreit zwischen sicherungen, aber auch um Kfz-, Unfall- und Haft- Klauseln zu Teilzahlungszuschlägen zukünftig nicht
Die Kursausschläge sind unvorhersehbar. in Wirklichkeit anders heißt, Versicherern und Verbraucherschützern. pflichtversicherungen. Laut der Verbraucherzen- mehr zu verwenden, weil der Verbraucher nicht
Nicht nur Heraeus macht übrigens Spekulanten hatte etwas an der Ratenzahlung Pia Lanze schrieb ihrer Versicherung. Diese trale Hamburg sind lediglich Verträge unter 200 erkennen könne, wie hoch der Zuschlag sei.
für die Silberpreiskapriolen verantwortlich. Ende April für ihre Berufsunfähigkeitsversi- zögerte und verweigerte dann, so wie viele andere Euro Jahresprämie und Krankenversicherungen Pia Lanze nutzte für ihr Anliegen einen Muster-
hatte die Chicagoer Rohstoffbörse höhere Sicherheits- cherung und ihre Altersvorsorge auch, eine Rückzahlung des Differenzbetrags. Erst ausgenommen. Da wundert es nicht, dass die Un- brief, den sie sich von der Website der Verbraucher-
leistungen auf Silberkontrakte verlangt. Im Klartext: auszusetzen. Sie hält den Auf- als Lanze einen Anwalt einschaltete, kam Bewegung ternehmen verunsichert waren und zunächst mau- zentrale Hamburg herunterlud. Darin forderte sie
Wer mit Silber spekulieren wollte, musste mehr Geld schlag, den sie dafür zahlt, dass sie ihre Jahres- ins Spiel. Im Juni 2010 erhielt sie einen dreistelligen erten. Inzwischen sind sie etwas entspannter, auch eine »Neuberechnung des Ratenzahlungszuschlags
hinterlegen. Es ist ein klassisches Mittel, um Spekula- prämie monatlich abstottert, für zu hoch. Und Betrag – bei Weitem nicht so viel, wie sie erwartet weil die Verbraucherschützer sich auf Urteile stüt- seit Vertragsbeginn auf Basis des gesetzlichen Zins-
tionen einzudämmen, der Preis brach daraufhin ein. forderte Geld von ihrer Versicherung zurück. hatte. Und reine Kulanz, wie die Assekuranz be- zen, die lediglich Einzelfallcharakter haben. satzes von 4 Prozent« und die »Rückerstattung der
Es scheint, als habe sich die Geschichte wiederholt. Mittlerweile weiß sie, dass die meisten Ver- tonte, »ohne Anerkennung einer Rechtspflicht«. Bei dem Streit geht es um einen kleinen, aber zu viel gezahlten Zinsen«. Laut Verbraucherzen-
Denn schon einmal, in den späten siebziger Jahren, sicherungen ihre Prämien auf Jahresbasis kalkuliert Es ist ein Drahtseilakt. Für Versicherungs- gewichtigen Unterschied – den von Ratenzuschlag trale wurde dieser Brief fast 200 000-mal herunter-
trieben Spekulanten den Silberpreis bis an die 50- haben. Doch die meisten Kunden zahlen »unterjäh- nehmer wie Pia Lanze und für die Assekuranzen. und effektivem Jahreszins. Den Unterschied zwi- geladen. Glaubt man den Versicherern, schicken
Dollar-Marke. Es waren die Brüder Nelson Bunker rig«, also monatlich, vierteljährlich oder halbjähr- Denn geklärt ist die knifflige Sache noch lange schen einem in Verträgen ausgewiesenen Zuschlag aber nur wenige diesen Brief dann auch ab. »Ver-
und William Herbert Hunt. Sie wurden erst durch die lich. Wird die Jahresprämie gestückelt, heißt das nicht. Insgesamt geht es womöglich um Millio- für die Stückelung der Jahresprämie und einem einzelte Anfragen« habe man bekommen, so die
Anordnung höherer Sicherheitsleistungen gestoppt. Teilzahlung. Und dafür erheben die Versicherun- nen Verträge. Die Verbraucherzentrale Hamburg tatsächlich zu berappenden Preis. Höhere Finanz- Huk; »äußerst wenige« meldet die Continentale,
Wie wenig Neues gibt es doch am Finanzmarkt. gen einen Aufschlag. Pia Lanze ging lange Zeit sprach einmal von 15 Milliarden Euro, die die mathematik ist das. Der Ratenzuschlag für die »einige Hundert Anschreiben« die DEVK. Bei der
Erst Spekulation. Dann Begrenzung. Dann Absturz. davon aus, dass sie für ihre monatliche Zahlungs- Branche vielleicht zahlen müsse. Das war aus unterjährige Zahlung wird – wenn überhaupt – in Generali liegt die Zahl nach eigenen Angaben »im
Dann wieder von vorne. Der Silberpreis ist ja auch weise fünf Prozent mehr aufbringen muss. Dass es heutiger Sicht etwas hoch gegriffen. Brisant aber Prozent des Jahresbeitrags angegeben. Im Fall der unteren vierstelligen Bereich«, die Ergo nennt eine
schon wieder gestiegen. tatsächlich ein effektiver Jahreszins von 11,35 Pro- bleibt der Streit. monatlichen Zahlung von Pia mittlere vierstellige Zahl an
Lanze war es ein Zuschlag von fünf Briefen und Anfragen.
Prozent. Die Referenz bei der Be- Lanze erhielt eine Tabelle,
rechnung dieses Zuschlags ist stets die die Berechnung des Be-
die volle Jahresprämie – auch wenn Teilzahlung trags, den sie damals bekam,
die Prämie Monat für Monat abge- erklären sollte. Die Tabelle ist
stottert wurde und Lanzes »Schul- Bezahlt ein Kunde seine furchtbar unübersichtlich.
den« somit jeden Monat etwas Jahresprämie nicht auf Die »Kulanz« ihrer Versiche-
kleiner wurden. einen Schlag, sondern rung ist aber ein Beleg dafür,
Aussagekräftiger ist deshalb stottert sie halbjähr- dass in der Branche zeitweise
der Effektivzins. Er ist verbrau- lich, vierteljährlich oder Verunsicherung herrschte.
cherfreundlicher, benennt den monatlich ab, verlangen Denn auch die komplette
»echten Preis«, mit ihm kann die meisten Versicherer Rückabwicklung von Ver-
man beispielsweise auch bestim- Zusatzkosten. Sie trägen schien plötzlich mög-
men, ob ein Darlehen teuer oder begründen das mit lich. Lanzes Versicherung
günstig ist. Für den Effektivzins höheren Verwaltungs- betont heute, »dass es keine
gibt es komplizierte Berech- kosten und entgangenen rechtliche Verpflichtung gibt,
nungsformeln. Im Fall Pia Lanze Zinseinnahmen. Doch unterjährige Zahlweise wie
beträgt der Effektivzins 11,35 Verbraucherschützer ein Verbraucherdarlehens-
Prozent. Das räumte auch ihr kritisieren, die Klauseln geschäft oder Finanzierungs-
Versicherer ein. Verbraucher hof- in den Verträgen hilfe zu behandeln«.
fen nun, dass sie, wenn der effek- machten es für den Genau das ist der juristi-
tive Jahreszins nicht angegeben Kunden nicht trans- sche Knackpunkt: Gewähren
wurde, rückwirkend nur den ge- parent genug, wie viel die Versicherer den Ratenzah-
setzlichen Effektivzins von vier ihn das Bezahlen in lern einen Kredit oder nicht?
Prozent zahlen müssen, der dann Raten tatsächlich kostet Fast alle Versicherer argumen-
fällig wird, wenn wichtige Anga- tieren wie Lanzes Versiche-
ben zum Zins im Vertrag fehlen. rung. Verbraucherschützer
Die Versicherer sind alarmiert halten dagegen: »Wenn der
und versuchen, Nachteile für die gesamte Branche Versicherer vorschreibt, dass Jahresprämien geschul-
abzuwenden. Das gelang ihnen im Rechtsstreit der det und zu Beginn eines Jahres fällig sind, dann aber
Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) gegen anbietet, diese Jahresprämien in unterjährigen Raten
die Huk-Coburg. Der VZBV gewann 2006 vor gegen Ratenzuschläge abzutragen, dann ist das ein
dem Landgericht Bamberg gegen die Versicherung, klassischer Ratenkredit«, sagt Rechtsanwalt Joachim
die den effektiven Jahreszins in Riesterverträgen Bluhm, der für die Verbraucherzentrale Hamburg
nicht angegeben hatte. Das Oberlandesgericht Prozesse führt. Deshalb müsse auch der effektive
kassierte diese Entscheidung dann aber wieder. Die Jahreszins angegeben werden.
Sache ging bis vor den Bundesgerichtshof. Während Die Versicherung von Pia Lanze beruft sich wie
der mündlichen Verhandlung, so ist zu hören, soll viele andere Versicherer auf Urteile aus den ver-
sich abgezeichnet haben, dass der zuständige Senat gangenen Monaten. Doch diese Urteile sind bei
wohl dem VZBV recht geben würde. Die Huk genauerer Betrachtung nicht immer wasserdicht.
knickte ein. Es kam zu einem sogenannten An- In einigen Fällen ging es im Kern gar nicht um den
erkenntnisurteil, ohne dass der BGH zur Sache effektiven Jahreszins. Und mancher Kläger verhielt
selbst etwas entschied. Nun gilt das Urteil des Land- sich offenbar sehr ungeschickt.
gerichts. Ein geschickter Schachzug der Huk – ein Die Verbraucherzentrale Hamburg und Rechts-
Anerkenntnisurteil kann nicht auf andere Fälle anwalt Bluhm setzen deswegen auf Verbandsklagen:
übertragen werden. Es fehlt bis heute ein höchst- »Dort spielt auch keine Rolle, was für ein Typ der
richterliches Urteil mit Grundsatzcharakter. Versicherungsnehmer im Einzelfall ist«, sagt Bluhm.
Was den Verbraucherschützern unterdessen Bei Individualklagen mit niedrigen Streitwerten
gelingt, sind Etappensiege. Kleinere Schlachten und schlechter Vergütung der Rechtsanwälte seien
werden gewonnen, die Hoffnung machen, aber die Versicherer meist weit überlegen. »Wenn dann
Einzelfallcharakter haben. Anfang Mai erst ent- dort schlechte Entscheidungen ergehen, werden
schied das Landgericht Hamburg in einem Rechts- diese allen anderen Gerichten zum Abschreiben
streit der Verbraucherzentrale Hamburg und der vorgelegt«, sagt Bluhm.
Neue Leben Lebensversicherung AG, »dass bei Prä- Trotz der jüngsten Teilerfolge der Verbraucher-
mienratenzahlungsklauseln in Versicherungsbedin- schützer herrscht längst noch keine Klarheit. Und
gungen für den erhobenen Ratenzuschlag auch der die Versicherer werden weiterhin alles unternehmen,
effektive Jahreszinssatz ausgewiesen werden muss«. um ein höchstrichterliches Urteil zu ihren Unguns-
Und Ende April wurde die Stuttgarter Lebensver- ten zu verhindern.
WIRTSCHAFT ANALYSE UND MEINUNG
35

A
12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Probiert’s doch mal! DIE ANALYSE


Un-Gestaltung
Kohlestrom kann man sauberer machen. Doch viele Deutsche ThyssenKrupp baut um und ab. Aber eine neue Form
wollen das Verfahren nicht einmal testen VON CHRISTIAN TENBROCK bekommt der Mischkonzern so nicht VON JUTTA HOFFRITZ

Das Kürzel CCS steht für eine große Idee, so destens 50 Euro kosten – zu viel, als dass sich CCS Kaum mehr als 100 Tage ist tausendwende kündigte das Viel Spielraum kann Konzernchef Hiesinger mit
wie Ideen eben sein müssen, wenn sie die Welt gegenwärtig lohnen könnte. ThyssenKrupp-Chef Hein-
Der Plan Unternehmen schon mal ei- seinen Plänen also nicht gewinnen. Bevor er neue
ein klein wenig besser machen sollen. Mittels Es kann also gut sein, dass alle Tests am Ende rich Hiesinger im Amt, da Umsatz von ThyssenKrupp 2010 nen Börsengang an. Damals Investitionen tätigen kann, müssen erst mal die alten
Carbon Dioxid Capture and Storage soll das bei mit dem einen Urteil enden: Lieber nicht. Aber legt er einen gewaltigen Um- nach Sparten, in Milliarden Euro sollte nicht nur Edel-, sondern Schulden weg. Sechs Milliarden Euro. Eine gewal-
der Stromerzeugung in einem Kohlekraftwerk CCS nicht einmal erproben heißt, allzu früh bauplan für den Stahl- und auch der klassische Qualitäts- tige Summe – selbst bei einem Börsengang der Edel-
entstehende Klimagift Kohlendioxid aufgefan- aufzugeben. Kohleverstromung wird notgedrun- Technologiekonzern vor. Vom Edelstahl Auto
stahl aus dem Portfolio ver- stahl-Sparte.
gen, in Pipelines geleitet und schließlich in gen noch für Jahrzehnte einen wesentlichen Teil Edelstahl will er sich trennen Auto
schwinden. Doch die internen Mit dem Umbauprogramm will sich Hiesinger
6 4,4
Lagerstätten tief unter der Erdoberfläche ver- der weltweiten Energieversorgung ausmachen. und auch vom Autozuliefer- (verbleibt im Debatten zogen sich so lange von einem Viertel des Umsatzes (2010: 43 Milliar-
1,6 Konzern)
frachtet werden. CCS versucht also, Klima- Gegenwärtig erzeugt China – wo fast wöchent- geschäft. Ziel sei es, so teilt hin, bis im Spätsommer 2000 den Euro) trennen. Doch er bleibt die Entscheidung
schutz und Kohlenutzung zusammenzubrin- lich ein neues Kohlekraftwerk ans Netz geht – das Unternehmen mit, »Fle- 5 Aufzüge die Konjunktur einknickte. schuldig, ob ThyssenKrupp künftig Stahl- oder
Qualitäts- 12 Gesamt
gen. Die Internationale Energieagentur hat damit 80 Prozent seines Stroms, in den USA und xibilität« für den Ausbau at- stahl 43 4 Anlagenbau Damit hatte sich die Sache Technologiekonzern sein soll. Der Qualitätsstahl
sich ebenso für das Verfah- in Deutschland sind es etwa traktiverer Geschäfte zu ge- 1 Kriegsschiffe erst mal erledigt. macht auch nach dem Abschied vom Edelstahl noch
ren ausgesprochen wie der 50, beim Nachbarn Polen winnen. 13 Die sicherste Alternative gut ein Drittel des Portfolios aus. Die Autoteile
mit einem Nobelpreis be- sogar über 90 Prozent. Inner- Das klingt gut, doch vieles, Handel wird abgespalten wäre deshalb eine Abspaltung werden weniger, dafür baut der Konzern weiter Auf-
dachte Weltklimarat; Briten, DER STANDPUNKT: halb von 20 Jahren, so die was der neue Chef nun plant, ZEIT-Grafik/Quelle: Geschäftsbericht wie sie zu Jahresbeginn Bran- züge, Industrieanlagen, Kriegsschiffe und Wälzlager
Amerikaner und Australier Prognose seriöser Energie- hat auch Vorgänger Ekkehard chenprimus Arcelor-Mittal für Windmühlen.
fördern seine Erprobung »Nimby« heißt im experten, wird sich der Welt- Schulz schon versucht – und zwar vergeblich. vormachte. Beim Edelstahl kapitulierte nämlich Diese Fülle macht es einem Chef schwer, die
mit Milliarden. Englischen jene Spezies kohleverbrauch nahezu ver- Beispiel Edelstahl: »Nirosta« ist zwar die bekann- selbst der hartnäckigste Sanierer der Branche, Übersicht zu behalten – und noch schwerer, alle
Auch Angela Merkel warb doppeln. teste Marke des Konzerns, aber seit Erfindung des Lakshmi Mittal. Der Arcelor-Chef gründete für die Bereiche mit der nötigen Liquidität zu versorgen.
einmal für CCS. »Mit fröh- Mensch, die potenziell Dass auch in Deutsch- korrosionsbeständigen Werkstoffs vor 100 Jahren ungeliebte Tochter eine neue Gesellschaft namens ThyssenKrupp war einst Weltspitze beim Edel-
lichem Gemüt« solle die Tech- Unangenehmes zwar land kein Ende der Kohlen- ist viel passiert: Längst können Chinesen den Edel- Aperam und verschenkte deren Anteile kurzerhand stahl und hat die Position verloren. Beim normalen
nologie auch in Deutschland gerne dem Nachbarn utzung in Sicht ist, liegt stahl billiger herstellen. Im vergangenen Jahrzehnt an seine Aktionäre. Dieser Weg stünde auch Thys- Stahl verteidigt der Konzern Platz sechs im Bran-
vorangetrieben werden, sagte nicht – wie auch in dieser sorgte Nirosta für reichlich Verlust. senKrupp offen – allerdings käme dabei kein Cent chenranking, weshalb zuletzt alle verfügbaren Mit-
die Kanzlerin noch im Jahr überantworten, aber Zeitung schon suggeriert Mehr als einmal versuchte der Konzern die Spar- Bargeld in die Kasse. tel in neue Hochöfen und Walzwerke gesteckt
2007. Vergangen, vorbei. In vom eigenen Hinterhof wurde – am schnellen Atom- te Wettbewerbern anzudienen. Kartellrechtlich wäre Das wäre ein Problem, denn auch bei der Auf- wurden. Fragt sich, wie lange etwa die Aufzugbauer
dieser Woche beraten Bun- fernhalten will. In der ausstieg. Importierte Stein- das sicher nicht ganz einfach geworden – noch ist lösung der Autoteile-Sparte werden nur begrenzt Platz drei noch halten können, denn die mussten in
destag und Bundesrat zwar kohle ist relativ billig, und ThyssenKrupp einer der großen Edelstahl-Anbieter Erlöse fließen: Die Fahrwerk-Fabriken will Thyssen- dieser Zeit fast ohne Investitionen auskommen.
einmal mehr über ein Gesetz,
Debatte um saubere die reichlich vorhandene hei- weltweit. Doch die Kartellwächter kamen gar nicht Krupp ebenfalls bargeldlos in eine »strategische Part- Umbau hier und da reicht nicht, Heinrich Hie-
das Grundlage für die Erpro- Kohle hat man den mische Braunkohle gilt als dazu, Auflagen zu formulieren. Die potenziellen nerschaft« einbringen. Verkauft werden sollen ledig- singer muss klare Entwicklungslinien schaffen. Die
bung und weitere Erfor- Eindruck, als lebten in wichtiger Garant einer un- Partner winkten direkt ab. Natürlich könnten die lich die Autoblech-Pressen, Eisengießereien und Frage ist, ob Berthold Beitz, der Ehren-Aufsichts-
schung von CCS sein soll. Deutschland viele abhängigen Energieversor- Essener auch versuchen, die Tochter an die Börse zu Federfabriken des Konzerns – was nach optimisti- ratsvorsitzende und heimliche Herrscher des Kon-
Aber eigentlich könnten sich gung. Beide Kohlesorten bringen. Doch das braucht Zeit – gerade in einem scher Schätzung maximal 1,5 Milliarden Euro ein- zerns, den neuen Mann auch gewähren lässt, wenn
Abgeordnete und Landesver- dieser Zeitgenossen werden als unverzichtbarer behäbigen Konzern wie ThyssenKrupp. Zur Jahr- bringen dürfte. er ernsthaft Hand an den Mischkonzern legt.
treter ihre Arbeit sparen. In Grundstoff für deutschen
Deutschland hat die groß- Strom angesehen. Deshalb,
industrielle Anwendung des und nicht als Ersatz für abge-
Verfahrens fürs Erste kaum noch eine Chance. schaltete Atomkraftwerke, werden noch immer FORUM
Schuld daran sind der Widerstand der Bürger neue Kohlemeiler gebaut. Diese Stromfabriken
und die Mutlosigkeit vieler Landespolitiker. werden aller Wahrscheinlichkeit nach für 40 bis
Ende April gab der Atom- und Kohlestrom- 50 Jahre am Netz bleiben.
konzern RWE sämtliche Konzessionen zurück, Allerdings emittiert selbst ein modernes Koh-
die ihm die Erkundung unterirdischer CO2- lekraftwerk mit 1000 Megawatt Leistung noch
Lagerstätten im CDU/FDP-regierten Schleswig- jährlich so viel CO2 wie zwei Millionen Autos.
Lernen aus dem Fall Kachelmann
Holstein ermöglicht hätten. Die Begründung: Rund ein Viertel der gesamten deutschen Kohlen- Kommunikationsberatung bei Gerichtsverfahren nützt weniger als gedacht VON TOBIAS GOSTOMZYK
mangelnde Akzeptanz in Politik und Bevölke- dioxidemissionen entfallen gegenwärtig nur auf
rung. Ähnlich ist die Situation in Niedersachsen, die Verfeuerung von Braunkohle. Und sechs der Wer vor Gericht steht, kämpft manchmal um zwei- beeinflussen. Im Wissen, dass unbedachte Interview- Tendenz vieler Medien zur Skandalisierung und Per-
wo eine schwarz-gelbe Koalition die Unter- zehn klimaschädlichsten Stromfabriken Europas erlei: sein Recht und seine öffentliche Reputation. äußerungen den juristischen Sieg kosten können, sonalisierung unwahrscheinlich klingen mag.
suchung möglicher Kohlendioxidlager verbieten stehen in deutschen Landen. Letztere besitzt ihren eigenen, auch wirtschaftlichen wenn sie zum Beweismittel des Gegners werden. Des Weiteren ist es nicht erfolgversprechend,
will. Einzig im brandenburgischen Ketzin wird Weil die Republik vor Mitte des Jahrhun- Wert. Der Fall des Wettermoderators Jörg Kachel- Dass es aber auch falsch sein kann, zu schweigen. über Medien auf den Ausgang von Auseinanderset-
die CO2-Speicherung noch ausprobiert. Eben- derts ohne Kohle nicht auskommen wird und mann bietet dafür ein prominentes Beispiel. Der Gebrauch von Litigation-PR ist nicht nur zungen Einfluss nehmen zu wollen. Gerade die
falls im SPD-geführten Land Brandenburg steht weil CCS gegenwärtig die einzig bekannte Was ist geschehen? Leicht lässt sich dies bei der bei Anwälten und PR-Beratern, sondern auch bei Richter im Fall Kachelmann demonstrieren, vom
in Schwarze Pumpe das einzige deutsche Ver- Option ist, relativ kurzfristig die Luft über Verworrenheit des Falls nicht sagen. Der Vorwurf Staatsanwälten in Mode gekommen. In den Medien öffentlichen Druck unabhängig sein zu wollen. Si-
suchskraftwerk, in dem die Abscheidung von Kohlekraftwerken zu entlasten, scheint es un- einer Vergewaltigung steht im Raum. Viele Zeugen wird sie dabei eher kritisiert. Das ergibt auch eine cher nehmen auch Richter des Landgerichts Mann-
Kohlendioxid aus dem Rauchgas getestet wird. verantwortlich, auf die intensive Erprobung und Sachverständige wurden gehört. Etliche Medien aktuelle Studie der Kommunikationswissenschaft- heim die Berichte über das Kachelmann-Verfahren
Betrieben wird es von dem schwedischen Kon- des Verfahrens zu verzichten. Das erklären Um- und nicht zuletzt deren Publikum haben spekuliert, lerin Vanessa Tahal von der Hochschule für Musik, wahr. Sie leben und arbeiten nicht auf dem Mond.
zern Vattenfall. weltschutzorganisationen wie der Naturschutz- ob Kachelmann schuldig zu sprechen sei oder nicht. Theater und Medien in Hannover. Es gehe, so die Doch wäre es naiv, zu glauben, dass man jemandem
Grüne Parteipolitiker und lokale Bürgerini- bund Deutschlands und der WWF. Auch der Ungewöhnlich am Fall ist aber eine massive me- landläufige Meinung, um Manipulation von Justiz mittels Pressekonferenzen und Hintergrundgesprä-
tiativen mögen über den Teilausstieg aus CCS Ökonom Nicholas Stern, der vor einigen Jah- diale Begleitung über Monate hinweg, und Medien. Beides ist falsch: Es ist chen zum juristischen Sieg verhelfen könnte. Das
jubeln, eine gute Entwicklung ist dies nicht. ren mit seinen Prognosen über die Kosten des die detaillierte Veröffentlichung des T O B I A S nicht ersichtlich, dass die fortlaufende hat letztlich auch eine wissenschaftliche Erhebung
Natürlich gibt es berechtigte Zweifel an dem Klimawandels weltweit Aufsehen erregte, kann Privatlebens des Moderators und G O S T O M Z Y K Weitergabe von Details des Ermitt- über den Einfluss von Medienberichten auf Richter
Verfahren: Niemand weiß bislang etwa, ob sich den Kampf gegen den Klimakollaps ohne Gründers eines Wetterdienstes. lungs- und Strafverfahrens für Kachel- und Staatsanwälte dokumentiert. Die Kommuni-
die zur CO2-Lagerung vorgesehenen unterirdi- den Einsatz von Carbon Dioxid Capture and Auch die Auftritte bekannter Wirt- mann vorteilhaft war. Vielmehr dürfte kationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger
schen Gesteinsschichten – in Deutschland Storage nicht vorstellen. Die Welt benötige ei- schaftslenker vor Gericht bekommen der scheinbar nicht versiegende Infor- und Thomas Zerback fanden heraus: Schuldig oder
überwiegend unter der Norddeutschen Tief- nige Tausend Anlagen, meint er. große Aufmerksamkeit: Viele erinnern mationsfluss mit dazu geführt haben, nicht schuldig ist keine Frage guter Presse. Einzig
ebene und vor der Nordseeküste – das aus Koh- Sollen die alle nur anderswo stehen, aber sich an das Victory-Zeichen von Josef dass Medien neue Anlässe fanden, bei der Bestimmung der Strafhöhe gibt es einen, für
Foto: privat

lemeilern abgeschiedene Gas wirklich für Jahr- keinesfalls in Deutschland? Es ist reichlich ego- Ackermann, Vorstandschef der Deut- ständig über den Fall zu berichten. Juristen nicht verwunderlichen, Einfluss.
hunderte sicher speichern können. Unklar ist istisch, die Erprobung – und möglicherweise schen Bank, vor Beginn des Mannes- Steuern ließ sich die Presse dagegen Letztlich besteht das Ziel von Litigation-PR
bisher auch, was auf diese Weise gespeichertes auch die Anwendung – von CCS allein anderen mann-Prozesses. Lebendig bleiben ist Rechtsanwalt nicht, die sich teils pro und teils contra darin, den Standpunkt von Unternehmen oder Pri-
Gas für die anliegenden Grundwasservorkom- Ländern zu überlassen. Nimby heißt im Eng- auch die Bilder der Verhaftung Klaus bei der Kachelmann positionierte. Sie folgt vatpersonen, die in rechtliche Auseinandersetzungen
men bedeutet. lischen jene Spezies Mensch, die potenziell Un- Zumwinkels, des damaligen Vor- Wirtschaftskanzlei ihrer eigenen Berichterstattungslogik verwickelt sind, bekannt zu machen. Das klingt
Auch die Kosten sind ein Problem: Nach dem angenehmes durchaus dem Nachbarn überant- standschefs der Deutschen Post. KSB INTAX in und wirtschaftlichen Interessen. Nie- simpel, ist aber anspruchsvoll. Eine sorgfältige Ver-
gegenwärtigen Stand der Technik erhöht sich mit worten, aber vom eigenen Hinterhof fernhalten Fachkreise diskutieren in diesem Hannover. mand sollte deshalb ernsthaft meinen, zahnung von Rechts- und Kommunikationsstrate-
CCS der Energiebedarf eines Kraftwerks um will (Not in my backyard). Gegenwärtig hat Zusammenhang über Litigation-PR, Schwerpunkte Medien manipulieren zu können. Ein- gie ist dafür notwendig. Die Causa Kachelmann hat
mindestens 20 Prozent. Hunderte Kilometer man den Eindruck, als lebten in Deutschland eine neue und für Laien eigenartig seiner Arbeit sind zig durch sachliches, unermüdliches zwar ein breites, aber meist negativ besetztes Be-
lange Pipelines zwischen Stromfabriken und sehr viele dieser Zeitgenossen. anmutende Disziplin. Es geht da- das Recht der Herausarbeiten der eigenen Argumen- wusstsein für diese Beratungsleistung geschaffen.
Lagerstätten müssten gebaut, alte Meiler nach- rum, Kommunikationsprozesse wäh- Medien und der te gegenüber Journalisten lässt sich für Eine wirtschaftliche Analyse der Kommunikations-
gerüstet werden. Insgesamt würde eine Tonne Weitere Informationen im Internet: rend juristischer Auseinandersetzungen Telekommunikation den eigenen Standpunkt etwas errei- strategie von Kachelmann würde vermutlich nicht
eingespartes CO2 die Kraftwerksbetreiber min- blog.zeit.de/gruenegeschaefte vorauszudenken und gegebenenfalls zu chen – selbst wenn das angesichts der zu einem positiven Ergebnis führen.
36 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 WAS BEWEGT ARMIN FALK? WIRTSCHAFT

»Ich bin
risikobereit«
Als sozialdemokratischer Starökonom ist Armin Falk ein Sonderfall.
Er erforscht, wie wir sozial funktionieren. Ein Gespräch

DIE ZEIT: Wie wird ein friedensbewegter Junge Falk: Sicher, zum Beispiel bei der Steuermoral.
aus dem Rheinland zum Ökonomen? ZEIT: Wie das?
Armin Falk: Zum Glück wusste ich erst gar nicht Falk: Menschen brauchen das Gefühl: Für hohe
genau, was das eigentlich ist, ein Ökonom. Die Steuern gibt es auch ein gutes Angebot öffentlicher
traditionelle Auffassung davon hätte mich wahr- Güter. Zudem sind Bürger viel eher bereit, Steuern
scheinlich nicht überzeugt. zu zahlen, wenn sie glauben, dass die anderen auch
ZEIT: Beeinflusste Sie jemand bei der Studien- steuerehrlich sind. Genau das ist ja positive Rezi-
wahl? prozität. Es spielt auch eine wichtige Rolle, welches
Falk: Auslöser war der Philosoph Gerd Achenbach, Vorbild führende Politiker und andere Entschei-
Gründer der Philosophischen Praxis in Bergisch dungsträger abgeben. Und die Politik muss kom-
Gladbach. Er faszinierte mich extrem, als ich Abi- munizieren, dass Steuerbetrug kein Kavaliersdelikt
tur machte und Zivildienstleistender war. Bei ihm ist, sondern eine asoziale Handlung, die uns Schu-
habe ich erlebt, was es bedeutet, wenn man selbst len oder Kindergärten kostet.
nachdenkt und überprüft, was andere Wahrheit ZEIT: Nirgendwo wird mehr mit Gerechtigkeit
nennen. Und als wir über meine Studienwünsche argumentiert als in der Arbeits- und Sozialpolitik.
sprachen, sagte er, lies mal etwas von John Kenneth Falk: Reziprozität heißt da, dass die Gesellschaft
Galbraith ... für eine sozialpolitische Leistung auch Gegenleis-
ZEIT: ... dem linken Harvard-Ökonomen. tungen erwartet.
Falk: Bei Galbraith kam das Interesse an Wirt- ZEIT: Der Kerngedanke der Hartz-Reformen.
schaft zusammen mit der Frage, wie man die Le- Falk: Richtig. Zu dieser Frage haben wir kürzlich
benswirklichkeit der Menschen verbessern kann. ein Experiment gemacht. Ziel war es da, ein So-
Die Kombination finde ich nach wie vor wichtig, zialsystem überhaupt erst zu schaffen, bei dem die
allerdings mehr mit Blick aufs individuelle Ent- einen Transfers empfangen, während die anderen
scheidungsverhalten, um wirklich zu verstehen, diese durch ihre Arbeit finanzieren. Bevor man
warum die einzelnen Menschen so handeln, wie aber wusste, in welcher Rolle man nachher ist,
sie handeln. Heute kann man als Volkswirt beides musste man darüber abstimmen, ob es ein System
machen, kann psychologische Motive in den wirt- geben sollte, in dem Hilfeempfänger eine Gegen-
schaftlichen Entscheidungen erforschen. Wäre das leistung erbringen müssen – oder nicht. Wir fan-
immer noch unmöglich, dann wäre ich wohl auch den eine dramatisch große Zustimmung dafür.
nicht Ökonom geblieben. Und jetzt kommt das Interessanteste: Die Be-
ZEIT: Als Student hatten Sie es noch schwerer. In gründung war Fairness. Wer eine Gegenleistung
Köln wollten Sie eine Diplomarbeit über Vertrau- erbringen kann, soll das auch tun. Sehen Sie, oft
en schreiben. Aber alle Professoren lehnten ab, so- ist das, was ökonomisch sinnvoll ist, auch das, was
dass Sie etwas über Geldpolitik verfassten. Menschen als gerecht empfinden. In der prakti-
Falk: Tatsächlich hatte ich die Ursprungsidee aus schen Politik ist dann natürlich die Frage, wie
einem Bändchen von Niklas Luhmann von 1968, man Arbeitsfähigkeit feststellt, aber davon abge-
das einfach Vertrauen heißt. Ein sehr lohnendes sehen ist »Fördern und fordern« das Gegenteil
Buch, in dem er Vertrauen definierte als riskante von »unfair«.
Vorleistung. Luhmann erklärte, dass in der moder- ZEIT: Hartz IV wurde renoviert. Wo stehen Sie?
nen Wirtschaft bei allen Transaktionen Vertrauen Falk: Hartz IV soll nicht auf Dauer ein gutes Leben
eine Rolle spielt. Es war also eigentlich eine zen- garantieren, es ist eher eine Drohkulisse mit der
trale Wirtschaftsfrage. Für einen alltäglichen Auto- Funktion, die Menschen in reguläre Beschäftigung
kauf genauso wie jetzt für die Weltfinanzkrise, die zu bringen. Und Untersuchungen belegen ja, dass
auch eine Vertrauenskrise war. die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt seit den Refor-

Fotos: Michael Dannenmann für DIE ZEIT; klein: Michael Hauri/imagetrust (l.); DFG
ZEIT: Sie durften nicht – und haben doch weiter men erheblich zugenommen hat. Die Forderung
an die Ökonomie geglaubt? nach deutlich höheren Sätzen entstammt falschen
Falk: Ich habe erst mal aus Pflichtbewusstsein das Gerechtigkeitsüberlegungen, denn jeder Euro mehr
Diplom gemacht – mit einer Arbeit über Finanz- verringert den Anreiz, aus Hartz IV und der staat-
marktinnovationen in Kanada. Viel spannender lichen Abhängigkeit herauszustreben. Und darum
geht es nicht (lacht). Ich hatte muss es doch gehen.
aber immer das Gefühl, es kann ZEIT: Sie waren mal SPD-Mit-
nicht sein, dass sich Ökonomie glied. Sie wirken wie ein Schrö-
in so etwas erschöpft. der/Steinbrück-Sozialdemokrat.
ZEIT: Ein paar wie Sie gab es Falk: Ich fühle mich der Partei
damals schon. sehr nahe. Innerhalb der SPD
Falk: Ich habe dann gesehen, stehe ich insoweit eher rechts, als
dass in Zürich einiges geschah. dass ich glaube, sie darf nicht die
Da wurde ich mit offenen Ar- Partei der Desillusionierten sein,
men empfangen. Und auf ein- sondern muss die Partei der Auf-
mal konnte ich genau das ma- stiegs- und Entwicklungswilligen
chen, was ich wollte. Ernst Fehr von der Uni sein. Sie muss Perspektiven er-
ZEIT: Führende Ökonomen lo- Zürich gilt als Nobelpreis- öffnen für Menschen, die voran-
ben Sie als besonders kreativ, Kandidat. Bei ihm feierte kommen möchten. Anders als
wenn es darum geht, die richti- Armin Falk erste Erfolge andere Parteien weiß die SPD,
gen Fragen zu stellen und dafür dass es dafür öffentlicher Unter-
dann die richtigen Experimente stützung bedarf, vor allem für
zu entwickeln. sozial benachteiligte Kinder. Es wäre höchst effi-
Falk: Für Experimente muss man wissenschaftliche zient, nähmen wir dafür sehr viel Geld in die egoistisch, dann ist ohne Staat alles wunderbar. auch die Ehepartner. Risikobereite Frauen bevor-
Fragen in einfache Verhaltensprobleme übersetzen. Hand. Gute sozialdemokratische Politik ist es Der Preisträger Aber Experimente und Befragungen zeigen, dass zugen risikobereite Männer und umgekehrt.
Dafür braucht man Empathie. Jemand, der zu nicht, die Gerechtigkeitsprobleme vom Ende her Menschen beschränkt rational sind und soziale ZEIT: Je mehr Verhaltensökonomen lernen, desto
modellverliebt ist, der nicht bereit ist, sich in die zu lösen, sondern die Entstehung dieser Probleme Es ist ungewöhnlich, dass ein wissen- Motive eine wichtige Rolle spielen. Vielfach erleben vielgestaltiger präsentiert sich die Wirklichkeit.
emotionalen Verwerfungen von Entscheidungs- zu verhindern. schaftlicher Außenseiter so jung die Menschen eine Diskrepanz zwischen dem, was sie Falk: Wir können es uns nicht aussuchen. Wir kön-
problemen hineinzuversetzen, der tut sich schwer. ZEIT: Sie haben durch einen Forschungspreis und großen Preise in seinem Metier ab- eigentlich wollen, und dem, was sie tun. Sie essen nen auch nicht einfach zum alten Modell zurück, weil
ZEIT: Zwei Kategorien menschlichen Tuns haben EU-Mittel rund vier Millionen Euro für Forschung räumt. Der heute 43-jährige Rhein- und trinken mehr, kaufen Dinge, die sie hinterher es unkompliziert war. Ich bin überzeugt: Je realistischer
Sie besonders erforscht: Wagemut und unser Ver- eingesammelt. Mit einem Teil erforschen Sie nun, länder Armin Falk hat nicht nur nicht wollen. Dadurch wird eine linke Position das Menschenbild, desto besser die ökonomischen
hältnis zur Fairness. Sind Sie risikoverliebt? wie man Kindern aus benachteiligten Familien 2009 den höchstdotierten deutschen wissenschaftlich salonfähig: Der Modelle und die Politikberatung.
Falk: Auch wenn ich schon viele Tausend Men- bessere Chancen verschafft. Was hat ein Ökonom Förderpreis für herausragende Wis- Staat kann helfen. ZEIT: Angenommen, die Kanz-
schen befragt habe, ich war selbst noch nie Gegen- dazu zu sagen? senschaftler gewonnen, den Leibniz- ZEIT: Bloß sind Politiker auch lerin riefe an: Herr Falk, unser
stand meiner Studien. Falk: Ökonomen beschäftigen sich heute mit Prä- Preis, sondern auch ein Jahr zuvor Menschen und machen Fehler, Wachstum hängt von der Risiko-
ZEIT: Dann wird es höchste Zeit. ferenzen, Einstellungen, Persönlichkeit, Fähigkei- den unter Ökonomen wichtigen selbst wenn sie es gut meinen. freudigkeit der Bevölkerung ab.
Falk: Wenn ich an eine Sache glaube, bin ich risiko- ten. Und genau die bestimmen ganz wesentlich, Gossen-Preis. Und vergangene Wo- Falk: Natürlich. Man darf das Erhöhen Sie die mal. Ginge das?
bereit, tue aber nichts nur um des Risikos willen. wie groß unser Lebenserfolg ist und wie zufrieden che wurde bekannt, dass er nun auch Kind nicht mit dem Bade aus- Falk: Das ist keine sinnvolle Auf-
Auf einer Skala von 0 (gar nicht risikobereit) bis wir sind. In Deutschland hängt der Bildungserfolg den Yrjö Jahnsson Award erhält, die schütten. Märkte und Wettbewerb gabe, weil wir gar nicht wissen, ob
10 (sehr risikobereit) bin ich eine 8. besonders stark von der Bildung der Eltern ab. wichtigste Anerkennung für europäi- sind zentral für Wohlstand. Und mehr Risikofreude unter dem
ZEIT: Kommen wir zur Fairness. Sie unterscheiden Wer mehr soziale Mobilität will, muss fragen, wie sche Ökonomen unter 45. Falk ist doch gibt es Korrekturbedarf. Strich gut ist. Vielleicht bekäme
zwischen Menschen, denen Fairness ein Anliegen die entscheidenden Fähigkeiten entstehen – wie der erste deutsche Preisträger. Nehmen Sie die Lebensmittel- man mehr Wachstum, aber auch
ist, und echten Egoisten. Unter den fairen Typen man deren Entwicklung durch Interventionen im Zwar hat er sich vom ersten Preisgeld ampel. Rot, Gelb, Grün: Quatsch, Falk erhält den Leipniz- mehr Alkoholiker und Unfalltote.
gibt es wieder zwei Gruppen: Die einen wehren frühkindlichen Lebensabschnitt positiv beein- auch vorlesungsfreie Semester ge- hätte man früher gesagt, das regelt Preis von Matthias Kleiner, Man sollte ohnedies nicht ver-
sich vor allem, wenn andere unfair sind, andere flusst. Wir erforschen das konkret anhand von gönnt. Aber der Mann für die richti- der Markt. Doch das tut er eben dem Chef der Deutschen suchen, ganze Bevölkerungsgrup-
gehen selbst mit gutem Beispiel voran. Und Sie? Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen. gen Fragen lebt deswegen noch lange nicht, die Industrielobby interve- Forschungsgemeinschaft pen zu indoktrinieren. Beim Tele-
Falk: Ich würde nicht sagen, dass ich ein knallharter ZEIT: Was meinen Sie mit »Intervention«? nicht im Elfenbeinturm. Sein Institut niert, wo sie kann, und die Kon- fonat würde ich dann sagen, dass
Egoist bin. Ich neige zu reziprokem Verhalten, wie Falk: Mentorenprogramme für diese Kinder zum an der Bonner Universität liegt in sumenten sind nicht so schlau wie sich der untere Teil der Gesellschaft
wir das nennen, positiv wie negativ. Ich bin bereit, Beispiel. Wir wollen sehen, ob dadurch mehr Fä- einem alten Reihenhaus nahe dem gedacht. Zu helfen ist sinnvoll. Und der Aufschrei zunehmend ablöst. Hier versäumen wir es, grund-
jemandem etwas Gutes zu tun, wenn er mich vor- higkeit zur Selbstkontrolle entsteht, mehr Risiko- Juridicum. Drinnen herrscht Betrieb- der Industrie zeigt ja die Wirkung. legende Fähigkeiten mit Nachdruck zu fördern. Die
her anständig behandelt hat. Werde ich dagegen bereitschaft, aber auch mehr Empathie mit ande- samkeit unter den vielen jungen For- ZEIT: Sie sind ein Verhaltensforscher. Wo hat Ihr Politik sollte sich übrigens öfter melden. Ökonomen
unfair behandelt, dann reagiere ich abweisend. ren und mehr Selbstvertrauen. schern, und Falk ist mittendrin. Zum Proband, der Mensch, Sie besonders überrascht? können viel zu einer besseren Politik beitragen.
ZEIT: Das sind Grundregungen der Gerechtigkeit. ZEIT: Immer gab es auch linke Ökonomen in der Essen geht es ins Studentenlokal um Falk: Ein Beispiel: Wir haben in einer repräsenta- ZEIT: Der Junge aus Bergisch Gladbach hat sich
Falk: Sie gehören zu den wichtigsten Motiven, ja. Bundesrepublik. Aber ein sozialdemokratischer die Ecke. tiven Studie untersucht, inwiefern Kinder ihren durchgesetzt. Aber hat die Ökonomie auch seine
Die positive Reziprozität wird in der Gesellschaft Ökonom, der große Auszeichnungen wie den Und langsam merkt man, wie Armin Eltern in ihrer Risikobereitschaft ähneln. Wir fan- Hoffnungen erfüllt, die Lebensumstände der Men-
oft von uns erwartet, die negative ist stärker von Leibniz-Preis abräumt – das ist neu. Falk als Chef und Forscher funktio- den dabei heraus, dass Risikoeinstellungen über schen zu verbessern?
der Evolution geprägt. Aber die ist auch wichtig. Falk: Tatsächlich ist die deutsche Ökonomenzunft niert. Er begeistert, weil er sich be- verschiedene Lebensbereiche sehr verschieden Falk: Ökonomie ist schon das Richtige für mich.
Es ist individuell manchmal von Vorteil, wenn die stark durch den Liberalismus geprägt. Aber heute geistert. An realen politischen Fragen sind. Ein und derselbe Mensch ist vielleicht über- Man kann innovative Ideen ausprobieren und wird
anderen wissen, sie können einem nicht auf der erleben wir eine Öffnung. Die wissenschaftlichen genauso wie an ökonomischen oder aus risikobereit, wenn es um finanzielle Dinge durch die hohen Standards einer gestandenen
Nase rumtanzen. Sie können einem nichts weg- Befunde der Verhaltensökonomik zeigen, dass nicht philosophischen Problemen. Die geht, aber gar nicht bei Gesundheitsfragen. Bei ei- Wissenschaft diszipliniert. Aber ob ich immer als
nehmen ohne ernste Konsequenzen. alle Menschen eigennützig und rational sind. Und Wirklichkeit ist für ihn kein Störfall, nem anderen ist es umgekehrt. Interessanterweise Wissenschaftler arbeite, weiß ich noch nicht. Ich
ZEIT: Diese Reziprozität verändert das Menschen- genau aus dem Rationalitätsglauben ergab sich ja sondern ein Faszinosum. Könnte wird das gesamte Einstellungsprofil von Eltern auf kann mir auch etwas ganz anderes vorstellen.
bild der Ökonomen. Ändert sie auch wirtschafts- das weitverbreitete Dogma gegen staatliches Han- sein, dass er sie deswegen nachhaltig die Kinder übertragen. Im Schnitt sind wir unse-
und sozialpolitische Antworten? deln. Sind Märkte perfekt und Menschen rational- verändert. UJH ren Eltern also sehr ähnlich. Übrigens ähneln sich Das Gespräch führte UWE JEAN HEUSER
WISSEN
KINDERZEIT
Hoffnung im Gepäck: Was es bedeutet,
Flüchtling zu sein S. 47
Kinder- und Jugendbuch S. 48

12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 37

P L A G I AT S A F FÄ R E

Doktor-Prüfung
Der Fall zu Guttenberg zeigt: Eine
Refom der Promotion ist nötig
Die Universität Bayreuth ist sich sicher:
»Nach eingehender Würdigung der gegen
seine Dissertationsschrift erhobenen Vor-
würfe stellt die Kommission fest, dass Herr
Freiherr zu Guttenberg die Standards guter
wissenschaftlicher Praxis evident grob ver-
letzt und hierbei vorsätzlich getäuscht hat.«
Ist mit der Veröffentlichung des voll-
ständigen Kommissionsberichts am Mitt-
woch dieser Woche der Fall erledigt? Das
System hat den Sünder überführt und be-
straft. Hat es damit bewiesen, dass es selbst
ohne Fehler ist? Viele Hochschulrektoren
zeigen öffentlich ihr Entsetzen über die Af-
färe. Manch einer hat sich klammheimlich
bei seinen Professoren erkundigt, ob auch
der eigenen Uni Skandale drohen. Nach-
haltige Konsequenzen aus dem Fall aber hat
bisher keine Universität gezogen.
Dabei haben nicht nur Guttenberg

Foto: Philipp Wente für DIE ZEIT/www.philippwente.com


selbst, sein Doktorvater oder dessen Fakul-
tät versagt. Beispielhaft zeigt der Fall, dass
sich das System der Promotion in Deutsch-
land überlebt hat und reformbedürftig ist.
So vergibt Deutschland als eines von
wenigen Ländern Noten für Doktorarbei-
ten. Dass mehr als die Hälfte der Disserta-
tionen mit »ausgezeichnet« oder »sehr gut«
bewertet werden, sagt mehr über die Nähe
von Doktorvater und Doktorand als über
die Leistung des Promovenden.
Externe Doktoranden sind oft nicht eng
genug in den wissenschaftlichen Betrieb
eingebunden. Aber nur dann lernen sie wis-
Bernd Linde leidet an Alzheimer, seine Frau Beate pflegt ihn (siehe Seite 40). Der Fotograf Philipp Wente hat sie für uns begleitet senschaftliche Standards in der Praxis ken-
nen und können ihre Erkenntnisse in in-
tensiven Debatten auf die Probe stellen.
Vor allem aber sollten jene Doktorarbei-

Damit die Würde bleibt


ten, die nicht zum Erkenntnisfortschritt
beitragen, sondern höchstens einen Tür-
schildtitel rechtfertigen, von echten Doktor-
arbeiten unterschieden werden. Der Wissen-
schaftsrat hat für die Medizinerausbildung
schon vor Jahren einen entsprechenden Vor-
T I T E LG E S C H I C H T E Die Diagnose Alzheimer löst oft Horrorvorstellungen aus. Dabei kann man auch mit dieser schlag gemacht. Es ist höchste Zeit, ihn um-
zusetzen. ANDREAS SENTKER
Krankheit Freude am Leben haben. Ein Plädoyer für einen neuen Blick VON THOMAS VAŠEK

M
Mehr als eine Million it ihm sei es wie mit einer Zimmermann will raus aus seiner Burg. An schlech- Toten«, von »welken Hüllen«, die sinnlos dahinvege-
Menschen in Deutschland
Sandburg, sagt Christian ten Tagen, erzählt er, steige die Angst in ihm hoch. tierten. Man denkt an sabbernde Greise, die lallend Fleischfrei fahren
Zimmermann: »Ständig brö- Dann kommt es vor, dass wieder etwas abbröckelt, durch die Altenheime irren. Die im Nachthemd auf
sind von Demenz betroffen – ckelt etwas ab.« Doch die dass ihm Namen, Orte und Begriffe verloren gehen. die Straße laufen, die ihre engsten Angehörigen nicht Womöglich liegt doch ein Fluch auf der
Tendenz steigend. Jetzt Burg, die sei »standhaft«, die Er sucht die Schlüssel, das Handy, das Portemonnaie; mehr erkennen und am Ende nicht mal mehr sich Müngstener Brücke. Die höchste Eisen-
sei immer noch da. Zimmer- lässt die Einkaufstüte im Supermarkt liegen oder selbst. Alzheimer, dieses Schicksal möchte niemand bahnbrücke Deutschlands überspannt die
ergründet die Forschung, wie mann spricht gern in Bildern. bringt die falschen Dinge nach Hause. erleiden. Gunter Sachs hat sich – so schreibt er in Wupper, seit 1897. Die damals schier unglaub-
die Kranken die Welt erleben Seine Bilder helfen ihm, sich verständlich zu machen, An guten Tagen malt er, geht mit Freunden spa- seinem Abschiedsbrief – aus Angst vor »der ausweg- liche Konstruktion reizte zur Legendenbil-
wenn er wieder einmal die Worte nicht findet. Wenn zieren – oder berichtet anderen von seiner Situation. losen Krankheit A.« erschossen. Der Tod schien ihm dung: Der Baumeister
(diese Seite). Wie man gut ihm die Sätze, die Gedanken auseinanderfallen. Eigentlich sei es die »bestbetreute Zeit« seines Le- die bessere Alternative. HALB habe falsch gerechnet,
mit ihnen umgeht, hat unser Seit vier Jahren lebt der 62-Jährige mit der Dia- bens, sagt Zimmermann. Manchmal schaue er in Doch Menschen mit Demenz (von der es neben WISSEN ein Teil der Brücke
Autor in einem besonderen gnose Alzheimer. Vorher arbeitete er in seinem Be- seiner alten Firma vorbei. Immerhin erkenne er noch dem Alzheimer-Typ noch andere Formen gibt) erle- habe abgerissen werden
trieb, der auf die Herstellung von Kunststoffspiegeln heute, wenn die Mitarbeiter wieder einmal etwas ben sich selbst keineswegs nur im Zustand abgrund- müssen. Oder: Der Baumeister habe richtig
Heim erfahren (Seite 39). spezialisiert ist. Irgendwann machte er plötzlich Feh- falsch zusammenbauten – obwohl er es selbst nicht tiefer Verzweiflung. Wie Befragungen zeigen, finden gerechnet, aber falsch nachgerechnet und
Und dass auch pflegende ler, einmal sägte er sich fast den Finger ab. Beim mehr zusammenbrächte. Es freut ihn, wenn die Leu- sie durchaus noch Freude am Leben. Ihre Zufrieden- sich aus Scham über den (falschen) Fehler in
Autofahren verlor er die Orientierung, überfuhr te überrascht reagieren. Man müsse die Krankheit heit hängt ab von erfüllenden Tätigkeiten, von der den Tod gestürzt, natürlich von der halb fer-
Angehörige Hilfe brauchen Bordsteinkanten. Eines Tages fiel er aus der Dusch- eben »überlisten«, diesen Alzheimer »übermalen«, so Bindung an Familie und Freunde, vom Gefühl, doch tigen Brücke. Alles falsch. Richtig dagegen ist
und wie man mit einem kabine, einfach so. Der lange Weg durch die medizi- wie es ein Maler mit einem schlechten Bild mache. noch irgendwie gebraucht zu werden. die Meldung über die jüngste Fehlkalkula-
dementen Partner Urlaub nische »Maschinerie« begann, bis ihm der Neurologe Und wenn die Leute im Supermarkt mal wieder Die medizinische Diagnostik nimmt allerdings tion: Nachdem die Deutsche Bahn die Brü-
ein Bild seines atrophierten Gehirns zeigte. »Dann grantig werden, weil er so lange zum Einpacken vor allem die Defizite in den Blick: den schleichen- cke saniert hatte, beantragte sie die Freigabe
macht, lesen Sie auf Seite 40. sitzt man da und schaut«, sagt Zimmermann und braucht, erklärt er einfach, er habe Alzheimer. »Dann den, jahrelangen Prozess der Hirnveränderung; die für Personenzüge bis 72 Tonnen. So viel etwa
Praktische Tipps und macht eine lange Pause. reagieren die immer ganz betroffen und packen mit Gedächtnisprobleme und Wortfindungsstörungen, wiegen die Züge – ohne Personen. Mit Fahr-
Informationen zum Thema: Mit Dreitagebart und Nickelbrille sitzt er am mir zusammen die Tüte ein.« die irgendwann so groß werden, dass die Betroffenen gästen (Fachjargon: Fleischgewicht) sind sie
Küchentisch seiner Dachwohnung im Münchner Alzheimer – schon der Begriff löst bei vielen Hor- zehn Tonnen schwerer. Nun wird über-
www.zeit.de/alzheimer Stadtteil Haidhausen und redet über seine Krankheit. rorvorstellungen aus. Es ist die Rede von »lebenden Fortsetzung auf S. 38 brückt, per Schienenersatzverkehr. SAM
38 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 T I T E LG E S C H I C H T E : Die Angst vor Alzheimer WISSEN
Foto [M]: Philipp Wente für DIE ZEIT/www.philippwente.com

Fortsetzung von S. 37 Ich fühle mich wie ein Außenseiter.« Andere er- Berührung bleibt wichtig – auch Spielerisches – abwechselnd produzierten die bei- Nach ihrer These machen schwer demenzkranke
klärten, sie seien »ein Haufen Mist« – oder eine wenn die Sprache verloren geht den ihre Töne und lachten immer wieder dabei. Menschen durchaus Sinnerfahrungen. Natürlich
nicht mehr selbstständig leben können; der schließ- »seltsame Kreatur«, die irgendwie auf die Erde ge- Solche Erlebnisse zeigen: Trotz ihres devastier- könne jegliche Interpretation solcher Handlungen
liche Verlust der Sprache, zunehmende körperliche kommen sei: »Aber ich weiß nicht, wer das ist.« ten Gehirns sind die Äußerungen demenzkranker von außen fehlgehen. Doch indem wir Demenz-
Probleme bis hin zur Inkontinenz und Bettlägerig- Demenzkranke Menschen entwickeln aber Menschen keineswegs reflexhaft oder beliebig. Sie betroffene überhaupt als »Sinnsucher« anerkennen,
keit; das Endstadium mit künstlicher Ernährung. auch Strategien, um mit dem fortschreitenden folgen vielmehr, wie die Heidelberger Wissen- so meint Bär, können wir die kognitive Ungleich-
Selten ist in diesem Zusammenhang davon die
Rede, dass Demenzkranke häufig mehr Fähigkei-
geistigen Verfall zurechtzukommen. Während ei-
nige ihre Krankheit herunterspielen oder so lange
Hirn und Person schaftler nachwiesen, einer bestimmten Logik.
Das erschüttert allerdings die traditionelle Vor-
heit überwinden – und damit das Gefühl der
Fremdheit, das uns von ihnen trennt.
ten haben, als wir ihnen gemeinhin zutrauen. Auch wie möglich zu verstecken suchen, setzen sich Mit der Alzheimer-Krankheit, so stellung, die Autonomie einer Person basiere ledig-
in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit die anderen aktiv damit auseinander, gehen in scheint es, geht die Person für sich lich auf ihrer rationalen Fähigkeit zum Planen und Durch das Erzählen erschaffen wir
können sie mitteilen, was ihnen wichtig ist, was sie Selbsthilfegruppen, beteiligen sich an Forschungs- selbst und ihre Angehörigen verloren. Entscheiden. Die Philosophin Agnieszka Jaworska unser Selbst. Dazu braucht es Zuhörer
wollen und was nicht. Und selbst schwerst de- projekten. Manchen gelingt es sogar, mit ihren Aber was macht die Person aus? Tra- von der Universität Stanford etwa argumentiert,
menzkranke Menschen haben – wie neuere Studien Defiziten humorvoll umzugehen. Oft helfen die ditionell sind unsere Konzepte von Autonomie sei weniger eine Sache des rationalen Menschen sind im Kern »narrative« Wesen: Mit
zeigen – noch immer ein subjektives Erleben und intakten Langzeiterinnerungen. Aus der Rück- Autonomie und Personalität eng ge- Urteilsvermögens, sondern eher der Fähigkeit, unseren Geschichten erzählen wir uns und ande-
einen Rest von Selbst. Dieser andere Blick auf die schau auf ihr früheres Leben schöpfen viele neues knüpft an das Vernunftvermögen. etwas als »wichtig« ansehen zu können. Und diese ren, wer wir sind. Unser Selbst steckt demnach
Alzheimerkrankheit legt nahe, dass wir Menschen Selbstwertgefühl. Der englische Philosoph John Locke Fähigkeit besäßen selbst hochdemente Menschen: nicht in einem bestimmten Hirnareal, sondern es
mit Demenz als Personen ernst nehmen müssen – So hatte eine scheinbar völlig apathische Heim- definierte im 17. Jahrhundert die Per- Mit ihren Emotionen brächten sie weiterhin ihre besteht aus einem Netz all der Geschichten, aus
und dass wir ihnen Selbstbestimmung zugestehen bewohnerin zeitlebens ihren Beruf als Schreibkraft son als »denkendes, verständiges We- Wertvorstellungen zum Ausdruck, auch wenn denen wir unsere Identität immer wieder neu zu-
sollten, solange sie dazu noch irgendwie in der geliebt. Als ihr die Forscher eine alte Schreib- sen, das Vernunft und Überlegung ihnen jegliche Möglichkeit fehlte, diese in Han- sammenweben. Demente Menschen tun im
Lage sind. maschine und Papier gaben, fing die Frau nach besitzt und sich selbst als sich selbst deln umzusetzen. Grunde nichts anderes. Nur müssen sie immer
Mehr als eine Million demenzbetroffene Men- kurzer Zeit zu tippen an, bis am Ende alle Blätter betrachten kann«. Nach Kant ist es Die Frage nach der Autonomie von Demenz- wieder neue Geschichten erfinden, weil sie ihre
schen leben derzeit in Deutschland. Bis zum Jahr vollgeschrieben waren. Auf dem Papier stand zwar die Vernunftfähigkeit, die mensch- kranken treibt ebenso den Deutschen Ethikrat früheren Rollen nicht mehr ausüben können.
2050 soll sich die Zahl mehr als verdoppeln. Jeder nur Buchstabensalat. Doch als die Frau das letzte liche Personen von den Tieren unter- um. Wie zum Beispiel soll eine frühere Patienten- Marion Bär erzählt etwa von einer Heimbe-
dritte Mann, jede zweite Frau könnte – so warnt Blatt ausgespannt hatte, atmete sie tief ein, strahlte scheidet – und damit ihre Autonomie verfügung interpretiert werden, wenn ein schwer wohnerin, die mit leuchtenden Augen ihre Tätig-
die Deutsche Alzheimer Gesellschaft – im Laufe plötzlich übers ganze Gesicht und sagte nur: »Da und letztlich ihre Würde begründet. Demenzkranker erkennen lässt, dass er nun ei- keit als Sekretärin in der Einrichtung beschrieb,
des Lebens an einer Demenz erkranken. Und da hast du aber was weggeschafft.« Heute bestimmen Philosophen das gentlich doch weiterleben möchte? Was ist sein obwohl sie dort nie irgendwelche Arbeiten über-
uns die Medizin wenig Hoffnung auf eine wirk- Von »Selbstaktualisierung« spricht Andreas Personsein auf der Basis von Krite- »autonomer« Wunsch? Oder: Wann überwiegt das nommen hatte. Ihr Sinnpotenzial verwirkliche
same Therapie macht, folgt daraus zwangsläufig: Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie an rien, zu denen meist unabdingbar Ra- Fürsorgeprinzip, wann muss man dem Kranken sich durch das Erzählen, meint Bär: Sie erschafft
Wir müssen lernen, mit demenzkranken Men- der Universität Heidelberg. In jeder Person gebe es tionalität und Selbstbewusstsein ge- Selbstbestimmung zugestehen? Solche Fragen sind sich gleichsam eine neue Geschichte – und damit
schen zu leben und nicht nur über sie zu reden, etwas, das Kontinuität zeige bis zuletzt. Das See- hören. Menschen mit Demenz fallen von drängender Relevanz: Tagtäglich laufen Pflege- ein neues Selbst.
sondern mit ihnen. lische drücke sich aus, es teile sich mit – auch wenn tendenziell aus diesem Personen- personen und Angehörige Gefahr, die Selbstbestim- Doch wer erzählt, der braucht Zuhörer. Nur im
»Wir stehen mitten in einem großen Verände- es sich bei Menschen mit schwerer Demenz nur begriff heraus. mung demenzkranker Menschen einzuschränken sozialen Raum, im Austausch mit anderen, mit un-
rungsprozess«, sagt Peter Wißmann, Herausgeber noch situativ äußere, für einen Augenblick. Um Der Oxforder Ethiker Jeff McMahan – aus Überfürsorglichkeit, aus Achtlosigkeit oder serer Unterstützung können Menschen mit Demenz
des Demenz-Magazins, das über Fragen des Um- solche Formen der »Selbstaktualisierung« aber etwa sieht Demenzbetroffene als schlicht aus Zeitmangel. ihren Sinn verwirklichen – und ihr Selbstgefühl auf-
gangs mit den Betroffenen berichtet. Die Gesell- wahrzunehmen, müssten wir uns ebenso bemü- »Post-Personen«, die moralisch keine Doch die Positionen zur Frage der Autonomie rechterhalten. Es liegt also an uns, die Vergesslichen
schaft dürfe Menschen mit Demenz nicht länger hen, die Emotionen, Empfindungen und sozialen Personen im eigentlichen Sinn mehr sind im Ethikrat gespalten. Die einen argumentie- an ihr Selbst zu erinnern. Wir alle schreiben mit an
»ins Abseits der Krankheit und Pflegebedürftig- Bedürfnisse der Betroffenen zu erfassen. seien, und sein Kollege ren, wer kein Reflexionsvermögen mehr besitze, ihren Geschichten. Das allerdings zwingt zum genau-
keit« schieben. Immer mehr Betroffene gehen mit In den vergangenen Jahren sind die Heidelber- Peter Singer von der könne keinen »Gesamtbegriff seiner Situation« en Zuhören, zum Verstehenwollen, es erfordert Ent-
ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Statt den ger Wissenschaftler auch in die Erlebenswelt jener Universität Prince- mehr fassen. Folglich sei ein solcher Mensch nicht schleunigung, Toleranz und Empathie.
Blick nur auf die Krankheit zu richten, so lautet Demenzkranken vorgedrungen, die sich nicht ton spricht deshalb mehr selbstbestimmungsfähig. Eine frühere Patien- Es dauert manchmal quälend lange, bis Chris-
ihre Botschaft, sollten wir uns mehr auf die Men- mehr sprachlich äußern können. Per Videokamera schwer demenzkran- tenverfügung, im Vollbesitz der geistigen Kräfte tian Zimmermann, der Demenzbetroffene in
schen dahinter konzentrieren. beobachteten die Forscher demente Heimbewoh- ken Menschen das festgelegt, habe daher Vorrang, auch wenn der München-Haidhausen, einen Satz zu Ende bringt.
ner in verschiedenen Alltagssituationen – wenn sie Personsein überhaupt Kranke später andere Präferenzen zeige. Andere Manchmal findet er den Spickzettel nicht, auf den
Die Demenz rührt an das Menschenbild Besuch von Verwandten bekamen, in ihrer Lieb- ab. Das passt zusammen Experten halten dagegen: Demenzkranke Menschen er sich etwas notiert hat. Mitunter liegt die Schwie-
der Leistungs- und Wissensgesellschaft lingszeitschrift blätterten oder am Fenster standen mit der Auffassung mancher Hirn- seien selbst in späten Phasen der Erkrankung noch rigkeit aber auch bei seinem Gegenüber. Als Inter-
und die Vögel beobachteten. Dabei wurden zu- forscher, nach der wir nichts anderes in der Lage, Situationen zu bewerten und ihren viewer etwa wird mir plötzlich bewusst, wie ich
Vor 30 Jahren erstritten sich behinderte Menschen nächst die mimischen Ausdrucksmuster auf- sind als ein hochkomplexes Netzwerk eigenen Willen zu äußern – und sei es am Ende nur selbst überdeutlich spreche. Wie ich auf seine De-
die gesellschaftliche Anerkennung. Aus den »Krüp- gezeichnet, vom kleinsten Stirnrunzeln bis zum von Nervenzellen. Wenn das Gehirn noch durch mimische Reaktionen. fizite achte. Die Wortfindungsstörungen. Die
peln« von einst sind weitgehend gleichberechtigte Anflug eines Lächelns; dann ordneten die Forscher zerstört ist, so folgt aus dieser Sicht, ist »Wer eine Patientenverfügung unterzeichnet, Wiederholungen. Hat er mich richtig verstanden?
Dialogpartner geworden. Heute geht es um die diesen Mustern Basisemotionen wie Freude, Ärger auch die Person zerstört. In der Sum- hat keine Vorstellung davon, wie es tatsächlich ist, Als ich später das Band abhöre, wundere ich mich
Rechte von Menschen mit Demenz. »Wir verletzen oder Traurigkeit zu. me läuft eine solche »Entpersonalisie- dement zu sein«, sagt etwa der Psychiater Hans weniger über seine klugen Antworten als über die
tagtäglich die Menschenwürde von Demenzkranken«, »Auch schwerst demenzkranke Menschen ver- rung« darauf hinaus, den Würde- Lauter, Mitbegründer der Alzheimer Gesellschaft. Banalität meiner Fragen.
sagt der Bonner Gerontopsychiater Rolf Hirsch. fügen über ein höchst differenziertes emotionales anspruch von Demenzkranken zu Statt verbindlicher Verfügungen fordert er ein Wer wirklich zuhört, kann von Menschen wie
Schätzungen zufolge ist jeder dritte Pflegeheimbe- Erleben«, fasst Kruse das Ergebnis seines Projekts relativieren – und damit auch unsere »ethisches Konzil« aus Angehörigen und Ärzten, Zimmermann lernen – von ihrer Kreativität, von
wohner in Deutschland von freiheitsentziehenden zusammen. Wenn die Menschen Zuwendung und gesellschaftlichen Verpflichtungen ge- das im Ernstfall das Für und Wider weiterer medi- ihrem Humor, von ihren Bildern. Klar, irgend-
Maßnahmen betroffen: An ihren Betten werden Ansprache bekämen, zeigten viele Ausdrücke von genüber den Betroffenen. zinischer Maßnahmen abwägen soll. wann sei seine »Sandburg« abgebröckelt, sagt Zim-
Gitter angebracht, ihre Türen werden verschlossen, Freude oder Wohlbefinden, ebenso wenn sie ihren Doch unter Akademikern regt sich Die Philosophin Agnieszka Jaworska geht noch mermann. In solchen Momenten frage er sich zum
oder man stellt sie mit Psychopharmaka ruhig. Über- Lieblingsaktivitäten nachgingen. Hingegen rea- Widerstand gegen diese eindimensio- einen Schritt weiter: Sie plädiert dafür, Demenz- Beispiel, ob er nicht doch was falsch gemacht habe
all fehlt es an Geld und an Personal. Doch wer die gierten sie verärgert, wenn man sie zu etwas dräng- nale Sicht auf die Person. »Unser kranke auch im täglichen Leben in ihrer Autonomie- mit seiner Burg, die er einst so akribisch geplant
Demenz nur auf ein Pflegeproblem reduziert, der te oder nötigte. Selbstverständnis an das Gehirn zu fähigkeit gezielt zu fördern, indem man ihnen hilft, hatte. Mit seinem Leben. »Das schleppst du immer
redet am eigentlichen Notstand vorbei. Trotz weit fortgeschrittener Demenz, glaubt knüpfen beraubt uns der Ganzheit nach ihren noch verbliebenen Wertvorstellungen zu mit. Das kriegst du voll rein. Dann reißt das Seil.
Die Alzheimerkrankheit rührt auch an unser Kruse, hätten diese Menschen ein intuitives Emp- des Lebendigen«, sagt etwa der Hei- leben. Ein früherer Wissenschaftler etwa, der selbst Erinnern oder Vergessen, das ist der Knackpunkt.«
Menschenbild, das sich einseitig am kognitiven finden, dass sie selbst es sind, die eine Handlung in delberger Psychiater und Philosoph an Alzheimer erkrankte und nun an einem Demenz- Stellen wir uns ähnliche Fragen nicht alle? Und
Leistungsvermögen orientiert: Wer geistig nicht Bewegung setzen – und nicht jemand anderer. Thomas Fuchs. Ihm zufolge ist die Forschungsprojekt teilnahm, zog daraus tiefe Be- haben wir nicht alle womöglich auf Sand gebaut?
mehr folgen, wer nicht mehr sinnvoll kommuni- Wegen ihrer kognitiven Defizite neigten wir aller- Person im wesentlichen »verkör- friedigung. Obwohl er kaum noch verstand, worum Schließlich gehört der Verfall, das »Abbröckeln«,
zieren kann, der droht aus der menschlichen Ge- dings dazu, die Fähigkeiten von Demenzbetroffe- pert«: Das Selbst steckt nicht nur im es in dem Projekt überhaupt ging, steigerte die bloße zu jeder Existenz. Solange die Burg bröckelt, ist sie
meinschaft herauszufallen. Schon sprechen einige nen zu unterschätzen, sagt Kruse. Dabei besäßen Gehirn, sondern verwirklicht sich in Mitwirkung sein Selbstwertgefühl: Als Projektteil- noch da. In diesem Punkt sind alle Menschen
Philosophen Menschen mit schwerer Demenz den sie oft noch Ressourcen und Potenziale, die ge- unseren leiblichen Interaktionen mit nehmer könne er »viel mehr machen«, erklärte der gleich – mit oder ohne Demenz. Uns alle eint un-
Personenstatus ab (siehe Kasten). Da ist der Schritt weckt werden könnten. der Welt. Diese Erfahrungen schlagen Mann – im Heim hingegen sei er »nichts«. ser emotionales Erleben, das soziale Bedürfnis, die
nicht mehr groß vom Menschen zur Sache, vom Das erlebte zum Beispiel die schottische Psy- sich nieder in Gewohnheiten, in ei- Nach Auffassung des amerikanischen Psychia- Suche nach Sinn. Was uns trennt, sind unsere
»Jemand« zum »Etwas«. chologin Maggie P. Ellis, die das Kommunikations- nem »Leibgedächtnis«, das für ters Steven Sabat sind Menschen mit Demenz im- unterschiedlichen kognitiven Defizite. In den
Dabei hat die Wissenschaft gerade erst begon- verhalten einer schwerst demenzkranken, bett- Fuchs die Kontinuität einer Person mer noch »semiotische Subjekte«, also sinngeleite- allerletzten Phasen der Krankheit kann es sein,
nen, das persönliche Erleben von Demenzkranken lägerigen Frau studierte. Schon vor Jahren hatte ausmacht. te Wesen, die ein Anliegen, einen Sinn verfolgen dass wir bei einem dementen Menschen nichts
zu erforschen – ihre Ängste, ihre Freuden, ihren diese ihr Artikulationsvermögen verloren, sie rea- Daher lasse sich unsere subjektive Er- – auch wenn es für Außenstehende oft schwierig Kognitives mehr finden, kaum noch Emotionen
Blick auf die Welt. Forscher der Universität Ban- gierte auf keine normale Ansprache mehr. Manch- fahrung nicht auf das Gehirn und die ist, diesen Sinn zu entschlüsseln. Was etwa soll oder einen Ausdruck von Selbst. Aber wir dürfen
gor in Wales etwa befragten Heimbewohner mit mal allerdings stieß sie einen durchdringenden Ratio reduzieren, argumentiert Fuchs. man von der Heimbewohnerin halten, die aus nicht aufhören, danach zu suchen.
leichter bis mittelschwerer Demenz. Was sie in den hohen Ton aus. Als Ellis den Ton nachahmte, hob Vielmehr müssten wir auch demenz- dem Kaffeegeschirr kleine Bauwerke errichtet?
Interviews zu hören bekamen, war zum einen be- die Frau ihren Kopf und rieb ihn an der Hand der kranke Menschen als Personen be- Oder von dem Mann, der ständig mit dem Roll- Thomas Vašek, Journalist und Buchautor (»Seele.
drückend. Viele Betroffene äußerten Gefühle von Forscherin. Als diese sich zu ihr herabbeugte und trachten, die ihr Selbst in ihren leib- stuhl unterwegs ist, um nach Gegenständen zu Eine unsterbliche Idee«) kennt die Demenzproblematik
Angst, Entfremdung und Einsamkeit. »Ich fühle sich die beiden Köpfe berührten, schaute die de- lichen Beziehungen mit der Welt fahnden, die er in ihre Einzelteile zerlegen kann? aus der eigenen Familie. Sein Vater erkrankte vor Jahren
mich so allein hier. Ich weiß nicht, was los mit mir mente Frau überrascht und gab wieder ihren Ton realisieren können – wenn man sie Die Heidelberger Gerontologin Marion Bär an frontotemporaler Demenz, ist mittlerweile sprach-
ist. Warum die Leute nicht mehr mit mir reden. von sich. Plötzlich bekam die Interaktion etwas denn lässt. TV hat solche Verhaltensweisen zu deuten versucht. und bewegungsunfähig und wird zu Hause gepflegt
WISSEN T I T E LG E S C H I C H T E : Die Angst vor Alzheimer 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 39

Foto [M]: Philipp Wente für DIE ZEIT/www.philippwente.com


Z
um Glück hört mich keiner. Was für Mittags wird es voll im Bereich Licht. Auch in den Spielerische Tagesgestaltung: Bernd Vielleicht ist dieser Kontakt durch die Berüh- Wertschätzung, Respekt, Achtung: klingt gut,
einen Blödsinn ich rede: »Café au lait, Abteilungen Luft, Wasser und Erde sammeln sich Linde mit anderen Erkrankten rung zustande gekommen. Nicht immer versteht doch im Alltag stellen sich da viele Fragen. So dis-
pardon madame, la France, en vacances, jetzt Freiwillige. Mit den Festangestellten allein ließe man, was gerade als Schlüssel gewirkt hat. Frau kutiert Jenny Sauerwald mit ihren Mitarbeitern
ja, jetzt kommen die Motorräder aus sich das Arbeitspensum überhaupt nicht bewältigen Barnstedt besucht ihren Mann hier im Haus im gerade, ob man Demenzkranken in ihrer letzten
der Garage, Lederjacke an, Helm auf, – die Hälfte der Bewohner hat die Pflegestufe 3+, das Park sechs Tage in der Woche. Das Heim ist ihr Lebensphase noch die für alle so mühsame tägliche
merci, monsieur, voilà, mon Dieu, brumm, brumm, bedeutet besonders hoher Pflegebedarf. Für die ins- zweites Zuhause geworden, sie sagt: als wir hier komplette Körperreinigung und das aufwendige und
die dicke BMW, auf nach Dangast, ans Meer, da gesamt 61 Bewohner gibt es eine knappe Hundert- eingezogen sind. Hier ist der einzige Ort, an dem oft schmerzvolle Anziehen zumuten soll. Traditio-
halten wir an und trinken einen Kaffee.« schaft an Freiwilligen, die von einem eigenen Verein, sie keine Schuldgefühle plagen, weil sie ihren nelle Pflege und die Angehörigen wollen das so – die
Bremerhaven, Haus im Park, das »Zuhause für dem Solidar e. V., betreut werden. Mann ins Heim gegeben hat. Seit fünf Jahren re- Frauen müssen adrett sein, die Männer mindestens
Menschen mit Demenz«. Ein lichtdurchflutetes, Das Haus im Park ist ein in vielerlei Hinsicht det Herr Barnstedt nicht mehr. Doch an seinem ein gebügeltes Hemd tragen. Könnte man sich auf
in freundlichen Farben gehaltenes zweigeschossiges außergewöhnliches Haus. Unter anderem verzich- 90. Geburtstag drehte er sich ohne erkennbaren T-Shirt und Trainingshose beschränken, ließen sich
Haus in U-Form, drumherum ein großer Garten, tet man – im Gegensatz zu den meisten Einrich- Auslöser zu ihr und sagte: »Hallo, was machst du mehr Zeit und Kraft in die Mahlzeiten investieren
an den der Bürgerpark anschließt. Der Wohn- tungen, die Menschen mit Demenz aufnehmen – denn hier?« Seitdem hat er bloß hin und wieder – die Momente intensivster Zuwendung am Tag.
bereich im ersten Stock namens Licht ist zwar ausdrücklich auf medikamentöse Sedierung, Fixie- »schöne wache Augen«, sagt seine Frau. Andererseits: Beim Waschen und Anziehen werden
nicht offiziell, aber de facto der Palliativbereich des rung im Bett und künstliche Ernährung. Lieber Heute hat Frau Vogel Geburtstag. Sogenannte die Menschen bewegt, die Sehnen gedehnt. Und
Heimes. Hier leben die schwer Demenzkranken, sitzt einer eine geschlagene Stunde bei den Kran- Alltagsbegleiter – das sind alle, die keine Pflegeaus- wahrscheinlich hat es zumindest auf das Personal eine
und wenn alles gut geht, sterben sie auch hier. ken und reicht ihnen das Essen an. bildung haben, aber auch nicht rein ehrenamtlich gewisse Wirkung, wenn der Betreute tagsüber rund-
In breiten roten Samtsesseln schlafen die Alten, An die etwas sperrigen Begriffe hier arbeiten – haben den Tisch um gutbürgerlich wirkt. So wie früher.
einer ist an einen Rollstuhl geschnallt, eine Frau gewöhne ich mich schwer. Menschen mit Girlanden dekoriert und einen
schnarcht auf einem Sofa. Sie sind noch Men- mit Demenz statt Demente; Essen an- Erdbeerkuchen aufgedeckt. Es Eine alte Dame will nicht mehr essen.
schen, aber keine Personen mehr, findet der um- reichen statt füttern. Wohnbereich statt dauert eineinhalb Stunden, bis alle Darf sie gezwungen werden?
strittene australische Philosoph Peter Singer; man- Station. Doch es geht hier ausdrück- Licht-Bewohner aus dem Mittags-
che sprechen sogar abschätzig von »Gemüse« oder
»welken Hüllen«. In Großbritannien wird dieser
Tage über Demenz und Euthanasie diskutiert.
Drei Tage lang darf ich hier hospitieren, um eine
Vorstellung von der Lebensphase zu bekommen,
lich um Würde oder, um den Lieb-
lingsausdruck im Heim zu benutzen:
um »Wertschätzung«. Von Betroffe-
nen im Frühstadium, die etwa drei-
mal hintereinander beim Bäcker
»Ist mir egal, schlaf aufgetaucht und zur Party
erschienen sind. Die notorisch
hungrige Frau Rudersdorf hat da
schon überall am Kuchen ge-
nascht; die winzige Frau Erlen-
Noch tiefer reicht die Frage nach dem Respekt
angesichts des offensichtlichen Wunsches eines
Bewohners, nichts mehr essen, also sterben zu
wollen. Generell versucht man, das Gewicht der
Demenzkranken auch in einem späten Stadium
die jeder Dritte von uns erleben wird.
Zum Glück hört mich einer. »C’est la vie mon
ami, hast du vollgetankt? Quelle heure est-il? Oh,
auf dem Sozius sitzt eine Schöne!« Herr Knorr*,
der seit einer guten Stunde im Sessel neben mir
hängt und reglos vor sich hin starrt, bewegt plötz-
Brötchen holen, Socken über die
Schuhe ziehen oder ihre Haustür
nicht mehr erkennen, aber noch gut
reden können, weiß man um ihr
Leiden unter acht- und liebloser
Terminologie. Dement, also »geistlos«
du Arsch« bruch windet sich in unbeobach-
teten Momenten die Girlande um
den Kopf.
Frau Vogel wird als Letzte in
ihrem Rollstuhl hereingefahren.
Sie ist deutlich noch kein Fall für
auf dem gleichen Niveau zu halten. Kann Ge-
wichtsverlust nicht verhindert werden, wird meist,
falls keine Patientenverfügung das ausschließt, eine
Magensonde eingesetzt. Das schreckliche Wort
vom Verhungern reicht fast immer, jede ethische
Diskussion zu beenden.
lich langsam den Kopf. Seine Augen suchen meine möchten sie nicht heißen. Und sie
Im Bremerhavener Haus im Park werden die Palliativversorgung. Sie be- Doch einen solch rabiaten Zwang zum Weiterle-
Augen. Lange schaut er mich an. Ich streichele schreien nicht herum – sie vokalisie- schwer demenzkranke Menschen nicht obachtet und spricht. Gegenüber ben lehnen die Mitarbeiter vom Haus im Park ab.
seine eiskalte Hand. Er beginnt zu weinen. ren. Ein Star der Szene der neuen allen, die ihr näher kommen, ob Nun gibt es dort gerade eine alte Dame, die sich allen
selbstbewussten Menschen mit De- bevormundet. Beruhigungsmittel, künstliche beim Ankleiden, beim Blutzucker- Bemühungen widersetzt, ihr etwas Essbares zu geben.
Ein Geruch, eine Berührung – vieles menz, der Texaner Richard Taylor, Ernährung und Festschnallen sind tabu messen oder beim Essen anrei- Was tun? Das Haus im Park wird eine Ethik-Kon-
kann einen Kanal in den Geist öffnen wünscht sich sogar, statt von Demen- chen, ist sie grundsätzlich aus- ferenz einrichten. Gemeinsam mit Ärzten und An-
ten von Personen mit kognitiven Ver- VON BURKHARD STRASSMANN gesprochen biestig. Sie schlägt und gehörigen wird in einer solchen Konferenz das weitere
Von Schlüsseln sprechen sie hier. Biografischen lusten zu sprechen. Und Bewohner spuckt. »Sie haben heute Geburts- Vorgehen besprochen.
Schlüsseln. Es kann eine Melodie sein, ein Foto, ließe sich durch Freund ersetzen. tag, Frau Vogel!« – »Das ist mir Herrn Knorr schmeckt es noch. Nach der Ge-
ein Geruch, ein Berührung oder eben ein Begriff. Im Licht leben fünfzehn Men- doch egal, du Arsch!« Das anwe- burtstagstafel gehe ich mit dem alten Lkw-Fahrer in
Die Leiterin des Wohnbereichs Luft, Beate Vetter, schen mit Demenz; nur drei von ih- sende Personal singt, was in dieser den Park. Er hängt im Rollstuhl, der Kopf ist nach
hatte mir »Motorrad« und »Frankreich« als Schlüs- nen können noch selbständig essen. Die übrigen Situation durchaus verrückt klingt: »Zum Geburts- hinten gekippt. Ich habe keine Ahnung, was er mit-
sel für Herrn Knorr mitgegeben. Der Lkw-Fahrer, brauchen eigentlich eine 1:1-Betreuung. Ich reiche tag viel Glück!« kriegt vom frischen Grün und vom Gezwitscher, ob
wussten die Angehörigen zu erzählen, war mal ein Herrn Gabler und seinem Tischnachbarn gleich- Beate Vetter hat schon oft Schläge abbekom- es ihm gut geht und guttut. Plötzlich rutscht er voll-
Motorradfan. Außerdem soll er gern nach Frank- zeitig das Essen an. Herr Gabler hat einen Meister- men von Frau Vogel, und es ist offensichtlich, ends aus dem Stuhl und sitzt vor mir auf dem Boden.
reich gereist sein. brief als Glaser im Zimmer hängen. Als er vor fünf dass die Wohnbereichsleiterin das nicht leicht Herr Knorr ist sehr schwer, muss ich feststellen; ihn
Mit meinem Gestammel habe ich einen Kon- Jahren ins damals neu eröffnete Haus im Park kam, runterschluckt. »Ich sage mir immer, sie meint ja einfach zurück in den Rollstuhl zu heben ist un-
takt zu dem alten Herrn gefunden, eine aufregende war er noch ein flotter Tänzer. Dann mussten ihm nicht mich.« Sie glaubt, dass einige Bewohner möglich. Ich hocke mich also vor ihn, nehme ihn fest
und beglückende Erfahrung für mich. Das mit der infolge einer Diabeteserkrankung beide Beine am- noch etwas in ihrem Leben zu erledigen zu haben. in den Arm, und gemeinsam stehen wir auf.
beglückenden Erfahrung scheint für beide Seiten putiert werden. Heute wirkt er auf den flüchtigen »Sie können noch nicht loslassen.« Da war mal Wieder eine umwerfende Erfahrung. Herr
zu gelten. Denn auch die schwer Demenzkranken, Betrachter wie ein auf den Stoffwechsel reduzierter ein ungewöhnlich aggressiver Mann, der dauernd Knorr hilft! Er kann sich hochdrücken und schließ-
die oft unter Schmerzen und Ängsten leiden, ent- Körperrest. Nähere ich mich ihm mit einem Löffel, herumgeschrien hat. Er war Nazi gewesen, bei lich, während ich mit einem Fuß den Rolli herbei-
spannen sich, wenn sie irgendwo in ihrer verworre- reißt er den Mund auf und verschluckt unterschieds- der SS. »Alles Verdrängte, nicht Gelebte, nicht angele, fast allein stehen. Am Ende sitzt er wieder
nen, chaotischen Welt einen Kommunikations- los große Mengen an Nahrung. Nach dem Dessert Verarbeitete kommt heraus«, meint auch Jenny im Rollstuhl, wir schauen uns in die Augen – und
kanal finden. scheint er – mit weit offenem Mund – zu schlafen. Sauerwald, die Gründerin und Heimleiterin. er lacht. Und lacht. Über beide Backen. Was für
Sacht und etwas verlegen drücke ich seine Schultern. Nicht selten macht sie sich darum um ihre Mit- ein Abenteuer!
Da reißt er die Augen auf und schaut mich so – ja: arbeiterinnen Sorgen: »Wertschätzung brauchen
* Namen der Bewohner von der Redaktion geändert privat – an, dass mir selber die Tränen kommen. die auch!« www.zeit.de/audio

Ab 80 steigt das Risiko Wachsendes Problem Gesellschaft der Dementen


Zukünftig wird es immer mehr
Häufigkeit von Demenz in verschiedenen Altersgruppen nach Geschlecht, in Prozent Demenzkranke geben. Das liegt nicht Von 100 000 Menschen erkranken an Demenz: Entwicklung der Zahl der Demenzkranken
daran, dass die Krankheit sich wie eine in Deutschland nach Altersgruppen
Männer Frauen
Infektion ausbreitet. Der Anstieg ist
36,0

schlicht die Folge unserer Wohlstands-


32,1
32,3

247
31,6

gesellschaft, die uns ein längeres Leben 2008 2030 2050


(1,67 %)
beschert. Die Wahrscheinlichkeit, an 203 800 000
einer Form der Demenz zu erkranken, 183 (1,31 %)
22,8

(1,1 %)
steigt mit fortschreitendem Alter.
600 000
Die Zahl der Demenzerkrankten nimmt
18,5

weltweit proportional zur Zahl der


400 000
13,5

alten Menschen zu – unabhängig von


12,1

geografischen und kulturellen Unter-


schieden. Weil Frauen eine höhere 200 000
6,7
2,2
1,6
1,9

5,0
4,6
1,1
0,5

3,9

Lebenserwartung haben als Männer,


0,2
0,1

sind sie häufiger betroffen


80–84
65–69

75–79

85–89

95–99
70–74
60–64

90–94
Jahre

100 +

30–59 Jahre 60 – 64 65 – 69 70 – 74 75–79 80 – 84 85 – 89 90–94 95–99 2005 2015 2030


ZEIT-Grafik/Quelle: Demenz-Report 2011 des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
40 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 T I T E LG E S C H I C H T E : Die Angst vor Alzheimer WISSEN

Urlaub von der


Fotos: Philipp Wente für DIE ZEIT/www.philippwente.com

Verantwortung
Weil Beate Linde ihren Mann liebt, pflegt sie ihn. Weil sie ihn
pflegt, muss sie sich regelmäßig von ihm erholen. Dafür reist sie
in ein besonderes Hotel VON FRAUKE LÜPKE-NARBERHAUS

B
eate Linde hat im Garten ein Stück Urlauben gemeinsam mit den Erkrankten, seien
Rasen eingezäunt – damit ihr Mann zwar hilfreich, reichten jedoch nicht aus. Denn
nicht wegläuft. Ihr Haus steht am eine Auszeit ändere nichts im Alltag. Landhaus-
Hang, beidseits geht es recht steil leiter Andreas Frank bestätigt, dass seine Zielgruppe
bergab, er könnte stürzen. »Wir be- schwer von einem Urlaub zu überzeugen ist.
kommen kein Pferd, das ist für meinen Mann«, »Wenn es bereits ein Problem ist, einen Schnabel-
beruhigt Linde, als ein Nachbar den Zaun be- becher zu erreichen, dann ist es eine Riesenüber-
äugt. »Das ist unsere artgerechte Freiland- windung, in den Urlaub zu fahren.«
haltung.« Bisher gibt es auch kaum Hotels, die sich wie
Mit dem Zaun kann sie sich ein bisschen das Landhaus im Sauerland ausschließlich auf
entspannen. Aus demselben Grund kaufte sie Tandem-Urlauber spezialisiert haben. Viele Anbie-
für ihren Mann auch einen Fernsehsessel. Dann ter mieten für die Reisegruppen behindertenge-
liegen seine Beine hoch, und er läuft nicht – rechte Unterkünfte, auf Wunsch reisen teilweise
sonst pilgert er pausenlos durchs Haus und auch Pflegekräfte und Ärzte mit.
hört selbst dann nicht auf, wenn er müde ist. Er Oft leben die Angehörigen nur noch für ihren
dekoriert oft um, legt ein Kissen und ein Ta- dementen Partner. Wenn sie nicht irgendwann
schentuch aufs Sofa, räumt das Bücherregal selbst erkranken, fangen sie schlimmstenfalls an,
aus. Manchmal fällt dabei etwas runter. »Ist er ihren Partner zu schlagen. Beate Linde hat sich
hingefallen?«, ruft sie dann und läuft zu ihm. vorgenommen, die Krankheit ihres Mannes, so
Weil Beate Linde, 53, ihren Mann liebt, gut es geht, zu überstehen. »Wenn es mir gut geht,
pflegt sie ihn. Weil sie ihn pflegt, muss sie sich geht es auch meinem Mann gut«, sagt sie.
regelmäßig von ihm erholen. Es hat gedauert,
bis sie das begriffen hat und die Zeit ohne ihn Im Hotel ist alles festgeklebt – sogar die
genießen konnte. Im Sauerland gelingt ihr das. alten Bügeleisen auf dem Kachelofen
Dort, in einem Hotel in Winterberg, hat sie im
vergangenen Jahr mit ihrem Mann fünfmal Ur- Sie ist mit ihm wieder nach Winterberg gefahren.
laub gemacht. Hier hat sie kaum Angst, dass er »Es ist wie nach Hause kommen«, sagt sie. »Hier
wegläuft. Das Gelände ist ebenfalls eingezäunt. kümmert sich endlich mal jemand um mich.« Ein
Es wäre auch nicht schlimm, hielte seine Win- Zuhause, wo sie auch ein Buch lesen kann, ohne
del nachts mal nicht dicht, denn alle Matratzen nach ihm sehen zu müssen. Wo sie nicht kochen
sind mit einem speziellen Bezug geschützt. muss, während er im Wohnzimmer die Bücher aus
Beate Linde pflegt ihren Bernd im fünften dem Regal zieht, sondern jemand kommt und
Jahr. Vor sieben Jahren, da war er 61, kam die fragt, was sie möchte.
Diagnose: Alzheimer. Danach haben sie noch Sie und ihr Mann schlafen immer im selben
einmal geheiratet, diesmal kirchlich. »Ich woll- Zimmer. Von dort schauen sie ins Tal, auf Wiesen,
te meinem Mann noch einmal was verspre- Berge, Wälder und ein kleines Dorf. Die Tür ist mit
chen«, sagt sie. Sie suchten lange nach einem einer Kette verschließbar. Das Hotel will seinen
Trauspruch und entschieden sich für den Ersten Gästen so viel Sicherheit und Halt wie möglich bie-
Korintherbrief: »Die Liebe erträgt alles, hofft ten. Ihr Zimmer liegt auf dem »Winterflur«: An der
alles, glaubt alles, hält allem stand. Die Liebe Wand hängen Ski aus Holz. Im »Uhrenflur« hängen
hört niemals auf.« Sie rahmte den Spruch ein alte Uhren, im »Küchenflur« Kaffeemühlen zum
und hängte ihn in den Flur. Selbermahlen. Die thematischen Flure sollen die
Seit der Hochzeit verliert sie ihren Mann jeden Orientierung der Bewohner erleichtern und ihr Lang-
Tag ein bisschen mehr. »Ich bin alleinstehend mit zeitgedächtnis mit alten Gegenständen ansprechen.
besonderen Erschwernissen«, sagt sie. Die Landschaftsbilder an den Wänden könnten auch
Zu Hause sitzt sie neben ihm auf dem Sofa. bei Oma hängen. Nur wären sie dort nicht fest-
»Du bist ganz müde«, spricht sie ihn an. »Schlaf geklebt. Eigentlich ist im Landhaus alles festgeklebt,
Raus aus dem Alltag: Die Reise ein bisschen, ein bisschen schlafen. Ich pass auf auch die alten Bügeleisen auf dem Kachelofen.
der Lindes ins Sauerland dich auf.« Sie lächelt und streichelt seine Hand. Am Mittwochmorgen um zehn Uhr bringt
»Ich weiß nicht, ob er mich als seine Frau ein- Beate Linde ihren Mann für zwei Stunden zur Be-
ordnet oder nur als positiv besetzte Person«, treuung, wie jeden Morgen und jeden Nachmittag
fragt sie sich. »Ich habe Angst vor dem Tag, an im Urlaub. Sie nimmt sein Lätzchen ab, wischt
dem er nicht mehr auf mich reagiert.« Er lä- mit der Serviette über seinen Mund, stellt sich vor
chelt zurück, aber sagt nichts. Seit über einem ihn, greift seine Hände und sagt: »Eins, zwei, drei,
Jahr spricht er nicht mehr. Darum weiß sie hoch!« Sie lehnt sich nach hinten und zieht ihn
auch nicht, ob ihm der Urlaub im Sauerland hoch. 1,86 Meter groß, 82 Kilo schwer. Noch hilft
gefällt. Aber sie glaubt es zu wissen. »Er hat er mit. Er fährt mit der Hand über ihren Rücken
nichts davon, fühlt sich zu Hause am wohls- und klopft auf ihren Po. »Klopf, klopf«, sagt sie
ten«, sagt sie. »Das ist mein Urlaub.« Sie be- und lächelt. Manchmal gibt er ihr ein Küsschen
kommt monatlich 685 Euro Pflegegeld. »Da- oder reibt seine Nase an ihrer.
von pflege ich mich in Winterberg.«
Fünf Tage und sieben Nächte die Woche
sorgt Frau Linde für ihn. Wenn sie kurz weg-
muss, und sei es nur für zehn Minuten, kom-
men die Nachbarn oder ein Schwager rüber.
An zwei Tagen in der Woche bringt sie ihren
Mann für sechs Stunden zur Tagespflege. In
fünf Jahren ist sie nie ausgefallen. »Wie soll das
auch gehen?«, fragt sie. In Deutschland werden
rund zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zu Er umschließt fest ihre Hand und geht hinter
Hause versorgt. Ohne Menschen wie Frau Lin- ihr zur Tagespflege. An der Wand hängen Kartoffel-
de würde das System zusammenbrechen. drucke, ein CD-Player spielt Schlager. Sie bringt
ihn zu seinem Platz. »Bernd, setz dich bitte«, sagt
Auch Spanien oder Thailand sind im sie. »Setz du dich bitte hin.« Sie drückt. »Bernd,
Urlaubsangebot für Demenzkranke hinsetzen!« Als er sitzt, umarmt sie ihn. »Bis spä-
ter«, sagt sie und küsst ihn auf die Wange.
Auch die Angehörigen brauchen mal Pause, wol- Gegenüber von Herrn Linde sitzen Walter Körle,
len ihren Partner aber nicht weggeben. Viele der Mann von Frau Lindes bester Urlaubsfreundin,
schotten sich zudem ab und riskieren, selbst krank und zwei ältere Frauen. Diese Verteilung ist unge-
zu werden. Deswegen wandelte die Arbeiterwohl- wöhnlich. Normalerweise sind hier etwa 30 Prozent
fahrt in Nordrhein-Westfalen das heutige Land- der Demenzkranken weiblich. Die fürsorgende
haus Fernblick vor sechs Jahren um: Aus einem Ehefrau und Mutter kümmert sich um den kranken
Mutter-Kind-Haus wurde das neue Hotel. Wo Partner, das gehört wohl zum Rollenverständnis.
heute die Tagespflege ist, war früher der Kinder- Die drei Betreuer in der Tagespflege stimmen
garten. »Und manchmal«, sagt der Leiter An- wie immer ein Begrüßungslied an: »Danke für
dreas Frank, »erinnern mich die Angehörigen auch diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag.«
an Mütter und Väter, die zum ersten Mal ihr Kind Bernd Linde guckt nur, Walter Körle schläft.
in den Kindergarten bringen.« Beate Linde und Freundin Elfriede Körle ziehen
Neben dem Landhaus gibt es rund 25 weitere sich die Jacken für ihren Spaziergang an. Frau Linde
Anbieter, die sich auf Demenzkranke und deren geht viel mit ihrem Mann spazieren. »Nur ziehe ich
Angehörige spezialisiert haben. Einige offerieren ihn heute wie eine alte Kuh hinter mir her«, sagt sie.
sogar Urlaub in Spanien, Italien oder Thailand. Frau Körle hatte seit Wochen ihr Haus nicht verlas-
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl sen. »Ich bin daheim ja auch eingesperrt.« Jetzt gehen
verfünffacht – und dürfte wohl weiter wachsen. die beiden recht zügig und haken sich ein, als wollten
Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler will sie sich gegenseitig stützen. »So ganz frei ist man hier
pflegende Angehörige vermehrt entlasten, unter aber auch nicht«, konstatiert Frau Körle. »Ganz frei
anderem auch mit Kuren. ist man nie«, sagt Frau Linde.
Doch das ist gar nicht so einfach. »Viele Als sie ihren Mann Bernd später abholt, fragt
pflegende Angehörige nehmen Entlastungs- sie ihn nicht, wie es war. Das hat sie auch früher
angebote nur zögerlich an«, sagt Gabriele Wilz, nicht getan, als er noch gesprochen hat. Sie hat
Leiterin der Abteilung Klinisch-psychologische Angst vor seiner Antwort. »Was wäre, wenn er
Intervention an der Universität Jena. Sie kenn- sagt, es gefalle ihm nicht?«
ten die Angebote kaum und hätten »häufig gar
nicht mehr die Kraft, beispielsweise zu einer Weitere Informationen unter:
Angehörigengruppe zu fahren«. Ärzte und Kas- www.deutsche-alzheimer.de/Entlastungsangebote
sen müssten die Entlastungsangebote bekann-
ter machen. Kuren, vergleichbar mit betreuten www.zeit.de/audio
41
100 . GRAFIK 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Futter für Jagdszenen auf Stein.

das Augentier Damit fing alles an – vor


etwa 30 000 Jahren

Wissenschaftler und Journalisten entdecken die Vorzüge


der Infografiken VON CHRISTOPH DRÖSSER

F
WISSEN IN BILDERN lorence Nightingale war nicht nur eine Ganz neue Möglichkeiten eröffnen sich Infogra-
Reformerin des öffentlichen Gesund- fiken im Netz. Hans Roslings Animationen entfalten
Vor zwei Jahren, in der heitswesens. Die englische Kranken- nur deshalb ihre Dynamik, weil sie sich über die Zeit
schwester, die im 19. Jahrhundert die entwickeln, und noch spannender wird es, wenn der
ZEIT-Ausgabe 26/09, er- moderne Krankenpflege begründete, ge- Nutzer interaktiv eingreifen kann. In der ZEIT
schien die erste ganzseitige hört auch zu den Pionieren der Infografik. Im Jahr haben wir einen Tag im Leben des Grünen-Politikers
Infografik auf den Wissen- 1858 erstellte sie ein sogenanntes polar-area diagram, Malte Spitz dokumentiert (Grafik Nr. 89), um zu
eine Variante der heute so verbreiteten Tortengrafi- zeigen, was man mit den umstrittenen Vorratsdaten
Seiten. Seitdem haben wir ken, um ihren Landsleuten zu zeigen, an welchen anfangen kann, die bei der Benutzung eines moder-
Ihnen 99-mal ein Thema Ursachen die Soldaten der königlichen Armee star- nen Handys entstehen. Auf ZEIT online konnte der
ben. Die meisten erlagen nicht den Wunden, die sie Nutzer sich selbst in die Rolle des Schnüfflers ver-
in Bildern präsentiert – sich im Gefecht zugezogen hatten, sondern vermeid- setzen und die Spur des Politikers an einem beliebi-
Infografiken, Fotoseiten, baren Infektionskrankheiten. Diese Grafiken, sagte gen Tag zu einer beliebigen Uhrzeit aufnehmen. Das
Illustrationen. Die ZEIT Nightingale, seien dazu geeignet, »über die Augen zu ist eine voyeuristische Spielerei – aber danach weiß
bewirken, was wir der Öffentlichkeit über ihre gegen man, wie heikel die abstrakten Daten sein können.
ist mit der neuen Lust an Worte abgedichteten Ohren nicht vermitteln kön- Der nächste Schritt des »datengetriebenen Jour-
Bildern nicht allein: Viele nen«. Damit brachte sie das Potenzial von Infografik, nalismus« im Internet ist es, die Leser selbst in die
Print- und Onlinemedien von Visualisierung auf den Punkt: einen Sinneskanal Aufbereitung der Daten einzubeziehen, wenn die 1596: Die Planetenbahnen
zu öffnen, über den man Einsicht und Erkenntnis Datenflut von einzelnen Rechercheuren gar nicht als ineinandergeschachtelte
präsentieren Informationen ohne Worte direkt erzeugen kann. mehr zu bewältigen ist. Der britische Guardian stell- platonische Körper
zunehmend optisch. Auch Ein Infografik-Pionier des 21. Jahrhunderts ist te die vom Unterhaus veröffentlichten Spesenabrech-
Hans Rosling. Die Vorträge des Professors für Public nungen der Abgeordneten ins Netz mit der Auffor-
die Wissenschaften Health am Stockholmer Karolinska-Institut sind derung an die Nutzer der Internetseite, selbst nach
arbeiten verstärkt mit legendär, er ist ein gefragter Redner, etwa bei den Unregelmäßigkeiten zu suchen. Ähnlich verfuhr
Bildern (diese Seite). TED-Konferenzen oder beim Weltwirtschaftsforum auch das GuttenPlag Wiki bei der Suche nach Pla-
in Davos. Dabei sind seine Mittel schlicht. Mit ei- giaten in der Doktorarbeit des Ex-Verteidigungs-
Der Augsburger Medien- nem Beamer präsentiert er die von ihm entwickelten ministers. Gewiss hat die resultierende Grafik, in der
forscher Michael Stoll »Blasendiagramme« (siehe auch Grafik Nr. 67 auf die plagiierten Seiten rot gekennzeichnet waren, zum
der nächsten Seite): Jedes Land ist entsprechend sei- Rücktritt des Politikers beigetragen.
erklärt, wie man gute Info- ner Bevölkerungszahl ein mehr oder weniger großer
grafiken von schlechten Kreis, der eine Position in einem x-y-Koordinaten- Mit Bildern lässt sich
unterscheiden kann (Seite system hat. Dessen Achsen können zum Beispiel die auch trefflich lügen
Kindersterblichkeit und das Bruttosozialprodukt
44). Auf den nächsten sein. Dynamik erhalten die Grafiken, indem Rosling Auch die Wissenschaft setzt zunehmend auf die
beiden Seiten können Sie noch die Zeit als vierte Dimension hinzufügt und im Kraft des Bildes. Es hat zu allen Zeiten starke wissen-
Zeitraffer die letzten 250 Jahre Revue passieren lässt. schaftliche Bilder gegeben, die zur Umwälzung
noch einmal alle bisher Dann beginnen die Blasen zu tanzen, bewegen sich ganzer Weltsichten beigetragen haben (siehe Zeich-
erschienenen Grafikseiten von einer Ecke des Graphen in die andere und zeigen nungen auf dieser Seite). Was Galileo durch sein
als Miniatur sehen (Seite wirtschaftliche oder gesundheitspolitische Welt- Fernrohr sah und abzeichnete, war stärker als alles 1610: Per Fernrohr entdeckt der
trends auf. Atemlos wie ein Sportreporter kommen- philosophische Räsonieren über den Lauf der Ge- Astronom die Mondkrater und die
42/43). tiert Rosling beispielsweise, wie der Riese China den stirne. Die anatomischen Zeichnungen des 18. und Phasen der Venus
Rückstand zur westlichen Welt aufholt. 19. Jahrhunderts waren mehr als die quasifotogra-
Damit verbinden wir eine Auch Rosling geht es darum, über das Auge Er- fische Abbildung dessen, was die Forscher sahen – sie
Frage an unsere Leser: kenntnisse zu vermitteln, denen sich die Ohren ver- strukturierten damit die Vielfalt des Lebens, die sie
Welche Grafik hat Ihnen schlossen haben. Die wichtigste Lehre, die er über- vorfanden, und begründeten die moderne Biologie.
bringen will: Es ist schon lange nicht mehr sinnvoll, Die Doppelhelix der DNA ist nicht nur die sachliche
am besten gefallen? Wer an die Welt einzuteilen in die industrialisierten Länder Darstellung des Lebensmoleküls, sie ist zur Ikone
der Wahl teilnimmt, und die Entwicklungsländer. Sobald ein Land die einer Wissenschaft geworden.
sozialen und politischen Voraussetzungen erfüllt – In der Mathematik ist in den vergangenen Jahr-
hat die Chance, das Buch und das heißt insbesondere: Gleichstellung der zehnten eine neue Freude am Bild entstanden, nach-
»Wissen in Bildern« Frauen –, holt es in Windeseile die Entwicklungen dem das 20. Jahrhundert von einer regelrechten
zu gewinnen. nach, die im Westen vor 100 Jahren eingeläutet wur- Bilderfeindlichkeit geprägt war. Damals war An-
den. »Ich habe meinen Studenten früher riesige schauung verpönt, für Gelehrtenschulen wie das un-
Mengen von Unicef-Statistiken über Einkommen, ter dem Pseudonym »Bourbaki« schreibende Kollek-
Lebenserwartung und Fruchtbarkeitsziffern kopiert«, tiv französischer Mathematiker waren Zeichnungen
erzählte Rosling dem Economist, »aber das hat ihre und Diagramme Verwässerungen der reinen mathe-
Weltsicht nicht verändert.« matischen Idee, die sich nur in streng logischen Ab-
Wer einen seiner Zeitraffer-Filme gesehen hat, folgen mathematischer Sätze zu manifestieren hatte.
der versteht die Zusammenhänge nicht nur besser – Damit wurde die Sinnlichkeit der inneren Bilder ge-
der Trickfilm brennt sich auf eine Weise ins Ge- leugnet, die in Wahrheit natürlich jeder Mathemati-
dächtnis ein, wie es eine Sammlung nackter Zahlen ker von seinen Objekten hat. Mit der Entwicklung
niemals könnte. Inzwischen steht Roslings Software des Computers wurde es möglich, diese Ideen auch
jedermann zum Experimentieren offen – die Firma grafisch aufzubereiten, nicht nur am Beispiel der
Google hat sie gekauft und bietet nun den Dienst zeitweise regelrecht modischen Fraktale. Inzwischen
Google Motion Chart an. gehören bunte Bilder und Grafiken auch zum Stan-
1835: Die Vielfalt der Galápagos-
Vor zwei Jahren hat sich das Wissen-Ressort der dardwerkzeug der abstraktesten Disziplinen.
Finken inspiriert den Biologen
ZEIT entschlossen, jede Woche eine ganze Seite der Allerdings hat diese »ikonische Wendung« hin
Infografik zu widmen. Also auf etwa 15 000 Buch- zur Bildsprache in der Wissenschaft auch Schatten-
staben zu verzichten und dafür Bilder, Grafiken und seiten. Bilder haben eine starke Überzeugungskraft,
Statistiken zu zeigen. Sagen die wirklich mehr als die aber man sieht ihnen nicht die Qualität der dahin-
sprichwörtlichen tausend Worte? Mehr vielleicht terstehenden Daten an. Man kann mit Bildern lü-
nicht, aber sie sagen es auf andere Weise. gen, nicht nur indem man Balkengrafiken verzerrt
1895: Der Physiker verewigt als
und übertreibt. Die Klimaforscher hätten mit ihren
Erstes die durchleuchtete Hand
In der wachsenden Datenflut helfen Warnungen vor den Folgen des Klimawandels längst
seiner Frau
Grafiken bei der Bewertung nicht so gut an die Öffentlichkeit dringen können
ohne die bunten Bilder eines heißen Planeten im
Das beginnt mit der einfachen Darstellung von Grö- Jahr 2100. Die Grafiken suggerieren wissenschaft-
ßenordnungen. Der Zeitungsleser wird heute auf liche Exaktheit in einer Detailtreue, die von den da-
jeder Seite bombardiert mit einer Fülle von Zahlen, hintersteckenden mathematischen Modellen oft gar
oft mühsam recherchiert, die für ihn aber kaum kon- nicht gedeckt wird. Aber jede Simulation, jede Sta-
kret begreifbar sind. Selbst Bundesminister haben ja tistik ist nur so gut wie die Zahlen und Gleichungen,
So stimmen manchmal Schwierigkeiten zu sagen, wie viele Nul-
len eine der Euro-Milliarden hat, mit denen sie täg-
auf der sie beruht.
Das ist ein Grund dafür, warum viele Forscher
Sie ab: lich jonglieren. Es war daher eine geniale Idee des
Grafikers David McCandless, in der schlichtesten
heute fordern, dass mit jeder wissenschaftlichen Pu-
blikation nicht nur die Erkenntnisse offengelegt
Schicken Sie eine E-Mail (bitte möglichen Form diese Beträge zu visualisieren: als werden, zu denen ein Forscher gekommen ist, son-
nur eine pro Person!) mit der simple Rechtecke (Grafik Nr. 33). Wer das kleine dern auch die Daten, die zu diesen Erkenntnissen
Nummer Ihrer Lieblingsgrafik im Kästchen des Bundes-Bildungsetats mit den größe- geführt haben. Ein weiterer Grund für die Forde- 1953: Die DNA wird
Betreff an grafikwahl@zeit.de. ren Rechtecken des Banken-Rettungspakets oder des rung nach open data: Ein anderer Forscher prüft entschlüsselt, der Code
Unter allen Einsendern verlosen Vermögens der Albrecht-Brüder verglichen hat, der dieselben Daten vielleicht mit anderen Fragestellun- des Lebens ist entdeckt
Illustration: Niels Schröder für DIE ZEIT/www.niels-schröder.de

wir fünfmal den großformatigen bekommt zumindest einen Sinn für Proportionen – gen und kommt damit zu neuen Ergebnissen. Die
Sammelband »Wissen in Bildern« auch wenn dabei Äpfel mit Birnen verglichen wer- wachsende Datenflut, die durch Satelliten, Beschleu-
mit 60 Grafiken aus unserer Serie. den und man das Geld aus dem einen Kästchen niger und andere Forschungsinstrumente geliefert 1975: Am Computer generierte
Einsendeschluss ist der 19. Mai. nicht so einfach dem anderen zuschlagen kann. wird, ist zu kostbar, um sie nur einmal unter einem Fraktale eröffnen den Blick in
Das Beispiel zeigt auch die natürliche Schwäche speziellen Aspekt auszuwerten. Es gilt nicht nur eine eine neue mathematische Welt
des Mediums auf. »Auf Meinungsvermittlung und Stecknadel in diesem Heuhaufen zu finden, sondern
Konjunktiv versteht sich die Infografik schlecht«, potenziell viele. Und zu den wichtigsten Werk-
sagt der Infografik-Professor Michael Stoll (siehe zeugen, um Struktur in einem Gewirr von Zahlen zu
Interview auf Seite 42). Im Wesentlichen bilden finden, gehört die grafische Aufbereitung.
Christoph
Drösser (Hg.):
Infografiken die Welt ab, wie sie ist, eventuell noch, Der Mensch ist ein Augentier. Die Evolution hat
Wissen in wie sie sich unter bestimmten Voraussetzungen ent- uns gelehrt, oft mit einem Blick in einer unüber- 1972: Zwei goldene Platten an
Bildern wickeln könnte. Über die Selektion der Daten kann sichtlichen Umwelt das wesentliche Muster zu erfas- Bord der Raumsonden »Pioneer
Edel Verlag, der Autor die Aussage beeinflussen – aber wie die sen. Infografik und wissenschaftliche Visualisierung 1« und »Pioneer 2« sollen
128 S., Welt sein soll, sagt die Grafik nicht. Auch deshalb ist setzen auf diese außerordentliche Fähigkeit. Wort Außerirdische über das Leben
49,95 Euro die Grafik-Seite ein Wagnis in der traditionell und Bild werden zunehmend gleichberechtigt neben- auf der Erde aufklären
meinungsstarken ZEIT. einanderstehen – auch in dieser Zeitung.
44 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
KOMPAKT
WISSEN

Daten sichtbar machen


STIMMT’S?

Sterben Insekten auf dem Rücken?


Eine gute Infografik bringt ihre eigene Bedienungsanleitung mit, sagt der Experte Michael Stoll … fragt Fabian Schäfer aus Leipzig

DIE ZEIT: Sind die vielen Infografiken mehr als analytisch-verbalen Grafikanteil sind sehr in- ZEIT: Was sind die aktuellen Trends in der Die Frage ist nicht so zu verstehen, dass Käfer oder Wird ein Insekt vergiftet und stirbt einen lang-
eine Mode in der Medienlandschaft? tensiv, weil sie wie in einer Collage miteinander Infografik? Kakerlaken sterben müssen, wenn sie einmal zufäl- samen, quälenden Tod, dann macht es wilde, zu-
Michael Stoll: Ich glaube, wir stehen am Anfang verwoben sind. Stoll: Neben der zunehmenden Zahl von 3-D- lig auf dem Rücken landen. Sind sie gesund, dann ckende Bewegungen. Es wird dabei irgendwann
einer Renaissance der Infografik. Ihre Bedeutung ZEIT: Also brauchen wir mehr Infografiken? Grafiken und der Kombination von Statistiken können sie sich aus dieser misslichen Lage befrei- auch auf dem Rücken landen – und wenn es dann
wird den Verlagshäusern gerade erst wieder richtig Stoll: Auf jeden Fall. Allerdings sind Infografi- mit Landkarten ist ein großer Trend, der zur en, indem sie kräftig strampeln und irgendwann schon zu schwach ist, gelingt das rettende Um-
bewusst. Sie erkennen, dass sie sich über die Info- ken kein Allheilmittel im Journalismus oder für Popularisierung der Infografik beigetragen hat, wieder auf den Beinen landen. drehmanöver nicht mehr.
grafik positionieren können. Das gilt übrigens die Wissensvermittlung per se. Wir brauchen die Datenvisualisierung, die sich hauptsächlich Aber tatsächlich findet man tote Insekten meist Aber auch Insekten, die ruhig und friedlich
weltweit. Beim Internationalen Malofiej-Contest mehr Infografiken bei Themen, die sich dafür im Internet abspielt. Umfangreiche Daten- auf dem Rücken liegend vor. Es gibt gleich mehre- sterben, sozusagen an Altersschwäche, landen
der Universität von Navarra in Pamplona, dem eignen. Das ist zum einen dann der Fall, wenn bestände, die online verfügbar sind, werden auf- re Gründe, warum die Rückenlage die wahrschein- leicht in der Rückenlage. Die Beine nehmen beim
wichtigsten Infografik-Preis, ist die Zahl der Wett- eine Information abstrakt ist. Und zum ande- bereitet und öffentlich zugänglich gemacht. Die lichere für ein totes Insekt ist, das nicht von einem Tod nämlich eine entspannte Stellung ein, und
bewerbsbeiträge in den vergangenen drei, vier ren, wenn eine Information so komplex ist, New York Times und der Guardian stellen solche Räuber gefressen wurde. Stirbt das Tier im Flug dabei sind sie nicht gestreckt, sondern eingeknickt.
Jahren um die Hälfte gestiegen. Die Infografik ist dass sie nicht linear erzählt werden kann. interaktiven Grafiken zur Verfügung. Da kann oder auf einer erhöhten Position sitzend, dann ist Und in dieser Position (mit anliegenden Beinen)
eine journalistische Darstellungsform, die zur Pro- ZEIT: Gibt es die ideale Infografik? man sich zum Beispiel alle Informationen über es zumindest für Insekten mit einem glatten, run- lässt sich das Tier ganz leicht auf den Rücken dre-
filschärfe beiträgt. Wer überzeugend Infografiken Stoll: Es gibt ein paar Qualitätskriterien, zum die Gefallenen des Irakkrieges ansehen, und den Körper aus aerodynamischen Gründen am hen, zum Beispiel durch einen leichten Luftzug.
publiziert, hat ein höheres Ansehen. Beispiel die Fluchtpunktperspektive oder die zwar nicht nur mit Namen, Alter, Todesort. Sie wahrscheinlichsten, in der Rückenposition zu Alles in allem ist die Rückenlage statistisch am
ZEIT: Wieso das? Benutzerführung und Hierarchisierung eines können eigenständig suchen, ob aus dem Ort, landen. wahrscheinlichsten. CHRISTOPH DRÖSSER
Stoll: Weil eine gute Infografik Dinge zeigen und Themas durch die Grafik. Zum Wesen einer wo der Gefallene herkam, vielleicht noch andere
erklären kann, auf die der Leser vorher keinen Zu- Infografik gehört es, dass sie ihre eigene Be- Menschen ums Leben gekommen sind. Oder Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen:
DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder stimmts@zeit.de. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts
griff hatte. Das sind ihre beiden Hauptaufgaben: dienungsanleitung mitbringt. Das merkt der aus dem Nachbarort. Oder der Parallelklasse.
visualisieren und vermitteln. Sie verschafft mir ei- Leser gar nicht, es funktioniert im Idealfall ein- ZEIT: Sieht so der Journalismus der Zukunft www.zeit.de/audio
nen strukturierten Zugang zur Information, ich fach. Wenn eine Infografik sich widerspruchs- aus? Ich wühle mich durch einen Wust an Infor-
frei interpretieren lässt, also jeder, der sie an- mationen und bereite ihn ansprechend auf?
schaut, das Gleiche darin liest, dann ist das eine Stoll: Der Datenjournalismus wird sich sicher
gute Grafik. etablieren. Allerdings nicht in dieser formalen ERFORSCHT UND ERFUNDEN
ZEIT: Bekommt der Leser, Fernsehzuschauer Ausprägung, wie er es zurzeit tut. Denn viele
und Internetnutzer denn hauptsächlich gute
Infografiken präsentiert?
dieser Arbeiten vernachlässigen die zweite Auf-
gabe der Infografik: das Vermitteln. Darin sehe Musikergehör die infizierten Ameisen wie Zombies umher-
irren, ehe sie sich wie auf Kommando an der
Stoll: Wenn ich mir das Gros so anschaue, dann ich ein großes Problem. Visualisierung ohne Er- Unterseite eines Blattes festbeißen und sterben
würde ich sagen: Da ist noch viel Luft nach klärung, das ist Schönheit ohne Bedeutung. Musiker, die spätestens mit neun Jahren ein In- – genau dort, wo optimale Entwicklungsbedin-
oben. Aber wir sind auf einem guten Weg. In ZEIT: Will der Leser sich denn wirklich mit strument gelernt und ihr Leben lang mehr oder gungen für den Pilz herrschen (Biomed Central,
Deutschland gibt es zwei, drei Agenturen, die solchen Datenmengen auseinandersetzen? weniger regelmäßig gespielt haben, leiden selte- online). Der Pilz steuert auch die Festigkeit des
gestalterisch und journalistisch wirklich top Stoll: Das will er. Wenn ich meine Studenten ner unter typischen Alterserscheinungen, die Bisses, damit der Kiefer des toten Insekts ge-
sind. Während vor einigen Jahren die hiesigen frage, wer noch fernsieht, lachen die mich aus. das Gehör betreffen (PLoS One, online). So ist schlossen und das Tier am Blatt hängen bleibt.
Infografiker noch nach Amerika schielten und Die suchen sich ihre Informationen selber im ihr auditives Gedächtnis im Alter zwischen 45
sich an den Kollegen dort orientierten, kann Internet. Das beginnt mit einem Klick auf einen und 65 Jahren besser als das von Nichtmusi-
man inzwischen von einer Emanzipation der Link und endet in einer Datenbank, aus der sie kern. Außerdem erhalten sie sich durch das
deutschen Infografik sprechen. das rauslesen, was sie wissen wollen. Was mir an musikalische Training länger die Fähigkeit, MEHR WISSEN:
ZEIT: Woran erkenne ich das? diesem Trend sehr gut gefällt: Weil in einer Welt Sprache in lauten Umgebungen zu erkennen.
Stoll: Tatsächlich an dem, wofür die Deutschen der Infografiken und Datenbanken vor allem Das musikalische Training sorgt den Studien-
Im Netz:
bekannt sind: ihrer Genauigkeit und ihrer ra- faktisches Wissen gefragt ist, wird die Boulevar- autoren zufolge für ein Feintuning des Nerven-
Was das Internet an Strom verbraucht
tionalen Herangehensweise. Darin sind die disierung verdrängt. systems und erspart den Musikern altersbeding- www.zeit.de/netz-strom
muss mir den Sachverhalt nicht selber zusammen- deutschen Infografiken ungeschlagen. te Kommunikationsprobleme.
suchen und ihn einordnen. ZEIT: Sie sagen, wir sind auf einem guten Weg. Das Gespräch führte CLAUDIA FÜSSLER
Niels Birbaumer
ZEIT: Die Infografik ist also etwas für faule Leser? Was genau ist denn das Ziel?
Stoll: Ganz und gar nicht. Die Infografik ist ein
Element für effektive Leser. In unserer Wissens-
Stoll: Da lohnt sich der Blick nach Skandi-
navien, besonders nach Schweden und Dä-
Zombie-Ameise erforscht, ob Psycho-
pathen bessere Men-
schen werden können
gesellschaft sollen wir ständig in möglichst kurzer nemark. Dort kommt in den Zeitungsredak- Michael Stoll ist Der subtropische Pilz Ophiocordyceps unilate-
Das aktuelle
Zeit möglichst viel aufnehmen. Es kommt auf tionen auf zehn klassische Journalisten ein Pro fessor für ralis ist ein Parasit der besonders fiesen Sorte.
ZEIT Wissen: am
Foto: privat

schnelle und präzise Vermittlung an. Genau das Infografiker. Von solchen Verhältnissen träumen Informationsdesign und Er setzt sich auf Ameisen fest, dringt in ihren Kiosk oder unter
kann die Infografik sehr gut. Die Wechselwirkun- die meisten deutschen Verlage. Das Ziel ist die Medien theorie an der Körper ein und beeinflusst ihr Verhalten. Ein www.zeitabo.de
gen zwischen dem visuellen Eindruck und dem Institutionalisierung des Berufs Infografiker. Hochschule Augsburg internationales Forscherteam hat gezeigt, dass
12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 47
RIT
SC

P O L I T I K , W I S S E N , K U LT U R U N D A N D E R E R Ä T S E L F Ü R J U N G E L E S E R I N N E N U N D L E S E R
HR
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Fragebogen
SC
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WER WAREN EIGENTLICH ... (4)

Abba? Dürfen wir bleiben? Dein Vorname:

Anni-Frid, Benny, Björn und Agnetha – nimmt


man die Anfangsbuchstaben der vier Namen
Boote voller Menschen, die aus Nordafrika nach Europa fliehen – solche Bilder sieht man
Wie alt bist Du?
und setzt sie hintereinander, ergibt das »Abba«. seit Wochen. Aber was bedeutet es eigentlich, Flüchtling zu sein? VON ANDREA BÖHM
So nannten sich die zwei Männer
und zwei Frauen aus Schweden
als Band. Berühmt wurde die
Wo wohnst Du?

E
Popgruppe 1974 durch den in Flüchtling ist je- Welt! Manche konnten gerade noch seinem Land zur deutschen Botschaft
Eurovision Song Contest. Sie mand, dem man davonlaufen, als Soldaten oder Rebel- spazieren und ein Visum beantragen.
gewann den europäischen
Musikwettbewerb mit ihrem helfen muss, weil er len ihre Dörfer überfielen. Das passiert Viele Menschen fliehen auch, weil
sich selbst nicht zum Beispiel immer wieder im Kongo ihre Heimatländer arm sind und sie Was ist besonders schön dort?
Lied Waterloo. Die Schweden
wurden eine der erfolgreichsten mehr helfen kann. oder im Sudan in Afrika. Diese Flücht- dort keine Arbeit haben. Solche Flücht-
Bands der Welt und verkauften So wie die Flücht- linge verstecken sich manchmal wo- linge nennt man Migranten. Derzeit
mehr als 375 Millionen Alben. Ihre Lieder
werden noch heute gespielt, es gibt sogar ein
linge, die man oft im chenlang im Wald und warten, bis es versuchen viele Migranten aus Tune- Und was gefällt Dir dort nicht?
Abba-Musical. Anni-Frid, Benny, Björn und Fernsehen sieht: Leute, die unter Zelt- wieder ruhig ist. Manche kommen sien, nach Europa zu kommen. In Tu-
Agnetha aber wollen schon lange nicht mehr planen hocken und hoffen, dass ihnen eine Weile bei Verwandten in anderen nesien hat es gerade eine Revolution
gemeinsam auf der Bühne stehen, zum letzten jemand Decken und Medikamente, Städten und Dörfern unter. Oder in gegeben. Aber an der Armut hat sich Was macht Dich traurig?
Mal traten sie 1982 auf. Seitdem machen sie Essen und etwas zu trinken bringt. einem Flüchtlingslager. nichts geändert. Deswegen quetschen
eine Pause, die bis heute andauert.
Flüchtlinge sind schwach. Das habe Das Leben dort ist allerdings hart. sie sich auf kleine Boote und wagen
Die Radiogeschichte über
ich zumindest lange geglaubt. Die Menschen haben schon alles ver- die gefährliche Fahrt über das Mittel-
Was möchtest Du einmal werden?
Abba hört Ihr am Dann bin ich selbst in ein Flücht- loren, und jetzt müssen sie mit 20 an- meer. Wer es bis nach Europa schafft,
Sonntag um 8.05 Uhr in der Sendung lingslager gefahren und habe Massoud deren in einem Zelt leben. Es gibt oft schlägt sich durch nach Frankreich,
Mikado – Radio für Kinder auf NDR Info
oder im Internet unter www.ndr.de/mikado und Leyla kennengelernt. Massoud zunächst kein Trinkwasser, keinen Deutschland oder Italien und sucht
war ziemlich groß und kräftig, Leyla Strom, keine Schule, keine Medika- Arbeit. Oft finden die Menschen sie Was ist typisch für Erwachsene?
rannte ständig herum, um irgendetwas mente für die Verletzten. Erst wenn auch. Sie arbeiten für ganz wenig Geld
für ihre drei Kinder zu besorgen. Sie Hilfsorganisationen ankommen und in Restaurantküchen, pflücken Toma-
sahen eigentlich gar nicht hilflos aus. ein kleines Krankenzelt oder eine ten, schuften auf Baustellen. Wie heißt Dein Lieblingsbuch?
WAS SOLL ICH LESEN? Nur sehr, sehr müde. Trinkwasseranlage aufbauen, wird die Wir hier in Deutschland können
Massoud und Leyla waren Kurden Lage etwas besser. Oft versuchen die uns nur schwer vorstellen, warum je-
aus dem Irak. Zusammen mit Tausen- Flüchtlinge, sich selbst zu helfen. mand Hunderte, manchmal über tau-
Ritter Tollpatsch den anderen Kurden waren sie über Manche haben, bevor sie fliehen muss- send Kilometer zu Fuß, auf Lastwagen
Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?

die Berge in die Türkei geflohen. Denn ten, als Ärzte oder Lehrer gearbeitet. oder überfüllten Booten reist, nur um
Robert ist Tims bester Freund, ein toller
Freund, nur dass bei ihm immer recht viel im Irak wurden Kurden damals ver- Sie behandeln dann in einem Flücht- sich nach Europa hineinzuschmug-
schiefgeht. Egal, ob er Spaghetti Bolognese folgt, viele wurden getötet. Massoud lingslager die Kranken oder unterrich- geln. Warum jemand so etwas tut,
isst, den Schulhausmeister ins Krankenhaus und Leyla waren mehrere Tage zu Fuß ten die Kinder – auch wenn es keine können die Flüchtlinge und Migran- Willst Du auch diesen Fragebogen ausfüllen?
befördert (aus Versehen natür- marschiert, sie mussten sich immer Schule, keine Tische, Bücher oder ten am besten selbst erklären. Einer – Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen
lich) oder mit seinem Skate-
board in einen Gemüsestand
wieder verstecken, weil Soldaten auf Stifte gibt. er heißt Hesmat – hat seine Geschich-
brettert (ebenfalls unabsicht- sie schossen. Massoud hatte die beiden Viele Flüchtlinge hoffen, dass sie te von einem Journalisten aufschreiben
lich). Robert könnte gut ein älteren Kinder getragen, Leyla die möglichst schnell zurück nach Hause lassen (Hesmats Flucht heißt das Buch).
wenig langweiliger sein, fin- jüngste Tochter. Zusätzlich schleppten können. Für einige aber gibt es kein Der Junge kommt aus Afghanistan EIN KNIFFLIGES RÄTSEL:
det Tims Mutter. Aber würde sie Rucksäcke, Kleider, Decken. Leyla Zurück mehr: Sie werden daheim von und floh mit elf Jahren allein aus sei- Findest Du die Antworten
er dann ein Zauberschwert und – in den getönten Feldern –
erkennen, wenn er eins vor hatte außerdem ihr Hochzeitskleid der Geheimpolizei gejagt, weil sie sich ner Heimat. Viele Kinder und Jugend-
eingepackt. Das fand ich damals al- für Menschenrechte eingesetzt, weil sie liche machen sich ohne Eltern auf den das Lösungswort der Woche?
der Nase hätte? Robert durchschaut sofort,
wie man mit diesem erstaunlichen Schwert bern. Wozu braucht man auf der Demokratie gefordert oder einfach Weg. Oft sind die Eltern im Krieg ge-
in die Vergangenheit reisen kann – und U 1. Einer der Kleinsten – und doch der
Flucht ein Hochzeitskleid? »Damit ich nur, weil sie kritisch über die Macht- storben. Oder die Familie hat be- M gekrönte Chef? – im Singvogelreich
schleppt Tim gleich mit in die Welt der S
Ritter. Dass es dort keine Sekunde langwei-
mich an etwas Schönes erinnern kann«, haber geredet haben. Solche Menschen schlossen, wenigstens eines der Kinder
2. Tierische Kunst, besteht aus
lig wird, versteht sich von selbst ... hatte Leyla gesagt. nennt man »politisch Verfolgte«. für ein besseres Leben nach Europa zu E Zweigeflechten und Polsterarbeiten
Je länger ich Massoud und Leyla Wenn so ein Mensch nach Deutsch- schicken. Hesmat war 14 Monate un- C
K 3. Steuert die Klopftöne zum Vogelkonzert
Anu Stohner: Robert und die Ritter. Das
damals beobachtete, desto mehr dach- land kommt und beweisen kann, dass terwegs durch Turkmenistan, Kasachs- im Wald bei
C
Zauberschwert te ich: Flüchtlinge sind gar nicht so ihm in seiner Heimat Tod oder Ge- tan und Russland, bis er schließlich in H
dtv 2011; 9,95 Euro; ab 7 Jahren schwach. Wenn jemand über hundert fängnis drohen, dann erhält er »politi- Österreich landete. Auf der Flucht E 4. »HORCHT, ENKEL«, spricht Opa, »das
N fällt nicht nur mit Signalfarbe, sondern auch
Kilometer marschiert, dabei seine Kin- sches Asyl«. Das Problem ist nur: Für wurde er verprügelt, bestohlen, be- mit lautem Gesang auf«
der trägt und schützt, obwohl vielleicht Verfolgte ist es inzwischen schwierig, ja droht – ein elfjähriger Junge kann G
E 5. Einer steht gern auf der Bühne,
SC H E H U jemand auf ihn schießt – dann muss er fast unmöglich, nach Deutschland sich ja kaum wehren. In Österreich ist einer hockt gern im Kirschbaum
NI ziemlich stark sein. oder nach Europa zu kommen, weil an er schließlich in einem SOS-Kinder-
D
A
ELEKTRO

6. Singen oft ihr »pinkepink«,


D

Es ist ziemlich lange her, dass ich den Flughäfen und an den Grenzen dorf gelandet, konnte zur Schule ge- C
H Herr Blaukappe und Frau Graubraun
Massoud und Leyla getroffen habe. In- immer strenger kontrolliert wird. Men- hen und eine Lehre als Elektriker T 7. Eieieieiei, was findet man bald nach der
zwischen werden die Kurden im Irak schen aus afrikanischen, arabischen machen. Hesmats Geschichte ist gut
ER

D Bleeker nicht mehr verfolgt, und wahrschein- oder asiatischen Ländern dürfen nur ausgegangen, die Geschichten vieler
Vogelhochzeit im Nest?
8. Hat man je eine BISAM-EULE im
lich sind die beiden zurück in ihre einreisen, wenn sie ein Visum (das ist anderer Flüchtlingskinder gehen lei-
Frühlingskonzert gehört? Sie andererseits
Heimat gegangen. Aber es gibt immer eine Erlaubnis zur Einreise) haben. der nicht so gut aus. Sie werden er- schon oft!
Fotos: Arianna Arcara/Cesuralab/LuzPhoto/fotogloria [M]; Fotex (im Wappen); Hans G. Lehmann (ABBA); Apfel Zet (Piktogramme); Niels Schröder (Wappen)

noch viele Flüchtlinge: ungefähr 40 Wenn aber jemand in seiner Heimat wischt, eingesperrt und in ihre Hei-
9. Sind mit dunklem Federkleid und hellen
Millionen Menschen auf der ganzen verfolgt wird, kann er nicht einfach in mat zurückgeschickt. Flötentönen in der Vogelschar vertreten
10. Der heißt, wie er zwitschert – gern aus
dem Weidenlaub heraus

1
OE
2
E U
3
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4
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DIE ZEIT, KinderZEIT,
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1. umgraben, 2. Maulwuerfe,
3. Krokusse, 4. Rasenmaeher,
5. Veilchen, 6. Gartenzwerg,
7. Laube, 8. giessen, 9. Flieder,
Dicht gedrängt stehen Flüchtlinge auf einem kleinen Boot, das die italienische Insel Lampedusa im Mittelmeer erreicht 10. Ginster. – BLUMENBEET
48 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 KINDER- & JUGENDBUCH

a b 14
Jahren
Ein neues Leben, bitte!
»Zeit der Wunder« erzählt das Drama einer politischen Flucht VON BIRGIT DANKERT

I
chheißebläsfortünuntichbinbürgader- französischen Republik ...« –, da ist Gloria ver- wie hoch die von uns oft für selbstverständlich ge-
französchenrepublikdasisdiereinewaheit« schwunden. Sie erlebt nicht mit, wie er in langen haltenen Werte der Demokratie dort eingeschätzt Luchs Nº 292
– mit diesem mühsam auswendig gelernten acht Jahren fließend Französisch lernt, schließ- werden, wo man sie mit Füßen tritt.
Satz macht sich ein Junge aus dem Kaukasus lich einen gültigen französischen Pass besitzt und Die Autorin erzählt in drei Zeitebenen: In der
auf den Weg nach Frankreich – ins Land sogar ein Studium beginnt. Gegenwart wird der erwachsene Blaise Fortune
der Freiheit und der Menschenrechte. Der Junge An all dies erinnert sich der zwanzigjährige mit seiner wahren Identität konfrontiert. Seine
heißt Kumaïl, und er glaubt tatsächlich, was er Blaise, als er im Flughafen auf eine Maschine nach eigene Erinnerung beginnt mit dem siebten Le-
sagt. Man hat ihm erzählt, er sei Franzose, als Baby Tbilissi wartet: Er hofft, Gloria dort zu finden. bensjahr und führt ihn zurück in die Leidenszeit
habe die junge Russin Gloria ihn vom Schoß Das gelingt tatsächlich. Doch die todkranke Frau einer fünfjährigen Flucht. Glorias Erinnerungen
seiner Mutter aus einem zerbombten Zug gerettet. hält für den erwachsenen »Monsieur Blaise« bitte- aber reichen bis in die Zeit vor Kumaïls Geburt. Jeden Monat vergeben
Auch den Pass habe sie mitgenommen. Darin re Wahrheiten bereit: über sich, über Zem Zem Die Grausamkeiten, die Blaise erlebt, erfährt der DIE ZEIT und Radio
steht der Name Blaise Fortune. Gloria, die ihren und über Kumaïls eigene Herkunft. Erschüttert Leser aus dem Blickwinkel des klugen, gefühlvol- Bremen den LUCHS-Preis
für Kinder- und
Schützling »Monsieur Blaise« nennt, ihn umsorgt erkennt der junge Mann, dass die Hoffnung und len Jungen – zunächst naiv, später staunend, zu- Jugendliteratur.
und aufmuntert, kann über seine Rettung eine Zuversicht seiner Kindheit auf falschen Vorstel- letzt ratlos und suchend. So können selbst Bruta-
Am 12. Mai, 15.20 Uhr,
wunderbare Geschichten erzählen. Auch vom lungen beruhten, dass seine französische Mutter litäten, Mord und Verrat glaubhaft Teil einer stellt Radio Bremen das
paradiesischen Obstgarten ihrer Familie und ein Traumbild war und dass er das Glück des Le- Flüchtlingsgeschichte werden, die auch Freund- Buch vor. Redaktion: Libuse
Glorias Liebe zu Zem Zem lässt sich Kumaïl im- bens nur Glorias Liebe, ihren erfundenen Ge- schaft und die ersten Verliebtheiten kennt. Cerna. Das Gespräch zum
mer wieder berichten, wenn ihn die Sehnsucht schichten und ihrem klugen Fluchtplan zu ver- Nicht ohne Humor endet fast jedes Kapitel Buch ist abrufbar unter
nach seiner französischen Mutter packt. Oder die danken hat. Die Tragödie seiner Beschützerin und mit einer kleinen lehrhaften Pointe. Oft sind dies www.radiobremen.de/
Verzweiflung. ihres tschetschenischen Geliebten hatte er nicht Glorias Kommentare, wie ihre Antwort auf die funkhauseuropa
Gloria und Kumaïl leben in einer Flüchtlings- gekannt. Man darf mit Monsieur Blaise – oder Frage, ob man im Krieg glücklich sein dürfe.
unterkunft am Rande der Stadt Tbilissi in besser doch Kumaïl? – weinen, wenn er endlich »Glücklich sein wird zu jeder Zeit empfohlen,
Georgien. Später kommen sie auf einer vergifteten erkennt, was und wer eine Mutter ist. Monsieur Blaise«, sagt sie. Manche Passagen – wie
Müllhalde unter. Denn sie versuchen vergeblich, Die 1971 geborene, erfolgreiche und vielseitige die, die im romantisch gezeichneten rumänischen
mit dem Schiff nach Westen zu gelangen. Schleu- Kinder- und Jugendbuch-Autorin Anne-Laure Zigeunerlager spielt, verschaffen dem Leser eher
ser, die sie über den Landweg nach Frankreich Bondoux hingegen muss man bewundern. Ihre unterhaltsame Lektüre. Doch selbst sie sind sorg-
bringen wollten, betrügen sie. Jahre gehen dahin Geschichte ist keine Dokumentation, sie erzählt fältig ausgewählt und verweisen jeweils auf Vor-
mit der Flucht auf Straßen durch Osteuropa. Im- beispielhaft, was in unserer von regionalen Kämp- urteile oder menschliche Grenzbereiche.
mer wieder holen die Kriegswirren der Kaukasus- fen heimgesuchten Welt täglich tausendfach ge- Bondoux und ihrer guten Übersetzerin Maja
Unruhen in den neunziger Jahren die beiden ein. schieht: Eine Frau mit durchaus problematischer von Vogel gelingt es, die Gefühle von Blaise und
So wächst Kumaïl/Blaise in einer Welt voller Rebellen-Vergangenheit und ein kleiner Junge Gloria zum Mittelpunkt und zum Erklärungs-
Ungewissheit vom vertrauensvollen Kind zum machen sich auf den Weg, um dem Kind eine muster eines politischen Dramas zu machen. Der
So sieht die zweifelnden Jugendlichen heran. Nur Gloria gibt Überlebenschance in einem freien Land zu er- Leser erhält dadurch ein authentisches, lange in
Innenseite eines ihm Schutz und spielt herunter, wie krank sie möglichen. Frankreich ist das Land der Freiheit Erinnerung haftendes Bild vom Leid, vor allem
französischen selbst ist, ausgezehrt von den Entbehrungen, die für den russisch-tschetschenischen Jungen mit aber den Wundern einer gelungenen Befreiung.
Reisepasses aus Lungen vergiftet von der Arbeit auf dem Müll- dem gefälschten Pass. Die politisch geschulte Glo-
berg. Doch als der Junge endlich vor französi- ria hat die Voraussetzungen dafür geschaffen. Die Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder
schen Zöllnern seine Identität bekennen kann – wundersame Rettung des »Monsieur Blaise« ruft Aus dem Französischen von Maja von Vogel
»Ich bin Blaise Fortune und ich bin Bürger der nicht nur französischen Lesern ins Bewusstsein, Carlsen Verlag 2011; 188 Seiten; 12,90 Euro

ab 12 ab 8
Jahren Jahren

Ein Freiheitsfreund Das Hamstermassaker


Geschichte: Vom Leben des Robert Blum VON RALF ZERBACK Eine Ermittlung in Sachen Haustiermord VON SUSANNE GASCHKE

Brillante Politiker gibt es in der neueren deut- Als Begleiter Blums erfindet Parigger den Hamster sind problematische Haustiere. Sie Anna und ihr kleiner Bruder Tom wünschen Beide sind Weibchen, angeblich. Wohl eher
schen Geschichte nicht so viele. Einer aber leuch- 16-jährigen Jungen Friedrich Wilhelm, der auf kriegen wahnsinnig schnell einen Herzinfarkt. sich sehnlichst einen Hamster. Unterstützt werden ein Elternpaar, tatsächlich: Denn nach ein paar
tet: Robert Blum, der Freiheitsfreund. Er wurde der Straße lebt. Das ist ein gelungener Kunst- Oder werden von Schiebetüren zerquetscht. sie dabei von Annas bester Freundin Susanne. Wochen werden acht winzige Hamsterbabys
am 9. November 1848, einen Tag vor seinem griff, der die Geschichte anschaulicher macht. Oder nagen Kaschmirmäntel an und ersticken Doch die Erwachsenen sind völlig uneinsichtig: geboren. Und dann geschieht etwas, was den
41. Geburtstag, erschossen. Damals gab es eine Kurzweilig ist die Lektüre über das letzte Lebens- an den Flusen. Meerschweinchen hingegen sind Annas Vater sagt, er habe in dieser Familie nicht Kindern noch schrecklicher vorkommt als
Revolution – und Robert Blum war einer der jahr Blums, seine Zeit als Verleger und Pauls- viel besser als Haustiere geeignet. Sie können die Hosen an und Annas Mutter müsse entschei- Omas Tod: Alle acht Hamsterbabys werden in
Kämpfer für Freiheit und Demokratie. kirchenparlamentarier. Eingestreut viele interessante Geräusche machen. Sie erken- den. Annas Mutter sagt, Hamster kämen ihr einer Nacht totgebissen – und Elternhamster
Der Autor Harald Parigger zeigt viele sind Sachkapitel zur sozialen Not etwa nen auf lange Distanzen, wenn jemand Gurken schon wegen der »Neuen Katze« nicht ins Haus. Nummer 2 verschwindet aus dem Käfig.
Facetten dieses Mannes: den Blum, der oder zur Märzrevolution, außerdem mit dem Messer schneidet. Sie sind robust. Die »Neue Katze« ist wild, jagt alles Wahrscheinlich ist er der Täter, sa-
kämpft und spricht, wie auch den Blum, gibt es Zeittafel und Glossar. Dafür, dass Katie Davies’ Buch Das große (von nackten Zehen bis zu Klospül- gen die Erwachsenen.
der hilft und rät. Deutschland ist in Am Ende kämpft der friedselige Hamstermassaker von Hamstern handelt und geräuschen) und erschreckt andere Aber Anna, Tom und Susanne
dieser Zeit ein Staatenbund mit vielen Blum mit Waffen, auf den Barrikaden nicht von Meerschweinchen, ist es ein großartiges Haustiere zu Tode. »Du und dein Bru- wollen das nicht glauben. Gemein-

Foto: Pascal Bastien/Fedephoto/StudioX


Fürsten, die oft mit Willkür regieren. in Wien. Die alten Mächte siegen, Buch. Oder nein, eigentlich ist das ungerecht: Es der, ihr könnt den Hamster auch gleich sam mit Omas Freundin Mrs. Rot-
Ihre Gegner sind Männer wie Blum, die Blum wird verhaftet. Doch sein Tod ist auf jeden Fall ein großartiges Buch. Es ist span- umbringen, wenn ihr ihn auch nur in herham, einer pensionierten Krimi-
für Einheit und Freiheit kämpfen. Sie machte ihn zum Helden der Zeit. Ein nend. Witzig. Ironisch. Lehrreich. Man erfährt die Nähe von der Neuen Katze lasst«, nalbeamtin, starten sie eine richtige
tragen Schwarz-Rot-Gold, die verbote- Buch gegen das Vergessen der frühen zum Beispiel, was Massaker bedeutet. Massaker sagt die Mutter. Ermittlung. Wichtige Frage: Gibt
nen Farben. Der Kölner Blum, seit 1832 in Leip- Demokraten. Wunderbar sind die Illustrationen allgemein: Gemetzel, Blutbad, Massenmord. Um- Oma ist es, die den Kindern erklärt, warum es jemanden, der schon mal etwas Ähnliches
zig zu Hause, gründet Vereine, hält Reden, von Klaus Puth. gangssprachlich, scherzhaft: eine schwere Nieder- Mama ein gestörtes Verhältnis zu Hamstern hat getan hat? Es sieht gar nicht gut aus für die
schreibt Artikel, gibt Zeitungen und Bücher lage, besonders im Sport. So steht es im Lexikon. (Schiebetür, Kaschmirmantel). Als Oma stirbt Neue Katze. Aber auch nicht für Mama ...
heraus. Er ist ein Kümmerer, ein Auf- und Ein- Harald Parigger: 1848 – Robert Blum und Das Hamstermassaker, da ist sich Anna sicher, war (ein sehr stiller, trauriger Teil des Buches), weint
mischer, ein sanfter und kämpferischer Men- die Revolution der vergessenen Demokraten auf jeden Fall ein allgemeines Massaker. Aber der Annas Mutter viele Tage lang. Und dann dürfen Katie Davies: Das große Hamstermassaker
schenfreund und Familienvater – ein Vorbild. Arena Verlag 2011; 144 Seiten; 9,99 Euro Reihe nach. zum Trost für alle doch zwei Hamster ins Haus. Sauerländer Verlag 2011; 207 Seiten; 14,95 Euro
FEUILLETON
LITERATUR GLAUBEN & ZWEIFELN
Zum hundertsten Geburtstag Islam: Reaktionen auf den Tod
von Max Frisch S. 52 Osama bin Ladens S. 62

12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 49

FILMFESTSPIELE IN CANNES

Von wegen mundtot!


Trotz Berufsverbots haben iranische
Regisseure neue Filme gedreht

Es ist eine echte Sensation: Die Filmfestspiele


in Cannes werden neue Filme von Jafar Pana-
hi und Mohammed Rasoulof zeigen. Zur Er-
innerung: Die iranischen Regisseure waren
2010 in Teheran verhaftet worden und wegen
»propagandistischer Aktivitäten« zu sechs
Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot ver-
urteilt worden. Sie legten Berufung gegen das

Im Geisterreich
Urteil ein, doch in vielen Berichten war fortan
zu lesen, die beiden seien in Haft. Wie aber
konnten sie da Filme von 100 (Rasoulof) und
75 Minuten Länge (Panahi) drehen?
Der Fall zeigt, wie undurchsichtig solche
Vorgänge in einer Diktatur für Außenstehen-
de bleiben. Selbst Kollegen der Verurteilten in

der Moral
Iran finden die sensationsheischenden Mel-
dungen, in Cannes würden Filme der Häftlin-
ge gezeigt, »lächerlich«. Beide Regisseure sind
seit ihrer Verurteilung auf freiem Fuß und
warten auf den Ausgang des Berufungsver-
fahrens. Aber die Sache wird noch komplizier-
ter: Mohammed Rasoulof hat für seinen Film
Schon baumeln wieder die Anti-AKW-Buttons Bé Omid é Didar (Auf Wiedersehen) sogar eine
offizielle Drehgenehmigung der Behörden be-
an den Kinderwagen. Realpolitik wird gefürchtet. In Libyen kommen; inzwischen hat er sein Werk beim
will man nicht militärisch helfen, Osama bin Laden hätte nicht Kulturministerium eingereicht: Er bemüht
sich um die Erlaubnis, ihn in Iran vorführen
getötet werden dürfen, der Afghanistan-Einsatz gilt als zu dürfen. Wer nun denkt, der 38-Jährige habe
dafür Kompromisse mit dem Regime gemacht,
bedenklich. Über einen deutschen Reflex VON ADAM SOBOCZYNSKI sieht sich abermals getäuscht: Nach Angaben
des Festivals erzählt der Film die Geschichte
eines jungen Teheraner Anwalts, der ein Visum
zum Verlassen des Landes zu ergattern sucht
– genau das, was Rasoulof im Winter versucht

D
ie achtziger Jahre sind womöglich chen der Frauenunterdrückung in unserer Ge- ral hatte der Fürst immer schon unrecht. So wie rung, nicht nur den Buchstaben des Gesetzes zu hat. Solch einen Film zu erlauben, zeigt vor

Illustration: Smetek für DIE ZEIT/www.smetek.de


nicht nur in modischer Hinsicht sellschaft, der Schwule als Opfer der Zwangs- jeder realpolitisch Handelnde oder auch nur Un- gehorchen und sich so in den Grenzen der Lega- allem eins: Willkür und totale Verunsicherung
zurückgekehrt, auch die Insignien, heterosexualität in unserer Gesellschaft – und verbitterte in den achtziger Jahren immer schon lität zu halten, sondern den eigenen Willen mit sind die perfidesten Kontrollmethoden des
Lebensgewohnheiten und Ein- so weiter. unrecht hatte gegenüber einem moralisch hoch- dem Geist des Gesetzes zu identifizieren, klingt Regimes. Die Kunst, einander offenbar wider-
stellungen des neuen Bürgertums Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als gerüsteten Bürger, dessen beständige Gewissens- noch heute mit, wenn man etwa belehrt wird, streitenden Behörden Zugeständnisse ab-
scheinen sich gespensterhaft an die Tradition der hätten die sogenannte Spaßgesellschaft, Harald befragung und anklagende Innerlichkeit unver- jeder müsse mit dem Umweltschutz vor der ei- zuluchsen, wird für den Regisseur so wichtig
alten Bundesrepublik zu schmiegen. Der »Atom- Schmidts heitere Angriffe auf die Political Correct- kennbar in der pietistischen Tradition des 18. genen Haustür anfangen. Wem solch lediglich wie ein gutes Drehbuch.
kraft? Nein Danke«-Button wird wieder ganz ness oder die popliterarische Feier der Oberfläche Jahrhunderts wurzelten. Dieser verbarg mit dem individuelle, vorauseilende Anstrengungen nicht Panahis neues Werk – ohne Genehmigung
unironisch an Kinderwagen und Blusen geheftet, und der Warenwelt längst einen Mentalitätswech- Verweis auf Moral nur notdürftig die eigenen spontan einleuchten, der wird sogleich entlarvt entstanden – ist noch direkter autobiografisch:
man nimmt teil am Protest gegen Stuttgart 21 sel herbeigeführt. Der moralische Überschwang handfesten Interessen. als jemand, der angeblich kein kritisches Be- In Film Nist (Dies ist kein Film) ist eine Art
und empfindet auch wieder moralische Über- der Nachkriegsgesellschaft schien jedenfalls gründ- Historisch besehen, hat, um das Mindeste zu wusstsein entwickelt hat. filmisches Tagebuch, in dem der Regisseur
legenheit angesichts der hässlichen Realpolitik: lich überwunden, Witze über Müsliesser, Frie- sagen, das starke Augenmerk, das man in der vom endlosen Warten auf den Ausgang seines

E
Die Irritation jedenfalls war groß, als die Kanz- dens- und Umweltaktivitäten galten zu Recht als Aufklärung auf die Sittlichkeit richtete, Deutsch- thik in Deutschland ist traditions- Berufungsverfahrens erzählt. Man sieht ihn in
lerin angesichts der Tötung von Osama bin Laden arg angefault. land keineswegs zu einer moralischen Anstalt gemäß Gesinnungsethik. Handlun- seiner Wohnung, auf dem Balkon mit Blick
ihre Freude bekundete. Und vermutlich war die gemacht. Die Moral ist offenbar eine Kraft, die gen werden im Hinblick auf die über Teheran, auf dem Sofa, einen Leguan auf

N
Furcht der Regierenden vor einem Bundeswehr- un reicht der moralische Idealis- stets das Gute will und mithin das Böse schafft. Realisierung eigener Prinzipien be- der Schulter. »Die Tatsache, dass wir am Leben
einsatz in Libyen auch nicht unberechtigt: Nie- mus, der die Bundesrepublik über Hannah Arendt hat in ihrem Buch über Adolf wertet, ungeachtet der Handlungs- sind, und der Traum, das Kino am Leben zu
mand wäre sonderlich verwundert gewesen, hät- lange Zeit prägte, weit zurück und Eichmann minutiös dargestellt, wie der morali- folgen. Ein Gesinnungsethiker fragt sich nach der erhalten, haben uns motiviert, über die exis-
ten im Falle einer deutschen Beteiligung muntere kann bei Bedarf, wie man gerade sche Diskurs in Deutschland mit nationalsozia- Tötung eines Terroristen, ob die Tat gegen seine tierenden Grenzen des iranischen Kinos hi-
Antikriegsdemonstrationen stattgefunden. verwundert sieht, auch wieder aus listischen Überzeugungen bestens verschmelzen Prinzipien verstößt. Der Verantwortungsethiker nauszugehen«, schreibt Panahi in einem Brief
Für den Augenblick ist man jedenfalls eher der Versenkung geholt werden. Er gehörte bereits konnte. Der Generalgouverneur des besetzten hingegen räsoniert über die Folgen der Tat und an die Festivalleitung, die ihn zusätzlich mit
wieder verführt, Kritik am berüchtigten Gut- zur Grundausstattung der sich im 18. Jahrhun- Polens, Hans Frank, reformulierte gar den kate- fragt sich, ob diese hinreichend vorteilhaft sind, einem Preis ehrt. »Unsere Probleme sind auch
menschentum der Deutschen zu üben. Der Gut- dert konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft. gorischen Imperativ dahingehend, dass man so um sie zu verantworten. Als Angela Merkel ihre unser ganzer Besitz. Dieses Paradox zu ver-
mensch, so das in die Jahre gekommene und Die Aufklärungsschriften propagierten mit Pa- handeln solle, »daß der Führer, wenn er von Freude über Osama bin Ladens Tötung bekunde- stehen hat uns geholfen, nicht die Hoffnung
vielfach missbrauchte Klischee, or- thos die Sittlichkeit des Bürgers. Dieser sollte in deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Han- te, sprach sie offenkundig als Verantwortungs- zu verlieren. Es ist unsere Pflicht, uns nicht
LEKTÜRE ganisiere eine Unterschriftenliste, moralischer Hinsicht sowohl den frivolen Höf- deln billigen würde«. ethikerin und sah sich mit einer gesinnungsethisch besiegen zu lassen und Lösungen zu finden.«
ZUR LAGE sobald in Nairobi jemand be- ling als auch den mit realpolitischem Zynismus Nun wäre es Kant natürlich niemals in den gepolten Öffentlichkeit konfrontiert. Einer Öf- Der Schritt der beiden, in ihrer unklaren
nachteiligt sei. Es galt ihm handelnden Herrscher überstrahlen. Das deut- Sinn gekommen, das Prinzip des Handelns mit fentlichkeit, die es auch prinzipiell für verant- Situation mit neuen Filmen an die Weltöffent-
Maria Shriver und Arnold seinerzeit alles als Zei- sche Bürgertum, einer Revolution abgeneigt, dem Prinzip des jeweiligen Gesetzgebers eines wortungslos hält, mit Atomkraftwerken Geld zu lichkeit zu gehen, zeugt von außerordentli-
Schwarzenegger haben sich chen für die Verdor- wirkte politisch lediglich indirekt: indem es die Landes in eins zu setzen. Doch, so Hannah verdienen – eine Abwägung von Risiken darf chem Mut – und davon, dass die Kunst nur
»nach langem Nachdenken, benheit der Gesell- Welt hygienisch aufteilte in ein Reich der Moral Arendt, lasse sich viel von der peniblen Gründ- dann gar nicht mehr angestellt werden. ganz schwer mundtot zu machen ist. Im San-
Diskussionen und Gebeten« dazu schaft: die Schmin- und ein Reich der Politik. Im Reich der Moral lichkeit, mit der die »Endlösung« in Gang gesetzt Ein Verantwortungsethiker vermag politisch de verlaufen kann das Verfahren gegen die
entschlossen, sich zu trennen, wobei sie ke als ein Zeichen residierte die Kritik, die sich vom Schmutz der wurde, »auf die eigentümliche, in Deutschland zu handeln, da er Optionen abwägt. Der Ge- beiden nun nicht mehr. Umso wichtiger ist es,
nicht sagten, um welche Gebete es sich
handelte. Auch nicht, ob nun Shriver
des Schönheits- Politik unberührt glaubte. Kritik erlag damit tatsächlich sehr verbreitete Vorstellung zurück- sinnungsethiker ist verführt, das Politische per immer wieder an ihr Schicksal zu erinnern.
oder Schwarzenegger an Jesu Worte am wahns in unse- dem »Schein ihrer Neutralität« (Reinhart Kosel- führen, daß Gesetzestreue sich nicht darin er- se als verlogen zu empfinden und im Geister- Dass Öffentlichkeit ihm helfe und nicht scha-
Kreuz gedacht hat: »Mein Gott, mein rer Gesellschaft, leck), sie wurde zur Hypokrisie, zur Scheinheilig- schöpft, den Gesetzen zu folgen, sondern so zu reich der Moral es sich bequem einzurichten. de, hat Panahi selbst immer wieder betont.
Gott, warum hast du mich verlassen?« die Missionars- keit – wie ehrenwert die Ziele der Aufklärer auch handeln verlangt, als sei man selbst der Schöpfer Seine Furchtlosigkeit sollte uns eine Verpflich-
stellung als Zei- sein mochten. Vor dem Richterstuhl reiner Mo- der Gesetze, denen man gehorcht«. Die Forde- www.zeit.de/audio tung sein. CHRISTOF SIEMES
50 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 FEUILLETON

Es steht in den Sternen


LUDWIG MEHLHORN

Am Tor zu Europa
Das Marbacher »Literaturmuseum der Moderne« spekuliert über das »Schicksal« VON THOMAS ASSHEUER Es gibt wenige Biografien, an denen man
wie im Prisma erkennt, was Ostdeutsch-
land, was die DDR im besten Fall vom

W
as das »Schicksal« angeht, so ist die oben, hier ist es bloß eine Metapher, dort Metaphy- ihn zuläuft« – den Tod als »Grundbefindlichkeit des Westen unterscheidet. Sie halten jenes
Metapherngeschichte des Abend- sik oder, wie bei Walter Benjamin, der Schuld- Daseins«. Diese Sätze zeigen, wenn sie denn kein Gefühl politischer Dankbarkeit wach, das
landes rasch erzählt. Wie die anti- zusammenhang des Lebendigen. Mal ist das Schick- Versehen sind, die Grenzen einer Remythisierung, der Westen den Bürgerrechtlern des Ostens
ken Götter, so war auch das Schick- sal erlitten, mal selbst gemacht, dann ist es, wie in die – jedenfalls in diesem Fall – mit philologischer schuldet. Ludwig Mehlhorn hat ein solches
sal einmal unsterblich. Dann aber einem Brief des Dichters Friedrich Rückert, von Waffengewalt ihr Beweismaterial sichtet und sichert. ostdeutsches Leben geführt: Arbeiterkind,
kamen zwei Aufklärer, Moses und Christus, und be- Gott nicht verhindert worden: Wie kann der All- Nicht nur, dass die Ausstellung den Juden Celan im Erzgebirge geboren, studierter Mathe-
siegelten das Schicksal des Schicksals. Sie stürzten mächtige es zulassen, dass seine Liebsten, seine Kin- poetologisch zum Ministranten Heideggers erklärt; matiker, bekennender Protestant, Mitglied
die Götter vom Thron und entzogen dem Aber- der, an Scharlach sterben? sie behauptet auch, Celan schreibe nach Auschwitz von Aktion Sühnezeichen seit 1969, Reise-
glauben an das Fatum jeden Kredit. Oder über den Tod in Denkfiguren, die ihm Sein verbot seit 1981, Berufsverbot 1985, da-

Abb.: Chris Korner/DLA-Marbach


um ein berühmtes Wort von Heinrich und Zeit vorgegeben habe. Tatsächlich spre- nach Hilfspfleger, Mitbegründer von De-
Heine abzuwandeln: Seit Moses und chen Celans Gedichte über millionenfachen mokratie Jetzt im September 1989. Ludwig
Christus schwimmt das Schicksal unbe- Mord, über die Vernichtung der europäi- Mehlhorn hatte sich früh selbst die pol-
wiesen in seinem Blut. schen Juden, sie sprechen von einer Schuld, nische Sprache beigebracht, um Texte von
Indes, die Metaphorik des Schicksals die die deutsche Sprache bis in ihre gram- Polens Oppositionellen, Wissenschaftlern
hat ihren Thronsturz blendend über- matischen Tiefenschichten verbrannt und und Schriftstellern für die Bürgerrechtler
lebt. Es bleibt eine zentrale kulturelle jede mythologisierende Rede über »Schick- der DDR zugänglich zu machen. Er war
Deutungsreserve, und vor allem in der sal« unmöglich gemacht hat. SPARGELSAISON Christ, immun gegen die Varianten kom-
Literatur ist das »Schicksal« nicht unter- Oder ein anderes Beispiel. »Sind gerettet. munistischer Weltdeutung, umso offener
zukriegen und spendet dem Leser als Wohnen 317 West 95«, telegrafiert Hannah für den genuin polnischen Weg in die De-
Chiffre für das Ungeheure, Unfassbare
und Undurchschaute einen numinosen
Arendt an Günter Anders nach langer Flucht
am 3. Mai 1941 aus New York. Was soll das Bitte mit Sauce mokratie und für die zivile Verständigung
mit den Gesellschaften Osteuropas. Der
Dokument im Kontext einer Schicksals-Aus-
semantischen Trost. Schicksal. Sieben
mal sieben unhintergehbare Dinge heißt stellung dem Publikum sagen? Dass Hannah hollandaise! Herbst 1989 war ihm ein Tor nach Europa,
es verwundert daher nicht, dass sein Inte-
der Versuch des Marbacher Literatur- Arendt einem metaphysischen Fatum ent- resse der politischen Gedankenwelt der
museums der Moderne, das Fatum auf- kam, einer Macht, die hinter den Kulissen Wir wollen hier kurz einmal das Wort Kreisauer galt, des Widerstandskreises um
erstehen zu lassen – mit kleinen Stücken der Geschichte ihr zeitloses Wesen treibt? ergreifen für eine Verteidigung des Sno- den Grafen Moltke, dessen schlesisches
aus der Schreibwerkstatt unter anderem Das kann man gewiss nicht meinen, denn bismus. Snobismus trägt dem enervieren- Gut er in ein europäisches Begegnungs-
von Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger, Hannah Arendt ist genau dem geschicht- den Umstand Rechnung, dass die Welt zentrum umzuwandeln half. Jetzt ist Lud-
Gottfried Benn, Carl Schmitt, Botho lichen Schicksal entronnen, das die Natio- sehr langweilig ist, wenn alle ständig wig Mehlhorn, erst 61 Jahre alt, in Berlin
Strauß, Martin Walser und – obendrü- nalsozialisten für Juden vorgesehen hatten. dasselbe sagen. Deswegen versucht der gestorben. ELISABETH VON THADDEN
ber und mittendrin – Martin Heid- Zwischen den Zeilen verbreitet die Aus- Snob das zu sagen, was andere noch nicht
egger, der einst die faschistische Schick- stellung den Eindruck, die Reflexion des oder nicht mehr sagen. Das ist simpel, in
salsmythologie veredelt hatte und der Schicksals sei von einer erdrückenden aka- seiner Wirkung aber wohltuend. Es trägt
nun auf dem Marbacher Weltwebstuhl demischen Korrektheit zum Schweigen ge- zur semantischen Biodiversität bei. Nun FUSSBALL
alle Schicksalsfäden in der Hand zu bracht worden und erst heute, nach dem ein kleiner Tipp zur Anwendung. Seit
halten scheint. Untergang der schicksalsvergessenen Bun- einigen Jahren sagen alle, wenn es ums
Die Atmosphäre ist entsprechend my-
thogen und dunkel, aber dazwischen gibt
desrepublik, dürfe man wieder frei und
unbefangen über das große Dunkle reden.
Essen geht, dass ihnen die einfachen Ge-
nüsse die liebsten seien. Alles kann gar Der Athlet weint
es immer wieder einen hellen klaren Wirklich? Nachdem Generationen von Stu- nicht schlicht und ursprünglich genug
Witz, kuriose Fundstücke wie Friedrich denten mit Goethes und Benjamins, mit sein! Hauptsache, gute Produktqualität, Fußballer zu sein ist ein hartes Geschäft.
Kittlers handgelöteten Synthesizer, Ro- Thomas Manns und Hans Blumenbergs heißt es dann immer. Und: Bitte keine Zerrissen sind sie zwischen der turbokapi-
bert Gernhardts Stachelschweinborsten Mythosbegriffen erkenntnisdienlich behan- molekulare Küche, ein Stück Brot mit talistischen Welt ihrer Manager und dem
oder herzbewegend aufgeklärte Texte, delt wurden, ist das nicht nur eine waghal- sehr (das »sehr« wird dann in auffälligem Identifikationsverlangen ihrer Fans. Für die
die dem Schicksal ein Schnippchen schla- sige Behauptung; sie schrammt auch an der Kontrast zur Haltung der Einfachheit Mannschaft sollen sie sich aufopfern,
gen, indem sie seine rätselhafte Macht entscheidenden Frage vorbei. Diese Frage ziemlich dick aufgetragen ...) gutem Oli- kämpfen, Titel gewinnen. Gleichzeitig müs-
freundlich anerkennen – und dadurch Planetenbild des Schriftstellers W. G. Sebald, der am 18. Mai lautet, ob es nicht eine moderne Gestalt des venöl tue es auch. Das ist ja in der Tat sen sie kühl ihre Karriereplanung »voran-
unterlaufen. Über allen sieben Vitrinen 1944 im Allgäu geboren wurde und 2001 tödlich verunglückte Schicksals gebe – neue Gewalten, die auf köstlich, wenn es aber zur Phrase von allen treiben«, den »nächsten Schritt« wagen,
flackert eine himmlische Disco-Schick- die Namen »Klimakatastrophe«, »Finanz- geworden ist, kann man es vielleicht noch »weiterkommen«. Nuri Sahin, der Dort-
salskugel, was wohl heißen soll: Die nachtragische Und doch: Ohne Kompass, ohne scharfes ana- kapitalismus« und »Fukushima« hören. Das sind essen, aber nicht mehr hören! munder, möchte ein ganz Großer werden.
Moderne macht aus Fortunas Ballwürfen eine däm- lytisches Besteck kommt man auf dem Feld des die Menetekel der Moderne, aber sie entsteigen Besonders schlimm ist es in der Spar- Genauso wie Manuel Neuer, der Mann aus
liche Pop-Kugel, anstatt dem immerwährenden Schicksals schnell in Teufels Küche. Unter dem nicht dem Opferrauch der Seinsgeschichte, son- gelzeit. Da tönt es vom Glockenbach- Schalke. Deshalb wechseln beide nach Jah-
Ernst ins Auge zu sehen, dem Einbruch der schick- Leitbegriff »Wende« stößt der Betrachter – einmal dern sind selbst fabriziert. Und nur wer nicht an viertel bis nach Eppendorf, von Kreuzberg ren den Verein. Sahin geht nach Madrid,
salhaften Zeit in das moderne Spiel. mehr – auf Heideggers Sein und Zeit, und zwar auf das Schicksal glaubt, kann den modernen Schick- bis Sachsenhausen: »Also ich esse zum Neuer vielleicht zu den Bayern, vielleicht
Bunt purzeln die Schicksalsbegriffe durcheinan- jenes Exemplar, in dem der Dichter Paul Celan zar- salsmächten in den Arm fallen. Spargel ja nie Sauce hollandaise, sondern auch nicht. Beide sind vor die Presse getreten.
der, und vielleicht geht es auch nicht anders, wenn te Anstreichungen vorgenommen hat. Der Ausstel- nur Butter. Ganz einfach und klar.« Und Beide haben bei der Pressekonferenz ge-
Zitate, die sich oft von Herzen fremd sind, um- lungskommentar lautet allen Ernstes, Heidegger »Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge«. alle nicken sie wie die Esel. Geneigter weint. Der moderne Fußballer weint, weil
standslos auf Tuchfühlung gebracht werden. Mal habe Celan die »philosophische Begründung einer Bis 28. August, Literaturmuseum der Moderne, Leser, wollen Sie sich einmal an Ihre Kü- er sich so zerrissen fühlt zwischen inkompa-
kommt das Schicksal von unten, dann wieder von Poetik« geliefert, »die den Tod voraussetzt und auf Marbach, Schillerhöhe 8 bis 10; Katalog 15 Euro cheninsel stellen und eine Sauce hollan- tiblen Systemen, zwischen Kapitalismus
daise montieren, damit Sie wieder vor und Moral. Er weint, als wolle er sagen:
Augen haben, wie viel an Geschick und Ach, dieses Geschäft ist so grausam. Ich
Fingerspitzengefühl in eine solche Sauce würde so gerne hier bleiben, aber was soll
eingeht, und wie herrlich es ist, wenn die ich machen? Irgendwann muss sich das
Emulsion aus Eigelb, Weißwein, Butter Individuum aus dem Kollektiv winden und
und Zitrone im Wasserbad glückt und egoistisch sein. Je härter dieser kapitalisti-
nicht zerfällt. Und beim nächsten Busi- sche Imperativ zuschlägt, desto eher spüren
nesslunch bestellen Sie dann bitte lauthals die Spieler die engen Bande zu ihrem Verein,
Sauce hollandaise, um dem kulinarischen desto eher beglaubigen die Tränen ihre Wor-
Justemilieu, dem vernagelsten von allen, te. Der moderne Fußballer
ein Licht aufzusetzen. Das wäre mal ein weint um den Verlust
neuer Ton. Ich meine, wer sehnte sich seiner Herzensliebe, für
nicht nach der Einfachheit des Paradieses? den er sich selbst entschie-
Aber wir sind nun mal aus dem Garten den hat. KILIAN TROTIER
Eden vertrieben und haben seither die ein
oder andere Kultur- und Küchentechnik
dazugelernt. Es gibt keinen Grund, das zu Nuri Sahin muss
verleugnen. IJOMA MANGOLD leider nach Madrid

DROGENKRIEG

»Kein Blut mehr«


Selten mischt sich ein Poet so vehement in der April mit über 1400 Toten der blutigs-
die Politik ein wie der mexikanische Dich- te Monat im mexikanischen Drogenkrieg
ter Javier Sicilia, dessen Sohn kürzlich in – ein Krieg, der bislang etwa 40 000 Men-
Fotos (v.o.n.u.): Michael Weber/imagebroker/mauritius images; [M] Sascha Schuermann/dapd; Alex Cruz/EPA/dpa

Cuernavaca, in der Nähe von Mexiko- schen das Leben kostete. Die Kritik galt
Stadt, ermordet wurde, wahrscheinlich insbesondere Präsident Calderón, der seit
von einem Drogenkartell. Am Wochen- 2006 die Armee gegen die Drogenkartelle
ende führte Sicilia von dort aus einen einsetzt. Erst Calderóns »Krieg gegen die
mehrtägigen Schweigemarsch zum zen- Drogen«, so die Demonstranten, habe die
tralen Platz der Hauptstadt, und etwa Gewaltspirale ausgelöst. Dass sich vor den
hunderttausend Bürger folgten ihm. »No Wahlen im nächsten Jahr etwas ändert,
más sangre«, forderten sie – »kein Blut glaubt aber niemand, denn Politik, Armee
mehr«. Auch in anderen Städten fanden und Drogenmafia sind, wie Sicilia beklag-
Demonstrationen statt, schließlich war te, tief verstrickt. JOHANNES THUMFART

In Mexiko-Stadt:
Protest der Bürger
gegen die Gewalt
FEUILLETON 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 51

Die Quotenfrau
Angeblich weiß sie, was Deutschland sehen will: Ein Gespräch mit der Senderchefin Anke Schäferkordt über das Menschenbild von RTL

DIE ZEIT: Frau Schäferkordt, ein Kollege hat Sie Interessant wäre es sicher. Aber ich kann mir ja
neulich in einem Porträt als »wonder woman« der schlecht – wie die Chefs in der Sendung – einen
deutschen Medienlandschaft angehimmelt. Wer Bart wachsen lassen. Nur würde ich mich dabei
solche Freunde hat, braucht keine Feinde, oder? von einer Kamera begleiten lassen? Nein. Mich
Anke Schäferkordt: Ich bin kein großer Freund von drängt es nicht auf den Bildschirm. Auch wenn ich
Artikeln über mich persönlich. Ich habe in meinem hoch verschuldet wäre, was ich zum Glück nicht
ganzen Leben noch keine Homestory gemacht, ob- bin, würde ich vielleicht einen Schuldenberater
wohl es ständig Anfragen dafür gibt. Einmal fiel aufsuchen, aber sicher keinen vor der Kamera.
dabei der schöne Satz: »Frau Schäferkordt, unser ZEIT: Sonst müssten Sie sich hinterher womög-
Leser hat ein Recht darauf zu erfahren, wie Sie le- lich noch wie die »Dschungelcamp«-Bewohner be-
ben.« Ich dachte erst, der Journalist veräppelt mich, schweren, dass man Ihnen übel mitgespielt habe.
aber er meinte es ernst. Schäferkordt: Dass Kandidaten hinterher manch-
ZEIT: Dann lassen Sie uns über Ihr Geschäft reden: mal sagen, das Ergebnis fanden wir aber nicht so
RTL ist klarer Marktführer, im Januar hatten Sie gut, kommt vor. Mit öffentlicher Kritik bekommen
bei den jungen Zuschauern einen Marktanteil von sie noch einmal hohe Aufmerksamkeit.

Fotos: Thomas Rabsch/RTL (o.); kl. Fotos (Ausschnitte; v.l.n.r.): Gregorowius/RTL; Menne/RTL; Friese/RTL; Gregorowius/RTL
21 Prozent, auch beim Gesamtpublikum liegen Sie ZEIT: Aber was wir vom Camp sehen, ist genauso
deutlich vor ARD und ZDF. Wie machen Sie das? eine Fiktion wie die »Scripted Reality« im Nach-
Schäferkordt: Wir interessieren uns für unsere Zu- mittagsprogramm, wo die Realität sich einem
schauer und nehmen sie ernst. Mit ihrem Informa- Drehbuch fügt.
tionsinteresse genauso wie mit ihrem Wunsch, mal Schäferkordt: Das sind komplett verschiedene
loslassen zu wollen vom Alltag, sich mal nur gut Sendungen!
unterhalten zu fühlen, Spaß haben zu wollen. ZEIT: Können die Zuschauer unterscheiden zwi-
ZEIT: Wie finden Sie heraus, was die Leute wollen? schen »echten« Fällen und den erfundenen?
Reden Sie mit Ihrem Taxifahrer? Schäferkordt: Ja, das können sie sehr gut. Die Frage
Schäferkordt: Es ist jetzt nicht unser Hauptfor- kommt immer wieder, weil es so schön einfach ist,
schungsgebiet, aber Sie werden lachen: Das mache den Zuschauer permanent zu unterschätzen. Es
ich gerne. Nach einer großen Show ist es auch steht im Vorspann und im Abspann, dass die Ge-
spannend, Bahn zu fahren und zu hören, was die schichten gescriptet, also geschrieben sind. Ein
Menschen reden. Großteil der Zuschauer hat das wahrgenommen.
ZEIT: Und? Das wirklich Interessante ist, dass es den meisten
Schäferkordt: Montags morgens war DSDS, Zuschauern völlig egal ist. Sie fragen nur: Ist das
Deutschland sucht den Superstar, in den letzten Mo- eine Geschichte, die mich fesselt und unterhält?
naten durchaus im Gespräch. Wir kriegen auch viel ZEIT: Aber es ist doch ein kategorialer Unterschied,
Zuschauerfeedback, Zuschriften, Anrufe. Zudem ob ich von etwas Erfundenem gut unterhalten wer-
bekommen wir über tägliche Magazine wie Punkt de oder von etwas, dass sich für die Realität ausgibt,
12 ein Feedback, bei dem wir an den Quotenver- in Wirklichkeit aber nur entlang von Klischees
läufen genau sehen, welches Thema interessiert. über die Wirklichkeit erfunden wurde.
ZEIT: Mitten in der Finanzkrise haben Sie gesagt, Schäferkordt: Sie unterstellen wieder, wir gaukelten
die Leute wollen sich jetzt lieber entspannen und etwas vor. Das ist nicht so. Wir zeigen Geschichten
nicht so viel Konflikt im Programm. Nun gibt es aus dem Alltag, die so oder so ähnlich stattgefun-
einen Atom-GAU und Krieg in Libyen. Muss Ihr den haben oder stattfinden könnten. Natürlich ist
Programm jetzt noch seichter werden? die Erzählweise dabei verdichtet, aber wir kenn-
Schäferkordt: Da muss man in die einzelnen Genres zeichnen das auch entsprechend.
schauen, dort sehen wir schon eine Veränderung. ZEIT: Aber das Bild, das man dort zum Beispiel
Unsere Zuschauer haben zunächst sehr viel Nach- von Arbeitslosen vermittelt bekommt, ist doch
richten geguckt. N-tv hatte den erfolgreichsten mitunter fragwürdig. Wenn die Spaghetti Bologne-
Anke Schäferkordt, 48, zwischen Kameras im neuen RTL-Studio in Köln. Die Westfälin studierte Betriebswirtschaft, war
Monat seiner Geschichte und den Marktanteil ver- se beim Hartzler zu Hause unbedingt vom Bauch
Controllerin bei Bertelsmann und Senderchefin bei Vox. Seit 2005 leitet sie die Mediengruppe RTL Deutschland
doppelt. Damit geht aber Hand in Hand, dass der der Freundin gegessen werden müssen ...
Zuschauer auch loslassen will, mit einer Show oder Schäferkordt: So einfach funktioniert es ja nicht.
mit einer eher leichten Serie. Im Moment sucht der Wenn Sie eine solche Geschichte zeigen, heißt das
Zuschauer diesen Ausgleich verstärkt, auf einem Das funktioniert so nicht. Wenn wir bei einem ZEIT: Wir haben uns nur gefragt, ob der Fickfrosch sendfach in deutschen Familien passiert. Aber auch doch nicht: So ist es in jedem Haushalt. Das Bild
ähnlichen Niveau wie während der Krise 2009. Thema danebenliegen oder es auf einem falschen des Guten zu viel war. formal geht es für uns um die nicht unwesentliche von der Gesellschaft formt sich aus der Gesamtheit
ZEIT: Haben die Ereignisse direkten Einfluss auf Sendeplatz senden, schalten die Zuschauer um. Schäferkordt: Sein offizieller Name war übrigens Frage, wann und mit welchem Grund in unser Pro- der Informationen, die wir den ganzen Tag über
fiktionale Formate? Gibt es bald bei Gute Zeiten ZEIT: Dennoch verhelfen Sie Themen zu einer Freddy, der Frosch. Er war nicht mein persönlicher gramm eingegriffen wird. Wir wollen das klären, beziehen. Dazu gehört, was wir den Zuschauern
Schlechte Zeiten einen notorischen Grünen-Wähler, enormen Sichtbarkeit. Bedeutet das nicht auch Favorit. Aber ich distanziere mich deshalb nicht auch im Gespräch mit der Kommission. zeigen, und das ist quer durch die Genres schon
der sich im Garten einen Atombunker baut? eine gewisse politische Macht? von unserem Format. Es ist extrem erfolgreich, ZEIT: Sie haben sich mal über eine Aufführung im sehr vielfältig. Dazu kommen andere Medien wie
Schäferkordt: Natürlich finden Sie vor allem in den Schäferkordt: Ich kann oder möchte mir nicht vor- und die Zielgruppe, für die es gemacht ist, hat es Kölner Theater aufgeregt, bei der auf der Bühne die Tageszeitung, Radio, Eindrücke aus der eigenen
Soaps wieder, was gerade in der Realität meist jün- stellen, dass es erst unserer Sendungen bedarf, da- extrem angesprochen. gepinkelt wurde. Lebensrealität – daraus formt sich ein Weltbild. So,
gerer Menschen relevant ist. Ob sich da gleich einer mit ein Thema, das virulent ist in der Gesellschaft, ZEIT: Warum reicht es nicht zu zeigen, dass die Schäferkordt: In einen Stahlhelm, aber das müssen wie Sie das jetzt darstellen, ist es mir, ehrlich gesagt,
einen Atombunker baut? Das wäre am Vorabend in der Politik ankommt. Das wäre vermessen. Kandidaten nicht singen können? Muss man sie der wir nicht ausführen. ein bisschen verkürzt.
wohl zu teuer ... Bei großen Primetime-Serien da- ZEIT: Aber Ihr Sender ist nun einmal Marktführer. Quote zuliebe auch noch demütigen? Wir unter- ZEIT: Dass in Ihrem Programm Känguru-Hoden ZEIT: Lesen Sie eigentlich Fernsehkritiken? Manch-
gegen sind die Produktionsvorläufe deutlich länger. Sie bestimmen mit über den gesellschaftspoliti- stellen mal, dass auch Sie das grenzwertig finden. runtergewürgt werden, ist aber okay? mal hat man das Gefühl, Sie lesen sie, dann machen
Da ganz kurzfristig auf politische Ereignisse zu schen Diskurs in Deutschland. Sie haben eine ge- Schäferkordt: Es gibt bestimmt Sachen, die nicht Schäferkordt: Das ist in vielen Ländern eine Deli- Sie alles genau entgegen dem Kritikerwunsch – und
setzen, halte ich für einen Fehler. sellschaftliche Verantwortung. mein persönlicher Geschmack sind, die aber auch katesse! Es ist einfach, Dinge zu skandalisieren, die sind erfolgreich.
ZEIT: Schaffen Sie nicht manchmal auch Bedürf- Schäferkordt: Natürlich. Jedes Medium hat sie. nicht nur für mich produziert werden. Genau da- gar nicht so skandalträchtig sind. Ich habe mich Schäferkordt: Das hängt vom Kritiker ab. Es gibt
nisse? Die Zuschauer des »Dschungelcamps« haben Als Marktführer haben wir eine besondere Ver- rum geht es eben nicht. Wenn wir Fernsehen für damals im Theater nur aufgeregt, dass ich Geld den einen oder anderen, bei dem ich sagen würde:
vielleicht gar nicht gewusst, was man alles an niede- antwortung, und wir nehmen sie wahr. Aber das Sie machen würden, würden wir dem, was wir wol- dafür bezahlt habe, dieses Stück zu sehen. Beim Wir könnten ihn einstellen und das Gegenteil von
ren Instinkten bei ihnen entsichern kann ... war ja nicht Ihre Frage. Sie haben gefragt, ob die len, nicht mehr gerecht werden. Wir würden Fern- »Dschungelcamp« – es tut mir leid, wenn ich Sie an dem tun, was er empfiehlt. Aber das Schöne ist ja:
Schäferkordt: Bitte! Sie glauben doch nicht, dass Politik Themen erst dadurch wahrnimmt, dass sehen für eine kleine, relativ elitäre Gruppe machen. der Stelle enttäuschen muss – habe ich mich ein- Das kriegen wir gratis! Im Ernst: Ganz so einfach ist
ein Format in Menschen Instinkte produzieren wir sie zum Thema machen, und das würde mich Solche Sender gibt es ja bereits. fach köstlich amüsiert, als Zuschauer. Übrigens hat es nicht. Am Ende tun Sie das Gleiche wie wir: Sie
kann, die vorher noch nicht da waren! Ich würde erschrecken. ZEIT: Aber wo ist für Sie persönlich die Grenze? das auch die Hälfte aller Menschen getan, die an erfüllen auch nur die Bedürfnisse Ihrer Zielgruppe,
uns zwar immer gern als einflussreich sehen, aber ZEIT: Wie gehen Sie mit Ihrer Verantwortung um? Würden Sie Hartz-IV-Empfänger im Rhein um ei- diesen Abenden in Deutschland Fernsehen ge- auch wenn Sie das jetzt weit von sich weisen.
das glaub’ ich beim besten Willen nicht. Die In- Wo verläuft die Grenze dessen, was Sie nicht mehr nen Arbeitsplatz um die Wette schwimmen lassen? schaut hat, quer durch alle Bildungsschichten. ZEIT: Natürlich! Wir vertreten nur die Wahrheit!
stinkte des Menschen können wir im Fernsehen so zeigen, obwohl es eine gute Quote verspricht? Schäferkordt: Nein, das würden wir natürlich nicht ZEIT: Ist die Inszenierung beim »Dschungelcamp« Schäferkordt: Entschuldigung, mein Ausdruck war
wenig beeinflussen wie Sie im Zeitungsbereich. Schäferkordt: Das kann man pauschal nicht sagen. tun. Das ist auch zynisch. Wenn Sie mich fragen: nicht ein Sinnbild für die gesamte Haltung von falsch: Ich wollte sagen, Sie erfüllen die Bedürfnisse
ZEIT: Wir wollen das ja auch gar nicht. Jeden Tag treffen wir Einzelfallentscheidungen, Würden wir alles tun für die Quote? Dann ist unse- RTL? Die Moderatoren stehen oben auf der Brü- der Leser, die ein nachhaltiges Interesse an Wahr-
Schäferkordt: Auch nicht die gehobenen Instinkte? ganz egal, ob es um Nachrichten oder Unterhal- re Antwort: Nein. Es gibt sehr viele Grenzen, die cke, schauen hinab auf die armen Würste unten im heitsfindung haben. Wollen wir es so machen?
Da bin ich jetzt erstaunt. tungsformate geht, ob im Genre Real Life oder wir ziehen. Dschungel und machen sich darüber lustig. ZEIT: Ist Ihr momentaner Erfolg auch ein Fluch?
ZEIT: Nehmen wir Bild – da sind wir auf halbwegs auch in der fiktionalen Unterhaltung. ZEIT: Ein konkretes Beispiel, bitte. Schäferkordt: Nein, es ist das Konzept dieses For- Das kapitalistische Mantra lautet ja: Wo viel ist,
neutralem Gelände. Die treiben täglich eine Sau ZEIT: In der jüngsten Staffel von DSDS gab es Schäferkordt: Es gibt ja einen Grund, warum wir mats. Wir nehmen alle ernst, die in den Dschungel kann immer noch mehr sein. Können Sie sich
durchs Dorf, von der das Publikum oft nicht wuss- »Freddy Fickfrosch«, eine Idee von Dieter Bohlen, bestimmte Dinge nicht gezeigt haben, und deshalb gehen, auch wenn wir den einen oder anderen Witz überhaupt noch steigern?
te, dass diese Sau überhaupt existiert. Schäferkordt: Nein, wahrscheinlich nicht.
Schäferkordt: Natürlich sind die Seh- Wir liegen zurzeit bei einem Zuschau-
bedürfnisse der Zuschauer nicht ermarktanteil von über 19 Prozent,
eindeutig. Ich kann mich nicht es gibt kaum einen Sendeplatz,
auf die Hohe Straße in Köln wo wir nicht Marktführer sind.
Vier von Schäferkordts Erfolgsformaten:
stellen und fragen: Was willst ZEIT: Aber ist es nicht ein blö-
»Deutschland sucht den Superstar«, das
du sehen, lieber Zuschauer? des Gefühl, dass es von nun an
»Dschungelcamp«, die »Super Nanny« und
Und er sagt: Ich fände eine Un- nur noch bergab gehen kann?
»Raus aus den Schulden« mit Peter Zwegat
terhaltungsshow toll, die komö- Schäferkordt: Ach Gott ... Es
(von links). Schäferkordt ist auch für Sender
diantische Aspekte bietet, im hat immer alles seine Vor- und
wie Vox und n-tv verantwortlich; insgesamt
australischen Dschungel spielt, Nachteile. Wir müssen vor al-
unterstehen ihr knapp 2500 Mitarbeiter
und wir schicken Prominente lem realistisch bleiben. Damit die
dorthin, die eine Zeit lang auf sich eigene Erwartungshaltung und
gestellt sind und mit der Kamera be- auch die der Gesellschafter nicht zu
obachtet werden. So einen Zuschauer hoch ist. Das Managen von Erwartungs-
würden Sie kaum finden. der mithilfe dieser Comicfigur die Kandidaten reden wir darüber auch nicht. Jeden Tag treffen wir über die Kandidaten machen! Vor allem nehmen haltungen ist im Moment mit das Wichtigste. Wir
ZEIT: Den würden Sie sonst wohl einstellen. noch mehr durch den Kakao zieht. Muss das sein? in den Redaktionen diese Entscheidungen. Wahr- wir uns selbst mal richtig auf die Schippe. werden den Vorsprung nicht halten können auf
Schäferkordt: Zumindest nachdem wir das pro- Schäferkordt: Das ist eine Geschmacksfrage, aber scheinlich gibt es auch Fälle, bei denen ich, wäre ich ZEIT: Solange es so gut läuft und gutes Geld ver- lange Sicht. In Zukunft wird der stärkste Sender
duziert, getestet und erfolgreich platziert hätten. keine ethische Diskussion, denn der Frosch war, der leitende Redakteur, anders entschieden hätte. dient, haben Sie leicht lachen. nicht mehr einen Marktanteil von 20 Prozent ha-
Aber natürlich kommt überall, wo man ein Mikro wie Sie richtig sagen, während der Castings eine Aber wenn Ihre Frage dahin zielt, ob ein Format wie Schäferkordt: Ganz offen: Wenn das mein einziger ben. Die Digitalisierung hat die Programmvielfalt
aufstellt und die Leute befragt, etwas heraus, das Comicfigur. Wir müssen schauen, welche Grenzen DSDS Grenzen bewusst überschreitet, dann ant- Beweggrund zum Lachen wäre, hätte ich an der unendlich gesteigert. Schauen Sie sich die US-Quo-
man »gewünschtes Antwortverhalten« nennt: Bitte wir uns setzen: was zeigen wir, was zeigen wir nicht? worte ich: Nein, das ist nicht so. Stelle nichts zu lachen gehabt. Das Format ist rela- ten an: Wenn ein Network in der Primetime elf
noch mehr Informationsangebote und Dokumen- Eine Diskussion über persönlichen Geschmack zu ZEIT: Für eine Folge der Super Nanny hat RTL tiv teuer und der Januar nicht der werbeintensivste Prozent erreicht, ist das schon ein Erfolg. Wenn wir
tationen! Oder: Die barocke Oper findet viel zu führen, weil Sie den Frosch nicht gut finden, halte gerade einen Bußgeldbescheid über 30 000 Euro Monat. Wirtschaftlich ist es kein großer Erfolg. ein neues Format mit 16 Prozent Marktanteil star-
wenig statt! Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie da- ich, offen gestanden, für müßig. erhalten. Die Kommission für Jugendmedienschutz ZEIT: Die Frage, ob Sie selber ins Camp gehen ten, heißt es in der Presse: Riesenflop. Angesichts
nach Ihr Programm gestalten und damit die Mehr- ZEIT: Wir fragen Sie als Gesamtverantwortliche findet, einige Szenen verstießen gegen die Men- würden, stellt sich wahrscheinlich nicht. unseres derzeitigen Erfolgs sind wir in einer Vertei-
heit der Zuschauer erreichen, ist ziemlich gering. für das RTL-Programm. schenwürde. Da haben Sie Grenzen überschritten. Schäferkordt: Die stellt sich definitiv nicht. Auf digungshaltung. Auch wir werden unsere Baustellen
ZEIT: Aber durch die hohen Quoten blasen Sie all Schäferkordt: Schon klar, nur wie oft und wie dif- Schäferkordt: Wir haben den Bescheid nicht ak- keinen Fall. Ich würde auch nicht in einer Casting- im Programm bekommen und daraus lernen müs-
die Themen auf, verleihen Ihnen eine neue Dimen- ferenziert oder eben auch nicht wollen Sie die Dis- zeptiert und Einspruch erhoben, um genau das zu show auftreten. Ich habe angemessenes Feedback, sen. Darin waren wir immer am besten: aus Fehlern
sion, vielleicht auch eine politische Brisanz. kussion führen? Sie können definitiv fragen, was klären: Verletzt auch derjenige die Menschenwür- das besagt, dass ich nicht singen kann. zu lernen. Das wird alles wiederkommen, da mache
Schäferkordt: Wenn ich da kurz widersprechen kann ein DSDS-Kandidat erwarten, wenn er sich de, der Menschenunwürdiges zeigt und dokumen- ZEIT: Sie könnten es ja als Undercover Boss ver- ich mir überhaupt keine Illusionen.
darf: Es wäre der größte Fehler, den wir machen für die Show bewirbt. Er kommt in die achte Staf- tiert? Auch wir haben die Szene intern lange dis- suchen, in Ihrem neuen Erfolgsformat.
können – zu glauben, weil wir den Stoff aufgreifen, fel, die Wahrscheinlichkeit, dass er weiß, was ihn kutiert. Zudem kann man fragen, ob es richtig ist, Schäferkordt: Das dürfte eher schwierig werden, Das Gespräch führten ANNA MAROHN und
erreichen wir automatisch vier Millionen Menschen. erwartet, ist sehr groß. bewusst auszublenden, was täglich vermutlich tau- weil ich hier im Haus dann doch zu bekannt bin. CHRISTOF SIEMES
52 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 FEUILLETON
LITERATUR

D
er erste Impuls: Man glaubt ihm die gramms und zugleich der Urahne für die Ganten- in Athen zu heiraten, nachdem die gemeinsame
hundert Jahre nicht. Frisch ist doch beins, Fabers und Geisers, die noch kommen sollten. Tochter, als die sich die erste Geliebte entpuppt hat,
immer jung gewesen. Einer, der das Stillers wichtigstes Problem ist: er selber. Seine Haupt- nach vollzogenem Inzest an einem Schlangenbiss
Erwachsenwerden ablehnte. Einer, sorge: Er möchte nicht Herr Stiller sein. Er möchte (ernsthaft: Schlangenbiss!) verendet ist. Das ist bei
den man las, als man selber jung ein Herr White werden. Ein Herr White mit ame- strenger Betrachtung ganz und gar nicht mehr an der
war und auch nicht erwachsen werden wollte. In rikanischer Vergangenheit wäre ihm lieber als ein Klamotte vorbeigeschrammt. Frisch wusste es selbst
jeder Hinsicht ein Jugendautor. Herr Stiller aus Zürich. Das mag, neun Jahre nach und hat nicht ohne Ironie davon gesprochen: Er blieb
Dass Max Frisch 1991 gestorben ist, hat man dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vielen so gegangen ein Leben lang der Kleinbürger, der literarisch groß
missbilligend zur Kenntnis genommen. Dass er ir- sein. Raus aus der Vergangenheit – das traf einen auf die Pauke haut. Der die Enge der Heimat und
gendwann alt und behäbig war, ein Schweizer Herr Nerv. Oder auch nur ein Fluchtbedürfnis. In jedem der Herkunft mit der Menge der Geliebten und der
mit Hamsterbacken und Krötenhals, der in sehr Fall eine Sehnsucht, die Folgen hatte. Wohnsitze aufwiegt. Ein, wie er es spöttisch nannte,
preußischblauen Hemden an sehr kompakten Tessi- Der Roman galt als das Paradestück der damals »Neureicher« im Leben und im Schreiben.
ner Steintischen saß und weißweintrinkend sein groß in Mode kommenden Ich-Diffusion, der Iden- Dabei war der Nonkonformist fasziniert von der
Leben Revue passieren ließ, konnte man im Fernse- titätsfragen und Rollenspiele, die so neu nicht waren, Konvention. Frisch-Frauen sind immer mondän. Sie
hen sehen. Dass er gegen dieses Alter aufbegehrte mit sondern Kinder und Enkel der alten Masken- und sind wahlweise Mannequin, Filmschauspielerin, Bal-
immer imposanteren Automobilen, mit immer jün- Verstellungskomödien und der Illusionskünste der lerina, Contessa oder Staatsanwaltsgattin. Sie beneh-
geren Frauen, war so üblich und ging niemanden deutschen Romantik. Liest man den Roman heute, men sich auch so. Kommen allerdings ausschließlich
etwas an. Für uns war und blieb er der Autor einer versteht man nicht mehr ohne Weiteres, was sich im Geliebtenfach zum Einsatz. Dann aber mit allem
Lebensdringlichkeit, die man gerne für unsere eigene dieser Anatol Ludwig Stiller von der Verwandlung in divenhaften Drum und Dran. Seitenlang sitzt man
gehalten hätte. Er sagte: »Wir leben auf einem lau- einen Mister White versprochen hat. Auch begreift in der Boutique und begutachtet Dior-Kostüme.
fenden Band, und es gibt keine Hoffnung, dass wir man nicht mehr, was er gegen seine Ehefrau, die Was Frisch rettet aus der Peinlichkeit dieser Auf-
uns selber nachholen und einen Augenblick unseres schöne Julika, einzuwenden hat, die zugegeben ein steiger-Prahlerei, ist sein trockener Humor. Der
Lebens verbessern können.« Wenige konnten die bisschen fünfziger-Jahre-steif ist mit Kostüm und Frisch-Erzähler findet sich grundsätzlich lächerlich.
Träume unserer in sich selbst verliebten, vorwärts- Handtasche und immer höflich und adrett. Aber was Das macht er klar durch einen Kunstgriff, der die
drängenden Epoche besser beschwören als Max erwartet er sich von der Liebe? Und was von seinem Romane bis heute lebendigund unverbraucht er-
Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, Helios- Leben? Ein wenig kommt einem Stiller, der so lei- scheinen lässt: ihre neusachliche Heiterkeit, hinter
straße 31, gestorben am 4. April 1991 in Zürich, denschaftlich auf einem abenteuerlichen »wirklichen
Stadelhoferstraße 28. Leben« besteht, wie ein Bub vor, der auf Mamas
Ihn nun, weil er hundert wird, wiederzulesen, die Schokoladenkuchen lauert. Stiller ist noch immer ein
großen Werke in der Reihenfolge ihres Entstehens bewundernswertes Buch voller hinreißender ironi-
– Tagebuch 1946-1949, Stiller, Homo faber, Mein scher Sentimentalität. Aber es ist ein Buch, das nicht
Name sei Gantenbein, Tagebuch 1966-1971, Montauk, mehr auf der Höhe unserer Desillusion ist.
Der Mensch erscheint im Holozän –, ist ein Wieder- Ein wenig verwundert versucht man nachzubuch-

Foto: Robert Lebeck/Max Frisch-Archiv, Zürich


sehen mit sanftem Schrecken. Nicht weil er, der ewig stabieren, wie der ständige Abriss und Neubau des
Junge, nun doch entgegen seinem lebenslangen Lebenslaufs einmal mit so viel Hoffnung verknüpft
Widerstand, man gestatte den Kalauer: entgegen sein konnte. Diese Hoffnung war nicht nur das Man-
seinen lebenslangen Frischhaltebemühungen, hin- tra von Frischs eigenem Leben, in dem das Bestän- der sich das Ich-Pathos verbirgt und die bis heute das
terrücks gealtert wäre. Im Gegenteil. Der Schrecken digste noch seine riesige schwarze Brille blieb und in Beste am ganzen Frisch ist. Für ihn wie auch für sei-
rührt daher, dass er wirklich noch so jung ist, wie er dem die letzte Geliebte bereits die Tocher einer frü- nen Freund und Lektor Uwe Johnson war es eine
es immer sein wollte. Und dass wir es sind, die gealtert heren war. Es war auch nicht nur das Mantra seiner Frage zeitgemäßer Männlichkeit, sich nicht auf weit-
sind und die den Toten plötzlich für geradezu unver- Figuren, die immerzu erwartungsfroh neue Leben schweifige Gefühligkeit einzulassen, alles bauhaus-
schämt jung halten. Woran liegt das? anprobierten. Es war das Mantra seines Zeitalters, in mäßig klar, kurz und knapp zu halten und da, wo es
Auf den ersten Blick ließen sich leichte Erklärun- dem man sich unausgesetzt aufgefordert sah, eine wehtut, abzubrechen oder ironisch zu werden. Daher
gen finden. Da gibt es die Befremdlichkeiten im neue Existenz zu wählen im Warenhaus der literari- die vielen Shortcuts in Montauk, seiner großartigen
ersten Tagebuch aus den vierziger Jahren, die ihn in schen und philosophischen Lebensentwürfe. Autobiografie. Daher die zärtliche Kaltschnäuzigkeit,
eine längst vergangene Zeit katapultieren. Die Be- Max Frisch auf der Boccia-Bahn seines Hauses in Berzona, fotografiert von Robert Lebeck Natürlich geht dennoch alles vorbildlich schlecht auch sich selbst gegenüber, die es macht, dass man
merkungen über die »Neger«, die »pflanzenhaft vor aus in Frischs Theaterstücken und Romanen. Man Frisch und seinen Helden gewogen bleibt.
sich hin dösen«, über den widerstandslosen Cha- ist schließlich modern. Das Haus von Biedermann Frisch hütet sich vor dem Heroischen, gerade weil

Das Prinzip Frisch


rakter des »Weibes«, das »sich formen lässt von jedem, brennt ab, Stiller mutiert zu einer Art Waldschrat, er es heroisch meint. Auch hier setzt er auf erzäh-
der da kommt«, und andere Grobheiten, die uns Faber bekommt Magenkrebs, Geiser, der Held des lerische Dialektik, die den Verlierer immer gewinnen
diesen hemdsärmligen jungen Menschen fremd er- späten Romans Der Mensch erscheint im Holozän, ver- lässt. Aus Selbsterniedrigung wird Selbsterhöhung,
scheinen lassen. Es gibt seine irritierende politische barrikadiert sich in seinem Schweizer Bergdorf und aus Ironie Überlegenheit, aus Trauer Hoffnung. »Mit
Indifferenz in der Kriegszeit, schon damals den Rück- baut Pagoden aus Knäckebroten, und Gantenbein der Einsicht, ein nichtiger und unwesentlicher
zug aufs Private, der verstanden werden kann als die kommt ohnehin den gesamten Roman über kaum Mensch zu sein«, heißt es im Stiller, »hoffe ich halt
literarische Variante der Schweizer Nichtein- Der Schweizer Schriftsteller wäre jetzt 100 – Wiederbegegnung mit einmal hinter seiner Blindenspielbrille hervor. Aber immer schon, daß ich eben durch diese Einsicht kein
mischungsdoktrin. Wie eine Flaschenpost aus Mär- einem unverschämt jung gebliebenen Klassiker VON IRIS RADISCH das stört nicht. Eine sanfte, im Letzten nicht unver- nichtiger Mensch mehr sei. Im Grunde, ehrlich ge-
chenzeiten liest sich auch der nahezu verschollene söhnliche Melancholie gehört zur Dialektik einer nommen, hoffe ich doch in allem auf Verwandlung,
Roman Antwort aus der Stille, den Peter von Matt vor fortschrittlichen Literatur, die, so hat Frisch das in auf Flucht. Ich bin einfach nicht bereit, ein nichtiger
zwei Jahren aus der Versenkung holte. Ein Berg- einem seiner späten Fernsehinterviews gesagt, die Mensch zu sein.« Ein schöner Schlusssatz ist das, so
mannsroman, der die »männliche Tat« verklärt, von 1900, in dieser Feier des Lebens, das man überall (und hinter dem Grauschleier des Alltags? Wie komme ich »Statthalterin der Utopie« sein sollte. Einer Utopie, kurz und bündig wie auf einer Grabinschrift. Er fasst
der »kein Weibsbild« einen Kerl abzubringen vermag, sehr bald auch auf den Schlachtfeldern) suchte. Und dahin? Wie werde ich ein anderer, als ich es bin? die vieles ausschloss. Zum Beispiel ein Stiller-Leben das literarische und biografische Programm des Au-
wenn dieser auf der Suche nach dem »wirklichen das dem kleinen Mann, der sich an sein Heim und Es sind diese Fragen, die Frisch so jung machen. in Zürich mit Atelier und Oberlicht, gegen das wir, tors in zehn Wörtern zusammen: Er war einfach nicht
Leben« ist. Frisch ließ das Buch 1937 in Nazi- seine Kaffeetasse klammert, angeblich niemals zu- Es sind Fragen, die man stellt, wenn man sich und seitdem wir an diese Utopie nicht mehr glauben, gar bereit, ein nichtiger Mensch zu sein.
Deutschland publizieren und hat es später nicht in teilwerden konnte. Er habe, sagt der kühne Jüngling, der Welt noch viel zutraut. Eine neue Welt bauen, nichts Dringliches mehr einzuwenden wissen. Das ist nun alles lange her. Inzwischen sind wir
seine Gesammelten Werke aufgenommen. der sich in Frischs verworfenem Jugendroman nach ein neues Ich, neue Ehen, neue Häuser, neue Le- Die Frisch-Welt hatte mehr zu bieten. Sie stand nüchterner geworden, zuweilen geneigt, die Nichtig-
Doch an solchen Verschmocktheiten liegt es einer männlichen Tat sehnt, noch gar kein Leben, ben, und niemals anhalten. Das Prinzip Frisch ist ihren Benutzern weit offen. Immer wieder in den keit noch für das Beste am Menschen zu halten,
nicht, dass Max Frisch uns ein wenig entrückt ist. sondern nur ein Dasein. Diese Sehnsucht nach einem ein Prinzip Hoffnung. Ernst Bloch, dessen Prinzip Romanen, in den Tagebüchern sitzt man im Flug- seitdem die Selbstverwirklichung überall im Sonder-
Dazu sind sie – auch im literaturpolizeilichen Sinn bedeutsameren Leben als dem, in dem man zum Hoffnung 1959 erschien, hat diese fortschrittliche zeug. Nach Paris, nach New York, nach Athen, nach angebot zu haben ist. Wir sind auch nicht mehr die
– zu unbedeutsam. Trotzdem erinnern sie uns da- Friseur und ins Büro geht und in dem die Liebe zu- Gestimmtheit des vorigen Jahrhunderts, des Texas, nach Mexiko, nach Guatemala und so weiter. Bewohner von Umkleidekabinen, in denen man neue
ran, dass Frisch nicht nur unser Zeitgenosse, son- verlässig in »tödlicher Kameraderie« verendet, steht Frisch-Jahrhunderts, in eine knappe Sentenz ge- Hat mal jemand die Flugmeilen im Homo faber nach- Leben anprobiert wie Kleider. Doch gerade deswegen
dern auch ein Erbe der vorletzten Jahrhundert- im Zentrum aller großen Frisch-Romane. Sie verleiht fasst: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum gezählt? Walter Faber, ein Mann mit südamerika- fehlt uns Max Frisch. Es fehlen seine Verspieltheit,
wende, ihres backenbärtigen Paternalismus und ihren Helden, die Künstler, Ingenieure, Weltreisende, werden wir erst.« nischen Geschäftsbeziehungen, reist mit seiner jungen seine Heiterkeit, seine Träume. Wir werden diesen
ihres vitalistischen Pathos war. aber niemals kleine Männer sind, von Anfang an ein Stiller, diese 1954 bei Suhrkamp im zerstörten Liebschaft durch Frankreich, Italien und Griechen- jungen Hundertjährigen noch lange lesen.
Seine lebenslange Jugendlichkeit mag hier ihren heroisches Format. Ihre Fragen sind groß und immer Nachkriegsdeutschland zur Welt gekommene Figur, land, unterhält eine zweite Liebschaft in New York
Ursprung haben. In dieser Aufbruchstimmung nach dieselben. Wie wollen wir leben? Gibt es ein Leben ist der Urtyp dieses »Darum-werden-wir-erst«-Pro- und gedenkt die Mutter der ersten am Romanende Siehe auch Reisen Seite 63
FEUILLETON 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 53
LITERATUR

Könnte ich dich »Wem wären Sie


lieber nie begegnet?«
Erfahrungen eines Journalisten mit

packen, Max! Frischs Fragebogen VON STEPHAN LEBERT

W
as es nicht alles für Möglichkeiten ge-
Eine meisterliche Biografie, eine Essay-Sammlung und ein Bildband geben hätte, eine höchst politische und
psychologische Zeitchronik der Jahre
erhellen uns die Welt des Max Frisch VON ANDREAS ISENSCHMID 1966 bis 1971 zu beginnen. Max Frisch machte es
so: Er stellte in seinem Tagebuch einen Fragebogen
an den Anfang, und die vierte Frage hieß »Wem

N
och nie konnten sich die Leser von erstaunlichen Essay das Meer. Was dachte der Soldat wären Sie lieber nie begegnet?«
Max Frisch so viele Bilder des Au- Frisch angesichts der Kriegsgefahr? »Entweder über- Immer wieder unterbricht Frisch die 432 Seiten
tors machen, der immer wieder mit lebe ich oder nicht. Schade wäre es, nie mehr das seines Tagebuches mit Frageblöcken, über Geld,
der biblischen Formel »Du sollst dir Meer zu sehen; nicht: ein Buch, eine Frau, sondern: über den Tod, über Frauen, Freundschaft, Hoff-
kein Bildnis machen« experimen- das Meer.« nung und Heimat. Man könnte nun lange darüber
tiert hat. Noch kein Jahr ist es her, da zeigten Das wichtigste Buch zum Frisch-Jubiläum ist nachdenken, ob diese Fragen nicht der eigentliche
die Entwürfe zu einem dritten Tagebuch den alten ohne Zweifel Julian Schütts Max Frisch, Biographie Schlüssel zu seiner Biografie sind, ob hinter diesen
Max Frisch, der sich imaginativ mit sei- eines Aufstiegs, 1911 – 1954. Seite für Fragen nicht die Gliederung seines Lebens steckt.
nem Sterben aussöhnte. Auf einigen Seite ist dieser Band getrüffelt mit unpu- Zum Beispiel die Frage: »Wenn Sie einen Toten
hinreißenden Seiten entfaltete er die blizierten Frisch-Zitaten. Schütt kennt die sehen: welche seiner Hoffnungen kommen Ihnen
Fantasie eines »Lebensabendhauses«. Archive, die Briefe, die Zeugen, und er belanglos vor, die unerfüllten oder die erfüllten?«
»Früher war ich Architekt«, beginnt er setzt vieles in neues Licht – den Vater, die Ich möchte hier aber nur von einer kleinen Be-

Abb.: Victor Radnicky/Interfoto/Privatbesitz: VG Bild-Kunst, Bonn 2011


und zeichnet in einem New Yorker Café journalistischen Anfänge, die Irrungen obachtung berichten, die damit zu tun hat, dass ich
»den Grundriss der hölzernen Villa mit und Wirrungen der dreißiger Jahre. Zu- seit nun 25 Jahren die Fragen von Max Frisch dabei-
den dreizehn Zimmern«. Bald schon gleich ist Schütt im Meer seines Materials habe, wenn ich einen prominenten Menschen inter-
steht sein Haus, in New England, in nicht untergegangen. Er ist seiner Sache viewe. Ich habe sie dabei, weil ich immer wieder
Wiesen, in Seenähe, viel Besuch kommt. stilistisch, darstellerisch und gedanklich denke, mit diesen Fragen kann nichts schiefgehen.
Frisch streicht »die hölzernen Säulen der gewachsen. Er schreibt elegant, fassbar, Immer denke: Diese Fragen sind ein derartiger Knül-
Veranda«. Dann verschiebt er sein Haus Julian Schütt: diskret. Er scheut die Pointe nicht, doch ler, da muss jedes Interview ein Knüller werden.
leicht ins Irreale – vielleicht sei der See im Max Frisch lieber ist ihm die Nuance. Immer denke: Die Tiefe der Gedanken wird den Weg
Osten gar kein See, vielleicht stehe das Biographie eines Schütts Frisch ist im Verhältnis zu sich in jedes Bewusstsein weisen.
Haus »weiter im Norden«. Schließlich Aufstiegs; selbst oft schmerzlich zerrissen. »Ich kom- 25 Jahre Fragen von Max Frisch. Das Fazit ist
fliegt es durch Raum und Zeit, Frisch Suhrkamp, me ja aus einem Morast von Ressentiment leider niederschmetternd: Ich habe keine Seele
wird zum Dementen, das Haus zu einem Berlin 2011; – eine Bewegung der Angst, und ich bin aufgeschlossen, nie habe ich mit ihnen eine neue
»städtischen Altersheim«, einige Seiten 595 S., 24,90 € wieder drin«, schrieb Frisch im Moment Dimension erobert. Max Frisch hat sich diese Fra-
weiter schwebt es durchs Totenreich, seines Triumphs mit dem Stiller. Zeit- gen selbst gestellt. Ich saß damit vor Politikern, vor
Frisch hat Besuch von der toten Mutter lebens hat ihn der Gedanke an den Suizid Wirtschaftsführern, vor großen und kleinen Stars,
und unterhält sich beim Frühstück mit begleitet. »Paris ist ein ideales Selbstmord- etwa mit einer Frage wie: »Welche Hoffnungen
Tschechow über Tolstoi. klima – aufpassen!« Den Stiller, der die haben Sie aufgegeben?« Das Scheitern begann in
Frisch beim schreibenden Bau eines Todesnähe bei einem Selbstmordversuch »Der Schriftsteller Max Frisch«, Gemälde von Otto Dix, 1960er Jahre der Regel mit einem Moment der Stille. Interes-
Hauses kehrt wieder in den Essays, die als »Gnade« empfindet, wollte er in der sante Frage, konnte man den Gesichtern ablesen.
Beatrice von Matt zum Frisch-Jubiläum ersten Fassung in den gelingenden Suizid Und dann folgte – weitere Stille, und am Ende:
publiziert hat. Das erste Haus geistert schicken. »Ich lebe aus keinem eigenen Kultur sehr merkwürdige Sätze über die Emigranten fehlt, mit diesen Nachrichten fertig werden soll. nichts. Max Frisch wollte sich mit seinen Fragen
durch ein Zeitungsfeuilleton aus dem Jahr Verlass heraus«, klagte Frisch 1946. in der Schweiz von sich gegeben. Im Unterschied Immer endet es in der einzigen, aber hilflosen Ge- Wahrheiten nähern. Die Stille meiner Inter-
1942, das von Matt ausgegraben hat. Schütt zeichnet Linien zu den Ver- zu seinem Freund, dem Germanisten Emil Staiger, wissheit, dass uns kein Denken, das um diese Din- viewpartner verschwand in einer anderen Wahr-
Frisch beschreibt darin, wie er mit seinem Beatrice von zweiflungen Frischs. »Einen Sonderplatz« sympathisierte er keine Sekunde mit den Schweizer ge herumgeht, wirklich weiterführen kann.« Wie heit: Wer heute interviewt wird, will ein Bild von
Bruder das Grundstück besichtigt, auf Matt: Mein gibt er der »Nicht-Beziehung« zum Vater. Nazianhängern. Er fühlte sich 1935 sehr weit ins viele 34-Jährige schrieben mit dieser Klarheit? sich entwerfen, will etwas verkaufen, will einen
Name ist Frisch
dem er für ihn ein Einfamilienhaus er- Nagel & Noch in den sechziger Jahren vermutete deutsche Wesen ein, tat das aber in einer Ausstel- Alle Wege Frischs beschreibt Schütt umsichtig: Schutzschirm aufbauen, falsche Fährten legen, will
richten soll. In die herbstliche Luft über Kimche, Zürich der Bruder als Grund von Max’ Depres- lungskritik, die den gezeigten Antisemitismus den in die Ehe und ins Zürcher Bürgertum, den etwas loswerden und nichts ergründen. Inter-
den Weinreben entwirft er ein »Haus, wie 2011; 160 S., sionen, »dass Du viel zu früh durch das »empörend« nannte und angesichts ausdruckslos durch den Kalten Krieg, den zu den großen Dra- viewpartner heutzutage wollen Fragen abwehren,
es nicht gerade ein anderes auf Erden gab, 15,90 € Schicksal, durch die Beziehungslosigkeit betrachtender Berliner sagte: »Wir bewundern men, zum Schluss zu Stiller, dem Welterfolg. In kein nicht zulassen.
hatte es doch Aussicht durch alles hin- zu unserem Vater und durch dessen Tod solche Disziplin, womit sie ihre Meinung unterdrü- anderes Werk ist die umfassende Zerrissenheit Meine 25 Jahre mit Max Frisch: Ich kann nur
durch, voll einer milden und herbstlich in die Welt hinaus und in einen einsamen cken, oder haben sie schon nichts mehr zu unter- Frischs mit solcher Wucht eingegangen. von zwei bemerkenswerten Ereignissen erzählen.
versponnenen Sonne, die auf keine Wän- Existenzkampf geworfen wurdest«. drücken?« Einmal befreite ihn eine Frau vom »schweren Einmal war es die Frage »Wären Sie gerne Ihre ei-
de traf, Obstbäume in den Tapeten«. Als Schon als Kind fühlte sich Frisch Es musste Schütt kommen, um zu bemerken, Verhängnis, das ich im Grunde gegen mich bin«. gene Frau?«, nach der Michel Friedman, Journalist
das Haus fertig war, als »die unverbindli- durch sein Spiegelbild »begrenzt, geprägt, dass Frischs verständnisvolle Schilderung des »deut- Die Enthüllung der Liebe zu Madeleine Seigner- und Politiker, geradezu zu singen begann: »Ja, ja,
che Vielfalt des Möglichen« der Eindeutig- gefangen«. In der Pubertät massierte er schen Wesens« in seinem Schwanken »zwischen Besson ist eine der schönsten Trouvaillen bei Schütt. ja, ja.« Pause. Und dann noch mal: »Ja, ja, ja, ja.«
keit des Wirklichen weichen musste, emp- seine Nase, um sie zu verlängern. Als er, Minderwertigkeitsangst und übersteigertem Selbst- Die Schwester des Regisseurs Benno Besson und Die zweite Sache habe ich geträumt, in einem Ho-
fand Frisch Scham. nach dem Tod des Vaters, zu schreiben bewusstsein« ein verdecktes Selbstporträt war. die Mutter von Frischs letzter Lebensgefährtin tel irgendwo in der deutschen Provinz, in dessen
Von Matt deutet das Feuilleton mit begann, tat er es sogleich mit dem »Ich als Schütt fand in einer Rezension die Quellen von Karin Pilliod war bislang fast unbekannt. Schütt Frühstücksraum ich am nächsten Morgen sehr
souplesse: »Die Arbeit als Architekt hat Währung«. Er und sein Spiegelbild lä- Frischs Deutschenbild. Es brauchte Schütts Ohren zeigt, dass sich Frisch durch die fünfziger Jahre früh ein Interview führen sollte mit dem damali-
Frisch definitiv zum Schreiben geführt. Volker Hage cheln sich in einer Schaufensterscheibe und Quellenkenntnis, um das erste Aufklingen des »immer von neuem in Madeleine Seigner verliebte«. gen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Der
Das fertige Haus erfuhr er als Ärgernis, (Hrsg.): Max zu. »Max. Fangen wir an, Max. Teufel, kritischen Frisch der fünfziger Jahre zu hören. In Sie blieb bei ihrem Mann und den Kindern und Traum ging so: Ich stellte Müntefering die Frisch-
das Haus in der Schrift hingegen verlieh Frisch könnte ich diese Scheibe einboxen und einer vergessenen Kritik aus der Zeitschrift Du atta- lebte zugleich in aller Freiheit mit Frisch die offene Frage »Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Men-
ihm Flügel ... Mit erzählten Häusern ließ Suhrkamp, dich packen, Max, und dich erschlagen. ckierte Frisch 1941 den Film Gilberte de Courgenay, Ehe, die diesen im Stiller so sehr faszinierte. schen umgebracht: wie erklären Sie es sich, dass es
sich spielen, die gebauten aber starrten Berlin 2011; Max!« Suizid – ein Spiel. Viel ist in den der damals die Schweizer entzückte: »Es ist einfach Wie sah Madeleine Seigner aus? Das zeigt Volker dazu nie gekommen ist?«, und er stand auf, lief
ihn an, unverrückbar.« 256 S., 24,90 € ersten journalistischen Arbeiten schon da, keine Zeit dafür; man kitschelt und geschäftelt nicht Hages opulenter Bildband, das Buch, das der dreimal um den Frühstückstisch und sagte dann,
Beatrice von Matts Aufsätze folgen der im Gedankenstrich abbrechende Satz, neben Sterbebetten.« Schließlich hat Schütt den Frischianer im Jubiläumsjahr neben sich haben jetzt erzähle er mir was, er habe sich einmal ein
dem Impuls, Frischs Reichtum hinter den die Fragetechnik. Text gefunden, der die Wende bedeutet. sollte. Etwa ein Drittel der 291 Fotos sind Erstver- Messer gekauft, um einen Menschen zu töten, ei-
Klischees hervorzuholen. Verblüffend, wie sie den Unendlich verwickelt war für alle Zeiten Frischs Der Soldat Frisch hält im April 1945 auf einem öffentlichungen. Erstmals sehen wir Madeleine nen Politiker, einen SPD-Mann ... Bevor er den
Stiller zu Pirandellos Roman Mattia Pascal in Be- Verhältnis zur Schweiz, »ein Liebesdrama« nennt es Grenzstein einen »gemütlichen Hock« mit einem Seigner mit Frisch auf Korsika. Wir sehen die Namen sagen konnte, bin ich aufgewacht.
ziehung setzt. Überraschend ihre Skizze eines exis- von Matt. Hier der erst apolitische, dann bisweilen deutschen Soldaten. Man duzt sich, man trennt Zeichnungen des Hauses, das Frisch für seinen Am nächsten Tag fand das Interview statt. Na-
tenzialistischen Frisch. In der Ereignislosigkeit der rüd chauvinistische Frisch der dreißiger Jahre, der sich, »Lidice, Oradour, Auschwitz, ich dachte daran, Bruder erträumte, Postkarten des Soldaten Frisch. türlich stellte ich die Mord-Frage, man weiß ja nie.
soldatischen Grenzwacht – »Stahlgewitter à la Suis- auch vier antisemitische Sätze auf dem Kerbholz als ich in sein Gesicht blickte. Werde ich ein ander- Und dann, zuletzt, drei unveröffentlichte Gespräche Müntefering sagte, interessante Frage, und schwieg.
se« – findet er zu sich. Der Kierkegaard- und Berg- hat. Dort der sozialistische Humanist in der Rolle mal davon reden?« Am Ende der kleinen Erzählung Hages mit Frisch. Die freiesten und amüsantesten, Es kam kein Name, und auch sonst nichts. Er sag-
son-Leser entdeckt in der Wirklichkeit, was er des nationalen Gewissens. Die 350 Seiten, die sich hat Frisch die »neuen Berichte von Buchenwald die es gibt. Frisch wollte als Jugendlicher National- te noch, darüber müsse man mal nachdenken,
vordem nur aus dem Buch kannte, seinen élan vital. Schütt nimmt, um vom einen zum anderen zu ge- gelesen, und ich weiß nicht, wovon ich da unten torwart werden, fürchtete aber, man würde ihn aber dazu fehle ihm wirklich die Zeit.
Vor »dem ihm auf den Leib gerückten Tod erfährt langen, sind das Meisterstück seines Buches. Frischs beim Grenzstein reden könnte, wenn nicht davon. wegen seines zu großen Penis auslachen. Und er Ich werde also weiterhin das blaue Suhrkamp-
er sich als lebendig«. Wie sich selbst will er fortan unangenehme Sätze werden nicht unterschlagen, So bleibe ich auf dem halben Wege doch sitzen. (...) erzählt am Tag, als Hitlers Angriff drohte und der Taschenbuch mitnehmen, die nächsten 25 Jahre.
auch sein Land erneuern. Als Glücksdimension sie werden in einen Zusammenhang voller Nuancen Buchenwald bei Weimar, ich sehe nicht ein, wie »28jährige Bursche« nur dachte »Schade wäre es, Und irgendwann jemanden treffen, der ein Mör-
dieses Existenzialismus erweist von Matt in einem gesetzt. Frisch hat als Verteidiger der schweizerischen unsereines, wenn es uns nicht einfach an Vorstellung ich würde das Meer nie mehr sehen«. der ist, nachdenkt und Zeit hat.
54 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 FEUILLETON
LITERATUR

Im Zorn geschrieben Warten auf das Ende


In »Tarmac« beschreibt Nicolas
Dickner seine apokalyptische
Eberhard Straubs Essay »Zur Tyrannei der Werte« vibriert vor Angriffslust VON HUBERT WINKELS Generation VON CATHARINA KOLLER

W M
erte stehen in einem schlechten Ruf. heute statt traditioneller Werte lieber kompetitive Industrialisierung auf dem Gipfel und Nietzsche die Höhe der unantastbaren Individualität ihrer ickey ist mehr als fasziniert von
Sie verlieren an Wert in ebendem Stärken. Und das auch noch in jener Mischung aus seine unzeitgemäßen Betrachtungen schrieb. Einzelexemplare gebracht hat. Hope: Während die anderen im
Maße, wie sie beschworen werden. Ernsthaftigkeit und Ironie, die einst durch Heinrich Eberhard Straub ist ein strategischer Gedanken- Gebildet im Sinne verschwenderischer Zitatkunst Chemieunterricht noch versuchen,
Das kann man an politischen Dis- Heine in die deutsche Welt kam. anarchist, der sich hütet, aus einer historischen oder und höherer Kavaliersreisen in die europäische Ge- eine Zitrone so mit Drähten zu verstöpseln,
kussionen sehen, wenn sie sich dem Punkt der Ebendies, die Differenzierung der Gesellschaft intellektuellen Festung heraus seine Angriffe vor- schichte, hat der Abendlanddenker Eberhard Straub dass Strom fließt, überschlägt sie bereits, wie
Letztbegründung nähern. Wenn nichts mehr hilft, und die Ironisierung aller Verhältnisse, will Eberhard zutragen. Er zieht eine Guerillataktik vor, taucht an allerhand zu geißeln, doch die Werte sind der schlech- viele Zitronen gebraucht würden, um die
hilft das christliche Menschenbild, die humanisti- Straub nicht anerkennen, weil er als Bildungsbürger unerwarteten Stellen der Geschichte auf, zitiert gerne teste Kandidat dafür. Sie sind so gut wie alles, was uns Energie einer Atombombe zu erreichen. Das
sche Tradition, die europäische Aufklärung, Goe- alter Schule um die Anerkennung von Derivaten quer zum herrschenden Kartell und verbündet sich frommt und uns belästigt, vor und nach dem Kapi- Ergebnis: »Die Sauerfruchtproduktion Flori-
the und die Weltliteratur und alles zusammen oder ehemals tauglicher Allgemeinbegriffe ringt. Er tut mit seinen Feinden bis zur Ununterscheidbarkeit. talismus. Sie sind so nahe an Platons Ideen wie an das über einen Zeitraum von 6000 Jahren.«
in verschiedenen Legierungen. Und wenn dies dies nach Art einer negativen Theologie. Es sei heute Auch immer gerne mit dem Antikapitalis- Rabattmarken. Sie sind religiös und nume- Diese absurde Rechnung drückt das Ringen
dann als Wertesubstanz des Grundgesetzes auf- unmöglich, eine positive Idee des Menschen ver- mus Marxscher Prägung. Wie ein Materia- risch zu fassen. Sie sind Joker, keine Ty- um Greifbarkeit dessen aus, was jede Vor-
gerufen wird, dann treibt es einem Polemiker alt- bindlich zu machen, da die Geschichtlichkeit, der list alter Schule sieht Straub den Begriff des rannen. Sie können nerven, nicht töten. stellungskraft übersteigt: Was passiert, wenn
europäischer Provenienz wie dem Journalisten Relativismus und damit der Nihilismus alles, auch Wertes geprägt von den Produktions- und Grimms Wörterbuch weist sage und schrei- die Atombombe einschlägt?
Eberhard Straub die Zornesfalten ins Gesicht, und die Ideen und Vorstellungen des Zusammenlebens, Tauschverhältnissen des kapitalistischen be sechzehn Spalten allein für das Adjektiv »Vorkriegsgeneration« nennt der franko-
er schreibt ein Buch über Die Tyrannei der Werte. verflüssigt hätten. Da denkt der Ideenhistoriker aus Warenverkehrs. Der Markt generiert den »wert« auf, zehn für das Substantiv und kanadische Autor Nicolas Dickner, Jahrgang
Straub sieht die formale Reinheit der rechtlichen dem Geist des 19. Jahrhunderts. Aus demselben Jahr- einzelnen Wert und das System der Werte, vierunddreißig Spalten für Komposita von 1972, in Tarmac – Apokalypse für Anfänger
Regel durch bloße Meinungen überlagert, die sich hundert stammt die zweite, die handfestere Deduk- über das eine Gesellschaft sich organisiert. »Wertabstufung« bis »Wertzuwachs« – zu- seine Altersgenossen, die in den Ausläufern des
durchsetzen und andere niedermachen wollen. Ei- tion der Ent-Wertung von Fraglosigkeiten: Die Straub fahndet nach weiteren Kandidaten sammen fast so wertvoll wie ein kleines Kalten Krieges mit dem Warten auf die Ka-
gentlich hätte Straub immer dann ein Fest zu feiern, Marxsche politische Ökonomie erkennt die Abhän- für seine Angriffslust. Da ist der moderne Buch. Der schönste Eintrag darunter ist tastrophe aufwachsen. Dass der Fall der Berli-
wenn wieder einmal deutsche Leitkultur ausgerufen gigkeit einer jeden Wertschöpfung von der Mehr- Staat, der auf immer weiteren Feldern zweifellos der unmittelbar vor »Werthöhe«. ner Mauer das Ende der atomaren Bedrohung
wird. Ebendas passiert aber nach diversen Stemm- wertproduktion und jeder Wertsetzung vom Handeln versucht, dem Individuum seine Wertsetzun- Eberhard Das Lemma lautet »werther(i)sch« und ist einleitet, ändert wenig. Schließlich bleiben
Straub:
versuchen von Helmut Kohls geistig-moralischer auf dem Markt. Straub operiert also im Wesentlichen gen aufzuzwingen. Und aktuell zorntrei- Zur Tyrannei wie folgt belegt: »es wäre nicht nur eine saurer Regen, Ozonloch und Jahrtausend-
Wende bis zur Ausländerpolitik des ehemaligen mit Nietzsche und Marx, leiht sich dort Furor und bend wirkt der Naturalismus der Biowis- der Werte impolitesse gewesen, ... eine Sünde wider wende. »Wir hatten so lange auf den Welt-
hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch kaum Polemik. Deshalb klingt immer nach frühem 20. senschaften mit seinem deterministischen Klett-Cotta, den heiligen geist, nämlich der sentimen- untergang gewartet, dass er Teil unserer DNS
mehr. Die neuen alten Werte sind mal auf der langen Jahrhundert, was da verhandelt wird. Tatsächlich liegt Angriff auf die Würde des Menschen. Bei Stuttgart 2010; talität und der Wertherschen gelben hosen, geworden war«, stellt Mickey fest.
Bank des politischen Alltags, mal an der moralischen ein Schwerpunkt der Überlegung in jener Zeit vor deren Verteidigung bekommt sogar die 173 S., 17,95 € das lustige pläsier mutwillig zu zerstören« Für Hopes Familie gilt das seit Generatio-
Empörung gescheitert. Nicht nur deshalb lobt man 1900, als Neurasthenie als Krankheit Mode war, die Tierwelt ihr Fett ab, weil sie es nicht bis auf (Wilhelm Raabe). nen. Einem Familienfluch gleich offenbaren
sich jedem Familienmitglied in der Pubertät
exaktes Datum und Hergang des Weltunter-
gangs. Um dem Warten auf diesen Wahn zu
CH
NB U entgehen, setzt Hope auf den Zufall und er-
Die Zuckerstückchenedition TASC
HE
würfelt ihr Datum, den 17. Juli 2001. Dann
verlässt die Handlung vollends den Bereich
Was ist kanarienvogelgelb wie das Kleid der Queen? Richtig: Max Goldts neues Geschenk-Büchlein des Wahrscheinlichen: Der 17. Juli ist plötzlich
Mindesthaltbarkeitsdatum auf sämtlichen
Packungen japanischer Instantnudeln, in ei-
Heutzutage kommen wir Kritiker mit ein paar nicht lieben‹ oder ›Wein ist, was man trinkt, wenn einen Kolumnisten genannt hat, definiert auf das vermeintlich geistig Überlegene. nem Comic liest Hope von einer propheti-
Gesten gut über die Runden. »Von Max Goldt das Bier alle ist‹.« Kolumnen so: »Kolumnen sind Meinungs- Nach einer Überlegung, der gemäß Tier- schen Schrift mit ebenjenem Datum – Grund
entzückt sein« ist zum Beispiel so eine Geste. Sehr Kann man aus dem herauslesen, warum es besser beiträge in journalistischen Medien, de- pfleger die zufriedensten Menschen auf genug, den Spuren bis Tokyo nachzujagen.
schön ist das Taschenbuch Max Goldt: Ein Buch ist, Max Goldt nicht zu zitieren? Es liegt auf der ren Autoren sich dadurch auszeichnen, Erden sind, folgt die Volte: »... und zwi- Vor diesem schrillen Plot wirken die Figuren
namens Zimbo (rororo 25569). Hand, und es ist plump, jemanden zu zitieren, der so dass sie unverhohlen nach Zustimmung Max Goldt: schen Zufriedenheit und Glück zu unter- Hope und Mickey pubertär blass, auch ihre
Die Schönheit des Buches ist warenästhetisch ge- treffend formuliert. Im Zitieren reißt man sich eine ihrer Leser gieren.« Ein Buch scheiden, wollen wir in diesem Moment Liebesgeschichte wagt nicht so recht, sich zu
meint: Es ist in einem Gelb gehalten, wie man es vom fremde Originalität unter den Nagel, und diese spezi- Unter anderem aus diesem Ton, der namens Zimbo den Schlaumeiern und Sprücheklopfern entwickeln. Das ist schade, aber anderes zählt:
Rowohlt Verlag,
Kleid her kennt, das die englische Königin zur Hoch- fische Originalität von Max Goldt kommt nicht zu- nach Karl Kraus klingt, schließe ich un- Reinbek 2011; überlassen.« Während Dickner in seinem viel gelobten
zeit ihres Enkels trug. Das Buch empfiehlt sich als letzt daher, dass der Autor auf sie Wert legt. gebeten darauf, dass man eine Verwandt- 199 S., 8,99 € Der Skepsis fallen ganze Kategorien zum Debüt Nikolski Landkarten und Piratenlegen-
Geschenk. Wer wenig Geld hat, hat damit etwas Andererseits haben Goldts Schriften die Eigen- schaft zwischen großen österreichischen Opfer: »Der Alltag ist eine inzwischen etwas den mit Phänomenen des Informationszeit-
Gediegenes in der Hand! schaft, dass sie gut unterhalten, aber auch nicht Traditionen und Max Goldt behaupten abgenutzte essayistische Kategorie – ich alters kurzschließt, dekliniert er in Tarmac die
Das gelbe Buch ist mit einem Zitat von Karlo schlecht belehren. Die Dichter, hieß es bei Horaz, kann. Goldt wird Ende Mai in Wien sein, und das wußte nie genau, was damit eigentlich gemeint ist. Apokalypse durch. Dafür jongliert er mit Bi-
Tobler versehen: »Zitiere nie Max Goldt zum wollen zugleich Erfreuliches und Nützliches über das ist für nicht wenige Wiener aufregend. Da kommt Als ich einmal in Definitionslaune war, sagte ich, belzitaten, Mangas und Wissenssendungen,
Scherz, / denn er fühlt wie du den Schmerz.« Die Leben sagen. Was man von Goldt Nützliches lernen ein Stil und eine Haltung heim, die es hier einst unter Alltag sei heutzutage wohl so etwas wie die kreiert abstruseste Querverbindungen und
Wikiquote im Internet hält sich nicht daran. Sie kann, sollte man weitergeben, und das geht am bes- gab: scharfer Verstand, spielerischer, aber selten gleichzeitige Abwesenheit von großer Liebe, Weih- schafft es so, Tarmac über ein bloßes Genera-
zitiert Max Goldt, wie er sich selbst zitiert: »Ich ten, wenn man es zitiert. manierierter Umgang mit ihm; ein Talent zur nachten und Krieg zu verstehen.« tionsporträt hinausreichen zu lassen.
sollte eine private Zuckerstückchenedition heraus- Ich lebe in Österreich, einem Land der allzu furchterregenden Polemik, aber von Artistik ele- So wirbelt man einen Haufen philosophischer
bringen mit aphoristischen Definitionen, wie ›Auf- einflussreichen Kolumnisten. Im Kolumnenkasten gant im Zaum gehalten. Probleme auf. Wenn man demnächst bei Laune ist, Nicolas Dickner:
räumen ist, was man macht, bevor Besuch kommt‹ toben sich die Menschen und ihre Meinungen aus. Die sogenannte Respektlosigkeit, die einen Po- kann man darüber, nicht zuletzt bei Max Goldt, mehr Tarmac – Apokalypse für Anfänger
oder ›Die Überbevölkerung sind alle, die Dich Max Goldt, den man gegen seinen Willen ebenfalls lemiker auszeichnet, bezieht sich auch bei Goldt erfahren. FRANZ SCHUH FVA, Frankfurt a. M. 2011; 249 S., 19,90 €
FEUILLETON 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 55
LITERATUR

Das Maximum an Liebe


Perfide Einheit von sexuellem Missbrauch und Geborgenheit: Margaux Fragoso erzählt die Geschichte ihrer zerstörten Kindheit VON IJOMA MANGOLD

I
n Tiger, Tiger hat die Autorin Margaux Fra- ihrer Hand. Margaux fühlt sich in dieser Kompli- len. Das Verallgemeinern überlässt Fragoso dem Das ist grauenvoll. Während sich die 12-jäh-
goso, geboren Ende der siebziger Jahre, ihre zenschaft als moralisches Subjekt ernst genommen. Leser. Sie zwängt ihm keine anderen Botschaften rige Margaux glücklich geborgen in Peters Arme
eigene sexuelle Missbrauchsgeschichte auf- Sie hat ja sonst niemanden, mit dem sie ein Ge- auf als die Faktizität ihrer Lebensgeschichte. kuschelt, stehen dem Leser die Haare zu Berge,
geschrieben. Das Buch hat 460 Seiten, der heimnis teilt. »Wir wollen«, sagt Peter zu ihr, »so Margaux Fragoso hat Literaturwissenschaft und weil dieses pädophile Ausnutzungsverhältnis tat-
weitaus längste Teil erzählt von den 14 Jah- tun, als wären wir auf unserem eigenen kleinen Kreatives Schreiben studiert. Sie ist keine bedeu- sächlich das Maximum an Glück für das arme
ren, in denen sie, beginnend im Alter von sieben Planeten. Ich möchte dich so sehen, wie Gott dich tende Schriftstellerin, aber auch keine schlechte. Kind darstellt.
Jahren, ein intimes Verhältnis zu dem mehr als 40 geschaffen hat, in Gänze. Auch deine Füße, auch Sie versteht vom Schreiben so viel, dass sie weiß, Als das Buch in der englischsprachigen Welt
Jahre älteren Peter hatte. Das ist ein heftiger Stoff, deine Kniekehlen. Ich liebe dich so sehr, dass ich dass sie der Zugänglichkeit und Transparenz ihrer erschien, hat es für viele Diskussionen gesorgt. Ein
und die Lektüre ist beklemmend. Fragoso erzählt dich genau so sehen will, wie du bist.« Geschichte den größten Dienst erweist, wenn sie Vorwurf lautete: Die Autorin setze darauf, sich mit
streng aus der Perspektive der Protagonistin. Das Wie Peter diesen moralischen Ei- sie ohne den Einsatz auffälliger literari- dem Thema ins Gerede zu bringen. Von einem in-
heißt, ihre damaligen Erlebnisse werden nicht genkosmos rhetorisch aufbaut und wie scher Darstellungsformen erzählt. Anders tendierten medialen Hype war die Rede. Das sagt
durch retrospektive Einsichten gedeutet oder er- sich Margaux darin glücklich einrichtet ausgedrückt: Sie ist keine große Stilistin, sich immer schnell. Zumal es totale mediale Un-
klärt, sondern Fragoso beschreibt ihr vergangenes (weil etwas Besseres als dieses Schlimme aber Schriftstellerin genug, um ihre schuld nicht gibt. Selbst der Eremit in der Wüste
Leben so, wie sie es im jeweiligen Alter wahr- ihr noch nicht widerfahren ist), ist für Biografie angemessen präzise, anschau- wehrt sich nicht gegen Berichterstattung ... Margaux
genommen hat. Die Erzählerin – das ist zumindest den Leser schwer erträglich. Ungedul- lich und flüssig zu erzählen; mit einer Fragoso kann man nicht vorwerfen, sie hätte der
die formale »Fiktion« in diesem autobiografischen dig wartet er deshalb darauf, dass sich Unmittelbarkeit, als wäre die Geschich- Faktizität ihrer Geschichte etwas grell Inszeniertes
Buch – ist nicht klüger als die Protagonistin. das Alter der Erzählerin und das Alter te in unserer eigenen Nachbarschaft hinzugefügt. Und kann man sie kritisieren, das Buch
Wenn Margaux das erste Mal ihrem späteren der Protagonistin langsam annähern, passiert. Tiger, Tiger ist ein gutes Beispiel überhaupt geschrieben zu haben? Diese Haltung
Peiniger Peter im Freibad von Union City in New damit es endlich zu einem Bewusst- dafür, wie Literatur fremde Erfahrung läuft darauf hinaus, dass nicht aufgeschrieben wer-
Jersey begegnet, dann betrachtet sie ihn mit den seinssprung kommt und sich die Auto- unserem eigenen Bewusstsein zugänglich den darf, was nicht sein darf. Hätte sie, wurde des-
Augen der Siebenjährigen, die aus zerrütteten Fa- rin bewertend in die Vorgänge ein- Margaux machen kann. halb angeregt, das Buch nicht einfach für sich
Fragoso: Tiger,
milienverhältnissen kommt und glücklich ist, dass schaltet. Ihre Erlebnisse also nicht mehr Tiger Margaux’ Mutter leidet an Depressio- schreiben können, ohne es zu publizieren? Natür-
ein Erwachsener sie ernst nimmt und mit ihr im nur notiert, sondern reflektiert. A. d. Engl. v. nen und muss sich regelmäßig in die Psy- lich, kein Akt der Veröffentlichung ist frei davon,
Wasserbecken spielt. Wenn man so will – und Doch diese Position verweigert der Andrea Fischer; chiatrie einweisen lassen. Ihr Mann, publizistischen Nutzen aus einem Erlebnis zu schla-
manche Kritiker hat das an diesem Buch sehr em- Roman. In dem Moment, als mit Peters FVA, Frankfurt Margaux’ Vater, ist ein trauriger und zu- gen. Es liegt aber auch ein moralisches Recht darin,
pört – reproduziert Fragoso erzählend noch einmal Tod, die Autorin ist dann 23 Jahre alt, die a. M. 2011; gleich gewalttätiger Charakter. Im Suff über das, was einem widerfahren ist, als ein Eigen-
die Unwahrheit und Ungerechtigkeit, indem sie das Nachgeschichte, die Reflexionsgeschich- 464 S., 24,90 € hinterlässt er eine Schneise der Verwüs- tum zu verfügen. Und dafür andere Formen zu
Ungeheuerliche des Vorgangs nicht kommentie- te beginnen könnte, ist das Buch auch tung, um sich am nächsten Tag als sor- wählen, als der offizielle psycho-pädagogische Dis-
rend benennt und aufbricht. Sie schreibt nicht: schon fast vorbei. Zum Ende hin geht gender Familienvater in die Brust zu kurs den Opfern andient.
»Dieser Schuft, wie mir heute klar ist, hat meine ohnehin alles sehr schnell. Margaux schafft es über- werfen. Angesichts dieser Dauerhölle des häuslichen Die fürchterlichsten Momente dieses Buches
Einsamkeit bösartig ausgenutzt.« Stattdessen be- raschender Weise aufs College, sie hat weiter Kon- Lebens hat Peter leichtes Spiel, Margaux einen Ort sind die Videositzungen, wenn Peter und Margaux
schreibt sie die Schwimmbadszene so: »Dann takt zu Peter, aber auch einen ersten Freund. Peter der Zurückgezogenheit und Zärtlichkeit zu bieten. sich Pornos anschauen, damit Margaux lernt, was
schnappte mich (Peter), klemmte mich unter seinen hingegen kann mit ihrer neuen Selbstständigkeit Geschickt baut er die Mutter mit ein, die in ihrer Frauen Männern bieten. Schrecklich deshalb, weil
Arm, schleuderte mich herum und freute sich nur sehr schlecht umgehen, er hat Angst, dass seine Apathie froh ist, dass es jemanden gibt, der ihr die Margaux diese Filme liebt. Sie geben ihr das Gefühl,
dabei wie ein kleines Kind. Als er stehenblieb, war pädophilen Taten auffliegen könnten, und nimmt Glücksverantwortung abnimmt und dessen Gegen- Teil der Gesellschaft zu sein. Ich tue doch nur, was
die Welt aus dem Gleichgewicht geraten, und ein sich das Leben. Margaux vermacht er seinen alten wart die Tochter aus ihrer sozialen Isolierung und auch andere tun, wie diese Filme zeigen. Sie ist dann
seltsames weißes Licht umstrahlte sein Gesicht wie Mazda, und bevor die Erzählerin und der Leser auch autistischen Verkapselung herausreißt. Margaux Teil einer symbolischen Ordnung. Zusammen lesen
eine Korona.« nur einmal durchatmen und eine Moral von der und Peter sehen sich fast täglich. Und wenn dem sie auch Nabokovs Lolita und das gibt ihnen ein
Ein Kinderschänder im Glorienschein der Er- Geschicht formulieren könnten, ist das Buch auch Vater der Verdacht kommt, dass mit Peter etwas ähnliches Gefühl des Aufgehobenseins in größeren
lösung, ein Pädophiler, der als scheinbarer Glücks- schon vorbei. nicht stimmt, sagt die Mutter, die unbewusst ahnt, Kontexten. Als Margaux 14 ist, geht sie mit Peter
bote seines Opfers auftritt: Dieses Verfahren sorgt Es gibt dann tatsächlich noch ein kurzes Nach- dass sie für die Wahrheit zu schwach ist, Peter sei in eine Kirche, und die beiden zelebrieren ihre ge-
für eine bedrückende Lektüre, weil der Mann, den wort, in dem Fragoso mit einigen psychologischen, doch das Einzige, was Margaux habe. heime Hochzeit. Margaux liest den 23. Psalm: »Er
der Leser als einen Teufel erkennt, der jungen Mar- therapeutischen und juristischen Kategorien han- Peter sucht nicht nur sexuelle Intimität, sondern lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich
gaux als ein Engel erscheint. Peter ist dabei ein tiert, die unserem Bedürfnis nach begrifflicher ebenso emotionale. Als Außenstehender würde man zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlan-
Meister des moralischen Diskurses. Seine körper- Klärung entgegenkommen. Das liest sich aber so sagen: Das ist doch nur sein Trick, er bietet Emo- gen.« Und noch als Peter, der eine Politik der ex-
lichen Interessen werden als metaphysische Liebes- zäh und papieren, dass wir Fragosos grundsätzlichen tionalität im Tausch für Sexualität! Aber vielleicht pliziten Offenheit verfolgt, ihr gesteht, dass seine
bedürftigkeit überhöht, irdische und himmlische Verzicht auf einen diskursiv-pädagogischen Über- ist das zu analytisch gedacht. Zwar weiß auch Mar- erste Frau ihn verlassen habe, weil er sich an den
Foto [M.]: Brian Shumway/Redux/laif

Liebe auf perfide Weise in eins gesetzt. Er zeichnet bau dann doch wertschätzen: »Durch das Nieder- gaux, dass es ein Tauschverhältnis ist (aber mal im gemeinsamen Töchtern vergangen habe, sieht
dem jungen Mädchen ein schlimmes Bild der Welt, schreiben meiner Erinnerungen habe ich versucht, Ernst: Alles im Leben ist ein Tauschgeschäft, ob es Margaux darin einen Vertrauensbeweis, der sie als
Darf in einer in der das Geheimnis, das sie teilen, zum kostbaren die alten, tief verwurzelten Muster von Leiden und einem gefällt oder nicht) und dass sie Macht über Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt.
Geschichte über Rückzugsraum von Vertrauen und Nähe wird. Treue Missbrauch aufzubrechen, die meine Familie seit Peter hat, indem sie ihm Zugang zu Sex gewährt Das alles ist kaum zu ertragen, aber doch in
sexuellen Missbrauch heißt für ihn, dass Margaux über die sexuellen Generationen verfolgen.« Das ist bestimmt ein ver- oder verweigert, und sie setzt diese Macht ein, um seiner psychologischen Detailarbeit höchst auf-
das Wort Liebe Dienste, die sie erbringt, zuverlässig schweigt und antwortungsbewusster und verallgemeinerungs- Peter dauerhaft emotional an sich zu binden: So- schlussreich. Erst mit Peters Selbstmord kann
vorkommen? nicht »Verrat« übt. Sie könne ihn ja jederzeit ins fähiger Satz, aber die Eindringlichkeit von Tiger, lange er mich attraktiv findet, so lange wird er mich sich Margaux langsam aus dieser Bindung lösen.
Gefängnis bringen, sagt er, weil die Gesellschaft Tiger liegt eben darin, nur eine individuelle Ge- nicht links liegen lassen. Ich werde ihm nicht gleich- Auch diese Loslösungsgeschichte wäre interes-
diese Art der Liebe nicht zulasse, er sei also ganz in schichte ohne Generalisierungsanspruch zu erzäh- gültig sein, solange ich sein Begehren wecke. sant. Die erzählt Tiger, Tiger aber nicht.
56 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 FEUILLETON

Der Letzte seiner Art


Ein Mann, frei von Konventionen: Der großzügige Lebenskünstler Gunter Sachs ist tot VON HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS

G
äbe es ihn, einen irdischen Garten sagiere, die sich von München aus mit ihm auf

Fotos: (Ausschnitt) Rainer Binder (großes Foto); Daniel Angeli/Agence Angeli (r.)
Eden, dann käme sein Anwesen in den Weg machten. Ehemalige Models, Assisten-
St. Tropez gewiss in die engere ten, Freunde, »ein buntes Völkchen«, wie er sie
Wahl. Skulpturen von ineinander bezeichnete. Für diese Reise hatte er, was eigentlich
Foto (Ausschnitt): BOTTI/STILLS/GAMMA/laif

verschlungenen Körpern, Wasser- nicht seine Art war, zwei Bodyguards engagiert,
spiele, ein kleiner Pavillon für Yoga und Medita- weniger für sich, mehr für seine Frau und die an-
tion. Von den Terrassen seiner beiden Beach- deren Anvertrauten. Im Flugzeug dösten die bei-
Häuser an der Plage de Pampelonne hatte er einen den Guards vor sich hin, aber Sachs blieb wach,
unerhörten Blick auf die Bucht. Vorn das Geäst der und von seinem Platz ganz hinten hatte er alle
alten Olivenbäume, dahinter, in sicherer Entfer- Reihen im Blick. Er, der ewige Kümmerer, der
nung, die Armada der Luxusjachten, die an den half, wo immer er konnte. Ehemalige Models, vom
Bojen vor sich hin dümpelten. Wo, wenn nicht Glück verlassene Freunde, alle, die nicht mehr
hier, war er glücklich? Schräg hinter seinem Pool konnten, durften mit ihm rechnen. Er hatte Geld,
hatte lange ein Beduinenzelt gestanden, ein Ge- besorgte Anwälte, seine Honorare reichte er weiter
schenk des Königs von Marokko. Irgendwann an seine Frau und ihre Stiftung Kinder in Not. Der
St. Tropez, 1966 entschied Gunter Sachs, damals, Anfang der Neun- Dank dafür? Gunter Sachs wusste: »Der Retter
ziger, das Zelt einzurollen und ein winddichtes liebt den Geretteten, nicht umgekehrt.«
Gehäuse aufzustellen. Tribut an das Alter seiner Was hast du aus deinem Leben gemacht? Die
Freunde – und an das eigene. Frage beschäftigte ihn mit zunehmendem Alter
Vielleicht war es ein erstes Zeichen für das, was immer mehr. All die Cocktailpartys! »Mein Gott!
jetzt geschah. Darf man das? Er hätte gewollt, dass Vielleicht waren es zwölf, zwölf in meinem ganzen
man seinen Schritt akzeptiert. Es sei keine Kurz- Leben!« Es klang wie ein Schwur! Vielleicht waren
schlusshandlung gewesen, sagen jene, die Gunter ihm die legendären Geschichten, seine Vermählung
Foto: Monti Bild/Keystone Pressedienst

Sachs am vergangenen Samstag in seinem Chalet mit Brigitte Bardot, die Begegnungen mit Dalí und
in Gstaad tot aufgefunden haben. Ein Leben habe Roger Vadim, einfach zu lange her.
sich vollendet, das stets frei von Konventionen ge- Was bleibt? Die Astrologie! Von ihr war er über-
wesen sei. Er habe sich befreien wollen von dieser zeugt. Sein Buch mit dem mathematischen Beweis für
Krankheit, die er in seinem Abschiedsbrief er- eine astrologische Kraft. 20 Millionen Daten, die er in
wähnt, Alzheimer. Ein Selbstgefühl sei es gewesen, den Computer eingab. Mit welchem Sternzeichen wird
eine Selbstdiagnose, kein fachärztlicher Befund. man besonders gern Jurist, welches verbindet sich mit
Aber Sachs hatte sich entschieden. Er konnte nicht dem höchsten Scheidungsrisiko, wer ist am wenigsten
mehr so wirken und leben, wie er es wollte. Seine suizidgefährdet? Als Sachs damals mit diesem Thema
Lebensfreude hatte sich offenbar verbraucht. Er auf die ZEIT zukam, rutschte ihm die Bemerkung he-
Mit Brigitte Bardot, August 1966
erschoss sich, wie es auch raus: »Ihr müsst wissen, das
sein Vater getan hatte. ist jetzt das Wichtigste in
Wie bei so manchem meinem Leben!«
kreativen Geist verbarg Eilig ist sein Leben im-
sich in seiner Seele ein me- mer gewesen. Aber, dieses
lancholischer Kern. Ob er Gefühl konnte man ha-
je glücklich war? Er hätte ben, in den letzten Jahren
doch allen Grund gehabt. legte er in seinem Tempo
Foto: Keystone/Picture-Alliance/dpa

Kaum jemand, der mit ir- noch einmal zu. Gstaad,


dischen Gütern reicher ge- Palm Springs, St. Tropez,
segnet war. Beim Dinner wieder Gstaad. Zwischen-
saß er in der Mitte des gro- durch schickte er auf ei-
ßen Tisches, der so aus- ner altmodischen Postkar-
gerichtet war, dass man te Grüße aus Bora Bora
vom Platz des Hausherrn und kündigte einen Ab-
aus den Leuchtturm auf stecher in sein Atelier süd-
der anderen Seite der Bucht Mit Ehefrau Mirja, 1987 lich von München an.
St. Moritz, 1955 sehen konnte. Wie es hinter MM 14, sein Studio,
dem Horizont weiterging, seine Factory seit knapp
was dann kam – diese Frage wollte er gelegentlich 30 Jahren. Metallkräne, Scheinwerfer und Fotos.
klären. Afrika war es nicht. »Spanien womöglich«, Claudia Schiffer als »Heldin«, Tanja und Kirstin,
er nickte. Seine gletscherfarbenen Haare fielen ihm braune Elfenkörper unter Wüstensonne. Vergan-
leicht ins Gesicht. So verharrte er, scheinbar endlos genheit. Aus der Schublade seines Schreibtisches
lange konnte er jemandem zuhören, eine Pointe, holte Sachs eine Kamera hervor, kleiner als eine
ein Bonmot nachsichtig abwarten. Dabei hätte Zigarettenschachtel. »12,1 Megapixel.« Das reiche
dieser Mann in dem blauen Blazer und dem weit heute aus, befand er. Kein Vergleich zu der Mühe,
Foto (Ausschnitt): Rudar/StudioX

geöffneten Hemd gewiss einiges zu sagen gehabt. die er sich immer gemacht hatte. Nun ja, murmel-
Irgendwann mit 14 Jahren, seine Sammlungen te er, womöglich werde er es weiter gegen den
mit Cowboy- und Winnetou-Bildern ist komplett, Trend versuchen. Grobkörnige Bilder, Filme, we-
biegt er ein in Richtung Moderne, er wird Kunst- niger technisch, mit verwunschenen Bildern. Er
sammler. Er ersteht seinen ersten Druck, eine verehrte Bob Wilson.
Schlachtenszene von Eugène Delacroix. Es folgen Bevor er auf Reisen ging, hielt sich Gunter
Picasso bleu und rose, die Ballettmädchen von De- Sachs gern in Gstaad auf. Zwei Chalets, Blumen-
gas. Über die deutschen Expressionisten findet er kästen vor den Fenstern, die Häuser mit einem
Kostümball mit Mirja, Paris, 1972 zu den Surrealisten – Sachs ist angekommen. Zu- kleinen Tunnel verbunden. Auch hier war Platz für
mal er ja gern um die Häuser zieht, stets stilvoll, Freunde, aber er war an diesem Ort auch gern al-
bei Gelegenheit auch mit einem Tiger, den er an lein. Manchmal meldete er sich über Monate
der Leine führt. Aber nach diesen wilden Jahren nicht, aber dann schickte er wieder einen Brief aus
musste man ihn schon fragen. Dem Mann, der mit seinem Vieux Chalet. Vor wenigen Wochen kam
seinem Esprit und seiner Eleganz die Nachkriegs- noch einmal eine Nachricht. Eine Assistentin
zeit so viel heller machte, war Extrovertiertheit schickte eine Mail. Gunter Sachs habe eine neue
Foto: R.M. Aagaard/Keystone Pressedienst

fremd. Er hörte lieber zu. Umgeben von Freunden, Handynummer – das war alles. Es war wie eine
das gefiel ihm, vielleicht auch, weil er sich da sicher Aufforderung, doch ruhig mal öfter anzurufen.
fühlte. Hin und wieder wischte er sich mit der Jetzt, da er tot ist, kommt die Erinnerung zu-
rechten Hand über die Nase und schaute hinaus rück an einen Satz im Flugzeug damals bei der
zum Leuchtturm. Zufrieden sah er dann aus. Reise nach St. Petersburg. »Ich habe die meisten
Gunter Sachs, seinem Vater gehörte die Fichtel Dinge, von denen ich geträumt habe, erlebt und
& Sachs AG, war ein großzügiger Mann. Als er vor verwirklicht. Dafür danke ich dem Schicksal. Ich
fünf Jahren eine große Foto-Ausstellung in St. Pe- wünsche mir keine Vollendung.« Gunter Sachs
tersburg eröffnete, charterte er ein Flugzeug für wurde 78 Jahre alt.
seine Weggefährten. Seine Fotos im Marmorpalast
Bei Dreharbeiten in Norwegen, 1969 Gunter Sachs (1932–2011) im Jahr 1972 in St. Moritz des Russischen Museums! Gut und gerne 100 Pas- www.zeit.de/audio

Junge Leser: Dr. Susanne Gaschke (verantwortlich),


Katrin Hörnlein
Chris tian Schmidt- Häuer, Jana Simon, Burk hard Straßmann,
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FEUILLETON 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 57

Gegenwärtig
besuchen
viele Ägypter,
aber kaum
ausländische
Touristen die
Pyramiden

Fotos: Katja Hoffmann/laif (o.); Julian Roeder/Ostkreuz [M.]


»Kant hat mein Leben verändert«
Was ist Aufklärung? Die Philosophin SUSAN NEIMAN reist nach Ägypten und trifft dort auf lauter Menschen, die in Ehren halten, was der Westen schon
fast vergessen hat. Der jüngste Gewaltausbruch zwischen Christen und Muslimen ist für das Land nicht charakteristisch

I
m April brach ich auf, um in Ägypten zu sind eher wie die Republikaner im US-Kongress, die nisiert, um den Tahrir-Platz zu verteidigen; sie waren nicht übernehmen«, ergänzt Dalia. »Es fehlt ihnen Neuerfindung von Traditionen zehren ließe? »Die
erkunden, was Aufklärung ist. Als Phi- den nationalen Diskurs nach rechts drängen.« Als ich die Einzigen, die genügend Nahrung, Wasser, Decken an nichts.« Je nachdem, von wem die Schätzung ägyptische Zivilisation ist eine französische Erfin-
losophin, die sich seit Langem mit der ihn frage, wie der Westen Ägypten helfen kann, und Abwehrmaßnahmen mobilisieren konnten.« stammt, kontrolliert das Militär zwischen 30 und 40 dung«, meint ein Kairoer. »Vor dem 19. Jahrhundert
Aufklärung beschäftigt, wollte ich wissen: kommt die Antwort unverzüglich: »Geht mit gutem Nicht weit vom Staub und Lärm des Tahrir-Plat- Prozent der Volkswirtschaft. Doch begegne ich nie- floss selbst der Nil anders. Was für die Menschen
Wie sieht sie aus in Kairos staubigen Stra- Beispiel voran.« Die Korruption in Ägypten, gibt er zes entfernt liegt Zemalek, eine Insel mitten im Nil, mandem, der der Armee Fesseln anlegen möchte: Sie zählte, war ein Stück Land und etwas Wasser. Als man
ßen? Oder, von heute aus gefragt: Sind die zu, sei ein seit Langem bestehendes Problem, aber dessen Lauf vor zweihundert Jahren geändert wurde, ist, wie Amr formuliert, »die einzige funktionierende die Statuen fand, nannte man sie ›die Leute, die in
jüngsten Nachrichten aus Kairo über die was sei mit dem Obersten Gerichtshof der Vereinig- um eine Kopie der Île Saint-Louis zu erschaffen. Institution in diesem gottverlassenen Land«. Stein verwandelt wurden‹. Unsere Anknüpfungs-
blutigen Auseinandersetzungen zwischen Musli- ten Staaten, dessen jüngste Entscheidung im Fall »Widersprüchliche Identitäten«, sagt Amr. »Wir Die Schattenseite, die Amr viel mehr beunruhigt, punkte ans alte Ägypten sind also äußerst dürftig.
men und Christen der charakteristische Ausdruck Citizens United über die Wahlkampfwerbung von wissen nie, ob wir Paris am Nil sind, die Stadt der heißt Antisemitismus. Er hat Artikel gegen den Anti- Und will ich wirklich meine Wurzeln in einer auto-
für ein Land im Umbruch? Ich glaube eher nicht. Unternehmen den Verkauf politischer Ämter gesetz- tausend Minarette oder das pulsierende Herz des Pan- semitismus publiziert, in Ägypten ein mutiger Schritt. kratischen Sklavenhaltergesellschaft entdecken?«
»Kant hat mein Leben verändert«, sagt Amr lich verankert habe? arabismus.« Die gepflegten Gärten und prächtigen »Anfangs galt meine Sorge weniger der moralischen Ekramy sieht das anders. »Das sind meine Groß-
Bargisi, Programmleiter der »Ägyptischen Union Diese jungen Wortführer verdienen jede Unter- Häuser auf Zemalek stehen in so scharfem Gegensatz Dimension als dem Umstand, dass er die Ägypter väter.« Seine waren Beduinen, aber er hat auch die
der liberalen Jugend«. Als ältester Sohn, dem es stützung, nur sollte sie möglichst geräuscharm aus- zu den von Rissen gezeichneten, verfallenden Häusern davon ablenkt, sich mit ihren eigenen Problemen zu Pharaonen adoptiert. »Wer bist du, wenn du deine
oblag, den wirtschaftlichen Status der Familie zu fallen. Die Ägypter blicken auf Jahrhunderte guter im Rest von Kairo, dass ich überrascht war, als ver- befassen.« Auf dem Bild Israels als des ewigen Feindes Großväter hasst? Das ist, als hätte man keine Adresse.«
festigen, hatte er Ingenieurwissenschaften studiert, Gründe zurück, den Motiven von Fremden mit Gast- schiedene Leute vorschlugen, sich in einem der beruht die Macht der Armee. Ohne dieses Bild verlöre Ekramy, Mohammed und Mustafa haben mir an-
doch seine Kant-Lektüre überzeugte ihn davon, geschenken zu misstrauen; der Kolonialismus reicht dortigen Cafés zu treffen. Ein Restaurant bietet an- sie ihren Daseinszweck. Jeder hier hält einen gerech- geboten, mir die Pyramiden und die Sphinx zu zeigen.
dass er sein Leben nicht auf instrumentelle Erwä- bis in Kleopatras Tage zurück. Ahmed Saled, Gebiets- ständige Sushi unter belaubtem Pavillon, ein anderes ten Frieden zwischen Israel und Palästina für eine Geld wollen sie keines für den Tagestrip; Ekramy
gungen gründen wollte. Er verlegte sich auf ein leiter in Mohamed ElBaradeis Wahlkampfteam für einen großartigen Blick über den Nil. Stammten tragende Säule des Fortschritts im Nahen Osten, aber möchte mich sogar zum Essen einladen. Ob wohl
Studium der Politischen Philosophie an der Ain- die Präsidentschaftswahlen, erklärt, vor der Revolu- meine Kontaktpersonen, dem äußeren Anschein zum die meisten sagen auch, dass der ägyptische Antisemi- auch Ägypter die Pyramiden besichtigen? »Am
Shams-Universität in Kairo, um anschließend mit tion hätten die Ägypter, wie so viele Völker, den Ras- Trotz, aus den wohlhabendsten Familien? »Zemalek tismus tiefere Wurzeln hat als die Ablehnung der is- schönsten ist es um fünf Uhr morgens«, sagt Mo-
einem Doktorandenstipendium an die Universität sismus der Kolonialmächte verinnerlicht. »Bis zu ist erschwinglich«, sagt Dalia, »und es war während raelischen Politik. »Sie wissen gar nichts über die hammed, »wenn man den Sonnenaufgang sehen
von Chicago zu gehen. Amr glaubt, dass es noch dieser Revolution schämten wir uns alles Ägyptischen. der Revolution der sicherste Ort. Die Polizei jagte Juden, also gibt es Verrücktheiten wie die Behaup- kann. Ich liebe es, in der Wüste zu schlafen, mit all
Jahrzehnte dauern wird, bis Ägypten die Art von Zwar grollten viele Menschen dem Imperialismus, uns hier nicht; es gibt zu viele Wachmänner rund um tung, der Mossad stünde hinter den jüngsten Hai- den Sternen am Himmel.« Im versmogten Kairo ist
gebildeter Öffentlichkeit hervorgebracht hat, die doch waren wir zugleich überzeugt, die Häuser der Reichen.« angriffen im Roten Meer. Zugleich ist es eine Perver- kein einziger Stern zu sehen. Zurzeit besichtigen mehr
eine liberale Demokratie ermöglicht. »Nehmen dass im Westen alles besser funk- Die wirtschaftlichen Ungleich- tierung der Vernunft: Eine einfache Erklärung für Ägypter als ausländische Touristen die Pyramiden;
wir einmal an, ich wäre Alexander Hamilton«, tionierte – von den Internetver- heiten waren ein Faktor in dem alles Böse in der Welt muss her, und die Juden er- außer einigen Busladungen an Briten von närrischer
sagt Amr. »Ich würde immer noch meinen Tho- bindungen bis zu demokratischen
Der neue Stolz Unmut, der die Demonstranten füllen diesen Zweck. Wir beide wissen, dass dies das Unerschütterlichkeit sind es vor allem Liebespaare,
mas Jefferson brauchen, meinen James Madison, Institutionen. Zum ersten Mal im Lange schämten sich antrieb, doch sind sich alle einig, Gegenteil von Aufklärung ist.« die die Sphinx beäugen. Junge Männer spazieren
meinen Benjamin Franklin und sogar meinen El- Leben sind wir stolz darauf, Ägyp- dass der Lebensstandard seit 2005 Was aber bedeutet Aufklärung in einem Land von Hand in Hand mit ihren in farbenfrohen Hijabs
bridge Gerry.« Kleinlaut räume ich ein, dass ich ter zu sein.« Unlängst verkündete viele Ägypter ihres merklich gestiegen ist. Tatsächlich immer noch solcher Religiosität, dass einer meiner gewandeten Frauen umher; ich sehe sogar eine statt-
nicht weiß, wer Elbridge Gerry war. »Niemand auf dem Tahrir-Platz ein Trans- Landes. Die Erfahrung ist die Kluft zwischen den Reichs- Gesprächspartner sich bereitwillig zu jedem beliebi- liche Frau mit einem Gesichtsschleier, die ihre Enke-
weiß das«, erwidert Amr, der sich taktvoll jeden parent: »Wir wollen weder von den der Revolution ten und den Ärmsten in Ägypten gen Thema zitieren lassen wollte, nur nicht zu seinen lin die Stufen der Pyramide hinabführt. So viel zur
Anflugs von Selbstgefälligkeit enthält. »Er war es, USA noch von der EU regiert lässt das Volk zum geringer als in den USA. Kon- zaghaften agnostizistischen Tendenzen? Auch die islamistischen Ablehnung der Götzenverehrung.
der die Verfassung nicht unterzeichnete, weil sie werden, obwohl wir ihre Völker sumgüter sind leichter zu bekom- westliche Aufklärung war nie so religionsfeindlich Das Leben der Frauen hier ist hart, und selbst die,
keinen Grundrechtekatalog enthielt.« von Herzen lieben.«
ersten Mal Selbst- men als früher: Klimaanlagen sind wie allgemein angenommen. Voltaire zog gegen den die sich um eine Verbesserung der Lebensbedingun-
Der Mann ist halb so alt wie ich und weiß wie Auf dem Tahrir-Platz herrscht bewusstsein spüren kein Luxusartikel mehr, und Autos Machtmissbrauch des Klerus zu Felde, verfasste aber gen von Frauen bemühen, rechnen in Jahrzehnten.
viele seiner Mitstreiter nicht nur so viel mehr über ausgelassene Stimmung. Kinder sind allgegenwärtig. Diese Verbes- auch herrliche Lobgesänge auf den Deismus. Für Aber sie arbeiten daran: Dalia hat Programme ins
uns, als wir über sie wissen; er weiß sogar mehr über lassen sich die ägyptische Fahne serungen sind im Wesentlichen der Kant überstieg die Erkenntnis Gottes die mensch- Leben gerufen, um arme Frauen über ihr Wahlrecht
uns, als wir selbst es tun. aufs Gesicht malen, während ihre Eltern Lieder und neoliberalen Wirtschaftspolitik von Mubaraks Sohn lichen Fähigkeiten, und dennoch entwickelte er die und gebildete Frauen über Wahlkampfmethoden
Dalia Ziada leitet das Nordafrikabüro der Ame- Reden anhören. Nach einer mehrwöchigen Ver- Gamal zu verdanken. Einer der Gründe, warum sich tiefe und hintergründige Vorstellung eines vernünf- aufzuklären. »Dass es ernst war mit der Revolution,
rikanisch-Islamischen Konferenz. Die fromme Mus- schnaufpause wurden die Freitagsdemonstrationen die Armee seinem Versuch widersetzte, die Präsident- tigen Glaubens. Nichtsdestotrotz bestanden die Auf- wurde mir in dem Moment klar, als sich uns auf dem
limin, die wie die meisten Frauen in Ägypten mit wieder aufgenommen – um sicherzustellen, sagen die schaft zu übernehmen, bestand darin, dass seine Maß- klärer des 18. Jahrhunderts auf der Trennung von Tahrir-Platz arme Frauen anschlossen, die apathischs-
einem Hijab den Kopf bedeckt, musste am eigenen Organisatoren, dass die Revolution in den Händen nahmen die Kontrolle des Militärs über eine ge- Kirche und Staat. Im heutigen Ägypten jedoch gibt te Gruppe in diesem Land.« Dennoch ergab eine
Leib eine Genitalverstümmelung erleben – doch des Volkes bleibt. Das öffentliche Mittagsgebet be- schlossene Wirtschaft bedrohten. »Tunesien ist ganz sich selbst der liberale Präsidentschaftskandidat El- Befragung, die sie am Tag des Referendums durch-
diese Praxis auszumerzen ist nur eines ihrer Ziele. ginnt mit der Bitte: »Möge Gott unsere Herzen von anders«, sagt Amr mit Blick auf die Selbstverbren- Baradei als Befürworter von Artikel 2 zu erkennen, führte, ein enttäuschendes Ergebnis: Von 1300 Teil-
Dalias Leben erfuhr 2006 eine Wende, als sie einen Furcht befreien«. Die allgemeine Freude ist in der nung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi, die jenem umstrittenen Verfassungszusatz, der die Scha- nehmern, »482 Frauen, 818 Männern«, würde nicht
Aufsatzwettbewerb gewann und zu einer Konferenz Mittagshitze zu greifen. »Ägypten war ein mutloses den dortigen Aufstand auslöste. »In Kairo arbeiten ria zur Grundlage des ägyptischen Rechts erhebt. einer eine Frau im Präsidentenamt akzeptieren.
in Kairo eingeladen wurde, auf der sie von Martin Land«, sagt Ekramy, der Touristen zu den Pyramiden Hochschulabsolventen vielleicht als Kellner, aber »Auch Obama muss sich in der Kirche zeigen«, sagt Vom Fremdenführer bis zum politischen Aktivis-
Luther King hörte. »In Ägypten erfahren wir von und anderen antiken Sehenswürdigkeiten führt. Seit nicht als Gemüsehändler auf der Straße, und wenn Bassem. Dalia erinnert mich daran, dass Ägypten auf ten sprach jeder Ägypter, den ich traf, mit einer in
Malcolm X, aber nie von King.« Sie war inspiriert der Revolution hat er wenig Arbeit, doch bereut er ihr Eigentum konfisziert würde, dann wüssten sie eine lange Tradition des religiösen Pluralismus zu- Zeiten politischer Umwälzungen seltenen Reife von
und begann, die Methoden des gewaltlosen Kampfes nichts. »Die Revolution hat das Bild der Menschen jemanden, der es von der Polizei zurückerhält.« Re- rückblickt, der nicht nur die Kopten, sondern auch der Geduld, die man nun haben müsse. »Als ich nach
zu erlernen und weiterzuvermitteln. Sie übersetzte von sich selbst verändert«, erzählt er mir. »Achten Sie volutionen brechen mit Vorliebe aus, wenn sich Le- eine große jüdische Gemeinschaft einschließt und Kairo kam, rechnete ich mit einer postrevolutionären
einen Comic über den Montgomery-Busboykott ins auf ihre Augen. Die Leute schauen in die Sonne und bensbedingungen verbessern, die Erwartungen zu- ihrer Meinung nach mit einer muslimisch fundierten Malaise, fand aber stattdessen eine ermutigende Si-
Arabische, vertrieb ihn in Ägypten und im Jemen ins Licht.« Ich kaufe ein paar Schlüsselanhänger. »Yes nehmen und die Geduld nachlässt. Kultur vereinbar sei – während die jüngsten Angrif- tuation vor«, berichtet der Soziologe Todd Gitlin.
und schloss sich mit anderen Aktivisten zusammen. we can«, steht auf der einen Seite. Auf der anderen, Ist es aber überhaupt eine Revolution, oder hat fe auf Kopten eine Anomalie darstellten. Zwar beein- »Hier wird Politik gemacht, und alle machen mit.
Heute sorgt sich Dalia vor allem darum, dass die auf Arabisch, das Datum der Revolution. die Armee einfach einen Herrscher abgesetzt, um das druckt sie die Festschreibung des Religionsgesetzes Diese Woche fanden sich 1200 Menschen zu einer
politische Macht der Fundamentalisten wachsen Freude ist nicht das einzige unübersehbare Gefühl Heft nur noch fester in der Hand zu halten? Nicht in dem kürzlich abgehaltenen Verfassungsreferendum Bürgerversammlung über Wasserpolitik ein. Diese
wird, wenn sich der Bildungsstand in Ägypten nicht auf dem Tahrir-Platz. Viele Menschen trauern noch. aus Furcht, sondern aus Patriotismus unterstützt man nicht, der Aufstieg der Muslimbruderschaft aber Leute werden nicht einfach wieder einschlafen.«
verbessert. »Das Referendum (zur Änderung der Ver- Mütter tragen Plakate mit Bildern ihrer Söhne, die die Armee, besonders seitdem sie den Befehl ver- beunruhigt sie. Die jüngste Umfrage ergab, dass zwar
fassung, Anm. d. Red.) hat gezeigt, wie die Muslim- genau hier ermordet wurden. »Am schlimmsten war weigerte, das Feuer auf die Demonstranten am 38 Prozent der Ägypter für eine Regierungsbetei- Aus dem Englischen von MICHAEL ADRIAN
bruderschaft Gefühle ausnutzt: Sagt Ja zu Allah.« der Gestank«, erzählt Bassem über das Massaker, das Tahrir-Platz zu eröffnen. »Die Befehle waren ziemlich ligung der Bruderschaft sind, 50 Prozent jedoch die
Dalia sagt auch, dass die patriarchalischen Strukturen als Kamelschlacht bekannt geworden ist und den unmissverständlich«, erzählt Dalia. »Es sollte ein säkulare WAFD-Partei bevorzugen.
tief verankert sind. Ich frage sie, ob ägyptische Män- Wendepunkt der Revolution darstellte. »Man roch zweites Tiananmen werden, aber die jüngeren Offi- »Sie haben die Pyramiden noch nicht besichtigt?«, Zuletzt erschien von der
ner Angst vor Frauen haben. Sie schenkt mir ein un- nichts mehr außer Blut.« Hunderte kamen ums Le- ziere setzten ihre Vorgesetzten unter Druck, die eine fragt mich Mohammed. – »Ich bin in Ägypten, um Amerikanerin Susan
gläubiges Lächeln; dieser Gedanke ist neu für sie, und ben, doch wären es ohne die Muslimbruderschaft Rebellion innerhalb der Armee befürchteten. Seitdem die Revolution zu sehen.« – »Die Revolution ist groß- Neiman »Moralische
sie scheint ihn so köstlich wie unmöglich zu finden. Tausende gewesen – der Hauptgrund, warum selbst hat sich das Militär vorbildlich verhalten.« Es hat die artig, aber die Pyramiden sind etwas anderes. Sie Klarheit«. Sie ist
»Die Islamisten geben Anlass zur Sorge«, sagt Anhänger der säkularen Opposition sie nicht in Demokratie unterstützt und den Befehl erteilt, die können nicht abreisen, ohne sie gesehen zu haben.« Direktorin des Einstein-
Bassem Sabry, ein junger Filmproduzent. »Aber sie Bausch und Bogen ablehnen. »Sie hatten sich orga- Bürger gut zu behandeln. »Sie wollen die Regierung Gibt es eine antike Zivilisation, von der sich für die Forums in Potsdam
58 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 FEUILLETON

Zittern der Natur


Zu schön, um stark zu sein: Toshio Hosokawas neue Oper
»Matsukaze«, getanzt von Sasha Waltz in Brüssel VON CLAUS SPAHN
Keiner foult schöner
D
ie Hauptrolle in dieser Oper spielen Dübgen mit viel Feingespür für die Stille zwischen Bei ihm zappelt nicht nur Tom Cruise in den Endlosschleifen:
die Klänge der Natur. Wir hören den Versen ins Deutsche übertragen hat. Dem west-
das Schwirren des Windes in den lichen Betrachter mag das Projekt wie ein Bekenntnis Der Medienkünstler Paul Pfeiffer in München VON HANNO RAUTERBERG
Bäumen und das Kräuseln der zur japanischen Theatertradition vorkommen. Aus
Meereswellen am Ufer. Die Klang- fernöstlichem Blickwinkel hingegen ist die Neuver-
farben des Orchesters geben uns ein Bild davon, tonung eines Nō-Spiels eine gewagte Tat, denn diese
wie die gemächlich untergehende Sonne die Schat- Theaterform wird streng traditionalistisch und in
ten in der Landschaft länger und dunkler werden ihrer Choreografie bis ins kleinste Fingerspreizen un-
lässt und wie in der Nacht dann Sturmböen herauf- verändert über Jahrhunderte hinweg von Generation
ziehen. Wir sind auf einer zauberischen Insel: Wie zu Generation weitergegeben. Hinzu kommt, dass
sich das Land sanft aus dem Meer erhebt, so steigen Hosokawa sich mit Sasha Waltz und ihrem Berliner
die Klänge aus der Stille auf, in großen Bögen sich Tanzensemble zusammengetan hat, um den Stoff

Fotos: Thomas Dashuber/Courtesy Sammlung Goetz; Bernd Uhlig (l.)


aufwölbend. Die Musik ist fließende, wachsende, auch szenisch-choreografisch ganz aus der Gegen-
zitternde und aufbrausende Natur. wartsperspektive zu entwickeln.
So kennt man die Kompositionen von Toshio
Hosokawa, dessen neue Oper Matsukaze vergangene Ein grandioses Schicksalsspinnennetz
Woche in Brüssel uraufgeführt wurde. Der Japaner spannt sich über die Bühne
gehört nicht zu den Komponisten, die in ihrer Musik
Befindlichkeiten wild gezackt und kompliziert ge- Die Geschichte erzählt das Schicksal der Schwes-
schichtet ausleben. Er geht sparsam mit den Tönen tern Matsukaze und Murasame, die über ihren
um. Rhythmus und polyfone Strukturen spielen in Tod hinaus der Liebe zu einem Mann nachhängen
seinen Stücken kaum eine Rolle. Er interessiert sich und deshalb als unerlöste Geister durch die Welt
vielmehr für die Eigendynamik der Klänge und weit spuken. Ihre Liebessehnsucht hindert sie daran,
gespannte melodische Verlaufsformen; was nicht sich vom irdischen Dasein zu lösen und im
erklingt, scheint in seinen Werken genauso bedeut- buddhistischen Sinne eins mit der Natur zu wer-
sam zu sein wie das, was erklingt. Er sieht in seiner den. Erst die Musik, der Gesang und der Tanz
musikalischen Arbeit Parallelen zur japanischen Kunst bringen ihnen am Ende die Erlösung.
der Kalligrafie. Auch dort sei der Malakt von der Ein großer Zauber liegt über der eineinhalb-
geistigen Konzentration bis zu den ausholenden und stündigen Brüsseler Uraufführung. Es ist ein poe-
nachschwingenden Armbewegungen viel umfassen- tischer Abend der zarten musikalischen Gesten Gefallene Helden – die Videoinstallation »Caryatid (Red, Yellow, Blue)«, 2008
der als das, was am Ende als Tuschestrich auf dem und der kalligrafisch in den Raum gemalten Tän-
Papier sichtbar werde. zerbewegungen. Die beiden Schwestern geben in
der Handlung ein Bild für den künst-

V
lerischen Prozess, an dem sich Waltz und ielleicht sollte man die Geschichte Pfeiffer wäre eine solche Deutung schon wie- Kunst erzählt von Ermächtigung. Er will Herr-
Hosokawa versucht haben: Matsukaze der modernen Kunst als große der viel zu pathetisch. Er zählt zwar schon seit scher sein – und die Betrachter dazu machen.
und Murasame sind Arbeiterinnen in Schlankheitskur verstehen. Weg mit etlichen Jahren zu den wichtigsten Video- und Schon als Kind hatte Pfeiffer ein großes Faible
einer Salzmühle, sie gewinnen Kristalli- dem Farb- und Formenspeck! Run- Fotokünstlern, kommendes Jahr wird er, wie zu für Puppenstuben. Immer wieder baute er sich
nes. Solches Streben nach Reduktion ter mit den Bedeutungspfunden! hören ist, auf der Documenta in Kassel ausstellen. solche Miniaturwelten, nur um sie später im Hin-
und Verdichtung zum Essenziellen ist Nicht wenige Künstler der letzten hundert Jahre Und schon jetzt richtet ihm die Sammlung Goetz terhof mit Kerosin zu übergießen und anzuzün-
auch in der Musik von Hosokawa und waren geniale Diätmeister: Sie entschlackten die in München eine umsichtig komponierte Retro- den. Klein Paul liebte die Rolle des Schöpfers, der
der Choreografie von Waltz stets zu spü- Motive, bis nur noch waschbrettstramme Ab- spektive aus. Doch die eigene Bedeutung scheint seine Schöpfung auslöscht. Noch heute wohnt
ren. Doch geht die Hingabe an das Fili- straktionen übrig blieben. Keine üppigen Erzäh- ihm unheimlich. Er hält sich zurück, nicht nur in diese Erfahrung in seiner Kunst. Wir stehen vor
grane und fein Ziselierte auch mit einer lungen mehr, Schluss mit dem kalorienreichen seiner Kunst, auch im richtigen Leben. Er will einer großen Videoleinwand, sehen auf dieser das
gewissen Theaterblässe einher. Hosoka- Pathos des 19. Jahrhunderts. Auch der New Yor- nicht festgelegt werden auf eine Rolle, will keine Pult, an dem der amerikanische Präsident seine
wa erklärte, das traditionelle Nō-Theater ker Medienkünstler Paul Pfeiffer, Jahrgang 1966, Medienfigur sein. Denn so paradox es klingt: Er Reden zur Lage der Nation hält, erwarten seinen
mache ihn schnell müde, aber ganz frei- scheint sich für diese Kunst der Entsagung zu ist ein Bildermensch, der Bildern misstraut. Auftritt, seine Botschaft. Doch nichts geschieht,
sprechen von diesem Vorwurf kann man begeistern. Noch das heißeste Spektakel wird bei Wohl auch deshalb scheint er seine Kunst nichts ist zu erblicken, nur ein winziges Spähloch
auch seine Matsukaze-Oper nicht. Sie ist ihm kalt serviert. Viel Mühe und Zeit investiert mitunter als Befreiungskommando zu begreifen. in der Leinwand. Wir treten näher heran an das
ein bisschen zu schön, um stark zu sein. er, damit auf seinen Videos und Fotografien am Pfeiffer erlöst Marilyn Monroe ebenso wie Mi- Pult – und in diesem Moment ist sie dann doch
Das gilt freilich nicht für den Coup, Ende möglichst wenig zu sehen ist. Dennoch chael Jackson oder Muhammad Ali, er reißt sie da, die Botschaft. Denn wer durch das Loch sieht,
den sich die Bühnenbildnerin Chiharu oder gerade deshalb: Die Bilder haften. aus jener Hölle, in der sie verdammt sind, immer erblickt die Politkulisse im Puppenstubenformat
Shiota für die Zwischenwelt der Schwes- Bilder von den muskelbepackten Fußballmän- nur Ikonen und Legenden zu sein. Mit giganti- und begreift, das dort drinnen eine Kamera jene
tern ausgedacht hat. Wie sich die unend- nern zum Beispiel, die in ihren bunten Leibchen schem Aufwand schneidert er ihnen am Com- Kleinstwelt filmt, die wir eben noch für groß und
liche Sehnsucht der beiden in Hosoka- über den Rasen stürmen, nur um im nächsten puter eine Art digitalen Tarnumhang, und unter real hielten. Die Illusion zerbirst; ebenso allerdings
was Musik vielfädig ausspinnt, so hat sie Moment böse zu straucheln, sich stürzend zu diesem lässt er sie verschwinden. Wo zuvor die die Begeisterung des Betrachters.
den leeren Raum mit einem Gewirr aus verbiegen und irrwitzig zu verrenken, so als hätte Monroe stand, auf den berühmten Bildern am Zu offenkundig ist die medienkritische Be-
schwarzen Seilen durchzogen. Diese eine höhere Macht sie am Wickel und würde sie Strand, da ist nun keine Monroe mehr, sondern lehrung, zu vordergründig der Versuchsaufbau.
Wand steht für die Grenze zwischen der durch die Luft schleudern und niederwerfen, bis nur blauer Himmel und gischtendes Meer. Und Doch zeigt Pfeiffer glücklicherweise auch ein Ta-
wirklichen Welt und dem Jenseits. In ihr sie halb zerdrückt auf dem Gras liegen bleiben, Alis bekannteste Kämpfe finden jetzt ohne ihn lent für das Böse und Absurde, etwa wenn er auf
bewegen sich Barbara Hannigan als geschlagen, erledigt. Keiner foult so schön, das statt und ohne seine Gegner. Das Publikum winzigen Bildschirmen viele bekannte Holly-
Matsukaze und Charlotte Hellekant als ist unübersehbar, wie Paul Pfeiffer. glotzt dennoch gebannt auf den leeren Boxring, wood-Größen zu Hollywood-Zwergen schrump-
Murasame stimmlich wie darstellerisch Bei ihm ist das Foul kein Regelverstoß, nicht gelegentlich schwanken die Begrenzungsseile. fen lässt. Selbst der Megastar Tom Cruise wird
grandios frei schwebend wie Insekten- das übliche Gehakel und Geschubse. Es geht So wie Pfeiffers Fußballheroen jede Ursache zum Miniwicht, gefangen in einer der Pfeiffer-
opfer in einem Schicksalsspinnennetz. auch nicht um Bundesligapunkte oder Finalein- abhandenkam, so fehlt auch hier das Eigentliche. schen Endlosschleifen – für immer muss er dort
Mitten in den Berliner Proben zu zug, Pfeiffer interessiert sich einzig für den Leib Und in gewissem Sinne ist das auch für die Be- bäuchlings auf einem Sofa zappeln.
Die Figuren schweben zwischen Diesseits und Jenseits
dieser Oper bebte in Japan die Erde. und seine brachialen Verformungen. Alles ande- trachter eine Erlösung, wenngleich eine anstren- Manchmal zappeln aber auch wir, vor Unge-
Hosokawa erzählte in einer Pressekon- re hat er aus den Aufnahmen getilgt: die Num- gende. Denn zu sehen ist ja nur, dass nichts zu duld. Drei Monate dauert Pfeiffers Film über den
Das hört sich fernöstlich entrückter an, als es ist. ferenz vor der Premiere, dass er bei den Bildern aus mern der Spieler, die Bannerwerbung, sogar den sehen ist – was bleibt uns also übrig, als die Leer- Bau eines Wespennests und noch viel länger sein
Hosokawa ist kein altjapanischer Traditionalist. Er Japan vor allem den aus Autos und Industriepro- Ball und die rempelnden Mitspieler. Zurück stellen mit eigenen Bildern zu füllen? Pfeiffer ist Sonnenaufgang, von dem man denkt, er sei ein
hat in Freiburg beim Schweizer Kompositionspro- dukten bestehenden Zivilisationsschrott, den die bleibt der krude Schmerz, Menschen, die sich eben nicht nur ästhetischer Diätmeister, er ist Sonnenuntergang. Alles ist postkartenschön ar-
fessor Klaus Huber studiert und in Stuttgart bei Tsunamiwelle mit sich führte und als Trümmer- winden und krümmen, immer wieder und wie- auch ein Trainer der Vorstellungskräfte. rangiert, der Feuerball glimmt sehnsuchtsfarben,
Helmut Lachenmann, der keine Komponierkon- feld gleichsam vorwurfsvoll am Ufer zurückließ, in der, in Endlosschleife. Keiner foult so hässlich, Das zumindest scheint als Hoffnung in vielen gelegentlich rauscht eine Möwe vorbei, und ir-
vention unhinterfragt lässt. Hosokawa, dessen Groß- sein Gedächtnis eingebrannt habe. »Wir haben auch das unübersehbar, wie Paul Pfeiffer. Werken mitzuschwingen: dass nicht nur die Mo- gendwann scheint sich die Sonne tatsächlich dem
vater ein Ikebana-Lehrer war und dessen Mutter das vergessen«, sagte Hosokawa, »was Natur ist.« Er Er will, dass aus dem Kunstschauen ein tive, sondern auch die Betrachter herausfinden aus Horizont zu nähern. Doch sie geht nicht unter,
Zitherinstrument Koto spielte, hat sich in der Hin- und Waltz hätten lange darüber diskutiert, ob sie Kunstschaudern wird. Bei ihm ist das vergäng- den vorgestanzten Mustern des Sehens und der sie leuchtet, sie strahlt immer weiter, so lange, bis
wendung zur westlichen Avantgarde einen neuen in ihrer Produktion auf die aktuellen Ereignisse liche Spiel ewiges Drama: Pfeiffer entzeitlicht Bewunderung. Pfeiffer begeistert sich für Sport, man sich sehnsüchtig wünscht, irgendjemand
Zugang zur Kunst seiner Heimat verschafft. Das gilt Bezug nehmen sollen. Sie haben es nicht getan – seine Szenen, enträumlicht sie, er entrückt das für Pop, für Hollywood-Filme, ganz wie einst möge doch das Licht ausmachen. Wunderschön
auch für seine Oper Matsukaze. Sie basiert auf einem zu Recht. Die Oper handelt auch so von nichts Vertraute in geradezu mythische Sphären. Und Andy Warhol. Doch so groß seine Begeisterung ist Pfeiffers Kunst und wunderschrecklich.
sechshundert Jahre alten Nō-Spiel des in Japan ver- anderem als der Utopie, dass Mensch und Natur so erkennen manche in seinen Fußballern auch für Massenphänome auch sein mag, nie will er
ehrten Dichters Zeami, das die Librettistin Hannah im Einklang leben. Inbilder der Geworfenheit. sich davon beherrschen lassen. Im Gegenteil, seine Bis zum 1. Oktober; der Katalog kostet 35 Euro
KUNSTMARKT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 59

Dieser chinesische Tisch aus Zitan-


Holz wurde bei Nagel in Stuttgart
für 1,33 Millionen Euro versteigert

S
chreibt es sich besser an einem Tisch, Dass die vermögenden Chinesen nicht nur
der 1,33 Millionen Euro gekostet hat?
Die Frage möchte man dem Milliardär
aus Hongkong stellen, der am vergan-
genen Freitag im Stuttgarter Auktionshaus
Der China-Boom an altem Kunsthandwerk interessiert sind, dafür
spricht eine andere Meldung des vergangenen
Wochenendes: Die Eigentümer der Art Basel,
weltweit die wichtigste Messe für zeitgenössi-
Nagel einen Tisch aus dem kaiserlichen China Mit Asiatika erzielt das Stuttgarter Auktionshaus Nagel sche Kunst, übernehmen 60 Prozent der Anteile
ersteigerte. Das Bietgefecht, aus dem der Mann der Hongkonger Kunstmesse Art HK. Die Art
aus Hongkong am Ende siegreich hervorging, Rekorde, und die Art Basel geht nach Hongkong. Die HK hat sich – zumindest aus westlicher Sicht –
machte das Objekt aus der Qianlong-Periode als die wichtigste Messe für zeitgenössische
zum wahrscheinlich teuersten Tisch der Welt.
Zukunft des Marktes liegt im fernen Osten VON TOBIAS TIMM Kunst im asiatischen Raum etabliert, dieses Jahr
Und bescherte dem Auktionshaus Nagel seinen stellen hier vom 25. bis 29. Mai große Galerien
ersten Millionen-Euro-Hammerpreis sowie wie Gagosian, Hauser & Wirth und David
den deutschen Rekordumsatz mit einer Spezial- Zwirner aus, aus Deutschland kommen unter
auktion. Mit Aufgeld hat Nagel in seiner zwei- anderem Sprüth Magers, Contemporary Fine
tägigen Auktion asiatischer Kunst insgesamt Arts und Eigen + Art. Hongkong, begründet
20 Millionen Euro umgesetzt – in etwa also so der Messedirektor Marc Spiegler den Zukauf,
viel, wie das Haus noch 2002 mit all seinen sei eine panasiatische Stadt, es gebe keine Zen-
Auktionen in einem ganzen Jahr umsetzte. der asiatischen, aber nicht unbedingt der euro- wurde für 600 000 Euro versteigert, ein gering. Spektakulär war im vergangenen Herbst sur, und man könne sich dort ein wenig wie in
»Abstrus!«, sagt Michael Trautmann, der päischen Sammler zusagten. Und so konnte er Huanghuali-Bücherkasten für 240 000 Euro der Fall jener Qianlong-Vase, die für 43 Millio- der Schweiz fühlen – wegen der liberalen Steu-
zuständige Asienexperte bei Nagel, glücklich sich auch für die jetzige Auktion wieder einige (jeweils ohne das Aufgeld des Auktionshauses nen Pfund im kleinen englischen Auktionshaus ergesetze und Freihäfen der Stadt. Die neuen
schockiert nach der Auktion. Mit so hohen mit moderaten Schätzpreisen versehene Meis- von 33 Prozent). 2001 war die Bücherkiste bei Bainbridge’s einem chinesischen Sammler zu- Eigentümer verlegen die Hongkonger Messe ab
Zuschlägen hätte auch er nicht gerechnet, ob- terstücke sichern. Der Millionen-Euro-Tisch Sotheby’s in London noch für 7000 Pfund (in- geschlagen, dann aber von diesem nicht bezahlt nächstem Jahr von Ende Mai in den Februar,
wohl er weiß, dass der Markt für alte chinesi- etwa stammt aus dem kaiserlichen Palast, er klusive Aufgeld) versteigert worden. worden war. Mit Fälschungen, sagt Trautmann, sodass sie der traditionell im Juni stattfindenden
sche Kunst derzeit unglaublich boomt. Gut wurde aus dem extrem langsam nachwachsen- Wer zahlt so viel Geld für diese Möbel? Es habe man in den vergangenen Jahren kaum Ur-Art-Basel keine Konkurrenz auf einem an-
300 Chinesen saßen während der Auktion im den Zitan-Holz geschnitzt, in den zwanziger sind zumeist chinesische Sammler, die in den noch Probleme gehabt, zu geschult sei inzwi- deren Kontinent mehr machen wird.

Fotos: Nagel Auktionen; Museum Rade


Stuttgarter Auktionshaus, 4500 Stück des vier- Jahren gelangte er in den Besitz des deutschen vergangenen Jahren extrem reich geworden schen der eigene Blick und zu eng das Netz- Es ist ein kluger Schachzug, denn das Ge-
bändigen Auktionskatalogs hatte man in den Mediziners Edmund Dipper, der in Peking das sind und sich nun das entsprechende Kultur- werk der Experten, die auf mögliche Kopien schäft in China könnte bald zum wichtigsten
Wochen zuvor an Interessenten in China ver- Deutsche Hospital leitete und Leibarzt des gut leisten wollen: Die neuen Kaiser von China hinweisen. Insolvente Bieter versucht man in der Welt werden. Das Rechercheunternehmen
schicken müssen. letzten Kaisers Puyi war. Jetzt war der Tisch mit bevorzugen Kaiserliches. Und so lassen sich mit Stuttgart – wie in anderen Auktionshäusern Artprice gab kürzlich bekannt, dass nach sei-
Michael Trautmann hat dem Auktionshaus einer Taxe von 20 000 bis 30 000 Euro ver- altem chinesischem Kunsthandwerk derzeit die auch – mit bestimmten Regeln fernzuhalten: nen Berechnungen schon im vergangenen Jahr
in Deutschland über die Jahre den besten Ruf sehen, er steigerte seinen mittleren Schätzpreis unglaublichsten Gewinne machen, doch hat So dürfen Sammler nicht über gewisse Limits 33 Prozent des weltweiten Umsatzes mit
bei den Asiaten erworben, anders als die Kon- also um das Vierzigfache. Auch andere Lose der Markt auch seine Tücken: Es kursieren hinaus mitbieten, und wer über 500 000 Euro Kunstversteigerungen in China gemacht wur-
kurrenten bevorzugte er für die Nagel-Auktio- erzielten spektakuläre Preise, ein Paar Huang- viele Fälschungen, und die Zahlungsmoral der ausgeben will, muss vor der Auktion eine De- den. Gut drei Prozent mehr als in den USA,
nen schon früh solche Lose, die dem Geschmack huali-Armlehnstühle aus dem 17. Jahrhundert Höchstbietenden aus China ist zuweilen sehr potzahlung an das Auktionshaus überweisen. dem einst wichtigsten Kunstmarkt der Welt.

Kulturschock für einen Euro fünfzig


Der ZEIT-Museumsführer: Das Museum Rade am Schloss Reinbek VON SVEN BEHRISCH

I
TÄGLICH m Alter von 18 Jahren, das war 1931, Stile. Überwältigend der Eindruck von der Männer ebenso wie Urwaldtiere malte und Es ist nicht das einzige Mal, dass Italiaander
GEÖFFNET, schrieb Rolf Italiaander sein erstes Buch: Vielfalt der Welt, den sie vermitteln. Erhaben sein Geld als Zöllner verdiente. Italiaander hat einigen Einfluss nahm, um an seine Werke zu
AUSSER So lernte ich Segelfliegen. Und die Fliegerei schließlich die Einsicht, wie das Leben sich ausschließlich Naive gesammelt, darunter gelangen. In Afrika, wo er auch als Kunstlehrer
MONTAGS begleitete ihn bis an sein Lebensende. Mit überall gleicht. auch bekannte europäische Namen wie Louis gearbeitet hatte, animierte er seine Schüler
Manfred von Richthofen, der beste Jagdflieger des Da ist die hügelige Landschaftsidylle eines Vivin oder Hector Trotin. Doch sie zeigen das dazu, aus Baumwurzeln Skulpturen zu schnit-
großen Krieges gelang ihm sogar ein Bestseller. tibetischen Künstlers, in der eine Familie zwi- bekannte Europa. Sie kommen nicht heran an zen. Die Figuren mit den überlängten Beinen
Als Autor von Fliegerromanen rettete er sich schen Bäumen an einem Fluss spazieren geht. eine Lithografie des kanadischen Inuit Iye, der wirken, als wäre ein starker Wüstenwind durch
über die NS-Zeit, in der er als Homosexueller Der Mann hat sich einen Pullover um die Hüfte sich laut Bildbeschreibung als Jäger und Fi- Giacomettis Gestalten gerauscht. Sie gehören
das Schlimmste zu befürchten hatte; das Flug- geknotet, ein Pudel hechelt verbindlich. Trügen scher ernährte. 15 in schwarze und weiße Felle zu den schönsten Stücken der afrikanischen
zeug brachte ihn, der die Weltenbummelei in- die Frauen nicht zackige Dreispitze als Kopf- vermummte Gestalten versammeln sich um Abteilung.
zwischen zu seinem Beruf gemacht hatte, bekleidung, die Szene könnte en plein air statt einen roten Fußball, dem sie wie einem Fe- Über seine Reisen nach Ozeanien, Asien,
schließlich an viele entlegene Orte der Erde, im Himalaya auch bei Bruhnskoppel in der tisch zu huldigen scheinen, weil er Farbe in ihr Amerika, vor allem aber und immer wieder
und oft brachte er Kunstwerke mit nach Hau- Holsteinischen Schweiz gemalt worden sein. Leben bringt. nach Afrika schrieb er viele Bücher, Reise-
se. Seit 1987 beherbergt das Museum Rade am Ähnliches gilt für Ein Markt am Stadtrand Zusammengetragen hat Italiaander seine romane, Kinderbücher, Hörspiele, Dramen.
Schloss Reinbek die Sammlung Italiaanders – von Rio einer brasilianischen Malerin. Bunte Sammlung mit bescheidenen Mitteln. Viele Mit 19 Jahren radelte er quer durch Afrika,
ein grandioses, höchst ungewöhnliches En- Marktstände, rote Dächer und neben einem der Arbeiten bekam er geschenkt. Vom per- versuchte sich als Dramatiker und entdeckte
semble, das sich so gar nicht in die backsteinern weiß blühenden Baum die Kirche im Dorf. sischen Schah die Ansicht eines Wüstendorfs als Verleger den noch unbekannten Wolfgang
norddeutsche Leitkultur integrieren mag. Selbst die Kultbilder und die religiösen Moti- unter gleißender Sonne, Titel: Die schöne ira- Borchert. Nach dem Krieg gründete er eine
Es gab Widerstände gegen das Museum. ve aus fernen Ländern wirken vertraut. Die nische Sonne, ein Wandbild vom Präsidenten Gesellschaft deutscher Übersetzer und die
N° Überfremdung sei in Reinbek nicht erwünscht, Haltung des jüdischen Königs Salomo auf des Senegal, einen ägyptischen Teppich von Freie Akademie der Künste in Hamburg.

101 so der Vorwurf. Dagegen forderte der Samm-


ler bei der Eröffnung, »die Schleswig-Holstei-
ner müssen sich neu besinnen«. Ob sie es ta-
einem aus Äthiopien mitgebrachten Ölge-
mälde auf Ziegenfell, wie er sich da vor der
Königin zu Saba zu einem Handkuss ver-
Helmut Schmidt. Mit der Gründlichkeit des
Ethnologen und dem Gespür des Sammlers
durchstreifte Italiaander die Kontinente. In In-
Er war Konsul mehrerer afrikanischer Staaten
und ließ überhaupt recht wenig aus in sei-
nem Leben.
ten, wir wissen es nicht. Fest steht jedoch: Es neigt, könnte einer höfischen Szene des 18. dianerreservaten in Neumexiko stieß er auf die Wie Luis Trenker, der von der Erhabenheit
gibt kein zweites Museum in Deutschland, in Jahrhunderts entstammen. Das entgrenzte Technik der Sandmalerei. Die Navaho-India- der Alpen schwärmte, und wie Bernhard
dem man auf engstem Raum von der Stam- Lächeln aller Beteiligten entbehrt nicht einer ner streuen mit buntem Sand Zeichnungen Grzimek, der Tierfilmer, brachte Italiaander
meskunst Melanesiens über Wahlplakate aus gewissen Komik. ihrer Götter auf den Boden. Ist die Zeichnung dem staunenden Lese- und Fernsehpublikum
Ghana bis zu den Zeichnungen der Inuit im Man hat diese Kunst als »naive Kunst« be- fertig, machen sie sie – glaubensbedingt – am der sechziger und siebziger Jahre die Wunder
Norden Kanadas eine Sammlung derart bun- zeichnet, weil sie nicht die Geschichte der Abend wieder kaputt. Italiaander präparierte der Welt ins Wohnzimmer. Sein Museum hat
Ein Häupt- ter Kunstwerke sowohl von Amateuren als Kunst, sondern »nur« das Leben reflektiert, eine Platte mit Leim und brachte einen Nava- etwas von diesem Staunen ins Heute herüber-
lingsstuhl aus auch von Nationalmalern besichtigen kann. von dem sie erzählt. Ihr prominentester Ver- ho dazu, seine Zeichnung statt auf den Sand- gerettet. Einmal Kulturschock in Reinbek
Melanesien Verblüffend ist die Zahl der Materialien und treter ist Henri Rousseau, der ballspielende boden auf die Platte zu streuen. kostet einen Euro fünfzig.
FEUILLETON 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 61

Weniger Feuilleton
Das Fernsehprogramm zdf.kultur
Das Letzte
will der denkfaulen Jugend eine Arme, alte Räuber mag es geben, aber der My-
Freude machen VON NINA PAUER thos erzählt uns etwas ganz anderes, er
schwärmt von Robin Hood, dem edlen Rächer
der Gerechten, oder von Klaus Störtebeker,
dem verwegenen Freibeuter, dessen Schiff vol-
Schlange gestanden hatten die Signalwörter. ler Gold und Silber war. Wie anders der
Ein »Medium von morgen« war dem jungen schreckliche Osama bin Laden! Hätte man
Zuschauer schon vor dem Start des neuen nicht denken sollen, er befehlige eine Bergfes-
digitalen Fernsehkanals zdf.Kultur am ver- tung, in deren Gemächern orientalische Pracht
gangenen Wochenende versprochen worden, zu finden sei, wo dienstbare Geister auf einen
eine nie dagewesene Mischung aus »Popkul- Wink des Herrschers mit der Wasserpfeife her-
tur« und «Lebensgefühl«, «Internet und Fern- beieilten? Nichts davon zeigt uns das von den
sehen«. Eine gewagte Prognose angesichts ei- Amerikanern veröffentlichte Foto, wir sehen
ner Zielgruppe, die auf derartige Ansprachen weder Ali Baba noch die vierzig Räuber und
wie keine andere notorisch mit allergischem ihre sagenhaften Schätze, wir sehen einen alten
Argwohn reagiert. Mann, umhüllt von einer Wolldecke, mit der
Doch was letzten Samstag um 6.30 Uhr Fernbedienung in der Hand. Ein Räuber mit
mit dem neuen Video Make Some Noise der Fernbedienung! Und was bedient er? Einen 14
Beastie Boys auf Sendung ging, dürfte die Zoll kleinen Röhrenfernseher, der auf einem
skeptische Generation der 20- bis 40-jährigen schäbigen Schreibtisch steht, und das Möbel
Mediennutzer tatsächlich goutieren. »Ist das sieht aus, als käme es direkt vom Baumarkt.

Foto: Nadja Klier/X-Verleih


Kultur?«, fragte im ersten Vorstellungsfilm- Und diese Unordnung, diese Steckdosenleiste,
chen eine strenge Stimme aus dem Off, zu dieses Kabelgewirr! Erbärmlich, erbärmlich.
sehen waren abwechselnd Fragmente des Wer auch immer seinen Kinderwunsch, Räu-
klassischen Kulturkanons aus Oper und Sin- berhauptmann zu werden, endlich in die Tat
fonieorchester und rappende Straßenmusiker. umsetzen will, sollte es sich gut überlegen. Lie-
Die Frage nach Hoch- oder Popkultur, sie ber Unternehmer! Da darf man ganz legal
stelle sich nicht mehr, so die Erklärung des räubern, gewinnt Reichtum, Ansehen und
Programms, das den Theaterkanal ablöst. War schon alles gut so, wie es war: Joschka Fischer, umgeben von den Bildern seiner selbst vielleicht gar das Bundesverdienstkreuz.
Unter dem Schlachtruf »Weniger Feuilleton!« Was übrigens die Räuberei, genauer die
solle sich der junge Erwachsene nicht mehr Seeräuberei betrifft, so hatte die vierte Folge
voll schlechten Gewissens von Inhalten ab- der Räuberpistole Fluch der Karibik eben in
wenden, die ihm als kulturell bedeutsam
diktiert werden, aber genauso wenig von
Mainstream-Plattheiten angeödet fühlen.
Herausgekommen ist dabei – so zeigt es
wenigstens das erste Sendewochenende – ein
Im Joschkabunker Los Angeles Premiere. Bild veröffentlicht dazu
ein Foto der formidablen Penélope Cruz und
schreibt in vertraut subtiler Diktion: »Ihr De-
kolleté – pralle Beute für Seeräuber.« Möglich
immerhin, dass Osama bin Laden diesbezüg-
schneller Rhythmus von Bildabfolgen, Kon- Ein wahrer Staatsmann muss auch im eigenen Film herrschen: »Joschka und Herr Fischer« VON GÖTZ ALY lich besser versorgt war, denn es wird berichtet,
zertmitschnitten von Bands wie Mando er habe drei Ehefrauen besessen. Und trotzdem
Diao und Björk, Poetry-Slam-Live-Übertra- musste er den Fernseher mutterseelenallein

B
gungen und ein stets selbstironischer Grund- laues Hemd, die Arme über dem Bauch gen, die von den Frankfurter Spontis zum Terro- schweigt der Film. Später hielt der Nichtpazifist bedienen. Was ist mit den Weibern im Orient
ton der Moderatoren, die aus dem Zentrum verschränkt, so erläutert Herr Fischer rismus führten. Deutschland aus dem Irakkrieg heraus. Vor allem los? Es kann natürlich sein, dass der furchtbare
der medienüberladenen, nicht uninformier- sein Leben. Er erzählt aus der Kindheit, Es gibt keinen Grund, Fischer heute wegen sol- aber trug er 25 Jahre lang in schier unendlichen Aus- Osama in dieser Hinsicht eher furchtsam war.
ten oder uninteressierten, aber doch leicht den wilden Jahren, der Zeit als hessi- cher Fehltritte zu diskreditieren. Eine ganze west- einandersetzungen dazu bei, die Grünen zu der Wahrscheinlich hatte er eine Modelleisenbahn
ablenkbaren Jugend der Fernsehzuschauer scher Umweltminister, später als Au- deutsche Protestgeneration hat sie mit ihm begangen. Partei zu formen, die heute von so vielen gewählt im Keller, wo er seine Märklin H0 im Maßstab
rekrutiert wurden. ßenminister bis 2005. Alsdann blieb ihm »eine Zu Recht erwähnt Fischer das »moralische Zwie- werden kann. 1 : 87 fahren ließ (just jenes Modell, das Horst
»Osama, Obama, oh Drama«, sprach Jo Position in Europa« versagt, wie er indigniert be- licht«, in dem die Nachkriegsjugend aufwuchs. Of- Der Filmheld hat erhebliche Verdienste vor- Seehofer laut Spiegel auch besitzt); gut möglich,
Schück in der ersten Ausgabe seines Popma- merkt. Wohl deshalb schweigt er über sein post- fensichtlich musste dieses Land nach der Gewaltorgie zuweisen, doch bleibt er merkwürdig unpersönlich, dass er seinen Feind Obama als Puppe auf den
gazins Der Marker ebenso trocken wie sinn- politisches Dasein als wenig beachteter Lobbyist. des »Dritten Reiches« durch solche Auseinanderset- eindimensional und kalt. Seinen Vater, seine Mutter, Tender setzte und gegen den Prellbock fahren
frei, während er einige Sekunden lang perfekt Nur einmal, als er davon schwärmt, wie gut er zungen »ein Stück weit hindurch«, wie Fischer sagt. seine Frauen und Kinder behandelt er als Unper- ließ. So wie es umgekehrt nicht undenkbar
in das berühmte Foto montiert erschien, das Gedanken, Reden und Texte beim zeitweisen Jog- Er neigt mittlerweile zu Floskeln. Immerhin, anders sonen. Er verfährt nach dem Prinzip von Wilhelm erscheint, dass auch Obama eine Modelleisen-
den Stab des amerikanischen Präsidenten bei gen hatte verfertigen können, spricht er von der als noch vor drei Jahren, konzediert er, dass die II., der seinen Erinnerungen 1922 den Titel Ereig- bahn besitzt und seinen Feind Osama ent-
der Beobachtung von Osama bin Ladens Tö- Zukunft: »Vielleicht fange ich das Laufen wieder Fünfundvierziger, also die Halbwüchsigen, denen nisse und Gestalten verpasste, mittendrin die größte gleisen ließ. Das wäre sozusagen ein Voodoo-
tung zeigt – und sprang anschließend kom- an.« Dazu wäre ihm zu raten, nicht zuletzt wegen 1945 die Freiheit geschenkt wurde, wesentlich zum Gestalt – der Kaiser als ewiger Rechthaber. Das hu- Zauber nach Märklin-Art.
mentarlos zum nächsten Thema über, einer des besseren Gedankenflusses. Aufbau und zum Gelingen der zweiten deutschen mane und liberale Gegenstück zu Fischers Selbstpor- Natürlich sind das haltlose Spekulationen,
Reportage über die erste Heavy Metal Band Während Pepe Danquarts Film Joschka und Herr Republik beigetragen haben. Sie, nicht die Acht- trät präsentierte in diesen Wochen bezeichnender- aber wer Räuberhauptmann werden will, soll-
in Bagdad. Fischer steht Fischer im Ambiente einer Art Tiefga- undsechziger, setzten durch, dass die NS-Verbrechen weise der ehemalige bayerische Kultusminister Hans te mit wirklich allem rechnen. FINIS
Eine ebenso seriöse wie skurrile Doku- rage, sozusagen im Joschkabunker. Darin flimmern verfolgt wurden und in den sechziger Jahren an Maier (CSU). Er nannte seine Erinnerungen Böse
mentation zur Erotik des Mondes, die darauf auf Leinwänden wechselnde Fotos und Filmaus- den Schulen Filme und Texte gezeigt wurden, die Jahre, gute Jahre.
folgte, ließ langhaarige Himmelskörper- schnitte, die, herangezoomt, selektive Einblicke in darüber aufklärten. Maier lässt seine Töchter zu Wort kommen,
Experten die »animalische« Wirkung der Ge- mehr als 60 Jahre Leben gewähren. So viel zur Äs- Fischer folgt den Meilensteinen seines Lebens. und die älteste schreibt über ihre Konflikte mit WÖRTERBERICHT
stirne erläutern, aber bevor es zu ulkig wurde, thetik. Inhaltlich fehlt jede kritische Brechung. Fi- Das Umdenken, die Zwischenstadien und Über- dem Vater: »Dass wir, nachdem wir uns zum The-
traten die Sendungen dazwischen, die das
Mutterhaus in den neuen Kanal exportiert:
schers politische Gegner werden nur als Witzfiguren
eingeblendet. Gelegentlich kommen Duzfreunde zu
gänge lässt er im Nebel. Sein 1979 verfasster Aufsatz
Durchs wilde Kurdistan trug dazu bei, die elitären
ma Rüstungspolitik oder vorehelichem Ge-
schlechtsverkehr angebrüllt hatten, zusammen Blickfick(en)
Die heute nachrichten, Das philosophische Wort. In der Art von Hofschranzen berichten sie Weltverbesserungsfantasien innerhalb der west- Schumann-Lieder am Klavier sangen, konnten
Quartett und aspekte werden regelmäßig auch ausschließlich Lobenswertes. Frauen sind zum Ehren- deutschen Linken zu überwinden. Unter Hinweis meine Freunde nicht verstehen.« In aller Ruhe Ein Begriff aus eiligen Zeiten. Er bezeichnet,
im Kultursender zu sehen sein. dienst nicht zugelassen. Der Protagonist schnipselt auf die Killerkommandos der RAF und die islamische schildert Maier die schwarze Seite der Achtund- als Verb wie als Substantiv, den intensiven
Und auch die Nostalgie wird gleich von sein Leben für das Goldrähmchen zurecht. Er allein Revolution hatte er damals geschrieben: »Zuviel wird sechziger-Revolte und die Kämpfe, die er als Ini- Augenkontakt zwischen zwei möglichen Ge-
der ersten Woche an bedient: Die Ratesen- führt die Regie, von Eitelkeit und Kontrollwahn noch gefragt, wo es langgeht und was machen, und tiator der Widerstandsorganisation »Bund Frei- schlechtspartnern, die keine Zeit haben, mit-
dung Dalli, Dalli erlebt unter der Woche am getrieben. Ebendeshalb bleibt Fischer weit unter da weiß ich keine Antwort mehr, will auch keine heit der Wissenschaft« ausstand, und zieht doch einander auch nur ins Gespräch zu kommen;
Mittag ihre Renaissance. Der Quotentest seinem Niveau. Das Ganze dauert 140 Minuten und mehr wissen.« So wurde er Taxifahrer. Dank solcher »keine gänzlich negative Bilanz«: »1968 und die etwas, das umso häufiger vorkommt, je größer
beim Jungmenschen, er scheint mit genau ermüdet enorm. Wandlungen stellte Richard Löwenthal ebenfalls folgende Zeit haben die Establishments aller die Stadt ist, in der es sich ereignet – der boh-
dieser Mischung aus Kult und Kultur zu be- Die Fotos von der propalästinensischen Kon- 1979 erleichtert fest, die »ganz überwiegende Mehr- Richtungen gezwungen, Verfassungsstaat und rende Lustblick als die schnellste intime Er-
stehen zu sein. Zumindest vorerst. »Weiter- ferenz in Algier 1969 fehlen. Fischer zählte damals heit« der Neuen Linken habe sich vom »neobaku- Demokratie mit mehr Phantasie, mit intelligente- fahrung. Allerdings wird das Wort auch (gern
machen«, so lautete am Sonntag die schlichte zu den fünf Delegierten des Sozialistischen Deut- nistischen Gewaltkult« abgewandt. ren Methoden zu verteidigen als nur mit dem unter jungen U-Bahn-Fahrern) benutzt, um
Ansage eines der tausend neuen Facebook- schen Studentenbundes. Einer von ihnen berich- Die Bielefelder Rede, mit der Fischer 1999 – von Traditionsargument, ›wie wir’s dann zuletzt‹ – von Gewalt zu reden. Man sieht diesen Blick
Freunde auf der Profilseite von zdf.kultur. tete nach der Rückkehr, man habe das »prinzi- einem roten Farbbeutel getroffen und am Trommel- nach 1945 – ›so herrlich weit gebracht‹. Und das auf dem Schulhof, in der Disco, in der Kneipe:
pienlose Spektakel« unter Protest verlassen, weil fell verletzt – in knapp fünf Minuten den deutschen war immerhin etwas.« Einer durchsengt einen Schwächeren mit dem
dort versucht worden sei, »die palästinensische Kampfeinsatz gegen Serbien auf dem Parteitag der Zu diesen Veränderungen hat Joschka Fischer Hass-Laser. Wenn der Bestarrte den Blick senkt,
Revolution unter Kontrolle zu bringen«. 1973 ge- Grünen rechtfertigte, gehört zu seinen Glanzleis- beigetragen – im Bösen und im Guten. In aller Be- ist er vernichtet. Wenn er standhält und zurück-
Sehenswert hörte Fischer zur Frankfurter »Putzgruppe«, die
sich mit Angriffen auf einzelne Frankfurter Poli-
tungen und zu den wenigen Höhepunkten des Films.
Aber eingeleitet hatte Fischer diese Wende bereits
scheidenheit sagen kann er das nicht. Beworben wird
der Film mit dem Satz, Fischer könne es kaum fassen,
starrt, beginnt, nach uralten Regeln, der Kampf
zweier Menschen, die keine Zeit hatten, mit-
The Four Lions von Christopher Morris zisten hervortat, einer wurde dabei lebensgefähr- 1995, als er gegen die Mehrheit seiner Partei den was während seiner Lebenszeit alles geschehen sei – einander in Streit zu geraten. PETER KÜMMEL
An einem Samstag von Alexander Mindadze lich verletzt. Solche Untaten bagatellisiert der militärischen Schutz der bosnischen Muslime vor einer »Epoche, die ihn ebenso prägte wie er sie«.
Das Hausmädchen von Img Sang-soo einstige Straßenkämpfer, ebenso die Verbindun- den serbischen Aggressoren verlangte. Auch darüber Lächerlich! www.zeit.de/audio
GLAUBEN & ZWEIFELN 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 62

alle Fotos: Markus Kirchgessner/laif für DIE ZEIT/www.markus-kirchgessner.de (Frankfurt, 7. Mai 2011)
ETHIK UND OSAMA

Was ist Heuchelei?


Über den Heiligen Krieg und die
deutsche Sprachpolizei

Wenn der deutsche Rechthaber recht behalten


will, regt er sich über die Schlechtigkeit seiner
Mitmenschen auf. Selbst Friedrich Nietzsche,
der sich einen Spaß daraus machte, Moralisten
zu verhöhnen, hat das Problem scheinheiligen
Moralisierens unterschätzt. »Das moralische
Verurteilen ist die Lieblingsrache der geistig
Beschränkten«, schrieb er in Jenseits von Gut
und Böse. Nietzsche wollte sagen, dass die
dümmsten Bauern die größten Moralapostel
sind und dass Ehrpusseligkeit von Mangel an
Verstand kommt. In Wahrheit kommt sie aber
von Bosheit, wie sich soeben in der bigottesten
Debatte des Jahrzehnts gezeigt hat.
Böse musste man schon sein, um der Bun-
deskanzlerin zu unterstellen, sie habe sich über
den Tod Osama bin Ladens gefreut. Tatsächlich
hatte sie die Worte »Ich freue mich« mit einer
Leichenbittermiene gesprochen, die unmiss-
verständlich klarmachte, dass hier nicht Freude
im Sinne von Frohlocken gemeint war, sondern
allenfalls Erleichterung. Trotzdem ereiferte sich
die Republik, als habe Angela Merkel eigenhän-
dig den Al-Qaida-Chef getötet. Dass er getötet
wurde, regte die Deutschen weniger auf, dafür
Pierre Vogel (rechts) ergötzten sie sich eine geschlagene Woche an
sprach letzten Samstag in der rhetorischen Frage: Darf man sich über den

Totengebete verboten
Frankfurt am Main über Tod eines Menschen freuen? Ja, liebe Sprach-
Islam und Terror. Der polizei, darf man auf dem Friedhof lachen?
radikale Prediger ist bei Gegenfrage: Was ist ein gerechter Krieg,
jungen Muslimen beliebt was ist ein heiliger Krieg und was ist Heu-
chelei? Was gerecht ist, begreift man am
besten, indem man fragt, was selbstgerecht
Wie Deutschlands bekannteste Islamist Pierre Vogel auf das Ende bin Ladens reagierte VON ANNABEL WAHBA ist. Und was heute noch heilig sein könnte,
erkennt man am klarsten, indem man fragt,
was scheinheilig ist. Die Antwort steht, wie

F
rüher stieg Pierre Vogel in den Ring, um und blickt die Reporterin direkt an, was ein streng- lafistischen Milieu. Seit einiger Zeit strebt das Bun- Zwiegespräch mit der Menge, er ist ein Showtalent. alles Wichtige, in der Bibel (»Heuchler ge-
sich mit seinen Gegnern zu schlagen. gläubiger Muslim eigentlich nicht tut. Pierre Vogel desinnenministerium ein Verbot des Vogel naheste- Den Namen bin Ladens nennt er tatsächlich nicht. ben sich ein trübseliges Aussehen, damit die
Jetzt steigt er auf die Bühne und spricht. kann sich seinem Gegenüber gut anpassen. henden Vereins »Einladung zum Paradies« an. Stattdessen schimpft er auf die Medien. Pierre Vogel Leute merken, dass sie fasten«) und im Wör-
Ein guter Muslim, sagt Pierre Vogel, das Vogel wurde viel kritisiert für seinen Aufruf zum ist der Star einer Szene, die dem Journalismus miss- terbuch Hochdeutscher Mundart (»Schein-
ist keiner, der sich einen Weihnachts- Totengebet. Dass der Verfassungsschutz wieder ein- ZEIT: Warum sagen Sie den jungen Leuten nicht traut, weil er junge Muslime zu oft als Problem- heilig ist, den äußern Schein der Heiligkeit
baum aufstellt und mit dem man auch mal einen mal aufmerksam wurde, ist ihm egal. Und auch die klar und deutlich, dass Sie gegen Terrorismus sind, jugendliche stigmatisiert. Er braucht die Medien annehmend, ohne es wirklich zu sein«).
trinken kann. Ein guter Muslim, das ist ein Fun- negativen Medienberichte treffen ihn nicht. »Schlech- wie das die Muslimverbände tun? nicht, er hat seine Homepage. Jedes Interview, das er Vielleicht können wir es so zusammenfas-
damentalist. Das Publikum in Frankfurt applau- te Werbung ist besser als gar keine Werbung«, sagt er. Vogel: Das sind doch Sesselfurzer. Keiner hat sich gibt, wird gefilmt, und wenn er sich falsch zitiert fühlt, sen: Heuchler erkennt man daran, dass sie
diert. Pierre Vogel steht am vergangenen Samstag- Für die Werbung in eigener Sache nimmt er gern in gegen Terrorismus so klar positioniert wie ich. Was was schnell passiert, weil Interviews immer gekürzt sich über ein falsches Wort mehr aufregen
abend wie immer etwas breitbeinig auf der Bühne, Kauf, die Islamphobie vieler Deutscher anzuheizen. nutzt das, wenn da jemand mit Krawatte gegen werden, dann veröffentlicht er die Originalfassung. als über eine fragwürdige Tat, dass sie über
er tänzelt auf den Zehenspitzen hin und her. Er ist Gewalt ist, welchen Jugendlichen beeinflusst das? Auf seiner Homepage steht das Video eines Interviews der Kritik am Krieg-gegen-den-Terror bei-
zwar längst kein Profiboxer mehr, aber ein Profi im DIE ZEIT: Sie wurden für Ihren Aufruf zum Toten- Ich widerlege die Argumente der Gewaltbereiten. mit Spiegel TV, das war nach dem Anschlag am nahe den Terror vergessen und dass ihr
Austeilen ist er noch immer. gebet massiv kritisiert, sogar von ultrareligiösen Frankfurter Flughafen, wo der 21-jährige Arid U. wohlfeiler Pazifismus sie hindert, endlich
Der Boxer, der zum Muslim wurde. Ein deut- wahhabitischen Salafisten. Pierre Vogel, der seine Karriere als Profiboxer ohne zwei US-Soldaten erschoss. Arid U. hatte Vogel auf die moralischen Dilemmata zu sehen, in die
scher Muhammad Ali! Pierre Vogel alias Abu Pierre Vogel: Ich weiß genau, wenn ich ein Toten- Niederlage beendete, hält sich auch als Prediger für Facebook als Freund hinzugefügt. Vogel wurde in der Terrorismus uns gestürzt hat.
Hamsa hätte die Menschen verbinden können, gebet mache, dann werden Leute kommen, die unverwundbar. Er spricht die Sprache der Jugend. dem TV-Beitrag mit dem Satz zitiert, es mache einen Denn hier liegt ja schon das erste Dilem-
aber er hat sich entschieden, zu spalten. mit Osama bin Laden sympathisieren, und so Auch die jungen Angestellten von Kentucky Fried Unterschied, ob jemand Zivilisten töte oder Soldaten. ma: Das Leben eines Menschen ist uns so
Ursprünglich hatte Vogel, 32, der vor zehn Jahren kann ich mit ihnen über Terrorismus reden. Chicken sehen ehrfürchtig zu ihm herüber. Später auf Vogel ärgert sich, weil die Sätze, in denen er Anschlä- viel wert, dass wir sogar den Tod eines Mas-
zum Islam konvertierte und heute einer der popu- ZEIT: Bin Laden ist ein Massenmörder, wer für der Veranstaltung am Rebstockpark verhalten sich ge verurteilte, herausgeschnitten wurden. senmörders nicht feiern wollen. Die Men-
lärsten deutschen Prediger ist, zu einem Totengebet ihn betet, stellt sich in seine Nähe. seine Anhänger so vorbildlich, wie er es ihnen auf schenwürde ist so universell, dass wir auch
für Osama bin Laden aufgerufen, dann zog er den Vogel: Das Wichtigste ist, über Reizthemen zu re- seiner Homepage geraten hat. Bereitwillig lassen sie ZEIT: Sie verurteilen den Anschlag, gleichzeitig rela- die Würde eines Mannes wahren müssen,
Aufruf wieder zurück und wollte nur noch über Islam den. Das vermisse ich in diesem interreligiösen sich von den Polizisten durchsuchen. Junge Männer, tivieren Sie den Mord an den Soldaten. der sich selbst ins moralische Abseits gestellt
und Terrorismus reden. Das Ordnungsamt verbot Dia-Lüg. Das ist doch gegenseitige Einschleimerei. junge Frauen mit und ohne Kopftuch, Familien mit Vogel: Was ist denn ein abscheulicherer Mord: hat. Osama bin Laden hatte gesagt, dass
seinen Auftritt in der Frankfurter Innenstadt, das Ver- ZEIT: Die islamische Religionsgemeinschaft Hes- Kindern. Auf der Wiese nebenan wird gegrillt. Vogels wenn jemand einem Kind die Kehle durchschnei- ihm für den Zweck des Heiligen Krieges je-
waltungsgericht genehmigte ihn doch, allerdings sen rief auf, Ihre Veranstaltung zu boykottieren. Anhänger tragen T-Shirts mit dem Aufdruck Don’t det oder wenn jemand denkt, dieser Soldat ist ein des Mittel recht sei. Damit verneinte er die
außerhalb der Stadt auf einem Freigelände am Reb- Vogel: Diese Leute haben null Einfluss, null Mut. panic, I’m islamic oder I love Islam. Sie sind Vertreter Verbrecher, der bringt vielleicht morgen meine Kantsche Definition des Menschlichen, die
stockpark. Der Name bin Laden dürfe in seiner Rede Nicht mal den Mumm, uns zu sagen, dass der, der eines neuen selbstbewussten Pop-Islams. Leute um, und erschießt den? man auch als moralphilosophischen Kern
nicht fallen, heißt es in den Auflagen. den Islam nicht annimmt, in die Hölle geht. Allerdings sind diesmal nur 400 Leute gekommen, ZEIT: Mord ist Mord. der Menschenrechte ansehen kann: Eine
Eine Interviewanfrage der ZEIT hatte Pierre Vogels ZEIT: Sie tun, als stünden Sie für den wahren Islam, bei Vogels letztem Auftritt in Frankfurt waren es drei- Vogel: Also nach deutschem Strafrecht gibt es un- Zweck-Mittel-Relation ist auf den Men-
Pressemann kürzlich noch mit den Worten abgelehnt: dabei ist Ihre Sicht nicht die der meisten Muslime. mal so viele. Das mag daran liegen, dass er heute am terschiedliche Haftstrafen ... schen nicht anwendbar, er darf nicht zum
»Wenn Sie ein ehrlicher und verantwortungsbewuss- Vogel: Man kann Leute nur zusammenbringen, Stadtrand predigt. Es mag auch daran liegen, dass die ZEIT: Die Merkmale eines Mordes sind in beiden Objekt degradiert werden, weil er ein Sub-
ter Mensch sind, verlassen Sie Ihre Werbeagentur und wenn man ehrlich ist. Aber das sind viele Verbände Tötung bin Ladens die strenggläubigen Muslime nicht Fällen gegeben, auf Mord steht »lebenslänglich«. jekt mit einer Würde ist.
suchen sich einen ehrlichen Job, in dem man nicht nicht. Wenn es um die Scharia geht, ob man sie in dem Maße aufbringt, wie er geglaubt hat. Außerdem Vogel: Trotzdem kriegt der eine vielleicht Sicher- Wenn wir also die Universalität der Men-
mittels Lügen andere Menschen zerstört!!!« besser findet als das Grundgesetz, da braucht es keinen Pierre Vogel, heitsverwahrung und der andere 15 Jahre. schenrechte verteidigen wollen, können wir
Jetzt sitzt Pierre Vogel lächelnd vor einem Ken- wird dann gesagt, man akzeptiere es. um die USA zu kritisieren. Der ZEIT: Gute Morde, schlechte Morde. So argumen- Osama bin Laden nicht als Unmenschen be-
tucky Fried Chicken am Rande Frankfurts, es ist Man tut, als sei man der größte Demo- Verein Einladung zum Paradies tiert al-Qaida: Wir dürfen Amerikaner umbringen, handeln. Aber wie verhindern wir, dass einer
Samstagmittag, wenige Stunden vor seinem Auftritt. krat. Das ist Schwachsinn. Jeder Mus- hat einen YouTube-Ausschnitt weil sie Steuern zahlen, also den Staat repräsentieren. einen Heiligen Krieg führt? Und wer schützt
In dem amerikanischen Schnellrestaurant trifft er sich lim glaubt, dass die Scharia von Gott ist von Helmut Schmidts Besuch Vogel: Aber ich war es, der die Argumente von al- die Würde seiner potenziellen Opfer? Dass
mit seinen Weggefährten, bevor sie gemeinsam zum und absolute Gültigkeit hat. bei Beckmann auf die Home- Qaida widerlegt hat. Ich habe Morddrohungen be- diese alten Fragen offen bleiben, ist traurig
Rebstockpark aufbrechen, hier gibt er nun doch das page gestellt. Darin sagt der kommen von Terroranhängern! Ich rufe permanent genug – ein Dilemma ist eben unlösbar. Dass
Interview. Die Gäste blicken von ihren frittierten Auch wenn sich Pierre Vogel nicht als Altkanzler, er finde die Tötung dazu auf, dass man sich hier an die Gesetze halten aber deutsche Moralapostel so tun, als sei alles
Hühnchen auf, wenn der Mann mit dem langen Bart Salafist bezeichnet, sind solche Aussagen bin Ladens in Pakistan »zwei- muss. Aber ich muss auch gucken, wen ich anspre- ganz einfach, als müsse Angela Merkel nur die
von Osama bin Laden spricht. Pierre Vogel stört das doch salafistisch. Salafismus gilt als un- schneidig«, weil sie ein Verstoß che, ich muss auch eine gewisse Rhetorik benutzen, richtigen Worte sprechen, das ist Heuchelei.
nicht, entspannt lehnt er sich im Stuhl zurück. vereinbar mit der parlamentarischen gegen das Völkerrecht sei. um überhaupt Leute zu beeinflussen. Eine deutsche Justizministerin a. D. hat
Vogel kokettiert gern mit seiner Boxervergangen- Demokratie, weil er Gesetze als von Gott Als Vogel endlich die Bühne einem amerikanischen Botschafter a. D. vor-
heit. Als sich ein Passant beschwert, weil ihm der gemacht ansieht. Der politische Salafis- betritt, fragt er als Erstes seine Vogel mag sich in der Öffentlichkeit von Gewalt dis- geworfen, durch bin Ladens Tod würden die
Zeitungsfotograf im Weg steht, witzelt Vogel: »Sollen mus ist die am schnellsten wachsende Anhänger, wann sie erfahren tanzieren, ein Demokrat ist er nicht. Er behauptet, er islamistischen Anschläge nicht weniger. Sie
wir ihn hauen?« Vogel meint den Passanten. Dann islamistische Strömung in Deutschland hätten, dass die Veranstaltung wolle Jugendliche zum Gewaltverzicht bekehren. merkte gar nicht, was für ein fatales Argument
wird er wieder ernst, das sei natürlich nur Spaß. Pierre und hat enorme Sogwirkung auf die hier draußen ist. Er sucht das Doch seine Botschaften sind zwiespältig. Einen Tag das war: Dieser Tod hat uns nichts genützt.
Vogels Disziplin ist jetzt die Rhetorik, und er weiß zweite und dritte Einwanderergenerati- nach der Veranstaltung in Frankfurt wird bekannt, Und wenn er uns genützt hätte? Wäre uns bin
seine Worte zu wählen. Er, dessen Wohnung von der on. Er distanziert sich zwar von Gewalt. dass der 19-jährige Abiturient Amid Ch., einer der Ladens Würde dann wurst?
Polizei durchsucht wurde, weil bei einem seiner Vor- Doch Internetforen und Seminare die- Ein Gegendemonstrant drei Terrorverdächtigen, die kürzlich in Düsseldorf Moral predigen ist leicht, Moral begründen
träge das indizierte Buch Frauen im Schutz des Islam nen als Kontaktbörse auch für Extre- hält in Frankfurt das festgenommen wurden, Pierre Vogel verehre. Ob das schwer. Vielleicht hatte Nietzsche doch recht,
auslag, in dem es heißt, Frauen »genießen es, geschla- misten. Die meisten Dschihadisten mit Kreuz Jesu Christi wie den Prediger beunruhigt? Nein, antwortet sein Pres- dass eine gewisse Art Moralismus die Rache
gen zu werden«, er gibt sich jetzt höflich interessiert Deutschlandbezug kamen aus dem sa- ein Banner hoch semann in seinem Namen. der geistig Beschränkten ist. EVELYN FINGER

»Wir rächen Blut mit Blut. Wir feiern in Finsternis, nicht im Licht«
Warum ein junger Amerikaner in Deutschland sich für die Jubelvideos aus seiner Heimat schämt VON PATRICK BRUGH

U
m die Nachricht von Osama bin Ladens Tod ment für Aufrüstung missbraucht wurden. Auf dem ckungspolitik: Wenn wir genug Waffen besitzen, gossen werden.« Hunter scheint den dialektischen Wir Amerikaner haben die Hoffnung auf eine
zu glauben, musste ich erst die Ansprache Höhepunkt der Konfessionskriege im 16. und 17. greift uns niemand an. Charakter dieses Verses übersehen zu haben. Blut, Welt ohne Terror benutzt, um überall auf der Welt
meines Präsidenten hören. Doch nach weni- Jahrhundert boten sie eine moralische Rechtfer- Jetzt haben wir also Videos grölender Amerikaner das wir für Blut vergießen, ist weiteres Blut, für das Krieg zu führen. Wir bekämpfen Finsternis mit Fins-
gen Sätzen hielt ich es nicht mehr aus. Denn in der tigung für die entstehende Rüstungsindustrie. gesehen, die auf Bäume klettern und Fahnen schwen- sich jemand rächen wird. Mit dem jüngsten Akt des ternis, um Sterne zu erschaffen. Doch wenn wir Ame-
sonst so ruhigen Stimme lag diese unheimliche Ein Satz des deutschen Militärtheoretikers Wil- ken, um den Tod eines Feindes zu feiern. Mir als Blutvergießens ist also nichts erreicht. rikaner so jubeln wie letzte Woche, dann vergessen
Spannung, wie bei einem Jungen, der es nicht erwar- helm Dilich aus dem Jahr 1608 geht mir nicht aus Amerikaner in Deutschland war der rowdyhafte Facebook und Twitter verbreiten aber auch ein wir, dass wir in Finsternis feiern und nicht im Licht.
ten kann, mit seinem Geheimnis herauszuplatzen. dem Sinn: »Durch krieg kompt der frieden / und Hurrapatriotismus peinlich, zumal die Medien ihm anderes Zitat, das von Martin Luther King stammt:
Deprimiert setzte ich mich wieder an den Schreib- sollen die jenige / so in fried und ruhe leben wollen / eine ganze Weile folgten, ehe sie endlich die Frage »Hass mit Hass zu vergelten wird nur den Hass ver- Aus dem Englischen von MICHAEL ADRIAN
tisch, an das nächste Kapitel meiner Doktorarbeit, in wahffen geübte leute sein.« Dilich nennt den krie- stellten: Ist dieser Jubel moralisch? Pfarrer Jim Hun- größern und eine bereits sternenlose Nacht in noch
das von der Instrumentalisierung der Idee des Frie- gerischen Menschen Friedenskämpfer und rechtfer- ter, ein geistlicher Berater Obamas, antwortete mit tiefere Finsternis tauchen. Finsternis kann Finsternis Patrick Brugh, (27), ist Germanistikdozent im Staat
dens für den Krieg handelt. Aus alten Kriegsbüchern tigt den Kreislauf der Gewalt. Solche alten Droh- und einem Bibelwort aus der Genesis: »Wer Menschenblut nicht vertreiben: Das vermag nur das Licht. Hass Missouri. Derzeit forscht er an der Herzog-August-
wissen wir, wie oft Friedenshoffnungen als Argu- Vergeltungsszenarien erinnern an heutige Abschre- vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen ver- kann Hass nicht beenden: Das kann nur die Liebe.« Bibliothek Wolfenbüttel über frühe Kriegsromane
63 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

REISEN

Fotos: Fernand Rausser/KEYSTONE (gr.); Bernadette Conrad für DIE ZEIT (kl.)
Eingewachsen:
Max Frisch 1979
in seinem Haus
in Berzona

Sein letztes Refugium


Vor 100 Jahren wurde er geboren – ein Zuhause fand Max Frisch erst spät, in einer wilden Gegend des Tessins VON BERNADETTE CONRAD

M
an fasst sich ein Herz, öffnet aufmerksam. Frisch, 53, kam dies gelegen. Nach fünf Waldes entrissen zu haben. Mit kleinen Gebäuden aus kann keine Rede mehr sein. »Vielleicht 35?«, ver-
das unverschlossene Garten- italienischen Jahren wollte er wieder in der Schweiz Granit und Gneis, die durch Treppen, Übergänge in- mutet eine junge Frau, die mit ihrer Familie hergezo-
tor an der Straße und läuft wohnen – »aber nicht ganz!«. Und er wünschte sich einander verschlungen sind, zieht sich der Ort den Hang gen ist und nun mit fünf anderen Frauen zusammen
die Stufen bis zum Haus hi- ein Haus zusammen mit seiner jungen Liebe Marian- hoch. Handtuchschmale Balkons, Gärtchen, kein Platz das alte Handwerk des Strohflechtens in einem klei-
nunter. Wuchernder Baum- ne Oellers. Er schrieb: »Was mir gefällt: das schwere zu klein, als dass nicht doch noch eine Palme, Azalee nen Atelier wieder betreibt.
dschungel zu beiden Seiten, Dach aus Granit und wie das Ganze in den Hang oder ein Jasmin da blühen könnte. »Das Gelände An die Stelle des Krämerladens – als einzigem öf-
eine leuchtende Azalee, hin- gestellt ist, das Haus und ein steinerner Stall, der bei- ist steil«, heißt es im Tagebuch, »Terrassen mit den üb- fentlichen Ort Berzonas – ist eine kunsthandwerk-
ter einem Gebüsch die alte Bocciabahn, schließlich nahe ein Turm ist ... das ist unbedacht und vollkom- lichen Trockenmauern, Kastanien, ein Feigenbaum, der liche Kooperative getreten. Will man Marta Regaz-
das Klingelschild: »Max Frisch. Karin Pilliod«. Klin- men. Ich bin begeistert ... es soll kein Gefängnis Mühe hat, Dschungel mit Brombeeren, zwei große zoni treffen, muss man zwei Dörfer weiter fahren,
geln, lauschen, es bleibt still. So unheimlich still, wie werden, nur ein Zuhause, wenn Du dann bereit bist: Nussbäume, Disteln usw.« Seit dem 17. Jahrhundert vorbei am Friedhof von Berzona, die Straße hinunter
es im Onsernone-Tal oft ist: Grillen, Vögel, irgendwo Unser Zuhause.« investierten die Frauen bis zur Talstraße und durch Mosogno. Im Winter-
rauscht ein Bach. Berzona wurde das des Dorfes ihre ganze garten des Altersheims von Russo sitzt Marta, eine
Max Frisch ist seit 20 Jahren tot. Und doch steht Refugium, an dem Arbeitskraft in das ein- zierliche Frau, eng neben einer Freundin aus Berzo-
am Anfang einer Spurensuche im Valle Onsernone Frisch »außerhalb von zige Gewerbe, das in na. Und für beide scheint das Sprechen so unge-
auf dem Klingelschild in Berzona etwas wie ein Le- allem« sein konnte. diesem armen Tal je wohnt geworden, dass nur noch ein heiseres Flüstern
benszeichen: Hier wohnt, immer noch, zusammen Und noch immer sind blühte: die Strohflech- herauskommt. Bei Marta ist aller Ausdruck in die
mit seiner letzten Lebensgefährtin, Max Frisch. »Es Haus und Garten terei. Auf den terras- riesigen braunen Augen gewandert. Die glänzen vor
ist der Ort, den ich am besten kenne, wo ich mich perfekt vor neugieri- sierten Hängen wuchs Freude über Besuch. Max Frisch? Ja, natürlich, er
am ehesten zu Hause fühle, der mir am meisten ver- gen Blicken geschützt. Roggen, dessen Halme kam oft in den Laden, »molto gentile«, ein freundli-
traut ist. Auch wenn er nicht so bequem ist«, hat Keine Chance, den die Frauen verflochten; cher Mann. Es ist still im Raum. Durch die verglaste
Frisch gegen Ende seines Lebens geschrieben. steinernen Tisch zu man habe sie, so geht Außenwand blicken sie auf den dichten Wald, in
Das Valle Onsernone ist das vielleicht wildeste der sehen, an dem die die Legende, noch im vertrautes Gelände. Ein schönes Tal. Marta Regazzo-
Tessiner Täler. Gut eine Viertelstunde hinter Locarno Frischs viele Gäste Einschlafen flechten ni strahlt, jetzt voller Stolz: »Una valle selvaggia!«, ein
zweigt die Straße ab, windet sich in engen Schlingen um bewirteten und an sehen. wildes Tal! Wild, wie es der jüngere Frisch erlebte, Blick über
überhängende Felsen, halsbrecherisch die Kurven, dem auch der »Tog- Diese Zeit war wenn er heimkam von irgendwo, mit dem Auto über Berzona
hinter denen einem alles entgegenkommen kann, Post- gel« saß, eine zusam- vorbei, als Max Frisch den San Bernardino: »Vor allem in den Kurven: der
bus, Motorradstaffel, Rennräder. Nur keine Reisebusse. mengebastelte lebens- und Marianne Oel- Körper erfasst Landschaft durch Fahrt, Einstimmung
Denen verweigert sich das Tal. 20 Kilometer geht es große Puppe. Auch lers kamen. Schon da wie beim Tanzen«, schrieb er ins Tagebuch. Zehn
hinein in die Schlucht; tief unten rauscht der Isorno. die Granitsäule, »die unsere kleine Loggia hält«, bleibt gab es etliche Zugezogene, Aussteiger, Künstler wie Jahre später dominierte bei ihm eine andere, eine
Acht Dörfer und ein paar Weiler liegen hintereinander verborgen. Wald umschließt das große Grundstück Andersch oder Golo Mann. Dass durch die stranieri, beklemmende Wildheit: In der Erzählung Der
aufgereiht wie auf einer Schnur, ganz am Ende: Spruga vollkommen. Ein Jahr dauerte der Umbau: mit Sauna- meist Deutsche und Deutschschweizer, das ausster- Mensch erscheint im Holozän (1979) lässt Frisch den
auf über 1000 Metern. Nur Berzona tanzt aus der Rei- ofen, Weinkeller und einem Studio im Turm. Max bende Tal wiederbelebt, Häuser renoviert würden, 74-jährigen Herrn Geiser ein Unwetter im Valle On-
he. »Das Dorf, wenige Kilometer von der Grenze ent- und Marianne Frisch, seit 1968 verheiratet, reisten sei nicht von Schaden, fand Frisch. Zu widerstehen sernone erleben, ein sintflutartiges Gewitter, das
fernt, hat 82 Einwohner, die Italienisch sprechen: kein zwar weiter durch die Welt, mieteten Wohnungen in gelte es allerdings jeder Versuchung von Arroganz. existenzielle Angst auslöst. Wird mit dem Berg auch
Ristorante, nicht einmal eine Bar, da es nicht an der Amerika, Zürich, Berlin. Doch immer kamen sie zu- »Wenn ich einkaufen gehe, versuche ich mich immer das Leben wegrutschen? Das Jahrhundertgewitter
Talstraße liegt, sondern abseits.« So schrieb Frisch 1966 rück nach Berzona, Frisch am Steuer seines Jaguars. auf Italienisch«, berichtete er. Zum Einkaufen in gab es wirklich. Im August 1978 wurden fast alle
in sein Tagebuch. Er notierte: »Siebenmal im Jahr fahren wir diese Stre- Berzona gab es einzig den kleinen Dorfladen der Brücken des Tals fortgerissen. Und ähnlich wie Gei-
Zwei Jahre zuvor war er zum ersten Mal von der cke, und es tritt jedes Mal ein: Daseinslust am Steuer. Einheimischen Marta Regazzoni. Marta läutete auch ser machte Frisch eine Krise durch: 1979 war das
Talstraße ins höher gelegene Berzona abgebogen. Der Das ist eine große Landschaft.« die Glocke im großen frei stehenden Kampanile, der Jahr der Scheidung von Max und Marianne Frisch.
Dichterkollege Alfred Andersch, der seit Längerem Die anderen Häuser des Dorfes stehen eng zusam- imposant neben der Kirche am Ortseingang aufragt.
dort lebte, machte ihn auf das verfallene Anwesen mengekauert, scheinen sich der Vorherrschaft des Ihr Laden ist längst aufgegeben. Von 82 Einwohnern Fortsetzung auf S. 64
64 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 REISEN
LESEZEICHEN Wälder überziehen die Berge
im Valle Onsernone

Über Thailand Fortsetzung von S. 63

Kaum ein halber Tag Flugzeit trennt Frank- Man stellt sich vor, wie Herr Geiser allein in und Wiesendoktor«. Seit 28 Jahren ist er als All- bergen hatte. Comologno liegt auf einer Höhe
furt am Main von Bangkok am Chao Phraya. seiner Stube saß, das »Klöppeln auf Blech« hörte, gemeinmediziner mit dem Schwerpunkt Notfall- von 1076 Metern, eng sind die Häuser aneinan- SCHWEIZ
SCHWEIZ
Wenn Reiseveranstalter mit prächtigen Tem- nicht endenden Regen und den Donner, den und Rettungsmedizin fürs Valle Onsernone tätig. dergerückt, Ziegen laufen über die Straße, wenige
Maggia
peln trumpfen, palmengesäumte Strände und Geiser sorgsam kategorisierte: als Knall- oder Unter den knapp 1000 Einwohnern des Tales Menschen. Selbst im hintersten Winkel des Valle Comologno
ITALIEN
raffinierte Speisen preisen, sind die Koffer Koller-Donner, als Hall-Donner, Polter- oder gibt es wohl niemanden, der ihn nicht kennt. Onsernone ist Frisch irgendwie anwesend. Hier Mosogno
Berzona
Spruga
schnell gepackt: Thailand, das »Land der Pauken-Donner. In Panik verließ Herr Geiser Savary strahlt die Entschlossenheit desjenigen wohnt nämlich der 92-jährige Bixio Candolfi, Iso Russo
Russo
rno Loco
Freien«, zählt zu den beliebtesten Urlaubszie- sein Haus, lief zum Passo della Garina, über den aus, dem Leiden so vertraut ist wie die Leiden- ehemals Programmdirektor Kultur des Televisio-
len der Deutschen. Wer es besser kennenler- er sich ins benachbarte Maggiatal retten wollte. schaft für seine Sache; keine kleine Sache in einem ne Svizzera Italiana in Lugano und in den siebzi- Valle Onsernone
Onsernone
nen will, wird von Volker Grabowsky, der an Bei gutem Wetter ist sein Fluchtweg ein schö- Tal, wo Abstürze meist tödlich und Selbstmorde ger und achtziger Jahren mit Frisch befreundet. Locarno
o
der Universität Hamburg die Sprache und ner Wanderweg, den auch Max Frisch oft gegan- häufig sind. »Wenn ich jemanden im Notdienst Kurz vor der Ankunft bei ihm wird man vom ITALIEN lezz
Me Arcona
Kultur Thailands (Thaiistik) lehrt, fundiert gen ist. Er führt von Berzona hinüber zur Kirche kennenlerne, äußere ich oft die Hoffnung, wir Gewitter eingeholt. »Keine Sorge, noch kein Tessin
informiert. Seine Kleine Geschichte Thailands in Loco, dem Hauptort des Tales, den Berg hoch, sähen uns unter glücklicheren Umständen wie- Sommergewitter«, sagt ein Mann aus dem Dorf ZEIT-Grafik
zeichnet nach, wie sich das südostasiatische auf unebenen Granitplatten sachte aufwärts. beruhigend. Aber das Knallen, Donnern 5 km
Königreich über die Jahrhunderte entwickelt Birken- und Buchenwald ringsum, Vögel, und Krachen dauert doch eine halbe Stunde.
und erfolgreich gegen Kolonialmächte zur Mücken, Schmetterlinge, rechts steil die Kurz der Eindruck, die Straße fließt weg.
Wehr gesetzt hat, wie es zum Namen Siam
kam und welche Rolle das Land im Zweiten
Schlucht, links steil der Berg. Serpentinen
durch den Wald, dann eine Lichtung mit
Bixio Candolfis Frau Nice schaut aus dem
Fenster, unter dem die Mauer steil zur Schlucht Valle Onsernone
Weltkrieg und im Indochinakrieg gespielt Gehöften, kleine Gebäude über terrassierte hin abfällt. Sie erinnert sich an das dramatische
hat, wie tief seine Bewohner im Theravada- Wiesen verstreut. »He!!«, ruft jemand aus Unwetter von 1978: »Damals konnten wir eine Anreise: Mit dem Zug nach Locarno
(www.sbb.ch), von dort aus weiter mit dem
Buddhismus verwurzelt sind und welche poli- einem eingewachsenen Häuschen. Ein alter Woche nicht aus dem Haus!« Max Frisch ist Postbus oder Leihwagen www.europcar.ch
tischen Ansichten die »Gelbhemden« von den Mann erscheint, steht hinter Maschendraht, dem Ehepaar noch lebhaft im Gedächtnis.
»Rothemden« trennen. H.K. mit dem er sein Haus bis unters Dach einge- Bixio Candolfi sagt: »Mir schrieb er einmal die Unterkunft: In Loco, dem direkt neben
Volker Grabowsky: Kleine Geschichte wickelt hat. Ob man ihm nicht Gesellschaft Widmung in ein Buch: ›Für Bixio, den Tal- Berzona gelegenen Hauptort des Valle,
Thailands. Verlag C. H. Beck, München 2010; leisten könne? Er habe nur den Hund. Seine nachbar‹. Und genau das war er selbst, ein gibt es das nette kleine Ristorante Onsernone,
208 S., 12,95 € Frau sei tot, ringsum wohnten Leute aus richtiger Talnachbar, der immer wissen wollte, DZ ca. 70 Euro, Tel. 0041-79/519 19 85.
Zürich und Bern, die kämen nur an den was läuft. Er war auch ein großzügiger Mensch, Komfortabel und originell am Ende des Tales,
in Comologno: Palazzo Gamboni, Tel. 0041-
Unter Kiwis Wochenenden, und sein direkter Nachbar
mache ihm das Leben zur Hölle. Deshalb
der Leuten aushalf, die es brauchten.« Nice
Candolfi weiß noch, dass Frisch gegen Ende 91/780 60 09, www.palazzogamboni.ch,
Neuseeland ist nicht nur weit weg. Die Neu- der Maschendraht. Wie ein Gefangener steht seines Lebens immer wieder sagte, er fühle sich DZ ab circa 125 Euro
seeländer haben auch einen oft recht eigenwil- er hinter seiner selbst gebastelten Befesti- in Berzona sicherer als in Zürich: »in tutti i
Ausstellung: »Max Frisch Berzona« zeigt
ligen lässigen Lebensstil entwickelt. Talkshow- gungsanlage. Herr Geiser ist das nicht, aber sensi« – in jeder Hinsicht. Nach dem Tod des Texte und Fotos im Museo Onsernonese in
Redakteurin Anke Richter reibt sich jedenfalls es ist auch ein einsamer Bergler. Geht er nie ins der.« Auch mit Max Frisch war das so. Ein Not- berühmten Talnachbars schrieb Bixio den Nachruf Loco bis zum 30. Oktober , Tel. 0041-
immer wieder die Augen, als sie ihrem Mann, Tal? Der Mann weist auf ein unglaubliches falleinsatz 1983, im Jahr darauf noch ein Hub- im Voce Onsernonese. Darin zitierte er Frisch: »Wenn 91/797 10 00, www.onsernone.ch,
einem Urologen, von Hamburg ins »Land der Gefährt, eine Badewanne mit Rädern: »Damit schraubertransport des Dichters von Spanien in dem, was von mir bleibt, ein bisschen Liebe ist, Öffnungszeiten: Mi bis So, 14–17 Uhr
großen weißen Wolke« folgt: Die Kollegen bringe ich alles heim, Zement, Essen – alles, was heim nach Berzona. »Danach trafen wir uns oft, ein bisschen Unruhe – dann wäre das schön.« (vor Juli auch freitags geschlossen)
dort laden sie ein zur Motto-Party mit dem ich brauche.« als es ihm gut ging, wir aßen zusammen, gingen Von Spruga, dem letzten Ort des Tales, kann
Thema »Sturm auf die Normandie«, auf der Der Passo della Garina ist eine weite, grasige auch in die Berge. Meine Töchter adoptierten man wandern bis ans Ende der Schlucht, wo die Bücher: Berzona spielt in diversen Frisch-
Südinsel nimmt sie an einem Naturfestival teil, Ebene, wenige Sommerhäuser liegen verstreut. Frisch als ihren Großvater, er konnte gut mit Kin- grüne Grenze nach Italien verläuft. Und auf dem Texten eine Rolle: »Montauk«, »Tagebücher
auf dem einheimische Würmer verspeist wer- Ein friedlicher Platz, wo der Weg aufhört und dern umgehen. Mein Deutschlehrer hatte ge- Rückweg legt man noch einen Halt in Loco ein. 1966–71«, »Der Mensch erscheint im
den, und den Leuten im entspannten Südpazi- Herr Geiser kurz aufatmete. Doch dann verlief er meint, Frisch sei eher ein Reibeisen – das war er Dort hat gerade die Ausstellung Max Frisch Ber- Holozän« (alle im Suhrkamp Verlag
erschienen). Herrn Geisers Wanderung wird
fik bleibt ausreichend Zeit für Ortsnamen wie sich, irrte herum, suchte vergeblich den Zugang aber überhaupt nicht. Er war ein äußerst freund- zona eröffnet. Auf einem Video ist der Schrift- beschrieben in Beat Hächler (Hrsg.):
Taumatawhakatangihangakoauauotamateatu- zum Maggiatal, bis die Dunkelheit hereinbrach. licher Mensch.« Das Leben immer auch in Bezug steller in seinem Garten zu sehen, wie er den Das Klappern der Zoccoli. Literarische
ripukakapikimaungahoronukupokaiwhenua- Nein, am Abend möchte man hier nicht unter- auf den Tod zu betrachten, im eigenen Beruf Toggel, die lebensgroße Puppe, an den Garten- Wanderungen im Tessin, Rotpunkt Verlag,
kitanatahu. Ihre heitere Verwunderung hat wegs sein – zu tief die Schluchten, zu unwegsam ständig mit den großen Fragen der Existenz zu tisch des Berzona-Hauses setzt, sie mit Hut und Zürich 2000; 525 S., 26 Euro
Richter nun in einem ausgesprochen unter- das Gelände. Was ist das Leben an seinem Ende? kämpfen: darin fanden sich Frisch und Savary in Schal ausstattet, mit Teller und Glas. Ein stum-
haltsamen Lesebuch zu Papier gebracht. In lo- Ein Verlorengehen? Diese großen Fragen stellte diesem wilden Tal. »Er war Architekt, er wollte mer Dauergast. 1990 zog sich Max Frisch zum Tipp: Das Atelier Pagliarte in Berzona ist
ckerem Erzählton und mit viel Humor berich- der ältere Frisch in seinem Text Der Mensch er- auch über den Tod alles wissen, alle Bausteine Sterben in seine Zürcher Wohnung zurück. Er dienstags (9.30–12 Uhr) und freitags
tet sie, wie eine deutsche Familie unter Schafen scheint im Holozän. kennen und auch sein Sterben noch selbst gestal- wollte die, die ihn pflegten, nicht auf die Talein- (14.30–17 Uhr) geöffnet und bietet
und Kiwis, wie die Neuseeländer sich selbst »Unsere Gespräche gingen oft über Tod und ten.« Das galt dann vor allem von 1990 an, als samkeit verpflichten. Von Berzona nahm er so handgefertigte Flechtwaren aus Stroh an,
nennen, Fuß fasst. Ein vergnügliches Buch, Sterben«, erinnert sich Beppe Savary an seine Frisch eine tödliche Krebsdiagnose erhielt. bewusst Abschied, wie er es sich gewünscht hatte. Tel. 0041-91/797 10 22, www.pagliarte.ch
Foto: Joerg Modrow/laif

das ohne billige Klischees auskommt und an Jahre der Freundschaft mit dem Dichter. Unten Der Weg ans Ende des Tales führt durch das Den Toggel warf er den Hang hinunter. Kein
Auskunft: Schweiz Tourismus,
dem nicht nur Auswanderungswillige Freude in Russo kann man den Talarzt treffen, er war ei- Valle Vergeletto. Dort, wo dieses kleine Seitental Jahr später, im April 1991, trafen sich Max Tel. 00800/10 02 00 30 (kostenfrei),
haben dürften. MWE ner von denen, die das Altersheim und Ambula- abzweigt, fällt die Schlucht so atemraubend in Frischs Freunde im Garten in Berzona und streu- www.myswitzerland.com
Anke Richter: Was scheren mich die Schafe. torium begründet haben. »Die Leute sollen im die Tiefe, dass ein Satz des Doktors noch mal in ten seine Asche in den Wind. Am Ort erhält man Auskunft beim Infopoint
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011; 297 S., Tal sterben können«, sagt Savary. Der 59-Jährige Erinnerung kommt: Es gebe wohl keinen Kilo- Auressio, Tel. 0041-91/797 10 00,
14,95 € nennt sich selbst bescheiden einen »Fels-, Wald- meter im Tal, wo er nicht schon jemanden zu Siehe auch Feuilleton Seite 52 www.onsernone.ch
REISEN 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 65

Düsseldorf: Five points Die Stadt des Eurovision Song Contest hat ein bisschen Applaus verdient

Fotos: Fulvio Zanettini/laif (gr.); ullstein; SVEN SIMON; www.misprint.info; Gerald Haenel/laif; PBY/F1online (kl. Aussschnitte im Uhrzeigersinn)
Die Düsseldorfer
Rheinpromenade
im Abendlicht

Die Kö Japan Das Altbier Die Kunst Die Mode


Unverwüstlich grandiose Seeigel und Currywurstkrapfen Bernsteinfarben glimmende Gläser, Gursky, Struth, vierzig Galerien Melonenmuster-Unterhemden für
schnurgerade tausend Meter im Imbiss nebenan beschwingt auf die Tische gehämmert und der lange Schatten von Beuys den stilbewussten Rebellen

Vor dem Fenster des Ecklokals Na Ni Wa steht Am Anfang war das Bier. Evolutionsbiologen Seinen Aufstieg zur Weltkunststadt verdankt Neulich waren Betontod da. Gut möglich, dass
Haben sich ja alle ein bisschen in Duty-frees ver- eine lange Bank. Darauf sitzen meistens Leute. wollen nämlich entdeckt haben, dass es den Düsseldorf einem notorischen Angelwestenträger, die Punkrocker aus dem Ruhrgebiet künftig in
wandelt, die großen Boulevards Europas von Aber niemand von ihnen isst; Essen gibt es nur Menschen nicht nach Brot verlangte, als er die der seinen niederrheinischen Querkopf mit einem Susannes Hemden auftreten. Als Laie denkt man
den Champs-Élysées bis zum Newskij Prospekt. drinnen. Sie bilden eine Schlange, geduldig ersten Äcker anlegte, sondern nach dem Rausch Filzhut zu bedecken pflegte. Seit er nach dem ja, Punks müssten ihre Mode selbst entwerfen. Als
Überall die gleichen aseptisch sortierten Luxus- wartend, in der Karte blätternd, bis die Bedie- aus vergorener Gerste. Düsseldorfer glauben Krieg an der Kunstakademie studiert hatte (übri- ob die Vorliebe für laute Musik automatisch mit
holdingläden mit standardisiertem Verkaufs- nung sie hereinwinkt. Was gibt es denn da Fei- das sofort. Warum sollte das Gebräu nicht der gens Tür an Tür mit einem anderen Querkopf, einem Gespür für die lässige Kombination von
personal samt global kompatiblem Fetisch- nes? Gar nicht so Feines. Alle Arten von Nudel- Ursprung der Zivilisation sein, wenn doch klar Günter Grass), stellte Joseph Beuys die Düssel- Laufmaschen und gesprühten Kampfansagen ein-
display, und auch auf Deutschlands kleinen suppen mit geräuchertem Schweinebauch. Eine ist, dass ihr Altbier deren Gipfel markiert? dorfer Duldsamkeit immer wieder auf die Probe. herginge. Individualisten, die sichergehen wollen,
Boulevards sieht es nicht anders aus, ob Jung- ziemlich herzhafte Angelegenheit – gerade so, Kein Düsseldorfer Overstatement leuchtet Er stritt mit Johannes Rau jahrelang vor Gericht vertrauen auf Susanne Hertsch. Seit sechs Jahren
fernstieg, ob Kurfürstendamm. wie Japaner eins ihrer liebsten Schnellgerichte mehr ein. Nicht, wenn man in der Hausbraue- um seine Professur, erklärte einem toten Hasen in betreibt die Künstlerin im Stadtteil Flingern ihr
Da macht die Königsallee keine Ausnahme. mögen. Sushi servieren sie hier überhaupt rei Uerige ist und sich fühlt, als habe einen die der Galerie Schmela die Bilder, zeigte in der Woh- Ladenatelier Misprint. Früher hat sie Häuser be-
Lang vergangen die großen Namen, die berühm- nicht. Wer welche möchte, hat es ja nicht weit Altstadt verschluckt. Im Dämmerlicht winden nung von Jörg Immendorff eine Filzhülle für setzt, jetzt entwirft sie die Outfits der Toten Hosen.
ten Adressen. Die Tradition, die sich hinter Buch- zu einer der fast zwanzig Bars in der Nachbar- sich Gänge wie Bergwerksstollen durch einen Konzertflügel, schmierte mit Bazon Brock Fett- Wer ihr Geschäft mit den wild bedruckten Shirts
läden wie Lincke und Schrobsdorff verbarg. schaft oder zum Ableger des Na Ni Wa gleich Trakt aus neun Schankräumen. Darin zechen ecken ins Fernsehstudio, kandidierte mit Otto durchquert, gelangt in ein Hinterzimmer mit
Schrobsdorffs Besitzer war, unvergessen, der glü- über die Straße. hornbebrillte Werber mit Rentnern in Popelin- Schily für die Grünen, gab bei Andy Warhol blutrot verschmierter Badewanne und einem alten
hende Thomas-Mann-Verehrer Hans-Otto May- Japanische Küche ist in Deutschland beliebt, Blousons, Banker mit Hausfrauen und Japa- Wahlplakate in Auftrag, forderte den Abriss der Gesichtsbräuner, der an Fleischerhaken von der
er, der, wie der Meister höchstselbst bei einem aber nur wenig bekannt. In manchem vermeint- nern. Die Kellner heißen Köbesse und tragen städtischen, betonbrutalen Kunsthalle, dieser Decke hängt. Für Hertsch die günstigste Methode,
Besuch in Düsseldorf anerkennend festgestellt lich japanischen Restaurant kochen Koreaner Falstaff-Wampen unter pflaumenblauen Schür- »Pralinenschachtel«, die Kunst nicht zeige, son- ihre Siebdrucke zu belichten. Gedruckt wird auf
haben soll, mehr Werke von Mann besaß, als oder Vietnamesen für den westlichen Ge- zen. Mit stoischem Schwung hämmern sie dern verbarrikadiere. Ein Beuys-Stadtplan, vor alles, vom Holzfällerhemd bis zum Partykleid.
dieser je geschrieben hat. Das Lichtburg-Kino! schmack. Düsseldorf ist anders. Hier haben sich unaufgefordert auf die Tische, was den Mikro- Kurzem herausgegeben von der Kunstsammlung Susanne Hertsch passt nach Flingern. In dem
Fuchs-Greven für den geschmackvoll gestalteten seit der Nachkriegszeit über vierhundert japa- kosmos zusammenhält: das Altbier. Bernsteinfar- Nordrhein-Westfalen, verzeichnet für Kunstpilger traditionellen Arbeiterviertel bosseln Handwerker
Salon! Nur das Porzellanhaus Franzen (von 1820) nische Firmen niedergelassen, Geschäftspartner ben glimmt es im kurzen Glas. Man erschnup- all jene Orte, an denen der heilige Jupp sein Leben in kleinen Betrieben, gehen betagte Damen zum
harrt noch aus und natürlich die Galerie Paffrath der wiederaufgebauten Schwerindustrie an pert den Duft von Röst- und Karamellmalz, als soziale Plastik führte. Die »Pralinenschachtel« Friseur und Werbeleute in die Agentur. Flingerns
(seit 1867) mit ihren charmanten Oberlichtsälen Rhein und Ruhr. Die japanische Community setzt an, spürt beim Trinken, wie der bittere ist auch noch drauf – die hat nicht mal Beuys Bewohner sind wie die Kleidung, die man hier
und den lieben, neuerdings wieder hoch gehan- von Düsseldorf zählt zu den größten in Europa. Doldenhopfen zärtlich in den Gaumen beißt, beiseite räumen können. kaufen kann: eigenwillig und auf charmante Wei-
delten Meistern der alten Düsseldorfer Schule. Das Dreieck Immermannstraße, Klosterstraße und sinnt dem leichten Rauchgeschmack nach, Zwar wurde es nach des Schamanen Tod am se zusammengewürfelt. Vor allem die Ackerstraße
Vom Café Bittner, ach, blieb nur der Name, und und Oststraße markiert die Grenzen von Klein- mit dem sich das Alt verabschiedet. Es dauert Rhein, den er einst im Kanu überquerte, etwas mit ihrem Mix aus Stil-Altbauten und biederen
der 1812 eröffnete Breidenbacher Hof gehört jetzt Tokyo. Man kommt fast automatisch durch, wenn nicht lange, und der Bierdeckel ist schwarz von ruhiger, doch eine Künstlerstadt ist Düsseldorf Sechziger-Jahre-Wohnhäusern entzückt Freunde
einer Group mit Sitz in Atlanta; die neue Innen- man vom Hauptbahnhof in Richtung Altstadt Strichen. Wer nicht mehr kann, legt ihn schüt- immer noch. Schwergewichte der Branche wie schräger Looks. Totenkopf-Halstücher vom Krims-
einrichtung hat ein Westfale gestaltet. spaziert. Hier präsentieren sich ein paar der stol- zend auf sein leeres Glas – die Köbesse kennen die Fotografen Struth und Gursky schätzen nach kramsladen behaupten sich neben wallenden
Und doch bleibt es die Kö. Unverwüstlich zesten Stätten japanischer Tischkultur – filigran, sonst kein Erbarmen. wie vor das besondere Klima aus Selbstbewusstsein Haute-Couture-Kleidern von Düsseldorfs De-
grandiose schnurgerade 1000 Meter, angelegt in puristisch und teuer. Zum Beispiel die ostwest- Im Uerige strömt das Altbier aus Fässern, und Toleranz, das sich so großzügig gibt, weil signerstar Norman Icking. Wenige Meter weiter
den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, als über- liche Nouvelle Cuisine im Res- die so wirken, als seien sie aus dem Mittelalter immer auch ein Schuss Ignoranz dazugehört. Die lockt ein Secondhandshop mit einem Unterhemd
all in Europa die Stadtbefestigungen fielen, die taurant Nagaya: große ins 21. Jahrhundert gerollt. So ist es hier fast Professoren an der Kunstakademie sind interna- mit Melonenmuster oder fünfzig Jahre alten Fein-
Mauern und Wassergräben. Rechter Hand, Kunst in kleinen Portio- überall: Mehr als die Hälfte ihres Ausstoßes tional erste Sahne; unter der Direktion des wun- strumpfhosen.
von Süden her, die Geschäfte und Res- nen, die fast so gut füllen die Düsseldorfer Brauereien in Fässer ab. derbaren englischen Bildhauers Tony Cragg zeigt Vor St. Pauli Blond, dem Geschäft eines Sze-
taurants, linker Hand, für das flanierende schmeckt, wie sie aus- Nur in ihnen fühlt sich das Obergärige wohl. der kosmopolitische Lehrkörper mit Rosemarie nefriseurs, sitzt DivaS in der Sonne. So jedenfalls
Publikum von den herrlichen alten Bäume sieht. Oder der Ein- Dennoch sieht man auf der Rheinpromenade Trockel, der Turner-Preisträgerin Tomma Abts, heißt das Label der Blondine, die Leopardenfell-
diskret verdeckt, die schier endlose, opake richtungsladen Kyoto Touristen mit Flaschen hantieren. Ein Frevel! dem einheimischen Gewächs Katharina Fritsch, imitate, Spitzenbordüren und Satin zu abenteu-
Front der Banken. Das schönste und eigenste mit den prächtigen hand- Da hilft nur die Flucht ins Kneipengewimmel dem Schotten Peter Doig und anderen, dass Düs- erlichen Kreationen vernäht. Wie andere junge
aber ist der stille Kanal in der Mitte, die ele- gemachten Teeschalen, wo der Ratinger Straße, wo vor 30 Jahren die New- seldorf immer noch vorne mit dabei ist. Aber es Designer hat DivaS für ihre Kollektion eine
ganten Brücken darüber und die zart pompöse selbst eine profane Stäbchen- Wave-Szene Musikgeschichte schrieb und de- hat schon was Symbolisches, dass das eigenwillige Kleiderstange beim Friseur gemietet. So macht
Tritonen-Fontäne von 1902, die der Bildhauer bank verpackt wird wie ein Juwel. ren Epigonen im Freien picheln. Natürlich im Haus von Alfred Schmela, dem Galeristen im man das hier. Kurioses ist in der Ackerstraße
Friedrich Coubillier entwarf. Aber die spannendsten Entdeckungen Stehen. Bräsiges Bierbankhocken ist nichts für Auge all der früheren Stürme, nun ein Museum normal: die Porzellanpuppen-Parade im Fenster
Doch, das hat Welt. Wer von nebenan kommt, macht man eine Preislage darunter, beim All- Düsseldorfer. Hier wippt man beim Trinken ist. Und der neueste Kunstort KIT liegt be- einer Anwohnerin. Eine Kontaktanzeige im Schau-
aus Köln oder Essen, aus der Hohen Straße, der tagsbedarf. In schmucklosen Imbissen wie dem auf den Fußballen. Das hält frisch und zögert zeichnenderweise unter der Erde, ein »Tunnel- fenster eines Anglergeschäftes: »Suche liebevolle
Limbecker oder ähnlichen Budengassen des Kikaku, wo man sich an den Tresen setzt und den Absacker hinaus. restraum«, übrig geblieben beim Bau der Rhein- Frau, die Fische ausnehmen, Netze fli-
Grauens, der atmet hier auf. Der lässt sich auch zum Bier ein paar Häppchen bestellt. Aber was Den lautesten gönnt man sich im Engel in uferpromenade. cken und Fischgerichte zubereiten
gern was vom Pferdeapfelattentat auf den preu- für welche! Eingelegte Qualle, Seeigel, Seeteu- der Bolkerstraße, wo die Altstadt zur Kirmes Was nicht heißt, dass oberirdisch nichts mehr kann und im Besitz eines Angelboo-
ßischen König erzählen, im Freiheitsjahr 48, oder felleber ... hier lohnt es sich, mutig zu sein. verkommt. Doch der Hardrock-Schuppen hält los wäre: knapp vier Dutzend Galeristen, darunter tes mit Motor ist. Bitte nur ernst
von den Radschlägern und ähnlicher Folklore. Oder die Bäckerei Taka, die nicht nur Mochi dagegen. Seine Gäste sehen aus wie die zottelige Veteranen der wilden Zeit wie Hans Meyer und gemeinte Zuschriften mit
Und von Heinrich Heine natürlich: »Die Stadt führt, die berühmten klebrigen Reiskuchen, Band von Alex Harvey, der hier in den siebziger Konrad Fischer. Dazu die Kunstsammlung NRW Foto von Boot
Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der sondern auch abenteuerliche Manifestationen Jahren Konzerte gab, als der Laden noch Weißer mit ihren beiden Häusern für Kunst des 20. und und Motor.«
Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, der deutsch-japanischen Freundschaft: Berliner Bär hieß. Per Aufzug kommen die Bierfässer aus 21. Jahrhunderts, von einer neuen Direktorin »Hier wohnt
wird einem wunderlich zu Mute.« Ballen mit Rote-Bohnen-Füllung! Wurstkrap- dem Keller, dann prügeln ihnen tätowierte frisch belebt. Und – gerade jetzt – das Museum man halt noch«,
Da riskiert man sogar einen Moment im Stra- fen mit Curry! Männer den Zapfhahn hinein. Zu Gitarrenriffs Kunstpalast, das nach zwei Jahren Renovierung sagt Susanne Hertsch,
ßencafé und erfreut sich der Eitelkeiten unter der Seit Fukushima bangen die Ladeninhaber von Motörhead tanzen Frauen in seine weit gefächerten Schätze seit dem 7. Mai die die Entwicklung Flin-
Sonne. Eine Millionenstadt ist Düsseldorf nicht, um ihr Geschäft. An allen Türen prangen Zettel, Leder. Ist man wirklich in Düssel- ganz neu präsentiert, von Rubens über Kirchner gerns auch skeptisch sieht. Die
aber eine Stadt der Millionäre. Berliner und die vermerken, was wann woher eingeführt wur- dorf, dem Geck unter den deut- bis, na klar, Beuys. Der hat mit all seinen ersten Investoren suchen bereits
Münchner mögen zeigen, wer sie sind, nämlich de. Auch wenn das heißt, sich die Blöße zu ge- schen Großstädten? Aber sicher. Kunstbatterien aus Fett, Filz und Ma- aus dem Flair des Viertels Profit
Icke und Mir. Der Düsseldorfer aber zeigt, was er ben, dass man mal China als Herkunftsland sei- Man ahnte es doch schon beim mas eingeweckten Birnen so viel po- zu schlagen. Auf einer Baustelle
hat, und auch für diese Modenschauen und ner japanischen Pilze nennt. Die Düsseldorfer ersten herben Schluck: Wer so sitive und negative Energie produziert, um die Ecke preist eine Woh-
Schmuckparaden, für diese Glitzerdefilees und nehmen es rheinisch gelassen. Sie sitzen die Pa- ein Bier hat, kann auch an- dass er die Kunststadt Düsseldorf noch nungsbaugesellschaft »klassisches
Brezelprotzessionen wurde einst die Kö gebaut. nik aus – auf der Bank vor dem Na Ni Wa. ders. 25 Jahre nach seinem Tod leuchten lässt. Wohnen in bester Lage« an.
WOLF ALEX ANDER
BENEDIKT ERENZ MICHAEL ALLMAIER HANISCH CHRISTOF SIEMES SANDRA DANICKE
66 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 REISEN
BLICKFANG

In der Warteschleife
Oft preisen Urlauber nach ihrer Heimkehr aus
der Karibik die Freundlichkeit der Menschen,
die, wie es den Besuchern scheint, mit so wenig
Besitz so glücklich sein können. Doch das ist
bestenfalls die halbe Wahrheit. Selten blicken
wir, die nach Erholung und Unbeschwertheit
suchen, hinter die höfliche Fassade, wo mehr
Sorgen, Nöte und Ängste toben, als wir wahr-
haben möchten. Der amerikanische Fotograf
Alex Webb, Mitglied der Pariser Fotoagentur
Magnum, ist ein Kenner der Region. Auf sei-
nen Bildern aus Haiti, Puerto Rico (unser
Foto), Kuba, Jamaika, Trinidad und Tobago,
Curaçao und Nicaragua, von den Antillen und
der Dominikanischen Republik sieht man die
Menschen selten lachen. Sie wirken in sich ver-
sunken, nachdenklich, gelangweilt von einem
Leben in der Warteschleife auf eine bessere Zu-
kunft. Und Webb lässt sie sein, in goldgelbem

Foto: Alex Webb/Magnum Photos


Licht und strahlenden Farben. Selten hatte die
Karibik in einem Bildband ein menschlicheres
Gesicht. KCB

Nikolaus Gelpke (Hrsg.): Karibik. Fotografien


von Alex Webb. Mit Texten von Karl Spurzem.
Mareverlag, Hamburg, 2011, 124 Seiten mit Musik-
CD; 58 Euro
REISEN 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 67

A
ls Brutus das Licht der Welt Wiederaufforstung des ursprünglichen Tropen- elf Gästevillen entlang des Hauptstrands sind in
erblickte, malte Cézanne noch waldes. Nach und nach wurden die tierischen der Inselvegetation kaum auszumachen, obwohl
romantisch, und Richard Eindringlinge ausgerottet. Die Insel ist heute sie über eine Grundfläche zwischen 450 und 750
Wagner komponierte den rattenfrei. So können sich wiedereingeführte Quadratmetern verfügen. Neben anderen An-
Ring des Nibelungen. Amerika Arten wie der äußerst seltene Mahé-Brillenvogel nehmlichkeiten bieten sie den Berühmten und
war eine Nation der Sklaven- ungestört vermehren. Mittlerweile leben 85 Rie- Reichen dieser Welt vor allem den Luxus der
halter, Singapur und São Pau- senschildkröten auf der Insel, zudem etwa 20 Abgeschiedenheit.
lo waren Provinznester. Telefon, Autos und Kinos seltene Sumpfschildkröten, die wegen eines Ho- Über die Gästeliste wird auf North Island
kannte man damals noch nicht; noch nicht ein- telneubaus auf Mahé, der Hauptinsel der Sey- strenges Stillschweigen bewahrt, doch im Inter-
mal die Schreibmaschine war erfunden. chellen, heimatlos geworden waren. net kursieren Berichte, denen zufolge Brad Pitt
Die Welt, in die Brutus geboren wurde, gibt Linda liebt es, Besuchern auch die kleinen und Angelina Jolie, Julia Roberts, Paul McCart-
es nicht mehr. Doch die Aldabra-Riesenschild- Wunder ihres Refugiums zu zeigen. »Hey, ihr ney und Bono bereits hier gewesen sind. Salma
kröte tut weiterhin das, was sie schon immer tat: beiden«, begrüßt sie zwei Paradies-Fruchttau- Hayek verbrachte ihre Flitterwochen in einer der
schiebt ihren schweren Panzer über die Seychel- ben, die in einer Baumkrone an wilden Feigen Villen. Die Beckhams sollen zu ihrem zehnten
leninsel North Island, grast gemächlich im picken. Wegen ihres weiß-blauen Federkleids Hochzeitstag die ganze Insel gemietet haben.
Schatten von zerzausten Kokospalmen, sieht die und des roten Kopfs wird der Vogel auf Kreo- Laut Pressespekulationen plant sogar das Prin-
Sonne über dem Indischen Ozean aufgehen und lisch Pizon Olande, »Holländische Taube«, ge- zenpaar Kate und William, seinen Honeymoon
untergehen. nannt. Sie gehören zu eini- hier zu feiern. Der Hambur-
»Wo warst du, Brutus? Wir suchen schon den gen endemischen, nur auf ger Insel-Makler Farhad
ganzen Tag nach dir«, sagt Linda Vanherck. Die den Seychellen vorkom- Vladi bestätigt, dass er North
belgische Biologin hat ihren ältesten Schützling menden Arten. Island an die britische Krone
schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Die Kosten für das Ar- North Island vermietet hat. Den Termin
Irgendwo im Sumpfgebiet muss er sich herum- che-Noah-Projekt soll das Anreise: Condor (www.condor.de) behält er für sich.
getrieben haben. Dort verloren sich jedenfalls die Luxusresort tragen. Direkt fliegt direkt von Frankfurt am Main Linda interessiert sich
Schleifspuren seines schubkarrengroßen Panzers. hinter den Gästevillen liegt auf die Seychellen nicht besonders für die
Linda begrüßt das Ungetüm wie eine Mutter, die ein Hain mit Hunderten Stars, aber ein paar kuriose
soeben ihr ausgebüxtes Kind wiedergefunden Kokospalmen. Linda mag Unterkunft: North Island gehört zu Geschichten kennt sie doch.
hat. Ihre Freude über das Wiedersehen zeigt sich sie nicht, auch wenn den den exklusivsten Reisezielen weltweit. Sie erzählt von Gästen, die

Wir haben
in feinen Lachfältchen, die ihre blaugrauen Au- Touristen der Anblick ge- Eine Übernachtung kostet all-inclusive ihr Mineralwasser aus Fi-
gen umspielen. fällt. »Das ist reine Mono- ab 2100 Euro pro Person dschi einfliegen ließen, von
Auf etwa 150 bis 160 Jahre schätzt Linda kultur. Man hat diesen Teil einer Dame, die mit vier-
das Alter der Riesenschildkröte. Und auch wenn erhalten, um zu zeigen, wie Riesen- und Meeresschildkröten las- zig Paar Schuhen auf der
es scheint, als sei hier noch alles wie früher, ist es hier zur Zeit der Kopra- sen sich auch auf anderen Inseln der Barfuß-Insel landete, und
Seychellen beobachten. Am Strand der
die Zeit auf North Island nicht stehen geblie- industrie aussah.« Anse Kerlan auf Praslin legen Suppen- von einem aufgebrachten
ben. Die nur zwei Quadratkilometer große In-
sel hat sich vom Dschungel in eine Kokosplan-
tage und schließlich in ein beliebtes Reiseziel
von Hollywoodstars und Superreichen verwan-
delt. Menschen kamen und gingen, einst in Fi-
die Kröten Vom ursprünglichen Tro- und Karettschildkröten ihre Eier ab. Bräutigam, der in der ersten
penwald sind nur wenige Constance Lémuria Resort (Anse Ker- Nacht der Flitterwochen
Hektar erhalten. Linda geht lan, Praslin, Tel. 00248-428 12 81, mit dem Hubschrauber aus-
voran. Nach wenigen Mi- www.lemuriaresort.com). Junior-Suite geflogen werden wollte.
nuten wird die Vegetation ab 330 Euro; La Digue ist bekannt für »Die meisten Gäste verhal-
scherbooten. Heute reisen sie in Hubschraubern Auf der Seychellen-Insel North Island erholen sich die Stars – dichter und wilder. Über ihre Riesenschildkrötenkolonie. Berni- ten sich aber unauffällig«,
an, lassen ihre riesigen Koffer von Bediensteten uralten Takamaka- und Ka- que Guest House (La Passe, La Digue, sagt Linda. Sie weiß, dass
über den Sand tragen und werden von Mäd- und finanzieren ein Arche-Noah-Projekt VON WINFRIED SCHUMACHER tappenbäumen flattern krä- Tel. 00248-23 42 29, www.bernique- ihr Arche-Noah-Projekt auf
chen in weißen Kleidern wie Majestäten emp- hengroße Flughunde. Unter guesthouse.com). DZ ab 95 Euro umweltbewusste Vermögen-
fangen. Butler bringen ihnen Champagner, ausladenden Fächerpalmen Veranstalter für umweltbewusste de angewiesen ist.
Sushi und Schalen mit ausgewählten Früchten. rascheln giftgrüne Eidech- Seychellen-Reisen: Reiseservice Africa Am nächsten Morgen
Man hat ihnen Hütten gebaut – in Wahrheit sen durchs feuchte Laub. (Bauseweinallee 4a, 81247 München, ist es so weit. Linda taucht
sind es Paläste aus Tropenholz mit Bädern aus Linda und ihr Arche-Noah- Tel. 089/811 90 15, www.reise mit einem Plastikeimer am
weißem Marmor. Mit Betten so groß wie die Team haben Kokospalmen service-africa.de) Strand vor den Gästevil-
Verschläge der Plantagenarbeiter, die einst die aus dem Wald entfernt und len auf. Elf der frisch
Kokosnüsse ernteten. dafür endemische Arten an- Auskunft: Seychelles Tourist AFRIKA geschlüpften Karett-
gepflanzt. Office Deutschland. Tel. schildkröten sind in
»Wir reden sogar mit Eiern«, Linda kultiviert für das 069/29 72 07 89, www. der Nacht aktiv ge-
sagt die Biologin Linda Vanherck Renaturierungsprojekt Hun- seychelles.travel worden und nun reif
derte von Pflanzen in der für die Freiheit. Linda
Brutus steht auf vier gewaltigen Füßen inmitten inseleigenen Baumschule. North Island kippt den Eimer vor-
einer Lichtung, ein Fels von einem Tier. Doch »Besonders stolz sind wir Praslin sichtig auf den wei-
Island
an seiner rechten Seite ist deutlich eine Narbe zu auf unsere Coco de Mer«, sagt sie. Die ßen Sand, die
Silhouette
sehen. Die mittlere Schildpattreihe ist zertrüm- berühmte Seychellenpalme hat die Island S E YC H E L L E N Schildkrötenbegin-
mert. An einem Tag im Jahr 2007 hatte die größten Samen, die es im Pflanzenreich Indischer Ozean
nen sogleich, den
Schildkröte eine schmerzliche Berührung mit überhaupt gibt. Weil die gewaltigen Wellen entgegen-
dem Tourismus. Ein betrunkener Urlauber Kokosnüsse an ein weibliches Becken Mahé Island
zuwackeln. Nur we-
übersah ihren Schlafplatz auf dem Hauptweg erinnern, ranken sich viele Legenden nige Meter trennen
von North Island und prallte mit seinem Elek- um die Palmenart. Angeblich setzten sie vom Wasser.
tromobil gegen ihren Panzer. Linda versorgte Könige und Sultane einst hohe Summen ZEIT-Grafik Ihr Spurt über den
10 km
seine Wunden, bis der Riese wieder in gewohn- für ein Exemplar der sagenhaften Nuss aus, Sandstreifen ist nicht un-
tem Stolz über die Insel spazieren konnte. Die die hin und wieder an fremde Küsten ge- gefährlich; die Fressfeinde
zierliche Frau mit dem silbergrauen Seitenzopf schwemmt wurde. Ihren wahren Herkunftsort warten schon. Aber sobald eine Strandkrabbe
geht vor Brutus in die Hocke und tätschelt ihn kannten sie nicht. angreifen will, stampft Linda kräftig auf und
liebevoll. Er lässt sich genüsslich den faltigen verscheucht sie. »Los, ihr Kleinen, ihr schafft
Nacken kraulen. Angeblich sollen Kate und William das!«, spornt sie die Brut an. Die Schildkröten
Linda Vanherck hat ihr Leben dem Natur- hier ihre Flitterwochen verbringen schieben sich auf ihren Flossen mühsam vor-
schutz verschrieben. Schon als Kind in Belgien wärts. Bei den ersten Versuchen wirft die
träumte sie davon, wie die Gorilla-Forscherin Nicht weit von der Baumschule hat Linda ihr Brandung sie zurück auf den Sand, doch dann
Dian Fossey nach Afrika zu reisen. Nach einem Büro in einer einfachen Hütte eingerichtet. Hier sind sie alle in den Wellen verschwunden. Nur
Biologie-Studium in Löwen forschte sie an der stapeln sich Bildbände über Fauna und Flora ein offenbar geschwächtes Exemplar bleibt
Universität Kapstadt. Sie arbeitete als Guide in und dicke Ordner bis unter die Decke. Die Bio- auf seinem Panzer liegen. Vergeblich versucht
Fotos: Winfried Schumacher für DIE ZEIT (o. und u.); Frank Heuer/laif (m.)

südafrikanischen und namibischen National- login führt genau Buch über die Entwicklung es, sich auf den Bauch zu drehen. Linda
parks und betreute verschiedene Umweltprojekte auf ihrer Arche Noah. Aber sie bekennt: »Ich bin nimmt das kraftlose Tier in die Hand und
der Vereinten Nationen im südlichen Afrika. kein Büromensch.« In der Mitte des Raums ste- trägt es ins Wasser. »Mach’s gut, Kleiner!«, ruft
Auf die Seychellen lockte sie 2005 die Chance, hen zwei große, mit Tüchern verhängte Styro- sie ihm nach.
North Island zu renaturieren. porboxen. »Na, wie sieht es denn heute bei euch Einen Großteil ihres Lebens werden die
Seit ihrer Erschließung im frühen 19. Jahr- aus?«, fragt sie in eine Kiste mit der Aufschrift Schildkröten im Ozean verbringen. Wenn sie
hundert war die Insel eine Plantage. Arbeiter »Unbekannt VII« hinein. Zu sehen ist nichts als Raubfischen, Seevögeln, Fischernetzen und Mee-
gewannen aus den Kokosnüssen Kopra, das ge- feiner Sand. »Manchmal reden wir hier sogar mit resverschmutzung entkommen, werden sie ir-
trocknete Fruchtfleisch, die Grundlage für Eiern«, sagt Linda. Die Box enthält nämlich das gendwann zur Eiablage an diesen Strand zurück-
Kokosöl. Nach dem Zusammenbruch der Gelege einer Karettschildkröte. Linda hat das kehren. Forscher schätzen, dass es ungefähr 30
Kopraindustrie in den 1970er Jahren wurde Nest umquartiert, als sie sah, dass es sonst vom Jahre dauert, bis die erwachsene Schildkröte das
North Island verlassen. Die zurückgebliebenen Meer weggespült worden wäre. In einer anderen Wasser wieder verlässt, um in den Sand, in dem
Ratten, Katzen und Schweine vermehrten sich Kiste sind die ersten Schildkröten bereits ge- sie einst geboren wurde, ein Nest zu graben. Die
unkontrolliert und verdrängten die einhei- schlüpft. Noch liegen sie erschöpft auf dem Beckhams, Brangelina, Kate und William wird
mischen Tiere. Sand, aus dem sie sich gerade herausgegraben man womöglich längst vergessen haben. Aber
1997 kaufte eine Eignergruppe um den haben. Wenn sie anfangen zu zappeln, wird Lin- wer weiß, ob dann nicht eine Riesenschildkröte
Detmolder Unternehmer Wolfgang Burre die da sie ins Meer entlassen. namens Brutus ihren schweren Panzer noch im-
verwilderte Insel und beschloss, sie zum De- Es ist die Mischung aus ehrgeizigem Umwelt- mer über North Island schiebt.
luxe-Ökoresort umzuwandeln. So entstand das projekt und exklusiver Robinsonade, die North
Arche-Noah-Projekt. Mit Setzlingen und Saat- Brutus (oben) ist geschätzte 150 bis 160 Jahre alt. Island zum Ziel des Jetsets werden ließ. Öko-
gut von anderen Seychellen-Inseln begann die Unten: Die Biologin Linda Vanherck mit weiteren Schützlingen tourismus ist in Mode unter Topverdienern. Die www.zeit.de/audio
CHANCEN
S. 81 BERUF S. 95 LESERBRIEFE
Gesucht: Forscher. Zum Beispiel, S. 96 DIE ZEIT DER LESER
um das Klima zu retten. Der dritte Teil unserer
Serie über Berufe mit Zukunft ab S. 82 STELLENMARKT

12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 71


Spezial:

Fotos: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com; kl. Foto: privat


Bachelor & Master
Wie lange Studenten wirklich
lernen, wo die Studienreform
besonders gut umgesetzt wurde
(ab Seite 74) und warum es
noch schwer ist, die Uni zu
wechseln (Seite 76)

1960er Jahre

Ach,
Wolfgang Wiese, Grafikdesign-
Student von 1966 bis 1969:
»Mein Studium an der Werkkunstschule
Bielefeld war absolute Freiheit für mich. Ich
war begierig, so viel zu lernen wie möglich:
Malerei, Grafik, Fotografie, Kunstgeschich-

dieser te. Dieses Über-den-Tellerrand-Gucken


habe ich mir auch im Beruf bewahrt. Jetzt,
als Rentner, bin ich an die Uni zurück-
gekehrt und studiere Alte Geschichte.
Leider kommt es mir vor, als wären die

Stress
Studenten nicht mehr so frei wie
damals. Sie wirken fast etwas ver-
bissen.« Alle Protokolle:
LISA SRIKIOW

Gerade einmal 23 Stunden


wenden Studenten pro Woche für
die Uni auf, zeigen neue
Studien VON JAN-MARTIN WIARDA
Auf den folgenden Seiten erzählen Absolventen aus sechs Jahrzehnten von ihrem Studium

A
ls Erik Beuck in sein erstes Semes- Schulmeister sammelte 150 Tagesabläufe und ins- den in der Woche studieren«, sagt Schulmeister. wahl der Studiengänge vorsichtig sein, weiterfüh-
ter startet, erreicht der Bildungs- gesamt 1 466 184 Stunden. Als er erste Analysen »Aber sie sind die Ausnahme – im Gegensatz zu rende Schlüsse für alle Studenten in Deutschland zu Widersprüchlich
streik gerade seinen Höhepunkt. durchrechnen ließ, war er zunächst sprachlos. denen, die 15 Stunden und weniger fürs Studium ziehen.« – »Wer so was sagt, hat die Methode unse-
Herbst 2009: Überall im Land Dann verwundert. Und schließlich kam er in aufwenden.« Noch überraschender: Zumindest in rer Studie nicht verstanden«, sagt Schulmeister »Die Ergebnisse freuen mich außerordent-
besetzen Studenten Hörsäle, zie- Hochstimmung. »Genau deshalb bin ich Forscher den untersuchten Studiengängen waren die angeb- knapp und verweist auf die »enorme Datendichte« lich«, kommentierte Bundesbildungs-
hen durch die Innenstädte und geworden«, sagt er. »Weil ich nicht behaupte, lich besonders geforderten Ingenieurstudenten angesichts von anderthalb Millionen protokollierten ministerin Annette Schavan (CDU) die
fordern das Ende aller Spardikta- schon alles zu wissen. Weil Fakten besser sind als (24 Stunden) und BWLer (25 Stunden) keineswegs Stunden und die Länge der Untersuchung über fünf Studien des HIS, des Stifterverbands für
te. Eines der bestgehassten Wörter ist »Bologna«, die Vermutungen.« arbeitsamer als die dem Klischee nach so entspann- Monate hinweg. die Deutsche Wissenschaft und des Köl-
Hochschulreform wird zum Synonym für Effizienz- Und Fakt ist: Der durchschnittliche Aufwand fürs ten Lehramtsstudenten (27 Stunden) und Erzie- Das HIS hatte das studentische Zeitbudget für die ner Instituts der deutschen Wirtschaft, die
druck und sinnentleertes Turbolernen. »So ist es Studium belief sich bei den Studienteilnehmern auf hungswissenschaftler (23 Stunden). Und eines hat 2007 erschienene, als repräsentativ geltende 18. So- vor der zweiten Bologna-Konferenz am
wohl«, denkt Erik Beuck, schließlich hat er es überall 23 Stunden in der Woche. Schulmeister besonders erschüttert: »Die investierte zialerhebung des Deutschen Studentenwerks erhoben. 6. Mai erschienen. DHV-Chef Kempen
so gehört – und marschiert mit. Als Schulmeister vergangenen Herbst mit einem Zeit hat keinen Einfluss auf Noten und Studien- Der zufolge lag die durchschnittliche Belastung von entgegnet: »Die Studien, die aus dem
Knapp zwei Jahre später sitzt der 27-Jährige vor ersten Zwischenergebnis aus nur fünf Studiengängen erfolg.« Die fleißigeren Studenten sind im Schnitt Bachelorstudenten bei 36 Wochenstunden. Eine Hause Schavan kommen und nach Lesart
der Auswertung seines Lernkontos und schüttelt an die Öffentlichkeit trat, war das Medienecho bereits keineswegs die besseren. »äußerst besorgniserregende Entwicklung«, kom- der Bundesministerin den angeblich
den Kopf. Exakt 18,97 Stunden ergibt das Proto- gewaltig. Häme ergoss sich über die plötzlich als »faul« Aber wie kann das alles sein? Und wie kommen mentierten Studentenverbände, Professoren und notorischen Kritikern der Bologna-Re-
koll seiner Studierzeit: 18,97 Stunden pro Woche, titulierten Studenten, die alle mit ihrer ewigen Jam- die enormen Unterschiede zu anderen Studien zu- Politiker. Das war schon damals gewagt – schließlich form den Wind aus den Segeln nehmen,
die er im Schnitt für Vorlesungen, Übungen, merei hinters Licht geführt hätten. Häme bekam aber stande? Ganz einfach, sagen Schulmeisters Forscher- war die vom HIS ermittelte Zeitbelastung bei den belegen in der Regel das Gegenteil.«
Hausarbeiten, Referats- und Klausurvorbereitung auch Schulmeister zu spüren, und zwar vonseiten kollegen: Seine Daten seien nicht repräsentativ, teil- alten Studienabschlüssen ganz ähnlich. Ein entschei- Was die Untersuchungen tatsächlich
aufgewendet hat. Bin ich ein Halbtagsstudent?, einiger Forscherkollegen, die Methode und Aussage- genommen hätten ein paar Hundert Studenten aus dender Unterschied zu Schulmeisters Studie ist jedoch zeigen: Vieles in der Kritik an den neuen
fragt Beuck sich. Er kann es nicht glauben. kraft seiner Untersuchung anzweifelten. Zu krass war einer Handvoll Studiengänge, die auch noch auf- die Methode: Die an der Sozialerhebung beteiligten Abschlüssen war weit übertrieben, aber
Rolf Schulmeister war anfangs ähnlich über- die Abweichung von allen bislang bekannten Studien. grund der persönlichen Initiative ihrer Studiengangs- Studenten mussten ihren Zeitaufwand fürs Studium besser geworden ist durch die Reform noch
rascht. Der Informatiker leitet das Zentrum für Das renommierte Hochschul-Informations-System leiter bei der Untersuchung mitgemacht hätten, da lediglich schätzen, während Schulmeister seine Pro- zu wenig. So hat sich die Studienqualität
Hochschul- und Weiterbildung an der Uni Ham- (HIS) etwa war in seiner Studie auf geschlagene 13 sei die Verallgemeinerbarkeit schon arg begrenzt. banden sauber mitprotokollieren ließ. in der Bewertung gegenüber den alten Ab-
burg, und als er vor zwei Jahren die Streiks be- Stunden mehr pro Student gekommen. Die HIS-Forscherin Elke Middendorff spricht von Schätzen sollte Erik Beuck erst am Ende. Bevor schlüssen kaum gesteigert. Und die Verun-
obachtete, war er überzeugt: Recht haben sie, die Auch deshalb legte Schulmeister nach. Das Er- einem »dirty panel«. Ihr Kollege Tino Bargel von der die Forscher ihm die Ergebnisse seines Zeitkontos sicherung der Bachelorabsolventen durch
Studenten, dieser Bachelor ist eine Zumutung. gebnis: Obwohl er den Kreis der untersuchten Stu- Konstanzer AG Hochschulforschung, deren Studie- präsentierten, baten sie den Lehramtsstudenten, die die ständigen Warnrufe hat skurrile Fol-
Und weil Schulmeister Wissenschaftler ist, wollte diengänge von sechs auf mittlerweile 18 erweitert rendensurvey seit 30 Jahren zu den meistbeachteten Stundenzahl anzugeben, die seiner Meinung nach gen: Obwohl sie ihre Jobaussichten zum
er es beweisen. So stellte er mit seinen Mitarbeitern und auch vermeintliche Paukfächer wie BWL oder repräsentativen Studien an Hochschulen überhaupt seinem wöchentlichen Studienpensum entsprach. Teil sogar besser bewerten als die Inhaber
ein einmaliges Forschungsprojekt namens »Zeit- Ingenieurwissenschaften hinzugenommen hat, blieb gehört, drückt sich zurückhaltender aus: »Die Er- Beuck wusste da bereits, dass er nicht zu den flei- alter Abschlüsse und die Bereitschaft von
last« auf die Beine: 403 Studenten an Hochschulen der gemessene durchschnittliche Studienaufwand in gebnisse von Zeitlast sind äußerst beeindruckend, ßigsten Studenten gehört. Die Praxis liegt ihm mehr, Firmen, sie einzustellen, groß ist, hängen
überall in Deutschland protokollierten über Mo- etwa gleich – bei großen individuellen Abweichun- die Methode der Datenerhebung ist innovativ, aller- die Hälfte der FH- und drei Viertel der
nate hinweg jede einzelne ihrer wachen Stunden. gen. »Natürlich gibt es die Studenten, die 40 Stun- dings muss man angesichts der nicht zufälligen Aus- Fortsetzung auf S. 72 Uni-Bachelors einen Master an.
72 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SPEZIAL: BACHELOR & MASTER
CHANCEN
Fortsetzung von S. 71

schon jetzt arbeitet er freiwillig jede Woche einen teten Hammerprüfungen am Ende des Studiums
Fotos: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com; kl. Foto: privat

Tag in einer Schule. 30 Stunden, antwortete er also ersetzen, die manchen noch nach einem Dutzend
– und hielt sich für extrem realistisch. Angesichts Semestern aus dem Magisterstudium gehauen ha-
der 18,97 Stunden, die seine persönliche Auswer- ben. Der Preis: Jetzt zählt jede Klausur und löst
tung dann ergab, sucht er jetzt nach Erklärungen. Stress aus, zumal auch deutlich mehr Lernkon-
»Das hat mit den Medien zu tun«, sagt er. »Jahre- trollen geschrieben werden als früher. »Mit einer
lang haben sie rauf und runter geschrieben, dass der zeitlichen Überfrachtung des gesamten Bachelor-
Bachelor kaum zu schaffen ist. Das ist eine super studiums hat das allerdings nichts zu tun«, sagt
Ausrede, wenn man mal keine Lust hat aufs Lernen. Schulmeister. Student Beuck bestätigt: »Die Spit-
Das bin ja nicht ich, sagt man sich. Das liegt an dem zen in der Belastung prägen die Wahrnehmung,
blöden Bologna-Studium.« die anderen Wochen vergisst man irgendwie.«
Diese Entschuldigung zumindest könnte sich Doch was folgt aus der enormen Diskrepanz
bald erledigt haben. Auch abgesehen von der Schul- zwischen »subjektivem Empfinden und objektivem
meister-Untersuchung bekommt die Reform der- Sachverhalt«, von der DHV-Chef Kempen spricht?
zeit eher gute Presse. Gerade hat eine Reihe von Schulmeister sagt: »Anstatt die Studenten mit bis zu
Studien im Auftrag des Bundesbildungsministe- 14 Themenwechseln pro Woche zu konfrontieren,
riums ergeben, dass die internationale Mobilität müssen wir das Studium in thematisch zusammen-
der Studenten entgegen allen Vermutungen der Bo- hängenden Blöcken organisieren, dann ist ein tiefer
logna-Kritiker zugenommen hat und dass Bache-
lorabsolventen erstaunlich gute Chancen auf dem
Arbeitsmarkt haben (siehe auch Kasten). Doch gilt
die Entwarnung auch für die angebliche Über-
frachtung des Studiums, die viele streikende Stu-
denten so erbost hat?
»Meine subjektive Wahrnehmung als Hoch-
schullehrer, was die Belastung der Studenten an-
geht, bleibt eine andere«, sagt Bernhard Kempen,
Vorsitzender der bolognakritischen Professoren-
gewerkschaft Hochschulverband (DHV). Beim gehendes Lernen möglich, und die Prüfungen bal-
Deutschen Studentenwerk äußert man sich betont len sich nicht am Semesterende.«
differenziert. »Wir haben nie behauptet, dass die Gemeinsam mit der TU Ilmenau haben die
Lage der Studenten wegen des Bachelors per se Hamburger Forscher ihr neues Modell bereits aus-
schlecht ist«, sagt der stellvertretende Generalse- probiert. Sie haben das Semester dort in vier
kretär Stefan Grob. »Allerdings muss man festhal- Blöcke aufgeteilt mit jeweils anschließender
1970er Jahre ten: Gerade für das Drittel der Studenten, die ne- Prüfung und dabei den durchschnittlichen Stu-
ben dem Studium zwingend für ihren Unterhalt dienaufwand sogar gesteigert, ohne dass er sich
Jürgen Studt, BWL-Student von arbeiten müssen, wird es schon eng.« Selbst Rolf schlimmer anfühlt: von 24 auf 31 Stunden. Ein
1974 bis 1979: Schulmeister sagt: »Eins zeigen auch unsere Daten, Ergebnis, das offenbar jetzt auch andere zum
»Mit meinem Studium an der Uni Hamburg nämlich dass der Studienaufwand sehr ungleich Nachdenken bringt. Die Fachhochschule Kiel
verbinde ich eine Freiheit, die fast an Unbe- verteilt ist.« Ein paarmal im Semester, besonders etwa will ihre Studienstruktur neu organisieren
kümmertheit grenzt. Meiner Generation ging im Vorfeld der Klausurenphase, sei bei vielen wirk- und als ersten Schritt die Semester halbieren.
es besser als der vor und nach uns: kein Krieg, lich extremer Stress angesagt, dann komme alles Den Studienleiter Rolf Schulmeister haben sie
kein Aids, keine Umweltprobleme. In der zusammen, lernen, Hausarbeiten schreiben, sich dazu als Berater eingeladen.
Statistikvorlesung waren wir zu acht, heute für Prüfungen anmelden. Außerdem die Klausu-
nehmen die Studenten nur einen Business Case ren: Tatsächlich sind sechs Stück in anderthalb Buchtipp: Rolf Schulmeister/Christiane Metzger
nach dem anderen durch. Ich habe zudem Wochen keine Seltenheit. (Hrsg.): Die Workload im Bachelor.
den Eindruck, dass die Professoren sich Hier offenbart sich, wie hehre Absichten zum Waxmann 2011; 360 Seiten, 34,90 Euro
mehr von den Studenten abschotten – Gegenteil des Erhofften führen können. Die se-
wie vor den sechziger Jahren.« mesterbegleitenden Klausuren sollten die gefürch- www.zeit.de/audio


 




Ag
Fordham

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CHANCEN SPEZIAL: BACHELOR & MASTER 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 73

Aus sechs

Fotos: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com; kl. Foto: privat


mach acht
Längere Bachelorprogramme könnten die Stundenpläne entlasten.
Sie schaffen aber andere Probleme VON MAREN WERNECKE

B
eginnen wir mit der Ausnahme. Am »Ich habe mir die Konstanzer Uni bewusst aus-
Südrand der Bundesrepublik, auf dem gesucht«, sagt Brielmann. »Aber der Stundenplan
Berg, samt Blick auf See und Alpen. ist immer noch unglaublich voll.«
Die Universität Konstanz bietet seit Worauf sie verzichten würde, weiß sie allerdings
dem Wintersemester 2009/10 einen auch nicht. Sie steigt auf das Sofa und klaubt einen
achtsemestrigen Bachelor in Psychologie an. »In Übersichtsplan von der Wand. »Das Praxissemes-
unserem Fach sind vier Jahre das Minimum, um ter finde ich sehr wichtig«, sagt sie. »Wie soll ich
eine wissenschaftlich wirklich gute Grundausbil- mich sinnvoll spezialisieren können, wenn ich
dung vermitteln zu können«, sagt Brigitte Rock- noch nichts vom Berufsleben mitbekommen
stroh, Professorin für klinische Psychologie und habe?« Auch die frühen Vertiefungsmöglichkeiten
Studiendekanin. gefallen ihr. Und nach nur drei Jahren Psycho-
Das anwendungsorientierte Psychologiestudi- logiestudium, sagt Brielmann, habe man keinen
um ist bekannt für seine Fächer- und Methoden- Abschluss in der Tasche, mit dem man in den Be-
vielfalt. Die Stundenpläne sind oft straff, der ruf einsteigen könnte.
gefühlte Druck ist hoch. »Den meisten meiner Deutsche Fachhochschulen, die ohnehin einen
Studenten fehlte bislang die Zeit, auch mal andere starken Praxisbezug haben, haben dies längst be-
Vorlesungen zu besuchen oder etwas in Ruhe zu rücksichtigt: Nach Recherchen der Hochschulrek-
verdauen«, sagt Rockstroh. »Und die Regelstudien- torenkonferenz wiesen im vergangenen Winter-
zeit zu überschreiten bedeutete Stress.« semester 44 Prozent der Bachelorstudiengänge
Probleme wie diese waren es, die im Jahr 2009 eine Regelstudienzeit von sieben Semestern auf,
zu Massendemonstrationen gegen die Bologna- insbesondere die Ingenieur-, Rechts-, Wirtschafts-
Reform führten. Die Umstellung auf die Bachelor- und Sozialwissenschaften. An Kunst- und Musik-
und-Master-Struktur sollte Deutschland eigentlich hochschulen dauern drei Viertel der Bachelors
fit für den europäischen Hochschulraum machen. ohnehin acht Semester.
Stattdessen seien gerade die sechssemestrigen Ba- Rein rechtlich ist das seit Jahren möglich: Die
chelors mit Stoff und Prüfungen vollgestopft, blie- Ländergemeinsamen Strukturvorgaben und das
ben Freiräume auf der Strecke – so die Kritik. Hochschulrahmengesetz räumen jeder Hochschu-
Auch die tatsächliche Berufsbefä- le die Freiheit ein, Regelstudien- 1980er Jahre
higung des ersten Hochschul- zeiten von sechs, sieben oder acht
abschlusses stellten viele infrage, Semestern festzulegen. Allerdings Juliane Papendorf, Politikstudentin von
zum Teil bis heute. Zeitproblem darf die Gesamtregelstudienzeit 1981 bis 1986:
Die Forderung nach längeren bei konsekutiven, also aufeinan- »Während der Schule wechselten meine Berufs-
Regelstudienzeiten machte die Hochschulen können derfolgenden Studiengängen nur wünsche mehrmals. Nur dass ich studieren würde,
Runde, insbesondere an den die Studiendauer des zehn Semester betragen: Zu ei- das war schon früh klar. Ich wollte wissen, warum
Universitäten. Dort sehen etwa Bachelors flexibel auf nem achtsemestrigen Bachelor die Welt so ist, wie sie ist. Heimelig war es an der Uni
95 Prozent der Bachelorangebote bis zu acht Semester gehörte demnach ein zweisemes- Hamburg nicht. Aber ich habe mich schnell zurecht-
eine sechssemestrige Studien- triger Master. gefunden, diese Unabhängigkeit hatte ich sogar
dauer vor. Würden Studiengän- festlegen. Aber: Dann Die forschungsorientierten Uni- gesucht. Und das Studentenwohnheim wurde zu
ge, die man auf sieben oder acht bleibt für den Master versitäten lehnen den langen Ba- meinem Zuhause, mit meinen Kommilitonen
Semester umstellte, die Situation weniger Zeit chelor daher fast flächendeckend von dort bin ich noch immer befreundet.«
nicht verbessern? ab, sie fürchten eine Schmalspur-
Einige Hochschulen wagen ausbildung im Master. »In einem
es: Neben der Universität Konstanz hat zum Bei- zweisemestrigen Master müsste man sich im We-
spiel die Uni Bamberg die Regelstudienzeit ihres sentlichen auf die Masterarbeit konzentrieren«,
Studiengangs Internationale BWL von sechs auf sagt Andreas Archut, der Sprecher der Universi-
acht Semester erhöht. Die private Zeppelin Uni- tät Bonn. »Den Studenten bliebe in der Eingangs-
versität in Friedrichshafen wirbt damit, ab phase zu wenig Zeit, inhaltlich auf ein Niveau
Herbst 2011 als erste deutsche Hochschule alle zu kommen und später ihre wissenschaftlichen
ihre Bachelorstudiengänge regulär vier statt drei Grundlagen zu vertiefen.«
Jahre laufen zu lassen. Auch die Goethe-Univer- Hinzu kommt, dass ein Parallelangebot unter-
sität in Frankfurt am Main plant im Fach Sinologie schiedlich langer Bachelorstudiengänge die Mobi-
eine Umstellung auf acht Semester. lität der Studierenden einschränken würde: Hoch-
Allerdings beschränkt sich das Phänomen der schulwechsel zwischen Bachelor und Master würden
Studienzeitverlängerung bislang nur auf wenige erschwert, Abschlüsse ließen sich schlechter ver-
Hochschulen und Fachbereiche – ein bundeswei- gleichen. Vor allem muss jeder verlängerte Stu-
ter Trend ist mitnichten erkennbar. Die meisten diengang neu akkreditiert werden – das kostet. »Es
Hochschulen zeigen sich bei dem Thema zurück- gilt, die neuen, gerade eingeführten Modelle zu
haltend. »Wir haben aus allen Fakultäten ein kla- testen, wenn immer möglich zu verbessern und
res Bekenntnis zum dreijährigen Bachelor«, heißt nicht sofort panikartig alles wieder umzustellen«,
es zum Beispiel von der Universität Freiburg. Und sagt Alois Loidl, der Ständige Vertreter des Prä-
die Universität des Saarlandes lässt wissen: »Alle sidenten der Universität Augsburg.
unsere Bachelorstudiengänge sind auf sechs Se- Auch die Konstanzer Psychologieprofessorin
mester ausgelegt, und es gibt derzeit keine Pla- Brigitte Rockstroh kennt diese Argumente und
nungen, dies zu ändern.« gibt zu: »Vier Jahre Bachelor plus zwei Jahre Mas-
ter wären mir lieber.« Dennoch zeigt sie sich von
dem Konzept ihres Fachbereichs überzeugt: »Wir
sind erst am Anfang, noch betrachtet man uns als
Exoten«, sagt sie. »Wenn es aber funktioniert, wer-
den andere nachziehen.«
Möglichkeiten gibt es viele. So stellt zum Bei-
spiel die Jade Hochschule Oldenburg/Wilhelms-
haven/Elsfleth im nächsten Wintersemester alle
ingenieurwissenschaftlichen Bachelorstudiengänge
auf acht Semester um, wobei sich die Studierenden
Dabei scheinen die Vorteile einer Verlängerung nach dem sechsten Semester entweder für den
auf der Hand zu liegen: Es bliebe mehr Raum für berufspraktischen oder den wissenschaftlich orien-
Praxis- und Auslandssemester, das Studium ließe tierten Zweig entscheiden können. Die wissen-
sich flexibler und individueller gestalten, und die schaftliche Variante führt gezielt auf ein zwei-
Absolventen wären mit ihrem ersten Hochschul- semestriges Masterstudium hin, die andere Option
abschluss besser qualifiziert. soll die Bachelorabsolventen optimal vorbereitet in
Doch bei genauerer Betrachtung sind diese den Beruf entlassen. »Unsere Gleichung lautet:
Argumente nur teilweise zu halten. Eine längere Acht plus vier ist gleich zehn Semester«, sagt Hoch-
Studiendauer beispielsweise führt nicht auto- schulpräsident Elmar Schreiber.
matisch zu einer Entzerrung des Stundenplans, da Einige Universitäten wiederum sehen bei be-
in den zusätzlichen Semestern ebenfalls Leistun- stimmten Studiengängen ein zusätzliches Aus-
gen erbracht werden müssen. Das weiß inzwischen landsjahr vor, das im Rahmen des Bachelor-Plus-
auch die 20-jährige Psychologiestudentin Aenne Programms des DAAD finanziell unterstützt wird
Brielmann aus Konstanz, eine zierliche, energische – ohne dass es zu einer Studienzeitverlängerung
Person mit T-Shirt, Jeans, Pferdeschwanz und kommt. Auch Übergangssemester von der Schule
Sommersprossen. Sie hat Dienst im Fachschafts- zur Universität oder ein zusätzliches, interdiszipli-
raum, keiner kommt, es bleibt Zeit, über ihren näres Studienjahr sollen an einzelnen Hochschulen
verlängerten Studiengang zu reden. angeboten werden. Grundsätzlich ist für Studie-
Verschieben könne man auch in den vier Jahren rende ein längeres Studium ohnehin nicht aus-
wenig, sagt sie. Orientierungsmodule? Deadline geschlossen, sofern es Finanzen und Zeit zulassen.
Ende zweites Semester. Basismodule? Sollten vor Die Psychologiestudentin Aenne Brielmann
dem sechsmonatigen Berufspraktikum im fünften muss jedenfalls jetzt los. Sie will in den Sportkurs,
Semester abgeschlossen sein. »Cut, aus, Sense«, den sie zwischen die Präsenzzeit im Fachschafts-
sagt Aenne Brielmann und haut mit der Hand- raum und das Biopsychologie-Seminar gequetscht
kante auf das grau melierte Sofa unter ihr. Bereits hat. Von der Wand des Fachschaftsraums starrt ein
im vierten Semester beginnt die Einführung in die weißer Hase mit roten Augen vom Werbeplakat
Anwendungsmodule, hier können die Studieren- der Psycho-Oster-Party. Follow the white rabbit
den einen Schwerpunkt wählen, Klinische Psycho- steht auf einem Pfeil. »Studieren«, sagt Brielmann
logie zum Beispiel oder Gesundheit und Arbeit. und grinst, »macht immer noch Spaß.«
74 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SPEZIAL: BACHELOR & MASTER
CHANCEN
AUSSCHREIBUNG

Lob dem Studiengang


Der Stifterverband sucht die besten
»Bologna ist prima«
des Landes Man muss die Studienreform nur richtig umsetzen. Wie das geht, zeigt die Universität Hildesheim VON NORA GANTENBRINK

W
Verdient Ihr Studiengang die Auszeichnung »cum erner Greve hat sich eine bunte kannt, dass sie den Master schlecht fänden. Sie Als die Hildesheimer Studenten während der dern vor allem auch eine Frage der Einstellung.
laude«? Ist das Studium besonders gut strukturiert, Fliege umgebunden und wird wollten das Diplom zurück. »Schade ums Di- Bildungsproteste den Hörsaal der Uni besetzten, Selbst der Asta-Referent der Uni spricht sich in-
sind die Lehrinhalte aktuell? Lässt es Ihnen den gleich etwas sagen, was viele plom«, sagt Greve hingegen nur, »vergessen wir’s!« ging der Bologna-Koordinator Toni Tholen ein- zwischen öffentlich für die Bachelor- und Mas-
Freiraum, eigene Schwerpunkte zu setzen oder Menschen nicht hören wollen, Die Umstellung von den alten Studiengängen fach hinein. Er fragte die Studenten, was genau terstudiengänge aus. Und die Studenten fühlen
vielleicht ins Ausland zu gehen? Der Stifterverband aber es muss sein. Wer sich auf auf die neuen sei eine echte Chance gewesen, sie blöd fänden. Daraufhin richtete er einen so- sich von der Universitätsleitung in ihren Anlie-
für die Deutsche Wissenschaft sucht Studiengän- den Weg nach oben macht, muss sich Debatten sagt er. Aber viele universitäre »Sesselpupser« sä- genannten Bologna-Tag ein. Die Studenten gen ernst genommen.
ge, denen – aus welchem Grund auch immer – be- stellen. Greve hebt sein Sektglas und sagt: »Bolog- hen das nicht ein. konnten kommen und in Workshops bespre- »Sie haben da ja nur zwei Möglichkeiten«,
sonderes Lob gebührt, und prämiert die drei bes- na ist schon jetzt ziemlich prima!« chen, was ihnen nicht passte. Den Studenten sagt Friedrich, »entweder Sie stecken den Kopf
ten mit einmal 3000, einmal 2000 und einmal Die Reaktionen der Zuhörer im Foyer des Gleich mehrmals wurden die gefiel das. in den Sand, oder Sie schauen, wie man es besser
1000 Euro. Vorschläge können Studierende ge- Römermuseums Hildesheim sind gespalten. Studienordnungen überarbeitet Mittlerweile heißt der Bologna-Tag in Hil- machen kann.«
meinsam mit einer Fachschaft einreichen, das Manche der Anwesenden nicken, andere raunen, desheim »Dies academicus« und ist zum festen
Preisgeld geht an die Fachschaft. einer klatscht. Sie sind gekommen, um zu dis- Natürlich macht es Arbeit, so eine Studienord- Bestandteil des Studienjahrs geworden. Er soll »Was in Hildesheim geht, geht auch
Natürlich ist jedem Studenten etwas anderes kutieren. Zwei Tage, eine Frage: Wie kann man nung immer wieder umzuschreiben. Vier Mal den Austausch zwischen Lehrenden und Studen- woanders«
wichtig. Deswegen fragt der Stifterverband: »Wel- die Bachelor-Master-Strukturen an den deut- wurde allein an Greves Institut die Bachelor-Stu- ten weiter vorantreiben. Im Fokus steht die Fra-
cher Studiengang verdient Lob und warum?« In schen Universitäten verbessern? Nicht alle Teil- dienordnung überarbeitet, drei Mal die für den ge: Wie kann man das Studium verbessern? In Wolfgang-Uwe Friedrich, Werner Greve und
der Begründung sollen ausschließlich Kriterien nehmer des Forums sind von der Studienreform Master. An vielen anderen Universitäten gilt es welchen Fachbereichen gibt es wo genau noch Toni Tholen haben sich entschlossen, den Kopf
eine Rolle spielen, die sich direkt aus dem Aufbau überzeugt, die auf der Bologna-Konferenz 1999 als Niederlage, Studienordnungen innerhalb kur- Probleme? Und: Wie sind sie zu beheben? oben zu halten. Sie sind die Antreiber auf
des Studiengangs ergeben. Sie darf maximal 2000 beschlossen wurde. Greve und die Universitäts- zer Zeit zu ändern. In Hildesheim sieht man es Das Ergebnis: Die Module sind in Hildes- den Campus. Greves Meinung nach ist Hildes-
leitung Hildesheim aber schon. Und wie. Bolog- als Zeichen des Fortschritts. heim flexibler geworden, Credit Points wurden heim auf dem aufsteigenden Ast. Manchmal
na heiße der Zug der Zeit, sagt Werner Greve, Greves Abendrede ist nicht nur höfliches Ge- dem Aufwand angeglichen, die Prüfungs- mischt sich schon etwas Größenwahn in seine
der Leiter des Instituts für Psychologie. Hildes- fasel, sondern bezeichnend für einen reformeri- belastung ist durch die Verringerung von Mo- Worte. Das klingt dann so: »Auch Cambridge
heim ist aufgesprungen. schen Geist, der in der Uni Hildesheim weht und dulen reduziert worden. Der von Bachelorstu- war mal ein rotes Backsteingebäude in der Nähe
»Missbildung«, »Wir sind das Hackfleisch in der von Personen wie dem Uni-Präsidenten denten oft angeprangerte »Prüfungsmarathon« von London.«
der Bolognese« oder »Dichter und Denker statt Wolfgang-Uwe Friedrich, dem Bologna-Koor- wurde durch weiter gefasste Prüfzeiträume ent- Hildesheim ist die kleinste Großstadt des
Bachelor und Banker« stand auf den Plakaten, dinator Toni Tholen und Werner Greve maßgeb- zerrt. In einigen Studiengängen wurden die Landes Niedersachsen, mit gerade einnmal
die Tausende Studenten in Deutschland 2009 lich bestimmt wird. Und hierbei unterscheidet Module geöffnet, um den Studenten individu- knapp über 100 000 Einwohnern. Es gibt Reste
während der Bildungsproteste über ihren Köpfen sich die kleine Universität momentan von man- elle Wahlmöglichkeiten zu geben. Für dieses einer mittelalterlichen Stadtmauer und den äl-
schwenkten. Aber nicht nur die Studenten zeig- cher Massenhochschule. Engagement hat die Hochschulrektorenkon- testen Rosenstock der Welt. In Hildesheim stu-
Worte lang sein. Ein Formular für den Antrag ten während der Streiks ihre Unzufriedenheit. Je Was ist nun an der Uni Hildesheim so anders als ferenz Hildesheim auf die Liste der »Good dieren 5000 Studenten von bundesweit rund
steht unter www.stifterverband.de/cum-laude. lauter ihr Protest wurde, desto mehr Universitä- anderswo? Stellt man diese Frage dem Präsidenten Practice«-Beispiele gesetzt. 2,2 Millionen.
Schicken Sie den Vorschlag mit dem Formular an ten machten sich die Kritik der Studenten zu- Friedrich, dann sagt der erst einmal »Tja«. Friedrich Die Uni Hildesheim hat sich mit ihrer Re- Trotzdem findet Greve, dass die deutsche
daniela.maegdefessel@stifterverband.de. Einsen- nutze – oft für ihre eigenen Interessen. Denn ist ein großer, gebildeter Mann mit epochalen Ges- formbereitschaft vom Hannoverschen Stiefkind Hochschullandschaft auf Hildesheim blicken
deschluss ist der 25. Juli. Eine Jury, die mehrheit- viele Universitäten haben die Proteste nicht kon- ten und vornehmer Art. Er sitzt in seinem Uni- zum bundesweiten Musterschüler gemausert. sollte. »Ich glaube, dass das, was in Hildesheim
lich mit Studierenden besetzt ist, wählt eine Short- struktiv genutzt, sondern stattdessen den alten Präsidium wie ein König. »Wir bevorzugen nicht Allem Studenten-Widerstand zum Trotz beweist geht, woanders ganz bestimmt auch geht«, ruft
list von sechs bis acht Studiengängen aus. Die Studiengängen nachgetrauert. den Top-down-, sondern den Bottom-up-Prozess«, die Provinz-Uni gerade, dass Bildungskrisen er zum Abschluss seiner Abendrede ins Foyer
präsentieren sich dann Ende November in Berlin, Vergangenes Jahr gaben die neun größten sagt er dann und weist auf die »spezielle Kommuni- auch Chancen bergen. Und dass es nicht nur und breitet die Arme aus: »If we can make it here,
wo die drei besten ausgezeichnet werden. technischen Hochschulen in Deutschland be- kationskultur« an seiner Uni hin. eine Sache der Größe und des Geldes ist, son- we can make it everywhere!«
CHANCEN SPEZIAL: BACHELOR & MASTER 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 75

Praxisnähe reicht nicht aus

Fotos: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com; kl. Foto: privat


Zur Ausbildung gehört auch Bildung, glaubt man an der Hochschule Coburg VON ANDREAS UNGER

E
s ist verführerisch, zu viel in Michael lizistisch Verklausuliertes wie »Social Contacts and schung aufgegeben – an Fachhochschulen lernten und
Pötzls Aussicht aus seinem Büro hinein- Telephoning«. Die Prüfungen werden ihnen später lehrten vor allem Praktiker. Lange fühlten sich die
zudeuten: Auf einem Berg über Coburg angerechnet, und sie zahlen keine Studiengebühren. deutschen Fachhochschulen gleichermaßen als Mus-
liegt die Fachhochschule, deren Prä- Pötzl erzählt, worin sich die aktuellen Studien- terschüler und Stiefkinder der Bildungsinstitutionen:
sident er ist, er sitzt über den Baumwip- anfänger von den früheren unterscheiden: Jünger effizient, aber ungeliebt.
feln, kann den alten Stadtkern erahnen, und wenn seien sie und weniger homogen. Vor 20 Jahren waren Der Vorläufer der Hochschule Coburg war rein
er sich nach links beugt, sieht er auch die Veste Co- die Studenten klassische Gymnasiasten und Fach- praktisch ausgerichtet: Vor 199 Jahren wurde die
burg. »Elfenbeinturm« ist die Assoziation, die einem oberschüler: schlau, aber noch grün hinter den Ohren. Handwerkerschule gegründet – ein Anlass für die FH,
dazu in den Sinn kommt, und sie ist falsch. Heute besuchen die Hochschule Coburg junge Leute im nächsten Jahr 200. Geburtstag zu feiern. In den
Denn Elfenbeintürme werden nicht so beherzt um- mit vielfältigerem Bildungshintergrund: Manche haben fünfziger Jahren kamen Elektrotechnik und Maschi-
und neu gebaut wie derzeit der Coburger Campus. das Abitur oder Fachabitur, manche haben die Berufs- nenbau dazu, und Anfang der Siebziger wurde aus dem
Pötzl ist gerade aus dem roten Baucontainer ausgezo- oberschule absolviert, einige eine Berufsausbildung und Polytechnikum eine Hochschule samt Betriebswirt-
gen, der ihn beherbergt hatte, solange sein Zimmer drei Jahre Praxiserfahrung hinter sich. »Die nach schaft, Technik, sozialer Arbeit, Gesundheit und Ge-
noch nicht fertig war. Und das ist nicht das Einzige, Schema F zu belehren, das klappt nicht«, sagt Pötzl. staltung. Knapp 4000 Menschen studieren hier,
was die Hochschule Coburg derzeit umgestaltet. Studierende, die aus dem Beruf kommen, seien meis- Tendenz steigend: Derzeit entstehen neue Hörsäle und
Sie haben sich einen neuen Claim gegeben: »Die tens hoch motiviert und könnten sich gut selbst orga- Verwaltungsgebäude.
Projekthochschule«. Dreierlei soll darin zum Ausdruck nisieren, aber ihnen fehlten theoretische Grundlagen, Je stärker Praxistauglichkeit angesichts der Schwer-
kommen: Anwendungsbezogenheit, wissenschaftlicher die wiederum den Abiturienten, die dafür von der fälligkeit der Universitäten zum Gebot der Stunde
Anspruch und der Blick über den Tellerrand des ei- Praxis wenig Ahnung hätten, trivial erschienen. wurde, desto erfolgreicher wurden die Fachhoch-
genen Faches hinaus. Ist das ein hübscher Marketing- Das heißt für die Hochschulen: Sie können im- schulen. Jetzt aber laufen sie Gefahr, zum Opfer dieses
einfall? Oder vielleicht ein Zeichen für den Sinnes- mer weniger voraussetzen. Das, was die Studierenden Erfolgs zu werden – denn die Universitäten haben von
wandel einer Hochschulgattung, die doch eigentlich an den Gymnasien durch die Schulzeitverkürzung ihnen gelernt. Sie bemühen sich um ihre Studenten,
stolz darauf ist, sich durch nichts vom Erreichen ihres nicht gelernt haben, müssen sie an den Hochschulen entrümpeln ihre Curricula und ihren Verwaltungs-
Hauptziels abhalten zu lassen, nämlich der Ausbildung nachholen, und das gilt nicht nur für Sachinhalte. apparat, engagieren jüngere Lehrende mit flexibleren
praxistauglicher Arbeitnehmer? »Persönliche Reifeprozesse können wir nicht be- Arbeitsverträgen, entwickeln neue Studienfächer und
Die Coburger haben erkannt, dass die Zeichen der schleunigen, die brauchen ihre Zeit. Aber wir können unterstützen ihre Studenten beim Berufseinstieg.
Zeit rückwärts deuten, in Richtung eines umfassen- ihnen einen Raum geben«, sagt Pötzl. Instrumentel- Umgekehrt müssen nun die Fachhochschulen von den
deren Bildungsbegriffes, als er noch vor wenigen le Bildung, also rein zweckgerichtetes Lernen, müs- Universitäten lernen. Zu lange galt der Grundsatz:
Jahren en vogue war. Er ist der humanistischen Tradi- se auch von einem Lernen begleitet werden, das Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Un-
tion näher, als es denjenigen recht sein dürfte, in deren diese Zwecke hinterfragt. ternehmen. Allmählich aber spricht sich herum, dass
Augen das »allgemein« in »allgemeine Hochschulreife« Deshalb sollen sich alle Erstsemester in Coburg es nicht genügt, Fachkräfte gegen den Fachkräfte-
in erster Linie für »nicht praxisrelevant« stand. Bildung vom Wintersemester 2012/13 an mit philosophischen mangel heranzubilden, und dass umfassendere Bildung
bedeutet zunächst: Orientierung. Deshalb haben die Grundlagen, mit Ethik-Konzepten von Aristoteles bis kein Add-on ist, das nice to have ist. Sondern dass die
Coburger für den doppelten Abi-Jahrhang ein freiwil- Habermas und mit dem Unterschied zwischen geistes- Studierenden auch lernen müssen, ihr Tun in den 1990er Jahre
liges, einsemestriges Studium generale eingerichtet, und naturwissenschaftlichen Methoden beschäftigen. gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Auch so
das dem eigentlichen Studium vorausgeht. 112 Stu- Im zweiten Semester kommen Wissenschaftstheorie, werden Inhalte anwendungsbezogen. Markus Birzer, Politik- und
dierenden nehmen es derzeit in Anspruch. So sollen Wissenschafts-, Technik- und Kulturgeschichte dazu. Die Coburger Studenten machen das ganz konkret. VWL-Student von 1988 bis 1993:
erstens die Jahrgänge, die durch die Verkürzung der Ein Viertel bis ein Drittel der Semesterwochenstunden 2010 etwa entwickelten Architekturstudenten ein »Nach dem Vordiplom in Bamberg bin ich
Schulzeit und die Wehrdienstaussetzung gleichzeitig sollen so gestaltet werden. Und: Diese Seminare be- »Wohlfühlhaus für Jung und Alt« aus Holz für Bam- nach Hamburg gegangen und kam dort mitten
an die Hochschulen stürmen, entzerrt werden. Und suchen angehende Architekten, Bauingenieure, Be- berg. Dabei ging es nicht nur um Gebäudetechnik, im Streik des Asta an. An meiner alten Uni
zweitens kommt man so dem Orientierungsbedürfnis triebswirtschaftler, Gesundheitswissenschaftlicher, Materialkunde, Statik und Baukonstruktion. Mit hatte es keine überfüllten Hörsäle gegeben – der
nach, das junge Leute haben, die keinen Wehr- und Produktdesigner, Sozialarbeiter und Versicherungs- Studierenden der Fakultäten »Soziale Arbeit und Ge- Protest und die Stimmung an der neuen haben
Zivildienst und ein Schuljahr weniger Zeit hatten, um wirtschafter gemeinsam. Damit soll das Denken in sundheit« und »Design« sprachen die angehenden mich daher ziemlich beeindruckt. Trotz dieser
über ihre persönliche und berufliche Zukunft nach- Zusammenhängen erlernt werden, das an den Fach- Architekten auch über den Aktionsradius alter Men- Umstände hatte ich in Hamburg einen engen
zudenken. Die Studenten schreiben sich ein und hochschulen lange vernachlässigt wurde. Um dem schen, ihre Lebensgewohnheiten, Bedürfnisse, Ei- Kontakt zu meinem Professor, da ich studen-
können aus etwa 50 verschiedenen Veranstaltungen Arbeitsmarkt gut ausgebildete, aber praxistaugliche genheiten – darüber also, wie ein Haus gestaltet sein tischer Mitarbeiter war. Er hat mich bis ins
wählen, darunter »Allgemeine Ethik«, »Einführung in Kräfte zur Verfügung zu stellen, hatte man im Zuge soll, in dem alte Menschen möglichst gern möglichst Berufsleben begleitet und berät mich
die Ethnologie«, »Interkulturelle Kompetenz«, aber der Bildungsexpansion ab dem Ende der sechziger lange und möglichst selbstständig leben können. 2012 noch heute – ich berate ihn allerdings
auch »Die Gitarre in Theorie und Praxis« und ang- Jahre die Humboldtsche Einheit aus Lehre und For- soll es gebaut werden. auch.«
76 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SPEZIAL: BACHELOR & MASTER
CHANCEN

Restlos abgeschreckt
TIPPS UND TERMINE

Bewerbungsschluss an der Law School


Wer am Zulassungsverfahren der Bucerius
Law School für den kommenden Herbst
teilnehmen möchte, muss bis zum 15. Mai Warum ist es so schwer, an eine andere deutsche Hochschule zu wechseln? VON MARIE-CHARLOTTE MAAS
den Online-Bewerbungsbogen ausfüllen.
Der schriftliche Test findet am 4. Juni in

E
Stuttgart, Frankfurt am Main und Berlin inmal hatte es schon geklappt. Als Prozesses im Jahr 2010 hoffte man auf Besserung. prüfen, sondern abschrecken wollen, um den nistik im Hauptfach und Kunstgeschichte und Spa-
statt, am 11. Juni in München, Leipzig, der Politikwissenschaftsstudent Da- Heute, sechs Semester später, wagt Christoph Verwaltungsaufwand zu umgehen. Florian nisch in den Nebenfächern. In Göttingen wollte sie
Düsseldorf und Hamburg. Die besten Teil- vid Meurer im Wintersemester 2007 Heine eine vorsichtige positive Einschätzung. Pranghe vermutet hinter dem Vorgehen der auf Spanisch verzichten und stattdessen zwei Haupt-
nehmer werden zum mündlichen Test am 8. von Jena an die Universität Marburg »Untersuchungen zeigen, dass sich die Studien- Hochschulen ähnliche Gründe: »Die Unis sind fächer studieren. Das allerdings ging nicht. Aus ver-
oder 9. Juli in Hamburg eingeladen. wechseln wollte, verlief alles rei- qualität gebessert hat, also gehe ich davon aus, dass überfüllt und wollen, wenn überhaupt, nur die waltungstechnischen Gründen, hieß es. Ein engagier-
www.law-school.de bungslos, obwohl er sogar seinen alten Magister- sich auch die Bedingungen eines Hochschulwech- besten Studenten haben.« ter Studienberater riet ihr daher, irgendein beliebiges
studiengang gegen ein Bachelorprogramm ein- sels verbessert haben.« Auch eine aktuelle Absol- Auch Margret Wintermantel, die Präsidentin Fach als zweites Nebenfach zu wählen und sich ein
Erste Master in Schwerin tauschte. Alle Scheine wurden anerkannt. Ein ventenbefragung des Internationalen Zentrums für der Hochschulrektorenkonferenz, weiß von den Semester später umzuschreiben. »Das war sehr um-
Zum Wintersemester starten am Baltic Glücksfall, wie David Meurer, der seinen richti- Hochschulforschung in Kassel scheint dies zu Problemen der Studierenden. »Die neuen Bachelor- ständlich«, sagt Ninia Binias. Hinzu kam, dass sie bei
College/Campus Schwerin die viersemestri- gen Namen nicht nennen will, lernen sollte. So stützen: 68 Prozent der Bachelorabsolventen geben und Masterstudienprogramme sind sehr stark aus- der Organisation des Wechsels weitgehend auf sich
gen Masterstudiengänge »Management im einfach wie damals wurde es nie mehr. an, beim Übergang in den Masterstudiengang einer differenziert, was natürlich auch eine positive Ent- allein gestellt war und anders als ihre Kommilitonen
Kulturtourismus« und »Marketing-Manage- Im Sommer 2010 will er einen erneuten Wech- anderen Uni keine Probleme gehabt zu haben. Bei wicklung ist. Für die Studierenden kann dies aber an der neuen Hochschule keinen Kontakt zu den Pro-
ment im Tourismus«. Die Bewerbungsphase sel wagen. Zurück in seine Heimatstadt Berlin. Er immerhin 6 Prozent hingegen wurden Leistungen bedeuten, dass sie gegebenenfalls Studienleistungen fessoren hatte aufbauen können: »Viele weigerten sich,
ist angelaufen. www.baltic-college.de informiert sich im Internet über die Studienord- nicht anerkannt, und bei 18 Prozent lagen Prü- nachholen müssen.« Thorsten Ostholt hatte bereits
nung, telefoniert mit der Studienberatung. Bei fungsunterlagen nicht rechtzeitig vor. vorgebeugt: »Ich bin davon ausgegangen, dass die
Neue Bachelors in Biberach einem Berlin-Besuch zerschlägt sich schließlich der Anerkennung der Scheine problematisch werden
Die Hochschule Biberach erweitert ihr Stu- Traum vom Wechsel: »Im Prüfungsbüro wurden In langwierigen Prozeduren wurden wird, und habe einfach mehr ECTS-Punkte ge-
dienangebot zum Herbst um die Bachelor- meine Scheine angeschaut, und dann hieß es: Das alle Module geprüft macht, als ich musste.«
studiengänge »Energiewirtschaft« und »In- könnte problematisch werden.« Kurse, die Meurer Das kann allerdings keine Lösung für das Pro-
dustrielle Biotechnologie«. an seiner alten Uni besucht hatte, sollten an der Auch wenn die Studie allgemein Hoffnung blem sein. Aber was dann? Florian Pranghe glaubt,
www.hochschule-biberach.de neuen auf einmal nichts mehr gelten. Das Seminar macht, den einzelnen Betroffenen tröstet sie dass es den Verantwortlichen noch an Lösungs-
Gender-Studies etwa, in Marburg ganz groß, brach- kaum. Anders als bei David Meurer ist der ideen mangele. Margret Wintermantel gibt zu:
Master für digitale Pioniere te ihm in Berlin keinen Punkt. Hochschulwechsel von Thorsten Ostholt keine »Wir sind noch nicht so weit, dass wir hinter alle
Die Zeppelin Universität (ZU) Friedrichs- »Die Praxis der Hochschulen, anhand der In- freiwillige Angelegenheit. Ein Master für seine Ziele des Bologna-Prozesses einen Haken setzen
hafen bietet ab Herbst einen berufsbeglei- halte der Seminare zu entscheiden, ob ein Wechsel Bachelor-Fächerkombination aus Chemie und können. So gibt es auch beim Thema Mobilität
tenden Masterstudiengang für digitale Ge- möglich ist, finden wir nicht akzeptabel«, sagt Sport, die er gern vertiefen will, wird an seiner und Anerkennung von Studienleistungen anderer
schäftsmodell-Innovationen an, den »Exe- Florian Pranghe, der Vorsitzende des Freien Zu- Uni Göttingen nicht angeboten. So muss sich Hochschulen noch einiges zu tun.« Die Bildungs-
cutive Master of Digital Pioneering«. Er sammenschlusses von StudentInnenschaften, des der 24-jährige Lehramtsstudent um eine andere ministerin Annette Schavan hat das Thema bei der
richtet sich an IT-Fachkräfte mit einem Dachverbands der Studierendenvertretungen in Hochschule bemühen. Schnell stellt sich heraus: Bologna-Konferenz vergangene Woche zu einem
Hintergrund beispielsweise in Informatik, Deutschland. »Sogar Scheine, die man im Ausland Nur eine Handvoll Hochschulen würden ihn der zentralen Punkte der Reform erklärt, an dem
Wirtschaftsinformatik, Physik oder Mathe- erworben hat, werden leichter anerkannt als die gegebenenfalls annehmen. Während er auf eine jetzt nachgebessert werden müsse.
matik, die eine Managementkarriere ein- einer anderen deutschen Uni.« Zusage wartet, plagen ihn Existenzängste: »Das Ist mit Bologna tatsächlich alles komplizierter
schlagen wollen, sowie an Mitarbeiter aus Vor drei Jahren stellte die Studie »Innerdeutsche Schlimme war, dass es niemanden gab, an den statt einfacher geworden? Nicht ganz, sagt Ninia
den Bereichen Unternehmensentwicklung, Mobilität im Studium« des Hochschul-Informa- ich mich mit Fragen hätte wenden können.« In Binias: »Schlimm war es schon immer.« Sie hat das
Strategie, Vertrieb und Einkauf. tions-Systems (HIS) den deutschen Hochschulen langwierigen Prozeduren wird geprüft, welche Wechseldrama bereits mitgemacht, als der Studien- jemanden zu prüfen, den sie nicht aus den Seminaren
www.zeppelin-university.de/emadipcomm kein gutes Zeugnis in Sachen Wechsel aus: Es gebe Module Ostholt belegt hatte. »Zu jedem Modul abschluss noch nicht Bachelor hieß. Nach dem Ende kannten.« Sie riet damals allen Bekannten von einem
Probleme bei der Anerkennung von Leistungsnach- musste ich eine Inhaltsbeschreibung abgeben, ihres Grundstudiums entschied sich die heute 27- Wechsel ab.
Bau-Bachelor in Berlin weisen, die Studenten verlören Zeit. »Die Ergeb- denn ab einer gewissen Abweichung wird man Jährige, ihrem ersten Studienort den Rücken zu Der angehende Lehrer Thorsten Ostholt sieht
Am 1. Oktober startet der neue sieben- nisse der Studie waren sehr kritisch«, sagt Christoph nicht mehr zugelassen«, erzählt Ostholt. »Dieser kehren und das Hauptstudium im 140 Kilometer seine Odyssee mittlerweile mit Humor. »Wenn mir
semestrige Bachelorstudiengang »Umwelt- Heine, der Autor der Studie. Dennoch blickten die Wechsel hat mich mehr Mühe gekostet als meine entfernten Göttingen fortzusetzen. »Ich finde, es ist jemand erzählt, wie anstrengend das Referendariat
ingenieurwesen – Bau« an der Beuth Hoch- Hochschulforscher optimistisch in die Zukunft: Bachelorarbeit.« Ständig verlangen die Prüfungs- wichtig, nicht nur an einer Uni gewesen zu sein«, ist, entgegne ich immer, dass mich nach dem Wech-
schule für Technik Berlin. Die Probleme seien vermutlich auf die Umstellung ämter neue Unterlagen, bis Thorsten Ostholt sagt sie, »ich wollte andere Studienschwerpunkte sel nichts mehr stressen kann«, sagt er lachend. »In-
www.beuth-hochschule.de/423/detail/buw zurückzuführen. Mit dem Abschluss des Bologna- zuletzt fürchtet, dass die Universitäten ihn nicht wahrnehmen.« In Marburg studierte sie Germa- zwischen bin ich gegen alles gewappnet.«
CHANCEN SPEZIAL: BACHELOR & MASTER 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 77

Aus dem Büro an die Uni

Foto: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com


Die Duale Hochschule Baden-Württemberg bietet jetzt den berufsbegleitenden Master VON SABRINA EBITSCH

R
einhold Geilsdörfer sieht es nüchtern: akademischen Landschaft endgültig als Hochschu- Der Nähe zur Wirtschaft, die den Studenten weit-
»Die Studenten sind unser Kapital.« le mit Vollprogramm platzieren«, sagt Paul-Stefan gehende Jobsicherheit und den Unternehmen maß-
Der Präsident der Dualen Hochschule Roß, Leiter des Masterstudiengangs der Fakultät geschneidertes Personal beschert, wird jedoch auch
Baden-Württemberg (DHBW) hat Sozialwesen. Skepsis entgegengebracht. Kritiker fürchten um die
dafür gesorgt, dass sich dieses Kapital Das reißverschlussartige Ineinandergreifen von akademische Unabhängigkeit. Stephanie Odenwald
bald vermehren wird. Im Herbst starten an der Theorie und Praxis soll im Master noch enger werden. vom Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und
DHBW, die bisher nur Bachelorstudiengänge an- Das Studium ist berufsbegleitend oder vielmehr be- Wissenschaft etwa möchte duale Ausbildungen wegen
geboten hat, die ersten Masterprogramme. Anders rufsintegriert, wie man in Stuttgart betont: Die der Vorteile der Studenten am Arbeitsmarkt zwar
als an anderen Hochschulen stehen sie ausschließ- Studenten behalten ihre Stelle in einem der Partner- nicht verteufeln, moniert aber, dass kritisches Studie-
lich Berufstätigen offen. unternehmen, verbringen aber ihre freien Tage an der ren zu kurz komme: »Die Freiheit von Forschung und
Damit betritt man in Baden-Württemberg Hochschule und ihre Abende mit Lernen. »Auch Lehre ist hier in Gefahr. Ich gehe davon aus, dass die
Neuland in der deutschen Hochschullandschaft: während der Masterausbildung sollen die Studenten Unternehmen einen sehr starken Einfluss ausüben.«
Die DHBW wird bundesweit die einzige Hoch- den Unternehmen erhalten bleiben«, sagt Geilsdörfer. Tatsächlich wählen die Kooperationspartner der
schule sein, deren Masterstudiengänge allesamt Voraussetzung für die Teilnahme an den Programmen DHBW die Studenten mit aus und reden auch bei
weiterbildend sind. »Die Ausschließlichkeit des ist nicht nur Berufserfahrung, sondern auch ein fester den Studieninhalten mit. Eine »ausgelagerte Berufs-
berufsbegleitenden Modells ist einmalig«, sagt Arbeitsvertrag. schule« wolle man jedoch nicht sein, betont Roß:
Geilsdörfer. Ein Dutzend Masterstudiengänge, die »Den Vorwurf, die Unternehmen gäben die Themen
sich derzeit noch im Akkreditierungsverfahren be- »Der Master ist für diejenigen gedacht, vor, halten wir für nicht zutreffend. Niemand diktiert
finden, sollen am 1. Oktober an den drei Fakultä- die sich spezialisieren wollen« uns die Ausrichtung.« Er gesteht aber auch ein, dass
ten anlaufen. Weitere könnten in den kommenden Spannungen zwischen den Ansprüchen der Praxis
Jahren folgen – je nach Nachfrage. Dahinter steht auch die Auffassung, dass bereits der und denen der Hochschule existierten.
Für die meisten Universitäten und Fachhoch- Bachelor ein berufsqualifizierender Abschluss und der Denn letztlich war es auch der Wunsch der Un-
schulen in Deutschland ist die Weiterbildung vor Master eher der Ritterschlag als karrieristische Not- ternehmen nach höher qualifizierten Mitarbeitern
allem ein mehr oder minder lukratives Nebengeschäft. wendigkeit ist. »Das Grundprodukt ist der Bachelor. und passgenauer Forschung, der die Einrichtung der 2000er Jahre
Die große Mehrzahl der über 6000 weiterführenden Der Master ist für diejenigen gedacht, die sich wei- Master mit angestoßen hat. Man verstehe dies auch
Studienangebote ist konsekutiv und schließt damit terentwickeln, sich spezialisieren oder Führungsauf- als personale Entwicklungsmaßnahme für die Unter- Mona Rössler, Klavier-
direkt an einen vorausgehenden Bachelor an. Ab- gaben übernehmen wollen. Und die sind nicht der nehmen, deren Nachfrage man derzeit nicht befrie- studentin von 2002 bis 2007:
solventen, die einen Abstecher ins Berufsleben und Regelfall, sondern eine Teilgruppe«, sagt Roß. Gera- digen könne, sagt Präsident Geilsdörfer. Bis zum »Ich habe immer schon Klavier ge-
dann einen Master machen, sind die Ausnahme. de einmal 8,5 Prozent aller DHBW-Absolventen Wintersemester 2014/15 will er die Studentenzahlen spielt; für das Studium habe ich mich
Die wollen die Stuttgarter nun zur Regel ma- hängen derzeit direkt einen Master an – im Gegensatz auf rund 34 000 wachsen sehen. deshalb bereits zu Schulzeiten entschie-
chen. Das Ungewöhnliche ist aus Sicht der Dualen zu 77 Prozent der Universitätsstudenten. Befriedigt wird auch Nachfrage von anderer den. Es war toll, dass ich mich endlich
Hochschule nur logische Konsequenz. Sie ging vor In Sozialwesen sind es immerhin zehn Prozent. An Seite – der der Studenten. Es bestehe nun einmal auf das konzentrieren konnte, was früher
zwei Jahren aus dem Zusammenschluss von acht dieser Fakultät sind die Vorbereitungen für den Mas- die Meinung: je höher der akademische Grad, des- ein Hobby für mich war. Als Studentin
Berufsakademien hervor und setzt nun als Hoch- ter am weitesten fortgeschritten. Seit Mitte März liegt to besser die Karrierechancen, sagt Geilsdörfer. an der Musikhochschule Lübeck habe
schule fort, was diese mehr als 30 Jahre lang prak- das Akkreditierungsgutachten vor. »Es werden klei- Künftig soll gut die Hälfte derjenigen Absolventen, ich zudem gelernt, für mich selbst ver-
tizierten: die Zusammenführung von akademischer nere Nachjustierungen gefordert, aber wir haben die einen Master anhängen, dafür an die DHBW antwortlich zu sein, zu bestimmen, wie
und beruflicher Ausbildung. Bereits im Bachelor grünes Licht«, sagt Roß. 15 bis 30 Erstsemester werden zurückkehren. Es sind solche ökonomischen Prin- oft und wie lang ich übe. Ich bin
verbringen die rund 26 000 Studenten die Hälfte im Master »Governance Sozialer Arbeit« für 1500 zipien von Angebot und Nachfrage, von Markt froh, noch auf Diplom studiert zu
ihrer dreijährigen Studienzeit in einem der 9000 Euro pro Semester auf Führungsaufgaben im sozialen und Kapital, die an der DHBW neben der Zu- haben – ich hatte viel mehr
Kooperationsunternehmen. »Sie fühlen sich eher Bereich vorbereitet – nach dem Prinzip Governance, sammenarbeit mit Unternehmen auch die Ausbil- Freiheiten als die Musik-
als Mitarbeiter der Unternehmen denn als Studen- das nicht nur wirtschaftliche, sondern auch rechtliche, dung der Studenten begleiten. Eine Gratwan- studenten heute.«
ten der Hochschule«, sagt Geilsdörfer. gesellschaftliche und sozialstaatliche Aspekte mit ein- derung, die mit den Masterprogrammen nicht
Ähnlich soll es nun im Master weitergehen. Mit schließt. »Alles sehr motivierte Leute, die in Leitungs- leichter wird. Roß sieht das gelassen: Das Span-
der Umwandlung der Berufsakademien in die aufgaben wollen«, sagt der Studiengangsleiter über nungsfeld zwischen Wirtschaft und Bildung, Pra-
Duale Hochschule war der Anspruch verbunden, seine künftigen Studenten, die nach dem Wochen- xis und Theorie sei nun mal seit vielen Jahren
weiterführende Studiengänge anzubieten und For- endunterricht wieder an den Schreibtischen sozialer »unser täglich Brot«, sagt er: » Das können wir,
schung zu betreiben. »Wir wollen uns damit in der Einrichtungen sitzen werden. und das können wir auch im Master.«
78 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SPEZIAL: BACHELOR & MASTER
CHANCEN

»Nachteile abbauen«
Foto: Olaf Deharde für DIE ZEIT/www.olafdeharde.com

Der Hochschulforscher Ulrich Teichler über die Vereinbarkeit von Studium und Nebenjobs

DIE ZEIT: Dem Deutschen Studentenwerk zu- müssten ebenfalls flexibler werden: Wer weniger dieren wollen, braucht man andere Angebote,
folge arbeitet heutzutage jeder vierte deutsche Punkte im Semester machen will, zahlt weniger. die es ihnen ermöglichen, nur am Abend oder
Student nebenher so viel, dass er nicht mehr ZEIT: Wer braucht dann überhaupt »echte« Teil- am Wochenende Kurse zu besuchen. Hier sind
als Vollzeitstudent gelten kann. Der Stifterver- zeitstudiengänge? separate Teilzeitstudiengänge gefragt. Der Be-
band der Deutschen Wissenschaft hat deshalb Teichler: Für die Minderheit der Teilzeitstuden- darf würde am besten gedeckt werden, wenn
mehr Teilzeitangebote gefordert. Was halten ten, die voll im Beruf stehen und zusätzlich stu- ganze Fachbereiche oder Hochschulen sich da-
Sie davon? rauf spezialisierten. Denn für solche Angebote
Ulrich Teichler: Nebenjobs sind kein Argument muss man anderes Personal rekrutieren: Pro-
für wesentlich mehr Teilzeitstudiengänge. Seit fessoren, Mitarbeiter und Lehrbeauftragte, die
Langem arbeiten Studenten nebenher, studieren In Teilzeit am Wochenende oder abends lehren wollen
mehr oder weniger in Teilzeit. Aber nur jeder und können.
siebte arbeitet während des Semesters mehr als
sechzehn Stunden pro Woche. Das führt meist
studieren ZEIT: Sie schlagen also flexiblere Studien- und
Prüfungsordnungen vor und für eine Minderheit
dazu, dass sich das Studium um ein Jahr bis zwei Anders als in Großbritannien und den spezielle Teilzeit-Hochschulen.
Jahre verlängert. Kaum jemand hat dadurch aber USA haben die Hochschulen hierzulande Teichler: Ja, zum Teil gibt es solche Angebote
schlechtere berufliche Chancen oder verdient bislang nur wenige Angebote konzipiert, auch schon. Bevor wir die stärker ausbauen,
weniger. Studenten, die nebenbei jobben, sam- die sich ausdrücklich an Studenten rich- müssen wir uns aber fragen: Ist es sinnvoll, dass
meln ja Arbeitserfahrung. Ich bin nicht sicher, ten, die in Teilzeit studieren wollen. Dem Teilzeitstudierende unter sich sind? Sollten sie
ob wir noch mehr zum Teilzeitstudium ermuti- »Hochschulkompass« der Hochschulrek- nicht auch in Kontakt mit »Vollzeitstudenten«
gen sollten. Das ist nicht die dringlichste Auf- torenkonferenz zufolge sind weniger als kommen? Hier geht es nicht nur um organisato-
gabe, die sich den Hochschulen stellt. fünf Prozent der Studiengänge in der rische Fragen, man muss sich auch entscheiden,
ZEIT: Wenn jemand bis zu zwanzig Stunden Bundesrepublik überhaupt dazu geeignet, welche Milieus man schaffen will.
in der Woche arbeitet – leidet darunter nicht gestaffelt absolviert zu werden. Selbst bei ZEIT: Sollte also lieber doch alles bleiben wie
sein Studium? weiterbildenden Studiengängen ist der bisher?
Teichler: Man muss sich entscheiden, was man Anteil kaum größer. Teichler: Nicht unbedingt. Es wird viel vom le-
will. Einerseits haben wir die Tradition des Stu- Definiert man »in Teilzeit studieren« um- benslangen Lernen gesprochen, aber bisher wird
denten, der zumindest formal in Vollzeit stu- gekehrt so, dass jemand es nicht mehr wenig für einen anderen Rhythmus von Berufs-
diert. Andererseits wird verlangt, dass man ne- schafft, die vorgegebene Stundenzahl pro und Lernphasen getan. Es geht nicht nur da-
benher viele Erfahrungen in Jobs und Praktika Semester zu leisten, studieren allerdings rum, dass Ältere noch mehr lernen, sondern
sammelt. Hier muss jeder seine persönliche Ba- bereits heute viele Studenten faktisch in auch dass nicht alle vor dem Berufseinstieg so
lance finden. Teilzeit, ohne offiziell diesen Status zu lange lernen. Wir sollten dazu ermutigen, dass
ZEIT: Viele klagen, dass es in Bachelor- und haben: Das Deutsche Studentenwerk hat nach Abitur oder Ausbildung einige Jahre Be-
Masterstudiengängen kaum noch möglich in seiner Sozialerhebung im Jahr 2009 er- rufstätigkeit folgen und ein späterer Einstieg ins
2010er Jahre sei, nebenher zu arbeiten, ohne das Studium zu mittelt, dass gut ein Viertel der Studenten Studium leicht möglich ist – Vollzeit oder Teil-
gefährden. siebzehn Stunden pro Woche oder mehr zeit. Es sollte keine Probleme geben, wenn je-
Laura Rosenberg, Informatikstudentin Teichler: Bei der Reform hat man das Thema in Nebenjobs arbeiten müssen, um ihren mand erst einige Jahre nach dem Bachelor in
seit dem Wintersemester 2010: Nebenjob erst einmal übersehen, aber hier kann Lebensunterhalt zu finanzieren. Aber den Master einsteigen will. Deshalb müssen wir
»Dass ich jetzt Informatik studiere, hat mich selbst man nachbessern. Mit der Bologna-Reform auch Kinder, eine chronische Krankheit alle organisatorischen und finanziellen Nach-
überrascht. Ich habe durch ein Schnupperstudium wurden Studiengänge in Module eingeteilt. Wer oder familiäre Verpflichtungen können teile für diese Studenten abbauen. Separate
gemerkt, dass mir das liegt. Viel Freizeit habe ich aller- ein Modul besteht, bekommt Punkte; um ein dazu führen, dass das Studium zumindest Studiengänge für Teilzeitstudenten sollte es nur
dings nicht mehr, das Studium an der Uni Hamburg ist Studium abzuschließen, muss man eine be- eine Zeitlang zur Nebensache wird. in Ausnahmefällen geben. Wir müssen Stu-
anstrengend und unterscheidet sich kaum von der Schule. stimmte Zahl an Punkten erreichen. Warum Eine Herausforderung auch für die Poli- diengänge so gestalten, dass sie für alle »studier-
Das Klischee vom lockeren Studentenleben trifft auf geht das nicht in einer beliebigen Zeit? Zusätz- tik: Das faktische Teilzeitstudieren zieht bar« sind: für Jüngere, Ältere, für Vollzeit- und
mich sicher nicht zu. Aber es ist ein tolles Gefühl, eine lich müsste das Bafög reformiert werden, das häufig Probleme mit dem Bafög oder Stu- Teilzeitstudenten.
schwierige Matheaufgabe zu lösen – auch wenn es bis sich vor allem an der Standard-Studiendauer dienkrediten nach sich, die sich an der
zwei Uhr nachts dauert.« orientiert. Die Regelungen für Studiengebühren Regelstudienzeit orientieren. Interview: STEFAN KESSELHUT
CHANCEN 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 79

Radio hören für die Uni UNIVERSITÄT


Das Fach Medienwissenschaft tritt thematisch extrabreit an VON CHRISTIAN HEINRICH Kommunikationswiss./ UNIVERSITÄT

Journalistik Medienwissenschaft

A
m Anfang analysierte Carina Johann- sen zusammen mit ihren Kommilitonen für einen diums außerdem die Möglichkeit, sich zu speziali- Forschungsgelder Internationale Ausrichtung
sen sogar noch morgens unter der Shampoo-Werbespot im Radio die Geschichte von sieren«, sagt Ralf Hohlfeld, der dort seit 2008 die Internationale Ausrichtung Medien-Labore
Dusche, was sie im laut aufgedrehten Rapunzel umgeschrieben: »In unserer Variante erste Professur für Kommunikationswissenschaft Berufsbezug Studierbarkeit
Radio hörte: Wie verändert sich die lässt Rapunzel ihr Haar runter, der Prinz will hoch- innehat und an der Errichtung des geplanten Zen- Studierbarkeit Studiensituation insgesamt
Betonung der Radiosprecherin? Wa- klettern, aber die Haare reißen. Dann kommt der trums mitarbeitet. Die Studenten scheinen zufrie- Studiensituation insgesamt
rum wurden welche Nachrichten ausgewählt, und Slogan des Shampoos und der Hinweis, dass das den zu sein: Bei dem wichtigen Kriterium »Stu- Uni Basel (CH) 0 0 0 0
wie werden die präsentiert? Das war im ersten Se- damit nicht passiert wäre. Das war alles akustisch diensituation insgesamt«, das auf Einschätzungen Uni Augsburg 0 0 0 0 0 Uni Bayreuth 0 0 0 0
mester. Wenn Johannsen heute zurückblickt, muss gar nicht so einfach zu vermitteln, aber am Ende von Studenten beruht, liegt Passau jetzt in der FU Berlin 0 0 0 0 0 Uni Bochum 0 0 0 0
sie lächeln. Die 23-Jährige studiert inzwischen im hat es gut geklappt«, erzählt die Studentin. An eine Spitzengruppe. UdK Berlin 0 0 0 0 0 HBK/TU Braunschweig 0 0 0 0
TU Dortmund 0 0 0 0 0 TU Chemnitz 0 0 0 0
sechsten Semester Medienwissenschaft an der Univer- fundierte Fernseh- oder Radioausbildung reicht Wer Kommunikations- und Medienwissen-
TU Dresden 0 0 0 0 0 Uni Düsseldorf 0 0 0 0
sität Siegen und arbeitet gerade an ihrer Bachelor- das aber nicht heran. »Ich weiß theoretisch, wie ich schaften studieren will, sollte allerdings nicht nur 0 0 0 0
Uni Düsseldorf 0 0 0 0 0 Uni Duisburg-Essen
arbeit, in wenigen Monaten wird sie das Studium einen Film machen kann, aber natürlich haben wir auf die Qualität der Lehre achten. »Man sollte Uni Duisburg-Essen 0 0 0 0 0 Uni Erlangen-Nürnberg 0 0 0 0
abgeschlossen haben. »Das mit dem Analysieren ist nur an der Oberfläche gekratzt«, sagt Johannsen. auch im Blick haben, dass sich die Schwerpunkte Uni Erfurt 0 0 0 0 0 Uni Konstanz 0 0 0 0
zum Glück bald weniger geworden, ich kann wie- Es gibt auch Universitäten, an denen die Stu- der einzelnen Studiengänge stark unterscheiden ZU Friedrichshafen (priv.) 0 0 0 0 0 Uni Leipzig 0 0 0 0
der mit Freude Zeitung lesen und Radio hören, denten während des gesamten Studiums kein ein- können«, sagt Vinzenz Hediger, Film- und Me- Uni Greifswald 0 0 0 0 0 Uni Marburg 0 0 0 0
ohne an die Theorie zu denken«, sagt Johannsen. ziges Mal eine Kamera in der Hand halten. Mehr dienwissenschaftler von der Universität Frankfurt. Uni Halle-Wittenberg 0 0 0 0 0 Uni Paderborn 0 0 0 0
Medien sind eben überall und fast immer präsent. als 200 Studienangebote für Medien- und Kom- Grundsätzlich stehen bei der Medienwissenschaft Uni Hamburg 0 0 0 0 0 Uni/FH Potsdam 0 0 0 0
Für Medienwissenschaftler bestimmen sie zusätz- munikationswissenschaften existieren inzwischen Geschichte und Theorie der Medien von der HMTM Hannover 0 0 0 0 0 Uni Regensburg 0 0 0 0
lich den Forschungs- und Berufsalltag. in Deutschland, und die Qualitätsunterschiede Schrift bis zum Computer im Vordergrund, wäh- Uni Hohenheim 0 0 0 0 0 Uni Weimar 0 0 0 0
»Kommunikation gewinnt weiter an Bedeu- sind groß. In den vergangenen Jahren haben viele rend die Kommunikationswissenschaft die poli- TU Ilmenau 0 0 0 0 0 Stand 2011
Hochschulen, an denen das Studium aufgebaut wird oder für die keine Daten
tung, und mit ihr wächst das Angebot der Kommu- Unis das Fach Kommunikations- und Medienwis- tischen und gesellschaftlichen Wirkungen der Uni Jena 0 0 0 0 0 vorliegen, werden nicht in das Ranking einbezogen. Sofern ein Fach an mehreren

nikations- und Medienberufe«, sagt Klaus-Dieter senschaft einfach nur eingeführt, um ihr Image zu Massenmedien ins Zentrum stellt. Dazu kommen Uni Leipzig 0 0 0 0 0 Fakultäten einer Hochschule angeboten wird, wird in dieser Übersicht nur eine
Fakultät dargestellt. Informationen zu allen Hochschulen und Fakultäten finden Sie
Altmeppen, der an der Universität Eichstätt als verbessern. Fehlen aber die nötigen Kompetenzen weitere Schwerpunktsetzungen: Bei einem Stu- Uni Mainz 0 0 0 0 0 im Internet unter www.zeit.de/studium/medien

Medienwissenschaftler forscht und lehrt. Nicht und Kapazitäten, schadet es eher ihrem Ansehen, dienangebot steht die akademische Theorie im Uni Mannheim 0 0 0 0 0
nur die etablierten Arbeitsgebiete wie Marktfor- wie die Universität Passau anfangs feststellen Vordergrund, bei dem anderen Fach liegt der Fo- LMU München 0 0 0 0 0
/ Spitzengruppe,
Uni Münster 0 0 0 0 0
schung, Mediaplanung, Werbung und Journalis- musste. 2004 hatte man dort einen Bachelorstu- kus auf Fernsehen oder Radio. / Mittelgruppe,
Uni Nijmegen (NL) 0 0 0 0 0
mus bieten Chancen. Es entstehen auch neue diengang Medien und Kommunikation gegrün- So ist es auch an der Uni Siegen, wo Carina Uni Passau 0 0 0 0 0
Berufsfelder durch die zunehmend professionel- det, den die Fächer Philologie, Pädagogik und Johannsen studiert. Ganz eingrenzen lässt sich das / Schlussgruppe,
Uni Twente (NL) 0 0 0 0 0
len Auftritte der Medien und Unternehmen in Politikwissenschaften gemeinsam führten – einen Feld der Medien- und Kommunikationswissen- Uni Zürich (CH) 0 0 0 0 0 / Nicht gerankt (keine Daten vorhanden,
Sozialen Netzwerken, die wachsende Zahl der Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft aber schaften allerdings selten, zu weit ist die themati- Stand 2011 zu geringe Fallzahlen)
Mobilservices, die neuen Plattformen für die Ver- gab es nicht. Kein Wunder, dass die Angebote sche Breite. So hat Johannsen etwa auch Scheine
breitung von Nachrichten und Videos. Für Ab- nach Aussagen vieler Studenten theoretisch und in Grundlagen aus den Wirtschaftswissenschaften
solventen der Medien- und Kommunikations- praxisfern blieben, was sich im Ranking des Cen- und in Medienrecht gemacht. »Es ist toll, in wie
wissenschaften würden die beruflichen Chancen trums für Hochschulentwicklung (CHE) im Jahr viele Fächer wir Einblicke haben«, sagt sie. »Ande-
vielfältiger, sagt Altmeppen. 2008 niederschlug: Der Studiengang in Passau rerseits haben wir natürlich nur selten fundierte
Carina Johannsen freut sich über die beruflichen war in allen wichtigen Kategorien in der Schluss- Kenntnisse.« In guten Tagen fühlt sich Johannsen, Änderungen im Ranking
Aussichten; ausschlaggebend für ihre Studienwahl gruppe vertreten. als könne sie alles, oder zumindest von allem ein
waren sie jedoch nicht. »Ich hatte zwischen Psycho- Ganz anders sieht es in Passau heute aus. Die bisschen etwas – in schlechten Tagen hat sie das Gegenüber der Veröffentlichung der ak- men und bei den Indikatoren Studien-
logie und Medienwissenschaften hin und her über- Ergebnisse des aktuellen CHE-Ranking, die in den Gefühl, sie könne nichts wirklich. Aber das geht tuellen Ranking-Ergebnisse im ZEIT situation insgesamt, Studierbarkeit und
legt«, erzählt sie. »Ich finde es interessant, wovon die Tabellen nebenan und auch im neuen ZEIT Stu- meist schnell vorüber. »Die Umwälzungen in der Studienführer und in der letzten Ausgabe Internationale Ausrichtung der Spitzen-
Menschen wie beeinflusst werden.« Heute weiß sie, dienführer stehen, zeigen: Der Kommunikations- arabischen Welt haben vor allem durch Facebook der ZEIT haben sich einige Änderungen gruppe zugeordnet, beim Indikator Pra-
wie die Medien auf Menschen einwirken können. studiengang der Universität Passau hat einen ge- und Twitter derartige Formen angenommen. Ich ergeben: Im Fach BWL an Universitäten xisbezug der Mittelgruppe.
Warum Hunde auf Spielplätzen zeitweise als große waltigen Satz nach vorne gemacht. In vielen der sehe jeden Tag, dass ich in einem der spannends- liegen beim Indikator Internationale Aus- Im Fach Politikwissenschaft wurde die
Gefahr erscheinen, dann aber plötzlich in Vergessen- untersuchten Bereiche liegt er sogar in der Spitzen- ten Felder arbeite, die ich mir vorstellen kann«, richtung die Hochschulen ESCP Europe Universität Rostock in den Vergleich ein-
heit geraten – weil sie von der Agenda der Zeitungen gruppe, wie auch die grünen Punkte in den Ta- sagt Johannsen. Berlin, TU Berlin und Handelshochschu- bezogen. Bei den Indikatoren Internatio-
und Fernsehsendungen verschwunden sind. Inwiefern bellen zeigen. Noch im Jahr 2008 wurde das Fach Später möchte sie im Bereich Werbung arbei- le Leipzig nun in der Spitzengruppe. In nale Ausrichtung, Forschungsgelder und
Ego-Shooter-Spiele aus labilen Menschen Amok- in Passau nämlich massiv gefördert: Bald war eine ten. Aber vorher muss sie ihre Bachelorarbeit noch BWL an Fachhochschulen kam die PFH Forschungsreputation kam sie jeweils in
läufer machen können. Professur für Kommunikationswissenschaften aus- fertigstellen. Dabei geht es wieder einmal um Ana- Göttingen bei den Indikatoren Studien- die Mittelgruppe.
Neben den Analysefächern lernte Carina Jo- geschrieben und besetzt; weitere folgten. Derzeit lyse: Johannsen geht der Frage nach, wie Tim Bur- situation insgesamt und Studierbarkeit in Im Fach Kommunikationswissenschaft/
hannsen auch, handwerklich und praktisch mit wird ein neues »crossmediales Medienzentrum« er- ton die Traumatisierung der Personen in drei seiner die Spitzengruppe. Die HWR Berlin wur- Journalistik wurde die Universität Ham-
Medien umzugehen: Was gibt es bei einem Auf- richtet. »Wir haben versucht, die Ausbildung prak- Filme darstellt. »Wenn ich eine Schreibblockade de bei den Indikatoren Studiensituation burg in die Liste aufgenommen. Sie landete
nahmegerät zu beachten, wie bedient man eine tischer zu strukturieren, ohne dass die Theorie da- habe, kann ich guten Gewissens auch mal das Ra- insgesamt, Studierbarkeit und Praxisbezug in der Spitzengruppe bei der Internationa-
Kamera, wie schneidet man Filme und Radiobei- runter leidet. Mit entsprechenden berufsbezogenen dio anmachen«, sagt sie und lacht. Radio hören der Mittelgruppe zugeordnet. Die FHWien len Ausrichtung und in der Schlussgruppe
träge ordentlich? Im dritten Semester hat Johann- Modulen haben die Studenten zum Ende des Stu- gehört ja letztlich auch zu ihrem Studium. wurde in die Ranking-Tabelle aufgenom- beim Indikator Forschungsgelder.
BERUF
Die Serie (3): CHANCEN
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Wir stellen acht Berufe E
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vor, in denen die Chancen U

81
für Ein- und Umsteiger C
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jetzt besonders gut sind T 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

DAS ZITAT

Werner Finck sagt:

Eine Konferenz ist


eine Sitzung, bei der
viele hineingehen und
wenig herauskommt

Der Coach erklärt:


Der natürliche Lebensraum des Vorgesetz-
ten ist der Sitzungssaal. Dort schart er sich
mehrmals täglich mit Artgenossen um einen
Tisch. Dabei kommt es zu Rangkämpfen,
wie man sie von Hirschen kennt; wer dem
anderen ins Gehege kommt, muss mit hefti-
gen Attacken rechnen. Solche Kämpfe wer-
den von Gleichrangigen ausgefochten, um
dem ranghöchsten Tier zu imponieren.

Foto: Thomas Bernhardt für DIE ZEIT/www.t-bernhardt.de


So – oder so ähnlich – könnte ein Ein-
trag im Tierlexikon über die Gattung Vor-
gesetzter und ihr Biotop beginnen. Aber
sind Sitzungen nicht wichtig, damit Proble-
me gelöst werden können? Wie der Kabaret-
tist Werner Finck sagt: Nein. Die einzige
Fähigkeit, die erwiesenermaßen zunimmt,
wenn man in großer Runde über Probleme
redet, ist die Fähigkeit, in großer Runde
über Probleme zu reden.
Eine Umfrage unter 800 Führungskräf-
ten im deutschsprachigen Raum ergab: Sie-
ben von zehn Teilnehmern halten Meetings
für schlecht vorbereitet. Sechs von zehn
Gut verdrahtet: sagen, Meetings verzögerten Arbeitsabläufe.
Isabelle Steinke im Und jeder Zweite sieht Verantwortlichkeiten
Kontrollraum nur unzureichend geklärt. Direkt nach der

Gesucht: Forscher
Umfrage, befürchte ich, sind die Chefs ins
nächste Meeting gehüpft; ein Drittel gab an,
jeden Tag drei bis vier Stunden zu konferie-
ren. Macht, aufs Berufsleben hochgerech-
net: schlappe 20 Jahre Meetings!
Woran kranken Meetings? Erstens: Es
Die Physikerin Isabelle Steinke versucht, Wolken zu manipulieren. Ob solche gibt zu viele davon! Wie wäre es, den Dialog
auch außerhalb des Sitzungsraums zu pfle-
Experimente den Klimawandel aufhalten können, bezweifelt sie aber VON MISCHA DRAUTZ gen? Alltägliches lässt sich im Alltag klären,
es muss nicht in eine Sitzung ausgelagert
werden. Wer öfter mal im Büro seiner Kol-
G

I
So kommt man hin: sabelle Steinke will forschen und nicht transportieren, erklärt Isabelle Steinke. Ob die Sie findet es spannend, interdisziplinär forschen zu legen vorbeischaut und sich abstimmt, fin-
Der Weg ins Berufsleben als For- E Gott spielen. Wenn sie Experimente durch- Partikel dann dort blieben, wisse allerdings noch können. Bis zum Vordiplom hat sie in Heidelberg det unkomplizierte Lösungen. Je weniger
scher beginnt mit der Doktorarbeit F führt, wirkt es aber übernatürlich. Dichter keiner. »Das Problem ist, dass wir noch weit da- neben ihrem Physikstudium auch Seminare in Volks- Meetings nötig sind, desto besser ist die
– am Lehrstuhl, an einem Forschungs- U Nebel steigt in dem riesigen Kühlschrank von entfernt sind, überhaupt zu verstehen, wie wirtschaft besucht und beim Rollenspiel »Model Uni- Organisation!
N
institut oder in einem Doktoranden- D auf, in dem Steinke Flüssigkeiten und Stof- eine Wolke funktioniert«, sagt Isabelle Steinke, ted Nations« in New York mitgemacht. Bei der Simu- Zweitens geht es bei Meetings oft nicht
programm an einer Graduierten- E fe vermischt. Die 26 Jahre alte Physikerin erzeugt »da ist es unabsehbar, was passiert, wenn wir an- lation der UN-Abläufe vertrat sie die klimapolitischen um die Sache, sondern nur um die Macht.
schule. Bei externen Promotionen N am Karlsruher Institut für Meteorologie und Kli- fangen, Wolken zu manipulieren.« Interessen Uruguays. Dadurch ist sie auch mit den Eine Abteilung marschiert gegen die andere
fehlt der persönliche Kontakt zur maforschung künstliche Wolken. Noch kritischer äußert sich ihr Betreuer am In- Denkweisen der Vertreter anderer Fächer vertraut. auf, ein Teilnehmer profiliert sich auf Kos-
Wissenschaft, der für den weiteren Die Chance, die manche dahinter vermuten: stitut. Thomas Leisner ist Professor der Umwelt- Später kann sich Steinke durchaus vorstellen, in ten des nächsten. Wer vor dem Meeting
Weg entscheidend ist. Wer Wolken beeinflussen kann, kann vielleicht auch physik an der Universität Heidelberg und Leiter des der freien Wirtschaft zu arbeiten – zum Beispiel bei ein Sachproblem hatte, ist danach einen
die Welt vor einer Klimakatastrophe retten. Climate Instituts für Meteorologie und Klimaforschung, einer Unternehmensberatung. »Was wir in der Wis- Schritt weiter – er hat zusätzlich ein Bezie-
So kommt man weiter: Engineering lautet das Schlagwort, das Steinke in Abteilung Atmosphärische Aerosolforschung. Schon senschaft vor allem lernen, ist logisches Denken. Und hungsproblem!
Die Stellen in der Wissenschaft sind ihrer Doktorarbeit beschäftigt. Kann man die Um- den Begriff Climate Engineering mag Leisner nicht. Leute, die das können, werden überall gebraucht«, Und drittens: Wenn schon Meetings,
spannend, aber dünn gesät: In welt manipulieren, um dem Klimawandel entgegen- »Das klingt, als könnten wir wie Ingenieure etwas sagt sie. Am liebsten würde sie aber doch an der Uni dann bitte auch mit denjenigen am Tisch,
Deutschland gibt es in etwa genau zuwirken? Und sollte man es tun, wenn man es gezielt konstruieren.« Doch mit technisch ver- weiterforschen: »Da ist die Freiheit einfach am größ- die von der Sache am meisten verstehen.
so viele Professorenstellen wie Pro- kann? Wer eine Weile im Karlsruher Institut ver- änderten Wolken würden die Probleme nicht enden, ten.« Einen Masterplan für den schwierigen Karriere- Wenn Manager über ein neues Einkaufs-
movierte pro Jahr. Nur gibt ein Pro- bringt, merkt schnell: Hier arbeiten Forscher, keine sondern anfangen: Der Eingriff ins Klima könnte weg in der Wissenschaft hat sie sich aber nicht system debattieren, ohne dass ein Einkäufer
fessor seine Stelle nicht nach einem Technikgläubigen. Isabelle Steinke und ihre Kolle- Regenzeiten durcheinanderwürfeln und neue Wet- zurechtgelegt. »Das muss man Schritt für Schritt an- dabei ist, verkommt der Meetingraum zur
Jahr bereits wieder frei. Mehr Chan- gen basteln nicht einfach Naturphänomene nach, terphänomene hervorrufen. »Was wäre, wenn auf gehen. Bei mir wäre das Nächste eine Postdoc-Stelle. Insel der Ahnungslosen. Das führt zu Fehl-
cen für Forscher bieten Unterneh- sie beschäftigen sich auch mit den Auswirkungen einmal ein Wirbelsturm auf die USA zusteuert, Ansonsten darf man sich nicht verrückt machen«, entscheidungen. Und das macht Mitarbeiter
men. Dort kann man langfristig ihrer Ergebnisse. dann aber nach Mexiko abbiegt?« sagt Steinke. zu Trotzköpfen: Sie torpedieren diesen Be-
immer noch überlegen, ob man lie- Die Erde, da ist sich die Mehrheit der Wissen- In der Diskussion über Climate Engineering Der Himmel über Karlsruhe ist an diesem Tag schluss im Alltag, bis er gescheitert ist. Wo-
ber eine Fach- oder eine Manage- schaftler heute einig, wird sich auf Dauer zu stark geht es also nicht nur darum, was technisch möglich wolkenlos blau. »Na ja, zum Grillen finde ich mit ein neues Problem entstanden ist. Zeit
mentkarriere einschlagen möchte. erwärmen, mit ungewissen Folgen für ihre Be- ist, sondern auch darum, welche politischen und das schon okay«, sagt die junge Forscherin und fürs nächste Meeting! MARTIN WEHRLE
wohner. Um das zu verhindern, werden verschie- rechtlichen Konsequenzen es hat. Was passiert, schaut schnell wieder auf ihren Computermonitor.
Das muss man mitbringen: dene Maßnahmen angedacht. Eine Möglichkeit wenn eine »Koalition der Willigen« Climate Engi- Ihr Desktop-Hintergrund: Wolken. Technisch un- Unser Autor ist Coach. Sein neues Buch heißt
Einen langen Atem. Nicht nur, weil wäre, weniger Sonne auf die Erde gelangen zu las- neering betreibt? Wie steht es mit der Verantwort- veränderte allerdings. »Ich arbeite in einem Irrenhaus« (Econ)
Ergebnisse oft auf sich warten las- sen, etwa indem man Wolken als Sonnenschirm barkeit? Bisher gibt es viele Fragen, wenige Ant-
sen. Sondern auch, weil es an den benutzt. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieses worten. Daher sind die Karlsruher Umweltphysiker
Hochschulen dauert, bis man in Ansatzes werden in Karlsruhe erforscht, weil das auch integriert in das interdisziplinäre Projekt
eine lukrative Position gelangt. Auch Institut Aida besitzt. Aida heißt der überdimensio- Global Governance of Climate Engineering an der
Neugier und Eigenmotivation sind nale Kühlschrank, der künstliche Wolken erzeugt Universität Heidelberg. »Wir müssen aus allen Be-
gefragt. – die Abkürzung steht für Aerosol-Interaktion und reichen die wichtigen Punkte zusammenstellen,
Dynamik in der Atmosphäre. damit am Ende die Gesellschaft eine Entscheidung
Das bekommt man: »Wolken sind eine wichtige Komponente im treffen kann«, sagt Isabelle Steinke.
Man kann den Fragen nachgehen, Klimageschehen«, sagt Steinke. Sie testet, wie Sebastian Harnisch, Politikwissenschaftler und
die einen interessieren. Zudem er- Wolken auf verschiedene Aerosole reagieren. Sprecher des Projekts, denkt an eine solche Ge-
hält man im Gegensatz zu den meis- Aerosole sind feinste Partikelchen, etwa ein Tau- sellschaftsentscheidung mit Sorge. Politische
ten Berufstätigen ein hohes Maß an sendstel Millimeter groß. Das können Wüsten- Maßnahmen, um den CO₂-Ausstoß zu verrin-
Freiheit in der Arbeitsgestaltung. staub, Vulkanasche oder Salzwasserpartikel sein. gern wie beispielsweise ein Tempolimit auf Auto-
Auch der internationale Austausch Sicher ist: Mehr Aerosole machen die Wolke bahnen seien unpopulär. Da Demokratien selten
auf Konferenzen in aller Welt ge- heller und dichter. Je weißer die Wolken, desto zu nachhaltiger Politik fähig seien, wächst Har-
hört zum Forscheralltag. Auf einer mehr Licht wird zurückreflektiert und gelangt nisch zufolge aber die Gefahr, auf Climate-Engi-
Postdoc-Stelle an der Uni verdienen gar nicht erst auf die Erde. neering-Aktionen angewiesen zu sein. Während
promovierte Wissenschaftler mo- Um Aida herum stehen Behälter, die wie rie- sich die führenden deutschen Wissenschaftler
natlich rund 3300 Euro brutto. In sige Feuerlöscher aussehen. Grüne, schwarze, recht skeptisch äußern und die Politiker in Berlin
der freien Wirtschaft verdienen For- braune, gefüllt mit verschiedenen chemischen bei dem Thema noch in Deckung bleiben, gibt
scher etwa ein Fünftel mehr. Stoffen. Die Kühlung dröhnt fast so laut wie ein es anderswo durchaus Anhänger. »Alle, die von
startendes Flugzeug. Zweimal im Jahr darf Isa- Erdöl profitieren, haben kein Interesse, den CO₂-
Das wird spannend: belle Steinke für etwa vier Wochen Aida für ihre Ausstoß zu verringern«, sagt Harnisch.
Hitzige Fachdiskussionen mit Kol- Versuche in Anspruch nehmen. »In den Tagen, Zudem setzen viele Akademiker in den USA
legen können nervenaufreibend bevor das losgeht, schlafe ich unruhig«, sagt die auf Climate Engineering. Sie gehen davon aus,
sein, treiben einen aber auch an, Physikerin. Aber genau wegen Aida hat sie sich dass niemals ein Klimaabkommen zustande
seine Position zu schärfen. auf die Doktorandenstelle am Institut beworben; kommt, das den CO₂-Ausstoß nachhaltig ver-
sie wollte experimentell arbeiten. Den Rest des ringert. Sie halten Climate Engineering vielleicht
Das wird schwierig: Jahres verbringt sie mit dem Interpretieren der für keine gute, aber für die in der Realität best-
Wer ganz auf die Uni-Karriere setzt, Flut von Messdaten, die sie gewonnen hat. »Da mögliche Maßnahme; eine Haltung, die Thomas
muss nicht nur sehr gut sein, son- muss man schon hartnäckig sein, weil es einfach Leisner kritisiert: »Mit so einer Einstellung gibt
dern braucht auch Glück. Denn wer lange dauert, bis man als Forscher wirkliche Re- man Klimaverhandlungen schon im Vorfeld auf.
den Sprung auf die Professur nicht sultate erzielt«, sagt sie. Umso wichtiger sei es, Es muss allen klargemacht werden, dass nur eine
schafft, hat wenig Chancen, lang- Spaß am Forschungsgegenstand zu haben – und Reduktion des CO₂-Ausstoßes hilft.« Isabelle
fristig an der Uni zu forschen, weil den hat sie. »Mich fasziniert, dass Wolken so all- Steinke sieht das ähnlich: »Alles andere sind nur
unterhalb der Professorenebene täglich und doch so kompliziert sind.« Möglichkeiten, die man sich offenhalten sollte.
kaum passende Stellen vorhanden Um echte Wolken zu verdichten, müsste man Und für die wir noch Grundlagenforschung be-
sind. die Aerosole mit Flugkörpern in die Atmosphäre treiben müssen.«
ZEIT DER LESER S.96

LESERBRIEFE 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 95

AKTUELL ZUR ZEIT NR. 19


Aus No:

Entsetzlich
Titelthema:
Der Fluch des Bösen
18
28. April 2011

Die einzig kluge politische Entscheidung


nach der Exekution eines bereits schwer-
kranken Menschen besteht darin, diese
Bilder nicht zu veröffentlichen.
Annette Hund, Berlin

Alttestamentarisch, in weit vorchristlicher


Laxe Moral
Zeit, hätte man die Ermordung Osama K. Bund, G. Hamann und
bin Ladens vermutlich als gerecht empfun- W. Uchatius:
den. Dass aber der heutige amerikanische
Präsident, examinierter Jurist, zudem mit »Der Raubüberfall« ZEIT NR. 18
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet,
Zum Titelthema »Verzettle dich nicht!«, ZEIT Nr. 18
solch einen unwiderruflichen Akt der Wie treffend beschrieben, hat Steuer-
Selbstjustiz lobpreist: »Der Gerechtigkeit zahlen keine Lobby, und das Finanzamt
wurde Genüge getan«, entsetzt mich. repräsentiert das Böse – und ist auch
Eva Matern-Scherner, Hösseringen

Die Terrororganisation al-Qaida oder die


Schuld und angemessene Strafe noch ungerecht. Nicht erwähnt wird,
dass die meisten Steuerklagen aus for-
mellen Gründen gewonnen werden:
afghanischen Taliban feiern ihre Symbol- Dagmar Rosenfeld: »Täter aus gutem Haus« ZEIT NR. 18
Die Steuergesetze sind handwerklich so
figur als Märtyrer. Vergeltung für den schlecht, dass das Gericht nicht in der
Tod von Osama bin Laden wird es irgend- Sache gegen das Finanzamt entscheidet,
wo auf diesem Globus bestimmt geben. Die Unschuldsvermutung ist keine psy- geben, und auch deshalb ist die vermute- angenommen. So fragt zum Beispiel der Jahrtausenden. Der Wunsch, selbst rich- sondern weil die Handlungsgrundlage
Solange die USA als letzte verbliebene chologische Einschränkung des Tatver- te Schuld (der Verdacht also) zwar Voraus- Richter: »Wissen Sie denn nicht, dass man tig zu handeln, spannt die Falle der Selbst- für das Finanzamt nicht belastbar ist.
Weltmacht auf diesem Globus den Welt- dachts, durch welche Tatverdacht und setzung, nie aber alleinige Rechtfertigung einen Menschen nicht grundlos nieder- gerechtigkeit. Den Durchbruch einer Der Artikel legt den Finger in eine
Sheriff spielen und nach Belieben Krieg Unschuldsvermutung sich aufheben wür- von Untersuchungshaft. schlagen darf? Haben Sie etwa keine Vor- neuen Sicht werden die meisten in ihrer Wunde unserer Gesellschaft.
gegen Staaten führen, bleibt der Wunsch den. Vielmehr ist sie eine Lehre aus der Wir werden die im Einzelfall nicht immer stellung davon, dass heftige Tritte gegen Dienstzeit nicht mehr erleben. Das ver- Axel Felsch, Hamburg
nach einer friedlichen Welt ohne Terro- Erkenntnis, dass mit jedem Tatverdacht befriedigenden Folgen der Unschuldsver- den Kopf eines Menschen zu dessen Tod stellt den Blick auf die Notwendigkeit
rismus ein Traum. eine Schuldvermutung verbunden ist. mutung weiter ertragen müssen. Dies ist führen kann?« – »Doch!«, sagt der Ange- neuer Reaktionen auf Unrecht. Es fehlt noch etwas: Arbeitgeber, vor-
Albert Alten, Wernigerode Diese unterstellte Schuld ist immer in Ge- kein zu hoher Preis für eine Rechtsord- klagte. Man will ja nicht blöd sein oder Hans H. Paehler, per E-Mail wiegend Baufirmen in West und Ost,
fahr, sich nach Art einer selbst erfüllenden nung, bei dem die Freiheit des Einzelnen jedenfalls nicht als solcher behandelt Richter am Amtsgericht i. R. beschäftigen Leute nur auf 400-Euro-
Traurig, wie ach so bibelfeste Amerikaner Prophezeiung selbst zu bestätigen. auch im Strafprozess Maß und Maßstab werden. Tatsächlich hat – wie die Erfah- Basis, die restliche Zeit arbeiten sie
auf den Straßen tanzen und feiern, als Die Unschuldsvermutung gebietet dem- bleibt. rung lehrt – der Täter sich bei der Tat Ich bin froh, dass die Täter keine Aus- schwarz gegen Cash. Das Arbeitsamt
ginge es um einen Sportevent. Das wird gegenüber eine Offenheit des Strafver- Jens-Christian Pastille, Berlin/Riga nichts gedacht, allenfalls »Scheiße!«, als länder waren, sondern einer der Täter nur stockt das Einkommen noch auf. Wer
dann von manchen konservativen Politi- fahrens, die bis zum Urteil Schuld und Rechtsanwalt Zusammenfassung seines bisherigen Le- der Sohn eines Rechtsanwaltes war. Denn zahlt das letztendlich? Der Steuerzahler!
kern und Medienvertretern bei uns ver- Nichtschuld in gleicher Weise einkalku- bens. Aus diesem Dissens entsteht zwangs- als Ausländer wäre wohl die U-Haft un- Zu wenige Razzien und zu niedrige
teidigt, die sonst ständig die Verrohung liert. Dies schützt nicht nur einen tatsäch- Immer wieder prallen das Sicherheits- läufig das Missverständnis, der Täter habe umgänglich gewesen und wären dem Strafen für die Arbeitgeber!
der Gesellschaft anmahnen. lich zu Unrecht verdächtigten Bürger. bedürfnis der Bevölkerung und das von Tathergang und Folgen voll im Griff ge- Steuerzahler die Kosten auferlegt worden. Christel Fichtner
Markus Meister, Berlin Denn unser Strafverfahren will auch die der Justiz hochgehaltene Rechtsstaats- habt und könne Ähnliches künftig ver- Das bleibt uns erspart. Und da können Sandersdorf
innere Seite eines Verbrechens ermitteln; prinzip aufeinander. Immer häufiger gibt meiden. Über Rückfälle wundert man gesetzestreue Bürger es sicherlich nur gut
es fragt, wie schuldig sich ein Mensch es ernsthaften Dissens. sich dann. finden, wenn man jemanden, der einfach An der laxen Steuermoral in Deutsch-
gemacht hat, um so eine angemessene Hirnforscher und Psychologen lehren uns, Wieso lernen dann Juristen nicht dazu? nur »Streit gesucht hat«, wenigstens erst land wird sich nicht viel ändern, wenn

»So jemalt« Strafe zu begründen. Kein noch so grau-


sames Video kann hier alleine Antwort
dass in Hirn und Herz des Übeltäters ganz
andere Abläufe stattfinden als gemeinhin
Psychologie und Hirnforschung gibt es
seit einigen Jahrzehnten, gestraft wird seit
mal Haftverschonung gewährt.
Ralf Hirnrabe, Giebelstadt
zwei Grundübel bestehen bleiben:
Erstens die verworrenen Steuergesetze
mit zig Ausnahmen, Sonderregelungen
Manfred Schwarz: »Der voll- und so weiter. zweitens die Verschwen-
kommene Bourgeois« NR. 18 dung von Steuergeldern, nachzulesen
in Berichten des Steuerzahlerbundes

Die Bilder des im Alter von nur 51 Jah-


Sie sind wie wir Wie Grausamkeit entsteht und des Rechnungshofes.
Brigitte Hoff, per E-Mail
ren gestorbenen Edouard Manet aus- Pro und Contra: »Soll der Westen den Krieg verschärfen?« NR. 18 Interview mit Terry Eagleton: »Höllische Freude« ZEIT NR. 18
gerechnet gegen das Spätwerk Lieber-
manns auszuspielen, der mit 75 Jahren
die Ermordung seines Vetters Walther Dass es in Libyen nur um die Macht des Der Libyen-Krieg beweist wieder ein- Eagletons Antwort auf die Frage nach nachweist, dass Grausamkeit, kulminie-
Rathenau und mit 86 den Fackelzug zur
»Machtergreifung« Adolf Hitlers mit-
Westens geht, ist eine grobe Verein-
fachung, die verkennt, dass diese In-
mal die Doppelmoral der Nato-Mit-
gliedstaaten. Aus den Kriegen um Öl
den Ursachen, die einen Menschen
zum Mörder machen könnten, erstaunt
rend in völkermordenden Diktaturen,
sich bevorzugt in Gesellschaften ent-
Verschönt
erleben musste, ist aberwitzig und tervention gerade nicht in einer Linie und gegen al Qaida, Saddam Hussein ein wenig. Man wisse hierüber viel zu wickelt, die die emotionalen Bedürf- Prominent ignoriert: »Kurz
geschichtsblind. Liebermann hat in jün- mit dem Afghanistan- oder Irakkrieg und die Taliban wurde rein gar nichts wenig. Es gibt durchaus wissenschaft- nisse, insbesondere der jüngsten Kinder, behoste Männer« ZEIT NR. 18
geren Jahren dem Durchbruch der Mo- steht, sondern eine neue Dimension gelernt. Wie Saddam Hussein so wurde liche Ergebnisse, die Evidenz liefern gravierend vernachlässigen. Ermutigend
derne auf die Sprünge geholfen. Über hat. In Afghanistan und im Irak ging es auch Muammar al-Gadhafi jahrelang können. ist hierbei, dass die Psychohistorie über
die Zeit seiner »inneren Emigration. In darum, reale oder fiktive terroristische vom Westen hofiert und mit moderns- Insbesondere stehen hier Erfahrungen den Verlauf der letzten Jahrhunderte, Hölderlins Beitrag zur Weltliteratur in
seinem Garten«, wie Manfred Schwarz Bedrohungen in einem feindlichen ten Waffensystemen ausgestattet. Müs- aus der Kindheit im Fokus. So ist mitt- trotz zeitweiliger Rückschläge, eine ins- allen Ehren – wieso man sich im 21.
schreibt, schrieb der 87-jährige Lieber- Kulturraum zu bekämpfen. In Libyen sen wir uns da wundern, wenn jetzt die lerweile überzeugend nachgewiesen, dass gesamt positive zivilisatorische Entwick- Jahrhundert von einem Hypochonder,
mann 1934 selbst: »Ich lebe nur noch jedoch engagiert sich der Westen, weil Rebellen in Libyen gegen Gadhafi allein aggressives Verhalten zwischen Genera- lung nachweist. der höchstwahrscheinlich einen großen
aus Hass. Ich schaue nicht mehr aus er sich schlagartig bewusst geworden ist, nichts ausrichten können? Mit Luft- tionen sozial tradiert wird. Wer als Kind Dr. Rainer Böhm, Bielefeld Teil seines Lebens in engen Kniebund-
dem Fenster ... – ich will die neue Welt dass die Menschen im Maghreb nicht angriffen kann die Nato Gadhafi auch Gewalt erfährt, wird als Erwachsener hosen zugebracht hat, vorschreiben las-
um mich herum nicht sehen.« zu einer uns völlig unverständlichen Kul- nicht wirklich besiegen. häufiger selbst gewalttätig. Eine sichere, sen soll, dass nur Frauen schön zu sein
Und noch ganz nebenbei sei in Abwand- tur gehören, sondern genauso sind wie Wäre es nicht besser gewesen, Obama haltgebende und nachhaltig stressredu- Ihre Zuschriften erreichen uns am haben, bleibt unerklärt.
lung des berühmten Liebermann-Satzes wir – nur ärmer und schlechter regiert! und seine Verbündeten hätten sich statt- zierende Bindung im frühen Kindesalter schnellsten unter der Mail-Adresse: In konsequenter Folge werden wir hof-
über einen angeblich zu langen Arm auf Ein Rückzug aus Libyen, der die be- dessen für einen UN-Beschluss stark fördert die Entwicklung des präfronta- leserbriefe@zeit.de fentlich demnächst Beiträge über die
einem Bild Cézannes zu seinen angeb- freiten Gebiete dort schlagartig sich gemacht, der es unter Androhung von len Kortex, der wesentlich für Impuls- Unschicklichkeit von Hosen und Er-
lich spießigen Blumenbildern angemerkt: selbst überließe, würde dieses neue drastischen Strafen jedem Staat auf der kontrolle, Empathie und moralisches werbsarbeit für Frauen sowie die Vor-
Wenn sie so jemalt sind, können es jar Gefühl der Ähnlichkeit untergraben Erde grundsätzlich verbietet, Kriegs- Empfinden verantwortlich zeichnet. Beilagenhinweis züge von Eiswasser und Kernseife
nicht jenug sein. und den Boden für einen »Kampf der waffen an Diktaturen, Diktatoren und Diese Erkenntnisse fügen sich auch sehr Die heutige Ausgabe enthält in einer gegenüber Deo und Bodylotion für
Peter Christian Hall Kulturen« bereiten. in Krisengebiete zu liefern? gut in den Rahmen der psychohistori- Teilauflage Prospekte der Verlags- Männer finden.
Frankfurt am Main Dr. Dirk Kerber, Darmstadt Roland Klose, Bad Fredeburg schen Forschung, die überzeugend gruppe NEWS GmbH, A-1020 Wien Florian Dietrich, Berlin
Leserbriefe siehe Seite 95
12. Monat 2011
DIE ZEIT No 20 96

2009 2010
Liebe ZEIT-Leserinnen
Was mein
LEBEN
und -Leser, lange gab

Zeitsprung
es auf dieser Seite jede
Woche die Rubrik
»Das regt mich auf«, reicher macht
und oft haben sich Es ist unser 48. Hochzeitstag. Mein
spannende Debatten Mann mäht den Rasen. Am Abend
sehe ich, dass er ein riesengroßes
aus Ihren Beiträgen Rasenherz hat stehen lassen.
entwickelt. Wenn die Gerlinde Benz, Baltmannsweiler

Weltreise von Sabine An einem leicht bewölkten Tag in


ein kleines Segelflugzeug steigen
Kröner demnächst zu und mit dem Windenseil auf 400
Ende geht, könnten Meter Höhe gezogen werden.
Seit Jahren verbringen wir unseren Sommerurlaub gen, die uns auffallen und die das Immer-Wieder- mehr zu lesen. Doch vergangenen Sommer glänzte Dann unter den Wolken von Kiel
wir »Das regt mich auf der Insel Rügen. Jedes Jahr kommen ein paar kommen interessant machen. So war im Sommer es mit einem neuen Anstrich. bis zur Elbe segeln und sich an
auf« fortsetzen. Sollen neue Ferienunterkünfte und Touristenattraktionen 2009 dieses Holzschild, das im Hafen von Sassnitz unserer wunderbaren Landschaft
hinzu, aber es sind auch die kleinen Veränderun- den Liegeplatz eines Schiffes markierte, kaum Carola Bührmann, Oldenburg nicht sattsehen können. Über der
wir? Oder wollen Sie Elbmündung kreisen – gemeinsam
gar nicht wissen, was mit einem Seeadler.
Wolfgang Dasch,
andere Leser aufregt? Rumohr, Schleswig-Holstein
Oder gibt es Ärgerli- SCHÖNE GRÜSSE
ches, von dem Sie uns EIN GEDICHT! Ich komme aus dem Laden, be-
steige mein Fahrrad. Die Sonne hat
gleich erzählen möch- Klassische Lyrik, neu verfasst Lieber Herr Röttgen, den schwarzen Sattel für mich be-
heizt.
ten? Schreiben Sie an Hella Maas, Osnabrück
leser@zeit.de! Wir sind als Bundesumweltminister wissen Sie bestimmt, dass in Ita- Das Foto unserer süßen Tochter
gespannt. WL
Buch und Bach lien die Ausgabe von Plastiktüten in Supermärkten und Caroline. Sie steht im Garten und
ds

anderen Geschäften verboten wurde. Und es funktioniert hat einen frisch gepflückten Apfel
H il g e m a n n / D a vi

(nach J. W. v. Goethe, »Willkommen und Abschied«)


tatsächlich, ich habe es selbst gesehen: 28 besetzte Kassen in der Hand. Das Foto wurde im
in einem einzigen Supermarkt, und jeder Kunde hatte August 2009 aufgenommen, da
eine Einkaufstasche dabei. Plastik gefährdet die mensch- war Caroline 20 Monate alt. Am
Es schlug mein Herz, geschwind zum Buche! liche Gesundheit (Bisphenol A und Weichmacher!) und Samstag, dem 19. September 2009
to:

Mein
Fo

verursacht gewaltige ökologische Probleme: So landen haben wir uns zuletzt gesehen.
Ich las Gedichte in der Nacht; nach vorsichtigen Schätzungen jährlich mindestens 7000 Walther Weih,
Wort-Schatz Fand Silben, Reime, die ich suchte –
Tonnen unverwüstliches Plastik im Meer. Im Nordatlantik
sollen unvorstellbare 100 000 Tonnen Plastik in einem einzigen
zzt. JVA Bielefeld-Brackwede

Riesenstrudel treiben. Zugegeben, lieber Herr Röttgen, die Energiepolitik ist knifflig. Mein Mann und ich haben vor ei-
Im Grunde ist mein Wort-Schatz und deiner hab ich auch gedacht. Aber das mit dem Plastiktütenverbot wäre doch ganz einfach, oder? niger Zeit begonnen, jeder ein In-
ein Schimpfwort, aber da er so Christian Voll, Passau strument zu erlernen: er E-Gitarre,
herrlich altmodisch ist, würde ich ich Saxofon. Mittlerweile können
sogar sagen, er klingt ein bisschen wir schon einen kleinen Blues zu-
vornehm. Wenn ich über etwas sammen spielen. Welch ein schönes
erstaunt bin und darüber, was mir
jemand zumutet, auch ein wenig Du schliefst. Und Mondessternenstrahlen,
Wiedergefunden: Gefühl, selbst Musik zu machen!
Ja, und auch, mit 40 Jahren noch
befremdet bis ärgerlich: Was steht
mir zur Verfügung? »Ach du Die rasteten auf deiner Haut. Ein Dokument der Armut einmal Schüler zu sein.
Martina Hömann,
Sch ...!«, nein, das gebrauche ich Bisingen-Wessingen
nie. »Mein lieber Schwan!«? Nein, Sah deine Freude, deine Qualen, Für das Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen ar-
zu sehr Lohengrin. Viele sagen oder beite ich an einer Dokumentation über die Wieder den vertrauten Dialekt
schreiben gar »Weia!« – im Grunde Das Fremde und was mir vertraut. Auswanderung nach Nord- und Südamerika meiner Kinder- und Jugendjahre
auch Wagner: »Wagala weia, woge, im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei fiel mir ein zu sprechen und zu hören, wenn
du Welle«. Also: nein! Oder: Foto aus Argentinien aus dem Jahr 1934 in die ich – ich lebe seit über 40 Jahren in
»Mann, ej!« oder »Menno!«? Nee! Hände, das mir richtig zu Herzen ging. Die Norddeutschland – einen Besuch
Da ich ein freundlicher und lang- Inflationsjahre in Deutschland um 1923 hatten in meiner alten Heimat Württem-
mütiger Mensch bin oder zumin- Die Morgenröte ließ mich ruhen. viele, meist junge Menschen zur Auswanderung berg mache.
dest so tue, will ich den Gesprächs- genötigt. In Amerika aber ging es vielen von Eberhard Leibbrand, Plön
partner nicht gleich selber ärgern. ihnen schlechter als in der alten deutschen Hei-
Und so passt mir ein Wort am
Du wecktest mich mit Radio-Bach. mat, wie sich in Briefen und Dokumenten Morgens vor dem ersten Wecker-
besten, das das Gegenüber über- erkennen lässt. So tragen die Kinder auf dem klingeln im Halbschlaf das gleich-
rascht und die Zumutung gleich Der Tag begann in unsren Schuhen. Bild Kleider und Schuhe, die ihnen Verwand- mäßige Atmen von drei Personen
ein wenig entschärft, wie ich meine: te aus Deutschland geschickt haben. Für den zu hören. Und so festzustellen, dass
»Schockschwerenot!« »Was ist?« – Ich sagte leise: »Ach!« kleinen Buben links aber waren wohl keine unsere beiden Buben (4 und 2) im
Ich hörte das, wenn ich mich recht Schuhe dabei gewesen. So kaschierte man die Verlauf der Nacht zu uns ins Bett
erinnere, erstmals in Cyrano de Ber- Armut einfach mit einem Häufchen Laub. geschlüpft sind.
gerac (einer der jungen Soldaten Gabriele Herbst, Magdeburg Christa Lieb, Ludwigsburg Raimund Nieß,
wagt es, über die große Nase des Heidenheim a. d. Brenz
Titelhelden zu sprechen, worauf
dieser es ausruft). Unser Auto ist krank, seit zwei
Ich habe mit diesem Wort immer Wochen, der Fehler unauffindbar.
Eine kleine Weltreise ...
AL

den erwünschten Erfolg: Der, der Also machen wir alles mit dem Fahr-
LT

Die Kritzelei der Woche


AG

mich ärgert oder ärgern wollte, ist rad, auch den Einkauf. Mit dem
SK

erst mal baff. Ich bekam sogar mal uralten Anhänger aus Kleinkinder-
U
N

das Kompliment, ich sei der einzige tagen. Alles braucht viel mehr Zeit.
ST

... aus traurigem Anlass« unternimmt Sabine Kröner, 55: Nach


Mensch im Bekanntenkreis, der dem Tod ihres Mannes im vergangenen Jahr wollte sie durch neue
Und plötzlich scheint es, als hätten
dieses Wort verwende. Eindrücke Abstand gewinnen. Von Buenos Aires aus ist sie per wir viel davon: Zeit!
»Schockschwerenot« ist übrigens Schiff um die Südspitze Amerikas und durch die Südsee gefahren, Wilfried Ludwigs, Niederzier
präzise. Das Wort bezeichnet doch dann kam sie über Australien, Indonesien, Singapur und My-
genau das, was man angesichts ei- anmar auf die zu Indien gehörenden Andamanen-Inseln. Über In- Das erste Mal nach einem langen
ner überraschenden Zumutung dien, die arabische Halbinsel und durch den Suezkanal wird die Winter und Winterschlaf mit
empfindet: erst einen Schock, dann Reise weitergehen – bis nach Venedig. meiner Schildkröte durch den
eine schwere Not bei der Suche Garten zu laufen, mich gemeinsam
nach der angemessenen Reaktion. Nach einem erlebnisreichen Tag auf den Andamanen habe ich mit ihr zu sonnen und das Gras
meinen Geburtstag an Bord gefeiert, irgendwo im Golf von unter den Füßen zu spüren.
Jürgen Hartmann, Stuttgart Bengalen. Am Vorabend war ich bis Mitternacht wach geblieben Nina Lenz, Mühlacker
und hatte das Pooldeck für mich alleine. Schaute in den sternen-
klaren Himmel. Das Kreuz des Südens suchte ich und erspäh- Mit meinen Freunden Marco,
te es auch endlich über dem Heck. Viele Erinnerungen stiegen Christian, Holger und Michel
in mir hoch. Mein Mann kannte sich in der Astronomie sehr viermal im Jahr mit unseren Moun-
gut aus und hat mir auf unseren Reisen immer den Sternen- tainbikes durch den Pfälzer Wald
himmel erklärt. Mars und Jupiter wollte ich noch finden, doch zu schießen. Natur, Lachen und
Schicken Sie Ihre Beiträge für alleine musste ich resignieren. Freude pur!
»Die ZEIT der Leser« bitte an: Beim Frühstück erwarteten mich schon die ersten Gratulanten Jochen Ruthardt,
mit Gesang und Orchideen. Noch nie habe ich am Geburtstag Lauda-Königshofen
so viele Hände geschüttelt und so viele Küsschen erhalten. »Zu-
leser@zeit.de friedenheit«, das war es, was mir die meisten wünschten. Sekt Freitagmorgens, pünktlich um
oder an gab es den ganzen Tag, und beim Dartsturnier spielten wir um zehn. Ich treffe mich mit meiner
Redaktion DIE ZEIT, mein Alter. (Ich habe gewonnen.) Mutter, 89, im Café. Zuerst tau-
»Die ZEIT der Leser«, Zum Abendessen habe ich sieben Menschen, die mir besonders schen wir die ZEIT. Mutter be-
20079 Hamburg
ans Herz gewachsen sind, an meinen speziell dekorierten Tisch kommt die erste Hälfte der aktu-
Die Redaktion behält sich die geladen. Mit Ansprachen, Gedicht, Massagegutschein und ellen Ausgabe, ich bekomme die
Auswahl, eine Kürzung und die Champagner aus Heidelberg werde ich beschenkt. Die wunder- zweite Hälfte der Vorwoche zu-
übliche redaktionelle Bearbeitung bare Katharina hat mir eine E-Mail geschickt, die ich zum all- rück. (Im Laufe der Woche wer-
der Beiträge vor. Mit der Ein- gemeinen Amüsement verlese. Wolfgang spielt meine Wunsch- Meiner zwölfjährigen Enkelin Jule hebe ich regelmäßig die ZEIT-Kinderseite auf und den wir dann auch die andere
sendung eines Beitrags erklären melodien, sogar Gianna Nannini. Unsere Stimmung wird kaufe ihr die KinderZEIT-Hefte. Nachdem ich Jule auf die Kritzelei der Woche aufmerk- Hälfte tauschen.) Wir trinken
Sie sich damit einverstanden, dass immer ausgelassener. Nach einem weiteren Tanz um den Pool sam machte, schenkte sie mir zum Geburtstag diese Zeichnung, über die ich mich sehr Cappuccino mit viel Sahne und
der Beitrag in der ZEIT, im Internet – diesmal ist es ein Cha-Cha-Cha – sinke ich glücklich in mei- gefreut habe. Als sie mir allerdings gestand, sie hauptsächlich während der Unterrichts- reden über die Familie und den
unter www.zeit.de/zeit-der-leser ne Federn. Eine Party mit so wenig Arbeit und so viel Personal stunden gezeichnet zu haben, war ich kurz ratlos. Ich habe sie trotzdem gelobt. Rest der Welt. Ich möchte die
und auch in einem ZEIT-der-Leser-
Buch (Sammlung von Leserbei-
hatte ich noch nie. Merci! Zeit anhalten.
trägen) veröffentlicht werden kann Susanne Lange, Ulm Angelika Kratz, Geldern
Sabine Kröner, zzt. 6° 13’ Nord, 82° 22’ Ost
PREIS ÖSTERREICH 4,10 €
DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Moralweltmeister

Die Angst
Deutschland

vor
Gunter Sachs zog daraus die
extremste Konsequenz und nahm
Fukushima, Libyen,
die Tötung Osama bin
Ladens: Die Deutschen
wissen es immer besser.
Gutmenschen nerven,
findet Josef Joffe. Sie sind
sich das Leben. Was Hoffnung nötiger denn je, antwortet
Katrin Göring-Eckardt
macht: Mediziner zeichnen längst
Politik Seite 2–4
ein positiveres Bild vom Umgang mit Feuilleton Seite 49
der Krankheit und den Patienten
Illustration: Smetek für DIE ZEIT

WISSEN SEITE 37–40

Die Entzweiung

Schluss mit luftig Es grünt im Klub Einst ein verschworenes


Duo, heute Erzfeinde:
Hans-Peter Martin wird
von seinem Protegé an
Die EU hat alles versucht, um Griechenland aus der Krise zu helfen. Mit der Wahl Winfried Kretschmanns zum Ministerpräsidenten den Pranger gestellt
Jetzt hilft nur noch ein Schuldenschnitt VON UWE JEAN HEUSER etabliert sich die dritte deutsche Volkspartei VON GIOVANNI DI LORENZO Politik Seite 12

D A
er Fall Griechenland zerrt an Finnland – bis die europafeindlichen Rechts- uch wenn man die Grünen nie sie für die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte ZEIT ONLINE
Europa wie kein Problem zuvor. populisten im April fast 20 Prozent der Stimmen gewählt hat, jetzt kann man ihnen tatsächlich gewesen sind: eine große Erfolgs-
Doch das heißt nicht, dass sich holten. In Deutschland spielen FDP-Politiker nur Glück wünschen. Am Don- geschichte, jede Volkspartei für sich eine kleine Bienen am Schaalsee. Wellen
der Kontinent ins Weiter-so mit dem europäischen Feuer und torpedieren die nerstag wird die erste Landes- Koalition, bestrebt, möglichst viele Menschen am sardischen Strand. Kleine
flüchten darf. Er muss sich deutsche Beteiligung am Rettungsfonds. Die regierung in Deutschland unter mitzunehmen, statt Standesinteressen oder Be- Augenblicke, die verzaubern
öffnen für etwas Unerhörtes: Mehrheit haben sie nicht einmal in ihrer Partei Führung eines grünen Minister- rufsgruppen zu vertreten.
eine unerprobte Lösung mit ungewissen Folgen. hinter sich, wohl aber die Stimmung. Und wenn präsidenten vereidigt, und es steht dabei mehr Das alles haben die Grünen nahezu geschafft, Eine neue Videoserie unter
www.zeit.de/video-momente
Aus Berliner Sicht sieht jede Antwort zunächst auch Spiegel Online gerade mit der Meldung auf dem Spiel als der Erfolg einer grün-roten Ko- und darin liegt eine Chance: In einer Zeit, in
einmal gleich unattraktiv aus. Ob man Hellas überzog, die Griechen überlegten, aus dem Euro alition in Baden-Württemberg, die für sich schon der die Zersplitterung der politischen Land-
aufs Neue rettet oder umschuldet, man macht auszutreten: Selbst dort, im Land, in das so viel eine historische Zäsur in der Parteiengeschichte schaft in lauter Klientelparteien befürchtet wird, PROMINENT IGNORIERT
sich unbeliebt. Geld fließt, wächst die Lust auf einen Befreiungs- ist. Es geht auch um die Hoffnung auf politische könnte eine dritte Volkspartei entstehen – voraus-
»Retten« ist ein hübsches Wort, aber die Deut- schlag, so desaströs seine Folgen wären. Erneuerung in Deutschland und um die grund- gesetzt, die SPD, die zweite Volkspartei, bleibt
schen können es nicht mehr hören. Es kostet nur Jeder verfolgt eigene Interessen im Spiel um legende Frage, ob und in welcher Form Volks- auch eine.
wieder Milliarden, und trotzdem beschimpft die Zukunft des Euro. Der Rettungsfonds will parteien eine Zukunft haben. Die baden-württembergischen Sozialdemo-
Europa uns, weil wir – und was könnte uns im weiter retten, die EU dabei mitregieren. Sogar die Grün-Rot also – ein politischer Umsturz aus- kraten haben kaum mehr als 23 Prozent der
Ausland unbeliebter machen – Disziplin im Ge- Europäische Zentralbank ist Partei, seit sie gegen gerechnet in einem wohlhabenden Bundesland, Stimmen auf sich vereinen können, bei diesem
genzug für unser gutes Geld verlangen. den erklärten Willen des damaligen Bundesbank- das jahrzehntelang als Trutzburg von Parteien Ergebnis ist ein Kriterium der Volkspartei schon
»Umschulden«, die andere Möglichkeit, ist chefs Axel Weber die ersten Staatsanleihen kaufte. galt, die einst als bürgerlich bezeichnet wurden. nicht mehr erfüllt. Die Entscheidung Kretsch-
auch eine hässliche Sache, die im Englischen Käme es jetzt zum griechischen haircut, dann Man hat das als fällige Reaktion auf eine 58 Jahre manns, der SPD dennoch die Mehrzahl und die
haircut heißt. Dabei würden die Griechen einen würde ihre Bilanz besonders stark leiden. währende Herrschaft der CDU (mit zeitweiliger wichtigsten Ministerien der Landesregierung zu
Skandal auf Samoa
Teil ihrer Schulden einfach wegschneiden. Ver- Nein, Ruhe wird in keinem Fall eintreten, Hilfe der FDP) interpretiert. Als Ausdruck einer überlassen, ist ihm als Zeichen der Schwäche Dass der Inselstaat Samoa, bislang
gessen. Nicht mehr bezahlen. Auch das käme alle auch nicht beim haircut. Deutschland wäre mit Stimmungswahl, die ohne die Reaktorkatastro- ausgelegt worden. Womöglich war es aber auch östlich der Datumsgrenze gelegen,
teuer zu stehen. Die Griechen, denen erst einmal einem Schlag Milliarden los, einige seiner Banken phe in Fukushima undenkbar gewesen wäre. ein Akt der Klugheit gegenüber einem Partner, beschlossen hat, um den Austausch
niemand mehr Kredit gewährte, ebenso wie die brauchten neue Hilfen, und für Griechenland Aber die Diagnose ist unvollständig, wenn sie der sich tief gedemütigt fühlen muss. Das ist mit dem westlich gelegenen Aus-
Deutschen und andere, die ihnen Geld liehen müsste Europa eine Art Marshallplan auflegen, nicht ein anderes Symptom berücksichtigt, das umso generöser, als Kretschmann und seine Mit- tralien zu erleichtern, dessen Da-
und Teile davon nie mehr wiedersähen. damit der Südosten der Union nicht abstürzt. für die etablierten Parteien die stärkste Heraus- streiter in den Wochen der Koalitionsverhand- tum anzunehmen, also einen Tag
Und doch hätte der Schock etwas Heilsames. forderung seit der Wiedervereinigung darstellt: lungen schwer an der SPD gelitten haben: Sie zu überspringen, ist schlicht ein
Europa will sich Ruhe kaufen. Aber die Warum sind wir denn in einer fortdauernden Noch nie waren die Präferenzen der Wähler so beklagten das Fehlen jeder politischen Fantasie, Skandal. Wenn jeder das Datum
ist auch für Geld derzeit nicht zu haben Schuldenkrise? Weil Banken und Fonds zockten, schwer voraussehbar, noch nie schienen sie so das Beharren auf Posten und alten Positionen. (»das Gegebene« notabene) nach
als gäbe es kein Morgen – und der Staat, der entschlossen zu sein, ihre Wut zu demonstrieren Paradoxerweise stellte ein Erfolg von Grün- Belieben festlegte, würden Schul-
Retten oder nicht retten? Europa spielt eine neue nicht aufgepasst hatte, deshalb unser aller Geld – sei es durch Wahlboykott, sei es durch die Rot in Baden-Württemberg für die SPD eher ein den nicht getilgt, Geburten hinfäl-
Runde seines seit Ausbruch der Schuldenkrise retten musste. Wenigstens einmal sollten Finanz- Stimmabgabe für eine Partei, die sie früher nie Risiko dar. Der Rest der Republik könnte sich an lig, und dieses Glösslein wäre
währenden Spiels. Diejenigen, die – überwiegend institute und Spekulanten mitbezahlen. Viele gewählt hätten. Das hat diesmal Grüne und den Gedanken grüner Ministerpräsidenten ge- längst Makulatur. GRN.
mit anderer Leute Geld – großzügig neue Milliarden haben griechische Staatsanleihen gekauft. Grie- SPD an die Regierung gebracht. Doch dieser wöhnen, als Nächstes bei den Wahlen zum Ber-
ausschütten wollen, positionieren sich als die guten chenland umzuschulden würde deshalb das Si- Erfolg ist nicht mehr als eine Belobigung auf liner Abgeordnetenhaus. kleine Abb. (v.o.n.u.): DZ-Grafik (nach einer Idee
von Markus Roost); Mauritius
Europäer. Die Skeptiker aus dem Norden stehen im gnal an alle Hasardeure senden: Nehmt eure Bewährung. Aus dieser Gefahrenlage kommen die Sozial-
Süden als Geizhälse da, obwohl doch alle gleicher- Verantwortung ernst, der Staat steht nicht im- demokraten nur heraus, wenn sie wieder Anker
maßen wissen, dass es ohne Europa nicht geht. mer für euch ein! Grün-Rot – ein politischer Umsturz in die ganze Gesellschaft werfen, die sie aus ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Wir erleben einen Austausch von Forderun- So ungewiss die genauen Folgen einer Um- ausgerechnet in Baden-Württemberg Rücksicht auf ihre Parteibasis aus den Augen ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
gen, Schuldzuweisungen und Dementis, in dem schuldung sind – allein das wäre ein ungemein verloren haben, und bei der Auswahl ihrer Spit- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
eigentlich niemand seiner Sache sicher sein dürf- wertvolles Signal. Was dagegen geschieht, wenn Der neue Ministerpräsident Winfried Kretsch- zenkandidaten weniger auf die Stimmung der Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
te. Sooft dieser Tage in Ministerien, Geheimrun- Europa immer weiterzahlt, zeichnet sich schon mann ist sich seiner Verantwortung offenbar be- Parteifunktionäre als auf die Erfolgsaussichten DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
den und Medien die Szenarien rauf- und runter- ab. Irland, seit einem halben Jahr unter dem wusst. Schon in der Stunde des Wahltriumphs bei den Wählern achten.
buchstabiert werden – keiner weiß annähernd, Rettungsschirm, will weniger Vorgaben und erinnerte er daran, nun gelte es, die Erwartungen Auch in diesem Punkt haben die Grünen in Abonnement Österreich,
was kommt. Klar ist einzig, dass die Griechen mit niedrigere Zinsen. Wer wollte sie den Iren ab- der Bürger zu erfüllen, die zum ersten Mal Grün Baden-Württemberg ein Beispiel gegeben: Vor Schweiz, restliches Ausland
dem ersten, 110 Milliarden Euro schweren Hilfs- schlagen, wenn die Griechen sie bekommen? Es gewählt hätten. In Interviews sprach er davon, einem Jahr, bei der Aufstellung der Spitzenkan- DIE ZEIT Leserservice,
paket nicht auskommen und uns nicht nur Bürg- gäbe kaum noch ein Halten. Europa kann eben man wolle keine »feindliche Übernahme des didaten zur Landtagswahl, stellte eine linke 20080 Hamburg, Deutschland
Telefon: +49-1805-861 00 09
schaften, sondern echtes Geld kosten werden. nicht nur an zu wenig Solidarität zerbrechen, Landes«, und er lobte den Amtsstil seines Vor- Fronde in der Partei dem Zugpferd Kretschmann Fax: +49-1805-25 29 08
Viel Geld. sondern auch an zu viel. vorgängers Erwin Teufel von der CDU. Auch noch misstrauisch ein Team zur Seite. Als Mi- E-Mail: abo@zeit.de
Eigentlich sollte Griechenland schon im Jahr Sosehr sie die Gefahren einer Umschuldung wenn er vor der Wahl Wert auf die Feststellung nisterpräsident hat er sich nun der Jahrhundert-
2012 wieder gesund sein, doch könnte die Gene- beschwören, so beharrlich verschweigen die legte, dass die Grünen eine volksnahe und keine aufgabe zu stellen, in einer der wirtschaftlich
sung das ganze Jahrzehnt über dauern. Gleich- »guten Europäer« also, an welche Abgründe ihr Volkspartei sein wollten, weil dies ein überholter stärksten Regionen Europas die Ökonomie des
AUSGABE:
wohl verlangen die EU, die Euro-Gruppe und die eigener Weg führt. Die entscheidende Frage ist Begriff sei, so lassen diese Erklärungen doch den Landes mit der Ökologie zu versöhnen; nun
2 0

Zentralbank, dass Europa weiter für die Griechen aber nicht, wer der bessere Europäer ist, da haben Schluss zu: Die Grünen unter Winfried Kretsch- muss er nach den aufreibenden Auseinanderset-

20
bezahlt. Angeführt vom Euro-Gruppen-Chef alle führenden Politiker einschließlich Angela mann sind auf dem besten Wege, das zu werden, zungen um Stuttgart 21 auch einen Konsens
4 190745 104005

Jean-Claude Juncker, dem Vertreter des kleinen Merkel ihre Defizite. Die Frage ist vielmehr, was was gemeinhin eine Volkspartei ist. finden. Geschockt von einigen fanatischen For-
Luxemburgs, will das offizielle Europa Ruhe, was auf lange Sicht besser für Europa ist. Nach der Definition von Parteienforschern derungen von Baum- und Bahnhofsschützern,
sie auch kostet. Bloß ist Ruhe nicht zu haben. Die Antwort gibt die Wirklichkeit: Die Ret- zeichnen sich Volksparteien heute vor allem da- plädiert er bereits für den »zivilisierten Streit«.
Zwar beruhigen sich die Spekulanten in aller tung Griechenlands hat trotz aller Milliarden durch aus, dass sie ungefähr 30 Prozent der Wäh- Konsens? Zivilisierter Streit? Klingt verdammt
Welt, wenn Europa weiter zahlt. Aber was ist mit nicht funktioniert. Europa sollte die Umschul- ler vertreten und durch ein relativ unideologi- nach regierungsfähiger Volkspartei: Willkommen
Bürgern und populistischen Politikern? dung wagen. sches Parteiprogramm wählbar für Bürger aus im Klub!
Schon jetzt sind viele erzürnt. Niemand schien unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten 6 6 . J A H RG A N G
europäischer gesinnt als der EU-Musterschüler www.zeit.de/audio sind. Das klingt weit unattraktiver als das, was www.zeit.de/audio AC 7451 C
12 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
ÖSTERREICH

E
DONNERSTALK igentlich wollte Martin Ehrenhauser nicht zur Arbeit erschienen zu sein, sogar das
immer schon einmal einen Spionage- habe er akzeptiert. »Freunde waren wir nie«, sagt
thriller schreiben. Einen, in dem sich Ehrenhauser heute, und der politische Stil Mar-
Geheimagenten gegenseitig bespit- tins sei auch nicht unbedingt der seine.
Gift im Parlament zeln, einander austricksen, auf falsche Ehrenhauser orchestrierte derweil seinen Ab-
Fährten locken und enttarnen. Für den Reißer gang. Unterlagen sollen ihm noch im Herbst zu-
Botox garantiert ewige Jugend. Es glättet nicht nur fehlte dem Mandatar im Europäischen Parlament gespielt worden seien, die den Betrug belegen –
verräterische Falten, sondern vermindert auch die bislang die Zeit. Einen Grundkurs in der Kunst Martin spricht davon, Ehrenhauser und seine
Denkleistung. Besonders das Sprachzentrum, das des Tarnen und Täuschens absolvierte er aller- Mitarbeiter seien seit August 2010 in sein Com-
haben nun Forscher aus den USA herausgefunden, dings in den vergangenen fünf Jahren bei seinem putersystem eingedrungen und hätten auch Ge-
wird in Mitleidenschaft gezogen, weil die durch Mentor Hans-Peter Martin. So erfolgreich, dass spräche mitgeschnitten. Ehrenhauser wandte sich
Lähmung reduzierte Mimik beim Gegenüber zu emo- heute nicht mehr viel fehlt und er hat seinen Aus- an Mitstreiter der Liste Martin. Als noch nie-
tionalen Missverständnissen führen kann. Gesichts- bildner mit dessen eigenen Waffen geschlagen. mand außerhalb Brüssels ahnte, dass sich Martin
motorik ist für das Gehirn notwendig, um selbst Den Meister hat der Schüler jedenfalls bereits und Martin entzweit hatten, lotete Ehrenhauser
einfache Sätze verstehen zu können. Sonst verarmt jetzt übertrumpft. bereits aus, auf wen er zählen könne, wenn die
die emotionale Intelligenz. Doch des Skandals nicht Als der Zauberlehrling antrat, war er der »jun- Bombe platzt. Auch Klaus Diekers, ein Schul-
genug. Dieses gefährliche Wurstgift wurde offensicht- ge Hecht im Karpfenteich«. Gerne präsentierte er freund von Hans-Peter Martin, bekam einen An-
lich schon seit Langem an unwissenden Versuchsper- sich als die dynamische Nachwuchshoffnung an ruf. »Ich wollte, dass sich die beiden aussprechen,
sonen ausprobiert. Den Verdacht hegte man ja schon der Seite des Europarebellen, als das jugendliche und bot an, das zu moderieren. Doch Ehren-
lange, jetzt wurde er durch die Forschung bestätigt. Pendant des ergrauten Hans-Peter Martin. Heute hauser hat die Gesprächsangebote ausgeschla-
Ausdruckslose Gesichter sind im Hohen Haus wäh- wirkt Ehrenhauser verändert. Seine Stimme gen«, erzählt er.
klingt hart, sein Blick ist kalt. Er hat sich einen
Django-Bart wachsen lassen. Die Euphorie, mit Ehrenhauser zelebriert den Bruch mit
welcher der 32-Jährige früher über seine politi- allen Mitteln der Medienkunst
Foto: Ingo Pertramer

sche Arbeit sprach, ist einem kalkulierten Tonfall


Alfred Dorfer gewichen. Er war einer der Letzten, die Hans- Nebenbei wurden ab Ende März Journalisten meh-
enthüllt das Rätsel der Peter Martin die Treue hielten und ihn bedin- rerer Medien kontaktiert (darunter auch die ZEIT).
versteinerter Mienen im gungslos verteidigten. Wer dem umstrittenen Ehrenhauser lud zu vertraulichen Gesprächen, be-
Hohen Haus Europaparlamentarier am Zeug flicken wollte, richtete von seinen Anschuldigungen, blieb aber
bekam es mit dem Oberösterreicher zu tun. kryptisch genug, um vorzeitige Veröffentlichungen
rend einer Plenarsitzung keine Seltenheit. Deshalb Nun erhebt Ehrenhauser selbst schwere Vor- zu verhindern. Mit welchem Medium er bei der
werden einfache Sätze, etwa »Bitte Ruhe im Saal!«, würfe gegen sein früheres Idol. Der Verbleib von Aufdeckung zusammenarbeiten wolle, habe er noch
oft erst Stunden, nachdem sie ausgesprochen wurden, rund einer Million Euro aus der Wahlkampfkosten- nicht entschieden. Ein Interview sei Bedingung, ein
begriffen. Meist, wenn die Sitzung längst vorbei ist. rückerstattung für die Europawahl 2009 sei un- Foto von sich würde ihm auch gut gefallen. Und
Emotionelle Intelligenz ist bei diesen Zusammen- geklärt, möglicherweise habe Martin hohe Summen eine Idee für den Inhalt des ersten Absatzes der Ent-

Foto (Ausschnitt): Harald Schneider/hds/APA/picturedesk.com


künften ebenfalls sehr selten anzutreffen. Die Reduk- für den eigenen Gebrauch abgezweigt. Der selbst hüllungsstory schwebte ihm ebenfalls vor. Während
tion des Sprachzentrums ist bei Budgetdebatten gang ernannte Saubermann ist schwer angeschlagen. er medial die Entzweiung bereits vorbereitete, signa-
und gäbe. Offensichtlich gelangt bei diesen Experi- Mit größtmöglicher Empörung tritt Ehren- lisierte er gegenüber Hans-Peter Martin noch Ge-
menten an Mandataren eine noch sehr frühe Ent- hauser derzeit vor Journalisten auf, erzählt von sprächsbereitschaft, schlug einen Sitzungstermin in
wicklungsstufe des Nervengifts zur Anwendung. den ungeheuren Vorgängen, die er jahrelang Wien vor – just für den Tag, an dem die Geschich-
Zwar werden alle nervösen Reaktionen hervorgerufen, nicht mitbekommen haben will. Martin habe die te publik wurde.
die Falten jedoch nicht gestrafft. Wo sind die Grünen, eigenen Ideale verraten, seine weiße Weste sei be- Assistiert von einem Nachrichtenmagazin,
die sonst bei jedem Schweinestall protestieren, der sudelt. Gut einstudierte, schmissige Phrasen, die ließ Ehrenhauser dann Mitte April die Bombe
ohne Minibar auskommen muss? Schluss mit diesen gerne gedruckt werden. Und Ehrenhauser spricht platzen: Er erstattete Anzeige gegen Hans-Peter
Menschenversuchen! bereits davon, dass es nun eine »neue Bewegung Martin bei der Wiener Staatsanwaltschaft wegen
aus der Mitte der Gesellschaft« brauche. Der Fall des Verdachts auf »schweren Betrug«, »Untreue«
des Mentors könnte der Aufstieg des Zöglings und »Förderungsmissbrauch«. Das Ende einer
sein – medial geschickt orchestriert. fast fünfjährigen politischen Zusammenarbeit
AUSSERDEM Einst war er sein größter Fan und willfähriger war besiegelt, der Bruch endgültig. Im Wochen-
Erfüllungsgehilfe. Martin und Martin nannten sich takt beliefert er nun Zeitungen mit immer neuen
die beiden im Europawahlkampf 2009, als Martin Bessere Zeiten: Martin und Martin feiern den Wahlerfolg 2009 Details, gibt immer nur einen Teil der Unterla-
Wer sonst? Ehrenhauser vom Büroleiter zum Abgeordneten
aufstieg und auf der Bürgerliste von Hans-Peter
gen preis, um das Thema möglichst lange am
Köcheln zu halten und der Gegenwehr seines

Die Zertrennlichen
Martin kandidierte. Kennengelernt hatte sich das Opfers keinen Raum zu geben. Immer neue Vor-
Dem Werden und Wirken des berühmtesten Duo drei Jahre zuvor. Ehrenhauser war gerade bei würfe tauchen auf. Sich in diesem Dauerfeuer zu
Österreichers der Gegenwart widmet sich bereits den Jungen Liberalen hinausgeflogen. Mit geheimen verteidigen ist unmöglich – der Zauberlehrling
zu Lebzeiten ein eigenes Museum; das widerfährt Unterlagen über den Baulöwen Hans-Peter Hasel- hat vom Hexenmeister viel gelernt.
selbst Titanen nur nach ihrem Ableben. Arnold steiner und den Lobbyisten Alexander Zach, der Viele fragen sich inzwischen, warum Martin
Schwarzenegger, Muskelheld, Kampfmaschinen- zugleich als Chef der Liberalen firmierte, wandte er Ehrenhauser die Trennung nach allen Regeln der
darsteller, Kino-Ikone und zwei Amtsperioden sich an Hans-Peter Martin. Die Korruptionsaffäre, Einst war Martin Ehrenhauser der größte Fan von Hans-Peter Kunst inszeniert. Er selbst sagt, er müsse sich
lang Regierungschef von Kalifornien, befindet sich die er dadurch auslöste, war die Eintrittskarte des möglichst weit von Martin distanzieren, um jeg-
am Scheideweg. Zurück ans Actionfließband in Politikstudenten bei dem EU-Rebellen. Ein Jahr Martin. Jetzt stellt er seinen Mentor an den Pranger VON FLORIAN GASSER lichen Zweifeln vorzubeugen, er selbst habe etwas
der Filmfabrik, ins Ausgedinge von Venice Beach später wurde er dessen parlamentarischer Mitarbei- mit den dubiosen Vorgängen zu tun. Dazu würde
oder als Ambassanator für eine bessere Welt von ter, kurz darauf avancierte er zum Büroleiter. wohl auch ein Interview genügen. Doch der neue
Kontinent zu Kontinent tingeln? Allesamt keine Unzertrennlich seien beide damals gewesen, er- Mutter ihre Funktion in Brüssel überhaupt aus- sich Ehrenhauser schützend vor sein Vorbild. Dass Saubermann präsentiert sich nun als jemand, der
erbaulichen Perspektiven. Osama haben dem Ter- zählen ehemalige Mitstreiter. Sie teilten die Leiden- üben könne und nicht Gefahr laufe, als »Raben- sich seine Vorwürfe heute merkwürdig ähnlich noch Großes im Sinn hat und jetzt die Weichen
minator die Navy Seals weggeschnappt, das Weiße schaft anzuecken und aufzudecken – nicht selten mutter« bezeichnet zu werden. Sogar Ehrenhausers anhören wie seinerzeit jene von Werthmann, be- für seine politische Zukunft stellen möchte. Dazu
Haus, das logische Ziel, wird dem Governator von mit Mitteln an der Grenze des guten Geschmacks Mutter warf der Mandatarin vor, sie würde die gründet er damit, dass er keinen Einblick in die muss der Übervater rasch in der Versenkung ver-
der amerikanischen Verfassung verbarrikadiert. – und die Begeisterung für Fußball. Im Fat Boys, Karriere ihres Sohnes behindern. Doch Werth- Finanzen der Partei besessen habe. Andere sagen, er schwinden. Das erklärte ihm sogar unlängst noch
Jetzt hat sein ehemaliger Kabinettschef dem Maga- einer Sportkneipe in Brüssel neben dem Parlament, mann weigerte sich beharrlich, wurde später zur habe dem egomanen Leitwolf einfach blind ver- Hans-Peter Martin. Im Oktober 2010 schrieb
zin Newsweek die Königsidee anvertraut: President bekannt für ihre deftigen Burger, fieberten sie oft Persona non grata für die verschworene Clique. traut. dieser in einer Mail an Ehrenhauser: »2014 hät-
of Europe, wenn der blasse Belgier, what’s his bei den Spielen ihres Lieblingsvereins Bayern Mün- Schließlich verzichtete der Listenzweite auf sein Doch nach der Veröffentlichung des Rechen- ten wir die besten Chancen, wenn wir gemein-
name?, demnächst in Pension geht. Genau, Arnie chen. »Die steckten rund um die Uhr zusammen. Mandat – heute leitet er das Bürgerbüro von Mar- schaftsberichtes der Liste Martin am 29. Sep- sam kandidieren, mit meinen abgesicherten
verkörpert ja gewissermaßen die europäische Man hatte das Gefühl, die wissen alles voneinander«, tin Ehrenhauser in Wien. tember 2010, begann Ehrenhauser auf einmal Medienauftritten und meinen persönlichen fi-
Schnittmenge. Bärenstark, aber zugleich weich wie sagt eine ehemalige Mitarbeiterin. Hans-Peter Mar- Fragen zu stellen. Wie könne es sein, dass sich nanziellen Mitteln. […] Schwierig wird es sicher
ein schnurrendes Kätzchen, wenn es um Familie, tin stellte seinem Schützling Journalisten vor, ver- Ehrenhauser wurde seinem Idol immer Ausgaben und Einnahmen der Liste auf den ohne meine explizite Unterstützung. Und ein
Heimat und Apfelstrudel geht. Konservativ und mittelte Kontakte und brachte ihm die Tricks bei, ähnlicher und vertraute ihm blind Cent gleichen? »Eine betriebswirtschaftliche Match gegen mich? Da hätte ich wohl auch die
zugleich ein grüner Visionär. Er kennt die bren- mit denen sich jede Mücke zum Elefantenskandal Meisterleistung«, nennt er das heute. Warum er besseren Möglichkeiten.«
nende Migrationsproblematik aus eigener Lebens- machen lässt. Gemeinsam zogen sie in Psycho- Das Duo ging gegen jeden vor, der sich ihnen in plötzlich aufmuckte, weiß keiner. Vielleicht Im Sog der Bestechungsaffäre um den konser-
erfahrung: Auch er war einst mittellos an fremden kriege, für die sie mitunter ihr gesamtes Umfeld den Weg stellte. In internen Sitzungen zielten sie wollte er endlich aus dem Schatten des Über- vativen Parlamentskollegen Ernst Strasser sah Eh-
Gestaden gelandet. Als Staatsbürger der USA steht mobilisierten. gerne auch unter die Gürtellinie. »Fußballersprache« vaters heraustreten, sich ein eigenes Profil zu- renhauser wohl seine große Chance. Was nun
er nun über dem kleinlichen nationalen Zank in Etwa, als die Listendritte, Angelika Werthmann, sei da gepflegt worden, sagt eine, die bei den Dele- legen und mehr sein als bloß die Stulpe an der kommen wird? Für Hans-Peter Martin könnte
der Union und weiß genau, wie solche United nach den Europawahlen 2009 auf ihr Mandat ver- gationssitzungen oft dabei war. »Das war schon sehr »Hose«, wie Martin häufig wegen des extravagant diese Affäre das politische Ende bedeuten. Ehren-
States zu funktionieren haben. Endlich hätten zichten sollte, damit Martin seinen Protegé ins Par- untergriffig und ging schnell ins Persönliche. Ehren- weiten Schnitts seiner Beinkleider genannt wird. hauser wird sich als Supersaubermann darstellen,
dann auch die wichtigsten Amis wie Henry Kissin- lament hieven konnte. Mit Methoden aus der un- hauser wurde Martin immer ähnlicher.« Auch als Die beiden Mandatare gingen auf Distanz, das der für die eigene Redlichkeit sogar seinen politi-
ger und seine Freunde eine Telefonnummer bei tersten Schublade sollte die Salzburgerin dazu ge- Angelika Werthmann im vergangenen Sommer Verhältnis wurde schnell frostig. Seitenlange schen Ziehvater opferte. 2014 wird er wohl ver-
der Hand, die sie wählen könnten, wenn sie mit drängt werden. Martins Frau schrieb eine Mail an Hans-Peter Martin vorwarf, er habe Parteigelder Mails mit Anschuldigungen wurden gewechselt. suchen, mit einer eigenen Liste anzutreten. Wer ihn
Europa sprechen wollen: Hasta la vista, baby! JR Werthmann und fragte, ob sie als alleinerziehende hinterzogen, und aus der Delegation austrat, stellte Martin warf seinem Schützling vor, oft tagelang dann allerdings wählen soll, steht in den Sternen.

IN DER ZEIT
POLITIK 12 Donnerstalk ALFRED DORFER über WIRTSCHAFT 33 Lettland Positive Entwicklungen FEUILLETON 62 GLAUBEN & ZWEIFELN
die Auswirkungen von Botox auf Islamismus Der Prediger Pierre
2 Interview Kanzlerin Angela 23 Euro Rettung oder Schuldenschnitt 34 Ratenzahlung Versicherer 49 Gesellschaft Die Deutschen im
die Politik Vogel reagiert auf bin Ladens Tod
Merkel erklärt den Ausstieg aus dem – die Politik ist überfordert verschleiern die wahren Kosten Geisterreich der Moral
Ausstieg aus dem Ausstieg 13 Straßenkampf Der neue Wasser- 35 Kohle CO₂-Speicherung
werfer 10 000 der Firma Rosenbauer 24 EZB-Chef Angela Merkel stützt 50 Kulturgeschichte Eine REISEN
4 Gutmenschen Ist Deutschland aus Leonding VON STEFAN MÜLLER Mario Draghi ThyssenKrupp Der Konzern Ausstellung über das Schicksal
ein Vorbild für die Welt? startet den fälligen Umbau 63 Schweiz In Berzona fand der ewige
14 Artgenossen Der wankende Mafia- 25 Staatsschulden Niall Ferguson 51 Fernsehen Gespräch mit RTL- Reisende Max Frisch ein Zuhause
5 Libyen Die ersten Kriegsopfer paragraf und das Justiztheater in der über die Krise des Westens 36 Was bewegt ... Armin Falk, Senderchefin Anke Schäferkordt
sind die Flüchtlinge Ökonom und Verhaltensforscher? 65 Eurovision Ein Lob auf
Wiener Neustadt VON ALFRED J. NOLL 26 V W Der Konzern will jetzt auch 52 Max Frisch Er würde jetzt 100 – Düsseldorfs Kö, das Altbier
6 Generation Rösler Passen Freiheitliche HC Strache blieb noch die meisten Laster bauen Wiederbegegnung mit dem Klassiker und das japanische Viertel
Familie und Politik zusammen? dem Burschenschafteraufmarsch am Elektroauto Warum es falsch ist, WISSEN 53 Biografie, Essay-Sammlung und ein 67 Seychellen Wo William und
7 FDP Ein Gespräch mit Philipp Heldenplatz fern VON JOACHIM RIEDL nur die Autokonzerne zu fördern 37 Alzheimer Plädoyer für einen neu- Bildband/Erfahrungen eines Kate angeblich ihre Flitterwochen
Rösler über seine Regierungspläne en Blick auf die Krankheit Journalisten mit Frischs Fragebogen verbringen
27 Kinderarmut Die Not wird
8 Pakistan Die Islamisten freuen DOSSIER überschätzt, sagen Forscher 39 Besuch in einem Heim für 54 Essay Eberhard Straub
sich über arabische Revolutionen schwer demenzkranke Menschen »Zur Tyrannei der Werte« CHANCEN
15 München Ein Prediger will ein 28 Pharma Die Industrie verdient zu-
9 Syrien Tagebuch weltoffenes Islamzentrum gründen lasten von altersblinden Patienten 40 Wie pflegende Angehörige Roman Nicolas Dickner »Tarmac« 71 Bachelor und Master:
und gilt nun als Verfassungsfeind Milliarden Urlaub machen können 55 Margaux Fragoso »Tiger, Tiger« Ein Spezial auf 10 Seiten
Ägypten Die neue Regierung
kämpft gegen religiöse Gewalt 20 WOCHENSCHAU 29 Lebensmittel Ein Internetportal 41 Infografik Die Renaissance der 56 Nachruf auf Gunter Sachs 96 ZEIT DER LESER
Eurovision Song Contest Die für Verbraucher ärgert die Industrie Bilder in Medien und Wissenschaft
10 Italienische Lektionen Neapel 57 Umbruch Eine Ägypten-Reportage
Geschichte eines Liedes aus Island 44 Der Medienforscher Michael Stoll
11 Politische Lyrik »Inkarnation«/ 30 Kika-Skandal GegenseitigeSchuld- der Philosophin SUSAN NEIMAN 56 Impressum
über gute und schlechte Grafik
»Die Lebenden sind Legenden« zuweisungen
GESCHICHTE 47 KINDERZEIT 58 Brüssel Die Oper »Matsukaze« 95 LESERBRIEFE
Soziale Netzwerke
21 Ausstellung Fremde Was es bedeutet, Kunst Paul Pfeiffer in München
Industriespionage wird erleichtert
ÖSTERREICH Bayern feiert Ludwig II. Flüchtling zu sein
59 Kunstmarkt/Museumsführer
Die so gekennzeichneten
31 Telekom-Aktie Das Urteil in dem Artikel finden Sie als Audiodatei
12 Politik Das Zerwürfnis zwischen 22 CSU Schon 1949 zeigte die Partei 48 Kinder- und Jugendbuch im »Premiumbereich«
Massenverfahren steht bevor LUCHS – Anne-Laure Bondoux 61 Kino »Joschka und Herr Fischer«
Hans-Peter Martin und Martin ihre Fähigkeit zum geschlossenen von ZEIT ONLINE
Ehrenhauser VON FLORIAN GASSER Sowohl-dafür-als-auch-dagegen 32 Tunesien Schwieriger Neubeginn »Die Zeit der Wunder« Kulturkanäle zdf.kultur unter www.zeit.de/audio
ÖSTERREICH 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 13

DRINNEN

Fotos: Bodo Marks/picture-alliance/dpa (l.); schmiederer.com


Vulkanische Aprikosen
Grüße Ein Neapolitaner in Wien:
Paolo Cancro, 48, Lebensmittelhändler

aus Mit 16 Jahren trat ich erstmals als DJ auf. Von da


an war mir Musik Passion und Beruf. Ich legte in
Spanien, Schweden und Deutschland auf. 27 Jahre
lang führte ich einen Musikvertrieb und verkaufte
sehr viel von den alten, herkömmlichen Schall-

Leonding platten. Irgendwann sah ich ein, dass die Men-


schen für Musikkonserven kein Geld mehr aus-
geben. Also drehte ich das Licht ab und schloss
meine Firma in Neapel.
Qualität war für mich immer das Allerwichtigste.
Sein Name ist WaWe 10. Er ist Auch im Alltag. In diesem Fall spricht man von Le-
bensqualität. Man muss Zeit haben für sich selber,
der dickste Brummer im Arsenal zum Genießen, zum Nachdenken. Es liegt nahe, dass
der deutschen Polizei – ein man sich auch beim Essen auf Qualität konzentriert.
Also machte ich mich eines Tages mit meiner Frau
Qualitätsprodukt aus Österreich Donatella, die 25 Jahre lang im Versicherungsgewerbe
tätig war, auf die Suche nach den besten Lebens-
VON STEFAN MÜLLER
mitteln Süditaliens. Wir fuhren von Markt zu Markt
und besuchten jedes Wochenende Bauern. Wir
durchstreiften Olivenplantagen. In Avellino aßen wir

Paulo Cancro stammt aus


Süditalien. In Wien bringt
er den Menschen süd-
italienische Esskultur nahe
Am 1. Mai schützte der nagelneue Wasserwerfer 10 000 die Rote Flora in Hamburg
Käse und fanden die dazugehörigen Rinder: braune
Kühe, die vor 200 Jahren erstmals nach Kampanien

T
ag der Arbeit, Tag der Randale. All- menen WaWe 9000 des deutschen Mitbewerbers zulassung 1975, am 1. Juni 2010 im Dorotheum renziert einzusetzen sei ohnehin schwer, sagt Kom- gebracht wurden. Auf den vulkanischen Böden des
jährlich wüten im Schanzenviertel Ziegler, eingeflossen. für 1600 Euro versteigert wurde, zeigte der Tacho missar Martin Lundin von der schwedischen Vesuvs entdeckten wir einzigartige Aprikosensorten,
von Hamburg wilde Straßenschlach- Insgesamt ist das neue Gerät potenter, vor allem 60 100 Kilometer. Komisch, dass auf den Videos Bundespolizei: »Der Effekt bei einem motivierten die schonend auf kleiner Flamme zu Marmelade ver-
ten. In diesem Jahr riegeln am 1. Mai aber sicherer für die Beamten, die es steuern. Damit von den Opernballdemos in den achtziger Jahren Gegner ist begrenzt. Auch die Symbolik ist nicht kocht werden. Dort sahen wir auch die Strauch-
2300 Polizisten in Nahkampfaus- Steine nach unten abprallen, ist die Frontscheibe Beamte zu sehen sind, die mit Feuerwehrschläuchen gut, legt man Wert auf Konfliktvorbeugung.« tomatensorte Pomodorino del Piennolo, deren
rüstung die Krawallzone ab. Vor dem Kulturzen- nach vorne geneigt; die schrägen Heck- und Dach- improvisieren. Rosenbauer hat verschiedene Staaten in Eu- Früchte um einen Seilring geflochten zur Lagerung
trum Rote Flora hat die Staatsmacht ihr mächtigs- elemente lassen Brandsätze abrollen. Gerät das ropa mit Wasserwerfern versorgt, fallweise auch aufgehängt werden. In Sorrent suchten wir nach
tes Geschütz für urbane Konflikte aufgefahren: Fahrzeug doch in Brand, treten die 15 Düsen des Der alte Wasserwerfer schaffte es nicht asiatische Länder – erinnert sich Vertriebsmann Zitrusfrüchten. Diese sogenannten Blondorangen
den nagelneuen Wasserwerfer 10 000 (kurz: Eigenlöschsystems in Aktion. Das Seitenblech ist durch das Kasernentor Mücke vage; die Sache sei vertraulich. Der Anteil und Zitronen wachsen auf Bäumen, die mit Stroh-
WaWe 10), ein Ehrfurcht heischendes Qualitäts- gegen Durchstiche mit Eisenstangen gerüstet; die am Unternehmensgewinn – 2010 waren es 40 matten vor Wind und Kälte geschützt werden. Aus
produkt, made in Austria. Ein Reporter der taz Kabine hält dem Aufprall einer Betonplatte aus Im Innenministerium erinnert man sich an ein Millionen Euro bei einem Umsatz von 596 Mil- dieser Gegend kommen auch Brotzitronen, die, in
beobachtet, dass immer wieder Schaulustige vor dem dritten Stock stand; Luftfilter und Klima- noch älteres Gerät; ein Ungetüm auf einem lionen – sei jedenfalls gering. »Was den Export feine Scheiben geschnitten und gezuckert, mit der
dem Ungetüm posieren und Erinnerungsfotos anlage sorgen für Frischluft, ergonomische Sitze Steyr-Fahrgestell, im voll betankten Zustand mit betrifft, sind wir nicht im Waffenbereich«, ver- Schale als Nachspeise gegessen werden. In der Umge-
knipsen. Erst als Böller krachen und Leuchtrake- und ein Kühlschrank für Komfort. einem Gewicht von rund 23 Tonnen. Angeblich sichert er: »Sonst wäre jedes Löschfahrzeug eine bung von Neapel fanden wir einen Familienbetrieb,
ten flitzen, legt das Monstrum los. Mit mächtigen Bei der Außenwirkung sieht die Sache schon zu schwer für so manche Wiener Straße mit ge- Waffe.« Ein Exportschlager könne der WaWe 10 der Kaffee über Holzfeuern röstet.
Fontänen fegt es den Aufruhr von der Straße. anders aus. Obgleich es den beiden Strahlrohr- mauertem Kanal darunter. Um im leeren Zu- schon deshalb nicht werden, weil die Hälfte sei- Mit diesem Wissen gerüstet, übersiedelten wir vor
Leonding bei Linz. Wie ein schlafender Ketten- führern an ihren Joysticks und Bildschirmen am stand durch das Tor in die Rossauer Kaserne zu ner Bestandteile aus Deutschland stamme und einem Jahr nach Wien, wo wir Giorgia kennenlern-
hund lauert in einer riesigen Werkshalle ein grau- liebsten ist, wenn sie den Auslöser nicht drücken passen, musste jedes Mal Luft aus den Reifen die Wartung im Ausland zu aufwendig wäre. ten, eine Römerin. Mit ihr zusammen eröffneten wir
blaues Monster aus Alu-Blech zwischen einer müssen. Bei bis zu 1200 Litern Durchflussmenge gelassen werden. Einsatzhäufigkeit? Unbekannt. Seltsame Kundenwünsche sind Mücke trotzdem im November ein Lebensmittelgeschäft in Margare-
kleinen Armada feuerroter Löschfahrzeuge. Sie pro Minute und 65 Metern Reichweite – zwei Dass ein Staat sein Gewaltmonopol auch ohne zugetragen worden. »Das kann von weidedraht- ten, das Donatella. 75 Quadratmeter, acht Sitzplätze,
sollen Brände löschen und Leben retten. Auf diese Werfer sind vorne, einer hinten montiert – ist Wasserwerfer ausüben kann, um sich solche Pein- artigen Stromschlägen beim Berühren der Außen- eine Kaffeemaschine, eine Kühlvitrine. Dort bringen
Produkte ist man stolz bei der Rosenbauer AG, der 10 000-Liter-Tank nämlich schnell leer, und lichkeiten zu ersparen, beweist Schweden. Nach fläche bis zur Heißwasseraufbereitung für den wir den Wienern süditalienische Esskultur und Le-
einem der größten Feuerwehrausrüster der Welt. das Prinzip Abschreckung – inklusive Warnung bösen Krawallen beim EU-Gipfel in Göteborg 2001 Dachwerfer gehen. Solche Blödheiten machen wir bensphilosophie nahe.
Nur um den WaWe 10 will man wenig Aufhebens über die Außenlautsprecher – hat seinen dro- bekannte man sich lieber zu einem verstärkten Dia- aber natürlich nicht.« Sagt es und lächelt. In einem
machen. Das Gefährt ist die neue Wunderwaffe henden Wasserstachel verloren. log mit Demonstranten. Teure Wasserwerfer diffe- neutralen Büroraum in Leonding. Aufgezeichnet von ERNST SCHMIEDERER
des deutschen Staates gegen Bürger, die Randale Im Herzen, dem sogenannten Würfel Fünf, sitzt
machen. Die »Cobra«, so die werksinterne Bezeich- der Kommandant, schräg hinter ihm haben die A
nung, die auch Reizmittel versprühen kann, sieht Rohrführer den Finger am Abzug, vorne rechts,
aus wie eine Mischung aus Schwerlaster und Ter- neben dem Fahrer, nimmt ein Beobachter das Ge-
minator. Zehn Meter lang, 30 Tonnen schwer, 408 schehen ins Visier. Im Ernstfall rollt der WaWe 10
PS stark. Kostenpunkt: 900 000 Euro. ganz langsam zur Attacke und wird von Boden-
Insgesamt 78 Stück sollen bis 2019 nach truppen flankiert. Die Bilder aus den Werferkame-
Deutschland geliefert werden. Zwei davon wurden ras werden auf Festplatte gespeichert – um gesetzes-
bereits in Hamburg und in Sachsen in Dienst ge- konformen Einsatz nachweisen zu können. Am
stellt – ungeachtet der Debatte um den Wasser- wichtigsten sei es, die Emotion aus Konflikten zu
werfereinsatz von Stuttgart, bei dem der Rentner nehmen, betont Rüdiger Spahr, Leiter der Abtei-
Dietrich Wagner sein Augenlicht verlor. Handelt lung Führungs- und Einsatzmittel der Hamburger
es sich um eine Waffe? Nein, sagt die Polizei, genau Bereitschaftspolizei. Ende 2009 präsentierten die
wie die Verantwortlichen bei Rosenbauer; das »ge- Hanseaten der Presse selbstbewusst den Prototypen.
schützte Tankfahrzeug« diene lediglich der Gewalt- Heute will der Beschaffer, das deutsche Innen-
prävention. Der Kunststofftank des Wasserbehäl- ministerium, nichts mehr dazu sagen. Man gerate
ters, der 10 000 Liter fasst, lasse sogar einen Einsatz sonst schnell in Schieflage, meint ein Sprecher.
als Trinkwassertransporter zu. Der Neue soll böse Unklar ist etwa, warum in Deutschland der
aussehen, kleinere Brände löschen und sich nur im »Mehrzweckeinsatzstock«, also die moderne Ver-
Notfall – ein bisschen – in einen Wasser speienden sion des Polizeiknüppels, als Waffe gilt, ein Wasser-
Drachen verwandeln. werfer hingegen laut Polizeidienstverordnung 122
lediglich ein »Hilfsmittel der körperlichen Gewalt«
»Gewaltig, was wir in 14 Monaten sein soll. Es komme immer darauf an, die Dinge
auf die Beine gestellt haben« richtig einzusetzen, sagt Rüdiger Spahr etwas kryp-
tisch. Bleibt zu hoffen, dass die Eskalationsstufen
In einem Büroraum in Leonding legt Wolfram eingehalten werden: Sie reichen vom Anfeuchten
Mücke, internationaler Vertriebsleiter bei Rosen- mit Wasserglocken – auch ein neues Feature der
bauer, Zeitungsberichte auf den Tisch. »Hier. Hohlstrahlrohre, die ein Auffächern der Fontäne
Athen. Brandbomben gegen die Polizei.« Er zieht ermöglichen – bis zum Schießen mit dem Voll-
einen weiteren Artikel hervor. Darauf ein ver- strahl. »Werfen« heiße das, korrigiert Spahr. Die
kohltes britisches Feuerwehrauto. »Hier vorne wird Kraft, die das Wasser in 25 Metern Entfernung auf
ein Feuerwehrmann gerade scharf angebraten«, sagt einer kleinen Fläche entfalten darf, ist bei 12 Bar
er. Die Aufgabe von Wasserwerfern beschränke sich Betriebsdruck auf 30 Kilogramm beschränkt. Wer
längst nicht mehr auf das »Studentenwaschmaschi- aus kurzer Entfernung in so einen Strahl läuft,
nentum«, Löschaufgaben würden wichtiger. Für riskiert Knochenbrüche und schwere Kopfverlet-
den grau melierten Gentleman, dem die Law-and- zungen. Ihr Geschick an den Werfern, die an Ent-
Order-Rolle in einem John-Wayne-Western gut fernungsmesser gekoppelt sind, schulen die Be-
passen würde, ist die Sache klar: Die Anrüchigkeit amten auf weitläufigen Testgeländen, wo sie
des Produkts werde medial geschürt. »Unser Ver- bunte Plastiktonnen vollspritzen.
ständnis von so einem Fahrzeug ist es, Anarchisten In Österreich gelten Wasserwerfer laut Waffen-
auf Distanz zu halten, um Schlimmeres zu ver- gebrauchsgesetz 1969 zwar als »Dienstwaffe« – da-
hindern. Überhaupt produzieren wir diese Fahr- rüber sprechen will man aber auch hier nicht so
zeuge nur fallweise. Das sind einfach Abfallpro- richtig. In der Rossauer Kaserne, bei der Sonder-
dukte aus dem Löschfahrzeugbau.« einheit Wega der Wiener Polizei, stehen zwei Fahr-
Pumpen und Spritzen, die sonst auf Brandher- zeuge von Rosenbauer. Auskunft bei der Presse-
de zielen, taugen genauso zur Abwehr rebellischer stelle nur per E-Mail. Letzter aktiver Einsatz? 2003
Bürger, weshalb es meist Feuerwehrausrüster sind, – bei Protesten gegen den Korporationsball. Wei-
die solche Geräte bauen. Das Wort Abfallprodukt terführende Informationen? Fehlanzeige. »Sonst
hört Projektleiter Helmut Ogris aber nicht so wäre ja ein Beamter blockiert«, schnauzt eine
gerne. »Das ist das technisch komplexeste Gerät, Sprecherin. Die beiden Fahrzeuge mit 4000 Litern
das wir je gebaut haben«, sagt der Ingenieur: »Die Fassungsvermögen seien 2003 zugelassen worden.
ganze Mannschaft ist stolz darauf. Was wir hier in Davor habe es ein umfunktioniertes Feuerwehr-
14 Monaten auf die Beine gestellt haben, war ge- auto mit Rosenbauer-Aufbau gegeben. Ende der
waltig.« Viele Nächte hatte er wenig geschlafen. Durchsage.
Achtmal war eine zwölfköpfige Polizeidelegation Vielleicht ist es der Polizei unangenehm, dass
aus Deutschland zu Gast. In dem Leistungskatalog, jenes kleine, schrottreife Relikt noch im April 2002,
den es zu erfüllen galt, sind 26 Jahre Erfahrung mit bei Krawallen um die Wehrmachtsausstellung, zum
dem Vorgängermodell, dem in die Jahre gekom- Einsatz gekommen war. Als der Wasserwerfer, Erst-
14 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
ÖSTERREICH
ZEITGEIST

Hoffnung stirbt zuletzt


Europa wird für Hellas
JOSEF JOFFE:
Gespensterstunde
bluten, um sich selber zu retten FPÖ-Chef Strache verweigerte den Totengedenkdienst. Im nationalen Lager steht er jetzt unter Beobachtung VON JOACHIM RIEDL

E
Die Kassandras haben recht behalten: Geld- ohne s gehört zum guten Ton der, wertfrei In diesem Jahr war es wieder so weit. Am ver- Zwar repräsentiert der deutschnationale Flügel
Politikunion geht nicht. Vor zwölf Jahren hat Eu- formuliert, deutschnational gesinnten gangenen Sonntag wurde der freiheitliche Partei- nur eine Minderheit im Wählerreservoir. Doch der
Vergeblich warteten
ropa mit dem Euro den »Zug der Hoffnung« auf Kreise in Österreich, alljährlich am 8. obmann Heinz-Christian Strache, der den Rest Unterstützung dieser Gruppe verdankte es Strache,
die Totengedenker auf
die Schiene gesetzt: 16 Lokomotiven mit 16 Füh- Mai schwarzumflort in die Welt zu des Jahres lieber Discoprinz spielt, am Burgtor dass er sich seinerzeit im innerparteilichen Macht-
ihren Stargast Strache
rern. Die fromme Hoffnung? Jede Lok werde im blicken. Es ist der Jahrestag der bedin- erwartet. In den vergangenen Jahren hatte er die kampf gegen Jörg Haider durchsetzen konnte, der
gleichen Tempo – mit gleicher Steuer- und Aus- gungslosen Kapitulation der deutschen Wehr- deutschnationale Andachtsstunde gemieden. fortan als »Verräter« galt. Jetzt soll das prekäre Ver-
gabenpolitik – fahren; sonst würden die Kupp- macht, die 66 Jahre zurückliegt, und aus diesem Diesmal wollte er, wie schon 2004, erneut eine trauensverhältnis wieder gestärkt werden, indem
lungen brechen oder alle zusammen entgleisen. Anlass erfasst die rückläufige Gruppierung der »Totenrede« zum Besten geben. Es schien an der das künftige Parteiprogramm demnächst neuerlich
Der Bruchpunkt ist jetzt. Um im Bild zu blei- schlagenden Burschenschafter wagnerianisches Zeit, vor dem harten Kern der Partei wieder ein- ein Bekenntnis zur »deutschen Volks- und Kultur-
ben: Manche Lokführer, Athen vorweg, haben so Wehmutspathos. In Wien, vermutet sie, befinde mal Gesinnung in Habtachtstellung zu zeigen. gemeinschaft« beinhalten wird. Haider hatte seinen
lange so heftig geheizt, bis die Kohle ausging. Der sich an diesem Tag der Vorhof zu »Wallhalls pran- Einige Hundertschaften der Polizei waren aus- Recken einst den antiquierten Kampfbegriff aus
Remeduren sind nur drei: 1. Athen nimmt Dampf gender Burg« (so singt Brünnhilde in Götterdäm- gerückt, um eine bunte und lautstarke Protestallianz dem teutonischen Credo kurzerhand gestrichen,
weg, also spart und wird wieder wettbewerbsfähig. merung) am Äußeren Burgtor, dort wo im Stände- auf Distanz zu halten. Wie ein Raubtierkäfig war weil er ihm nicht mehr opportun war.
2. Es wird zum europäischen Sozialfall, den die staatregime der 1. Republik ein Kriegerdenkmal die Totengedenkstätte eingegittert worden. Allein, In Abwesenheit Straches geriet die Gespenster-
anderen mit ihrer Kohle alimentieren. 3. Hellas für die Gefallenen der Habsburgermonarchie im der Stargast, wie das bei anderen Anlässen heißt, stunde zur blamablen Farce. Die Heldenopabeschwö-
koppelt sich ab oder wird abgehängt. vorangegangen Weltkrieg errichtet worden war. zog es vor zu kneifen. Lampenfieber vor der stimm- rung wurde niedergejohlt und niedergetrillert.
Heute ist jede Lösung so hässlich wie die nächs- Gleichviel, dorthin pilgern sie, bunt kos- gewaltigen Publikumskulisse? Das Kalkül, die Ko- Dadurch ging im Lärm aus der antifaschistischen
te. Griechenland, ein üppiger Sozialstaat mit ver- tümiert und mit lohendem Fackellicht, um der alitionstauglichkeit nicht zu gefährden? Immerhin Fankurve der letzte Affront unter, den der Ersatz-
harzter Privilegienwirtschaft, kann nicht sparen. Toten eines noch schlimmeren Blutbades zu ge- scharrt seine Partei derzeit an der Schwelle zur Re- redner Wolfgang Jung, ein Mitglied des Wiener
Trotz seiner Schwüre sind seine Schulden – private denken, das einst der Nationalsozialismus ver- gierungsbeteiligung, und das Gros der Wählerschaft Gemeinderats, anbringen zu müssen glaubte: Man
schuldet hatte, von dem sich heute das Trauer- gibt auf den völkischen Bombast keinen Pfifferling. gedenke hier gleichermaßen aller Toten des Welt-
korps natürlich in seinen Lippenbekenntnissen Einerlei, auf italienischem Lega-Nord-Territorium krieges, las er vom Zettel ab – womit Opfer und
Foto: Mathias Bothor/photoselection

distanziert, schon allein, um seine Bewegungs- fand Strache vorübergehend Exil. Täter auf eine Stufe gestellt, Mörder und Ermor-

Foto: Georg Hochmuth/APA/picturedesk.com


freiheit nicht zu gefährden. Meist kümmert das Natürlich verprellte der Gedenkdienstver- dete in ein gemeinsames freiheitliches Massengrab
anachronistische Ritual nur wenige, es findet weigerer dadurch die nationalen Politkommis- geworfen wurden.
weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit sare, die sich wieder in den Kommandostruktu- Erwartungsgemäß hatte die gesamte Regierung
statt. In manchen Jahren jedoch eskaliert der ren der Freiheitlichen eingenistet haben. Deren angesichts des Spuks ihren Kopf in den Sand ge-
morbide Spuk zu einem Politikum, ruft De- Sprachrohr, der Europaabgeordnete Andreas steckt. Der Verweis darauf, dass der Jahrestag der
monstrationen auf den Plan, erfordert ein Groß- Mölzer, grollte kryptisch auf seiner Heimatseite endgültigen Befreiung vom NS-Regime doch eher
Josef Joffe ist aufgebot der Polizei und lähmt den Verkehr in im weltweiten Netz über eine »politisch-mora- ein fröhlicher Feier- denn ein Gedenktag in Nazi-
Herausgeber der ZEIT der Innenstadt von Wien – vor allem immer lisch-ideologische Bankrotterklärung«, die es zu Moll sei, hätte wohl sensible Nationalgefühle ver-
dann, wenn sich einige prominente Figuren aus vermeiden gelte, wenn Ehre weiterhin Treue hei- letzen können. Schließlich wird man diese Leute
wie öffentliche – im Vorjahr gestiegen, von 325 der Freiheitlichen Partei allzu vorlaut unter die ßen solle. Im nationalen Lager dürfte Strache höchstwahrscheinlich künftig noch für Koalitions-
auf 340 Milliarden Euro. Und blähen sich weiter akademischen Narbengesichter mischen. nun unter Beobachtung stehen. verhandlungen benötigt.
auf. Das Wachstum lag im vierten Quartal 2010
bei einem Minus von knapp sieben Prozent.
Weiter Kohle zuschießen? Griechische Bonds

Das Spiel vom wankenden Paragrafen


sind nach jeder Finanzspritze wieder abgestürzt;
die Zinsen liegen bei 15 Prozent, die Rating-Agen-
tur S&P hat die Papiere auf »B« gedrückt – weit
unter »Müll«. Wer nun den Griechen Geld leiht,
sollte es besser im Kasino verjuxen. Mit Glück Nachtrag zu einer Groteske: Kritik einer Aufführung am Justiztheater von Wiener Neustadt VON ALFRED J. NOLL
kriegt er 70 oder nur 50 Cent auf den Euro zu-
rück. Die Euphemismen für den Bankrott lauten

D
»Umstrukturieren« oder »Umprofilieren«, sprich: as moderne Regietheater ist vielfältigen Wie sollte denn, so musste das Publikum schon cherung in großem Umfang oder erheblichen Bleibt nachzutragen, mit welchem Effekt sich
Schuldenschnitt oder Stundung. Wie aber käme Anfeindungen ausgesetzt – oft zu Un- bei der Lektüre der Ankündigung fragen, mit ei- Einfluß auf Politik oder Wirtschaft anstrebt ...« die Personen in Szene setzen konnten: Gewiss war
dann Hellas zu neuem Geld – bei einem Schulden- recht. Es kommt eben darauf an, wer die ner derart mittelmäßigen Anklage eine auf Un- Was ließe sich daraus nicht alles machen – es eine besondere Note der Inszenierung, dass sich
stand von 160 Prozent des Inlandsproduktes? Sache leitet. Gehaltvollen Stoff vorausgesetzt, terhaltung und Erbauung zielende Aufführung und was hat man daraus in Wiener Neustadt das Haus entschlossen hatte, die junge Regisseu-
Also Abkoppeln (freiwillig) oder Abhängen (er- vermag eine kluge Führung des Ensembles Ein- gelingen? Diese Zweifel müssen auch den Autor nicht alles gemacht! Jedes Wort des gewieften rin auch im Stück selbst mit einer Hauptrolle zu
zwungen), wie es der medienerprobte Ifo-Chef Sinn sichten zu vermitteln, die man dem Stück in befallen haben, als er das Stück erdachte – er gab Werkes löst assoziative Verbindungen aus, die bedienen. Sonja Arleth vermittelte während ei-
fordert? Erstens erlauben die Verträge den Raus- überkommener Darstellung nicht abzugewinnen der Regie daher Anweisungen, die sich zwar sich mühelos von Mafia bis bin Laden, vom Or- niger Monate überaus nachvollziehbar das Bild
schmiss nicht, und zweitens ist die Medizin mörde- können glaubte. durch schöpferische Eigensinnigkeit auszeichne- ganhandel oder Waffenschmuggel bis zur Hüh- einer überforderten Richterin, um dann mit einer
rischer als die Sepsis. Noch bevor der Drachmen- In der gerade zu Ende gegangen Aufführung ten, den Akteuren aber eine schier unendliche nerhaltung reichen. besonderen Volte zu glänzen: Der Freispruch für
Druck angelaufen wäre, bräche das Höllenfeuer aus: des Landesgerichts Wiener Neustadt hatte man Freiheit bei der Realisierung einräumten. Der Es gibt kritische Erörterungen des Stoffes sonder alle Angeklagten kam ihr derart unvermittelt und
erst ein Run auf griechische Banken, dann Panikver- das Hornberger Schießen auf den Spielplan ge- Witz der Komödie lag im Missverhältnis von Zahl. Aber derartige Darstellungen leiden an Un- die seit Monaten in der Luft liegende Schelte für
käufe von Griechenbonds im Ausland. Denn die setzt. Die allenthalben bekannte Episode hätte strafrechtlicher Substanz und der Länge und anschaulichkeit und einer dem analytischen Zugang die Ermittlungsbeamten derart leichtgängig über
Besitzer müssten kalkulieren, dass die Neo-Drachme vermutlich niemanden in den Saal gelockt, wäre Breite, in die man dieses Nullum vor dem Publi- geschuldeten Unsinnlichkeit: Was Großartiges in die Lippen, dass großes Lob gerechtfertigt scheint.
etwa die Hälfte ihres Wertes gegenüber Hartwährun- nicht die Handlung in die Gegenwart versetzt kum ausbreitete. diesem Stoff steckt, das lässt sich nur auf der Büh- Kaum je hat auf österreichischen Bühnen eine
gen verliert, die Griechen also doppelt so viel zurück- und in skandalträchtiger Weise durch eine ge- Der Autor hatte seine Spielvorlage unter dem ne zum Ausdruck bringen. Was wir heute über § Protagonistin die Grenzen verbeamteter Wankel-
zahlen müssten, was sie erst recht nicht könnten. schickte Abänderung der ursprünglich handeln- Titel § 278a StGB in dürre Worte gekleidet: 278a StGB wissen, das wissen wir durch die Auf- mütigkeit derart plastisch werden lassen. Selten
Besonders pikant wäre die Lage in Deutschland, wo den Personen neu belebt worden. »Wer eine auf längere Zeit angelegte führung von Wiener Neustadt. Welch noch haben sich Laiendarsteller derart gut in
das meiste Gift bei Krisenbanken wie der HRE liegt. Erwartet wurde diesmal nicht der Herzog von unternehmensähnliche Verbindung Potenzial in den wenigen Zeilen Szene gesetzt, und gar noch nie auf einer hei-
Schließlich: Wie würden die Pleitiers je wieder fri- Württemberg, der mit Salut empfangen werden einer größeren Zahl von Per- T GENOSSE steckt, das lässt die Darbietung aber mischen Bühne durfte man erleben, wie eine um
R
sches Geld kriegen, um allein die steigenden Schulden sollte, sondern es wurde die Ankunft des Rechts- sonen gründet oder sich an ei- erst schemenhaft erahnen. die Rechtfertigung jedes einzelnen Subvention-
A

zu bedienen? staats in Aussicht gestellt. Nicht Kanonen ließ man ner solchen Verbindung als Lässt sich das Stück verbes- scents ringende Staatsanwaltschaft ausschließlich
Europa wird also weiter zahlen müssen – auch donnern, sondern die Geschütze der Staatsanwalt- Mitglied beteiligt, die, wenn sern? Kaum. Wer hier glaubt, um des ersehnten Publikumserfolges willen an
bei einem Schuldenschnitt. Denn auch dann ge- schaft. Und am Ende der auf über 14 Monate aus- auch nicht ausschließlich, auf durch Präzisierung optimieren Unvertretbarem fest- und bis zur physischen
rieten die Euro-Zonen- und Griechenbanken mit gedehnten Aufführung waren es nicht die Post- die wiederkehrende und ge- zu können, der nähme dem Erschöpfung durchhielt. Eine fabelhafte En-
jeweils 80 und 65 Milliarden an Schuldscheinen in kutsche und auch keine Rindviecher, die auf die plante Begehung schwerwie- Stück das Wesentliche – just so, sembleleistung vor einem klar konturierten
die Bredouille, derweil EU, IWF und EZB 100 Stadt zukamen, sondern die Schlamperei der Polizei, gender strafbarer Handlungen, wie es ist, stellt sich das Stück als Bühnenbild.
Milliarden wertberichtigen müssten. Finanzkrise II forensische Unverhältnismäßigkeit und legistische die das Leben, die körperliche die Grundvoraussetzung für die Es wird schwer werden, die Prägnanz und
nicht ausgeschlossen. Fazit: Wer den Griechen Paranoia. So wie der Herzog niemals nach Hornberg Unversehrtheit, die Freiheit oder das Möglichkeit einer grenzenlos schöpfe- Aussagekraft dieser Aufführung zu wiederholen,
hilft, hilft seinen Banken. Europa wird zuschießen kam, so erschien auch der Rechtsstaat niemals in Vermögen bedrohen, oder schwerwiegen- rischen Interpretationsfreiheit dar. Will man zumal wir nicht hoffen dürfen, dass das aus-
und stunden müssen. Es lebe die Transfer-Union! Wiener Neustadt. der strafbarer Handlungen im Bereich der se- sich das kostbare Gut kreativer Bühnenbearbeitung schließlich durch Bundessubventionen in Höhe
Wie lange? Bis der Euro-Zug nur einem ein- Der dramaturgische Kniff der Aufführung lag xuellen Ausbeutung von Menschen, der Schlep- bewahren, dann wird man das Stück so nehmen von knapp sechs Millionen Euro ermöglichte
zigen Lokführer, also einer gemeinsamen Steuer- gewiss in der mutigen Verbindung einer auf den perei oder des unerlaubten Verkehrs mit Kampf- müssen, wie es ist. Man würde darstellerischem Spiel eine Wiederholung erfahren wird.
und Ausgabenpolitik gehorcht. Und wenn er bis ersten Blick lachhaften Anklage gegen wild zu- mitteln, Kernmaterial und radioaktiven Stoffen, Geschick Gewalt antun und ihm unerträgliche
dahin entgleist? Vertrauen wir auf den Bushido- sammengefangene Tierschützer mit der schier gefährlichen Abfällen, Falschgeld oder Sucht- Grenzen setzen, wenn man sich zu zeitgeistig- Der Autor ist Rechtsanwalt in Wien und Mitglied im
Song: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« unendlich anmutenden Dauer der Aufführung. mitteln ausgerichtet ist, die dadurch eine Berei- geschmäcklerischen Änderungen hinreißen ließe. Ausschuss der Wiener Rechtsanwaltskammer

A
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DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Die Angst
vor
Gunter Sachs zog daraus die
extremste Konsequenz und nahm
Auf ewig: Frisch
Aufführen! Warum er jetzt
auf die Bühne muss
Raus aus der Klause! Der
Schriftsteller als Redner
Politik Seite 12/13
sich das Leben. Was Hoffnung Jüngster Hundertjähriger
macht: Mediziner zeichnen längst Feuilleton Seite 52/53
Wandern im Holozän
ein positiveres Bild vom Umgang mit Reisen Seite 63
der Krankheit und den Patienten
Illustration: Smetek für DIE ZEIT

Der alte Mann und


das Drama der FDP
WISSEN SEITE 37–40

Ein Gespräch mit dem

Schluss mit luftig Es grünt im Klub Ehrenvorsitzenden


Hans-Dietrich Genscher.
Und: Philipp Rösler
versucht, sich die
Die EU hat alles versucht, um Griechenland aus der Krise zu helfen. Mit der Wahl Winfried Kretschmanns zum Ministerpräsidenten Zukunft vorzustellen
Jetzt hilft nur noch ein Schuldenschnitt VON UWE JEAN HEUSER etabliert sich die dritte deutsche Volkspartei VON GIOVANNI DI LORENZO Magazin; Politik S. 7

D A
er Fall Griechenland zerrt an Finnland – bis die europafeindlichen Rechts- uch wenn man die Grünen nie sie für die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte ZEIT ONLINE
Europa wie kein Problem zuvor. populisten im April fast 20 Prozent der Stimmen gewählt hat, jetzt kann man ihnen tatsächlich gewesen sind: eine große Erfolgs-
Doch das heißt nicht, dass sich holten. In Deutschland spielen FDP-Politiker nur Glück wünschen. Am Don- geschichte, jede Volkspartei für sich eine kleine Bienen am Schaalsee. Wellen
der Kontinent ins Weiter-so mit dem europäischen Feuer und torpedieren die nerstag wird die erste Landes- Koalition, bestrebt, möglichst viele Menschen am sardischen Strand. Kleine
flüchten darf. Er muss sich deutsche Beteiligung am Rettungsfonds. Die regierung in Deutschland unter mitzunehmen, statt Standesinteressen oder Be- Augenblicke, die verzaubern
öffnen für etwas Unerhörtes: Mehrheit haben sie nicht einmal in ihrer Partei Führung eines grünen Minister- rufsgruppen zu vertreten.
eine unerprobte Lösung mit ungewissen Folgen. hinter sich, wohl aber die Stimmung. Und wenn präsidenten vereidigt, und es steht dabei mehr Das alles haben die Grünen nahezu geschafft, Eine neue Videoserie unter
www.zeit.de/video-momente
Aus Berliner Sicht sieht jede Antwort zunächst auch Spiegel Online gerade mit der Meldung auf dem Spiel als der Erfolg einer grün-roten Ko- und darin liegt eine Chance: In einer Zeit, in
einmal gleich unattraktiv aus. Ob man Hellas überzog, die Griechen überlegten, aus dem Euro alition in Baden-Württemberg, die für sich schon der die Zersplitterung der politischen Land-
aufs Neue rettet oder umschuldet, man macht auszutreten: Selbst dort, im Land, in das so viel eine historische Zäsur in der Parteiengeschichte schaft in lauter Klientelparteien befürchtet wird, PROMINENT IGNORIERT
sich unbeliebt. Geld fließt, wächst die Lust auf einen Befreiungs- ist. Es geht auch um die Hoffnung auf politische könnte eine dritte Volkspartei entstehen – voraus-
»Retten« ist ein hübsches Wort, aber die Deut- schlag, so desaströs seine Folgen wären. Erneuerung in Deutschland und um die grund- gesetzt, die SPD, die zweite Volkspartei, bleibt
schen können es nicht mehr hören. Es kostet nur Jeder verfolgt eigene Interessen im Spiel um legende Frage, ob und in welcher Form Volks- auch eine.
wieder Milliarden, und trotzdem beschimpft die Zukunft des Euro. Der Rettungsfonds will parteien eine Zukunft haben. Die baden-württembergischen Sozialdemo-
Europa uns, weil wir – und was könnte uns im weiter retten, die EU dabei mitregieren. Sogar die Grün-Rot also – ein politischer Umsturz aus- kraten haben kaum mehr als 23 Prozent der
Ausland unbeliebter machen – Disziplin im Ge- Europäische Zentralbank ist Partei, seit sie gegen gerechnet in einem wohlhabenden Bundesland, Stimmen auf sich vereinen können, bei diesem
genzug für unser gutes Geld verlangen. den erklärten Willen des damaligen Bundesbank- das jahrzehntelang als Trutzburg von Parteien Ergebnis ist ein Kriterium der Volkspartei schon
»Umschulden«, die andere Möglichkeit, ist chefs Axel Weber die ersten Staatsanleihen kaufte. galt, die einst als bürgerlich bezeichnet wurden. nicht mehr erfüllt. Die Entscheidung Kretsch-
auch eine hässliche Sache, die im Englischen Käme es jetzt zum griechischen haircut, dann Man hat das als fällige Reaktion auf eine 58 Jahre manns, der SPD dennoch die Mehrzahl und die
haircut heißt. Dabei würden die Griechen einen würde ihre Bilanz besonders stark leiden. währende Herrschaft der CDU (mit zeitweiliger wichtigsten Ministerien der Landesregierung zu
Skandal auf Samoa
Teil ihrer Schulden einfach wegschneiden. Ver- Nein, Ruhe wird in keinem Fall eintreten, Hilfe der FDP) interpretiert. Als Ausdruck einer überlassen, ist ihm als Zeichen der Schwäche Dass der Inselstaat Samoa, bislang
gessen. Nicht mehr bezahlen. Auch das käme alle auch nicht beim haircut. Deutschland wäre mit Stimmungswahl, die ohne die Reaktorkatastro- ausgelegt worden. Womöglich war es aber auch östlich der Datumsgrenze gelegen,
teuer zu stehen. Die Griechen, denen erst einmal einem Schlag Milliarden los, einige seiner Banken phe in Fukushima undenkbar gewesen wäre. ein Akt der Klugheit gegenüber einem Partner, beschlossen hat, um den Austausch
niemand mehr Kredit gewährte, ebenso wie die brauchten neue Hilfen, und für Griechenland Aber die Diagnose ist unvollständig, wenn sie der sich tief gedemütigt fühlen muss. Das ist mit dem westlich gelegenen Aus-
Deutschen und andere, die ihnen Geld liehen müsste Europa eine Art Marshallplan auflegen, nicht ein anderes Symptom berücksichtigt, das umso generöser, als Kretschmann und seine Mit- tralien zu erleichtern, dessen Da-
und Teile davon nie mehr wiedersähen. damit der Südosten der Union nicht abstürzt. für die etablierten Parteien die stärkste Heraus- streiter in den Wochen der Koalitionsverhand- tum anzunehmen, also einen Tag
Und doch hätte der Schock etwas Heilsames. forderung seit der Wiedervereinigung darstellt: lungen schwer an der SPD gelitten haben: Sie zu überspringen, ist schlicht ein
Europa will sich Ruhe kaufen. Aber die Warum sind wir denn in einer fortdauernden Noch nie waren die Präferenzen der Wähler so beklagten das Fehlen jeder politischen Fantasie, Skandal. Wenn jeder das Datum
ist auch für Geld derzeit nicht zu haben Schuldenkrise? Weil Banken und Fonds zockten, schwer voraussehbar, noch nie schienen sie so das Beharren auf Posten und alten Positionen. (»das Gegebene« notabene) nach
als gäbe es kein Morgen – und der Staat, der entschlossen zu sein, ihre Wut zu demonstrieren Paradoxerweise stellte ein Erfolg von Grün- Belieben festlegte, würden Schul-
Retten oder nicht retten? Europa spielt eine neue nicht aufgepasst hatte, deshalb unser aller Geld – sei es durch Wahlboykott, sei es durch die Rot in Baden-Württemberg für die SPD eher ein den nicht getilgt, Geburten hinfäl-
Runde seines seit Ausbruch der Schuldenkrise retten musste. Wenigstens einmal sollten Finanz- Stimmabgabe für eine Partei, die sie früher nie Risiko dar. Der Rest der Republik könnte sich an lig, und dieses Glösslein wäre
währenden Spiels. Diejenigen, die – überwiegend institute und Spekulanten mitbezahlen. Viele gewählt hätten. Das hat diesmal Grüne und den Gedanken grüner Ministerpräsidenten ge- längst Makulatur. GRN.
mit anderer Leute Geld – großzügig neue Milliarden haben griechische Staatsanleihen gekauft. Grie- SPD an die Regierung gebracht. Doch dieser wöhnen, als Nächstes bei den Wahlen zum Ber-
ausschütten wollen, positionieren sich als die guten chenland umzuschulden würde deshalb das Si- Erfolg ist nicht mehr als eine Belobigung auf liner Abgeordnetenhaus. kleine Fotos (v.o.n.u.): Pfeiffer/ullstein;
Jonas Unger; Mauritius
Europäer. Die Skeptiker aus dem Norden stehen im gnal an alle Hasardeure senden: Nehmt eure Bewährung. Aus dieser Gefahrenlage kommen die Sozial-
Süden als Geizhälse da, obwohl doch alle gleicher- Verantwortung ernst, der Staat steht nicht im- demokraten nur heraus, wenn sie wieder Anker
maßen wissen, dass es ohne Europa nicht geht. mer für euch ein! Grün-Rot – ein politischer Umsturz in die ganze Gesellschaft werfen, die sie aus ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Wir erleben einen Austausch von Forderun- So ungewiss die genauen Folgen einer Um- ausgerechnet in Baden-Württemberg Rücksicht auf ihre Parteibasis aus den Augen ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
gen, Schuldzuweisungen und Dementis, in dem schuldung sind – allein das wäre ein ungemein verloren haben, und bei der Auswahl ihrer Spit- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
eigentlich niemand seiner Sache sicher sein dürf- wertvolles Signal. Was dagegen geschieht, wenn Der neue Ministerpräsident Winfried Kretsch- zenkandidaten weniger auf die Stimmung der Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
te. Sooft dieser Tage in Ministerien, Geheimrun- Europa immer weiterzahlt, zeichnet sich schon mann ist sich seiner Verantwortung offenbar be- Parteifunktionäre als auf die Erfolgsaussichten DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
den und Medien die Szenarien rauf- und runter- ab. Irland, seit einem halben Jahr unter dem wusst. Schon in der Stunde des Wahltriumphs bei den Wählern achten.
buchstabiert werden – keiner weiß annähernd, Rettungsschirm, will weniger Vorgaben und erinnerte er daran, nun gelte es, die Erwartungen Auch in diesem Punkt haben die Grünen in Abonnement Österreich,
was kommt. Klar ist einzig, dass die Griechen mit niedrigere Zinsen. Wer wollte sie den Iren ab- der Bürger zu erfüllen, die zum ersten Mal Grün Baden-Württemberg ein Beispiel gegeben: Vor Schweiz, restliches Ausland
dem ersten, 110 Milliarden Euro schweren Hilfs- schlagen, wenn die Griechen sie bekommen? Es gewählt hätten. In Interviews sprach er davon, einem Jahr, bei der Aufstellung der Spitzenkan- DIE ZEIT Leserservice,
paket nicht auskommen und uns nicht nur Bürg- gäbe kaum noch ein Halten. Europa kann eben man wolle keine »feindliche Übernahme des didaten zur Landtagswahl, stellte eine linke 20080 Hamburg, Deutschland
Telefon: +49-1805-861 00 09
schaften, sondern echtes Geld kosten werden. nicht nur an zu wenig Solidarität zerbrechen, Landes«, und er lobte den Amtsstil seines Vor- Fronde in der Partei dem Zugpferd Kretschmann Fax: +49-1805-25 29 08
Viel Geld. sondern auch an zu viel. vorgängers Erwin Teufel von der CDU. Auch noch misstrauisch ein Team zur Seite. Als Mi- E-Mail: abo@zeit.de
Eigentlich sollte Griechenland schon im Jahr Sosehr sie die Gefahren einer Umschuldung wenn er vor der Wahl Wert auf die Feststellung nisterpräsident hat er sich nun der Jahrhundert-
2012 wieder gesund sein, doch könnte die Gene- beschwören, so beharrlich verschweigen die legte, dass die Grünen eine volksnahe und keine aufgabe zu stellen, in einer der wirtschaftlich
sung das ganze Jahrzehnt über dauern. Gleich- »guten Europäer« also, an welche Abgründe ihr Volkspartei sein wollten, weil dies ein überholter stärksten Regionen Europas die Ökonomie des
AUSGABE:
wohl verlangen die EU, die Euro-Gruppe und die eigener Weg führt. Die entscheidende Frage ist Begriff sei, so lassen diese Erklärungen doch den Landes mit der Ökologie zu versöhnen; nun
2 0

Zentralbank, dass Europa weiter für die Griechen aber nicht, wer der bessere Europäer ist, da haben Schluss zu: Die Grünen unter Winfried Kretsch- muss er nach den aufreibenden Auseinanderset-

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bezahlt. Angeführt vom Euro-Gruppen-Chef alle führenden Politiker einschließlich Angela mann sind auf dem besten Wege, das zu werden, zungen um Stuttgart 21 auch einen Konsens
4 190745 104005

Jean-Claude Juncker, dem Vertreter des kleinen Merkel ihre Defizite. Die Frage ist vielmehr, was was gemeinhin eine Volkspartei ist. finden. Geschockt von einigen fanatischen For-
Luxemburgs, will das offizielle Europa Ruhe, was auf lange Sicht besser für Europa ist. Nach der Definition von Parteienforschern derungen von Baum- und Bahnhofsschützern,
sie auch kostet. Bloß ist Ruhe nicht zu haben. Die Antwort gibt die Wirklichkeit: Die Ret- zeichnen sich Volksparteien heute vor allem da- plädiert er bereits für den »zivilisierten Streit«.
Zwar beruhigen sich die Spekulanten in aller tung Griechenlands hat trotz aller Milliarden durch aus, dass sie ungefähr 30 Prozent der Wäh- Konsens? Zivilisierter Streit? Klingt verdammt
Welt, wenn Europa weiter zahlt. Aber was ist mit nicht funktioniert. Europa sollte die Umschul- ler vertreten und durch ein relativ unideologi- nach regierungsfähiger Volkspartei: Willkommen
Bürgern und populistischen Politikern? dung wagen. sches Parteiprogramm wählbar für Bürger aus im Klub!
Schon jetzt sind viele erzürnt. Niemand schien unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten 6 6 . J A H RG A N G
europäischer gesinnt als der EU-Musterschüler www.zeit.de/audio sind. Das klingt weit unattraktiver als das, was www.zeit.de/audio CH C 7 4 5 1 C
12 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SCHWEIZ
OFFENER BRIEF

»Verdammte Pflicht«
Frisch-Biograf Julian Schütt wirft der
Schauspielhaus-Chefin Mutlosigkeit vor

Sehr geehrte Barbara Frey,


ich bewundere, wie Sie Klassikern die Schwere
austreiben. Ihre jüngste Inszenierung von Tschechows
Platonow ist die perfekte Antwort auf die aktuelle
Krisen- und Selbstabschaffungsstimmung im Thea-
terbetrieb. Chapeau! Nur zu einem Klassiker fällt
Ihnen leider bedenklich wenig ein, und das ist aus-
gerechnet der Klassiker, dem das Zürcher Schauspiel-

Foto (Ausschnitt): Isolde Ohlbaum/www.ohlbaum.de


haus am meisten verdankt: Max Frisch.
Dessen hundertster Geburtstag wird derzeit über-
all gefeiert. Wie mancher Frisch-Fan war ich ganz
besonders gespannt, welche Attraktion sich seine
Heimbühne überlegen würde. Alle Buchveröffent-
lichungen, Festvorträge, Diskussionsrunden in Ehren,
aber letztlich kann nur das Theater zeigen und prüfen,
wie gegenwärtig Frischs Einfälle noch sind.
Insgeheim hoffte ich, das Schauspielhaus böte das,
was Max Frisch sich zum Geburtstag gewünscht
hätte: ein Wagnis, vielleicht sogar eine Provokation,
jedenfalls keine routinierte Gedenkveranstaltung,
sondern eine leidenschaftliche Auseinandersetzung
mit seinem Theaterwerk, das einst in aller Welt ge-
spielt wurde und heute, wie uns Experten gebets-

»Soll ein Schriftsteller usw.?«


mühlenhaft verkünden, überholt weil es parabelhaft-
pädagogisch und moralinsauer sein soll.
Ich fürchte, sehr geehrte Barbara Frey, das ist auch
Ihre Haltung. Anders ist es nicht zu erklären, dass Ihr
Haus vergangenes Jahr dem Stückeschreiber Frisch
eine Abfuhr erteilte, indem kein Stück, sondern ein

W
Roman von ihm einstudiert wurde, nämlich Stiller, as geschieht mit einem Schrift- (auf Kurt Hirschfeld oder Peter Noll), sondern er Frischs rhetorische Fragetechnik im Angesicht ler, der sich hinstellt und eine Sache verficht, die
und auch nur auf einer geschützten Nebenbühne. steller, wenn er zum Redner ist auch immer wieder als Redner ins politische der Macht hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Schon in ihrer politischen Eindeutigkeit möglicherweise
Die Regisseurin Heike M. Goetze ging wie eine wird? Er kann zum Festredner Tagesgeschäft eingestiegen. So trat er in den sieb- kurz nach seiner Rede erhielt er ein ausführliches, nicht seiner literarischen Offenheit entspricht.
Dracula-Tochter vor, die es darauf abgesehen hatte, werden, der seinem Publikum ziger Jahren mehrfach als Redner auf den Partei- auch als Pressemitteilung der SPD verschicktes »Soll ein Schriftsteller usw.?« Soll er wirklich?
dem Text den Lebenssaft zu nehmen. einen schön geflochtenen Wör- tagen der schweizerischen und der deutschen Schreiben des damaligen Parteivorsitzenden und Auf die Gefahr hin, seine Offenheit einzubüßen
Ich dachte nach dem Stiller-Abend nur eines: Das terstrauß überreicht. Darum geht es Schriftstel- Sozialdemokratie auf. Er tat dies, weil er sich ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt, in dem und sich vor einen Karren spannen zu lassen? Der
kann es nicht gewesen sein. Doch das war es! Mehr lern aber selten, wenn sie Reden halten, und ei- nicht denken konnte, dass »Politik ohne die lästi- dieser Frischs Fragen eine nach der anderen durch- Abbruch des Fragesatzes zeugt von der Selbstver-
kam zum Festjahr nicht vom Schauspielhaus Zürich. nem wie Max Frisch schon gar nicht. Was also ge Assistenz der Intellektuellen eine geschicht- geht: die Frage nach der ethischen Legitimation ständlichkeit dieser Erwartung an den Schriftsteller
Und das macht mich wütend. Wenn ich mir vor geschieht mit dem Schriftsteller, wenn er zu ei- liche Chance hat«. Mit diesen Worten hat er sich eines Rechtsstaats, zum Schutze seiner Ordnung ebenso wie von der Unschlüssigkeit Frischs darüber,
Augen halte, wie zunächst Frisch vom Schauspielhaus nem Redner wird, der etwas zu sagen hat? Der ein 1977 in einer Rede vor den Delegierten des SPD- notfalls Menschenleben zu opfern; die Frage nach ob dies tatsächlich zu seinen Aufgaben gehört.
profitierte, später aber vor allem das Schauspielhaus Anliegen verfolgt und Stellung bezieht? Worin Parteitages in Hamburg geäußert, vor den ver- dem politischen Entwurf eines Zusammenlebens Grass gibt die Antwort mit seinem Beispiel. Wer
von Frisch, wie er mit Dürrenmatt die Pfauenbühne unterscheidet er sich dann noch von einem Poli- sammelten SPD-Granden der damaligen Zeit, der Menschen, das Menschwerdung fördert und wissen will, wie diese Antwort lautet, muss einen
nach dem Krieg immer wieder aus ihrer Lethargie tiker? Und inwiefern ist seine Rede noch ein vor Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Lebenswerte stiftet; und schließlich die Frage, was Text beiziehen, den Frisch 1965 in der ZEIT ver-
und Selbstzufriedenheit riss und dazu beitrug, dass literarischer Text? Schmidt, im November 1977, also inmitten der aus einer Partei wird, wenn sie nicht willens oder öffentlicht hat. Sein Titel: Grass als Redner. Der zeit-
wichtige Köpfe in Zürich blieben und dass dort in- Das sind mit Blick auf Max Frisch keine Nachgefechte des »Deutschen Herbstes«. fähig ist, den Beitrag der Intellektuellen in ihre geschichtliche Hintergrund ist die Bundestagswahl
ternational beachtete Uraufführungen stattfanden, rhetorischen Fragen. In dieser höchst aufgeladenen Stimmung, in der pragmatische Arbeit einzubinden. von 1965, als Willy Brandt, damals noch Regieren-
dann denke ich: Dieses Haus wäre zu einem anderen Meist hat Frisch Reden gehalten, weil er geehrt die Politik zu sehr weitgehenden Abwehrmaßnah- In Willy Brandts Stellungnahme kommt auch der Bürgermeister zu Berlin, gegen den amtierenden
Einsatz verpflichtet, als es ihn jetzt erbracht hat. wurde und sich mit einer Rede dafür bedanken men gegen die Bedrohung der Demokratie auf zum Ausdruck, wie sehr man es seitens der Poli- Kanzler Ludwig Erhard antrat und trotz der Unter-
Entschuldigen Sie meine Deutlichkeit: Sie han- musste. Selbst dann hat er sich aber nicht darauf Kosten der Demokratie bereit war (eine Problema- tik, zumindest der sozialdemokratischen Politik, stützung von Grass die Wahl verlieren sollte. Zu
deln Frischs Geburtstag wie eine Strafaufgabe ab. beschränkt, sich bloß von seiner sonntäglichen tik, die nichts an Bedeutung verloren hat), stellte als Auszeichnung empfand, wenn Frisch sich in Beginn seines Feuilletons zeigt sich Frisch nicht
Keine Lust oder Fantasie, nirgends. Schlimmer noch: Seite zu zeigen. Als er sich 1976 auf seine Dankes- sich Frisch hin, bekundete zu- die eigenen herrschaftspoliti- ohne Skepsis, was das politische Engagement von
Max Frisch scheint Ihnen peinlich zu sein, ein Pfeife rede für den Friedenspreis des Deutschen Buch- nächst einmal seine Solidarität schen Belange einmischte. Grass betrifft: »Günter Grass als Wanderredner zur
rauchendes Theaterfossil, das Ihre Party stört. handels in Frankfurt vorbereitete, schrieb er in mit allen als »Vorbeter des Terro- 100 Jahre Frisch Frisch war es ernst, um mit Bundestagswahl – auch in der Ferne hat man reich-
Ich verlange von Ihnen keinen inszenierten Knie- einem Brief an Uwe Johnson: »Die Rede, die in der rismus« in Verdacht geratenen Peter Bichsel zu reden, und sein lich davon gelesen, dazu geplaudert: Alle Achtung!
fall vor dem toten Jubilar. Aber das Schauspielhaus Paulskirche zu halten ist, sollte eine nützliche sein; Schriftstellern und Intellektuellen Am 15. Mai 2011 Wort hatte Gewicht, wie man oder aber: Schon wieder eine Grass-Show?«
hätte die verdammte Pflicht, alles Theatermögliche eine halbe Stunde, aber sie fordert, dass ich mir über (Heinrich Böll, Günter Grass, wäre der wohl ergänzen kann. Frisch hat von den Wahlkampfauftritten des
zu unternehmen, um dem Dramatiker Max Frisch, den Stand meiner politischen Erwartungen klar Jürgen Habermas und andere) Die Figur, an der Frisch als Schriftstellerkollegen aber nicht nur gelesen, son-
mit dem es so viel verband, ein Revival auf der Büh- werde, also vor mir selber antrete.« und sprach dann an die Adresse wirkungsmächtigste Redner, und insbesondere als dern er hat sie – und das ist für ihn das Entschei-
ne zu gestatten. So ambitioniert, eigenständig, anti- Dass von ihm als Preisträger eine »nützliche« der anwesenden Politprominenz, Autor der Schweiz politischer Redner, sich gemessen dende – auch gehört. Freunde haben Grass auf
zyklisch müsste Ihre Bühne sein. Und es müssten Rede erwartet würde, war Frisch mehr als be- die damals an der Macht war: 100 Jahre alt geworden hat, war Günter Grass. Grass, der Band von Lübeck nach Zürich gebracht, seine
nicht unbedingt die Schulstoffstücke Biedermann und wusst, zu halten in einem hochehrwürdigen »Sozialdemokraten! Die Zukunft, junge Grass, war für Frisch der Rede samt Echo im Saal: »Das ist wichtig: Reden
die Brandstifter oder Andorra zur Aufführung gelan- sonntäglichen Rahmen, der ihm »ziemlich wider- so scheint es im Augenblick, ge- Inbegriff eines redenden Schrift- muss man hören, und zwar als Ereignis an einem
gen. Wieso nicht Biografie: Ein Spiel? Wieso nicht wärtig« war, wie er im Nachhinein bekannte, vor hört der Angst und nicht der Hoffnung auf Mehr- stellers, der den Spagat schafft zwischen literarischer Ort, nicht als Gesang über Wassern.«
Graf Öderland? Selbst Triptychon oder die wegen der lauter Leuten mit toten und maskenhaften Ge- Demokratie. Diese unsere Hoffnung, die wir nicht Ambition und politischer Mission. Wenn der Schriftsteller zum Redner wird, muss
Atomproblematik wieder erschreckend aktuelle sichtern, die »nicht in jedem Fall unbedingt die- aufgeben, gilt zur Zeit als Verharmlosung des Ter- Im zweiten Tagebuch, 1966–1971, unter den er sein Metier also grundsätzlich wechseln: weg vom
Chinesische Mauer wären einen Versuch wert. jenigen waren, die ich mir wünschte ...« Welche rorismus, Angst als des Bürgers erste Pflicht. Was Einträgen von 1970, findet sich eine längere Pas- geschriebenen und hin zum gesprochenen Wort,
Gegen sämtliche Stücke lässt sich vieles einwen- Zuhörerschaft er sich stattdessen gewünscht hät- damit zu betreiben ist: Abbau der Demokratie (wie sage mit dem Titel »Album«. Frisch blättert in weg vom Monolog und hin zum Dialog, aus der
den, sämtliche Inszenierungen wären hoch riskant. te, bleibt ebenso unklar, wie was das Wort »nütz- es heißt: zur Rettung der Demokratie) – das alles, einem Album mit Fotografien von Günter Grass einsamen Schreibstube hinaus und auf die Bühne
Doch diese Risikofreude erwarte ich von Ihnen. lich« im Brief an Johnson genau besagen soll. ich weiß, braucht Ihnen kein Hergereister zu er- und schildert in einer Serie von scharfen Be- hinauf. Obwohl der Redner als Einziger spricht,
Vielleicht würden Sie kolossal scheitern. Dann hätten Jedenfalls hat Frisch es in eine gewisse Spannung zählen. Hingegen habe ich drei Fragen.« obachtungen und knappen Feststellungen, was muss er es verstehen, sein Publikum in ein Gespräch
Sie es aber probiert und müssten sich nicht von einem gebracht zu dem, was er für die Pflicht des Erstens, zweitens, drittens. er vor sich sieht – ob nun tatsächlich oder bloß in zu verwickeln: indem er ihm nicht einfach Meinun-
in Ihren Augen wohl hoffnungslos bildungsbürger- Schriftstellers bei solchen Anlässen hielt: Bevor er In dieser Eröffnung zeigt sich ein wesentliches der Vorstellung, spielt keine Rolle. gen auftischt wie ein Politiker oder ihm einen Vor-
lichen Reaktionär wie mir Mutlosigkeit vorwerfen vor sein Publikum tritt, muss der Schriftsteller, Moment der Rhetorik von Max Frisch: die Tech- Einer der Einträge lautet: »Soll ein Schrift- trag hält wie ein Akademiker, sondern indem er das
lassen. Vielleicht würden Sie aber auch die Kritiker wie es sein Geschäft ist, zuerst einmal vor sich nik, keine plakativen Forderungen oder mora- steller usw.? Seine Antwort: sein Beispiel. Kann Publikum in die offene, öffentliche Zwiesprache
mit ihren vorgefassten Meinungen über den angeb- selber antreten – will er mehr tun, als sich bloß lischen Anklagen zu erheben, sondern öffentlich einer als Wahlkämpfer eindeutig sein, als Schrift- mit sich selbst einzubeziehen versucht.
lich antiquierten Bühnen-Frisch Lügen strafen. Ja, als nützlich zu erweisen. Fragen zu stellen. Es ist eine Technik des öffent- steller offen bleiben? Das ist zuhause; er liest vor.« Die literarische Rede war für Frisch die öffent-
Sie hätten nur gewinnen können. Stattdessen haben Frisch hat aber nicht nur Festreden, also lichen Fragens, das sich ebenso auf eine vorgän- Noch der private Grass, zu Hause beim Vorlesen, liche Anzettelung eines Gesprächs. Im Text Grass
Sie sich für die voreilige Kapitulation entschieden. Dankes-, Eröffnungs- und Geburtstagsreden ge- gige Analyse stützt, wie es die Absicht verfolgt, evoziert die Frage nach dem öffentlichen Grass als Redner schreibt er: »Rede ist nicht Hymnus,
Ich wünsche Ihnen und dem Schauspielhaus halten, und außerdem Lobreden (auf Alfred mit der Rede gleich Vorschläge für die Antworten – und damit auch die allgemeine Frage nach dem sondern Szene: zwischen einem Mann, der vierzig
trotzdem alles Gute. Ihr Julian Schütt Andersch oder Peter Bichsel) und Totenreden zu unterbreiten. öffentlichen Schriftsteller: nach dem Schriftstel- Minuten lang das Wort hat, und einer Zuhörer-

CH
SCHWEIZ 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 13
Foto (Ausschnitt): J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung; © Adrian Moser (kl.)

Frisch bei der Dankesrede


zum Friedenspreis 1976 in
der Frankfurter Paulskirche –
vor lauter Leuten, die »nicht
in jedem Fall unbedingt
diejenigen waren, die ich mir
wünschte...« (links)

»Sozialdemokraten!«: Frisch
mit Helmut Schmidt auf dem
SPD-Parteitag 1977 (rechts)

Max Frisch gilt als Ikone des Schriftstellers, der sich engagiert und einmischt.
Wie aber sah er selbst diese Rolle? VON THOMAS STRÄSSLE

schaft, der er auf suggestive Weise Meinungen un- gehört wird. Insbesondere in der Schweiz ist Frisch das leichte Glück haben, dass sie auch in Fällen von zu schreiben, dazu, seinen Text zu veröffentlichen? Ist Mitteln der Sprache, zersetzend gegenüber Phrasen,
terstellt, um sie zu widerlegen oder zu bestätigen, zur Ikone dieses Schriftstellertypus erstarrt – mit Gelingen keinerlei Berufung empfinden, sondern den es die Eitelkeit, in der Öffentlichkeit zu stehen? Dazu gegenüber Ideologien, gegenüber allen Formeln ei-
zu verspotten, zu ermutigen. Kontakt ist nicht Ein- der Folge, dass den Schreibenden hierzulande und Beruf des Schriftstellers ausüben, weil ihnen Schreiben Frisch, etwas kokett: »Wieso dies eine Ehre sein soll, ner in Angst und Misstrauen erstarrten Welt.
verständnis, das kann sich daraus ergeben; Kontakt heutzutage bei jeder Gelegenheit der Name Max noch eher gelingt als Leben und weil für diesen Ver- bleibt rätselhaft; in der Öffentlichkeit zu sein gelingt In seiner Rede Öffentlichkeit als Partner von 1958,
entsteht aus der suggestiven Fiktion, es handle sich Frisch als leuchtendes Vorbild vor die Nase gehalten such, das Leben schreibend zu bestehen, der Feier- auch jedem Rennfahrer und jedem Minister.« zu einem Zeitpunkt also, da Frisch weltweit erfolgreich
um ein Gespräch und die Rede antworte spontan wird, sobald es darum geht, sich »einzumischen«. abend nicht ausreicht – gehört man zu dieser Art von Für sich selbst reklamiert Frisch einen ganz an- war und eine breite gesellschaftliche Wirkung entfal-
auf die Gedanken und Gefühle im Saal, dabei ent- Kaum je ist Frisch als historische Figur in der Ge- Schriftstellern, wie der Redende, so ist man weniger deren Antrieb, nicht nur zu schreiben, sondern da- tete, gibt er sich mit dieser Verantwortung noch auf
stehen die Gedanken und Gefühle im Saal eben genwart so präsent (von Gedenkjahren und Auf- beglückt als verdutzt, wenn man die Folgen sieht: – mit an die Öffentlichkeit zu gelangen. Es ist nicht eine eigenartige Weise unvertraut: »Spreche ich von
durch die Rede selbst.« regungen um den Nachlass einmal abgesehen), wie man soll, zum Beispiel, Reden halten, man soll sich bloß naive Machlust, die sich ja auch hinter ge- mir selbst, so müsste ich sagen, dass ich die gesell-
Es muss für den redenden Schriftsteller also wenn sich wieder das öffentliche Bedürfnis nach zeigen. Das wird verlangt. Und noch mehr: plötzlich schlossenen Türen austoben könnte, es ist mehr: schaftliche Verantwortung des Schriftstellers nicht bloß
darum gehen, die Offenheit seiner Rede aus- dichterischen Verlautbarungen zu drängenden soll man etwas zu sagen haben, bloß weil man Schrift- »Man hebt das Schweigen, das öffentliche, auf im angenommen, sondern mich, rückläufig sozusagen,
zuspielen: Die literarische Rede ist weder Predigt gesellschaftspolitischen Fragen regt. In der breiteren, steller ist. So rächt sich die Öffentlichkeit dafür, dass Bedürfnis nach Kommunikation.« sogar zum Irrtum verstiegen habe, dass ich überhaupt
noch Statement, weder Anklage noch Plädoyer, auch von den Medien stark beförderten Wahr- wir sie angesprochen haben!« Bedürfnis nach Kommunikation: Das ist eine aus solcher Verantwortung heraus schreibe ...«
sondern sie ist eine Einladung an die Waghalsi- nehmung beherrscht Max Frisch, Citoyen das Bild Weniger beglückt als verdutzt sieht sich Frisch andere Formulierung für das Gesprächsangebot, das Gesellschaftliche Verantwortung als rückläufiger
gen unter der Zuhörerschaft, für eigene Gedan- von Max Frisch, Écrivain. einer Forderung gegenüber, die nicht seine eigene der Schriftsteller macht, wenn er sich an die Öffent- Irrtum: Das passt nicht gerade ins Bild von Max
ken und Gefühle haftbar zu werden. Frischs Das ist nicht nur unangebracht gegenüber den ist, sondern die der Öffentlichkeit – einer Öffent- lichkeit wendet. Frisch tut dies weniger, um Wirkung Frisch, Citoyen. Und dennoch nahm Frisch diese
rhetorisches Ideal war keine Rhetorik der Mani- heutigen Schriftstellergenerationen, die in einem lichkeit, die vom Schriftsteller nicht bloß erwartet, nach außen zu erzielen als vielmehr nach innen, im Verantwortung an, ohne sie aber letztlich zu seinem
pulation, sondern eine Rhetorik der aufkläreri- völlig anderen diskursiven – politischen, medialen, dass er etwas zu sagen hat, sondern die von ihm vor Sinne einer Selbstvergewisserung im Spiegel des ver- Schreibimpetus zu erklären. Denn dieser war ein
schen Selbstbewusstwerdung. mentalitären und so weiter – Umfeld zu agieren allem erwartet, dass er es ihr tatsächlich auch sagt. öffentlichten Ich. Daraus aber kann umgekehrt eine ästhetischer und kein pamphletischer, und genau
Um den abgebrochenen Fragesatz aus dem haben als Max Frisch, sondern es blendet auch aus, Warum schreibt ein Schriftsteller? Einige Schrift- gesellschaftliche Verantwortung des Schriftstellers er- darin unterschied er sich als Künstler vom Politiker.
zweiten Tagebuch wieder aufzunehmen: »Soll dass Frisch selbst diese Rolle weit weniger enthusi- steller wehren sich mit der Behauptung: »Um Geld wachsen, die sich »anständigerweise ja erst von einer Auch wenn Frisch zum Inbegriff des Schriftstellers
ein Schriftsteller usw.?« Ja, er soll – aber eigent- astisch annahm, als heute kolportiert wird. zu verdienen.« Andere mit dem Anspruch: »Um die gewissen Wirkung an« stellt. Und das wiederum heißt: geworden ist, der sich einmischt: Er hat nur zöger-
lich nur, wenn er es so kann, wie Frisch es vor- Das zeigt sich in seinen Beobachtungen zu Grass Welt zu verändern.« Frisch bekennt sich zu einer Verantwortung ist eine Folge des Erfolges. lich und widerstrebend in diese Rolle gefunden.
schwebte und Grass es vormachte. so gut wie in seinen eigenen Reden. Die Rede zur dritten Fraktion: »Um zu schreiben!« Worin aber besteht die gesellschaftliche Verant-
Der Autor ist Privatdozent für Neuere deutsche und
Der Schriftsteller als Redner: Das meint den Eröffnung der Frankfurter Buchmesse von 1958, Wer als Schriftsteller Geld verdienen oder die Welt wortung des Schriftstellers? Frisch hat es für sich vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität
Schriftsteller, der seine Schreibklause verlässt und Öffentlichkeit als Partner, seine erste ganz große Rede verändern will, muss unbedingt an die Öffentlichkeit selbst so definiert: Sie besteht darin, Widerspruch Zürich und SNF-Förderprofessor an der Hochschule der
auf die Agora hinaustritt, um sich gesellschaftliches vor großem Publikum, beginnt er mit dem Be- treten. Das ist klar. Was aber bewegt einen Schrift- einzulegen im Namen des Lebendigen, zersetzend Künste Bern. Er sitzt im Max Frisch-Stiftungsrat und in
Gehör zu verschaffen – und der im Idealfall auch kenntnis: »Gehört man zu den Schriftstellern, die steller der dritten Fraktion, der einfach schreibt, um zu sein mit den eigenen Mitteln, nämlich mit den der Jury für den Schweizer Buchpreis 2011

CH

SCHWEIZERSPIEGEL

Sommarugas Eiertanz
Ein schweizerisch-europäischer Abend in Köniz VON PEER TEUWSEN

Es sind nicht nur die Temperaturen im Baucon- den der luxemburgische Premier Jean-Claude
tainer, die den Kabarettisten schwitzen lassen. Juncker mal so beschrieben hat: »Wer den Wäh-
»Was soll ich nur von der Schweiz und Europa lern immer nur nachläuft, der wird den Men-
erzählen? Mamma mia! Es ist alles so verdammt schen nie ins Gesicht sehen. Deshalb muss man
ruhig!«, sagt Massimo Rocchi in seiner behelfs- erklärend führen und nicht nur die angenom-
mäßigen Garderobe. Es ist halb sechs Uhr an mene Mehrheitsmeinung nachplappern.«
diesem Montag, 9. Mai 2011. Vor 61 Jahren gab Der Bundesrat aber will nicht führen, weil er
der französische Außenminister Robert Schuman das Volk fürchtet. Das weiß auch Sommaruga.
der neuen Europäischen Gemeinschaft einen Deshalb versucht sie es auf der Baustelle auf ihre
Satz mit auf den Weg: »L’Europe ne se fera pas Weise – auch wenn es sich nicht um ihr ureigenes
d’un coup.« Und in 30 Minuten eröffnet Michael Dossier handelt. Sie sagt, man habe zu lange nur
Reiterer auf einer Baustelle in Köniz den »Euro- die Vorteile des bilateralen Weges gepriesen,
patag«. Der Statthalter der EU in der Schweiz ohne die Nachteile klar und deutlich zu benen-
will mit der ungewöhnlichen Lo- nen. Der bilaterale Weg führe zu
cation auf den unfertigen Cha- Souveränitätsverlust und sei »ein
rakter seines Arbeitgebers hin- Handling von Abhängigkeiten«.
weisen. Das leuchtet jedem ein. Diese »Ambivalenzen« müsse
Ein Altersheim wird hier ge- man klar ansprechen, sonst ent-
baut, das man aber bitte nicht so stünden »Tabus«. Dass diese
nennen soll. Man biete für die schon lange existieren, sagt sie
»Generation 50+ gemischtes nicht – Kraft ihres Amtes dem
Wohnen« an. Ein Euphemismus Optimismus verschrieben. Sie
– aber irgendwie passt er zum Gemischtes Wohnen: erntet dankbaren Applaus. Die
Verhältnis zwischen der Schweiz Botschafter Reiterer und Sozialdemokratin hat ihr Herz
und Europa. Wie alles an diesem Bundesrätin Sommaruga wieder einmal der Vernunft und
Abend. der Position untergeordnet.
Fünf Minuten vor der Zeit Und dann kommt Massimo
trifft, umringt von dunklen Anzügen, die Haupt- Rocchi, Monsieur Vogelfrei. Er darf alles sagen,
rednerin ein. Simonetta Sommaruga, amtsfrische weil er es wie kein anderer sagen kann. Aber auch
Bundesrätin, ist in ein Kleid gehüllt, das sie er rettet sich angesichts des heiklen Themas in
»meinen Blaumann« nennt. Es hat etwas europä- die Sprachartistik, die er freilich beherrscht wie
isch Anpackendes. Die Magistratin ist ein biss- kein Zweiter in diesem Land. Man muss schon
chen nervös. Denn sie tut hier etwas, das sie genau hinhören, um seine Spitzen zu bemerken.
später im Gespräch als »eine weitere Einübung in Es sind Sätze wie »Ein Schweizer ist nie dagegen,
meine neue Aufgabe« bezeichnen wird. Aber das aber auch nie dafür«, die aufs Dilemma hindeu-
tut sie bereits unheimlich gut. ten. Aber er hatte es ja schon in der Garderobe
Sommaruga muss, wie sie sagt, »ein Paradox« geahnt. Wohl deshalb mimt er als Zugabe ein
beschreiben. Sie vertritt ein Land, das sich kultu- Kamel. Nur böswillige Menschen wollten darin
rell und wirtschaftlich als Teil Europas versteht, eine Metapher für die Eidgenossenschaft sehen,
diesem aber politisch nicht angehören will. Da- die anderen waren einfach nur hingerissen.
raus leitet die offizielle Schweiz eine Haltung ab, Nun, endlich, gab es Auberginenröllchen,
die man im besten Fall als »heimlifeiss« im Crevetten und Brötchen mit Europa-Fähnchen
schlechtesten Fall als »feige« bezeichnen kann. drauf. Und einen Bauarbeiterhelm mit auf den
Die Regierung duckt sich weg. Sie bestellt Exper- Weg nach Hause. Das nennt man in der Schweiz
tenberichte. Sie sitzt aus. Statt den Weg zu gehen, einen gelungenen Abend.
14 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 SCHWEIZ
ZEITGEIST

N
ach Wahltagen, wie jüngst in »Smartspider« erlangte Deutungsmacht in Schwei-
Baden-Württemberg oder im zer Wahlkämpfen. Die Spinnennetz-Grafik ver-
Kanton Zürich, klingelt das Tele- anschaulicht das Profil eines Politikers – und des
Hoffnung stirbt zuletzt fon heiß, hier im schmucklosen,
fein säuberlich aufgeräumten
Wählers – in acht thematischen Dimensionen:
von der außenpolitischen Öffnung, der wirt-
Europa wird für Hellas
JOSEF JOFFE: Büro auf dem Irchel in Zürich. Am Apparat: schaftlichen Liberalisierung über die restriktive
Fernsehstationen, Radiosender, Zeitungen. Und Migrationspolitik zum Ausbau des Sozialstaats.
bluten, um sich selber zu retten Michael Hermann, 39-jähriger Sozialgeograf, Nun waren politische Positionen vergleichbar,
Chef-Erklärer der Schweizer Politlandschaft, Politiker und Parteien »entlarvt«. Doch niemand
Die Kassandras haben recht behalten: Geld- ohne Poli- nimmt den Hörer immer ab: »Es ist anstren- hinterfragte die Aussagekraft der Diagramme. Zu
tikunion geht nicht. Vor zwölf Jahren hat Europa mit gender, keine Auskunft zu geben, als Auskunft faszinierend war diese neue Einfachheit. Einzig
dem Euro den »Zug der Hoffnung« auf die Schiene ge- zu geben.« die linke WoZ mahnte vor den Eidgenössischen
setzt: 16 Lokomotiven mit 16 Führern. Die fromme Die Schweizer Politikjournalisten leiden an Wahlen 2007 zur Vorsicht: »Ist Michael Hermann
Hoffnung? Jede Lok werde im gleichen Tempo – mit »Expertitis«. Immer weniger leisten sich eine ein schrecklicher Vereinfacher?«, schrieb Marcel
gleicher Steuer- und Ausgabenpolitik – fahren; sonst eigene Meinung, sie sind denkfaule Content- Hänggi – notabene ein Wissenschaftsjournalist.
würden die Kupplungen brechen oder alle zusammen Abfüller geworden. Also fragen sie andere – am Eine gute Frage. Die Welt lässt sich durch
entgleisen. liebsten Michael Hermann. Er ist ihre Denk- Daten nur illustrieren, aber nicht erklären. Daten
Der Bruchpunkt ist jetzt. Um im Bild zu bleiben: Man- prothese. Der Schlaks mit Hipster-Brille ist ge- sind nie neutral, sondern immer Interpretation.
che Lokführer, Athen vorweg, haben so lange so heftig suchter als die Grandseigneurs der Branche, er Hermann bestimmt, welches Abstimmungsver-
geheizt, bis die Kohle ausging. Der Remeduren sind nur überflügelt den Berner Umfragenkönig Claude halten als links, rechts, liberal, konservativ, welt-
drei: 1. Athen nimmt Dampf weg, also spart und wird Longchamp ebenso wie den Innerschweizer offen oder isolationistisch gilt – und was das für
wieder wettbewerbsfähig. 2. Es wird zum europäischen
Sozialfall, den die anderen mit ihrer Kohle alimentieren. 3.

Landvermesser H.
Hellas koppelt sich ab oder wird abgehängt.
Heute ist jede Lösung so hässlich wie die nächste. Grie-
chenland, ein üppiger Sozialstaat mit verharzter Privilegien-
wirtschaft, kann nicht sparen. Trotz seiner Schwüre sind
seine Schulden – private wie öffentliche – im Vorjahr ge-
stiegen, von 325 auf 340 Milliarden Euro. Und blähen sich
weiter auf. Das Wachstum lag im vierten Quartal 2010 bei Wenn ein Journalist keine Meinung hat, ruft er Michael
einem Minus von knapp sieben Prozent.
Weiter Kohle zuschießen? Griechische Bonds sind
Hermann an. Wer ist der Mann, dessen Deutungsmacht über die
nach jeder Finanzspritze wieder abgestürzt; die Zinsen Schweizer Politik immer größer wird? VON MATTHIAS DAUM
liegen bei 15 Prozent, die Rating-Agentur S&P hat die
Papiere auf »B« gedrückt – weit unter »Müll«. Wer nun
den Griechen Geld leiht, sollte es besser im Kasino ver- Iwan Rickenbacher, den TV-Experten bei Bun- die Verortung im »Spinnennetz« bedeutet. Wahr-
juxen. Mit Glück kriegt er 70 oder nur 50 Cent auf den desratswahlen. haben wollten dies in der Medien- und Politszene
Euro zurück. Die Euphemismen für den Bankrott lauten Michael Hermanns Erfolgsformel lautet: nur wenige. Bis im letzten Herbst die Politologin
»Umstrukturieren« oder »Umprofilieren«, sprich: Schul- Politik ist messbar. Regula Stämpfli in einer Radiosendung den Kol-

Foto: Martin Ruetschi/Keystone


denschnitt oder Stundung. Wie aber käme dann Hellas Zusammen mit Heiri Leuthold, seinem vor legen Hermann als »Wahlvermesser mit dem
zu neuem Geld – bei einem Schuldenstand von 160 Pro- zwei Jahren verstorbenen Geschäftspartner und politischen Reflexionsgrad eines Planktons« be-
zent des Inlandsproduktes? Freund, brachte er Ordnung in die kompli- schimpfte. Der Gescholtene reagierte cool. Als ihn
Also Abkoppeln (freiwillig) oder Abhängen (erzwun- zierten politischen Realitäten. Statt Einschät- wenig später ein Journalist anrief, antwortete er:
gen), wie es der medienerprobte Ifo-Chef Sinn fordert? zungen und Vermutungen präsentierten sie »Hallo, hier ist das Plankton.« Inhaltlich aber be-
Erstens erlauben die Verträge den Rausschmiss nicht, und faktengestützte Wahrheiten, dargestellt in faszi- schäftigt ihn die Kritik. Ja, er ist froh darum.
zweitens ist die Medizin mörderischer als die Sepsis. Noch nierenden Grafiken und Karten. Damit traf der »Mich stört selbst, wenn die Ratings zum Fetisch
bevor der Drachmen-Druck an- ehemalige Absolvent des mathematisch-natur- werden.« Er fühle sich manchmal als Zauberlehr-
gelaufen wäre, bräche das Höl- wissenschaftlichen Gymnasiums im bernischen ling, der die gerufenen Geister nicht mehr los- »Wo bleibt Eure Überzeugung?« Michael Hermann, 39, Politgeograf
Foto: Mathias Bothor/photoselection

lenfeuer aus: erst ein Run auf Langenthal den Nerv des Internet-Zeitalters. werde. Etwa als Mitte Januar in der TV-Arena zum
griechische Banken, dann Panik- Begonnen hat alles im Oktober 1999. Die zwei Berner Ständeratswahlkampf alle Kandidaten mit
verkäufe von Griechenbonds im jungen Geografen, Hermann war damals 28, ihren Profilen »wedelten«. Oder wenn ihn eine Steuerwettbewerb. Für eine starke Zuwanderung, ter, länger, verschachtelter als seine gedruckten Inter-
Ausland. Denn die Besitzer präsentierten im Magazin und in Le Temps ihre Gruppe CVP-Parlamentarier fragt, wie sie stim- aber die Ängste der Bevölkerung seien ernst zu viewantworten. Als Mensch ist er schwierig zu fassen.
müssten kalkulieren, dass die »politische Landkarte des Nationalrats«. 517 na- men müssten, um im Hermannschen Diagramm nehmen. Gegen eine Zersplitterung der Schweiz Seine Biografie ist geprägt von der Kindheit im kon-
Neo-Drachme etwa die Hälfte mentliche Abstimmungen der großen Kammer möglichst rechts eingeordnet zu werden. »Da in Ghettos von Gleichgesinnten. Hermann ist die servativen Huttwil im Emmental, wo die Eltern eine
ihres Wertes gegenüber Hart- hatten die beiden ausgewertet. Die Karte zeigte frage ich: Wo bleibt eure Überzeugung?« personifizierte Mitte. Welche Partei er wählt, das Drogerie führten. Beide waren Mitglieder in der
währungen verliert, die Grie- die exakte Position aller Nationalräte zwischen den Hermanns eigene Meinung liest man seit zwei aber behält er für sich. SVP, damals die Partei der Bauern, der Geerdeten.
chen also doppelt so viel zurück- drei Polen links, rechts-liberal und rechts-konser- Jahren in einer monatlichen Kolumne im Tages- Sein Einfluss als Politexperte sei sowieso gerin- Die Missionare hockten im Täufer-Land in den
Josef Joffe ist zahlen müssten, was sie erst recht vativ. Journalisten, Leser und Experten jubilierten: Anzeiger und im Bund. In seinen Texten irritiert ger als angenommen: »Die SVP wird nicht mehr Kirchen. Andersdenkende lernte Hermann mögen,
Herausgeber der nicht könnten. Besonders pikant Plötzlich diese Übersicht! Die zerfledderten Bür- Hermann sein linksliberales Milieu, er wohnt mit oder weniger gewählt, nur weil man ihr ein Wachs- doch falsche Gewissheiten stören ihn.
ZEIT wäre die Lage in Deutschland, gerlichen, die kompakte Linke, die polternde, aber seiner Partnerin im Zürcher Kreis 5, mit einer tum prognostiziert.« Er glaube nicht, dass die SVP Aber welches Bild hat er von der künftigen
wo das meiste Gift bei Krisen- im Parlament chancenlose SVP. entspannten Haltung zur SVP. Auch persönlich der Schweiz schade. Im Gegenteil, sie integriere Schweiz? Die Frage beschäftigt ihn nicht. »Es
banken wie der HRE liegt. Schließlich: Wie würden die In den kommenden Jahren erlebte die Schwei- hat er keine Berührungsängste vor der wähler- die extremen Kräfte. Noch 1999 fürchtete er sich kommt ohnehin anders, als man denkt«, spricht
Pleitiers je wieder frisches Geld kriegen, um allein die zer Politik einen Vermessungsboom. Mal eruier- stärksten Partei des Landes. Im Januar 2010 war vor der Partei, aber ihr Gesellschaftsprojekt, die der demütige Fatalist aus ihm. Er behält den küh-
steigenden Schulden zu bedienen? te man die Nähe der Politiker zum Gewerbever- er Gast an der SVP-Kadertagung im Hotel Bad neoliberale Revolution, sei gescheitert. Erfolge len Blick des Programmierers: Es gibt Probleme,
Europa wird also weiter zahlen müssen – auch bei einem band, dann drückte man das Bundesparlament Horn am Bodensee. Spricht man ihn darauf an, verzeichne sie auf symbolpolitischen Neben- und die muss man lösen. Punkt. Etwa jenes der
Schuldenschnitt. Denn auch dann gerieten die Euro-Zo- ins Links-rechts-Schema. Hermann, der an der sagt er: »Ich kann doch ein positives Bild einer schauplätzen, nicht im Maschinenraum der Poli- blockierten Regierung. Im Juni erscheint sein
nen- und Griechenbanken mit jeweils 80 und 65 Milliarden Uni Zürich als Lehrbeauftragter arbeitet, seine Partei haben und trotzdem meinen eigenen Stand- tik, der Verwaltung. Und die Vergiftung des poli- Buch über die Konkordanz, verfasst im Auftrag
an Schuldscheinen in die Bredouille, derweil EU, IWF und Forschungsstelle Sotomo aber als Firma führt, punkt beibehalten.« Es solle ihm nicht ergehen tischen Klimas, die Hetze gegen Minderheiten? von Avenir Suisse. Hermann will das Regierungs-
EZB 100 Milliarden wertberichtigen müssten. Finanz- berät heute: Economiesuisse, Bankiervereini- wie manchem Journalisten, der beim ersten Kon- »Unsere Gesellschaft erträgt solche Stimmen. Sie system retten – zu den Details schweigt er. Doch
krise II nicht ausgeschlossen. Fazit: Wer den Griechen hilft, gung, Hotelleriesuisse, Interpharma, Bundes- takt mit der Rechten gleich konvertiere. Selber ist robust und hat nicht nur eine dünne zivilisato- von einer Konkurrenzdemokratie hält er nichts.
hilft seinen Banken. Europa wird zuschießen und stunden ämter, Baudirektionen, Zürcher Kantonalbank, war er 15 Jahre SP-Mitglied, der Dritte Weg von rische Oberfläche, unter der die Barbarei lauert.« Sein Motto: Einbeziehen statt ausschließen,
müssen. Es lebe die Transfer-Union! L’Hebdo, Beobachter, Tages-Anzeiger, Sonntags- Blair und Schröder faszinierte ihn. Vor zwei Jahren Anderthalb Stunden sitzen wir da bereits am Eintracht schaffen statt Zwist säen, dem Zukünf-
Wie lange? Bis der Euro-Zug nur einem einzigen zeitung, NZZ und NZZ am Sonntag. Hermann trat er aus, auch berufsbedingt. Kaffeetisch in seinem Büro, dessen Tischtuch das tigen in kleinen Schritten entgegengehen – viel-
Lokführer, also einer gemeinsamen Steuer- und Aus- sagt: »Wenn ich für alle arbeite, erhöht das mei- Wofür also steht er persönlich heute? Driftete Konterfei von Barack Obama ziert. Hermann, die leicht hören Politiker, Verbände und Journalisten
gabenpolitik gehorcht. Und wenn er bis dahin entgleist? ne Unabhängigkeit.« er nach rechts? Europafreundlich sei er, aber gegen langen Beine verschränkt, wirkt ernst, nachdenklich. deshalb auf Hermann, weil er so ist wie sie.
Vertrauen wir auf den Bushido-Song: »Die Hoffnung Doch der Politik-Vermesser ist mehr als ein einen EU-Beitritt ohne Not. Für wirtschaftliche Er ist kein Vielschwätzer, wie man aufgrund seiner Ein Schweizer, der weiß: In der Mitte lebt es
stirbt zuletzt.« erfolgreicher Geschäftsmann. Seine Erfindung Liberalisierungen, aber gegen einen entfesselten Medienpräsenz vermutete. Die Sätze sind nuancier- sich am besten.

CH
PREIS DEUTSCHLAND 4,00 €
DIE
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
ZEIT 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20

Moralweltmeister

Die Angst
Deutschland

vor
Gunter Sachs zog daraus die
extremste Konsequenz und nahm
Fukushima, Libyen,
die Tötung Osama bin
Ladens: Die Deutschen
wissen es immer besser.
Gutmenschen nerven,
findet Josef Joffe. Sie sind
sich das Leben. Was Hoffnung nötiger denn je, antwortet
Katrin Göring-Eckardt
macht: Mediziner zeichnen längst
Politik Seite 2–4
ein positiveres Bild vom Umgang mit Feuilleton Seite 49
der Krankheit und den Patienten
Illustration: Smetek für DIE ZEIT

SACHSEN

WISSEN SEITE 37–40

Schluss mit luftig Es grünt im Klub Druck aus Dresden


Wie Frank Harings
Jugendzeitung »Spiesser«
Die EU hat alles versucht, um Griechenland aus der Krise zu helfen. Mit der Wahl Winfried Kretschmanns zum Ministerpräsidenten einen Großverlag ärgert
Jetzt hilft nur noch ein Schuldenschnitt VON UWE JEAN HEUSER etabliert sich die dritte deutsche Volkspartei VON GIOVANNI DI LORENZO Politik Seite 13

D A
er Fall Griechenland zerrt an Finnland – bis die europafeindlichen Rechts- uch wenn man die Grünen nie sie für die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte ZEIT ONLINE
Europa wie kein Problem zuvor. populisten im April fast 20 Prozent der Stimmen gewählt hat, jetzt kann man ihnen tatsächlich gewesen sind: eine große Erfolgs-
Doch das heißt nicht, dass sich holten. In Deutschland spielen FDP-Politiker nur Glück wünschen. Am Don- geschichte, jede Volkspartei für sich eine kleine Bienen am Schaalsee. Wellen
der Kontinent ins Weiter-so mit dem europäischen Feuer und torpedieren die nerstag wird die erste Landes- Koalition, bestrebt, möglichst viele Menschen am sardischen Strand. Kleine
flüchten darf. Er muss sich deutsche Beteiligung am Rettungsfonds. Die regierung in Deutschland unter mitzunehmen, statt Standesinteressen oder Be- Augenblicke, die verzaubern
öffnen für etwas Unerhörtes: Mehrheit haben sie nicht einmal in ihrer Partei Führung eines grünen Minister- rufsgruppen zu vertreten.
eine unerprobte Lösung mit ungewissen Folgen. hinter sich, wohl aber die Stimmung. Und wenn präsidenten vereidigt, und es steht dabei mehr Das alles haben die Grünen nahezu geschafft, Eine neue Videoserie unter
www.zeit.de/video-momente
Aus Berliner Sicht sieht jede Antwort zunächst auch Spiegel Online gerade mit der Meldung auf dem Spiel als der Erfolg einer grün-roten Ko- und darin liegt eine Chance: In einer Zeit, in
einmal gleich unattraktiv aus. Ob man Hellas überzog, die Griechen überlegten, aus dem Euro alition in Baden-Württemberg, die für sich schon der die Zersplitterung der politischen Land-
aufs Neue rettet oder umschuldet, man macht auszutreten: Selbst dort, im Land, in das so viel eine historische Zäsur in der Parteiengeschichte schaft in lauter Klientelparteien befürchtet wird, PROMINENT IGNORIERT
sich unbeliebt. Geld fließt, wächst die Lust auf einen Befreiungs- ist. Es geht auch um die Hoffnung auf politische könnte eine dritte Volkspartei entstehen – voraus-
»Retten« ist ein hübsches Wort, aber die Deut- schlag, so desaströs seine Folgen wären. Erneuerung in Deutschland und um die grund- gesetzt, die SPD, die zweite Volkspartei, bleibt
schen können es nicht mehr hören. Es kostet nur Jeder verfolgt eigene Interessen im Spiel um legende Frage, ob und in welcher Form Volks- auch eine.
wieder Milliarden, und trotzdem beschimpft die Zukunft des Euro. Der Rettungsfonds will parteien eine Zukunft haben. Die baden-württembergischen Sozialdemo-
Europa uns, weil wir – und was könnte uns im weiter retten, die EU dabei mitregieren. Sogar die Grün-Rot also – ein politischer Umsturz aus- kraten haben kaum mehr als 23 Prozent der
Ausland unbeliebter machen – Disziplin im Ge- Europäische Zentralbank ist Partei, seit sie gegen gerechnet in einem wohlhabenden Bundesland, Stimmen auf sich vereinen können, bei diesem
genzug für unser gutes Geld verlangen. den erklärten Willen des damaligen Bundesbank- das jahrzehntelang als Trutzburg von Parteien Ergebnis ist ein Kriterium der Volkspartei schon
»Umschulden«, die andere Möglichkeit, ist chefs Axel Weber die ersten Staatsanleihen kaufte. galt, die einst als bürgerlich bezeichnet wurden. nicht mehr erfüllt. Die Entscheidung Kretsch-
auch eine hässliche Sache, die im Englischen Käme es jetzt zum griechischen haircut, dann Man hat das als fällige Reaktion auf eine 58 Jahre manns, der SPD dennoch die Mehrzahl und die
haircut heißt. Dabei würden die Griechen einen würde ihre Bilanz besonders stark leiden. währende Herrschaft der CDU (mit zeitweiliger wichtigsten Ministerien der Landesregierung zu
Skandal auf Samoa
Teil ihrer Schulden einfach wegschneiden. Ver- Nein, Ruhe wird in keinem Fall eintreten, Hilfe der FDP) interpretiert. Als Ausdruck einer überlassen, ist ihm als Zeichen der Schwäche Dass der Inselstaat Samoa, bislang
gessen. Nicht mehr bezahlen. Auch das käme alle auch nicht beim haircut. Deutschland wäre mit Stimmungswahl, die ohne die Reaktorkatastro- ausgelegt worden. Womöglich war es aber auch östlich der Datumsgrenze gelegen,
teuer zu stehen. Die Griechen, denen erst einmal einem Schlag Milliarden los, einige seiner Banken phe in Fukushima undenkbar gewesen wäre. ein Akt der Klugheit gegenüber einem Partner, beschlossen hat, um den Austausch
niemand mehr Kredit gewährte, ebenso wie die brauchten neue Hilfen, und für Griechenland Aber die Diagnose ist unvollständig, wenn sie der sich tief gedemütigt fühlen muss. Das ist mit dem westlich gelegenen Aus-
Deutschen und andere, die ihnen Geld liehen müsste Europa eine Art Marshallplan auflegen, nicht ein anderes Symptom berücksichtigt, das umso generöser, als Kretschmann und seine Mit- tralien zu erleichtern, dessen Da-
und Teile davon nie mehr wiedersähen. damit der Südosten der Union nicht abstürzt. für die etablierten Parteien die stärkste Heraus- streiter in den Wochen der Koalitionsverhand- tum anzunehmen, also einen Tag
Und doch hätte der Schock etwas Heilsames. forderung seit der Wiedervereinigung darstellt: lungen schwer an der SPD gelitten haben: Sie zu überspringen, ist schlicht ein
Europa will sich Ruhe kaufen. Aber die Warum sind wir denn in einer fortdauernden Noch nie waren die Präferenzen der Wähler so beklagten das Fehlen jeder politischen Fantasie, Skandal. Wenn jeder das Datum
ist auch für Geld derzeit nicht zu haben Schuldenkrise? Weil Banken und Fonds zockten, schwer voraussehbar, noch nie schienen sie so das Beharren auf Posten und alten Positionen. (»das Gegebene« notabene) nach
als gäbe es kein Morgen – und der Staat, der entschlossen zu sein, ihre Wut zu demonstrieren Paradoxerweise stellte ein Erfolg von Grün- Belieben festlegte, würden Schul-
Retten oder nicht retten? Europa spielt eine neue nicht aufgepasst hatte, deshalb unser aller Geld – sei es durch Wahlboykott, sei es durch die Rot in Baden-Württemberg für die SPD eher ein den nicht getilgt, Geburten hinfäl-
Runde seines seit Ausbruch der Schuldenkrise retten musste. Wenigstens einmal sollten Finanz- Stimmabgabe für eine Partei, die sie früher nie Risiko dar. Der Rest der Republik könnte sich an lig, und dieses Glösslein wäre
währenden Spiels. Diejenigen, die – überwiegend institute und Spekulanten mitbezahlen. Viele gewählt hätten. Das hat diesmal Grüne und den Gedanken grüner Ministerpräsidenten ge- längst Makulatur. GRN.
mit anderer Leute Geld – großzügig neue Milliarden haben griechische Staatsanleihen gekauft. Grie- SPD an die Regierung gebracht. Doch dieser wöhnen, als Nächstes bei den Wahlen zum Ber-
ausschütten wollen, positionieren sich als die guten chenland umzuschulden würde deshalb das Si- Erfolg ist nicht mehr als eine Belobigung auf liner Abgeordnetenhaus. kleine Abb. (v.o.n.u.): DZ-Grafik (nach einer
Idee von Markus Roost); Jannis Chavakis für DZ;
Europäer. Die Skeptiker aus dem Norden stehen im gnal an alle Hasardeure senden: Nehmt eure Bewährung. Aus dieser Gefahrenlage kommen die Sozial- Mauritius
Süden als Geizhälse da, obwohl doch alle gleicher- Verantwortung ernst, der Staat steht nicht im- demokraten nur heraus, wenn sie wieder Anker
maßen wissen, dass es ohne Europa nicht geht. mer für euch ein! Grün-Rot – ein politischer Umsturz in die ganze Gesellschaft werfen, die sie aus ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Wir erleben einen Austausch von Forderun- So ungewiss die genauen Folgen einer Um- ausgerechnet in Baden-Württemberg Rücksicht auf ihre Parteibasis aus den Augen ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
gen, Schuldzuweisungen und Dementis, in dem schuldung sind – allein das wäre ein ungemein verloren haben, und bei der Auswahl ihrer Spit- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
eigentlich niemand seiner Sache sicher sein dürf- wertvolles Signal. Was dagegen geschieht, wenn Der neue Ministerpräsident Winfried Kretsch- zenkandidaten weniger auf die Stimmung der Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
te. Sooft dieser Tage in Ministerien, Geheimrun- Europa immer weiterzahlt, zeichnet sich schon mann ist sich seiner Verantwortung offenbar be- Parteifunktionäre als auf die Erfolgsaussichten DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
den und Medien die Szenarien rauf- und runter- ab. Irland, seit einem halben Jahr unter dem wusst. Schon in der Stunde des Wahltriumphs bei den Wählern achten. Abonnentenservice:
buchstabiert werden – keiner weiß annähernd, Rettungsschirm, will weniger Vorgaben und erinnerte er daran, nun gelte es, die Erwartungen Auch in diesem Punkt haben die Grünen in Tel. 0180 - 52 52 909*,
was kommt. Klar ist einzig, dass die Griechen mit niedrigere Zinsen. Wer wollte sie den Iren ab- der Bürger zu erfüllen, die zum ersten Mal Grün Baden-Württemberg ein Beispiel gegeben: Vor Fax 0180 - 52 52 908*,
dem ersten, 110 Milliarden Euro schweren Hilfs- schlagen, wenn die Griechen sie bekommen? Es gewählt hätten. In Interviews sprach er davon, einem Jahr, bei der Aufstellung der Spitzenkan- E-Mail: abo@zeit.de
*) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz,
paket nicht auskommen und uns nicht nur Bürg- gäbe kaum noch ein Halten. Europa kann eben man wolle keine »feindliche Übernahme des didaten zur Landtagswahl, stellte eine linke max. 0,42 € /Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz
schaften, sondern echtes Geld kosten werden. nicht nur an zu wenig Solidarität zerbrechen, Landes«, und er lobte den Amtsstil seines Vor- Fronde in der Partei dem Zugpferd Kretschmann PREISE IM AUSLAND:
Viel Geld. sondern auch an zu viel. vorgängers Erwin Teufel von der CDU. Auch noch misstrauisch ein Team zur Seite. Als Mi- DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/
Eigentlich sollte Griechenland schon im Jahr Sosehr sie die Gefahren einer Umschuldung wenn er vor der Wahl Wert auf die Feststellung nisterpräsident hat er sich nun der Jahrhundert- Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/
CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/
2012 wieder gesund sein, doch könnte die Gene- beschwören, so beharrlich verschweigen die legte, dass die Grünen eine volksnahe und keine aufgabe zu stellen, in einer der wirtschaftlich L 4,50/HUF 1605,00
sung das ganze Jahrzehnt über dauern. Gleich- »guten Europäer« also, an welche Abgründe ihr Volkspartei sein wollten, weil dies ein überholter stärksten Regionen Europas die Ökonomie des
AUSGABE:
wohl verlangen die EU, die Euro-Gruppe und die eigener Weg führt. Die entscheidende Frage ist Begriff sei, so lassen diese Erklärungen doch den Landes mit der Ökologie zu versöhnen; nun
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Zentralbank, dass Europa weiter für die Griechen aber nicht, wer der bessere Europäer ist, da haben Schluss zu: Die Grünen unter Winfried Kretsch- muss er nach den aufreibenden Auseinanderset-

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bezahlt. Angeführt vom Euro-Gruppen-Chef alle führenden Politiker einschließlich Angela mann sind auf dem besten Wege, das zu werden, zungen um Stuttgart 21 auch einen Konsens
Jean-Claude Juncker, dem Vertreter des kleinen Merkel ihre Defizite. Die Frage ist vielmehr, was was gemeinhin eine Volkspartei ist. finden. Geschockt von einigen fanatischen For-
Luxemburgs, will das offizielle Europa Ruhe, was auf lange Sicht besser für Europa ist. Nach der Definition von Parteienforschern derungen von Baum- und Bahnhofsschützern,
4 1 907 45 1 040 05

sie auch kostet. Bloß ist Ruhe nicht zu haben. Die Antwort gibt die Wirklichkeit: Die Ret- zeichnen sich Volksparteien heute vor allem da- plädiert er bereits für den »zivilisierten Streit«.
Zwar beruhigen sich die Spekulanten in aller tung Griechenlands hat trotz aller Milliarden durch aus, dass sie ungefähr 30 Prozent der Wäh- Konsens? Zivilisierter Streit? Klingt verdammt
Welt, wenn Europa weiter zahlt. Aber was ist mit nicht funktioniert. Europa sollte die Umschul- ler vertreten und durch ein relativ unideologi- nach regierungsfähiger Volkspartei: Willkommen
Bürgern und populistischen Politikern? dung wagen. sches Parteiprogramm wählbar für Bürger aus im Klub!
Schon jetzt sind viele erzürnt. Niemand schien unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten 6 6 . J A H RG A N G
europäischer gesinnt als der EU-Musterschüler www.zeit.de/audio sind. Das klingt weit unattraktiver als das, was www.zeit.de/audio C 7451 C
12 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20
MEINUNG
POLITIK
ZEITGEIST

Wer den Griechen hilft


JOSEF JOFFE:Europa wird für Hellas
bluten, um sich selber zu retten

Die Kassandras haben recht behalten: Geld- ohne HEUTE: 9.5.2011


Politikunion geht nicht. Vor zwölf Jahren hat Eu-
ropa mit dem Euro den »Zug der Hoffnung« auf
die Schiene gesetzt: 16 Lokomotiven mit 16 Füh-
rern. Die fromme Hoffnung? Jede Lok werde im Erinnern
gleichen Tempo – mit gleicher Steuer- und Aus-
gabenpolitik – fahren; sonst würden die Kupp- Als Deutscher ist man ja heut-
lungen brechen oder alle zusammen entgleisen. zutage eher wehrkraftzersetzend
Der Bruchpunkt ist jetzt. Um im Bild zu blei- eingestellt. Ordenbehangene Hel-
ben: Manche Lokführer, Athen vorweg, haben so denbrüste erinnern unsereinen an
lange so heftig geheizt, bis die Kohle ausging. Der Schützenvereine und Epauletten
Remeduren sind nur drei: 1. Athen nimmt Dampf an den Karneval. Hier aber ist das
weg, also spart und wird wieder wettbewerbsfähig. Original zu sehen, nicht die Ko-
2. Es wird zum europäischen Sozialfall, den die pie. So sehen Sieger aus.
anderen mit ihrer Kohle alimentieren. 3. Hellas Siegesfeier in Moskau: Was
koppelt sich ab oder wird abgehängt. muss das für ein Gefühl sein, vol-
Heute ist jede Lösung so hässlich wie die nächs- ler Stolz auf die Jahre 1941 ff. zu-
te. Griechenland, ein üppiger Sozialstaat mit ver- rückzublicken, auf den Großen
harzter Privilegienwirtschaft, kann nicht sparen. Vaterländischen Krieg, den sie mit
Trotz seiner Schwüre sind seine Schulden – private Recht so genannt haben? »Keiner
wie öffentliche – im Vorjahr gestiegen, von 325 ist vergessen«, singt die Sängerin
auf 340 Milliarden Euro. Und blähen sich weiter – wie sonst soll sich ein Volk an
auf. Das Wachstum lag im vierten Quartal 2010 eine Katastrophe erinnern, deren
bei einem Minus von knapp sieben Prozent. Opfer noch immer nicht auf eine
Weiter Kohle zuschießen? Griechische Bonds Million genau gezählt sind?
sind nach jeder Finanzspritze wieder abgestürzt; »Nichts ist vergessen«, singt sie.
die Zinsen liegen bei 15 Prozent, die Rating-Agen- Und man wünscht diesen alten

Foto: Denis Sinyakov/Reuters


tur S&P hat die Papiere auf »B« gedrückt – weit Herren, dass diese Zeile falsch sein
unter »Müll«. Wer nun den Griechen Geld leiht, möge. Wer hätte schon gerne ihre
sollte es besser im Kasino verjuxen. Mit Glück Erinnerungen? Und wenn die Or-
kriegt er 70 oder nur 50 Cent auf den Euro zu- denssammlung hilft, damit fertig
rück. Die Euphemismen für den Bankrott lauten zu werden, wer hätte das Recht,
»Umstrukturieren« oder »Umprofilieren«, sprich: darüber zu spotten? F. D.
Schuldenschnitt oder Stundung. Wie aber käme
dann Hellas zu neuem Geld – bei einem Schulden-
stand von 160 Prozent des Inlandsproduktes?
Also Abkoppeln (freiwillig) oder Abhängen (er-
zwungen), wie es der medienerprobte Ifo-Chef Sinn
fordert? Erstens erlauben die Verträge den Raus-
schmiss nicht, und zweitens ist die Medizin mörde-
rischer als die Sepsis. Noch bevor der Drachmen-
Mord und Totschläger Ein Land bleibt cool
Druck angelaufen wäre, bräche das Höllenfeuer aus:
Jugendgewalt: Zu viel Milde untergräbt das Vertrauen ins Recht Der Staat hätte bei der Volkszählung mehr Fragen stellen sollen
Wie Jugendliche zu grausamen Schlägern werden, schlag sieht das Jugendstrafrecht zehn Jahre Die Bürger bleiben cool. Am 9. Mai war Stichtag Leute auch nicht mehr, wenn der Staat etwas
das bleibt trotz aller Forschungen ein verstörendes Haft als Höchststrafe vor. Ob Torben P. die be- des »Zensus 2011«, der neuen Volkszählung. Der mehr wissen will.
Rätsel. Wie ihnen zu begegnen ist und ob die kommt, entscheidet das Gericht, Anklage ist ersten seit 1987. Volkszählung, das klingt nach Vor dem Hintergrund der digitalen Revolu-
Foto: Mathias Bothor/photoselection

Jugendgewalt insgesamt brutaler wird – all das ist nicht gleich Urteil. Aber die Anklage ist eine historischer Parallele, nach enormem Erregungs- tion und ihren technischen Möglichkeiten lässt
heftig umstritten. Nur über eines sind sich alle erste Weichenstellung. Für Täter und Opfer. potenzial. Am Montag aber mahnten bloß müde sich aber auch das entgegengesetzte Argument
Fachleute einig: Die Justiz muss schnell arbeiten, Und für die Öffentlichkeit. einzelne Landesdatenschützer, fanden sich ein führen: Die Bürger finden die Fragebögen
wenn sie es mit jugendlichen Gewalttätern zu tun Deshalb ist es auch legitim, wenn in Berlin paar nölige Kommentare in den Zeitungen (und okay. Dabei wissen sie sehr wohl um die Risi-
bekommt. Vergeht zwischen Straftat und Strafe jetzt nachgefragt wird, warum die Tat auf dem ebenso viele wohlwollende). Mehr öffentliche Re- ken der Datensammelei. Bloß sind die Chiff-
Josef Joffe ist zu viel Zeit, verpufft die Wirkung der Sanktion. Bahnsteig nicht als versuchter Mord angeklagt aktion war da nicht. ren dafür heute Apples Ortungsdatei, Googles
Herausgeber der ZEIT Das immerhin hat die Berliner Justiz im Fall worden ist. Die mögliche Höchststrafe wäre die- Mit Überrumpelung kann man das kaum Fotoautos oder Hacker-Raubzüge durch unsi-
des Torben P. richtig gemacht, der in der Nacht selbe, das Signal aber ein anderes. Mord ist mehr erklären: Schon 2010 fanden die Haus- und chere Onlineshops. Sammelwut und Schlam-
erst ein Run auf griechische Banken, dann Panikver- auf Ostersamstag am U-Bahnhof Friedrichstraße als ein Totschlag, eine besonders verwerfliche Tat, Wohnungsbesitzer Fragebögen in der Post. Seit perei sind die Zutaten jedes Datenskandals.
käufe von Griechenbonds im Ausland. Denn die einen Passanten offenbar ohne jeden äußeren An- sei es wegen besonderer Grausamkeit, sei es wegen Monaten wird plakatiert und informiert. Und Doch die Schauplätze sind stets Privatunter-
Besitzer müssten kalkulieren, dass die Neo-Drachme lass niedergeschlagen und dann immer wieder »niedriger Beweggründe«. Grausam ist nach den jetzt werden zufällig ausgewählten Bürgern 46 nehmen, vorzugsweise kalifornische Konzerne.
etwa die Hälfte ihres Wertes gegenüber Hartwährun- gegen den Kopf getreten hatte. Schon zwei Wo- gängigen Definitionen eine Tat, die dem Opfer Fragen zu Person, Lebensumständen, Ausbil- Im Vergleich zu deren Machen-was-geht-Men-
gen verliert, die Griechen also doppelt so viel zurück- chen später ist gegen den 18-Jährigen Anklage besonderes Leid zufügt, die gängige Hemm- dung und Beruf gestellt. Rund zehn Millionen talität erscheint die Neugier der Volkszähler
zahlen müssten, was sie erst recht nicht könnten. erhoben worden. Das ist ungewöhnlich schnell schwellen infrage stellt oder besonders erschüt- müssen antworten – ein ganz schöner Teil der verhältnismäßig, ja zurückhaltend.
Besonders pikant wäre die Lage in Deutschland, wo – und ein gutes Signal. Die Beweislage sei einfach, ternd wirkt. Wer das Video der Tat am Bahnhof Bevölkerung. Aber empört sie sich? Verweigert Vielleicht zu zurückhaltend. 700 Millionen
das meiste Gift bei Krisenbanken wie der HRE liegt. sagen die Staatsanwälte, der Täter habe gestanden, Friedrichstraße gesehen hat, kommt schon ins sie sich in nennenswerter Zahl? Nein. Euro soll der Zensus kosten, das ist nur eine
Schließlich: Wie würden die Pleitiers je wieder fri- der Tathergang stehe fest, da eine Videokamera Grübeln, ob hier von dem geradezu wie besin- Wer hätte das gedacht! Eine bürokratische Schätzung, also wird es teurer. Vor dem nächs-
sches Geld kriegen, um allein die steigenden Schulden den Angriff aufgezeichnet hatte. Allerdings darf nungslos zutretenden Täter nicht alle gängigen Großaktion (zumal eine, die Brüssel vor- ten Zensus 2021 wird es heißen: Können wir
zu bedienen? man wohl annehmen, dass auch das Entsetzen in Hemmschwellen überschritten werden. schreibt), doch die Deutschen bleiben cool. Bei für das ganze Geld nicht etwas mehr erfahren?
Europa wird also weiter zahlen müssen – auch der Öffentlichkeit über die Tat einiges zur Be- Nein, es geht nicht darum, eine möglichst jenem Thema, das in den achtziger Jahren zur Und zu Recht. 43 der Fragen schreibt die EU
bei einem Schuldenschnitt. Denn auch dann ge- schleunigung beigetragen hat. harte Strafe zu finden. Es geht darum, das Gesetz Chiffre für den vermeintlichen Überwachungs- vor. Nur drei fügte die Bundesrepublik hinzu
rieten die Euro-Zonen- und Griechenbanken mit Angeklagt wird Torben P. wegen versuchten ernst zu nehmen – und die friedensstiftende Funk- staat wurde. Die Reaktion lässt sich ganz gegen- (davon die freiwillige nach dem religiösen Be-
jeweils 80 und 65 Milliarden an Schuldscheinen in Totschlags. Das ist ein Mittelweg. Lange wurden tion des Rechts. Wenn einer wie Torben P. von sätzlich deuten – entweder als Zeichen von Ab- kenntnis). Dabei hatten Statistiker, Ökonomen
die Bredouille, derweil EU, IWF und EZB 100 vergleichbare Fälle milder beurteilt, meist als Kör- Untersuchungshaft verschont wird, wenn Heran- stumpfung oder von Akzeptanz. und Sozialwissenschaftler gefordert, weitere
Milliarden wertberichtigen müssten. Finanzkrise II perverletzung – mit entsprechend niedrigeren wachsende sehr häufig nach Jugendstrafrecht ver- Erklärung Nummer eins: Wir sind einfach Fragen zu drängenden gesellschaftlichen Pro-
nicht ausgeschlossen. Fazit: Wer den Griechen Strafen. Das haben Deutschlands höchste Straf- urteilt werden, obwohl für sie auch Erwachsenen- desensibilisiert durch ständige halb öffentliche blemen zu stellen: etwa zu Sprachen (Integra-
hilft, hilft seinen Banken. Europa wird zuschießen richter am Bundesgerichtshof gebilligt, sogar be- strafrecht in Betracht käme, wenn schon bei der Selbstinszenierung à la Facebook (wo fast 18 tion) und Kinderzahl (Demografie), zum
und stunden müssen. Es lebe die Transfer-Union! fördert. Denn sie wollten nicht einmal bei heftigen Anklage regelmäßig heruntergezoomt wird, dann Millionen Deutsche angemeldet sind). Außer- Pendlerverhalten (Verkehrsplanung) und, ganz
Wie lange? Bis der Euro-Zug nur einem ein- Tritten mit Springerstiefeln gegen den Schädel mag das in jedem Fall begründet sein. Das Rou- dem liegen in mehr als der Hälfte der Haushal- simpel, zur Heizung (Klimaschutz).
zigen Lokführer, also einer gemeinsamen Steuer- ohne weiteres einen Tötungsvorsatz annehmen. tinierte der Nachsicht jedoch, der Eindruck, te Kundenkarten (knapp 50 Millionen allein Der Staat – im Bestreben, die Befragten nur
und Ausgabenpolitik gehorcht. Und wenn er bis Das sahen die Berliner Staatsanwälte nun Spielräume würden nur in eine Richtung genutzt von Payback), die Spione der Konsumwirt- nicht zu verschrecken – verzichtete auf all das.
dahin entgleist? Vertrauen wir auf den Bushido- anders. Grobe Nachsicht wird man ihnen also – solche Tendenzen untergraben das Zutrauen ins schaft. Und selbst in einer H&M-Filiale wird Angesichts der Coolness der Bürger muss man
Song: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« nicht unterstellen können. Für versuchten Tot- Recht. WFG man beim Bezahlen gefilmt. Da schert es die sagen: Da wäre mehr drin gewesen. STX

IN DER ZEIT
POLITIK SACHSEN WIRTSCHAFT 33 Lettland Positive Entwicklungen FEUILLETON 62 GLAUBEN & ZWEIFELN
34 Ratenzahlung Versicherer Islamismus Der Prediger Pierre
2 Interview Kanzlerin Angela 13 Medien »Spiesser«-Chef 23 Euro Rettung oder Schuldenschnitt 49 Gesellschaft Die Deutschen im Vogel reagiert auf bin Ladens Tod
Merkel erklärt den Ausstieg aus dem Frank Haring kämpft gegen einen – die Politik ist überfordert verschleiern die wahren Kosten Geisterreich der Moral
Ausstieg aus dem Ausstieg Großverlag VON RALF GEISSLER 35 Kohle CO₂-Speicherung
24 EZB-Chef Angela Merkel stützt 50 Kulturgeschichte Eine REISEN
3 Bücher machen Politik Ostkurve VON JANA HENSEL Mario Draghi ThyssenKrupp Der Konzern Ausstellung über das Schicksal
startet den fälligen Umbau 63 Schweiz In Berzona fand der ewige
4 Gutmenschen Ist Deutschland Sachsen-Lexikon 25 Staatsschulden Niall Ferguson 51 Fernsehen Gespräch mit RTL-Sen- Reisende Max Frisch ein Zuhause
ein Vorbild für die Welt? Krawall-Zuschlag über die Krise des Westens 36 Was bewegt ... Armin Falk, derchefin Anke Schäferkordt
Ein Pro und Contra Ökonom und Verhaltensforscher? 65 Eurovision Ein Lob auf
14 Geschichte Dresdens Bühnen in 26 VW Der Konzern will jetzt auch 52 Max Frisch Er würde jetzt 100 – Düsseldorfs Kö, das Altbier
5 Libyen Die ersten Kriegsopfer der NS-Zeit VON ADINA RIECKMANN noch die meisten Laster bauen Wiederbegegnung mit dem Klassiker und das japanische Viertel
sind die Flüchtlinge
Am Start Irina Tarassenko, Elektroauto Warum es falsch ist, WISSEN 53 Biografie, Essay-Sammlung und ein 67 Seychellen Wo William und
6 Generation Rösler Passen Landärztin VON M. MACHOWECZ nur die Autokonzerne zu fördern 37 Alzheimer Plädoyer für einen neu- Bildband/Erfahrungen eines Kate angeblich ihre Flitterwochen
Familie und Politik zusammen? en Blick auf die Krankheit Journalisten mit Frischs Fragebogen verbringen
27 Kinderarmut Die Not wird
7 FDP Ein Gespräch mit Philipp DOSSIER überschätzt, sagen Forscher 39 Besuch in einem Heim für 54 Essay Eberhard Straub
Rösler über seine Regierungspläne schwer demenzkranke Menschen »Zur Tyrannei der Werte« CHANCEN
15 München Ein Prediger will ein 28 Pharma Die Industrie verdient zu-
8 Pakistan Die Islamisten freuen sich weltoffenes Islamzentrum gründen lasten von altersblinden Patienten 40 Wie pflegende Angehörige Roman Nicolas Dickner »Tarmac« 71 Bachelor und Master:
über arabische Revolutionen und gilt nun als Verfassungsfeind Milliarden Urlaub machen können 55 Margaux Fragoso »Tiger, Tiger« Ein Spezial auf 10 Seiten
9 Syrien Tagebuch 20 WOCHENSCHAU 29 Lebensmittel Ein Internetportal 41 Infografik Die Renaissance der Bil- 56 Nachruf auf Gunter Sachs 96 ZEIT DER LESER
Eurovision Song Contest Die für Verbraucher ärgert die Industrie der in Medien und Wissenschaft
Ägypten Die neue Regierung 57 Umbruch Eine Ägypten-Reportage
kämpft gegen religiöse Gewalt Geschichte eines Liedes aus Island 44 Der Medienforscher Michael Stoll
30 Kika-Skandal Gegenseitige Schuld- der Philosophin SUSAN NEIMAN 56 Impressum
zuweisungen über gute und schlechte Grafik
10 Italienische Lektionen Neapel
GESCHICHTE 47 KINDERZEIT
58 Brüssel Die Oper »Matsukaze« 95 LESERBRIEFE
11 Politische Lyrik »Inkarnation«/ Soziale Netzwerke
21 Ausstellung Fremde Was es bedeutet, Kunst Paul Pfeiffer in München
»Die Lebenden sind Legenden« Industriespionage wird erleichtert
Bayern feiert Ludwig II. Flüchtling zu sein
59 Kunstmarkt/Museumsführer Die so gekennzeichneten
12 Volkszählung Gelassenheit 31 Telekom-Aktie Das Urteil in dem Artikel finden Sie als Audiodatei
22 CSU Schon 1949 zeigte die Partei Massenverfahren steht bevor 48 Kinder- und Jugendbuch 61 Kino »Joschka und Herr Fischer« im »Premiumbereich«
Justiz Der Berliner ihre Fähigkeit zum geschlossenen LUCHS – Anne-Laure Bondoux von ZEIT ONLINE
U-Bahn-Schläger wird angeklagt Sowohl-dafür-als-auch-dagegen 32 Tunesien Schwieriger Neubeginn »Die Zeit der Wunder« Kulturkanäle zdf.kultur unter www.zeit.de/audio
ZEIT FÜR SACHSEN 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 13

OSTKURVE

Oberarmfrei
Am Wochenende wurde uns ein neues Bücherregal
geliefert. Zwei junge Herren, der eine in oberarm-
freiem T-Shirt, der andere tätowiert an allen sicht-
baren Körperstellen, waren mit einem alten Volvo
vorgefahren, hatten das recht schwere Ding erst
entladen, dann hinaufgeschleppt und schließlich
vor den sechs Augen der Familie aufgebaut. Der
Foto: Jannis Chavakis für DIE ZEIT/www.chavakis.de; Dominik Butzmann (kl.)

Typ mit dem oberarmfreien T-Shirt erzählte dabei,


dass er schlafwandle und morgens seinen Schlüssel
mitunter im Schloss des Briefkastens finde. Was
für ein interessantes Thema, dachte ich.

Jana Hensel, 1976 in Leipzig ge-


boren, Autorin des Bestsellers
»Zonenkinder«, schreibt hier
im Wechsel mit ZEIT-
Autor Christoph Dieckmann

Aber oberarmfrei ist ja eigentlich auch ein inte-


ressantes Wort, nicht wahr? Selbst wenn es das, was
Ein Bild von einem ich sagen will, hier nicht ganz trifft. Schließlich
Mann: Frank Haring im braucht man bekanntlich seine Oberarme, um so
Konferenzraum seines ein schweres Bücherregal aufzubauen. Oberarm-
Dresdner Verlags unbedeckt wäre besser.
Einige Leser denken jetzt wahrscheinlich: »Ja,
ja, Handwerker sind auch nicht mehr das, was sie
mal waren.« Diesem Eindruck möchte ich ent-
schieden entgegentreten. Die beiden jungen Her-
ren bildeten nämlich eine rühmliche Ausnahme.

Elefant im Zeitungsladen In der Regel sind Handwerker in einem erschre-


ckenden Ausmaß so geblieben WIE FRÜHER.
Ich musste das in den vergangenen Wochen oft
am eigenen Leib erfahren, indem ich mich mehr
als einmal schier auf den Boden warf, um einen
Frank Haring hat aus der sächsischen Schülerzeitung »Spiesser« ein bundesweites Jugendmagazin gemacht. Termin zu ergattern.
Nun fiel mir das Buch Du und Deine Wohnung.
Inzwischen sieht selbst die »Bravo« in ihm einen ernsten Konkurrenten VON RALF GEISSLER Heimwerkertips in die Hände. 11. Auflage, Ost-
Berlin 1977. All die Mischbatterien, Auslaufventi-
le, Kohlebadöfen, Heißwasserspeicher, Geruchver-

D
a ist die Geschichte mit dem Dresdner Pentacon, erster Stock, geflieste Wän- maßen sauer, dass er eine eigene Attacke startete. Anzeigenleiterin, die Verantwortliche für Sonder- schlüsse (Trapse) und Spülkästen: Ich könnte sie
Kaffee-Automaten. Eine Mit- de. Die alte Einrichtung warf Haring einfach Er schrieb dem Deutschen Presserat, die Bravo habe publikationen und einen langjährigen Redakteur nun theoretisch allein reparieren, müsste keinen
arbeiterin hatte Münzen einge- aus dem Fenster. In dem selbst renovierten Raum die Inhalte womöglich nicht ausreichend als An- verloren. Die Fluktuation beim Spiesser war immer Handwerker mehr anflehen. Wie schade, dass es die
worfen und ihr Wechselgeld ver- machte er mit zwei Partnern das kleine Gratis- zeige gekennzeichnet. Das Gremium erteilte in schon hoch. Mehrere, die gingen, sagen: Haring sei Geräte nicht mehr gibt.
gessen. Als sie zurückkehrte, war blatt groß. Es erschien fortan in ganz Sachsen. erster Instanz eine Rüge. Auch der Bundesrech- genial, aber auf Dauer nicht auszuhalten. Ein Mann,
das Fach leer. Verschwunden, die paar Cent. Frank Auch bei McDonald’s wurde es ausgelegt. Zum nungshof prüfte die Angelegenheit. Zuvor hatte der seit seiner Pubertät immer nur Chef war, dem
Haring fackelte nicht lange. Er ließ die Video- Idealismus kam der Kapitalismus hinzu. Haring über einen Bundestagsabgeordneten der seine Firma alles bedeute. Haring deutet die häufi-
überwachungsbänder der Büroetage sichten, um 2006 hatte Haring die Idee, es bundesweit zu Grünen eine Kleine Anfrage initiiert. Schließlich gen Personalwechsel ins Positive um: Sie passten SACHSEN-LEXIKON
den Dieb zu entlarven. Eine Stunde Bildmaterial. versuchen – was manche übermütig fanden. Mit wurde sogar Agentur-Chef Frank Weise zur An- doch gut zu einem Blatt, das jung bleiben wolle.
Selbst wenn es nur um Kleingeld geht, kämpft er Großverlagen sprach er über eine Beteiligung am hörung nach Berlin geladen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Krawall-Zuschlag, der. Aufpreis für Fußballspiele
mit der Verbissenheit eines Jungen, dem man sein Spiesser. Doch es kam keine Kooperation zustande. Den Bauer-Verlag verärgerte das alles. Haring Spiesser noch heute das Produkt engagierter mit erhöhtem Randale-Risiko. »Wir wollen«, erklärt
Spielzeug weggenommen hat. Mit dieser Haltung »Viele wollten den Spiesser irgendwo in ihre Struk- sagt: »Ich hatte bei denen noch einen gut.« Be- Schüler. Nach dem Prinzip lässt Haring im Pen- Innenminister Markus Ulbig (CDU), »dass bei Ri-
hat er sein Unternehmen groß gemacht. turen einsortieren und hätten das Projekt damit reits 2008 hatte Bauer ihm gerichtlich untersagen tacon auch das Magazin Schekker der Bundes- sikospielen ein bis drei Euro höhere Eintrittspreise
Frank Haring, Geschäftsführer und Mitinha- sehr wahrscheinlich gegen die Wand gefahren«, lassen, den Spiesser als »größte Jugendzeitschrift regierung erstellen. Außerdem denkt er über ein erhoben werden.« Zu oft bleibe er »auf den Kosten
ber der Jugendzeitschrift Spiesser in Dresden, ist frotzelt Haring. Im Herbst 2007 brachte die Spies- Deutschlands« zu bewerben. Denn der Spiesser Jugendmagazin nach, das am Kiosk verkauft sitzen«, wenn Polizisten Hooligans im Zaum hiel-
als 34-Jähriger so etwas wie Deutschlands jüngster ser GmbH ihr Blatt im Alleingang in ganz Deutsch- erscheine nur alle zwei Monate; die Bravo aber werden soll. Das dürfte den Bauer-Verlag noch ten. Fans fordern, den Krawall-Zuschlag fairerweise
Pressepate. Angeblich fast 800 000 Mal liegt sein land heraus, Druckauflage: eine Million Exem- jede Woche. Zuletzt mit einer verkauften Auf- mehr erzürnen. Doch Haring braucht das Kämp- auch auf die sachsenweit wichtigste Krawall-Frak-
Spiesser bundesweit an Schulen aus. Ein Magazin, plare. Überregionale Zeitungen, auch die ZEIT, lage von etwa 400 000 Exemplaren. fen zum Leben. Der Gegner ist groß, aber er soll- tion um Holger Zastrow (FDP) auszuweiten. Im
in dem Jugendliche für Jugendliche schreiben, zollten Respekt. Ein neues Printprodukt. Aus dem Die jetzige Auseinandersetzung trifft Haring te sich abwehren lassen. Irgendwie hat Haring Fußball, heißt es, wären Leute, die so oft gelb pro-
angeleitet von Journalisten. Das Heft ist mittler- Osten. Für Jugendliche. Es klang märchenhaft. zur Unzeit. Er hat kürzlich seinen Verlagsleiter, die ihn sich ja auch erarbeitet. vozieren, ja längst aus der Arena geflogen. MAC
weile so bekannt, dass der Heinrich Bauer Verlag Vor Ort in Dresden sahen es viele nüchterner.
darin eine Konkurrenz zu seiner Jugendpostille Unvergessen ist bei manchem Ex-Mitarbeiter, wie S
Bravo sieht. Der Verlag zweifelt die Spiesser-Auf- Haring morgens fünf Minuten vor Dienstbeginn
lage vor Gericht an. »Das wird lustig werden«, an der Pforte stand und jeden ermahnte, der noch
sagt Haring und blättert in der einstweiligen Ver- nicht am Schreibtisch saß. Man habe zum Vor-
fügung, die Bauer vor drei Wochen gegen ihn er- klingeln zu erscheinen, dozierte er. Wenn er Fehler
wirkt hat. 250 000 Euro Ordnungsgeld werden fand, zog er die Betroffenen noch Wochen später
ihm angedroht, falls er weiterhin mit seinen Auf- damit auf. Seinen neugeborenen Sohn stellte Ha-
lagenzahlen wirbt. »Wir werden das ganz sicher ring Kollegen halb ironisch als »Junior-Chef« vor.
nicht auf uns sitzen lassen«, sagt er.
Rein äußerlich würde Haring – schwarzes Shirt, Haring, heißt es, sei genial –
braune Cordhosen – als Juso-Kreisvorsitzender aber auf Dauer nicht auszuhalten
durchgehen. Auch der Anblick seines Dienst-Toyo-
tas vermittelt nicht den Eindruck von einem, der Immerhin bezahlte er leidlich und schulte junge
dick im Geschäft ist. Doch Haring verlegt nicht nur Journalisten, die er eines aber nicht lehrte: die
eine Jugendzeitung. Er hält Anteile an Dresden strikte Trennung von Redaktion und PR. Mehr-
Fernsehen, verdient beim Elternmagazin Eltern, Kind fach vergaß der Spiesser, werbliche Inhalte im Blatt
+ Kegel mit und ist an einem Jugendreisebüro be- zu kennzeichnen. Noch im November verurteilte
teiligt. Er engagiert sich bei einem Logistik-Dienst- das Landgericht Berlin die Zeitung, weil eine
leister, einer Unternehmensberatung und beim Sonderveröffentlichung der Supermarktkette
»Schulkurier«, der den Spiesser zwischen Nordsee Kaufland nicht als Anzeige ausgewiesen war. Er
und Alpen verteilt. Kürzlich hat eine seiner Firmen bewundere Stefan Raab, sagt Haring, weil über
fünf Millionen Euro in einen Solarpark investiert. dessen Sportsendungen »Dauerwerbesendung«
Es war die Zeit vor Fukushima. Haring hatte mal stehe und die Quoten trotzdem stimmten.
wieder den Riecher für das richtige Timing. Wer Haring begegnet, vergisst ihn so schnell
nicht mehr. Er ist ein Getriebener, der nicht lo-
Der Gegenspieler ist ein Konzern ckerlässt. Auch einer, der einschüchtern kann.
mit zwei Milliarden Euro Umsatz Und er ist voller Ideen. Haring hat sich die
»Spiesser-WG« ausgedacht: Abiturienten arbeiten
Die meisten seiner Firmen haben dort ihren Sitz, ein Jahr für Haring, verdienen kleines Geld,
wo auch der Spiesser zu Hause ist: im Dresdner wohnen aber kostenlos. Er erfand die Vertre-
Medienkulturhaus Pentacon. Es ist Harings Fes- tungsstunde mit Prominenten. Das Prinzip: Mu-
tung. Und sie wird angegriffen. Aus dem Hin- siker, Schauspieler oder Politiker geben in einer
terhalt, wie er meint. Schon im März habe der Schule Unterricht – und der Spiesser schreibt da-
Bauer-Verlag versucht, bayerische Schulleiter rüber. Haring initiierte auch den Jugendbildungs-
einzuschüchtern, indem er anfragte, auf welcher verein Sachsen. Redakteure gaben Workshops,
rechtlichen Grundlage der Spiesser bei ihnen aus- Vereinsleute organisierten Anzeigen. Es war für
gelegt werde. Bauer ist ein Konzern mit zwei Außenstehende ein ziemliches Durcheinander.
Milliarden Euro Umsatz und 8000 Mitarbeitern. Kommerziell? Ehrenamtlich? Schwer zu sagen.
Angesichts dieser Zahlen klingt es zunächst wie Wie viel Geld sie mit dem Blatt verdienen,
ein Witz, wenn es aus dem Unternehmen heißt: müssen Haring und seine zwei Partner nicht offen-
»Wir wollen, dass zwischen Bravo und Spiesser legen. Fest steht, dass er selten mehr ausgegeben
wieder Waffengleichheit herrscht.« Frank Ha- hat als nötig. Um Dienstreisen billig zu halten,
ring meint: »Die wollen uns fertigmachen.« teilt er sich mit Kollegen auch mal ein Doppel-
Er lümmelt auf seinem Bürosessel wie in ei- zimmer. Im Intranet, erzählt ein Mitarbeiter, in-
nem Liegestuhl, die Lehne weit hinten. Ein Pro- formierte er im vorigen Jahr über die Vorzüge von
vokateur, oft unterschätzt, sächsisch schlau. Rabatten für Journalisten. Dadurch habe er selbst
Frank Haring war 17, als er mit seinem Ju- in seinem Urlaub 300 Euro gespart. Man darf
gendfreund Konrad Schmidt den Spiesser grün- annehmen: Das Geld floss in neue Projekte.
dete. 5000 Exemplare brachten sie von 1994 an »Ich bin«, schreibt Haring in einer E-Mail, »so-
persönlich an die Dresdner Schulen. Die Redak- wohl von meinem Körpergewicht als auch vom
tion traf sich im Keller des Hülße-Gymnasiums, Gedächtnis her der Kategorie Elefant zuzuordnen.
wo hinter vergitterten Fenstern zwei Dutzend Das heißt, ich vergesse selten.« Vor vier Jahren
Computer standen. Täglich um 19.30 Uhr schal- bemühte er sich um Aufträge der Bundesagentur
tete der Hausmeister den Strom ab, und Flüche für Arbeit. Doch den Zuschlag erhielt die Bravo
hallten durch den Flur – von jenen Mitarbeitern, – für eine Anzeigenserie unter dem Titel »Job-
die ihre Texte nicht gespeichert hatten. 1997 Attacke«, Auftragswert: etwa 700 000 Euro jähr-
bezog die Redaktion eine ausgediente Küche im lich. Frank Haring war über seine Schlappe der-
14 12. Mai 2011 DIE ZEIT No 20 ZEIT FÜR SACHSEN

D
AM START ie Dresdner haben es nach Hitlers rig, so schmerzhaft.« Für Jens Hommel, der gemeinsam
Machtübernahme besonders eilig. mit Heer die Ausstellung konzipiert hat, passen die
Schon fünf Wochen später, am 7. März Recherche-Ergebnisse nicht so recht ins Selbstbild
1933, brennen Fahnen und Bücher in seiner Stadt: »Noch immer finde ich viel zu oft das
Ende des Notstands einem Feuer vor der Volksbuchhand- schwarz-weiße Faschismusbild aus DDR-Zeiten in den
lung beim Schloss. Am selben Tag stürmt der Schau- Köpfen vor: Hier die braunen Horden als ›Helfershelfer
Wie Niederwiesa nach einem Jahr spieler und NS-Sympathisant Alexis Posse mit 60 des Monopolkapitals‹ – da die Bürger vom Stadtteil
Gleichgesinnten die Rigoletto-Probe in der Semperoper Weißer Hirsch, die aufgrund ihrer kulturellen Affini-
eine neue Landärztin gefunden hat und erklärt den Dirigenten Fritz Busch für abgesetzt. täten immer immun blieben für totalitäre Ideologien«,
Dessen Vergehen: »Verkehr mit Juden« und die Be- sagt der gebürtige Dresdner. »Die Erzählungen über
Wenn man in Niederwiesa bei Chemnitz schäftigung »jüdischer und ausländischer Sänger«. Am Barbarei in der Stadt beginnen oft erst mit 1945. Das
den Arzt ruft, kommt neuerdings eine Frau Abend beweist sich, dass dies alles kein Spuk war. Bis stößt mir inzwischen bitter auf.«
aus Semipalatinsk: Irina Tarassenko, 39, ge- hoch in den 4. Rang sitzt Hitlers SA. Nicht aus Liebe Kurator Hannes Heer, der vor Jahren mit der Aus-
boren im 4500 Kilometer entfernten Ostka- zu Verdi haben ihre Mitglieder die Karten gekauft, stellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht
sachstan, sitzt in ihrem Behandlungszimmer. sondern um die Reihen mit Braunhemden zu füllen. bekannt wurde, erinnert sich, seine Recherchen in
Sie trägt das Haar wie eine Löwenmähne, es Seit 1922 hat Fritz Busch in Dresden mit spekta- Dresden seien kompliziert gewesen. Anfangs hätten
ist eine einzige rotbraune Welle. »Hausärz- kulären Uraufführungen von sich reden gemacht. die Archivare immer gleich erklärt: Es gibt nichts
tin, dafür bin ich geboren, no«, sagt sie. Unter seiner Leitung katapultiert sich die Semperoper mehr, weder Akten der Verwaltung, noch Personal-
Irina Tarassenko hat zu Hause in Semipa- an die Spitze der Musikmoderne. An diesem 7. März papiere. Alles verbrannt. Doch gegen Ende der Arbeit
latinsk Medizin studiert, das »no« hängt sie an 1933 aber schreien ihn die Dresdner nieder. Busch entdeckte Heers Team, dass von den Ensemblemit-
alle Sätze, und in jedem ihrer deutschen Wör- blickt seine Musiker lange an, die aber schweigen. gliedern, die 1945 wieder am Theater beschäftigt
ter liegt noch die Würze des Kasachischen, Ohne den Taktstock erhoben zu haben, verlässt der wurden, die alten Personalakten doch noch existier-
Fotos: ullstein (u.r.); Martin Machowecz (l.); kl. Fotos (im Uhrzeiger): U. Richter (Dirigent Fritz Busch); A. Pieperhoff/Archiv der Staatsoper Dresden (Sängerin Margit Bokor); Archiv des Staatsschauspiels Dresden (Schauspielerin Jenny Schaffer, Schauspieler Martin Hellberg)

ihrer Muttersprache. Tarassenko ist einer der Westfale die Bühne. »Aus!!!«, vermerkt er in seinem ten: »Sie waren einfach – gesäubert und frisiert – in
Menschen, nach denen Sachsen in ganz Euro- Kalender über sein Ende, aus Protest verlässt Busch die neuen mit eingearbeitet worden. So konnten viele,
pa fahndet. Sie wird geliebt in Niederwiesa, nicht nur Dresden, er geht aus Deutschland weg. Mit ähnlich wie in Westdeutschland, ihre Nazivergangen-
weil sie die alte Hausarztpraxis wiedereröffnet dem Dirigenten wird sein ganzes Leitungsteam beur- heit abschütteln und erneut Karriere machen.«
hat: Ein Jahr lang stand diese leer, ein Jahr lang laubt, vom Generalintendanten bis zum Spielleiter der Heer berichtet, und die Aufregung ist ihm noch an-
hatten 5000 Erzgebirgler im Tal der Zschopau Oper. Es ist ein Signal. Ausnahmslos alle jüdischen zumerken, von einem weiteren Fund: einem 1918 be-
niemanden, der sie kuriert. Wolfdieter Kühn, Ensemblemitglieder in Dresden müssen gehen, viele gonnenen handschriftlichen Verzeichnis mit 850 Na-
den hier alle nur den Doktor nennen, ist in verstummen für immer. Die Sängerin Therese Elb men von Arbeitern der Semperoper. Von 1941 an sind
Rente seit dem 31. März 2010. Für Bürger- und der Musikdirektor Arthur Chitz werden nach in dem Personaljournal auch Kriegsgefangene und
meister Dietmar Hohm, 66, einen Mann mit Riga deportiert und dort ermordet; die Schauspielerin Zwangsarbeiter verzeichnet, ohne die der Theaterbetrieb
grauem Vollbart, begann an diesem Tag »die Jenny Schaffer stirbt in Auschwitz. wohl zum Erliegen gekommen wäre. Hunderte. Damit
schlimmste Zeit«. Die Bürger marodierten wie »Diese öffentliche Vertreibung«, sagt Hannes Heer, sei ein Thema aufgetaucht, sagt Heer, das er bei frühe-
seit 1509 nicht mehr, damals hatten sie Chem- »war ein einmaliger Vorfall. Es waren ja keine SA- ren Recherchen nie zu fassen bekommen habe. »Es gab
nitz den »Bierkrieg« erklärt. Nun wollten die Leute von außerhalb, die mit einem Putsch die Staats-
Menschen, dass Hohm ihnen endlich einen theater übernommen haben, wie immer behauptet
neuen Arzt präsentiert. Er sanierte erst mal das wird. Die Machtergreifung hat von innen heraus statt-

Braune Dramen
Praxisgebäude, für 320 000 Euro. Dann blieb gefunden. Die eigenen Leute haben die Kollegen ver-
ihm nichts anderes übrig, als zu warten. jagt, kühl und kalkuliert.« Der Hamburger Historiker
Im vergangenen November berichtete arbeitet seit dem Jahr 2006 an dem Forschungs- und
die ZEIT (Nr. 45/10) über Niederwiesas Ausstellungsprojekt Verstummte Stimmen. Die Ver-
Arztnotstand und Sachsens Bemühungen, treibung der ,Juden‘ aus der Oper 1933 bis 1945. Er
ausländische Mediziner anzulocken. Min- widmet sich einem kaum untersuchten Kapitel des
destens 150 Landärzte finden im Freistaat deutschen Kulturlebens zwischen den beiden Welt- Machtergreifung an der Semperoper: Eine Ausstellung räumt mit der Legende auf, Dresden sei
keinen Nachfolger, unzählige Vorschläge kriegen: der systematischen »Säuberung« der deutschen in der NS-Zeit eine unschuldige Kulturstadt gewesen VON ADINA RIECKMANN
sind im Gespräch: von der Aufweichung der Opern- und Schauspielhäuser von »jüdischen« und
Zulassungsbeschränkungen an den medizi- »politisch untragbaren« Ensemblemitgliedern.
nischen Fakultäten bis zu »rollenden Pra- Heer hat darüber bereits an den Staatsopern in
xen«. Die Landesärztekammer gründete ihre Hamburg, Berlin, Stuttgart und Darmstadt geforscht; Gerüchte, aber ich konnte bisher nie etwas beweisen.
Koordinierungsstelle »Ärzte für Sachsen«, die Ergebnisse in Dresden aber empfindet er als be- Und dann steht das hier Schwarz auf Weiß.«
die neuerdings sogar bei Facebook nach sonders bedrückend. »Es war ja nicht Alexis Posse als So fügt die Arbeit der Historiker dem Geschichtsbild
Medizinstudenten fahndet. Gaukunstwart allein, der den künstlerischen Exodus in Dresdens einige neue Facetten hinzu. Die Stadt, sagt
Tarassenko, seit einigen Jahren am Dresden ermöglicht hat. Es waren die ultrakonser- Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz, sei oft ver-
Chemnitzer Krankenhaus, las von Nieder- vativen Bildungsbürger, die in den 1920er Jahren Stücke gangenheitssehnsüchtig – unter Aussparung aller
wiesas Problem, fuhr in den Ort und befrag- wie das Kriegsheimkehrer-Drama Hinkemann von der Schmerzpunkte. Ähnlich hat er das auch schon zum
te Bewohner: »Würden Sie, wenn jemand Bühne gefetzt und mit der Judenhetze begonnen ha- Gedenktag 13. Februar gesagt, an dem seit Jahren Tau-
die Praxis übernähme, wiederkommen?« ben.« Der von Heer neu recherchierte Teil der Wander- sende Neonazis in der Stadt aufmarschierten. Anstatt
Natürlich, sagten die Niederwiesaer. ausstellung zeigt deutlich, dass dieser 7. März 1933 das alles nur zu beklagen, macht Schulz sich das Thema
»Das hat alles beeinflusst«, sagt Tarassen- Ergebnis einer rassistischen Kulturpolitik war, die als zu eigen. Theater, sagt er, müsse sich doch als Spiel- und
ko: »dass man hier gebraucht wird. Natürlich Kampf gegen den »Musikbolschewismus« und die »ent- Erinnerungsort produktiv mit seiner Geschichte be-
ist Angst im Spiel, wenn man so einen Schritt artete Kunst« schon lange vor der Machtergreifung der schäftigen; erst recht, wenn sie hoch unmoralisch sei.
geht. Aber hier kennen dich die Patienten, Nationalsozialisten propagiert und von großen Teilen In diesem Jahr prangte am 13. Februar weithin sicht-
des Bürgertums mitgetragen wurde. bar ein Banner an der Semperoper. Darauf stand: »Es
Auch wenn Dresden als Vorreiter des Expressionis- ist noch wichtiger, sich anständig zu benehmen, als gute
mus gilt – die Stadt war ebenso ein Zentrum des Wider- Musik zu machen«. Ein Zitat des Dirigenten Fritz
standes gegen die verhasste Moderne. 1920 gründet sich Busch. Das hoch gehängte Statement stieß bei einigen
hier die völkische Organisation Deutsche Kunstgesell- in der Stadt auf Unverständnis. Und auch ein paar Mit-
schaft. Sie bekämpft mit einem kostenfrei verschickten glieder der Sächsischen Staatskapelle sahen es nicht be-
Die Ärztin Irina Nachrichtendienst zeitkritisches Musiktheater oder sonders gern: Als Musiker, so lautete der Einwand, sei
Tarassenko, 39, unliebsame Künstler. Besonders die völkische, verdeckt man schließlich unpolitisch.
kam vor rund antisemitische Besucherorganisation Bühnenvolksbund Ulrike Hessler, die Intendantin der Semperoper,
zehn Jahren aus greift diese Vorstöße auf: Vehement zieht sie gegen die teilt diese Ansicht nicht. Das Banner war eine Idee
Kasachstan nach an den Musik- und Sprechtheatern betriebene »Entsitt- des Personalrates gewesen. Eine Idee, die Hessler,
Chemnitz lichung, Entgöttlichung und Entnationalisierung« zu ohne zu zögern, aufgriff. »Was mich besonders scho-
Felde. Vor allem das Bildungsbürgertum in Dresden ckiert, ist die Aktualität dieses Themas«, sagt sie über
sie akzeptieren dich.« Sie hätte auch in der erkennt sich in derartigen Schmähungen wieder. Der die NS-Geschichte ihres Hauses: »50 Ensemblemit-
Großstadt bleiben können, in Chemnitz lebt Schauspieler Alexis Posse wird nun aktiv. Er gründet glieder mussten gehen, viele auch, weil sie politisch
sie mit Mann und Kindern, Praxen stehen Ende 1930 eine »Theaterfachgruppe der NSDAP« – ge- nicht genehm waren.« Wenn sie im Jahr 2011 nach
dort ebenfalls leer, aber Tarassenko sagt: »In meinsam mit Kollegen, Tänzern und Musikern. Ungarn schaue und sehe, dass an der Budapester
Chemnitz gibt es Ärzte genug.« Wenn man mit Heer über die neue Ausstellung Staatsoper der Chefregisseur und der Generalmusik-
Im Oktober soll in Niederwiesa ein spricht, wird sein Ton sehr bestimmt: »Diese Nazizelle direktor entlassen wurden, weil sie der Regierung aus
Seniorenheim eröffnen, 48 Zimmer, viele an den Staatstheatern war deutschlandweit einzigartig. ähnlichen Gründen nicht passen, »dann erinnert
Patienten, »ein Pflegeheim der vierten Ge- Die haben Klartext gesprochen: ›Wir sind keine braune mich das sehr an den 7. März 1933«.
neration«, sagt der Bürgermeister. »Ein Jahr Gewerkschaft, sondern eine Kampftruppe der Partei‹«, Die Ausstellung »Verstummte Stimmen« ist vom
Kultur-Führer: Hitler grüßte 1934 vor
lang waren wir ziemlich in Schwulitäten.« sagt Hannes Heer: »Die konnten sich bei der Durch- 16. Mai bis 13. Juli in den Foyers von Semperoper und der Semperoper. Der Dirigent Fritz
Nun werde alles gut. Die Ärztin kuriert sei- führung ihrer regelmäßigen ›Kunstabende‹ auf ihre Staatsschauspiel Dresden zu sehen; Eintritt frei. Busch (oben links) und andere Künstler
nen Ort. MARTIN MACHOWECZ Kollegen verlassen. Das macht die Geschichte so schwie- www.verstummtestimmen.de waren schon verbannt worden

S
Siebeck reitet ein Kamel, Seite 30

Mensch, Genscher
Nr. 20 12. 5. 2011
Was wird nur aus seiner FDP? Ihr Ehrenvorsitzender
macht sich Gedanken. Und zieht seine Lebensbilanz
I N H A LT N R . 2 0 Alles, was in diesem Heft passiert

20
30 34

Wolfram Siebeck Uhren und Schmuck


in Ägypten finden zusammen

Zu Besuch bei
legendären Gärtnern

6 Harald Martenstein über einen Traumjob, den man auch gut nebenher erledigen kann
8 Eine Leuchte, die man auf dem Schirm haben sollte
10 Warum wird in Magdeburg so viel gemordet? Eine Deutschlandkarte
11 Wie viel sollte einem ein Kindermädchen wert sein?
12 Hans-Dietrich Genscher blickt auf sein manchmal sehr gefährliches Leben zurück
26 Die Sängerin Kate Bush über den Song ihrer Träume
28 Der Fotograf der Lüfte: Paolo Pellegrin überfliegt New Orleans
44 Hauptsache, es knallt: Neonfarben sind der Trend der Saison
45 Der Auffahrunfall – oder die Kunst, miteinander zu reden
46 Waldmeister der Herzen
49 Dürfen alte Männer Fantasien von jungen Frauen haben?
54 Wie der Schauspieler Robert Hunger-Bühler fast ertrunken wäre

Und so sieht unser Zeichner Ahoi Polloi die Welt

Titelfotos Jonas Unger Fotos Inhalt Barbara Siebeck; Marco Valdivia; Marcus Gaab 5
HARALD MARTENSTEIN

Über den Traumjob Terrorismusexperte:


»Es handelt sich um den letzten echten Männerberuf«
Die Welt – ein Werden und Vergehen. Den Beruf des Seifensieders dem damals noch unbekannten Osama bin Laden geführt, das ideale
gibt es nicht mehr, so wenig wie den Harzer oder den Haderlump. Eintrittsbillett zum Terrorismusexpertentum.
Mir fallen im Fernsehen aber oft neue Berufe ins Auge, zum Beispiel Der Beruf des Terrorismusexperten ist von einer stark
Terrorexperte. Das ist für junge Leute heutzutage sicher nicht die schwankenden Auftragslage gekennzeichnet. Deshalb haben die meis-
schlechteste Perspektive. Alle Sender beschäftigen, spätestens seit dem ten Experten sich ein zweites oder sogar mehrere weitere Standbeine
Anschlag auf das World Trade Center, einen eigenen, offiziellen Ter- geschaffen. Thamm ist im Zweitberuf Drogenexperte. Theveßen ar-
rorismusexperten. Der CNN-Experte gilt als führend, er heißt Peter beitet in terrorismusarmen Phasen als Experte für Wirtschaftskrimina-
Bergen. Michael Ortmann zieht seine Bahn als Terrorexperte bei lität und stellvertretender Chefredakteur des ZDF. Lüders schreibt Ro-
RTL. Das ZDF geht mit Elmar Theveßen an den Start. Die ARD mane (zuletzt: Blöder Hund). Der Terrorismusexperte muss, neben
leistet sich, wahrscheinlich wegen der föderalen Struktur dieses Sen- einer guten Allgemeinbildung, Fremdsprachenkenntnissen und siche-
ders, sogar zwei Terrorexperten, nämlich Joachim Hagen und Holger rem Auftreten vor der Kamera, eine gewisse seelische Stabilität mit-
Schmidt. Daneben gibt es den Typus des freiberuflichen, senderunab- bringen. Immerhin verdient er sein Brot mit einer sehr unerfreulichen
hängigen Terrorismusexperten, zu dem Berndt Georg Thamm zu Zeiterscheinung. Diese Eigenschaft teilt er freilich mit den Juristen, den
zählen ist, der nicht unumstrittene Dr. Udo Ulfkotte und der ehema- Medizinern und den Bestattern, deren Angehörige ohne Verbrechen,
lige ZEIT-Kollege Michael Lüders. Krankheit und Tod ja ebenfalls arbeitslos wären. Auffällig ist, dass es
Für die Ausbildung zum Terrorexperten gibt es noch keine unter den deutschen Terrorexperten keinen einzigen Bartträger, keine
Norm, auch kein Studienfach Terrorforschung. Einstweilen darf ein Person mit Migrationshintergrund und auch keine einzige Frau zu ge-
historisches Studium als ideale Voraussetzung gelten, diesen Weg sind ben scheint. Rufe nach einer Frauenquote wurden bisher nicht ver-
unter anderem Theveßen und Hagen gegangen. Thamm ist gelernter nommen, es handelt sich also um den letzten echten Männerberuf.
Diplom-Sozialpädagoge und hat als Streetworker den Umgang mit Der Boom ist auch in der Unterhaltungskunst nicht unbe-
unberechenbaren Individuen sozusagen hautnah gelernt. Hagen war merkt geblieben, so hat es die Figur »Terrorexperte Marcus Heuser« in
Reporter bei der Kieler »Welle Nord«. Den originellsten Einstieg in der Fernsehserie GSG 9 zu einem gewissen Ruhm gebracht, und im
diesen jungen Beruf hat der Terrorwart des Senders RTL gefunden. Internet tritt gelegentlich, als Parodie, der »Terror- und Kunstexperte
Bevor Michael Ortmann sich der Terrorforschung zuwandte, hat er Dr. Illmar Ernesto von den Wicken« auf. Darüber, wie sich ein Terro-
sich als Regisseur künstlerisch mit misslingenden menschlichen Bezie- rismusexperte am Feierabend entspannt, hat bisher allein Joachim
hungen befasst, im Jahre 2000 inszenierte er den Film Die frechsten Hagen, ARD, Auskunft gegeben. Nachdem er den Menschen an den
Seitensprünge der Welt. Bergen dagegen hat 1997 ein Interview mit Bildschirmen den Terror erklärt hat, hört er zu Hause Opern.

6 Zu hören unter www.zeit.de / audio Illustration Fengel


100 %
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Wer diese LEUCHTE kauft,
bekommt nur den oberen
Teil aus Kork – den Schirm Die Ausstellung der amerikanischen
darf er sich selbst aus Papier Malerin Elizabeth Peyton in der
basteln und anpinnen. »Pinha«, New Yorker Metropolitan Opera
von Raw Edges für Materia heißt »WAGNER« und wurde
Die ZEITmagazin-Entdeckungen der Woche

vom »Ring« inspiriert. Der Besuch


lohnt sich doppelt, denn es
wird auch die »Walküre« gespielt

»Mama will für die Hose nur Wie sein Kollege Gérard Depardieu
baut der französische Schauspieler
was zuschießen. Ich halt Jean-Louis Trintignant Wein an –
das nicht mehr länger aus« wir empfehlen den WEISSWEIN
Blanc de Garance von seinem Gut
TAGEBUCHEINTRAG vom 2. April 1990, mit dem das Rouge Garance in der Provence
Buch »Wir waren jung und brauchten das Gel – Das Lexikon
der Jugendsünden« von Lisa Seelig und Elena Senft beginnt

Im belgischen Heuvelland,
ungefähr 130 Kilometer von
Brüssel entfernt, gibt es »In De
Wulf«, ein kleines, feines Dieses BUCH aus dem
Restaurant mit HOTEL und Wagenbach-Verlag
ganz viel Land drumrum. Es muss heißt »Reizpartie« und
ja nicht immer Südtirol sein bietet »Variationen über
eindeutige Absichten«.
Oder: Schmuddelkram
mit Niveau

Ach, die Engländer machen mal Ann-Kathrin Carstensen


wieder die besten MÄNNER- und Ana Nuria Schmidt
SCHUHE – und zwar bei vom MODELABEL
der Firma Mr. Hare. Die Schuhe »Rita in Palma« arbeiten
bekommt man bei einem mit türkischen Näherinnen
französischen Online-Shop-Seite zusammen: Aus traditioneller
für Männer: Studiohomme.com Häkeltechnik entstehen
moderne Accessoires

Fotos Shay Alkalay; Carol Körting; Tom Powel; Name Namerich / Agentur;
Carsten Kofalk; Carol Körting; studiohomme.com
Deutschlandkarte MORD UND TOTSCHLAG

Kiel 2
Essen 5 Rostock 1
Duisburg 3 Lübeck 2
Düsseldorf 2
Gelsenkirchen 2 Bremerhaven 2 Hamburg 18
Recklinghausen 2 Oldenburg 3
Herne 1
Bremen 4
Moers 1
Mülheim 1
Oberhausen 1 Braunschweig 2
Hannover 5 Berlin 61
Bochum 0
Wolfsburg 0 Potsdam 0
Bottrop 0 Osnabrück 3
Krefeld 0 Münster 1 Hildesheim 1 Magdeburg 8
Salzgitter 0
Neuss 0 Bielefeld 0
Hamm 1 Cottbus 1
Paderborn 3
Dortmund 2 Göttingen 1 Halle 8
Mönchen- Hagen 0 Leipzig 4
Kassel 1
gladbach 3 Wuppertal 4
Solingen 1 Remscheid 1 Jena 1 Dresden 2
Leverkusen 0 Erfurt 4 Chemnitz 2
Siegen 1
Aachen 1 Köln 7
Bergisch Gladbach 1
Bonn 1
Koblenz 0 Frankfurt 9

Wiesbaden 3 Offenbach 1
Mainz 0 Darmstadt 1
Trier 3 Würzburg 0
Ludwigshafen 2
Mannheim 0 Erlangen 2
Kaiserslautern 3 Fürth 2
Heidelberg 1
Saarbrücken 1 Nürnberg 0
Heilbronn 0
Karlsruhe 2 Regensburg 1
Pforzheim 1
Stuttgart 5 Ingolstadt 2

Reutlingen 3 Augsburg 0
Ulm 1
München 4
Freiburg 1

Mord- und Totschlagsfälle im Jahr 2009 in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 mehr

Im Tatort geht der Trend ja zum Zweit- und gerade mal sechs Tote, München hatte auch im Westen (es bringen sich also nicht nur die
Drittmord. Um 20.18 Uhr liegt der Erste tot nur vier. Münster war in den Jahren zuvor Reichen gegenseitig um, wie das Fernsehen
da, gegen 21.30 Uhr wird nachgelegt. Es ent- mehrmals mord- und totschlagfrei. Aber was lehrt). Vielleicht gibt es wie bei Selbstmorden
steht der Eindruck, dass auch in den gar nicht bitte war da in Halle und Magdeburg los? Die auch bei Morden eine ansteckende Wirkung.
so großen Städten viel gemordet wird. Die beiden Städte hatten im Verhältnis zur Ein- Man liest in der Zeitung von einem Mörder
Wirklichkeit ist zum Glück etwas friedlicher. wohnerzahl mit Abstand die meisten Fälle, und denkt sich: Eigentlich könnte ich ja
Die Tatort-Städte Ludwigshafen, Kiel, Müns- weit vor Berlin. Gut, im Osten sind schon seit auch… Läuft es so? Die Tatorte wirken zum
ter und Saarbrücken hatten 2009 zusammen Jahren ein paar mehr Opfer zu beklagen als Glück nicht so. Matthias Stolz

10 Illustration Jörg Block Quelle Polizeiliche Kriminalstatistik


Gesellschaftskritik

Nicht im
Bild: Die
Nannys der
Familie
Jolie-Pitt

Über Kinderbetreuung
Angelina Jolie und Brad Pitt, heißt es, sol- wären besser, vier wahrscheinlich an-
len im letzten Jahr allein zehn Millionen gemessen, aber noch keineswegs übertrie-
Dollar für ihre Kinder ausgegeben haben. ben gewesen.
Dolle Sache! Vielleicht ist es das, was den Mit anderen Worten: Die sechs Mädchen
Klatsch über das Privatleben der Stars so für sechs Kinder, die Brangelina bisher
anziehend macht – dass es ins Ungeheure hatten, sind keine Verstiegenheit. Teilt
steigert, was auch wir aus unserem Alltag man die 900 000 Dollar entsprechend,
kennen: Kinder sind teuer. kommt man auf immer noch üppige
Selbst wenn man abzieht, was nur in Hol- 150 000 als Jahresgehalt. Aber was heißt
lywood für den Nachwuchs aufgewendet schon üppig bei Dienstboten? Auch Löh-
werden muss, die Charter von Privatflug- ne sind Knappheitspreise. Im egalitär ver-
zeugen und die Rechnungen von Luxus- wahrlosten Westen, in dem Krethi und
hotels, bleibt vermutlich immer noch ei- Plethi einen Vorstandsvorsitz erobern,
ne erstaunliche Summe übrig, nämlich sind Menschen, die sich noch mit Liebe
900 000 Dollar Jahresgehalt für die Kin- und Leidenschaft als Köchin, Gärtner,
dermädchen. Was sind das für Kinder- Chauffeur oder, horribile dictu, als Kin-
mädchen? Prinzessinnen? Harvard-Absol- dermädchen verstehen, eine Mangelware.
venten, die ebenso gut in der Vorstandsetage Da kommen selbst reiche Leute an finan-
eines Konzerns arbeiten könnten? Indes zielle Grenzen.
dürfen wir nicht vergessen, dass Brangeli- Wir kannten eine Dame am Berliner
na (wie man das Paar gern uncharmanter- Wannsee, die sich mit knapper Not noch
weise zusammenfasst) sechs Kinder haben einen Butler leistete; aber was dieser auf
und angeblich sechs Nannys brauchen. dem Silbertablett den Gästen reichte, war
Ein Experiment, neulich unter den be- eine – Prinzenrolle. So gesehen, leben
schränkten Verhältnissen der deutschen wahrscheinlich auch Brangelina nicht
Mittelschicht angestellt, ergab die Er- mehr in Saus und Braus. Sie leisten sich
kenntnis, dass für die Beaufsichtigung von die Nannys, weil sie wahrscheinlich er-
zwölf Kindern im Garten zwei Kinder- kannt haben: Kinder sind der wahre, viel-
mädchen jedenfalls zu wenig sind. Drei leicht letzte Luxus. Jens Jessen

Foto Saul Lazo/BULLS / Fame 11


»Es war schwierig, ein
normales Leben zu führen«
Hans-Dietrich Genscher, der Übervater der FDP, über die
Krise seiner Partei, Momente zwischen Leben und Tod und eine
Leiche, die eines Tages auf seiner Terrasse lag
Eine Leinwand als Hintergrund reicht,
und schon steht da der Staatsmann

Souvenir aus seiner Amtszeit:


Den Säbel bekam Genscher bei einer
seiner Reisen geschenkt

views dargelegt habe. Das war für mich das


Gespräch mit den Bürgern. Außenpolitik darf
nicht als geheime Kabinettspolitik behandelt
werden. In einer offenen Gesellschaft muss sie
von der Öffentlichkeit mitgetragen werden.
Nur so konnte Deutschland nach Hitler das
Vertrauen der Welt wiedergewinnen.
Was dachten Sie, als Sie von der Abstim-
mung bei den Vereinten Nationen zum
Hilfseinsatz in Libyen hörten, davon, dass
sich Deutschland der Stimme enthielt?
Verteidigungsminister Thomas de Maizière
hat in New York erklärt, man solle diese De-
batte beenden. Er hat recht. In Wahrheit geht
es jetzt um ein Konzept des Westens, wie er
die Freiheitsentwicklungen in der arabischen
Welt wirksam unterstützen kann.

Besuch bei Hans-Dietrich Genscher. Zwei


Vormittage verbringen wir mit ihm in seinem
Haus am Waldrand oberhalb von Bonn-Bad
Godesberg. Wir erfahren viel über die Mäch-
tigen dieser Welt, von denen so manche hier
vor dem Kamin gesessen haben. Zum Beispiel
der sowjetische Außenminister Andrej Gromy-
ko und Hosni Mubarak, damals ägyptischer
Staatspräsident. Genscher wird uns die er-
staunliche Sammlung seiner Bilder an der
Wand erklären, und er wird von der größten
Zäsur seines Lebens erzählen – seiner Tuber-
kuloseerkrankung, derentwegen er als Jugend-
licher jahrelang in Kliniken und Heilanstal-
ten lag. Aber es gibt auch Fragen, bei denen
Hans-Dietrich Genscher verstummt. Wer mit
ihm, der Inkarnation des deutschen Außen-
ministers, über die Krise des Außenministers
Guido Westerwelle spricht, hat es nicht leicht.
Schweigen, dürre Diplomatenworte, lange
Pausen – man kann ahnen, dass es ihm auch
um Anstand geht: Man schlägt auf nieman-
Von den. Ich habe gelernt, dass die FDP-Mitglied- den ein, der schon am Boden liegt.
HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS schaft anstrengend ist. Jeder Tag rechnet
und doppelt, gefühlt bin ich demnach schon Was erwarten Sie von Philipp Rösler?
STEPHAN LEBERT 130 Jahre dabei. Von ihm wird Führungsstärke und Entschei-
Was ist jetzt zu tun? dungskraft erwartet. Das gilt in Sach- und
Fotos Das Potenzial der Partei ist eine ausgezeichne- Personalfragen. Er muss Vertrauen nach in-
JONAS UNGER te jüngere Generation. Diese wird zunehmend nen und nach außen wiederherstellen.
sichtbar. Dazu kommen erfahrene Liberale Welche Niederlage hat in letzter Zeit am
mit Blick und Verständnis für die Zukunfts- meisten geschmerzt? Womöglich, dass die
Herr Genscher, wer, wenn nicht Sie, könn- fragen. Guido Westerwelle verdient Respekt FDP in Sachsen-Anhalt, Ihrer alten Hei-
te uns sagen, was derzeit mit der FDP dafür, dass er einen personellen Neuanfang mat, gar nicht mehr in den Landtag ge-
passiert? ermöglicht, indem er nicht wieder für den kommen ist?
Die Partei ist schon durch viele Täler gegan- Vorsitz kandidiert. Natürlich hat mich das besonders geschmerzt.
gen, sie hat viele Zerreißproben überstanden. In diesen Tagen fragt man sich: Woran ist Allerdings lag es im allgemeinen Trend.
Was wir jetzt erleben, ist eine schwere Ver- gute Außenpolitik zu erkennen? Was werden Sie den Delegierten auf dem
trauenskrise, die schwerste seit Gründung der Sie muss perspektivisch angelegt sein, sie muss Parteitag ins Stammbuch schreiben?
FDP. Vor wenigen Wochen bin ich in meiner wertorientiert, konsistent und berechenbar Das ist nicht meines Amtes. Ich werde mich
Heimatstadt Halle gewesen. Dort bin ich vor sein. Ich bin oft kritisiert worden, dass ich nicht hinstellen und eine hoch motivierte
65 Jahren Mitglied der liberalen Partei gewor- meine Außenpolitik, sooft es ging, in Inter- junge Generation wie Kinder auf die Bühne

13
bitten mit den Worten: »Nun macht mal
schön!« Nein, ich traue es den Jungen und
den aktiven Erfahrenen zu. Sie können es.
Sie haben der FDP viel zu verdanken. Bei
der Gelegenheit: Hätten Sie eigentlich
auch Bundeskanzler gekonnt?
Darüber habe ich nie nachgedacht. Die FDP
hatte es nicht in der Hand, selbst den Kanzler
zu stellen. Aber zurückgeschreckt wäre ich
nicht. Nach meinem Ausscheiden als Minister
hätte ich Bundespräsident werden können.
Aber ich fand damals, alles hat seine Zeit. Es
war richtig aufzuhören.
Als Sie 1992 auf eigenen Wunsch aus der
Bundesregierung ausschieden, fühlte sich
so mancher irritiert wegen der Schnellig-
keit, mit der Sie sich zurückzogen. Warum
diese Eile?
Es gab keine Eile. Ich habe im Sommer 1991
mit meiner Frau zum ersten Mal darüber ge-
sprochen. Ich wollte nicht, dass mich eines
Tages jemand fragt: Wann hören Sie endlich
auf? »Warum hören Sie schon auf?« klingt
besser. Sie dürfen nicht vergessen: Als ich
1992 ausschied, bestand die Republik 43 Jah- Hans-Dietrich Genscher,
re. Davon war ich 23 Jahre in der Regierung.
Da gibt es irgendwann eine Art Legitimations- 84, wurde in Halle an der Saale geboren und ging 1952 in den Westen. Er war unter
problem in einem System, das auf Wechsel
und Ablösung beruht. Es war genug. Willy Brandt Innenminister, unter Helmut Schmidt und bis 1992 unter Helmut Kohl
Helmut Schmidt hat über den Preis eines Außenminister. Von 1974 bis 1985 war er FDP-Chef, heute ist er ihr Ehrenvorsitzender.
hohen Amtes gesprochen; gepanzerte Au- In seine Ministerzeit fallen die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen 1972,
tos, Bodyguards, seine Tochter, die aus die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 und die Wiedervereinigung 1990
Sicherheitsgründen Deutschland verließ
und zum Studium nach England ging.
Er hat recht. Unser Haus wurde Tag und tschow auch außenpolitisch nicht alles beim Chance, die deutsche Vereinigung zu erleben.
Nacht bewacht. Über Jahre ging das so. Es war Alten bleiben. Ja, ich war der Ansicht, dieser Mann wird die
schwierig, ein normales Leben zu führen, aber Haben Sie sich vor dem ersten Zusammen- Welt verändern, er meint es ehrlich.
wir haben es versucht. Einmal rief mich meine treffen mit dem sowjetischen Regierungs- Kann man sagen, dass Sie Gorbatschow
Frau an, ich bereitete gerade den Parteitag in chef Ratschläge bei westlichen Amtskolle- auf eine besondere Weise geliebt haben?
Kiel vor. Sie berichtete mir von einer Tragödie gen geholt? Geliebt ist ein sehr großes Wort – und hier
bei uns zu Hause. Zwei BGS-Beamte hatten Ja. Das habe ich. Ich suchte deshalb François nicht das richtige. Mir reicht schon das Ge-
wohl ausprobieren wollen, wer von ihnen die Mitterrand in Paris auf. Er sagte mir: »Sie fühl, das hätte ich mir vorher nie vorstellen
Pistole schneller ziehen konnte. Dabei hatte werden einen sowjetischen Generalsekretär können, über einen ehemaligen General-
sich ein Schuss gelöst, ein junger Polizist hatte erleben, mit dem Sie so reden können wie mit sekretär der Kommunistischen Partei der
den Kommandoführer tödlich getroffen. Mei- mir. Er hat keinen Stapel vorgefasster Erklä- Sowjetunion zu sagen, das ist mein Freund.
ne Frau sagte weinend: »Bei uns liegt ein toter rungen vor sich auf dem Tisch liegen, die mit Welche Erinnerung haben Sie an den
Mann auf der Terrasse!« Ein Albtraum! dem Politbüro abgestimmt sind. Nein, er will Rücktritt von Gorbatschow 1991?
Was bleibt? Sie bezeichnen Eduard Sche- ein Gespräch. Er wird Sie unterbrechen, und Ich habe versucht, mit ihm am Heiligabend
wardnadse, den ehemaligen russischen er erwartet, dass Sie ihn unterbrechen.« 1991 zu telefonieren. Es hieß, das Gespräch
Außenminister, als einen Ihrer engsten So ist es dann auch gewesen? sei erst am Nachmittag des ersten Weihnachts-
Freunde. Können Sie sich noch daran er- Ja, so war es. Ich erinnere mich daran, wie feiertages möglich. Als es schließlich so weit
innern, wie es mit Ihnen beiden begann? Gorbatschow fragte: »Wie ist es möglich, dass war, meinte Gorbatschow, er habe soeben
Ich erinnere mich an einen Besuch in Helsin- wir den Amerikanern in der Raumfahrt min- seine Fernseherklärung an die Völker der
ki 1985. Es war der zehnte Jahrestag der Un- destens ebenbürtig sind, ebenso in der Rüs- Sowjetunion beendet. Nach unserem Telefon-
terzeichnung der Schlussakte von Helsinki, tung, und wir trotzdem nicht in der Lage gespräch werde er den Kreml verlassen. Und
und der jugendlich wirkende russische Au- sind, unsere Bevölkerung mit Kühlschränken, dann wollte er mir wohl zeigen, dass er bei
ßenminister Schewardnadse kam dazu. Er Autos und Wohnungen zu versorgen. Was aller inneren Bewegung über den Abschied
bestellte mir Grüße von seinem Amtsvorgän- läuft falsch bei uns?« Damit stellte er die Sys- noch zu einem Scherz in der Lage ist. Er
ger Gromyko, und dann sagte er einen be- temfrage, und das mir gegenüber, einem meinte, er hätte ja auch Heiligabend zurück-
deutsamen Satz: Er bat mich um Verständnis, Menschen, dem er zum ersten Mal begegnete. treten können, aber er wisse ja, was den Deut-
dass er sich außerstande sehe, mir die außen- Ich fand das fast revolutionär. schen die Weihnachtsgans bedeute. Diesen
politische Linie der neuen Regierung von Haben Sie damals schon geahnt, was mit Genuss habe er uns nicht verderben wollen.
Gorbatschow darzulegen, und überraschte diesem Mann alles möglich sein könnte? Während Ihrer 18 Jahre als Außenminister
mich mit dem Hinweis: »Wir sind gerade da- Diese Begegnung mit Gorbatschow hat mich haben Sie an vielen Staatsbegräbnissen
bei, unsere Außenpolitik zu formulieren.« tief berührt. Damals habe ich zu meinem teilgenommen. Wie echt ist die Trauer?
Eine Botschaft von großer Bedeutung? Mitarbeiter Gerold von Braunmühl gesagt, In besonderer Weise habe ich die Trauer um
Das kann man wohl sagen, denn damit war wenn der das alles macht, was er uns sagt, den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar al-
klargestellt, es würde unter Michail Gorba- dann haben wir zum ersten Mal eine reale Sadat in Erinnerung.

14
1985 in Helsinki: Hans-Dietrich Genscher und den Präsidenten hinter eine Mauer zu ziehen. Jahre lag ich über Jahre in Krankenhäusern
der sowjetische Außenminister Eduard Dabei hatten die Attentäter seine Hand zer- und Heilanstalten, ich war wirklich schwach.
Schewardnadse. Heute sind sie enge Freunde schossen. Wenn ich heute sehe, wie man über Aber ich wollte es wissen.
ihn denkt – nicht ohne Grund –, dann Was hat Sie gerettet?
schmerzt das. Es war einer meiner Ärzte. Er redete mir ins
November 1990: Begegnung mit dem Sie haben mit vielen Despoten verhandelt, Gewissen, nichts, aber auch gar nichts mit der
sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow in mit Leuten, die die Menschenrechte mit Krankheit zu entschuldigen. Dieser Arzt hat
Bonn. Es war der erste Besuch eines Staats- Füßen traten. Fiel Ihnen die Diplomatie mir meine Lebensphilosophie gegeben. Sei-
in solchen Augenblicken schwer? nem Rat folgend, habe ich mich bemüht,
oberhaupts im wiedervereinigten Deutschland Manchmal ballte sich die Hand in der Hosen- mein Jurastudium trotz allem schnell zu be-
tasche zur Faust. Dennoch, zu einem immer wältigen. Ich stellte mein Leben voll und ganz
Parteitag 1977 in Kiel: Gespräch mit Jürgen W. neuen Gespräch gibt es keine Alternative. Ich auf die Krankheit ein. Kein Sport, keine Son-
Möllemann, dem politischen Ziehkind war aktiv beteiligt an der KSZE-Konferenz, nenbestrahlung. Als ich Jahre danach durch
der wohl größten Menschenrechtsinitiative eine Operation wieder gesund wurde, habe
der Geschichte. Auch die kam nur zustande ich es als ein unfassbares Geschenk empfun-
mit den Unterschriften von Leonid Bresch- den, morgens aufstehen zu können, um zu
new und Erich Honecker. arbeiten.
Ihr Amtskollege Andrej Gromyko war Sie hatten zwischendurch das Kranken-
noch ein Vertreter des alten Russlands, ein zimmer zu einer Studierstube umgebaut.
meist finster dreinblickender Zeitgenosse. Das kann man sagen. Meine Freunde kamen
War sein Wesen auch ziemlich finster? zu mir in die Klinik und brachten mir aus den
Oh nein. Gromyko war ein Familienmensch. Vorlesungen Notizen mit.
Man konnte ihm keine größere Freude ma- Müßiggang war tabu?
chen, als sich nach seinen Enkeln zu erkundi- Was Thomas Mann im Zauberberg über Lun-
gen. Dann fühlte er sich veranlasst, über ihren genheilstätten schreibt, ist Realität. Man
»Dienstgrad« Auskunft zu geben. Man muss konnte dort lebensuntüchtig werden. Die
dazu wissen, dass die Gromykos eine Datscha Lungentuberkulose ist eine Krankheit, die
auf der Krim hatten. Dort hatten sie auch ein nicht wehtut, der Patient sollte sich nicht be-
Boot. Irgendwann wurde der eine Enkel zum wegen, sollte Liegekuren im Freien machen,
Bootsmann und der andere zum Vollmatro- mit dem Schlafsack. Frühstück, Liegekur,
sen »befördert«. Davon berichtete er gern. Mittagessen, Liegekur, Abendessen, Nacht-
Das hob auch seine eigene Stimmung. schlaf und am nächsten Tag wieder, und wie-
Aber eingewickelt hat er Sie nie? der. Ich spielte damals gern Skat. Ich hätte
Nein. Gromyko war jemand, der die politi- Skat spielen können bis in den Tod. Ich habe
schen Systeme mehr als andere durchschaute. mich für die Alternative entschieden.
Er hatte großen Respekt vor den Amerika- Am Ende der Leidenszeit sind Sie auf die
nern. Washington war sein erster Botschafter- Überholspur gegangen?
Posten. Er wusste, wie die Lage in seiner Hei- Eigentlich schon vorher, erstaunlicherweise,
mat war, als die Sowjetunion den Zweiten meine schwächste Zeit machte mich stark.
Weltkrieg führte. Und er hat es miterlebt, als Wenn Sie auf Ihre Zeit als Außenminister
die Amerikaner diesen Krieg führten: in Süd- zurückblicken, gibt es da etwas, das Sie
ostasien und in Europa. In den USA spürte bereuen? Hat sich ein Sachverhalt im
man kaum etwas. Im Lande brannten die Nachhinein anders dargestellt als von Ih-
Lichter, und es fehlte an kaum etwas. Gromy- nen zunächst angenommen?
ko hatte ein Gefühl für die unglaubliche Vita- Nein, eigentlich nicht. Sie mögen das an-
lität und Stärke der USA. maßend finden, aber es ist so.
Welche Rolle spielte Wodka bei diesen Ge- Gilt dies auch für den Kosovokrieg? Sie
sprächen? haben damals früh Kroatien anerkannt
Er spielte keine Rolle – im Gegenteil. Ich habe und damit den Zerfall Jugoslawiens zu-
Gromyko in Moskau einmal zugeprostet. So- mindest beschleunigt. Danach eskalierten
fort kam seine Frau auf mich zu und bat mich, in Jugoslawien die Gräueltaten über Wo-
dies zu unterlassen. Der Arzt habe ihrem chen. Auch der UN-Generalsekretär hat
Mann Wodka verboten. Aber er könne natür- damals die Deutschen heftig kritisiert.
lich auch nicht zeigen, dass er es nicht dürfe. Es war umgekehrt. Die Anerkennung von
Sie haben fast Ihr ganzes Leben der Politik Slowenien und Kroatien brachte Slobodan
Warum? verschrieben. Sie haben damals beim At- Milošević dazu, den Krieg gegen diese beiden
Er sah sich, davon bin ich überzeugt, in einer tentat während der Olympischen Spiele Staaten zu beenden. Ist das nichts? Für uns –
historischen Mission. Er war eine moralische 1972 in München mit den Terroristen ver- Helmut Kohl und mich – war wichtig, auf
Autorität. Er wollte Frieden mit Israel. Er handelt, über lange Jahre Deutschland in keinen Fall Slowenien oder Kroatien im Al-
wusste, einer muss den ersten Schritt tun. Er der Welt vertreten und schließlich auf leingang anzuerkennen. Die Bundesregierung
wusste auch, er setzt sein Leben aufs Spiel. dem Balkon der deutschen Botschaft in ist in dieser Frage, auch wenn das immer wie-
Sein Nachfolger wurde Hosni Mubarak, Prag offene Grenzen zwischen Ost und der behauptet wird, keineswegs vorgeprescht,
an dessen moralischer Integrität die ganze West in Aussicht gestellt. Woher haben Sie sie hat die Anerkennung gemeinsam mit ih-
Welt heute großen Zweifel hegt. all die Kraft genommen? ren Partnern aufgrund eines einstimmigen
Als er sein Amt antrat, war ich voller Hoff- Ich bekam mit 19 Jahren eine schwere Lun- Beschlusses der EG-Außenminister vor-
nung. Ich traf ihn unmittelbar nach dem At- gentuberkulose. Das konnte damals das Ende genommen. Milošević war es, der das Jugo-
tentat auf Sadat in Kairo. Seine Hand war bedeuten. Es war die große Zäsur meines Le- slawien Titos zerstört hat. Der Kosovokrieg
noch verbunden, Mubarak hatte versucht, bens. Im Laufe der vierziger und fünfziger war später.

Fotos Lehtikuva Oy / dpa; Tim Brakemeier / dpa; Sven Simon / dpa 15


Das Jahr 1989 ist für immer mit der Freu- unserer Prager Botschaft reagieren? Ließe man union. Als ein Mitarbeiter Kissingers darauf
de über die Wiedervereinigung Deutsch- sie tatsächlich ausreisen? Unglaublich: In je- hinwies, es sei eine Delegation der DDR in
lands verbunden. Sie hatten zudem Anlass nen Tagen zwischen dem 10. und dem Washington, um über die Aufnahme diplo-
zur Freude, weil Sie in jenen Monaten ei- 30. September 1989 fand eine Umkehr der matischer Beziehungen zu sprechen, beschied
nen Herzinfarkt überlebt hatten. gesamten DDR-Ausreisepolitik statt. er: Sie könnten abreisen und wiederkommen,
Ich habe damals gespürt, dass ich ziemlich Und dann standen Sie auf diesem Balkon wenn die Ampeln auf Grün stünden. So ist es
müde wurde, also die Batterien ziemlich weit der deutschen Botschaft in Prag. Sie ahn- auch gekommen.
unten waren. Aber, so glaubte ich, sie waren ten, was kommen würde. Herr Genscher, auf manchen Ihrer Reisen
auch wieder aufzuladen. Ja. als Minister wurden Sie von Ihrer Mutter
Wie knapp ist es gewesen? Erzählen Sie. begleitet. Können Sie dieses Mutter-Sohn-
Am Mittag des 20. Juli 1989 saß ich noch Ich war erregt. Mir wurde wieder und wieder Verhältnis beschreiben?
gegen halb eins beim Bundeshaus-Frisör in kurz schwindelig. Gut, dass der Balkon unse- Das geschah nur einmal. Wir hatten ein sehr
Bonn, als ich plötzlich einen starken Schmerz rer Botschaft in Prag von einer Steinmauer enges Verhältnis zueinander. Als mein Vater
im Unterkiefer verspürte. »Vernichtungs- umgeben ist – ich konnte mich anlehnen und starb, war ich neun Jahre alt. Ich war das ein-
schmerz« nennen das die Ärzte. Normaler- festhalten. zige Kind. Meine Mutter hatte als Bezugs-
weise denkt man ja, ein Herzinfarkt kündigt Hatten Sie sich eine ganz besondere Rede punkt mich – und ich meine Mutter und
sich im Oberarm oder Brustraum an, aber ich zurechtgelegt? meinen Großvater mütterlicherseits. Sie ist
wusste es besser. Meine Frau ist Schirmherrin Auf dem Hinflug habe ich darüber nach- der Mensch, mit dem ich am längsten zu-
der Deutschen Herzstiftung. Sie hatte mir gedacht, was ich sage. Ich habe Notizen ge- sammengelebt habe. Als sie im Oktober 1988
zwei Wochen vorher einen Flyer zum Thema macht und sie wieder verworfen. In solchen starb, war sie 87.
»Plötzlicher Herzinfarkt« gezeigt. Sie wollte Augenblicken muss man vor die Menschen Sie hat immer ein Auge auf Sie gehabt?
wissen, wie ich ihn fand. Also wusste ich Be- treten und aus dem Herzen sprechen. In unse- Kann man so sagen. Ich erinnere mich an eine
scheid. Wir sind sofort ins Auto gestiegen rem Botschaftsgebäude gibt es einen großen Geburtstagsfeier, eine große Party mit vielen
und zum Krankenhaus gefahren. Dort habe Torbogen, durch den früher die Gespanne hi- Gästen. Kellner gingen durch den Raum und
ich sofort eine Lösungsspritze bekommen. neinfuhren. In diesem Tor ist eine kleine Pfor- boten Bier an. Ich meldete mich, um eins zu
Ich habe Glück gehabt, dass ich damals in der te. Da ging ich hindurch. Rechts und links bekommen. Meine Mutter sah das und rief:
Nähe einer Klinik und nicht irgendwo in standen Betten, jeweils drei übereinander. In »Mein Sohn dankt!«
Afrika unterwegs war. dem Torbogen allein schliefen etwa 150 Men- Sie meinte, Sie hätten genug?
Wenig später, so stand zu lesen, sind Sie zu schen. Wie lange werden wir das aushalten? Es Ja.
einer Rede vor den UN nach New York ge- war der 30. September, der Oktober stand be-
flogen, in Begleitung zweier Kardiologen. vor. Was machen wir, wenn der Winter Die Fenster seines Hauses sind aus schussfestem
Hatten Sie keine Angst? kommt? Als ich dann die breiten Steinstufen Glas, ein jedes mehrere Zentner schwer. Nicht
Nein, meine Gedanken waren bei den DDR- in der Botschaft hinaufstieg, dachte ich an die im Traum wäre Hans-Dietrich Genscher da-
Flüchtlingen in Prag. 4500 Menschen auf dem Botschaftsgelände; rauf gekommen, dass es Einbrecher in sein
fast eine Kleinstadt. Mir fiel auf, dass viele gar Wohnzimmer schaffen könnten. Und dann,
nicht registrierten, dass da ein westdeutscher Mitte März, passiert es doch. Drei Männer,
Minister plötzlich unter ihnen war. nimmt die Spurensicherung an, die womöglich
»Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen gar nicht wussten, wo sie da den Kuhfuß an-
mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...« setzten. Sie erbeuten eine Münzsammlung,
Mehr konnten Sie damals nicht sagen, der auch zwei Füllfederhalter nehmen sie mit.
Rest ging im Jubel unter. Nun wusste je- Weil der Hausherr von einem Abendessen frü-
der, wer Sie waren. her als erwartet zurückkehrt, ergreifen die Tä-
Ja. ter eilig die Flucht. Das ganze Haus durch-
Sie waren besorgt bis zum Schluss, dass wühlt, ein Lichtblick immerhin: Der historisch
etwas schiefgehen könnte? wichtige, unersetzliche Füller blieb an seinem
Dass alles doch noch kippt, dass in Ost-Berlin Platz, jener, mit dem Hans-Dietrich Genscher
irgendeiner sagt: Nein, wir machen da nicht 1990 den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeich-
mit. nete. All das erzählt er mit stoisch anmutender
Was ist Ihnen als ein Beispiel für gute Au- Gelassenheit. Allerdings, um vollends sicher-
ßenpolitik in Erinnerung? zugehen, hat er inzwischen schwere schwarze
Da fällt mir der Name Henry Kissinger ein. Schlösser an den Fensterrahmen anbringen
Mir hat imponiert, wie kraftvoll er Politik be- lassen. Jedes mit einem eigenen Schlüssel.
trieben hat. Ich erinnere mich an eine Situa-
tion im Jahre 1974, als wir auf ein Gespräch War Ihnen Geld wichtig im Leben?
mit Richard Nixon in St. Clemente warteten. Nein, denn dann hätte ich in meiner Rechts-
Kissinger und ich saßen in einer Sesselgruppe anwaltskanzlei bleiben müssen. Natürlich
mit Blick auf den Pazifik. In dieser Situation macht man sich Gedanken, was man denen
kommt die Nachricht, dass die Ampeln auf hinterlässt, die nachkommen. Aber wäre dies
der Autobahn zwischen Berlin und West- mein erster Gedanke gewesen, dann hätte ich
Es war ja auch ein denkbar ungünstiger deutschland auf Rot geschaltet worden waren. nicht in die Politik gehen dürfen.
Zeitpunkt für einen Ausstieg, die Grenzen Grund dafür war die Entscheidung, das Um- Ihr Vater war Rechtsanwalt?
nach Osteuropa begannen sich zu öffnen. weltbundesamt nach Berlin zu verlegen. Kis- Als Kind hatte ich keine Vorstellung davon,
Sie haben recht, ich hätte es nicht ertragen, singer reagierte unmissverständlich. Auf der was das war. Es blieb so ein Bild meines Vaters
plötzlich nicht mehr dabei zu sein. Wahr- Stelle ließ er den damaligen sowjetischen Bot- zurück. Aber er war nicht Rechtsanwalt, son-
scheinlich hätte ich es auch nicht überlebt. schafter einbestellen, um ihm sagen zu lassen, dern Syndikus. Anwalt, das wollte ich werden.
Wir standen in ständigen Gesprächen mit dies sei keine Angelegenheit der Bundesrepu- In meiner Generation gab es nach dem Krieg
den Ungarn. Ich fragte mich, wie wird die blik und der DDR, sondern eine Angelegen- eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Des-
DDR-Führung angesichts der Flüchtlinge in heit der Vereinigten Staaten und der Sowjet- halb auch mein frühes politisches Engagement

16
– auch gegen Unrecht. Etwas dafür zu tun,
dass Nazidiktatur und Krieg nicht wieder ge-
schehen, dafür zu sorgen, dass das Land wieder
zusammenkommt, das waren meine Motive.
Sie sind frei von Neid?
Total. Neid wäre mir auch schnell ausgetrie-
ben worden. Warum bekomme ich Tuberku-
lose? Warum kann ich keinen Sport treiben?
Warum habe ich meinen Vater früh verloren?
Tausend Dinge könnte man nennen. Alles
Lebensversagens-Entschuldigungslügen. Ver-
stehen Sie? Nein, kein Neidgefühl.
Während der Olympischen Spiele in Mün-
chen, damals waren Sie Innenminister,
haben Sie sich im Austausch als Geisel an-
geboten. Verblasst die Erinnerung an diese
Augenblicke jemals?
Nein. Ich sage Ihnen, was mir damals wieder
und wieder durch den Kopf ging: Jedes Men-
schenleben ist gleich wertvoll. Aber dass Juden
wieder in Deutschland umgebracht werden
sollten, das war für mich undenkbar. Das
habe ich damals dem Anführer der Palästi-
nenser auch klar gesagt.
Sie haben vorgeschlagen: »Nehmen Sie
doch mich.« Hatten Sie das mit jemandem
abgesprochen?
Nein. Aber ich habe meine Frau angerufen,
die sich in einem Münchner Hotel aufhielt.
Ich wollte noch einmal mit ihr sprechen, be-
vor ich ihr das antue. Aber ich sprach nicht
über meine Absicht. Ich habe auch mit meiner
Mutter und mit meiner Tochter, die zu Hause
waren, am Telefon gesprochen. Meine Tochter

In der Bibliothek: Genscher in seinem Haus in


der Nähe von Bonn-Bad Godesberg

Der Stich im Flur zeigt seine Geburtsstadt Halle

In der Gästetoilette hängt eine kleine Sammlung


von Genscher-Karikaturen
war damals elf Jahre alt. Ich wollte die Stim-
men meiner Familie noch einmal hören.
Der Globus auf dem Schreibtisch (linke Seite) Die Palästinenser sind damals nicht auf
erinnert ihn an seine Reisen. Unterwegs galt Ihr Angebot eingegangen. Bei dem Befrei-
immer: An Bord kein Alkohol und kein Kaffee ungsversuch gab es dann ein Blutbad. Alle
israelischen Geiseln wurden getötet. Ha-
ben Sie sich je gefragt, warum das Drama
in München einen solchen Verlauf genom-
men hat?

17
Das bleibt für mich unerklärlich: Warum so
und nicht anders?
Waren Sie für einen Moment ungläubig?
Nein.
Überhaupt nicht?
Nein. Dafür geschieht zu viel.
Sehen Sie einen Teufel am Werk?
Nein.
Der Teufel ist keine Kategorie für Sie?
Nein.
Sie sind gläubig?
Ja, ich bin gläubig aufgewachsen. Ich habe
nie mit meinem Schicksal gehadert, was ja
auch heißt, nie mit Gott gehadert – ihm
aber immer wieder gedankt, er war stets
gnädig mit mir.
Sie haben an der Beerdigung von Jürgen
Möllemann teilgenommen, der sich im
Jahre 2003 mit einem Fallschirmsprung
das Leben genommen hat.
Ja, denn wir sind einen langen Weg gemein-
sam gegangen.
Sie waren sein größter Förderer? Hans-Dietrich Genscher ist es müde, weit zu
Ja – wohl. Später haben wir uns voneinan- reisen. Heute ist er am liebsten in Deutschland
der entfernt. Er hat sich von mir entfernt.
Das, was dann geschehen ist, kann man aus- de Schlag sei gewesen, dass Hans-Diet-
blenden, aber nicht, wenn einer für immer rich Genscher den Parteiausschluss nicht
davongeht. verhindert habe.
Damals machte die FDP als sogenannte Dass ich da eine klare Position hatte, das hat
Spaß-Partei von sich reden. Möllemann ihn gewiss getroffen. Das kann ich mir vor-
und andere vermittelten den Eindruck, stellen.
dass die Liberalen mit etwas guter Laune Haben Sie mit Möllemanns Witwe da-
leicht 18 Prozent der Stimmen erreichen nach gesprochen?
könnten. So mancher hat damals ein Nein, ich wollte ihr nicht zu nahetreten.
Machtwort von Hans-Dietrich Genscher Am Grab habe ich nur ein paar Worte mit
vermisst. Hätten Sie eines sprechen müs- ihr gewechselt.
sen? In Ihren Memoiren schreiben Sie, einer
Nein. Meine beiden Großväter waren Bau- der schlimmsten Momente Ihres Lebens
ern. Ich kannte das Problem des Altbauern, sei die Ermordung von Gerold von
der den Hof abgegeben hat und sich oben Braunmühl durch die RAF gewesen.
ans Fenster gesetzt hat, um zu beobachten, Dieses Bild verfolgt mich bis heute. Dieser
ob der junge Bauer beim Anspannen der Mann liegt auf dem Boden, auf dem Ge-
Pferde alles richtig macht. Das wollte ich sicht, die Aktentaschen noch in der Hand,
nicht. mit denen er vermutlich vor den Mördern
Woran ist Möllemann gescheitert? zu fliehen versuchte. An jenem Tag hatte ich
Das ist eine Frage, die ich oft neu stelle, weil eine schwere Grippe und war schon am frü-
ich nicht weiß, was ihn bewogen hat, einen hen Abend nach Hause gefahren, um mich
Weg zu gehen, der kein gemeinsamer sein ins Bett zu legen. Gegen halb zehn, glaube
konnte. Da rätsle ich immer wieder. ich, klingelte das Telefon. Frau von Braun-
Haben Sie mit anderen darüber gespro- mühl sagte: Gerold ist tot. Das war ein
chen? Mit Guido Westerwelle zum Bei- Schlag. Ich stand auf und fuhr sofort hin.
spiel, der damals eng mit Möllemann Schlafen Sie gut?
zusammengearbeitet hat? Immerhin war Ich konnte immer gut schlafen. Selbst im
er Möllemanns Kanzlerkandidat. Hubschrauber.
Nein. Die Vielfliegerei – ein Problem?
Kann man Ihr Verhältnis als Vater-Sohn- Ich habe unterwegs keinen Alkohol getrun-
Verhältnis bezeichnen? ken, auch keinen Kaffee. An Bord eines
Vielleicht. Ich war jemand, der Jürgen Möl- Flugzeuges hat alles die doppelte Wirkung.
lemanns Talent erkannt hat, seine unglaub- Frage an den Vielflieger: Gang oder
liche Aktivität, seine Vitalität und seine Fenster?
Kreativität und sein Engagement. Fenster. Ein Blick hinaus, und ich schlafe
Warum hat er sich in seiner Not nicht ein.
bei Ihnen gemeldet? Haben Sie nach Ihrem Rücktritt weiter
Das frage ich mich auch. Ich kann es nicht Fernreisen unternommen?
beantworten. Vielleicht war es ihm un- Kaum.
angenehm. Was dann?
Wolfgang Kubicki, Möllemanns Freund Timmendorf, der Strand, wir sind Deutsch-
und Anwalt, vermutet, der entscheiden- landurlauber. zeitmagazin
nr . 

19
Gutes Gras
Blumen werden überschätzt. Glaubt der Landschaftsarchitekt
Peter Wirtz. Zu Besuch bei einer legendären Gärtnerfamilie

Wachstumsbranche: Diese Wirtz’schen Werke nahe Antwerpen gedeihen prächtig 21


22 Immergrüne Welle: Die Wirtz’schen Gärten entfalten ihre Schönheit zu jeder Jahreszeit
Von
ILKA PIEPGRAS
Fotos
M A R C O VA L D I V I A
Belgien ist ein schwermütiges Land. Es regnet
viel, der Himmel ist meist grau und hängt so tief
über dem flachen Boden, dass man fürchten
muss, er falle einem gleich auf den Kopf.
Der Landschaftsgestalter Peter Wirtz hat das
Ziel, die Schwermut seines Landes zu überwin-
den. »Unsere Mission ist Heiterkeit. Wir beherr-
schen da ein paar Tricks«, sagt er. Wirtz ist ein
hoch aufgeschossener Mann mit blauen Augen
und rötlich blondem Haar, das in übermütigen
Wirbeln vom Kopf absteht. Anfang des Jahres
fünfzig geworden, wirkt er mit seinen schlaksigen
Bewegungen wie ein großer Junge. Gemeinsam
mit seinem Bruder Martin führt er die Firma, die
Vater Jacques vor vielen Jahren gegründet und zu
großem Ruhm geführt hat.
Jacques Wirtz gilt als einer der stilbildenden
Gartenarchitekten Europas, überall auf der Welt
hat der heute 87-Jährige mit seinen zwei Söhnen
private und öffentliche Gärten gestaltet. François
Mitterrand beauftragte die Firma Wirtz, die Gär-
ten rund um den Élysée-Palast und den Park für
das Carrousel du Louvre neu anzulegen. Für den
Modeschöpfer Valentino haben die Belgier den
Park seines Schlosses unweit von Paris angelegt
und in London den Jubilee Park des Wirtschafts-
zentrums Canary Wharf. Auch private Villengär-
ten werden von Wirtz geplant – und selbst
Kleingärtnern gibt Peter Wirtz bereitwillig Rat-
schläge, doch dazu später.
Architekten und Landschaftsplaner prei-
sen vor allem das besondere Gespür der Familie
für Proportionen und die Harmonie des Rau-
mes – doch wie genau funktioniert ein Garten,
der Heiterkeit erzeugen soll? Worin liegt sein
Geheimnis?
Besucht man die Wirtzens auf ihrem Fa-
miliengelände in Schoten, einer Kleinstadt un-
weit von Antwerpen, stößt man als Erstes auf
Wasser. Zwei nebeneinander angelegte recht-
eckige Teiche trennen die Bürogebäude von ei-
ner kleinen Baumschule. Auf dem Wasser
schwimmen Seerosen, die Luft riecht nach Pfer-
demist, in den Bäumen zwitschern Vögel. Hin-
ter einer dichten Buchenhecke lugen Eiben und
Buchsbäume in unterschiedlichen Formen her-
vor: Quader, Kegel, Spiralen, Kugeln. Es wirkt,
als habe jemand mit den Bäumen Figurenwer-
fen gespielt und sie in ihren eigenwilligen Posi-
tionen erstarren lassen. Ein Baum ähnelt einem
Stopfei, ein anderer einem Eis am Stil, ein drit-
ter scheint gleich abzuheben, so spitz wie eine
Rakete ragt er in die Luft. Ein bisschen fühlt
man sich inmitten dieser lustigen Gestalten wie
in der Requisitenkammer eines Theaters. Auf
dem Spielplan steht eine Komödie.
Man kennt die beschnittenen Bäume aus
europäischen Adelsgärten der Barock- und Re-
naissancezeit, an deren Tradition Wirtz anknüpft.
»In Belgien haben sich in der Vergangenheit alle
möglichen Strömungen und Einflüsse gekreuzt,
kein Stil hat jemals dominiert. Wir haben aus
Familienbetrieb: Die Brüder
Martin (links) und Peter Wirtz
und der Vater Jacques

diesem Mix unseren eigenen Stil destilliert«, förmig beschnittenen Buchsbäumen vorbei, stört. Doch niemand ist zu sehen. Jacques
sagt Peter Wirtz. »In Deutschland werde ich wie Haustiere lagern diese merkwürdigen Ge- Wirtz hat sich kürzlich aus dem Betrieb zu-
oft danach gefragt, welcher Schule wir uns zu- bilde am Wegesrand. An anderen Stellen la- rückgezogen und verlässt nur noch selten
ordnen lassen. Man hat dort Schwierigkeiten den Inseln aus Gräsern dazu ein, hineinzufas- sein Haus. Durchs Fenster erkennt man ei-
mit unseren Entwürfen. Mal gelten wir als zu sen, so als kraule man einen Hund. nen Flügel im Innern des Hauses. Musik
versponnen, mal als zu autoritär, weil wir mit Blumen spielen eine untergeordnete spielt eine herausragende Rolle in der Fami-
starken Sichtachsen arbeiten. In den Wett- Rolle in den Wirtzschen Gärten. Weil es kei- lie. Peter Wirtz schloss ein Musikstudium
bewerbsjurys herrscht oft ein schablonenhaf- nen traurigeren Anblick als ungepflegte Stau- ab, bevor er Landschaftsarchitektur an der
tes Denken.« Tatsächlich konnte sich bislang den gebe, sagt Peter Wirtz, werden Blüten Cornell-Universität in den USA studierte.
bei prominenten öffentlichen Ausschreibun- nur dort eingesetzt, wo man sich wirklich in- Er erinnert sich gern an seine Kinderzeit,
gen – etwa bei der Gestaltung des Lustgartens tensiv um sie kümmert. Im Garten der Fami- wenn er abends mit seinen drei Geschwis-
auf der Berliner Museumsinsel oder des Hil- lie finden sich gelbe Magnolien (»unsere tern im Wohnzimmer spielte, während sein
desheimer Domhofes – kein Wirtzscher Ent- neueste Entdeckung«) und blauer Ritter- Vater musizierte. Überhaupt nennt er, nach
wurf durchsetzen. sporn (»die Lieblingsblume meines Vaters«), seinen Inspirationsquellen befragt, die Bil-
Dass sie sich einer Typisierung verwei- blaue und cremefarbene Glyzinien und Ro- derwelten seiner Kindheit als Ausgangs-
gern, charakterisiert die Wirtzschen Gärten sen. Grundsätzlich jedoch arbeiten die Bel- punkt seiner Kreativität.
vielleicht am treffendsten. Die Familie gibt gier mit einer sehr eingeschränkten Farb- und »Meine Eltern haben regelmäßig mit uns
nichts auf Trends, das Schnelllebige interes- Pflanzenpalette. »Im Sommer durch Blumen Gartenreisen nach England, Frankreich und
siert sie nicht. »Aber historische Muster abstra- große Effekte zu erzielen ist nicht schwer«, Spanien gemacht. Wenn man schon als Ju-
hieren und zeitgenössisch interpretieren – das sagt Peter Wirtz. »Unsere Gärten sind auch gendlicher die Magie von Renaissancegärten
können wir sehr gut«, sagt Peter Wirtz. Illusi- im Winter lesbar.« Auch verwenden sie entdeckt, prägt das fürs Leben. Kinder sind
on, Magie, Traumwelt – diese Begriffe tau- Pflanzen nicht wie viele andere Gartengestal- sehr empfänglich für die Poesie von Gärten.«
chen immer wieder auf, wenn die Anlagen der ter, um auf bauliche Elemente wie Wege oder Auch zwei Preußen, den Architekten Karl
belgischen Landschaftsarchitekten in der Brüstungen hinzuweisen. Bei der Familie Friedrich Schinkel und den Gartenkünstler
Fachliteratur beschrieben werden. Wirtz ist es umgekehrt. Die Pflanze steht im Peter Joseph Lenné, nennt Peter Wirtz als Vor-
Einen Eindruck vom poetischen Wider- Vordergrund, gepflasterte Flächen hingegen bilder sowie Literatur von Eichendorff, Möri-
hall dieser Gärten vermittelt der Privatgarten spielen kaum eine Rolle. ke und Heine. Im heutigen Deutschland ver-
von Jacques Wirtz, der sich einen kurzen Fuß- Für kleine Vorstadtgärten gelten laut misst er deren Sensibilität. »Ich frage mich, wo
weg von der Firmenzentrale entfernt befindet. Peter Wirtz dieselben Prinzipien wie für mo- die Weichheit von Mendelssohn und Schu-
Leise surrend öffnet sich ein Holzgatter, als numentale Parkanlagen. Gartenbesitzern rät mann geblieben ist. Ich finde die Empfind-
Peter Wirtz den Zahlencode eingibt, der das er, lieber in einen Teich, als in eine Terrasse samkeit in der deutsche Seele nur mühsam
Grundstück seines Vaters absichert. Kaum hat zu investieren, »denn Wasser wirkt wie ein wieder. Wo ist die Poesie? Heute steht das
man eine Art Wassergraben überquert, steht Spiegel und entfaltet große räumliche Wir- Funktionelle im Vordergrund.«
man zwischen zwei gewaltigen grünen Wän- kung«. Er warnt vor modischen Pflanzen wie Peter Wirtz bückt sich und hebt ein
den aus dichten Buchenhecken. Die Familie »dieser unglaublich lächerlichen Acer Ne- Magnolienblatt vom Boden auf. Fasziniert
Wirtz pflanzt Hecken nicht nur als Außen- gundo Flamingo« (einem Ahorn mit rosa- betrachtet er die filigranen Adern des fast
begrenzung, sondern als Strukturelemente bunten Blättern) oder der rotblättrigen Pru- durchsichtigen Blattes und steckt es dann
auch im Innern von Gärten. So teilt eine Viel- nus, »die alles Licht wegsaugt«. Auch die behutsam in die Tasche, um es später seiner
zahl von Buchenhecken ihren eigenen Garten immer noch beliebten Überbleibsel aus den siebenjährigen Tochter zu zeigen. Wirtz ist
wie in eine Abfolge von Zimmern, immer fünfziger Jahren wie etwa Cotoneaster ein schwärmerischer, begeisterungsfähiger
wieder betritt man neue Räume, in denen sich (Zwergmispeln) und Juniperus (Wacholder) Mensch, gleichzeitig wirkt er sehr boden-
unterschiedliche Pflanzen präsentieren. Und hält Wirtz für »total geschmacklos«. Neben- ständig. Vielleicht liegt hier das Geheimnis
so wie hier sind starke, von immergrünen bei empfiehlt er Erdbeeren von Mieze der Wirtzschen Gärten: Hinter einer äußerli-
Pflanzen vorgegebene Strukturen das Haupt- Schindler – eine deutsche Züchtung, die chen, formalen Strenge eröffnen sich sehr
merkmal aller Wirtzschen Gärten. nach Walderdbeeren schmeckt. emotionale Orte. Man fühlt sie eher, als dass
Obwohl die nächste Schnellstraße nicht Schließlich führt der Spaziergang auch man sie sieht. zeitmagazin
nr . 
weit entfernt ist, fühlt man sich in diesem Pri- am Haus des Vaters vorbei, und Peter Wirtz
vatgarten so abgeschieden, als befände man schaut prüfend, ob man den Senior womög- Mehr zu modernen Gärten –
sich mitten im Wald. Man spaziert an wellen- lich beim Mittagsschlaf auf der Terrasse die Themenwoche auf ZEIT Online

24
Ich habe einen Traum
Kate Bush
»Es ist entscheidend, die Kontrolle über seine Arbeit zu haben«
Ich war sechzehn, als ich Mitte der siebziger Jahre von einer großen Ewigkeit. Einmal pro Jahr rief mich damals ein höflicher Mann fen, lehnten sie ab. Damals war ich tief enttäuscht, respektierte
Plattenfirma unter Vertrag genommen wurde. Der Traum meines von der Plattenfirma an und fragte dezent nach dem Stand der aber die Entscheidung und verfasste einen eigenen, neuen Text.
Lebens war das nicht. Damals hätte ich mir genauso gut ein Studi- Dinge. Aber ich ließ mich nicht drängen. Aber wirklich glücklich war ich mit dem Lied nie. Später schrieb
um der Psychologie vorstellen können. Ich hatte dann das Glück, Es ist faszinierend zu beobachten, was sich manche Leute zusam- ich den Erben noch mal – und da gaben sie grünes Licht. Warum?
dass ich mit meiner Musik schnell erfolgreich war, denn dadurch menreimen, wenn jemand so gegen die Regeln verstößt wie ich. Ich weiß es nicht. Nun habe ich das Lied in Flower Of The Moun-
wurde ich ermuntert, immer weiterzumachen. Sein Leben der Es geisterten wilde Gerüchte über mich herum, es gab die absur- tain umgedichtet und mit Joyce’ Text neu eingespielt, nun war es
Kunst widmen zu können – das ist märchenhaft. desten Vorstellungen davon, wie ich wohl meine Zeit verbringe. der Song, den ich mir jahrelang erträumt hatte. Aber eigentlich
Aber die Musikindustrie ist ein brutales Gewerbe. Ich musste im- Tatsächlich hatte ich einen Sohn bekommen und beschlossen, sollte ich solche Geschichten nicht ausplaudern. Denn Kunst sollte
mer hart für meine Freiheit kämpfen. Das fing schon an mit meiner ihm in den ersten Jahren seines Lebens so viel Zeit wie nur mög- einfach so wirken und angenommen werden, wie sie dargeboten
ersten Single, Wuthering Heights, die mich bekannt machte. Die lich zu widmen. Dass ich die Freiheit hatte, so etwas zu entschei- wird. Wenn man weiß, wie ein Zaubertrick funktioniert, ver-
Plattenfirma wollte sie ursprünglich nicht, sie hatten ein anderes den: das ist ein Traum. schwindet die Magie. Und um die geht es doch.
Lied ausgesucht, und ich musste lange mit ihnen streiten, um sie Überhaupt ist es entscheidend, als Künstler die Kontrolle über sei-
von meiner Meinung zu überzeugen. Weil ich aber das Glück des ne Arbeit zu haben – also letztlich über sein eigenes Leben. Dann Catherine »Kate« Bush,
schnellen Erfolges hatte, hörte man mir seither aufmerksamer zu. muss man nur die eigenen Grenzen akzeptieren. Und manchmal
Mit den Jahren habe ich mir immer mehr Unabhängigkeit er- natürlich die Grenzen anderer Menschen. 52, ist eine der erfolgreichsten Musikerinnen der letzten drei Jahr-
kämpft und bin mittlerweile in der luxuriösen Situation, dass ich Das musste ich selbst erst lernen. Vor einigen Jahren schrieb ich zehnte. Ihre oft surrealen Songs kombinieren Elemente aus Folk,
meine Musik machen und veröffentlichen kann, wie ich Lust einen Song namens The Sensual World, in dem ich wunderschöne Pop, Klassik und Art-Rock. Sie gilt als öffentlichkeitsscheu: Auf
habe. Vor meinem letzten Album, Aerial, hatte ich zwölf Jahre Worte aus Ulysses von James Joyce mit einer Melodie versah. Aber Tournee war sie nur einmal, 1979, Interviews gibt sie selten. Kate
lang keine neue Platte rausgebracht. Das ist im Musikgeschäft eine als ich Joyce’ Erben um Erlaubnis bat, den Text benutzen zu dür- Bushs neues Album, »Director’s Cut«, erscheint in diesen Tagen

27 Aufgezeichnet von Christoph Dallach Foto John Carder-Bush Zu hören unter www.zeit.de / audio
PAOLO PELLEGRINS EXPEDITIONEN

Der Hurrikan Katrina traf den Südosten Louisianas am 23. Au- aus der Stadt hatte ich mich geistig eingestellt auf kriegsähnliche Sze-
gust 2005. Wenige Tage später fuhr ich nach New Orleans, dort hatte nen von Gesetzlosigkeit und Chaos. Was ich stattdessen vorfand, war
es die schlimmste Zerstörung gegeben und die meisten Toten, weil das ein äußerst seltsamer Anblick: eine der großen Städte Nordamerikas
Deichsystem katastrophal versagt hatte. Aufgrund der Nachrichten ohne ihre Einwohner, menschenleer. Schließlich mietete ich einen
Die Gewalt der Natur in New Orleans

Hubschrauber und machte Fotos von oben, darunter auch dieses Bild. Paolo Pellegrin, 47, in Rom geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter
Man kann die unglaubliche Gewalt der Natur, die sich hier zeigt, bei- Magnum-Fotograf. Er erzählt jede Woche von dem Bild, das er
nahe spüren: schwere, große Container, vom Hurrikan umher- sich von Mensch und Natur macht. Die Fotos sind in Deutschland
geschleudert, als wären sie Legosteine. zeitmagazin zum ersten Mal zu sehen
nr . 
1.
Wie so oft, wenn es sich ungestört
wähnte, bewunderte das Kamel
die Schönheit der Pyramiden von Giseh ...

2.
... als plötzlich ein Gourmetkritiker aus
Deutschland vor ihm stand

Kulinarische Wüste
Wolfram Siebeck reist durch Ägypten
und kostet aus der Küche der Revolution

Fotos Ich bin hier, weil mich die Kochtöpfe der Insgesamt wirkt die ägyptische Küche auf
BARBARA SIEBECK Pharaonen mehr interessieren als die von ih- Esser, die mit der italienischen oder französi-
nen hinterlassenen Bauwerke. Niemand weiß schen Küche sozialisiert wurden, nicht sehr
Wenn ich morgens wach werde, und es ist genau, was die Steinträger gegessen haben. elegant. Wie an der ganzen nordafrikanischen
stockdunkel, dann weiß ich: Ich liege im Ho- Die intelligent angelegten Bewässerungskanä- Mittelmeerküste besteht sie überwiegend aus
tel. Zu den Aufgaben der Zimmermädchen le lassen darauf schließen, dass es vor allem Reis, Hirse, Linsen, Kichererbsen und Mak-
gehört es, die Fenstervorhänge abends dicht Zwiebeln und anderes Gemüse waren. Die karoni. Alles wird in großen Töpfen durch-
zu schließen. Als ich sie schlaftrunken wieder fetten Lämmer waren, wie in allen Diktatu- einandergekocht. Das gilt auch für die Kräu-
öffne, sehe ich Pyramiden. ren, den Herrschenden vorbehalten. ter und Gewürze, sodass auf den Tellern ein
Kein Wunder, denn das Hotel Mena Als Allzweckwaffe gegen den Hunger Chaos herrscht, das sich mit dem ampellosen
House Oberoi, befindet sich in Kairo. Es ist diente damals wie heute der oder das Ful, Straßenverkehr in Kairo vergleichen lässt.
angeblich das einzige Hotel auf der ganzen eine Bohnenpampe der Arme-Leute-Küche. (Wo tief verschleierte Frauen mit ihren Babys
Welt, von dem aus der Gast im Nachthemd Manchmal wird sie zaghaft verfeinert mit auf dem Arm den Kotflügeln der Autos so
die Pyramiden von Giseh betrachten kann: Kräutern, harten Eiern und Zitrone, ohne da- kaltblütig entgegengehen wie Toreros in der
ehrfürchtig und erschüttert wie Napoleon durch Gourmetstatus zu erreichen. In den Arena den Stieren.) Wer den avantgardisti-
am Grab Friedrichs des Großen. Churchill Straßen Kairos sah ich Männer in großen schen Minimalismus unserer Kunstköche ver-
und seinesgleichen haben sich diesem Wind Kupferkesseln rühren, wodurch sie zu verhin- abscheut, wird hier glücklich werden.
der Geschichte ausgesetzt, davon zeugen die dern hoffen, dass der Inhalt klumpt oder In der besseren Gastronomie wiederholt
nach ihnen benannten Suiten des Hotels. Es stockt oder ranzig wird. Das ist die Bratwurst- sich das Prinzip des Durcheinanders, wobei
muss ein Wüstenwind gewesen sein; denn Version des Ful. In der Erinnerung geblieben die Fleischportionen größer werden und,
die Wüste beginnt in 500 Meter Entfernung ist mir auch ein Dessert, Om Aly, ein gestock- manchmal, sorgfältiger gebraten sind. Aus
bei den Pyramiden. tes und überbackenes Müsli mit viel Nüssen. dekorativen Gründen werden die einzelnen

30
3.
Wieso ich?, dachte das Kamel
und galoppierte los

Zutaten gern in extra Schüsselchen und Tel- touristen. Ich habe selten so viele Menschen Für den Freitag plante ich einen Ausflug zu
lerchen serviert, deren Inhalt aber alsbald gesehen, die nichts unversucht lassen, durch den Pyramiden, die ich vom Hotel aus sehen
wieder vermischt wird. Wie überall in Nord- ihren ordinären Freizeitlook sowohl die Wür- kann. Dafür wählte ich die bequemste, wenn
afrika und im Orient sind die Vorspeisen am de des Palasthotels zu ruinieren als auch den auch teuerste Möglichkeit. Ich engagierte den
interessantesten, die Cremes, die Pasten und Ruf der Nation, der sie angehören. Muss der Fahrer Omar mit seinem Škoda für den gan-
das Mus. Auch Salate können angenehm moderne Mensch mit nackten Beinen und zen Tag. Er fuhr uns zur Rückseite des Welt-
überraschen, weil man schmeckt, dass hier die Badelatschen zum Abendessen gehen? wunders. Dort beginnt unmittelbar die Wüs-
Bestandteile nicht außerhalb des Hauses in- Das Mena House Oberoi hätte elegan- te, und die ist schön. Weil weit und breit
dustriell vorbereitet wurden. tere Gäste verdient, wie sie vor dem Mas- keine Panzer zu sehen sind und sich kaum je-
Oft ist das süße Backwerk hervor- sentourismus in diesem prachtvollen Haus mand an Rommel erinnert. Hier ist der Be-
ragend, es besteht aus Blätterteig und Honig. logierten. Das Dekor scheint eine Gemein- griff majestätisch angebracht. Die erhabenen
Verstörend ist allerdings die Entdeckung, schaftsarbeit von Krupps Hausarchitekten Königsgräber, die goldenen Farben des Sandes
dass der Minztee, das ägyptische National- (Villa Hügel), Ludwig II. und einem osma- und die Unendlichkeit der Wüste bringen
getränk, mehr und mehr aus Beuteln auf- nischen Spitzenklöppler zu sein. auch einen Hedonisten auf andere Gedanken
gegossen wird. Die Hauptgerichte, fast aus- Es gab sogar einen ägyptischen Char- als den an sein nächstes Abendessen.
schließlich gegrilltes Lamm und Lammklöße, donnay, benannt nach dem Gelehrten Omar Ein sanftes Plateau war bevölkert mit
sehen aus wie der Ötzi und enthüllen das Khay-yam, der ein großer Zecher war und riesigen Kamelen und ihren Dompteuren.
Geheimnis der Pyramiden: Es müssen Tief- von dem ich sogar eine Zeile auf Deutsch Die Tiere standen oder lagen in der Sonne,
kühltruhen gewesen sein. zitieren kann, was aber bei den Kellnern kei- ihr Rücken war mit orientalischen Teppichen
Diese fast 5000 Jahre alten Steinhaufen nen Eindruck machte. Der Mangel an poly- dekoriert, während ihre Treiber genau so aus-
locken heutzutage nicht nur historisch inte- glottem Personal stellt in Kairo jeden Be- sahen, wie ich mir seit meinen Karl-May-Stu-
ressiertes Publikum an, sondern auch Billig- sucher vor Probleme. dien den echten Orientalen vorstellte. Ein

31
Ägyptische Vorspeisen schmecken noch
besser, wenn man eine Limo dazu trinkt

buntes Tuch um den Kopf geschlungen und dreckigen Rinnsals bedeckte, und lud uns
ein bodenlanges Hemd aus grauer Baum- an einem Ausflugslokal ab. Man kann das
wolle am Leib, das wahrscheinlich den Restaurant Sakkara einen behelfsmäßigen
Krummdolch verbirgt. Da kam der Geist Biergarten nennen, nur dass dort kein Bier
des Lawrence of Arabia über mich. Ich setz- getrunken wird und es auch kein Restaurant
te mich auf eines dieser liegenden Biester, ist. Sondern ein aus Sperrmüll errichteter
worauf es in seinem Inneren gurgelte und Unterstand für die Freunde des schwarz ver-
grollte wie die Wasserleitung in einem alten grillten Fleisches und frisch gebackener
Grandhotel. Ich wusste, das Kamel wollte Brotfladen. Letztere gehören zur orienta-
nicht von mir geritten und ich nicht von lischen Folklore und sind genauso über-
ihm durch die Wüste geschaukelt werden. schätzt wie unsere Pellkartoffeln. Außer uns
Aber es war zu spät. Meine Füße wur- waren nur wenige Gäste da, die sich plötz-
den in zwei Steigbügel eingepasst, und dann lich, zusammen mit den Kellnern, vor dem
schoss das Hinterteil des Wüstenschiffs in Fernsehapparat versammelten. Die Politik
die Luft und ich nach vorne. Um ein Haar hatte uns eingeholt. Eine Reportage vom
wäre ich über seinen Kopf hinausgeflogen. Tahrir-Platz servierte zum Dessert geballte
Doch am Teppichrand war ein kurzer Fäuste von Menschen, die kurz vorher noch
Knauf angebracht, an den ich mich mit al- gebetet hatten.
ler Kraft klammerte, denn nun ging es auch Am nächsten Tag fuhren wir im End-
vorne in die Höhe wie beim Rodeo in Wyo- losstau zum Tahrir-Platz. Ich umging vor-
ming. Siebeck, bleib auf dem Teppich!, sichtig vergessene Stacheldrahtrollen und
sagte ich mir noch, da setzte sich das riesige registrierte skeptisch die heruntergelasse-
Tier in Bewegung. Wie ein altes Auto, das nen Rollläden der Geschäfte und Cafés.
hinten einen Platten hat. Ich versuchte Diese staubbedeckten, gewellten Bleche
mich zu erinnern, wie das mit dem Pass- sind zu Symbolen der Unruhe in den nord-
gang war. Doch die Panik, die mich ergriff, afrikanischen Ländern geworden und ver-
ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. heißen nichts Gutes.
Ich wollte nur noch diesen wahnwitzigen Wir retteten uns in den Garten des
Galopp beenden und wieder sicheren Bo- Marriott-Hotels, eines der riesigen, drei-
den unter den Füßen haben. Endlich half viertelleeren Hochhaushotels in der Innen-
man mir wieder zurück nach Giseh, Ägyp- stadt, wo behäbige Herren in glänzenden
ten. Omar erzählte etwas von einem Hun- schwarzen Anzügen das Ende des Volksauf-
dertjährigen, der noch Kamelrennen mit- stands abwarteten und Obstsäfte tranken.
mache, ich aber war vorerst gerettet und saß Wir aßen ein kleines Mittagsmenü und
in Omars Beulenblech mit allen Anzeichen lernten: Wird ein Fisch als Tellergericht ser-
einer Posttraumatischen Belastungsstörung viert, dann ist er unter einer dicken, mehr
(Zittern, Schwitzen, Atemnot). oder weniger scharfen Sauce zur Unkennt-
In diesem Zustand betrachtete ich die lichkeit verurteilt, während die Lammklöße
unbeschreibliche Verwahrlosung dieser Stadt, trocken oder sehr trocken sein können, aber
welche eine einzige Bauruine ist. Unfertige sich sonst nicht voneinander unterscheiden.
Häuser für mehr als eine Million Menschen Es sei denn, der Küchenchef zeigt die krea-
illustrieren entweder die Korruption der tive Pranke. Dann sind sie besonders scharf.
Behörden, eine geplatzte Immobilienblase Um den Tourismus in der Stadt steht
oder die Wirkung des Aufstands gegen Mu- es nicht gut. 25 Prozent Mindereinnahmen
barak. Das Volk demonstrierte wieder mit und mehr befürchtet die Gastronomie für
zunehmender Wut. An einem Freitag sei es 2011. Dabei sollte Kairo auch als Luftkur-
nicht ratsam, in die Innenstadt zu fahren, ort nicht unterschätzt werden. Der seidige
signalisierte Omar. Freitags werde nämlich Wüstenwind ist einmalig und trägt zur Po-
zusätzlich gebetet. Deshalb fuhr er uns den pularität dieses Ferienziels bei denen bei,
Kanal in Giseh entlang, bis wir genug vom die nach ihrem ersten Kamelritt nicht sofort
Anblick des Mülls hatten, der die Ufer des wieder abreisen. zeitmagazin
nr . 
Passt doch!
Wie tragen Frauen Schmuck und Uhren? So, wie es ihnen gerade
einfällt. Männeruhren und Diamantschmuck, große Ziffernblätter und
zarter Schmuck, Weißgold, Gelbgold, Titan: Alles darf gemischt
werden. Joana Preiss macht es vor. Sie ist Pariserin, Italienerin,
Theater- und Filmschauspielerin, Balletttänzerin, Model, ausgebildete
Sängerin. Sie kennt sich also mit ungewohnten Kombinationen aus

Fotos
MARCUS GAAB
Uhrenauswahl
GISBERT L. BRUNNER
Produktion
ELISABETH RAETHER

34
Schüchtern vs. extravagant: Die brillantenbesetzte »Oyster Perpetual Lady-Datejust« von Rolex (12 670 Euro), ein Klunkerohrring von Erickson
Beamon, ein Armreif mit springenden Pferden von Jordan Askill und ein Ring von Arielle de Pinto werden kombiniert mit zartem Schmuck,
einem dünnen Reif und einem geflochtenen Armband der Münchner Designerin Saskia Diez und einem Ring von Plietsh. Pullover von Pringle
Realismus vs. Surrealismus: Die Herrenuhr von Glashütte Original, Modell »Seventies Panoramadatum« (8950 Euro), ist verlässlich,
die imaginäre Uhr von Ina Seifart nicht so. Silberring von Lynn Ban, Ring am Zeigefinger von Sarah Herriot, Baumwollarmband von Saskia Diez,
Kette von Jordan Askill, Amulettkette von Christian Lacroix (gesehen bei www.couturelab.com), Seidenpyjama von La Perla Studio
Schlank vs. dick: Die extraflache »Elite Ultrathin« von Zenith mit grauem Ziffernblatt (3100 Euro) ist von zurückgenommener Eleganz,
das Schnallenarmband von Maison Martin Margiela extrabreit. Goldener Armreif von Ina Seifart

Ernst vs. Spaß: Die minimalistische »Linea« von Baume & Mercier (1880 Euro) passt zu den verspielten Armreifen von Prada
und einer schwer romantischen schwarzen Kameenkette von Bottega Veneta. Vierfingerring von Imogen Belfield, einfacher gelbgoldener
Ring von Wempe, Ring am Zeigefinger von Philippe Tournaire
Viel vs. viel: Zur »Steel Snow Leopard« von Hublot (19 300 Euro) werden eine Armspange von Delfina Delettrez, ein Armreif von Louis Vuitton und
viele Ringe getragen. Goldener Pferdering und Ring mit Kristallstein von Jordan Askill, Schildkrötenring von Boucheron, Ring aus weißem Marmor von
Delfina Delettrez, Schleifenring von Azature, Rubinring von Karl Fritsch, Wirbelsäulenring von Disaya Sorakraikitikul. Kleid von Louis Vuitton
Techno vs. Ethno: Die knallharte »J12 Chromatic« aus Titankeramik von Chanel (4680 Euro) wird zur romantischen,
byzantinisch anmutenden Armspange getragen (Chanel). Goldener Entrelacésring von Cartier, Froschring von Bibi van der Velden,
goldener Ring am Mittelfinger von Imogen Belfield, roter Ring von Delfina Delettrez. Kleid von Chanel
Mann vs. Frau: Uhr und Pyjama für den Herrn (»Altiplano« von Piaget, 16 800 Euro, Pyjama von Laurence Tavernier). Alles andere ist weiblich:
Schleifenring von Azature, Rubinring von Karl Fritsch, Kameenarmband von Bottega Veneta, Armreif »Love« von Cartier, Armbänder von Carolina Bucci

Bauhaus vs. Girlie: Die »Tetra Norma« von Nomos Glashütte (1520 Euro) hält sich zurück, die silbernen Armreifen von Niessing auch. Gute Laune hat
der Armreif von Delfina Delettrez, der einen mit wachen Augen ansieht. Goldener Ring von Karl Fritsch, Seidenunterhemd von Stella McCartney
Pur vs. Pomp: Die »Arceau Temps Suspendu« von Hermès (13 000 Euro) ist ohne Schnörkel, der Ring von Boucheron mit: Eine rosafarbene
Schildkröte sitzt darauf. Armreif von Bulgari, Zweifingerring von Maison Martin Margiela, Kette von Tasaki, Hose von Chloé
Post Production Franziska Strohm / Agentur-e
Make up / Maniküre Manuela Kopp / Agentur Nina Klein
Haare Tan Vuong / Basics
Styling Agata Maria Belcen
Model Joana Preiss / VIVA-Paris

Ballsaal vs. Stadion: Die sportliche TAG Heuer »Monza Calibre 36« (4995 Euro) wird zum Prinzessinnenschmuck von Fabergé getragen,
einem Armband und einer Brosche. Palladiumring von Karl Fritsch, Gliederring von Tasaki by Thakoon, goldener Ring von Alexandra Jefford,
Silberring von Sarah Herriot, Ring aus weißem Marmor von Delfina Delettrez, Kette von Jordan Askill, Mantel von Céline
Vernunft vs Liebe: Die sachliche »Nautilus Ref. 5711/1A« von Patek Philippe (18 140 Euro) wird zum Armring »Love« von
Cartier getragen, den romantischerweise nur ein kleiner Schraubenzieher öffnen kann. Kette von Jordan Askill, Brosche von Fabergé,
Ring von Philippe Tournaire, Armreif von Imogen Belfield, Hose mit hoher Taille von Louis Vuitton
Der Stil

Wer in diesem Sommer übersehen wird, hat einen Trend übersehen. Bluse von Jil Sander, 590 Euro

44 Foto Peter Langer


Auffallender
Trend
Tillmann Prüfer über Neonfarben
Es wird der Sommer der großen Zusammen-
stöße. Alles, was man über die gefällige Kom-
binierbarkeit von Farben gelernt hat, soll man
nun vergessen, alles, was nicht passt, wird zu-
sammengebracht – verboten ist eigentlich nur
die Zurückhaltung. Das »color blocking« funk-
tioniert eben nicht mit Details, sondern nur im
großflächigen Farbauftrag. Man kombiniert
Sonnengelb mit Lila und Apfelgrün, Pink mit
Türkis oder Stahlblau.
Schon in den vergangenen Jahren waren einzelne
starke Farben immer wieder in den Vordergrund
getreten, mal war es Magenta, mal ein toxisches
Orange, mal Limettengrün. Nun kommen alle geschaltet hat. Ohne Rückfahrkamera sind
diese Farben zusammen zurück. Raf Simons
Sokrates’ Stoßstange Autos dieser Größe in Großstädten praktisch
kombiniert für Jil Sander ein pinkfarbenes T-Shirt Margit Stoffels fährt manövrierunfähig. Na ja, ist ja nix zu sehen,
mit zitronengelber Hose, Marc Jacobs empfiehlt den Mercedes-Benz ML 350 sagt der Mann. Wir tauschen »für alle Fälle«
eine fuchsiafarbene Jacke zu einem roten Top Telefonnummern. Eine Woche später ruft
und pinkfarbener Hose. Die Farben sollen nicht Sokrates hat es schon gesagt: »Der größte der Mann an, der Rahmen seines Wagens sei
nur leuchten, sie sollen donnern. Und weil die Konstruktionsfehler bei allen Autos ist die verzogen, sagt er. Die Versicherung zahlt,
schrillsten Farben die Neontöne sind, haben sie Stoßstange.« Es handelt sich um jenen Sokra- und er tut vermutlich, was schätzungsweise
nun ihren ganz großen Auftritt. tes, den der italienische Schriftsteller Luciano drei Viertel aller Besitzer älterer Kleinwagen
Dabei hatte es so ausgesehen, als hätten sie sich De Crescenzo in seinem Buch oi dialogoi – in so einem Fall tun: Kassieren und nicht
in den vergangenen Jahren endgültig diskredi- Von der Kunst miteinander zu reden durch reparieren lassen.
tiert: Neongrün waren die Schnürsenkel der unsere Gegenwart wandeln lässt. Sokrates Hier möchte ich Sokrates widersprechen,
Nike-Sneakers in den achtziger Jahren, neon- und seine Schüler erörtern im hohen Ton der also jenem von Luciano De Crescenzo, der
gelb die Smilies der Acid-House-Kultur, neon- antiken Philosophie die Erscheinungen der behauptet, Autos trügen nicht zu sozialem
pink die Tanktops auf der Loveparade der Gegenwart. Die Stoßstange, befindet der Verhalten und zur Steigerung der Lebens-
neunziger Jahre. Nun sind sie zurück. Genauso Philosoph, sei »keine defensive Einrichtung, qualität bei. Es ist ja so: Stoßstangen-Unfälle
knallig und doch anders. sondern eine Angriffswaffe«, mit der die Au- sichern Arbeitsplätze (sie steigern die Be-
Neonfarben werden jetzt raffiniert kombiniert. tos sich gegenseitig beschädigten. Die Folge: schäftigungsrate in der Autoindustrie, im
Etwa mit breiten Blockstreifen oder mit Grau- »Alle, die hinterm Steuer sitzen, sehen in den Kfz-Handwerk, in der Gutachterbranche
und Hauttönen oder schlichtem Schwarz. Sie anderen Fahrern Feinde.« Daher fordert er und im Versicherungswesen), und sie sorgen
leuchten nicht mehr für sich allein, sondern im einheitliche Stoßstangen, auf gleicher Höhe, für Umverteilung. Dem Geschädigten brin-
Kontrast. Wie man solche Kombinationen hin- aus 20 Zentimeter dickem Gummi. Im Üb- gen sie erhebliche Daseinsfreude. Es genügt
bekommt? Wichtig ist: entweder ganz oder gar rigen ziehe er es vor, zu Fuß zu gehen. ein Kratzer, um davon in Urlaub zu fahren.
nicht. Bei diesen Farben gibt es keine Kompro- Am Steuer des Mercedes ML denke ich: Wie Was hätte Sokrates über Autos gesagt, die
misse. Es verliert nicht, wer farblich zu viel recht hattest du, Sokrates! Es ist ein Früh- man ohne Kamera nicht einparken kann?
wagt, sondern wer zu vage bleibt. Man sollte die lingsabend im Belgischen Viertel in Köln.
Knallfarben nicht allein stehen lassen und kei- Seit einer halben Stunde fahre ich mit dem Margit Stoffels ist
nesfalls mit etwas tragen, das ihnen nichts ent- Zweitonner um den Block. Der Diesel säu- Mitarbeiterin beim ZEITmagazin
gegenzusetzen hat, etwa feinen Mustern oder selt, die Ledersitze sind bequem. Alles, wie
schmalen Streifen. Der Vorteil dieses Looks ist, man es kennt. Aber langsam werde ich hung- Technische Daten
dass man nichts falsch machen kann, wenn man rig. Die Freunde im Restaurant haben mir Motorbauart: 6-Zylinder-Dieselmotor
nur forsch genug Farbe bekennt. Der Nachteil schon ein Getränk bestellt. Endlich! Ein Leistung: 155 kW (211 PS)
ist, dass der Träger oder die Trägerin selbst nur Parkplatz! Rückwärtsgang rein. Bums! Hin- Beschleunigung (0–100 km/h): 8,7 s
gegen das eigene Outfit verlieren kann. Ein ter mir steigt ein Mann aus einem älteren Höchstgeschwindigkeit: 210 km/h
Pink-Kanariengelb-Kontrast überstrahlt einfach japanischen Kleinwagen. Den hatte ich in CO2-Emission: 231 g/km
jedes Gesicht. Allerdings kann auch dies wieder der Rückfahrkamera nicht gesehen, denn Durchschnittsverbrauch: 8,7 Liter
ein Vorteil sein. die braucht einen Moment, bis sie sich ein- Basispreis: 58 667 Euro

Foto Daimler AG / Gestaltung Thorsten Klapsch 45


Wochenmarkt Jetzt WALDMEISTER pflücken gehen

Kann mehr als in Berliner Weißer ertrinken: Waldmeister, zart heuartig im Geschmack

Von Crème brûlée mit eineinhalb Stunden, stocken lassen. Den


ELISABETH RAETHER Waldmeister Backofen nicht zu heiß einstellen, lieber die
1 Bund Waldmeister (20 g) Crème länger im Ofen lassen! Abkühlen las-
Entgegen allgemeiner Annahme ist Wald- 100 ml Apfelsaft sen, mit braunem Zucker bestreuen und unter
meister nicht wie die Piemont-Kirsche eine 6 Eigelb dem Grill oder mit einem kleinen Bunsen-
geniale Erfindung des Süßwarenmarketings. 300 ml Sahne brenner karamellisieren.
Es gibt ihn wirklich. Man kann ihn jetzt, be- 100 ml Milch Statt Maibowle, der teuflischen Kreation eines
vor er blüht, im Wald an schattigen Plätzen 40 g Puderzucker Benediktinermönchs im 9. Jahrhundert, gibt
pflücken. Die Pflanze riecht nicht wie Götter- 4 EL braunen Zucker es bei Hiener einen Waldmeister-Spritzer.
speise und färbt nicht alles knallgrün. Sie ist
geruchslos. Erst wenn sie welkt, entwickelt sie Waldmeisterbündel an einem schattigen Ort Waldmeister-Spritzer
ihr Aroma (eine schöne Metapher). Die Blät- welken lassen, anschließend eine Weile ins 1 Bund Waldmeister
ter schmecken nach Cumarin, »heuartig« sagt Gefrierfach legen, um das Cumarinaroma zu 200 ml guten Weißwein
die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, de- verstärken. Apfelsaft auf etwa 40 Grad er- 1 Flasche Crémant
ren poetische Begabung unterschätzt wird. wärmen, den Waldmeister einlegen und 2 bis
Ralf Hiener ist Koch und pflanzt mit seinem 3 Stunden ziehen lassen. Waldmeister entfer- Dazu den Waldmeister wie für die Crème
Kompagnon, einem Gärtner, in einem 2,5 nen und den Auszug auf ein Drittel der ur- brûlée welken lassen und frosten. Dann in ei-
Hektar großen Garten in Mecklenburg-Vor- sprünglichen Flüssigkeitsmenge einkochen. nem Glas mit dem Weißwein über Nacht im
pommern Wildkräuter an, »Essbare Land- Eigelb, Sahne, Milch, Puderzucker sowie Ap- Kühlschrank ziehen lassen. Kurz vor dem Ser-
schaften«. Er beliefert Köche in ganz Deutsch- felsaft verquirlen und durch ein feines Sieb vieren die Waldmeisterstängel entfernen, den
land mit Zimtbasilikum und Bronzefenchel. abseihen. In vier feuerfeste Förmchen füllen Auszug auf acht Sektgläser verteilen und mit
Waldmeister pflückt er nebenan im Wald, um und auf einem mit heißem Wasser gefüllten Crémant auffüllen. Wer will, kann noch Erd-
damit eine Crème brûlée und einen Aperitif Backblech im auf 100 bis 120 Grad vor- beerstückchen in die Gläser geben und ein
zu aromatisieren. geheizten Ofen etwa eine Stunde, eventuell paar Blättchen Waldmeister.

46 Fotos Marcus Gaab


Die großen Fragen der Liebe
Nr.
140
Darf er von neuen Eroberungen träumen?
Siegfried und Hanna gelten in ihrem Freundeskreis als Muster- Wolfgang Schmidbauer antwortet: Zuweilen erleben Männer den
beispiel der »jungen Alten«, denn obwohl Siegfried 71 und Verlust ihrer phallischen Potenz, Frauen zu erobern, mindestens
Hanna 65 ist, treten sie immer noch auf wie ein Liebespaar so hart wie Frauen der Verlust ihrer generativen Potenz, Kinder zu
und sagen, sie seien froh, eine Fernbeziehung zu leben, denn bekommen. Dabei hätten Männer länger Zeit, sich auf diesen
Zusammenwohnen sei schlecht für die Liebe. Doch seit einiger Lauf der Dinge vorzubereiten. Siegfried will seine Verlustängste
Zeit ist ein Schatten auf die Verbindung gefallen. Zuerst wirkte »wegbeweisen«. Er sollte in sich gehen und versuchen, Hanna
Siegfried auf Hanna sehr bedrückt; er hatte großen Ärger mit nicht als Feindin, sondern als Freundin an seinen Befürchtungen
seiner Altersvorsorge. Dann schien es ihm wieder besser zu über das Schwinden seines Eroberungselans teilhaben zu lassen.
gehen – und plötzlich quält er Hanna mit Fantasien, noch einmal Hanna umgekehrt sollte erkennen, dass Siegfried sie eigentlich
eine vollbusige Frau zu erobern. Als sie ihm sagt, dass sie nicht kränken, sondern in seinen Fantasien eine drohende Depression
nicht weiß, ob sie ihn dann noch lieben kann, wird er wütend: bekämpfen möchte. Durch seine Verleugnungen schadet er sich
Sie wolle ihn doch nur an die Kette legen, wie alle Frauen! selbst ebenso wie ihr.

Wolfgang Schmidbauer
ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Sein neues Buch »Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes
und dem Verlust der Gefühle« ist im Murmann Verlag erschienen

49
Spiele

Logelei

A B C D E

F G

H I J

K L

M N

In der Nähe des Römerlagers bei Xanten wurde kürzlich eine


Tontafel ausgegraben. Nach einigen Untersuchungen gelangte
man zu dem Schluss, dass es sich wohl um ein Kreuzzahlrätsel
mit römischen Zahlen handeln muss.
Waagerecht: A Palindrom D Vielfaches von E-senkrecht F Viel-
faches von J-senkrecht G Palindrom H D-waagerecht plus G-
waagerecht K C-senkrecht minus H-waagerecht M Primzahl N
Quadratzahl – Senkrecht: A Vielfaches von J-senkrecht B Qua-
drat einer dreistelligen Zahl C Vielfaches des Rückwerts von L-
senkrecht D Vielfaches von M-waagerecht E F-waagerecht ist ein
Vielfaches I Primzahl J Quadratzahl K Primzahl L Primzahl
Hinweis: Es sind nur gültige römische Zahlen mit subtraktiver
Schreibweise und den Zahlzeichen M, D, C, L, X, V und I erlaubt.
Nicht erlaubt sind also beispielsweise XD (für 490) oder IIII (für 4)

Lösung aus Nr. 19


1. Tom ist 11, Karl 27 und der Vater 43. 2. 54605 x 2472 =
134983560 3. 78386 + 964178 = 1042564

Sudoku

4 6 7 8 9 2
5 1 6 2 7 3
2 6 9
1 9
8 2 4
4 3 9 5 6 7
7 2 4 6 1 5

Lösung 4 9 2 5 1 8 7 3 6 Füllen Sie die leeren


aus Nr. 19 3 7 5 2 4 6 1 8 9 Felder des Quadrates so
1 8 6 9 7 3 2 4 5 aus, dass in jeder Zeile,
6 3 1 4 8 5 9 7 2
2 4 7 3 6 9 5 1 8
in jeder Spalte und in
8 5 9 7 2 1 4 6 3 jedem mit stärkeren Li-
9 1 3 8 5 7 6 2 4 nien gekennzeichneten
7 2 8 6 9 4 3 5 1 3 x 3-Kasten alle Zah-
5 6 4 1 3 2 8 9 7 len von 1 bis 9 stehen.

50 Logelei und Sudoku Zweistein


1
2 0
1

Um die Ecke gedacht Nr. 2067

1 2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13

14 15 16 17 18

19 20 21

22 23 24

25 26 27 28

29 30 31 32 33

34 35 36 37

38 39 40

41 42

WAAGERECHT: 6 Aufs Navi zu hören ist ein …, sich das … zu er- 3 Leichter ist, die Stimme zu … als die Stimmung 4 Alpenseestadt,
sparen 10 Der ist hoch, doch was Freskenmaler … hinterlassen, ist leicht verlängert: gern vom 21 waagerecht verzehrt 5 Passt vor Stein
zumeist sehenswert 14 Mittlerweile häufiger gezogen als 34 waagerecht und Bein, Rad oder Seide 6 Ausnahmen sind nicht immer Bestätigun-
16 Das Anlegen wärmender Kleidung? Das Veranlassen einer Ein- gen der alten Regel, sie können auch die … einer neuen Regel sein
nahmebuchung zugunsten der Bank! 19 Sattelfeste Leute mit Hang (M. v. Ebner-Eschenbach) 7 Spaß auf benetzter Wiese – oder Spitz-
ins Grüne mögen sich sagen: Auf die … – fertig – los! 20 Ihr Kuchen name just geschlüpften Kükens? 8 Sandig nur dem alten Namen nach,
wird in der Pfanne gar 21 Wichtiges Wesen in der Gerbereizuliefer- meist eher grasig in der Mitte 9 Der Zweck von Prahlhansens
industrie 22 Der Ring macht …, und Ringe sind’s, die eine Kette Gedröhn: die Zahl der … zu erhöhn? 10 Wer in der wirklichen Welt
machen (Fr. Schiller) 23 Sprichwörtliches Motto: Was ich nicht … … kann und in der idealen leben, der hat das Höchste erreicht
kann, seh ich gelassen an 24 Fließt ziemlich strikt westwärts und in (L. Börne) 11 Ein »Ewiger«, wie man vor Klimawandels Zeiten meinte
Wetteiferers Träume ein 25 Klingt fast wie unters Pechschwarz zu 12 Sprichwörtlich: Der … trägt seinen Reichtum bei sich 13 Passt
mengen: macht sich beinahe weiß auf dem Teller 26 Rastplatz auf zum Ulk – nicht nur wenn Fräulein Hildegard (nichts) von ihres
dem Weg von Hang zu Glas 29 Fällt, noch recht gerstensaftig, ab für Verehrers Liebe erfährt 15 Eventuell entfällt Kritikasters Kommentar,
Bauers Vieh 31 Angedacht, wo der Drang ins Freie auf den Wunsch stellt sich was als … dar 17 Wer kein Alltagstrottel sein möchte, baut
nach Geselligkeit trifft 34 Mantel wie Mütze sind’s schon, wenn sie in das eine oder andere in sein Dasein ein 18 Steht stets im Verdacht,
den Secondhandshop … werden 35 Des Kalifen oberster Untertan Korn zu hamstern, Früchte zu mausen 23 Manche erregen Kartell-
37 Mitbringsel von Mamertus, Pankratius, Servatius 38 Auf die Länge wächters Neugier 26 Der Onkel, dessen geistiger Vater auch Drei
gleichen sich Sauerkirsche und Fleischklops 39 Von da aus wird ganz Schwestern den Bühnenweg ebnete 27 Dabei gehen wir mit der Schei-
Frankreich besenftigt 40 Ein Dutzend Lenze sind für ihn schon his- be zu Boden 28 Ein 10 senkrecht in der Hoffnung, 12 senkrecht zu
tory 41 Im Falle des 25 waagerecht: eben über der Scholle werden 30 Den wurmt’s, wenn er allzu lange nichts zu zapfen hat 32
42 Urlaubstipp zwischen Ibiza und Ischia Wie Redner nicht bei jeder Gelegenheit, Richter nicht in jedem Falle
SENKRECHT: 1 Mit intakten … kommt man weiter, und richtig spricht 33 Des Dänenprinzen Grübelthema, oder nicht? 35 Ein sanftes
nett wird das Reisen erst durch die 2 In größtem Kanton tonangebend … zieht mehr als zehn Pferde (Sprichwort) 36 Kultiviertuosität

Lösung von Nr. 2066


WAAGERECHT: 6 BUSBAHNHOF 11 KATION aus Ka-u-tion 14 HAFTUNG 16 EHRENRUNDEN 19 SIEGER 20 »abhängen« = sich entspannen und jmdn.
ABHAENGEN 21 STECKDOSE 23 BREIT 26 Brillen-STEG 27 »HAARE spalten« 29 UEBERHOLT, veraltet und renoviert 31 eilen und EILEEN
32 ANGREIFEN 35 GIRL = Mädchen (engl.) 36 KUH (»Hans im Glück«) 37 EAR = Ohr (engl.) 38 SELIG 39 KNETE und »knete!« 40 BETEN 41 »reif für
die INSEL« 42 KEN in My-ken-e 43 ERZIEHER 44 UNGENAU
SENKRECHT: 1 AUFSTEIGER 2 See-GANG 3 VORBEUGEN 4 AARE, Rheinzufluss und Adler 5 DINGI 6 BAUSTEINE 7 Stieg Litze und STIEGLITZE
8 BUECHEREI 9 NERO 10 FEHDE 11 KNABBERN 12 TUNER 13 ODE 15 GEDANKE 17 HASENHERZ 18 ENTLEGEN 22 KAELBER 24 REISSEN 25 TONIKUM
28 RAUTE in T-raute 30 HELLA von Helena, in Hella-s 33 RAIN 34 FEEN aus Fe-ri-en

Kreuzworträtsel Eckstein 51
Spiele

Schach Lebensgeschichte

Sein 80. Geburtstag ging in die Geschichtsbücher ein. Unzählige


8 Menschen, alte wie junge, schrieben ihm Briefe und Postkarten.
Ein landesweiter Schreibwaren-Shop hatte die Aktion initiiert und
7 in allen Filialen extra Briefkästen aufgestellt. Und auch aus einem
anderen Grund sollte der Ehrentag ihm unvergesslich bleiben: Er
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heiratete zum dritten Mal. Zugegeben, ein nicht ganz taufrischer
Bräutigam stand da an der Seite der 28 Jahre Jüngeren, doch sein
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Lächeln machte den Altersunterschied locker wett. So fit und strah-
4 lend wirkte er, dass alle sicher waren: Dieser späten Liebe würden
noch viele gemeinsame Jahre vergönnt sein.
3 In der Tat haben er und seine Frau längst seinen nächsten runden
Geburtstag feiern können, und wieder war es ein Mega-Event. Wie
2 schon häufig zog es ihn ins Dorf seiner Kindheit. Die ländlichen
Wurzeln hat er nie vergessen: »Hier leben viele Menschen in Armut,
1 und wer arm ist, lebt meistens nicht lang. Gerade deswegen fühle
ich mich so geehrt, dass so viele Menschen den Geburtstag eines
a b c d e f g h alten Pensionärs mitfeiern wollen ...« Tausenden Kindern spendier-
te er ein Stück Kuchen, fünfhundert Gäste versammelten sich zum
Neben einer unsäglichen Boulevardpresse kann sich England auch Lunch. Und wieder einmal staunte die Welt über ihn und darüber,
an Qualitätszeitungen mit täglicher (!) Schachspalte erfreuen. Na- was so alles in ein einziges Leben passt.
türlich werde ich nicht dem Klageseufzer – schließlich bin ich Deut- Viehhirte war er gewesen, begabter Schüler und Jura-Student, Bo-
scher und habe das Jammern von der Pike auf gelernt – widerstehen: xer und schließlich Anwalt, in einer Kanzlei mit dem besten Freund
»Und du, mein Deutschland, was ist mit dir?!« als Partner. Und dazu Kämpfer in eigener Sache, die dann zur Sache
Nun ja, vielleicht ist jenseits des Kanals ebenfalls nicht alles eitel aller wurde. Gleich mehrere Filme haben das erzählt, und seine
Wonne, denn auch dort verzichten etliche Großmeister, wie Michael Autobiografie war kurz nach Erscheinen vergriffen. Sogar den Hel-
Adams im Daily Telegraph berichtet, mehr nolens als volens auf das den einer Comicreihe gibt er ab, für junge Leute, die sonst nie lesen.
unsichere Brot des Schachprofis und suchen sich stattdessen einen Denn die Jungen liegen ihm seit jeher am Herzen, eines seiner Le-
Beruf, mit dem eine Familie »anständig« zu ernähren ist. Da kommt bensziele: Alle sollen die gleiche Chance auf Bildung haben.
mir in den Sinn, wie Viktor Kortschnoi, der große Mann des Sein nahezu biblisches Alter ist übrigens auch deshalb bemerkens-
Schachs, der schachlebendig wie eh und je gerade seinen 80. Ge- wert, weil die statistische Lebenserwartung seiner Landsleute bei 43
burtstag feierte, bedauerte, dass zwei seiner besten Schüler, der Fran- Jahren liegt. Wo so früh gestorben wird, herrschen Armut, Gewalt
zose Joel Lautier und der Niederländer Jeroen Piket, das Profischach und tödliche Krankheiten, auch einer seiner Söhne starb an einer
aufgaben: »Habe ich sie nicht genügend begeistert?« Infektion. Seitdem wird der verwaiste Vater nicht müde, auf das
Doch zurück nach England. Dort schlagen zur Freude von Adams ungelöste Problem und die Folgen hinzuweisen. Zwei von ihm ge-
einige auch den umgekehrten Weg ein, verlassen die schillernde, öde gründete Stiftungen unterstützen seit Jahren betroffene Kinder.
Bankenszene und nehmen wieder das Vagabundenleben eines »Glaubte ich an den Eingriff des Göttlichen ins Irdische, dann wäre
Schachprofis auf. Der 26-jährige Luke McShane auf Siebenmeilen- er dessen Personifizierung«, lobte ihn ein Literaturnobelpreisträger.
stiefeln schnurstracks zur Weltspitze, der etliche Jahre ältere Tony Vereinzelt halten kritische Stimmen dagegen, dass er einigen Des-
Kosten, überbordend an Ideen und Kombinationen, wohl vor allem poten gegenüber zu versöhnlich gewesen sei. Doch das kratzte nie
zur eigenen Befriedigung. Wie zwang er als Weißer zum Abschluss an seinem Image. Heute meldet er sich freilich kaum noch zu Wort.
einer langen Kombination den schwarzen König des Ungarn Ivan Rund 10 000 Tage seines Lebens opferte er sein Familienleben fürs
Farago ins weiße Lager und setzte ihn in vier Zügen matt? große Ziel, verbrachte die seltenen freien Stunden einsam über
Büchern oder in einem Gärtchen. Wer mag ihm da verübeln, dass
er jetzt nur noch seine Lieben um sich schart und die Welt außen
Lösung aus Nr. 19 vor bleibt – wer ist’s?

Lösung aus Nr. 19

»Backin« hieß das Treibmittel für den Teig der deutschen Hausfrau
und den Erfolg des Dr. August Oetker (1862 bis 1918). Im nieder-
sächsischen Obernkirchen als ältester Sohn eines Bäckermeisters
geboren, absolvierte er eine Lehre als Apotheker. Nach einem
Pharmaziestudium wurde er 1888 in Botanik promoviert. Anfang 1891
Im Vierdamenendspiel hatte die schwarze Dame f7 dem weißen König übernahm er die Aschoff’sche Apotheke in Bielefeld. Sein Backpulver,
Schach geboten. Musste Weiß sich jetzt in den Damentausch fügen wohl nach einer Rezeptur des in Baltimore im Pharmageschäft erfolg-
oder konnte er sogar mattsetzen? Nach dem Gegenschach 1.Df5+! reichen Großonkels Louis Dohme, kam bereits 1891 auf den Markt.
wurde Schwarz matt, weil die schwarze Dame f7 die schachbietende Dank genialer Werbung und erfolgreichen Marketings durch Rezept-
weiße Dame f5 wegen Fesselung durch die andere weiße Dame e8 nicht bücher und Backkurse wurden die kleinen gelben Tüten zu Ikonen der
schlagen durfte. Das Ende war: 1...Kh6 2.Dh8+ Dh7 3.Dh8xh7 matt modernen Haushaltsführung. Sein Sohn Rudolf fiel 1916 bei Verdun

52 Schach Helmut Pfleger Lebensgeschichte Frauke Döhring


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Scrabble Impressum

Chefredakteur Christoph Amend


Stellvertr. Redaktionsleiterin Tanja Stelzer
Art Director Katja Kollmann
Creative Director Mirko Borsche
Berater Matthias Kalle, Andreas Wellnitz (Bild)
Textchefin Christine Meffert
Redaktion Jörg Burger, Wolfgang Büscher, Daniel Erk
(Online), Heike Faller, Ilka Piepgras, Tillmann Prüfer
(Style Director), Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz
Fotoredaktion Michael Biedowicz (verantwortlich)
Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy
Mitarbeit Anna Berge (Gestaltung), Markus Ebner (Paris),
Elisabeth Raether, Annabel Wahba
Autoren Marian Blasberg, Carolin Emcke,
Herlinde Koelbl, Louis Lewitan, Harald Martenstein,
Paolo Pellegrin, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Juergen Teller,
Moritz von Uslar, Günter Wallraff, Roger Willemsen
Produktionsassistenz Margit Stoffels
Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich)
Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich)
Herstellung Wolfgang Wagener (verantwortlich),
Oliver Nagel, Frank Siemienski
Druck Prinovis Ahrensburg GmbH
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Beim alljährlich ausgespielten Hamburger Dreifacher Wortwert


»Fairmasters«-Scrabbleturnier brauchen 58
Teilnehmer im Grunde gar nicht anzutreten. Doppelter Wortwert
Zumindest nicht, wenn Sie am Ende die Nase
vorn haben wollen. Den Platz an der Sonne Dreifacher Buchstabenwert
machen die beiden »Grandes Dames« des Im nächsten Heft
deutschsprachigen Scrabbelns in schöner Re- Doppelter Buchstabenwert
gelmäßigkeit unter sich aus. In unserer neuen Reihe »Die trinkende Frau«
In diesem Jahr hieß die Siegerin erneut Blanca
schreibt Elisabeth Raether über den Alkohol-
Gröbli-Canonica. Die zweitplatzierte Ulrike
Brodkorb war im Finale chancenlos – nicht, genuss aus weiblicher Sicht. Das Wort
weil ihre Gegnerin so überragend aufspielte, »Stößchen« wird dabei niemals vorkommen
sondern weil ihr beim Ziehen der Buchstaben
fürwahr das Pech an den Fingern klebte. Die Für die Schriftstellerin Nadine Gordimer, 87,
entthronte Claudia Aumüller musste sich mit Lösung aus Nr. 19
dem sechsten Rang begnügen, Dritte wurde ist das Alter wie eine zweite Pubertät. Wie sie Halt
die amtierende deutsche Meisterin, Ulla Trap- Insgesamt 71 Punkte brachte ABGETAN auf findet, erzählt sie in »Das war meine Rettung«
pe aus Augsburg. 11A-11G
Das heutige Rätsel schickte uns Monika We- Auf www.zeitmagazin.de
Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die
ber aus Saarlouis mit Glückwunsch-Grüßen
zum 65. Geburtstag der ZEIT. Wir danken –
deutsche Rechtschreibung«, 25. Auflage, »Urban Gardening« – wie Städter sich die
verzeichnet sind, sowie deren Beugungs-
und geben die Frage weiter: formen. Die Scrabble-Regeln finden Sie im
Natur zurückholen:
Wie sind mehr als 200 Punkte zu erzielen? Internet unter www.scrabble.de www.zeit.de/urban-gardening

Scrabble Sebastian Herzog Illustration Sergio Membrillas 53


Herr Hunger-Bühler, gibt es Momente, in Das war meine Rettung das Boot vorne hochgeht. Es lag nicht richtig
denen sich das Leben ändert und eine neue schön im Wasser. Erst habe ich gedacht, es
Richtung einschlägt? sind vielleicht die leichten Wellen, denn das
Ja, die gibt es oft, und sie sind vielleicht gar
»Er hat das Kommando Boot reagiert wahnsinnig schnell auf alles.
nicht spektakulär, weshalb sie die Außenwelt
nicht immer wahrnimmt. Ein berühmtes Bei-
übernommen« Doch dann ist das Boot immer höher gegan-
gen, ich drehte mich um, da war es schon
spiel ist von Bob Dylan, bei einem Konzert unter Wasser, und Blasen stiegen auf. Es hatte
Der Schauspieler Robert Hunger-Bühler
1987 in Locarno. Da hatte er eine sogenannte ein Leck, und ich war 300 Meter vom Ufer
über einen Polier,
Stimm-Epiphanie. Er spürte, wie seine Stim- entfernt. Das Boot stieg immer höher, bis es
der ihn vorm Ertrinken bewahrte
me versagte, wohl nur eine Zehntelsekunde schon fast senkrecht im Wasser stand. Ich
lang, möglicherweise sogar nur in seinem habe es umarmen müssen und war mit den
Hirn. Nicht einmal die anderen Musiker ha- Füßen im Wasser. Es wurde innerhalb von
ben es gemerkt. Aber für ihn war das ein Er- zwei Minuten höchst dramatisch – und ich
weckungserlebnis. Danach hatte er plötzlich hatte immer gelernt: Du darfst das Boot nicht
seine neue Stimme gefunden. Es war eine Art aufgeben. Da sah ich am Ufer zwei Bauarbei-
Häutung. Solche Schübe habe ich auch im- ter. Ich habe um Hilfe gerufen, aber die haben
mer wieder erlebt. Das hat mit meiner Arbeit mir freudig gewinkt, die dachten, ich mache
auf der Bühne zu tun, die ich oft viel riskanter irgendeine Vorführung. Dann trat der Polier
finde als das wirkliche Leben, weil ich da viel oder der Bauführer hinzu. Der hatte die Si-
mehr an Grenzen stoße. tuation sofort durchschaut und das Kom-
Finden Sie das Bühnenleben attraktiver? mando übernommen. Er rief mir zu: »Bitte
Attraktiver würde ich nicht sagen. Aber es ist das Boot loslassen. Bitte schauen Sie mich an
da so viel Lebenssubstanz. Die Leerläufe fallen und schwimmen Sie langsam auf mich zu.«
weg, alles wird gebündelt zu einer höheren Der Bauführer hat Ihr Leben in die Hand
Wahrnehmung. Ich habe dann das Gefühl, genommen und für Sie Entscheidungen
ich sehe besser, ich höre besser. Die Sinne sind gefällt.
geschärft wie bei einer Bergtour. Es sind ja Ja, dieser Bauführer war mein Retter, eindeu-
auch oft Lebensbereiche, die man selber gar tig. Als ich es dann ans Ufer geschafft hatte,
nicht erkunden würde. brachte er mich in seinen Bauarbeiterwagen,
Was war denn im echten Leben eine Grenz- wo er mir Tee gab und ich Arbeiterklamotten
erfahrung? überzog. Nach einer kleinen Erholungspause
Eines meiner einschneidendsten Erlebnisse habe ich mich auf den Weg gemacht zur Bus-
hatte ich mit fünf Jahren. Da hatte ich einen station, und da merkte ich, dass ich nur
schrecklichen Traum. Ich bin durchs All ge- Socken anhatte. Als der Busfahrer mich sah,
flogen, als mir in Großbuchstaben wie aus Robert Hunger-Bühler, sagte er zu den anderen Passagieren: »Dieser
einem Setzkasten das Wort »IMMER« ent- Mann fährt gratis.« In der Nähe der Bus-
gegenschwebte. Ich bin daran schier verzwei- 58, ist ein Schweizer Regisseur station ist nämlich das Sanatorium Kilchberg,
felt. Ich konnte nicht begreifen, dass es kein und Schauspieler. Im Kino und der Fahrer hielt mich für einen Irren, den
Ende gibt. Da bin ich ins elterliche Bett ge- ist er derzeit in dem Film er natürlich kostenlos mitfahren ließ.
flüchtet, in diese Ritze zwischen Vater und »Unter dir die Stadt« zu sehen. Was für eine Erfahrung haben Sie aus die-
Mutter, und die haben mich beruhigt: »Mor- Außerdem wird er beim Berliner sem Erlebnis mitgenommen?
gen ist auch ein Tag.« Sie haben mich ins Theatertreffen mit dem Für mich als Schauspieler sind da zwei Sa-
Zeitliche zurückgeholt. Aber ich hatte Todes- Stück »Tod eines Handlungs- chen passiert: Dass man im tragischen Mo-
angst. Dieser Traum machte mich hilflos. reisenden« zu Gast sein. ment belacht wird wie von den zwei Bau-
Normalerweise hat ja Todesangst mit End- Vorstellungen vom 18. bis 20. Mai arbeitern, das erinnert an die Filme von
lichkeit zu tun. Buster Keaton. In der Verzweiflung umarme
Ja, das stimmt. Diese Endlichkeitserfahrung ich das Boot, und meine Zuschauer applau-
habe ich auch gemacht. Ich wohne jetzt seit Ijoma Mangold dieren fast, weil sie meine Todesgefahr für
sieben Jahren hier am Zürichsee und rudere ein Kunststück halten. Und der Busfahrer
sehr viel in einem sogenannten Skiff, einem gehört neben der Fotografin erklärt mich zu einem Irren. Es geht einfach
acht Meter langen Einer. Vor drei Jahren habe Herlinde Koelbl und dem so schnell, dass einen die anderen falsch oder
ich mich erstmals getraut, auch den Winter Psychologen Louis Lewitan zu völlig anders wahrnehmen. Es braucht eben
über zu rudern. Das ist riskant wegen der den Interviewern unserer nicht viel, um als homo sacer, als frei schwe-
Kälte des Wassers. Es war im Januar, ich war Gesprächsreihe. Mangold ist bendes Wesen außerhalb der sozialen Ord-
auf dem See, und plötzlich merkte ich, dass Redakteur im ZEIT-Feuilleton nung, behandelt zu werden.

54 Foto Tom Trambow

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