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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Krank  vor Liebe
Abbado bezaubert Berlin mit Mozart und Mahler

Echte Grazie flirtet nicht, denn das Kalkül ist ihr fremd. Sie wirkt durch
das, was sie ist, ohne sich über das Wie ihrer Wirkung Gedanken zu
machen. Gedankenlos kann Claudio Abbado gewiss nicht nennen, doch die
geistige Energie dieses Dirigenten richtet sich ganz darauf, die Musik von
den Verrenkungen des Sich-Anbietens zu befreien. 

Als er jetzt in Berlin bei den Philharmonikern den Einsatz gab zu Mozarts
Arie "Vorrei spiegarvi, oh Dio" KV 418, da nahm das Orchester sofort
einen völlig immateriellen Klang an. Das Oboensolo von Lucas Macias
Navarro floss in selbstvergessener Zartheit dahin, und auch die junge
Sopranistin Anna Prohaska, die sich ihrer Wirkung wohl bewusst ist, sang
wie unbeobachtet. Ihre biegsame, reine Stimme, die es in die Höhe zieht
und der es in der Tiefe noch an Gehalt fehlt, folgte den Tönen ganz krank
vor Liebe. Oboe und Sopran schlangen sich umeinander wie in stillem
Fieber, das sie willenlos machte und jede ihrer Äußerungen zwanghaft in
Sanftmut verwandelte. Weil das so schön war, wurde außerplanmäßig
noch Paminas traurige Arie "Ach, ich fühl', es ist verschwunden! Ewig hin
der Liebe Glück!" aus der "Zauberflöte" gegeben. So fand man mit Mozart
die Brücke zu den Symphonischen Stücken aus Alban Bergs Oper "Lulu",
wo Liebe und Glück niemals zusammengehören.
Vor neun Jahren hatte Abbado die Position des Chefdirigenten bei den
Berliner Philharmonikern abgegeben, doch seit 2004 kommt er wenigstens
einmal pro Jahr zurück, was das Publikum regelmäßig zu größten
Huldigungen hinreißt. Gegenwärtig ist er in Berlin, um Gustav Mahler zu
feiern. Heute, an dessen hundertstem Todestag, hat man sogar kurzfristig
ein Sonderkonzert mit dem "Lied von der Erde" angesetzt, das Abbado
dirigiert. Aber schon zuvor stellte der Dirigent an drei
aufeinanderfolgenden Tagen Mahler in den Kontext eines klassischen
Wiener Schönheitsideals. Er hatte dazu seinen Freund Maurizio Pollini
mitgebracht, der als Solist in Mozarts Klavierkonzert G-Dur KV 453
auftrat. Man müsste genauer sagen: als ein Solist von vielen. Denn in
diesem Konzert ist die Bedeutung der Holzbläser, besonders der Flöte, der
Oboe und des Fagotts, so erheblich, dass ihnen der Rang echter Partner
zuwächst. Mozart schiebt im Verlauf des ersten Satzes eine
Überleitungspassage aus hüpfenden Achteln zwischen Klavier und Bläsern
immer enger zusammen, bis die Berührungsinnigkeit eines
Opernensembles entsteht. Und Pollini nahm die Aufgabe an, als erster
unter den Solisten aller anderen Diener zu sein.
Ja, es war rührend, Pollini und Abbado gemeinsam zu erleben - diese zwei
asketisch wirkenden Herren, die gemeinsam alt geworden sind,
musikalisch und politisch manchen Kampf zusammen ausgefochten haben,
die sich aber nie als Entertainer oder pädagogische Lakaien ihres
Publikums verstanden und als Künstler auch hier wieder, bei Mozart, eine
Vornehmheit des Ausdrucks pflegten, die es ablehnte, sich selbst zu
kommentieren.
Was von sich aus wichtig ist, braucht kein Getue. So dirigierte Abbado
auch das Adagio aus Mahlers unvollendeter zehnter Symphonie. All diese
wahnhaft überdehnten Kurven in den Begleitstimmen sprechen schon
durch ihren linearen Verlauf für sich. Man muss sie nicht noch mit
Schluchzern überziehen, die ihren eigenen Weltschmerz genießen. Weil
Abbado Tränen und Schminke dieser Musik abwischte, konnte man die
Anspannung ihrer Sehnen und Nerven mit Ernst hören. JAN BRACHMANN
F.A.Z., 18.05.2011, Nr. 115 / Seite 29

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