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Schrift und Schriftlichkeit

Writing and Its Use


HSK 10.1
Handbücher zur
Sprach- und Kommunikations-
wissenschaft
Handbooks of Linguistics
and Communication Science

Manuels de linguistique et
des sciences de communication

Mitbegründet von
Gerold Ungeheuer

Herausgegeben von / Edited by / Edités par


Hugo Steger
Herbert Ernst Wiegand

Band 10.1

Walter de Gruyter · Berlin · New York


1994
Schrift und Schriftlichkeit
Writing and Its Use
Ein interdisziplinäres Handbuch
internationaler Forschung
An Interdisciplinary Handbook
of International Research

Zusammen mit/Together with


Jürgen Baurmann · Florian Coulmas · Konrad Ehlich ·
Peter Eisenberg · Heinz W. Giese · Helmut Glück ·
Klaus B. Günther · Ulrich Knoop · Bernd Pompino-
Marschall · Eckart Scheerer · Rüdiger Weingarten

Herausgegeben von/Edited by
Hartmut Günther · Otto Ludwig

1. Halbband / Volume 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York


1994
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die
US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft /


mitbegr. von Gerold Ungeheuer. Hrsg. von Hugo Steger;
Herbert Ernst Wiegand. — Berlin; New York: de Gruyter.
Früher hrsg. von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand. —
Literaturangaben. — Teilw. mit Parallelt.: Handbooks of linguistics
and communication science. — Teilw. mit Nebent.: HSK
NE: Ungeheuer, Gerold [Begr.]; Steger, Hugo [Hrsg.]; Handbooks of
linguistics and communication science; HSK
Bd. 10. Schrift und Schriftlichkeit.
Halbbd. 1 (1994)
Schrift und Schriftlichkeit : ein interdisziplinäres Handbuch
internationaler Forschung = Writing and Its Use / in
Verbindung mit Jürgen Baurmann ... hrsg. von Hartmut
Günther; Otto Ludwig. — Berlin; New York: de Gruyter.
(Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 10)
NE: Günther, Hartmut [Hrsg.]; Writing and Its Use
Halbbd. 1 (1994)
ISBN 3-11-011129-2

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin.


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engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das
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Printed in Germany
Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin
Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
V

Vorwort

1. Gegenstand
Wie selbstverständlich Schrift und Schriftlichkeit in unser tägliches Leben eingebunden
sind und welche Bedeutung man ihnen zu allen Zeiten zugemessen hat, das zeigt schon
ein Blick auf die vielen Redensarten, die dazu existieren. Scripta manent sagten die
Lateiner; was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen denkt
der Schüler im Faust. Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste
Buchstabe noch ein Tüttel vom G esetz (Matth. 5,18), und des Büchermachens ist kein
Ende (Pred. 12,12), aber der Buchstabe tötet, und der Geist macht lebendig (2. Kor. 3,6).
Mit dem Schlachtruf sola scriptura zog Martin Luther gegen die herrschende Kirche
seiner Zeit zu Felde; f reilich schaute er den Zeitgenossen aufs Maul, wollte gerade
vermeiden, daß er redet wie ein Buch. Mancher aber lügt wie gedruckt, obgleich er das,
was er sagte, nicht unterschreiben würde — darauf könne er Brief und Siegel geben. Das
Alpha und das Omega sind Inbegriff von Anfang und Ende — und es gibt noch erheblich
mehr stehende Wendungen dazu, von A bis Z .
Schrift und Schriftlichkeit — das ist ein weites Feld. Schrif t, das ist Handschrif t,
Druckschrif t, Keilschrif t. Schrif t, das ist Wortschrif t, Silbenschrif t, Alphabetschrif t.
Schrif t, das ist Unziale, Antiqua, Fraktur. Schrif t, das ist lateinische, arabische, chi-
nesische Schrift. Schrift, das ist Garamond, Times, Futura. Schrift, das allein ist schon
ein weites Feld — und doch stellt dieser Begrif f nur sozusagen den kleinsten gemein-
samen Nenner dessen dar, was als Gegenstand dieses Handbuchs in Frage kommt.
Der umf assendere Begrif f heißt Schrif tlichkeit. Er begreif t alles in sich, was das
Attribut ‘schrif tlich’ tragen kann: durch Schrif t konstituiert, durch Schrif t bedingt,
durch Schrif t af f iziert, durch Schrif t bewirkt — Dinge, Begrif f e, Menschen, Gesell-
schaf ten, Kulturen. Wo Schrif t in Gebrauch ist, da können Botschaf ten, Nachrichten,
Einladungen, Vorträge, Reden schriftlich sein. Gesellschaften und Kulturen sind schrift-
lich, wenn sie über Schrif t verf ügen und zentrale gesellschaf tliche Transaktionen auf
schriftlichem Wege bewerkstelligt werden.
Das Ausmaß, in dem Individuen an Schrif tlichkeitsprozessen partizipieren können,
bestimmt vielf ach ihre gesellschaf tliche Stellung. Wo dies nicht bereits heute der Fall
ist, werden Schrif tlichkeitsprozesse künf tig noch stärker im Brennpunkt vielf ältiger
Auseinandersetzungen stehen. Durch weltweite Migrationen und die Internationalisie-
rung verschiedenster sozialer Prozesse und Organisationen verschieben sich die Rela-
tionen von Sprechen und Schreiben, Hören und Lesen. Zugang zur Schriftlichkeit wird
f ür viele Menschen immer schwieriger. Schließlich zeichnet sich in der Entwicklung
elektronischer Medien zwar keine Aufhebung, aber eine tiefgreifende Veränderung der
schriftlichen Kommunikation und ihrer Formen ab.
Den Zusammenhang von Schrift und Schriftlichkeit stif tet der schrif tliche Text.
Schrif tliche Texte umgeben uns tagtäglich, sie regeln unser Leben, greif en in seinen
Ablauf ein, schaffen uns Möglichkeiten des Ausdrucks, erschweren uns das Leben. Wir
richten unser Leben nach schrif tlichen Texten. Es geht dabei nicht nur um die Konsti-
tution, Form und Funktion schrif tlicher Texte, sondern auch um die Tätigkeit der
Menschen, die schriftliche Texte herstellen und verarbeiten, also um das Schreiben und
VI Vorwort

Lesen. Wir haben es auch zu tun mit dem Erwerb dieser Fähigkeiten im Unterricht;
wir haben es zu tun mit den Auswirkungen des Schreibens und Lesens auf das private
und das öffentliche Leben, mit dem Status schriftlicher Texte in Kultur, Sprache, Denken
und individuellem Handeln.
Der Gegenstand des Handbuchs ist in der Tat so weit gefaßt. Er begreift alle Völker
und Individuen ein, die sich der Schrift bedient haben und bedienen, alle Sprachen, die
neben der mündlichen eine schrif tliche Sprachf orm ausgebildet haben, alle Gruppen
und Individuen, deren Leben durch den Umgang mit Schrif t und schrif tlichen Texten
mit organisiert wurde oder ist, in welchem Ausmaß auch immer.

2. Stand der Forschung und Aufgabenstellung


Die Vielfalt und Heterogenität der Gegenstände bedingen, daß an ihrer Untersuchung
verschiedene Wissenschaf ten beteiligt sind: Philosophie und Anthropologie, Sprach-
und Literaturwissenschaf ten, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissen-
schaf ten — um nur einige zu nennen. Die spezielle Kennzeichnung des Gegenstandes
Schrift und Schriftlichkeit aber wird je nach Disziplin unterschiedlich ausf allen. Für
den Historiker etwa ist das schrif tliche Zeugnis das historische Zeugnis schlechthin;
terminologisch bestimmt er die Vorgeschichte als die Zeit, aus der keine zeitgenössischen
Quellen in schriftlicher Form vorliegen. In der Kunstgeschichte interessiert speziell die
Form und Ästhetik der Schrif t in den Zeitaltern, in der Sozialgeschichte ihre gesell-
schaftliche Funktion. Dem Soziologen ist Schrift vielfach als eine soziale Gemeinschaf-
ten konstituierende Kraf t bedeutsam. Für den Psychologen ist der Anteil der Schrif t-
lichkeit an den kognitiven Prozessen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, den er
im Falle von schriftbezogenen Sprachstörungen mit dem Mediziner teilt.
Zudem werden die jeweils erarbeiteten Ergebnisse in den verschiedenen Wissenschaf-
ten keineswegs gleich gewichtet, auch nicht in gleicher Weise dem Forschungsstand der
gesamten Disziplin zugeordnet. Als spezielles Beispiel kann die Diskussion in der
Sprachwissenschaf t angef ührt werden. Lange sah man von einer Dif f erenzierung von
Schrift und Sprache ab. Als die Notwendigkeit ihrer Unterscheidung klar wurde, setzte
sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von der systematischen Priorität
der mündlichen Sprache durch; ‘die Schrif t’ erschien als zweitrangiges Phänomen und
wurde als Gegenstand sprachwissenschaf tlicher Forschung bestenf alls am Rande zu-
gelassen. Für viele Linguisten scheint es noch heute undenkbar, daß es in schrif tlicher
Sprache theoretisch bedeutsame Erscheinungen gibt, die nicht auf Aspekte der gespro-
chenen Sprache zurückgeführt werden können. Tatsächlich aber bezog und bezieht man
sich bei der Untersuchung von Sprache, selbst von mündlicher Sprache, auf schriftliche
oder verschrif tete Texte. So aber konnten Schrif tlichkeit und Mündlichkeit nicht zu-
f riedenstellend voneinander abgegrenzt, Schrif t und Schrif tlichkeit nicht f undiert be-
schrieben und ihre Beziehungen zur Mündlichkeit nicht hinreichend bestimmt werden.
Dieser Überblick kennzeichnet eine zentrale Problematik: Einzelne Aspekte von
Schrift und Schriftlichkeit werden aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Herausbildung
und Strukturierung moderner Gesellschaf ten von sehr vielen unterschiedlichen Diszi-
plinen thematisiert. Die einzelnen Wissenschaftsrichtungen bringen dabei ihre fachspe-
zif ischen Theorien und Methoden ein; ihre Erkenntnisse sind an diese gebunden. Jede
erfaßt und erforscht einen eigenen Aspekt von Schrift und Schriftlichkeit, und erst alle
zusammen können ein einigermaßen vollständiges Bild ergeben. Schrift und Schriftlich-
keit ist ein interdisziplinärer Gegenstand und nur mit dieser Perspektive zu erforschen.
Dies ist bisher bestenf alls in Ansätzen geschehen. Es muß gesagt werden, daß die
einzelnen wissenschaf tlichen Diszplinen Schrift und Schriftlichkeit bislang unter Er-
kenntnisinteressen erforscht haben, die — vom Gesamtzusammenhang des Gegenstan-
Vorwort VII

des her gesehen — als eher partikulär zu bezeichnen sind. Zum genuinen Forschungs-
gegenstand konnte Schrift und Schriftlichkeit so nicht werden, weshalb es heute auch
weder eine einheitliche Theorie über diesen Gegenstand gibt noch eine Vermittlung
theoretischer Bezüge oder einen überf achlichen Austausch über Fragestellungen und
Untersuchungsmethoden. Die wenigen Kompendien oder Handbücher, die es auf diesem
Felde gibt, erf assen Einzelaspekte unter isolierten Fragestellungen. Das Handbuch ist
somit das erste seiner Art.
Ganz im Sinne der Zielsetzung der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunika-
tionswissenschaft soll das vorliegende Handbuch f ür Studierende, Lehrende und For-
schende sowie f ür alle, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse daran haben,
eine möglichst breit gefächerte, strukturierte Übersicht über Fragestellungen, Methoden
und Theorieansätze im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit geben.
Das bedeutete konkret: Es war eine umf assende Bestandsauf nahme vorzunehmen,
um erst einmal einen Überblick über das Problemfeld gewinnen zu können. Dann war
durch Zusammenstellen, Zusammenführen und Zusammenfügen der Teile eine Ordnung
in dieses Feld zu bringen, die es erlaubt, jedem Teil einen Platz im Handbuch zuzuweisen
und Bezüge zwischen den Teilen auf zuzeigen: Der Stof f war zu gliedern. Schließlich
mußten die Teile gegeneinander austariert werden, um keine größeren Ungleichgewichte
auf kommen zu lassen. Gerade diese Auf gabe erwies sich als schwierig, weil einzelne
Bereiche schon lange und intensiv beforscht sind wie z. B. die Geschichte der Schrif t
bzw. der Schrif ten, andere nur wenig wie z. B. die Geschichte des Schreibens und
Lesens.
Darüber hinaus gibt ein systematisch angelegter Auf riß des gesamten Feldes Gele-
genheit, Mängel in der Forschung ausfindig zu machen und auf Lücken grundsätzlicher
Art hinzuweisen. Es kann nicht die Auf gabe eines Handbuches sein, sie zu beheben.
Wohl aber haben die Herausgeber dieses Handbuchs es als ihre Pf licht (und die aller
Autoren) angesehen, die erhebliche Heterogenität des Gegenstandes sichtbar zu machen,
die Unterschiedlichkeit der Zugangsweisen, die in den verschiedenen Wissenschaf ten
ausgebildet worden sind, deutlich werden zu lassen und auf die existierenden Theorie-
defizite hinzuweisen, um auf diese Weise einen Beitrag zu leisten zu einer einheitlicheren
und umfassenderen Bearbeitung des Gegenstandes.

3. Begrifflichkeit
Wie bei vielen so fundamentalen und von sehr verschiedenen Wissenschaften verwen-
deten Begriffen verwischt auch im Fall von Schrift und Schriftlichkeit ihre Omnipräsenz
die Klarheit der Wahrnehmung und Begriffsbildung, und so kann es nicht überraschen,
daß es keine einheitliche Begrifflichkeit und infolgedessen auch keine allgemein akzep-
tierte Terminologie im Bereich von Schrif t und Schrif tlichkeit gibt. Ein guter Teil der
im wissenschaf tlichen Diskurs gängigen Ausdrücke stammt aus der Umgangssprache,
und ihre Bedeutungen entfernen sich of t nur wenig von den allgemein gebräuchlichen.
Nur ein recht kleiner Teil der Begriffe ist als rein fachsprachlich zu charakterisieren.
Eine einheitliche Begrifflichkeit und eine allgemein akzeptierte Terminologie kann es
allerdings auch nur in dem Maße geben, als eine Theorie der Schrif tlichkeit oder eine
integrierte Theorie aller ihrer Aspekte zur Verf ügung steht; dies ist derzeit nur in
Teilbereichen der Fall. Es ist ja auch durchaus die Frage, wie denn eine „interdisziplinäre
Theorie” eigentlich zu konstituieren wäre. Es geht deshalb in den folgenden Abschnitten
nicht darum, Vorschläge f ür eine einheitliche Begrif f lichkeit zu machen oder gar die
Terminologie im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit zu normieren. Es soll auch
nicht der Versuch unternommen werden, die in diesem Handbuch versammelten Artikel
einer einheitlichen Sprachregelung zu unterwerfen. Es soll vielmehr eine grobe Orien-
VIII Vorwort

tierung über die verschiedenen Bedeutungen gegeben werden, die mit bestimmten
Ausdrücken in der wissenschaftlichen Literatur verbunden werden. Beim gegenwärtigen
Stand der Schrif tlichkeitsf orschung ist es nicht zu vermeiden, daß in den einzelnen
Artikeln jeweils eigene Begrifflichkeiten verwendet werden, so daß der gleiche Ausdruck
in verschiedenen Artikeln auch verschiedene Bedeutung haben kann. Es werden hier
nur solche Begrif f e angesprochen, deren Kenntnis in den verschiedenen Artikeln als
bekannt vorausgesetzt wird. Die begrif f liche Fassung spezieller Aspekte wird in den
Artikeln selbst expliziert.
3.1. Schrift (Script; Writing)
Das Wort Schrift weist eine breite Palette verschiedener Bedeutungen auf . In der
Umgangssprache wie in der wissenschaf tlichen Literatur kann der Ausdruck sowohl
auf das gesamte Feld der Schrif tlichkeit als auch auf Teilbereiche bezogen werden —
den Duktus der Handschrift, die schriftliche Sprache, die Form der Schriftzeichen etwa,
wobei ohne Kontext prima facie meist nicht erkennbar ist, welche Lesart zugrundeliegt.
Im alltäglichen Sprachgebrauch lassen sich die f olgenden drei Grundbedeutungen des
Wortes Schrift feststellen:
(1) die Menge der graphischen Zeichen, mit denen die gesprochene Sprache festgehalten wird
(vgl. die chinesische, griechische Schrift)
(2) die Gestalt bzw. Form der Schriftzeichen (vgl. eine schöne, unordentliche, erhabene Schrift )
(3) das Produkt der Verwendung von Schriftzeichen, d. h. das Schriftstück oder der Text (vgl.
Luthers Schriften, eine wichtige Schrift Lessings, die (Heilige) Schrift)

Diese systematische Mehrdeutigkeit des Wortes Schrift f indet sich auch in der wis-
senschaftlichen Literatur. In vielen Fällen bezeichnet es einfach die Menge der Schrift-
zeichen, die zur Verschriftung einer bestimmten Sprache Verwendung finden. In visuell-
graphischen Kontexten ist dagegen die Formstruktur der verwendeten graphischen
Zeichen das bestimmende Kriterium. In diesem Sinne spricht man davon, daß die
Fraktur eine andere Schrift ist als die Antiqua. Ein Ausdruck wie ‘die deutsche Schrift’
ist also systematisch mehrdeutig: Es kann damit das zur Verschrif tung des Deutschen
verwendete Alphabet gemeint sein (linguistische Lesart) oder aber eine Schrift, mit der
deutsche Texte geschrieben werden, also die Fraktur oder die Sütterlin-Handschrif t
(visuell-formale Lesart).
3.2. Schriftlichkeit (Literacy)
Unter dem Oberbegriff Schriftlichkeit können alle Sachverhalte zusammengefaßt wer-
den, denen das Attribut schriftlich zukommt. Bezogen wird der Ausdruck dabei ins-
besondere auf:
(1) Texte, die entweder durch das schriftliche Medium bedingt sind oder durch eine spezifische
Weise, Texte zu konzipieren, zu komponieren oder zu formulieren, geprägt sind;
(2) Personen, die lesen und schreiben können und/oder über das in kanonischen Schriften
niedergelegte Wissen verfügen (so schon im lateinischen litteratus );
(3) gesellschaftliche Zustände, die dadurch gekennzeichnet sind, daß nicht nur repräsentative
Teile der Bevölkerung lesen und schreiben können, sondern daß auch das gesellschaftliche
Leben insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist;
(4) Kulturen, in denen wichtige Institutionen wie z. B. die Religion sich auf schriftliche Texte
berufen, der Erwerb von Lesen und Schreiben eines der Ziele von Unterricht ist oder das
Lesen und Schreiben von Menschen sich auf ihr Denken und Handeln auswirkt.
Die Verwendung von Schriftlichkeit als Oberbegriff scheint eine deutsche Eigentüm-
lichkeit zu sein. Seine Verwendung zur Kennzeichnung einer spezif ischen Verf aßtheit
von Individuen, Gesellschaf ten, Kulturen und Texten geht auf den englischen Begrif f
literacy zurück, der seinerseits entstanden ist im Zusammenhang mit dem Gegensatz
Vorwort IX

zu orality, ins Deutsche teilweise als „Mündlichkeit/Schrif tlichkeit”, of t auch als „Li-
teralität/Oralität” übersetzt. Dies f ührt bisweilen zu Unklarheiten, weil die deutschen
Ausdrücke Literalität und Schriftlichkeit nicht in jedem Kontext austauschbar sind.
3.3. Schriftliche Sprache, geschriebene Sprache (Written Language)
Wie Schriftlichkeit und Schrift wird auch der Ausdruck geschriebene oder schriftliche
Sprache häuf ig als Oberbegrif f f ür das gesamte Begrif f sfeld verwendet oder aber auf
einen Teilaspekt des Feldes bezogen. In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich fünf
Ansätze unterscheiden, den Begriff differenzierter zu verwenden.
(1) Schriftliche Sprache als sprachliche Gestaltung von Texten. In diesem Falle wird nicht
zwischen der Form einer schriftlichen Äußerung und der bei ihrer Herstellung verwendeten
sprachlichen Mittel unterschieden. Eine solche Verwendung des Ausdrucks ist in der sprach-
wissenschaftlichen Literatur heute nicht mehr anzutreffen, doch spielt sie in anderen Diszi-
plinen, vor allem in den Literaturwissenschaften, noch eine Rolle.
(2) Schriftliche Sprache als eine unter funktionalen Gesichtspunkten getroffene Auswahl sprach-
licher Mittel (stilistisches Konzept). Man spricht auch von Varietäten, Sprachstilen, Registern.
Hier geht es nicht um Eigenschaften von Texten, sondern um die in schriftlichen Äußerungen/
Texten verwendeten sprachlichen Mittel (morphologische, syntaktische, lexikalische, prag-
matische). In der neueren Sprachwissenschaft ist diese Konzeption weit verbreitet.
(3) Schriftliche Sprache als schriftliche Form einer Sprache (glossematisches Konzept). Man geht
von der Tatsache aus, daß viele Sprachen in zwei Ausdrucksformen vorliegen, einer münd-
lichen und einer schriftlichen, daß aber beide zusammen als eine Sprache angesehen werden.
(4) Schriftliche Sprache als die schriftliche Norm der Sprache (funktionalistisches Konzept). Die
Prager Strukturalisten, auf die dieses Konzept zurückgeht, unterschieden die Funktionen
schriftlicher und mündlicher Äußerungen und Texte und schlossen daraus auf zwei Normen
einer Sprache.
(5) Schriftliche Sprache als die Sprache, die beim Schreiben und Lesen Verwendung findet. Nicht
die Beziehung zwischen mündlicher (gesprochener) und schriftlicher (geschriebener) Sprache
liegt dieser Konzeption zugrunde, sondern die Beziehung, in der die Sprache zu den Menschen
steht, die sie benutzen. Man gebraucht zum Schreiben eine andere Sprache als zum Sprechen,
und genau sie ist es, die man als geschriebene oder schriftliche Sprache bezeichnet.
Es muß gerade bei diesem Ausdruck aber auf den Umstand verwiesen werden, daß
seine Bedeutung selbst in ein und demselben Text schwanken kann.
3.4. Schriftsystem, Orthographie (Writing System, Orthography)
Aufgrund der Vieldeutigkeit der Begriffe Schrift, Schriftlichkeit und schriftliche Sprache
sind in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere in den Sprachwissenschaf ten einige
Konzepte etwas strenger gef aßt worden, die weniger scharf teilweise auch in anderen
Wissenschaften und der Umgangssprache auftreten.
Die Art und Weise, wie Sprachen verschrif tet werden, ist von Sprache zu Sprache
unterschiedlich. In logographischen Schrif tsystemen beziehen sich die Schrif tzeichen
grosso modo auf Wörter bzw. Bedeutungsträger, in syllabographischen Systemen auf
Silben, in alphabetischen Systemen auf minimale Einheiten der Lautsprache. Der Begriff
Schrifttyp bezeichnet im sprachwissenschaf tlichen Kontext die Art der Verschrif tung
einer Sprache nach Maßgabe des vorherrschenden Verschrif tungsverf ahrens; zwischen
dem Sprachtyp (isolierend, agglutinierend, f lektierend) und dem Schrif ttyp bestehen
des öf teren systematische Beziehungen. (Ganz anders wird der Ausdruck Schrifttyp
verwendet, wenn wir uns im Bereich der Typographie befinden; hier bezieht er sich auf
visuelle Charakteristika; unterschieden werden z. B. im lateinschrif tlichen Bereich als
Schrif ttypen die Antiqua von den gebrochenen Schrif ttypen wie z. B. der deutschen
Fraktur).
X Vorwort

In den Einzelsprachen wird von den durch den Schrif ttyp bereitgestellten Mitteln in
unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht. Das Schriftsystem einer Sprache determi-
niert die Form schrif tlicher Äußerungen. Dazu gehören neben den Beziehungen zwi-
schen den Lautsegmenten und den Schriftzeichen die Interpunktion, die Unterscheidung
verschiedener Schrif tzeichentypen wie Groß- und Kleinbuchstaben sowie die Konven-
tionen für die Form schriftlicher Äußerungen und Texte (Briefe, Aufsätze etc.). Es gibt
eine engere Auf fassung, wonach der Terminus Schrif tsystem auf die untere Ebene der
doppelten Artikulation beschränkt wird; in der Vergangenheit hat sich die linguistische
Schrif tlichkeitsf orschung häuf ig auf diesen Bereich beschränkt. Von verschiedenen
Autoren wird dafür der Begriff Graphematik (oder Graphemik ) verwendet, den andere
f ür die Schrif tforschung insgesamt benutzen. Innerhalb bestimmter Theorien wird der
Begriff Schriftsystem sehr strikt gehandhabt; in anderen Ansätzen, u. a. in verschiedenen
Artikeln des Kapitels VIII dieses Handbuchs, wird darunter alles verstanden, was
linguistisch über Schrift und die geschriebene Sprache zu sagen ist.
Die meisten neueren Schriftsysteme weisen bestimmte Kodifikationen auf, d. h. prä-
skriptive Regelwerke, die die Norm der Schreibung vorschreiben. Eine solche Kodif i-
kation wird als Orthographie bezeichnet. Eine Orthographie ist eine Menge von Vor-
schriften, die bestimmen, ob eine schriftliche Äußerung korrekt ist oder nicht, d. h. eine
präskriptive Form der Beschreibung eines Schrif tsystems. Für Schreibregularitäten, zu
denen keine präskriptive Kodif ikation vorliegt, wird neuerdings vor allem im histori-
schen Bereich der Ausdruck Graphie verwendet.
Im wissenschaf tlichen Sprachgebrauch wird die Unterscheidung von Schrif tsystem,
Graphie und Orthographie in der Regel nur von Sprachwissenschaftlern und Philologen
gemacht; namentlich in der kognitionspsychologischen und pädagogischen Literatur
wird hier selten differenziert.
3.5. Schriftzeichen, Graphem (Character, Grapheme)
Die Konzepte Schrift, Schrifttyp, Schriftsystem etc. beruhen auf der Vorstellung, daß
schriftliche Sprache sich eines begrenzten Inventars von Elementen bedient, die theorie-
neutral als Schriftzeichen bezeichnet werden. Dieser Begriff hat den Vorteil, weiter als
Begriffe wie Buchstabe oder Graphem zu sein und auf unterschiedliche Schrifttypen und
-systeme anwendbar zu sein — lateinische oder griechische Buchstaben, japanische
Kana, chinesische Hanzi sind sämtlich Schriftzeichen in diesem Sinne.
Die Untermenge der Schriftzeichen, aus denen in Silben- oder Alphabetschriften die
Bedeutungsträger zusammengesetzt sind, werden als Grapheme bezeichnet. Wie der
Begriff Phonem, so ist auch der Begriff Graphem ein theoretisches Konstrukt, abhängig
von der jeweiligen Theorie. Dabei stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. In der
ersten, älteren Kennzeichnung versteht man unter Graphem diejenigen Schrif tzei-
chen(kombinationen), durch die Phoneme der Lautsprache schrif tlich wiedergegeben
werden. Die jüngere Konzeption def iniert das Graphem rein distributionell als die
kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der schrif tlichen Sprachf orm ohne Bezug
auf die Phonologie. — Außerhalb der Sprachwissenschaf t kann beim Gebrauch des
Ausdrucks Graphem nicht davon ausgegangen werden, daß eine bestimmte Lesart
intendiert ist; häufig genug bezeichnet man mit dem Begriff einfach ein Schriftzeichen
oder einen Buchstaben.
3.6. Schreiben, Lesen, Text (Writing, Reading, Text)
Diese Begriffe sind wohl am wenigsten terminologischen festgelegt; sie werden auch in
diesem Handbuch höchst unterschiedlich verwendet. Gerade deshalb scheint es sinnvoll,
die Hauptunterschiede der Verwendungsmöglichkeiten zu kennzeichnen.
Das Wort schreiben hat umgangssprachlich drei Bedeutungen:
Vorwort XI

(1) Schriftzeichen, insbes. Buchstaben und Zahlen zu Papier bringen, schriftlich niederlegen
(2) etwas Sinnvolles, einen Text zu Papier bringen
(3) schriftstellerisch tätig sein
Dabei besteht ein klares semantisches Verhältnis: Bedeutung (3) impliziert (2), (2)
impliziert (1). Da dennoch nicht immer klar ist, welche Bedeutung intendiert ist — was
heißt z. B. schreiben lernen ? —, wird in der wissenschaf tlichen Literatur zunehmend
der klarere f achsprachliche Ausdruck Produktion von schriftlichen Äußerungen oder
Texten für die Bedeutung (2) verwendet. Er bezeichnet alle Aktivitäten, deren gemein-
sames Ziel eine schrif tliche Äußerung bzw. ein Text ist — von der Idee über deren
thematische, kompositorische und sprachliche Entf altung bis zur Formulierung, Auf -
zeichnung, Korrektur und Veröffentlichung. In einigen Arbeiten wird auch von Schrei-
ben im engeren Sinne (1) und Schreiben im weiteren Sinne (2) gesprochen. Für die
Diskussion in vielen Bereichen, z. B. bei einer Def inition des Begrif f s funktionale
Literalität , ist die Frage von zentraler Bedeutung, welcher Schreibbegriff zugrundegelegt
wird.
Ähnlich wie beim Schreiben läßt sich beim Begriff Lesen eine enge und eine weitere
Bedeutung unterscheiden. Der engere Begrif f kennzeichnet die Menge derjenigen Pro-
zesse, die in jeder Form des Lesens involviert sind, also die Augenbewegungen sowie
die damit verbundenen kognitiven Prozesse der Buchstaben- und Worterkennung und
ihre Integration zu Sätzen, d. h. die Umsetzung schrif tlicher Äußerungen in mentale
sprachliche (Teil-)Repräsentationen. Lesen im weiteren Sinne läßt sich analog zu Schrei-
ben kennzeichnen als die Rezeption von Texten. Der Leseprozeß in diesem Sinne umfaßt
das Einordnen der Textinf ormationen in die eigenen Wissensbestände, ihre kritische
Wertung, das Verstehen unbekannter Tatbestände, die emotionale und kognitive Be-
wertung der verwendeten Sprache, die Beziehung zum Autor bzw. zum Gegenstand des
Textes, etc.
Beim Schreiben werden schrif tliche Äußerungen produziert, beim Lesen rezipiert.
Gelegentlich werden in der Sprachwissenschaf t alle sprachlichen Äußerungen als Text
bezeichnet. Eine solche Ausweitung des Begriffs ist der Umgangssprache fremd, in der
der Bezug des Begriffs zur Schrift konstitutiv ist (der Ausdruck ‘mündlicher Text’ wäre
hier zunächst ein Widerspruch in sich). In der Textlinguistik werden nur solche (i. d. R.
schriftliche) Äußerungen als Texte bezeichnet, die bestimmten Kriterien wie Kohärenz,
Intentionalität, Abgeschlossenheit, Kohäsion etc. genügen. In bestimmten pragmati-
schen Konzeptionen werden Texte als Ergebnisse einer zerdehnten Sprechsituation
bezeichnet; nicht ihre eventuelle Schrif tlichkeit macht solche Äußerungen zu Texten,
sondern ihre Isolierbarkeit. Überall dort, wo keine genaueren Bestimmungen intendiert
sind, ist der neutralere Ausdruck schriftliche Äußerung vorzuziehen.

4. Aufbau des Handbuchs


Bei der Gliederung des Stoffes haben sich die Herausgeber vornehmlich am Kriterium
des Sachbezugs orientiert, an unterscheidbaren Objektbereichen. So wird man kein
kulturwissenschaf tliches Kapitel f inden, wohl aber ein auf Schrif tkulturen und ein auf
kulturelle Einrichtungen bezogenes; man f indet ein sprachliches, aber kein sprachwis-
senschaf tliches Kapitel. Nur so lassen sich die systematischen Bezüge f ächerübergrei-
f ender Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit in angemessener Weise verdeutlichen.
Diese Orientierung hat sowohl das Profil als auch die Plazierung der einzelnen Kapitel
bestimmt. Globalen und allgemeinen Kennzeichnungen des Gegenstandes im Kapitel I
f olgt die Darstellung der Fragen, die sich auf die materiale Konstitution von Schrif t-
zeichen im weitesten Sinne beziehen (Kapitel II). Daß die Kennzeichnung der Geschichte
der Schrif t in ihren wichtigsten Ausprägungen (Kapitel III) den übrigen, sachbezogen
XII Vorwort

arrangierten Teilen voransteht, verdankt sich nicht zuletzt auch der Tatsache, daß die
Geschichte der Schrif ten die Auf merksamkeit seit langem auf sich gezogen hat und
damit von allen Teilgegenständen des Handbuchs wohl am besten erforscht ist. In den
Kapiteln IV und V werden dann wesentliche Aspekte der Schrif tkultur in kulturell-
arealem und gesellschaf tlich-f unktionalem Zusammenhang dargestellt. Ihnen f olgend
handelt Kapitel VI von den gesellschaf tlichen, Kapitel VII von den psychologischen
Aspekten. Kapitel VIII bef aßt sich mit Fragen des Erwerbs der Schrif tlichkeit und
ihren unterrichtlichen Aspekten, Kapitel IX schließlich mit den sprachlichen Aspekten
von Schrif t und Schrif tlichkeit. Diese wichtigsten Aspekte des Gegenstandes sind so-
zusagen von oben nach unten organisiert: beginnend bei der Kultur als dem globalsten
Aspekt und ausmündend in die speziell sprachlichen Erscheinungen. In diese Reihe
gehört in der Tendenz auch das X. Kapitel mit den Sonderschriften. In einem umfang-
reichen Register werden schließlich die f ächerübergreif enden Bezüge auch auf der
Mikroebene deutlich gemacht.
Im f olgenden soll die Anordnung der Artikel in den einzelnen Kapiteln knapp
erläutert werden.
4.1. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
Im ersten Kapitel werden sachübergreif end Grundpositionen der wissenschaf tlichen
Bearbeitung des Gegenstandes Schrift und Schriftlichkeit dargestellt. Art. 1 Mündlichkeit
und Schriftlichkeit kennzeichnet moderne Ansätze zur Klärung des Verhältnisses von
Schrif tlichkeit und Mündlichkeit. Unter Bezug auf die Unterscheidung einer medialen
und einer konzeptionellen Dimension werden alte Fragen zum Verhältnis von geschrie-
bener und gesprochener Sprache, von Mündlichkeit und Schrif tlichkeit relativiert und
neue Perspektiven herausgearbeitet. Gegenstand von Art. 2 Funktion und Struktur
schriftlicher Kommunikation sind alle Formen sprachlichen Handelns, in denen die
Verständigung zwischen Kommunikationspartnern mit Hilf e von schrif tlichen Mitteln
angestrebt wird. Die schrif tliche Form sprachlicher Kommunikation wird in ihren
elementaren Strukturen beschrieben und in ihren sozialen Konsequenzen erörtert,
insbesondere im Hinblick auf expansive Anwendungen. Grundfragen einer semiotischen
Analyse von Schrift und schriftlicher Sprache, ihrer Beziehung zur gesprochenen Spra-
che und zu anderen Zeichen- und Notationssystemen werden in Art. 3 Semiotische
Aspekte der Schrift behandelt.
In den weiteren Artikeln des Kapitels I wird die historische Perspektive eingenommen.
Die beiden grundlegenden Prozesse schriftlicher Sprachtätigkeit behandeln Art. 4 Ge-
schichte des Schreibens und Art. 5 G eschichte des Lesens. Der Prozeß des Schreibens
f indet in einem schrif tlichen Text seinen Abschluß, und der Prozeß des Lesens setzt
immer einen Text voraus. Dabei haben schrif tliche Texte im Lauf e der Geschichte
verschiedene Formen gef unden. Art. 6 G eschichte des Buches charakterisiert die Ent-
wicklung schrif tlicher Texte zum Buch und seiner Produktions-, Vertriebs- und Ver-
wendungsweisen. Art. 7 Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit schließ-
lich trägt in einer Skizze der Forschungsgeschichte dazu bei, die vielfältigen expliziten
und impliziten Voraussetzungen bei der wissenschaftlichen Behandlung des Verhältnisses
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufzuhellen.
4.2. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
Die Materialität von Schrift begründet ihren eigenständigen Charakter gegenüber der
Lautsprache: Mündliche Äußerungen werden durch daf ür entwickelte Organe in der
auditiven Dimension produziert, sie erstrecken sich in der Zeit und sind f lüchtig.
Schriftliche Äußerungen werden mit Werkzeugen für die visuelle Dimension produziert,
erstrecken sich im Raum und sind nicht f lüchtig. Diese grundsätzlichen Eigenschaf ten
Vorwort XIII

schrif tlicher Äußerungen und Texte sind die Ursache f ür vielf ältige strukturelle Unter-
schiede zwischen schriftlichen und mündlichen Äußerungen. Eine Übersicht über Tra-
ditionelle Schreibmaterialien und -techniken bietet Art. 8. Hier werden die wichtigsten
Schreibwerkzeuge, Beschreibstof fe und Schreibtechniken des vortypographischen Zeit-
alters erläutert. Es f olgt eine Kennzeichnung der neueren Elektronischen Lese- und
Schreibtechnologien (Art. 9), bezogen auf den damit umgehenden einzelnen Leser und
Schreiber.
Die Beständigkeit von schriftlichen Texten ermöglicht ihre dauernde Aufbewahrung;
verbunden damit sind entsprechende Probleme der Wiederf indbarkeit von Information.
Art. 10 Archivierung von Schriftgut kennzeichnet die traditionellen Verf ahren, Art. 11
Datenbanken die neueren computergestützten Möglichkeiten und ihre Beziehungen zur
Schriftlichkeit.
Aus der Organisation von Schrif t im Raum resultieren u. a. auch spezielle Form-
aspekte schrif tlicher Äußerungen. In Art. 12 Die Buchstabenformen westlicher Alpha-
betschriften in ihrer historischen Entwicklung wird die Genese der modernen latein-
schrif tlichen Antiqua von den semitisch-griechischen Ursprüngen her systematisch in
paläographischer und kognitiver Perspektive rekonstruiert, wobei die wichtigsten Pro-
totypen des abendländischen Bereichs wie Monumentalschrif t, Unziale, karolingische
Minuskel etc. detailliert behandelt werden. Die materialen Neuerungen und technischen
Veränderungen durch den Buchdruck auch in bezug auf die äußere Gestalt der Schrift-
zeichen und ihrer Organisation auf der Seite und im Buch thematisiert Art. 13 Typo-
graphie . Im Gegensatz dazu liegt in Art. 14 Kalligraphie der Akzent auf den ästhetischen
Möglichkeiten von Schrift, wie sie in verschiedenen Schrifttraditionen der Welt genutzt
worden sind.
4.3. Schriftgeschichte
Die Geschichte der Schrift ist der wohl am besten erforschte Bereich des Gegenstands
dieses Handbuchs. Gleichwohl sind die vielen Darstellungen zugrundeliegenden histo-
rischen und schrif tsystematischen Theorien in den letzten Jahren zunehmend kritisch
hinterfragt worden. Art. 15 Theorie der Schriftgeschichte diskutiert die Grundprobleme
moderner Schrif tgeschichtsschreibung im Zusammenhang mit Fragen nach dem Ur-
sprung der Schrift, der Abgrenzung von anderen visuellen Zeichen, dem Bezug auf die
Struktur der verschrif teten Sprache und den Prinzipien, die der Schrif tentwicklung
zugrundeliegen.
Die Frage nach dem Ursprung der Schrif t wird im jeweiligen Einzelf all anders zu
beantworten sein; in vielen Fällen bleibt die Antwort spekulativ. Im Falle der sumeri-
schen Schrif t aber, die cum grano salis als Ursprung aller abendländischen Schrif ten
gelten kann, haben Forschungen der letzten 20 Jahre diese Entwicklung recht
zuverlässig
rekonstruieren können; dies wird in Art. 16 Vorläufer der Schrift dargestellt. Art. 17
Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis befaßt sich mit erst in den letzten Jahr-
zehnten zur Kenntnis genommenen Schriftzeichen möglicherweise noch älteren Datums.
Die f olgenden Artikel betrachten die Entwicklung einzelner Schrif ten bzw. Schrif t-
gruppen. Begonnen wird mit den beiden Schriftsystemen, die im Vorderen Orient zuerst
entstanden sind und von dort aus in andere Gebiete ausgestrahlt haben: Die sumerisch-
akkadische Keilschrift (Art. 18) und Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiter-
entwicklungen (Art. 19). Aus den mesopotamischen und ägyptischen Grundlagen ent-
wickeln sich Die nordwestsemitischen Schriften (Art. 20). Diese f rühen Silben- und
Konsonantenschrif ten sind ihrerseits Ausgangspunkt f ür die Entwicklung von unter-
schiedlichen Schrifttypen geworden, u. a. Die altsüdarabische, arabische, äthiopische und
Die indische Schrift (Art. 21—24). In Art. 25 Die Entstehung und Verbreitung von
XIV Vorwort

Alphabetschriften werden konzentriert die historisch-systematischen Aspekte der Aus-


breitung dieses nur einmal in der Schriftgeschichte erfundenen Schrifttyps behandelt.
In den f olgenden Artikeln werden die beiden anderen großen Schrif tentwicklungs-
bereiche der Erde dargestellt. Art. 26 behandelt Die chinesische Schrift in ihrer über
4000jährigen Geschichte in China, Art. 27 die Weiterentwicklungen der chinesischen
Schrift: Japan — Korea — Vietnam . Die historischen Schriften Mittelamerikas gehören
zu denjenigen, in denen ein eigenständiger Weg eingeschlagen wurde, der jedoch auf -
grund äußerer Umstände nicht weiter verf olgt werden konnte. Gerade auf grund der
Eigenständigkeit ihrer Entwicklung sind Mittelamerikanische Schriften (Art. 28) von
erheblichem komparatistischen Interesse, zumal in den letzten Jahren durch neue Funde
und Entzif ferungen der Zugang zu diesen Schrif ten leichter und ihr Verständnis klarer
geworden ist.
Der Zugang zu Schrif ten, die heute nicht mehr verwendet werden, ist schwierig.
Zeichen, deren Schriftcharakter man vermutet, die jedoch nicht ‘lesbar’ sind, übten seit
jeher auf die Wissenschaf t große Faszination aus. Art. 29 Entzifferungen kennzeichnet
einige besonders interessante Etappen aus der Geschichte der Entzif f erungen und die
systematischen Fragestellungen, die sich daraus ergeben.
4.4. Schriftkulturen
Schrif ten und Schrif tsysteme haben über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg zur
Weitergabe und zur Erzeugung von Texten gef ührt; von diesen sind einige von f unda-
mentaler Bedeutung f ür die Gruppen, in denen sie entstanden. Schrif t hat damit zur
Entstehung, Entf altung, Kontinuität und Veränderung von Kultur in diesen Gruppen
beigetragen. Zusammenf assend kann f ür diesen Aspekt der Ausdruck Schriftkultur
verwendet werden. Der außerordentlich große Umf ang der schrif tlichen Traditionsbe-
stände bis in unsere Zeit bedeutet für die Artikel dieses Kapitels, daß hier nicht so sehr
einf ache Traditionsübersichten angestrebt werden; vielmehr wird versucht, die z. T.
recht gut bekannten und erschlossenen Fakten auf die Auswirkung und den Stellenwert
der Schrif tlichkeit in der jeweiligen Kultur hin zu bef ragen. Im Vordergrund stehen
dabei zwei Fragen: Welche spezif ischen Textarten haben sich als charakteristisch f ür
die jeweilige Schrif tkultur herausgebildet? Welche spezif ischen Traditionsbedürf nisse
und innovatorischen Prozesse sind in der jeweiligen Schriftkultur zu erkennen?
Voran stehen zwei allgemeinere Beiträge. Art. 30 Mündliche und schriftliche Kulturen
analysiert und relativiert die in den letzten Jahren vorgebrachten Thesen zum Verhältnis
von mündlichen und schriftlichen Kulturen. Als eine Art Gegenpol bemüht sich Art. 31
Die Schwelle der Literalität um eine Klärung der Frage, welche Kriterien bestimmen,
ab wann von einer Schriftkultur gesprochen werden kann.
Es werden dann zunächst nach geographischen Kriterien angeordnete wichtige
Schrif tkulturen behandelt: Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen ( hànzì )
(Art. 32), Der indische Schriftenkreis (Art. 33), anschließend die historischen Schrif t-
kulturen im Vorderen Orient und in Ägypten (Art. 34—36): Die ägyptische Schriftkultur,
Die Keilschriftkulturen im Vorderen Orient und Die nordwestsemitischen Schriftkulturen .
Es folgen Die griechische (Art. 37) und Die lateinische Schriftkultur der Antike (Art. 38)
sowie Die arabische Schriftkultur (Art. 39).
Drei Entwicklungsaspekte der westlichen Schrif tkultur werden in den f olgenden
Artikeln thematisiert. Art. 40 Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur un-
terstreicht den häufig vernachlässigten Umstand, daß die Schriftkultur des europäischen
Mittelalters praktisch ausschließlich lateinisch ist, und bespricht ihre wesentlichsten
Ausprägungen. Dennoch bedarf Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in West-
europa (Art. 41) einer ebenso umfassenden Darstellung, weil sich aus diesen Anfängen
die modernen westlichen Schriftkulturen entwickeln. Eine wesentliche Zäsur, wenn auch
Vorwort XV

nicht ohne Voraussetzungen, stellt schließlich Der Buchdruck und seine Folgen (Art. 42)
dar, durch den sich im Laufe der Zeit ganz andere, moderne Formen der Schrif tkultur
entwickeln. Da diese modernen Formen in verschiedenen Artikeln insbesondere der
beiden folgenden Kapitel vielfach thematisiert werden, wird das Kapitel mit dem Beitrag
Perspektiven der Schriftkultur (Art. 43) abgeschlossen.

4.5. Funktionale Aspekte der Schriftkultur


Schrift und Schriftlichkeit haben in einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
unterschiedlichen Stellenwert. Ihre verschiedenen Funktionen entf alten sich in einem
beständigen Wechselverhältnis zur Mündlichkeit. Es kann konkurrierend-problema-
tisch, aber auch parallel-komplementär sein; dies wiederum mag unterschiedlich in
einzelnen Bereichen sein.
Gegenstand des Kapitels sind alle gesellschaf tlichen Bereiche, die von Schrif t und
Schriftlichkeit tangiert werden. Voran steht Art. 44 Schriftlichkeit und Sprache. Einflüsse
auf die Sprache auf den verschiedenen Ebenen (Konzeption, Diskurs, Varietäten,
Normierung) werden ebenso diskutiert wie Interaktionen mit der Mündlichkeit in
umgekehrter Richtung. In den Artikeln 45—50 zu Schriftlichkeit und Religion, Recht,
Handel, Technik, Industrialisierung und Erziehung werden diejenigen Bereiche bespro-
chen, in denen die Ausprägung einer Schrif tkultur von spezieller Bedeutung war und
ist. (Der vorgesehene Beitrag zur Rolle von Schrif tlichkeit in Verwaltung und Politik
kam leider nicht zustande.) Es folgen vier Beiträge (Art. 51—54) zur Rolle von Schrift-
lichkeit in kulturellen Wissensdomänen: Schriftlichkeit und Philosophie, Wissenschaft,
Literatur und Philologie . — Gegenstand des dieses Kapitels abschließenden Art. 55
Sekundäre Funktion der Schrift schließlich sind Beispiele für die Verwendung von Schrift
in Zusammenhängen, in denen sie nicht (direkt) sprachbezogen verwendet wird wie in
der Schriftmagie, in Anagrammen und Schriftbildern.
4.6. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
Gesellschaftliche Fragen von Schrift und Schriftlichkeit betreffen u. a. die gesellschaft-
lich zugängliche Verschrif tung und Normierung der Sprache, den Grad der Verf ügung
über die geschriebene Sprachf orm, die Literalisierung von Gesellschaf ten und ihre
Entwicklung.
In den Artikeln 56—61 wird der Zusammenhang der Verschrif tung von Sprachen
mit sozialen und politischen Zielsetzungen dargestellt. In Art. 56 Orthographie als
Normierung des Schriftsystems wird die Bedeutung einer Norm der Schreibung in einer
altverschrif teten Sprache diskutiert. Die folgenden Beiträge befassen sich dagegen mit
der Verschrif tung einer Sprache entweder durch Übernahme/Übertragung einer vor-
gef undenen Schrif t f ür eine andere Sprache (Art. 57 Erstverschriftung durch fremde
Systeme ) oder durch Eigenentwicklung (Art. 58 Autochthone Erstverschriftung ). Ortho-
graphieentwicklung und Orthographieform mit Schwerpunkt auf den deutschen Verhält-
nissen thematisiert Art. 59. Als Kontrast zu diesen an einem einsprachigen Modell
orientierten Überlegungen werden in Art. 60 Schriftlichkeit und Diglossie und Art. 61
Schriften im Kontakt die in den Gesellschaften der Welt viel häufiger zu beobachtenden
Phänomene des Auseinanderf allens von geschriebener und gesprochener Sprachf orm
und der gesellschaftlichen Mehrschriftigkeit dargestellt.
Jeder nicht behinderte Mensch kann sprechen, aber nicht alle Menschen können lesen
und schreiben. Art. 62 Demographie der Literalität diskutiert das Problem, wie Litera-
lität ‘gemessen’ werden kann, und gibt eine Reihe von Daten über den Anteil an
Analphabeten in verschiedenen Teilen der Welt. Die f olgenden Art. 63—73 bef assen
sich mit Problemen der Massenalphabetisierung in neuerer Zeit. Nach dem systemati-
sche Probleme aufreißenden Art. 63 Alphabetisierung in der „Dritten Welt” wird auf die
XVI Vorwort

Tätigkeit zweier auf dem Gebiet der Massenalphabetisierung besonders wichtiger Or-
ganisationen eingegangen: Die Alphabetisierungsarbeit der UNESCO (Art. 64) und die
Muttersprachliche Alphabetisierung: Die Arbeit des Summer Institute of Linguistics
(S. I. L.) (Art. 65). Konkretisiert wird dies durch einige Fallstudien: Die sowjetischen
Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung (Art. 66), Alphabetisierung und Literalität
in Äthiopien (Art. 67), Alphabetisierung in Mittel- und Südamerika und der Karibik
(Art. 68), Die chinesischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung (Art. 69), sowie
Die Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Ostasien am Beispiel der nicht
chinesisch sprechenden Völker Chinas (Art. 70). (Die außerdem vorgesehenen Beiträge
zum f rankophonen Af rika und zum Suaheli kamen leider nicht zustande.) Es f olgen
zwei historisch orientierte Beiträge zur Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung
in Deutschland (Art. 71) und in England und Nordamerika (Art. 72). Abgeschlossen wird
der Problemkomplex durch Art. 73 Literalität und Analphabetismus in modernen Indu-
strieländern.
Zu den gesellschaftlichen Aspekten von Schrift und Schriftlichkeit gehören auch Das
System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität und Probleme des Copy-
right (Art. 75), die in den letzten beiden Artikeln des ersten Bandes thematisiert werden.

4.7. Psychologische Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Während in den vorangehenden Kapiteln Aspekte von Schrif t und Schrif tlichkeit
vorwiegend im überindividuellen und gesellschaf tlichen Bezug thematisiert wurden,
werden nun Fragen auf gegrif f en, die den Gebrauch von Schrif tlichkeit durch das
Individuum betref f en. Art. 76 Schriftlichkeit und psychologische Strukturen stellt in
ähnlicher Weise wie die Artikel des Kapitels V dar, welche Einflüsse das Verfügen über
Schrif tlichkeit auf die psychische Organisation hat — auf kognitive und emotionale
Prozesse, auf Lernfähigkeit und Vergessensvorgänge. Art. 77 Produktion und Perzeption
mündlicher und schriftlicher Äußerungen stellt grundsätzliche Eigenarten mündlicher und
schrif tlicher Sprachverarbeitung durch das Individuum gegenüber und arbeitet anhand
rezenter Modelle Unterschiede heraus.
Die nächsten Artikel befassen sich mit dem Leseprozeß. Zunächst wird ein Historisch-
systematischer Aufriß der psychologischen Leseforschung, die als eines der ältesten
Arbeitsgebiete der experimentellen Psychologie gelten kann, gegeben (Art. 78). Die
wichtigsten Forschungsmethoden dieses Gebiets kennzeichnet Art. 79 Methoden der
psychologischen Leseforschung. Eine spezielle Methode ist auf grund der neueren Fort-
schritte ausgegliedert, nämlich die Analyse der Augenbewegungen; Art. 80 Das Blick-
verhalten beim Lesen bietet auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Bef unde mit
dieser Technik. Der folgende Art. 81 Buchstaben- und Worterkennung gilt dem Herzstück
der experimentellen Lesef orschung in den letzten 100 Jahren; im Mittelpunkt stehen
Fragen nach der Größe der Wahrnehmungseinheiten, dem Ausmaß phonologischen
Rekodierens und der Rolle lexikalischer Strukturen. Art. 82 Lesen als Textverarbeitung
bef aßt sich dann mit der Verarbeitung von Texten; neuere Forschungen zum f lüssigen
Lesen und zur Textverarbeitung werden referiert.
Weit weniger als das Lesen ist das Schreiben Gegenstand psychologischer Forschung
gewesen. Art. 83 Historisch-systematischer Aufriß der psychologischen Schreibforschung
gibt einen f undierten Überblick über die ältere Forschung. In Art. 84 Methoden der
Textproduktionsforschung werden die neueren Forschungsmethoden systematisch ref e-
riert. Daran anschließend werden die wichtigsten neueren Modelle des Schreibprozesses
dargestellt; Art. 86 Schreiben als mentaler und sprachlicher Prozeß ist dem Schreibprozeß
in seiner ganzen Komplexität vom Planen bzw. Konzipieren über den sprachlichen
Umsetzungsvorgang bis hin zum Redigieren und der Interaktion der verschiedenen
Einzelprozesse gewidmet.
Vorwort XVII

Ausgegliedert sind hier die exekutiv-motorischen Aspekte des Schreibvorgangs.


Art. 86 Schreiben mit der Hand behandelt die Handschrif t einschließlich der physiolo-
gischen Grundlagen und pathologischer Ausfälle. Der Rückschluß von der Handschrift
auf den Urheber für gerichtliche Zwecke wird in Art. 87 Forensische Handschriftunter-
suchung thematisiert, der Rückschluß auf persönliche Eigenschaften in Art. 88 Grapho-
logie. Auf grund der relativ spärlichen Literaturlage werden in Art. 89 das Maschine-
schreiben und seine forensische Analyse gemeinsam behandelt. Art. 90 Schreiben mit
Computer schließlich kennzeichnet grundsätzliche psychologische Aspekte des Schreib-
prozesses mit diesem neuen Medium.
Einen eigenen Problembereich des Schreibens bildet die Rechtschreibung, die später
in Kapitel VIII nochmals im Bezug auf Erwerbsprobleme thematisiert wird. Art. 91
Psychologische Aspekte des Rechtschreibens behandelt die Rolle der Orthographie beim
Schreiben des Erwachsenen mit einem besonderen Blick auf pathologische Erscheinun-
gen.
Die Artikel 76—91 stützen sich, teilweise durch die Forschungssituation bedingt, auf
Bef unde zu Einzelsprachen — in erster Linie zum Englischen, zum Teil auf Bef unde
zum Deutschen oder zu anderen Sprachen. In den beiden folgenden Artikeln wird diese
Forschungslage grundsätzlich problematisiert. Art. 92 Der Einfluß eines alphabetischen
Schriftsystems auf den Leseprozeß und Art. 93 Crosslinguistische Analysen basaler
Aspekte des Leseprozesses mit besonderer Berücksichtigung nicht-alphabetischer Systeme
diskutieren unterschiedliche Modellierungen anhand experimenteller Befunde. Von ähn-
lichem Interesse für die neuere psychologische Schriftlichkeitsforschung ist die Analyse
von Störungen der schriftlichen Sprachverarbeitung. Art. 94 Störungen der schriftlichen
Sprachtätigkeit behandelt nicht nur den Zusammenhang solcher Störungen mit anderen
Sprachstörungen, sondern auch ihre Analyse im Hinblick auf neuropsychologische
Modellierungen des mentalen Lexikons und der Sprachverarbeitungsprozesse.
4.8. Der Erwerb von Schriftlichkeit
Im achten Kapitel werden verschiedene Aspekte zusammengefaßt, die allesamt etwas
mit dem Erwerb der Schrif tlichkeit zu tun haben, die aber traditionell in sehr unter-
schiedlichen Zusammenhängen behandelt worden sind. Entwicklungspsychologische
Prozesse, sprachliche Lernprozesse sowie methodische und didaktische Überlegungen
zur Vermittlung, schließlich gestörte Erwerbsprozesse — sie werden hier in einen
Zusammenhang gestellt
Es besteht kein Zweif el, daß der Erwerb der basalen (laut)sprachlichen Fähigkeiten
in der f rühen Kindheit weitgehend spontan verläuf t, der Erwerb der Schrif tlichkeit
dagegen in der Regel durch didaktische Zielvorstellungen und methodische Anleitung
gesteuert wird. Dennoch wäre es f alsch anzunehmen, daß in der Schule die Phase
ungesteuerter Lernprozesse einfach durch eine Phase gesteuerter Lernprozesse abgelöst
würde. Tatsächlich werden die Lernprozesse in der Schule stets durch außerschulische
individuelle Lernprozesse begleitet. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sowohl die
individuell-psychischen Aspekte des Erwerbs von Schrif tlichkeit von den didaktisch-
methodischen zu unterscheiden als auch ihren Zusammenhang zu sehen. Die das Kapitel
einleitenden Art. 95 Aspekte des Erwerbs von Schriftlichkeit und seine Reflexion und
Art. 96 Bedingungen der Aneignung und Vermittlung von Lesen und Schreiben diskutieren
solche grundsätzlichen Fragen.
Die Artikel 97—102 behandeln die psychischen Aspekte des Erwerbs der Schriftlich-
keit von den Anfängen bis zur komplexen Entfaltung. Frühes Lesen und Schreiben wird
in Art. 97 besprochen. Die drei folgenden Artikel behandeln die psychischen Prozesse
beim Erwerb der Schrif tlichkeit, die mit den methodisch und didaktisch gesteuerten
Prozessen in der Schule interagieren: Art. 98 Der Erwerb der basalen Lese- und Schreib-
XVIII Vorwort

fertigkeiten, Art. 99 Die Entfaltung der Fähigkeit des Lesens und Art. 100 Die Entfaltung
der Fähigkeit des Schreibens. In Art. 101 Schriftspracherwerb unter Bedingungen der
Mehrsprachigkeit wird die lange Zeit vernachlässigte, heute aber eher normale Situation
besprochen, daß der Erwerb der Lautsprache und der schrif tlichen Sprache sich in
unterschiedlichen Sprachen vollziehen. Schließlich werden in Art. 102 Schrift als Mittel
zum Verbalspracherwerb bei G ehörlosigkeit und einigen Fällen schwerer Spracherwerbs-
störungen Fälle besprochen, in denen der Primärspracherwerb in der schrif tlichen
Modalität erfolgt bzw. durch sie gefördert wird.
In den folgenden Artikeln werden die didaktisch-methodischen Aspekte des Schrif t-
lichkeitserwerbs entfaltet. Während im Rahmen didaktischer Reflexion ein Sachverhalt
als Gegenstand des Unterrichts konstituiert und legitimiert wird, ist es das Ziel metho-
discher Überlegungen, sach- und schülerangemessene Wege der Vermittlung zu ent-
wickeln. Zunächst wird in sechs Artikeln ein systematischer Auf riß des Gegenstandes
gegeben. Zuerst geht es um Aspekte und Probleme des Leseunterrichts, also Erstlesen
(Art. 103), Weiterführendes Lesen (Art. 104) und Literaturunterricht (Art. 105), dann
um Aspekte und Probleme des Schreibunterrichts, also um Erstschreiben (Art. 106),
Rechtschreiben (Art. 107) und um Aufsatzunterricht (Art. 108). Je nach historisch-ge-
sellschaftlichem Kontext, schulischer Tradition, Sprache und Schriftsystem werden sich
die konstituierenden Faktoren unterschiedlich darstellen. Nach zwei historisch orien-
tierenden Artikeln zu Geschichte der Didaktik und Methodik des Leseunterrichts und der
Lektüre (Art. 109) bzw. des Schreib- und Aufsatzunterrichts (Art. 110) werden drei
Beispiele aus anderen soziokulturellen Situationen gegeben (Art. 111—113): Lese- und
Schreibunterricht in englischsprachigen Ländern, im arabischen Sprachraum und in Ost-
asien. — Gegenstand von Art. 114 ist Der außerschulische Erwerb der Schriftlichkeit.
Hier geht es auch um Schreibwerkstätten, Autorenseminare, Lesezirkel, Lesegesellschaf-
ten und Literaturzirkel.
Schwierigkeiten und Störungen im Erwerbsprozeß f allen häuf ig erst im Lauf e der
Schulzeit auf . Die Ursache können sowohl individuelle Lernvoraussetzungen und Ver-
arbeitungsweisen als auch didaktische Entscheidungen und methodische Maßnahmen
sein. Art. 115 Störungen des Erwerbs der Schriftlichkeit enthält einen Überblick über
die wichtigsten entwicklungspsychologischen, pädagogischen und psycholinguistischen
Theorien. Das Kapitel wird abgeschlossen durch einen Beitrag zu Schriftspracherbsstö-
rungen und Lernbehinderungen (Art. 116). Diese Störungen werden gesondert dargestellt,
da sie eine völlig andersgeartete Ätiologie und Symptomatik auf weisen und andere
Therapien erfordern.
4.9. Sprachliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
Nach den sozialen und den psychologischen Aspekten von Schrif t und Schrif tlichkeit
werden im Kapitel IX die sprachlichen Aspekte behandelt. Es handelt sich um Probleme,
die das Schrif tsystem (Art. 117—128), Besonderheiten schrif tlicher Sprache und ihres
Gebrauchs (Art. 129—135) und textuelle Aspekte von Schrif t und Schrif tlichkeit be-
treffen (Art. 136—139).
Das Verhältnis von Sprachsystem und Schriftsystem wird grundsätzlich in Art. 117
erörtert. Es wird diskutiert, ob der Bezug des Schrif tsystems auf die sog. Schreibprin-
zipien aufrechterhalten werden kann oder ob es nicht eher gerechtfertigt ist, die Schrift-
systemanalyse autonom vorzunehmen. In diesen Zusammenhang gehören auch grund-
sätzliche Fragen der Orthographie. In Art. 118 wird das Konzept der Schrifttypologie
systematisch und an einzelnen Beispielen expliziert. Die Frage, in welcher Weise Sprach-
wandel und Schriftlichkeit zusammenhängen, wird in Art. 119 behandelt. Die selten
näher begründete These, daß Schrif tlichkeit immer konservierenden Einf luß hat, wird
dabei ebenso untersucht wie die Frage, welche Konsequenzen voneinander unabhängige
Vorwort XIX

Veränderungen der mündlichen und schrif tlichen Sprache auf das Sprachsystem ins-
gesamt haben.
Gegenstand der folgenden Artikel sind eine Reihe derzeit im Gebrauch bef indlicher
Schrif tsysteme mit ihrem Bezug zu anderen Teilen des Sprachsystems (Phonologie,
Morphologie, Syntax etc.). Die Auswahl der behandelten Systeme folgt der Zielsetzung,
besonders deutliche Vertreter bestimmter Schrif ttypen mit großer Verbreitung darzu-
stellen. Als logographisches System wird Das chinesische (Art. 120), als wort-silbisches
System Das japanische Schriftsystem (Art. 121) vorgestellt. Von den drei Haupttypen
alphabetischer Systeme wird das indische Devanagari-Schriftsystem (Art. 122) als Ver-
treter der Silbenalphabete erläutert, Das arabische Schriftsystem (Art. 123) als Beispiel
eines Konsonantenalphabets. Das Spannungsf eld phonologisch f lacher und tief er al-
phabetischer Systeme im engeren Sinne wird umrissen durch Beschreibungen der ver-
breitetsten Systeme. Das spanische Schriftsystem (Art. 124), das als sehr flach angesehen
werden kann, und das englische (Art. 125) als ein stark morphologisiertes System
kennzeichnen dabei Extremfälle, zwischen denen das französische (Art. 126) und Das
deutsche Schriftsystem (Art. 127) anzusiedeln sind. (Vorgesehene Artikel zum russischen
Schriftsystem und zur schriftlichen Sprache im Russischen kamen leider nicht zustande.)
Alle diese Systeme sind jedoch auch in anderer Hinsicht unterschiedlich, z. B. in bezug
auf Groß- und Kleinschreibung, die Schreibung f remder Wörter etc. Bislang wenig
thematisiert sind Probleme der Interpunktion, die in Art. 128 mit Schwergewicht auf
dem Deutschen behandelt werden.
Der zweite Teil des Kapitels ist der Sprache gewidmet, die in schrif tlichen Texten
gebraucht wird, der sog. schrif tlichen Sprache. Die hier behandelten Ausdrucksformen
sind zwar nur selten ausschließlich auf schriftliche Texte beschränkt, doch zeichnen sie
sich dadurch aus, daß sie sich f ür den Gebrauch in schrif tlichen Texten besonders
anbieten und deshalb dort auch besonders häuf ig verwendet werden. Besonderheiten
des schriftlichen Sprachgebrauchs finden sich in der Morphologie, der Lexik, der Syntax
und der Semantik. Unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Gegebenheiten
werden in den Artikeln 129—134 Die schriftliche Sprache im Chinesischen, Japanischen,
Arabischen, Französischen, Englischen und im Deutschen beschrieben. Ein spezifisches
Merkmal schrif tlicher Sprache ist das Auf treten von Abkürzungen. Art. 135 behandelt
verschiedene Typen von Abkürzungskonventionen in einigen westeuropäischen Spra-
chen und ihre historische Entwicklung.
Den textuellen Aspekten von Schrif tlichkeit ist der dritte Teil des Kapitels IX
gewidmet. Fragt man nach den Bedingungen der Möglichkeit schrif tlicher Texte, so
sind konstitutive Eigenschaf ten ihrer Organisiertheit und deren Folgen wie Linearität,
Diskretheit der Zeichen, aber auch Intertextualität u. a. m. darzustellen (Art. 136 Die
Konstitution schriftlicher Texte ). Fragt man nach der Produktion (Art. 137) und Rezep-
tion sprachlicher Texte (Art. 138), so wird die Aufmerksamkeit auf die von der Schrift-
lichkeit des Textes determinierten Prozesse und Aktivitäten gelenkt, die bei der For-
mulierung und Gestaltung schrif tlicher Texte sowie ihrer Lektüre und Interpretation
beteiligt sind. Fragt man nach der Geformtheit schrif tlicher Texte, so sind Textmuster
oder Textsorten anzuf ühren, insofern sie schrif tlich gebraucht werden; sei es, daß ihre
Verwendung ausschließlich schriftlich erfolgt wie das etwa beim Brief, beim Telegramm
oder bei der wissenschaftlichen Abhandlung der Fall ist, sei es, daß sie sowohl schriftlich
als auch mündlich gebraucht werden wie etwa die Erzählung. (Der hier vorgesehene
Artikel zu den Formen schriftlicher Texte kam leider nicht zustande.)
Der Begriff des Stils wird vornehmlich auf schriftliche Texte, aber nie klar auf diese
allein bezogen. So werden in Stilistiken nicht nur Aspekte schriftlicher Texte behandelt,
sondern auch Fragen des mündlichen Sprachgebrauchs und der Kommunikation. Weil
aber die Stilistik seit jeher in einem engen Zusammenhang zum Schreiben und zur
Schriftlichkeit gesehen worden ist, wird sie in einem eigenen Artikel behandelt (Art. 139
Stilistik als Theorie des schriftlichen Sprachgebrauchs ).
XX Vorwort

4.10. Sonderschriften
Durchaus heterogen ist der Gegenstand des letzten Kapitels, das sich sowohl mit von
Schrif t abgeleiteten schrif tartigen Zeichensystemen wie Stenographien oder Geheim-
schrif ten bef aßt wie auch mit Übertragungen in andere Medien sowie dem modernen
Schrift„ersatz” durch Piktogramme.
Systematisch vergleicht Art. 140 Schrift und Notation zwei Konzeptionen, Schrift von
anderen Notationssystemen abzugrenzen. Den in f ast allen Schrif ten beobachtbaren
Sachverhalt der Verwendung von Schrif tzeichen für mathematische und für Ordnungs-
zwecke stellt Art. 141 Schrift als Zahlen- und Ordnungssystem in historisch-systemati-
schem Auf riß dar. Ein anderes, nicht als Schrif t zu bezeichnendes Notationssystem ist
die Phonetische Transkription, die in Art. 142 behandelt wird.
Durchweg systematisch anders gelagert sind die Gegenstände der folgenden Artikel,
in denen es um die Umsetzung von Schriftzeichenfolgen in andere Zeichenfolgen geht.
Art. 143 behandelt die Techniken der Transliteration, d. h. der Umsetzung von Schrift-
zeichen einer Schrift in Schriftzeichen einer anderen. Art. 144 Stenographie stellt deren
Grundprinzipien und die wichtigsten Systeme dar. Die Verwendung schriftlicher Zeichen
als Mittel geheimer bzw. verschlüsselter Kommunikation ist Gegenstand von Art. 145
Geheimschriften. Hier werden Techniken, Geschichte und Medien von Geheimschriften
erläutert. Die f olgenden Artikel behandeln weitere Transf ormationen, nämlich die
Blindenschrift Braille (Art. 146), d. h. die Überf ührung der Schrif tzeichen aus der vi-
suellen in die haptische Dimension, Fingeralphabete (Art. 147), d. h. die Überführung
der dauerhaf ten Schrif tzeichen in die f lüchtige Bewegung zur Verständigung bei Ge-
hörlosigkeit, sowie die Technische Kodierung (Art. 148), d. h. die Kodierung von Schrift-
zeichen für den Gebrauch im Computer.
Im letzten Artikel des Handbuchs schließlich wird auf Moderne Piktographie, diese
neue Form visueller Inf ormation, eingegangen und gef ragt, inwieweit es sich hierbei
um Schriftersatz handelt (Art. 149).

5. Zur Einrichtung der Artikel


Die Grundsätze, nach denen die einzelnen Artikel eingerichtet sind, unterscheiden sich
kaum von denen anderer Handbücher der Reihe. Jeder Artikel soll f ür sich allein
verständlich sein und darum alle Informationen enthalten, die notwendig sind, um das
jeweilige Phänomen zu erkennen und die bereits vorliegenden, aber auch weitere
mögliche Problemlösungen verständlich werden zu lassen. Überschneidungen zwischen
einzelnen Artikeln werden daher in Kauf genommen; Berührungspunkte werden durch
von den Herausgebern eingef ügte Querverweise angezeigt. Die Literaturangaben be-
rücksichtigen vornehmlich die neueren Arbeiten; von den älteren werden nur die
wichtigsten angeführt. Bibliographische Vollständigkeit wird also nicht angestrebt.
Es gibt jedoch einige Besonderheiten des Handbuchs, die sich primär aus der schon
in Zf . 2 genannten Perspektive der Interdisziplinarität ergeben. Ein großer Teil der
Beiträger ist nicht der Zunf t der Sprach- und Kommunikationswissenschaf tler zuzu-
rechnen, sondern wirkt in ganz anderen Arbeitszusammenhängen. Das sich daraus
ergebende Problem höchst unterschiedlicher Begrif f lichkeiten und Terminologien war
(zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht durch eine Vorgabe zu lösen (s. o. Zf. 3). Deshalb
war es auch nicht zu vermeiden, daß in den einzelnen Kapiteln jeweils eigene Begriff-
lichkeiten und Terminologien verwendet werden; teilweise bestehen solche Unterschiede
sogar zwischen zwei Nachbarartikeln eines Kapitels. Soweit es möglich war, haben die
Herausgeber deshalb darauf geachtet, daß Begriffe, die in unterschiedlichen Disziplinen
Vorwort XXI

Verschiedenes bedeuten, jeweils quasi def initorisch eingef ührt werden, sofern sich die
intendierte Lesart nicht von selbst ergibt; im übrigen wird auf Zf. 3 oben verwiesen.
Der Versuch echter Interdisziplinarität strahlt aber auch auf die theoretischen Ansätze
aus, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen kann es nicht ausbleiben, daß in zwei
Beiträgen sich gegenseitig mehr oder weniger ausschließende Theorien vertreten werden.
Das gilt beispielsweise für die Position der Dependenz der Schrift von der Lautsprache
auf der einen Seite gegenüber der Autonomieposition auf der anderen. Dies entspricht
dem Stand der Forschung und dem Problem des bislang f ehlenden interdisziplinären
Austauschs. Die Herausgeber haben sich bemüht, in Bereichen, wo dies absehbar war,
möglichst jeweils alle in der Forschung vertretenen Positionen durch einen Artikel zu
besetzen.
Vielleicht noch gravierender ist die lückenhafte Kenntnis jeweils fachexterner Grund-
lagen. In vielen Beiträgen der Kapitel VII und VIII etwa sind die den psychologischen,
entwicklungspsychologischen und pädagogischen Ausf ührungen zugrundegelegten lin-
guistischen Konzepte sehr of t nur als naiv zu bezeichnen. Auch dies entspricht dem
Stand der Forschung. In eklatanten Fällen haben die Herausgeber Autoren auf solche
Punkte aufmerksam gemacht, nicht immer war die Reaktion wirklich zufriedenstellend.
Es kann aber auch nicht erwartet werden, daß ein gewünschtes Ergebnis des Handbuchs,
nämlich die Intensivierung interdisziplinären Austauschs, schon im Handbuch selbst
vollständig realisiert ist.
Weil den Herausgebern diese Problematik bewußt war, ist besonderes Augenmerk
auf das Register gelegt worden. Die Verweistechnik ist an Ort und Stelle erläutert. Es
empf iehlt sich, gerade in Fällen abweichender Theorie- und Begrif f sbildung dieses
Instrument intensiv zu nutzen.

6. Danksagungen
Wenn der erste Band dieses Handbuchs erscheint, wird es die Herausgeber mehr als 10
Jahre beschäf tigt haben. Nach f ünf jähriger Arbeit ist die Konzeption des Handbuchs
1988 veröffentlicht vorgestellt worden, worauf uns zahlreiche Anregungen und Hinweise
erreichten, die zu Verbesserungen und Ergänzungen bis hin zur Einrichtung weiterer
Artikel gef ührt haben. Die ersten Einladungen an Autoren wurden Anf ang 1990
verschickt; auch von ihnen kamen Vorschläge. Geplant und betreut wurde das Werk
von einer Gruppe von Wissenschaf tlern aus verschiedenen Disziplinen, der Studien-
gruppe Geschriebene Sprache . Die Gruppe hat sich 1981 konstituiert und tagt seitdem
zweimal jährlich in Bad Homburg in der Werner Reimers Stif tung. Die Stif tung hat
die Arbeit der Gruppe insgesamt und die Arbeit am Handbuch speziell durch all die
Jahre hindurch engagiert gef ördert. Der erste Dank der Herausgeber gilt deshalb den
Mitarbeitern der Stif tung und ihrem wissenschaf tlichen Beirat — ohne sie wäre das
Werk nicht zustandegekommen.
An der Idee zu diesem Handbuch, seiner f ormalen und inhaltlichen Ausgestaltung
sowie der Betreuung einzelner Artikel und ganzer Kapitel haben alle Mitglieder der
Studiengruppe mitgewirkt: Jürgen Baurmann (Wuppertal), Florian Coulmas (Tokyo),
Konrad Ehlich (München), Peter Eisenberg (Potsdam), Heinz W. Giese (Ludwigsburg),
Helmut Glück (Bamberg), Hartmut Günther (Innsbruck), Klaus B. Günther (Ham-
burg), Ulrich Knoop (Marburg), Otto Ludwig (Hannover), Bernd Pompino-Marschall
(Berlin), Eckart Scheerer (Oldenburg) und Rüdiger Weingarten (Bielefeld) sowie auch
Peter Rück (Marburg) und Claus Wallesch (Freiburg), die inzwischen ausgeschieden
sind. Die beiden Hauptherausgeber danken ihren Kollegen; ohne sie wäre es nicht
möglich gewesen, auf dem so weiten, heterogenen, unstrukturierten interdisziplinären
Feld Schrift und Schriftlichkeit ein Handbuch entstehen zu lassen.
XXII

Zu danken haben wir alle, Hauptherausgeber wie Mitherausgeber, den vielen Auto-
rinnen und Autoren der einzelnen Artikel f ür ihre Bereitschaf t, auf diesem dornigen
Feld überhaupt einen Artikel zu übernehmen, für die Mühe, die sie sich bei den Artikeln
gemacht haben, und f ür ihren Langmut, unsere Bedenken, Einwände und Änderungs-
vorschläge anzuhören und dort, wo sie es vermochten, diese in ihr Manuskript einzu-
arbeiten. Besonders zu danken haben wir denjenigen Autorinnen und Autoren, die im
letzten Moment kurzf ristig f ür andere eingesprungen sind, und den zahlreichen Kolle-
gen, die uns bei der Suche nach solchen last minute Autoren behilf lich waren.
Wir danken den Herausgebern der Handbuchreihe, den Kollegen Hugo Steger und
Herbert Ernst Wiegand, für ihre Unvoreingenommenheit gegenüber dem Plan, in dieser
Reihe ein Handbuch zu einem noch nicht endgültig etablierten Forschungsgebiet her-
auszugeben, und für ihre stets fürsorgliche Begleitung der Arbeit, sowie dem Verlag de
Gruyter und seinen Mitarbeiterinnen, vor allem Christiane Bowinkelmann, Christiane
Graefe, Angelika Hermann, Heike Plank, Susanne Rade, Dr. Brigitte Schöning, sowie
Prof essor Dr. Heinz Wenzel, f ür die sorgf ältige Vorbereitung und Durchf ührung des
Druckes.
Schließlich danken wir Frau Dr. Jutta Becher f ür ihren Einsatz bei der mühseligen
Arbeit, die Struktur dieses so heterogen wirkenden Feldes in den beiden umfangreichen
Registern deutlich werden zu lassen.

Hartmut Günther, Innsbruck (Österreich)


Otto Ludwig, Hannover (Deutschland)
XXVII

Preface
1. Subject
A mere glance at the many expressions pertaining to Writing and Its Use indicates how
ubiquitous writing is in our daily lives and the great significance that it has been given
throughout the ages. Latin scholars called it scripta manent . T he student in Goethe’s
Faust thought that ... anything we have in black and white is ours to take away and call
our own (T RANS . P. W AYNE ). Till heaven and earth pass, one jot or one tittle shall in no
wise pass from the law ... (Mt 5:18 KJV ) and ... of making many books there is no end ...
(Eccles 12:12 KJV ), yet ... the letter killeth, but the spirit giveth life. (2 Cor 3:6 KJV ).
With sola scriptura as a battle cry, Martin Luther crusaded against the ruling church;
of course he didn’t use the language of a man of letters, wanting to avoid sounding
like a walking encyclopedia. But sometimes you can’t judge a book by its cover and have
to read between the lines to set the record straight. In my book, it would be a red-letter
day if you could see the writing on the wall. The bottom line is that you can swear on
the Bible that people sometimes don’t go by the book. And then, alpha and omega are
the epitome of beginning and end — and there are countless other expressions one
could think of, from A to Z. It’s as easy as ABC .
Writing and Its Use is certainly a broad field. Script: that includes handwriting,
printing, cuneiform script; it is also characters representing words, syllables, and letters
of an alphabet; it is uncial, roman, and Gothic scripts; it is the Latin and Arabic
alphabets, and Chinese characters; it is Garamond, T imes, Futura typefaces. Scripts,
the total inventory of signs used in writing, is a broad field in itself, though it represents
the lowest common denominator, so to speak, of that which is the subject of this
handbook.
The more comprehensive expression is the German term Schriftlichkeit , which trans-
lates into English as a variety of concepts ranging from the rendering of linguistic
utterances in written form to literacy to the function and use of writing in society. This
includes anything and everything that can be modified by the words ‘written’ or ‘literate.’
It is anything comprised of writing; it is also the necessary outcome of writing; anything
influenced or brought into being by writing — things, concepts, human beings, societies,
cultures. Messages, news, invitations, lectures, and speeches can all exist in written
form anywhere that writing is used. Societies and cultures are literate ones provided
they have access to writing and central social transactions are carried out through
written means.
The extent to which individuals can participate in the processes of writing determines
their social status to a large extent. Wherever this is not already the case, literacy
processes will continue in the future to be the focus of encounters and conflicts of
many kinds. Migration of peoples throughout the world and the internationalization
of diverse social processes and organizations are causing a shift in the relationship
between speaking and writing, hearing and reading. Gaining access to Writing and Its
Use is becoming increasingly difficult for many people. And the development of
electronic media represents not the end of written communication, but a profound
change in its forms.
XXVIII Preface

T he main product of Writing and Its Use is the written text. Written texts surround
us day in and day out; they regulate our daily lives, intervening in the course of events,
offering us ways of expression, and making our lives more complex. We are guided by
written texts in planning our lives. T his concerns not only the composition, form, and
function of written texts, but the activities of people who produce and process them,
that is, writing and reading. We are involved with the acquisition of these skills in
schools. We deal with the impact of reading and writing on our private and public
lives, with the importance of written texts in culture, language, thought, and individual
behavior.
The subject of this handbook is indeed so broad. It includes all peoples and individuals
that use and have made use of writing; all languages that have developed not only a
spoken form, but a written one as well; all groups and individuals whose lives are or
have been organized by their use of writing or written texts, to whatever extent.

2. Research Developments and Objectives


Due to the diversity and heterogeneity of the subject areas, a number of different
scientific disciplines need to be involved in studying them: philosophy and anthropology,
linguistics and literary studies, sociology, psychology, education, history — to mention
merely a few. The subject Writing and Its Use is characterized differently according to
the respective discipline. For historians, for example, written documents are historical
documents per se. Prehistory is thus defined as the time from which no contemporary
sources exist in written form. Art history deals specifically with the form and aesthetics
of writing and script through the ages; social history, with its social function. For
sociologists, writing is significant in terms of the many ways it serves as a constitutive
force in social communities. T he part that writing plays in cognitive processes is an
important research area for psychologists, and researchers in the fields of both psy-
chology and medicine share interest in the case of language disorders related to writing.
The findings of each of the respective scientific disciplines are by no means all given
the same weight; nor do they all contribute to the same extent to the research
developments of a given discipline as a whole. The discussion in the field of linguistics
can serve as an example in this regard. A differentiation between writing, speech, and
language was avoided by research for a long time. In the early twentieth century, when
a distinction of this kind was recognized as necessary, the spoken language was given
systematic priority. Writing and written language was considered to represent a sec-
ondary and subordinate phenomenon, and at the most it remained on the periphery of
linguistic research. Many linguists still do not believe that there are theoretically
significant phenomena in written language that cannot be traced back to aspects of
spoken language. The fact is, however, in examining language — even spoken language
— reference has been and is made to written or transcribed texts. Oral language and
written language thus could not be satisfactorily distinguished from one another; there
has been no sufficiently thorough description of Writing and Its Use, and the relation-
ships to speech and spoken language have not yet been adequately determined.
T his survey brings a central problem to light: due to their central role in forming
and structuring modern societies, individual aspects of Writing and Its Use are dealt
with in many different disciplines. The form which research takes in a given discipline
reflects the theories and methods relevant to the respective field; the findings are thus
tied to these individual theories and methods. Each discipline studies a given aspect of
Writing and Its Use, and a relatively complete picture can only emerge when all of
them are combined in some way. In this sense, Writing and Its Use is an interdisciplinary
subject, and research needs to take this into account.
Preface XXIX

Up to now, research has only shown signs of such an interdisciplinary approach. It


can be said that the study of Writing and Its Use has been restricted to isolated research
interests of the individual scientific disciplines. Writing and Its Use has thus never
become a research subject in its own right, which is why as yet there is neither a unified
theory nor has there been an interdisciplinary exchange of theories, problems, and
research methods. T he few compendia or handbooks which do exist in this field deal
only with individual aspects and specific subtopics. This handbook is therefore the first
of its kind.
Very much in keeping with the aims of the entire HSK series of handbooks on
linguistics and communication sciences, the present handbook is intended for students,
teachers and researchers, as well as for anyone who, for any reason whatsoever, is
interested in a comprehensive, structured survey of hypotheses, methods and theoretical
approaches in the area of Writing and Its Use .
In concrete terms, that involved preparing a comprehensive inventory, first of all, to
gain an overview of the subject and the approaches to the problem. Furthermore, all
these individual parts had to be compiled and combined, to order the material in such
a way as to facilitate the assignment of each part to a particular section of the handbook
and to reveal the relationships between the respective parts. In other words, the material
had to be structured. Finally, the various parts had to be balanced out against each
other, in order to prevent any major imbalances from arising. T his task turned out to
be a particularly difficult one, as certain areas have been subjects of intense research
for quite some time already, such as the history of scripts and writing systems, and
others have not been studied much at all, such as the history of reading and writing as
processes.
A systematically structured outline of the entire field makes it possible to discover
existing research gaps and draw attention to fundamental deficiencies. It cannot be the
task of this handbook to close these gaps or eliminate these deficiencies. Nevertheless,
the editors have very much considered it their obligation, and that of all the authors,
to make the substantial heterogeneity of the subject visible, presenting the various
approaches that have developed in the different sciences, and pointing out existing
theoretical deficiencies. In this way, the editors hope to contribute toward a more
unified and comprehensive treatment of the subject.

3. Conceptuality
The ubiquity of Writing and Its Use tends to blur the perceptive and conceptual clarity,
as is the case with many fundamental concepts used by very different sciences. It is
therefore not surprising that a uniform conceptuality is lacking, and thus no generally
accepted terminology in the area of writing and literacy exists. A large number of
expressions commonly used in the scientific discourse concerning Writing and Its Use
have their roots in colloquial language and their meanings often differ only slightly
from the common usage. T here is only a very small percentage of expressions which
could be regarded as purely specialized terminology.
Uniform concepts and generally accepted terminology can of course only exist to
the extent that a theory of Writing and Its Use or an integrated theory of all its aspects
is available. T his is true only in certain areas. T he question also remains what would
comprise such an „interdisciplinary theory.” For this reason, suggestions are not made
in the following for uniform conceptualization, not to mention the standardization of
terminology in the field of Writing and Its Use. T he collection of articles in this
handbook are thus not to be subjected to any uniform language use. Rather, the
following notes aim to provide a general orientation with respect to the different
XXX Preface

connotations that are associated with certain expressions in the scientific literature. The
present state of research on Writing and Its Use makes it inevitable that each article
use its own set of concepts, so that the same expression can have different connotations,
depending on the article and context in which it appears. The only concepts mentioned
immediately following are those presupposed in the 149 articles of this handbook. The
conceptual interpretation of particular aspects will then be explicated in the articles
themselves.

3.1. Writing, Script (Schrift)


T he most general term with which to speak about the subject of this handbook is
writing . Many different ways of using the word as a noun may be distinguished, i. e.
expressions like Writing is the most important invention of mankind, Writing differs from
speech, Chinese writing looks beautiful, the writings of Plato . In common and scientific
usage alike, the expression can refer to the entire field of Writing and Its Use as well
as to particular aspects such as the written language, characteristics of written signs,
or written documents.
T his very general use of the English word writing is similar to that of the German
word Schrift (see the German VORWORT to this handbook p. VIII). However, the
basic meaning of German Schrift, i. e. „set of characters,” is usually rendered by script
in English; script, however, is also used for handwriting as opposed to print. Because
of these systematic ambiguities of writing and script and their German counterpart
Schrift, their precise meaning can be only determined by context.
In the English title of this handbook, we try to catch the very wide use of the noun
writing; by the addition of and its use we attempt to make clear that also the verbal
reading of the word is intended, i. e. the individual and social processing of writing.

3.2. Literacy (Schriftlichkeit; Literalität)


Literacy, like writing, is a term with very different applications; however, it relates
only
partially to the German term Schriftlichkeit. Schriftlichkeit includes everything that can
be modified by the word written or literate. T he expression is used to refer to the
following:
(1) Texts that either arise as a condition of the written medium or are marked by a certain way
of conceiving, composing or formulating a text
(2) Persons who can read and write and/or have access to knowledge passed down in canonical
writings (in Latin litteratus )
(3) Conditions of society which are not only characterized by the fact that representative segments
of the population can read and write; rather, that social life in general is influenced by forms
of written communication
(4) Cultures in which important institutions such as religion make reference to written texts, the
acquisition of the ability ro read and write is a goal of education, or reading and writing
influences the thought and behavior of the people.
T he choice of Schriftlichkeit as a major heading seems to be a German peculiarity.
As for literacy , its main application is in (2) and (3) above. Interestingly, it seems that,
on the one hand, the present use of German Schriftlichkeit can be traced back to the
English opposition of literacy vs orality in its general sense. On the other hand, the
English dichotomy is very often rendered in German by the rather artificial coinings
Literalität vs Oralität. T his leads quite often to a lack of clarity in German, as the
expressions Literalität and Schriftlichkeit , corresponding approximately to literacy and
writing , cannot always be used interchangeably. In English, again only the context can
determine if a more precise meaning of literacy is intended.
Preface XXXI

3.3. Written Language (Schriftliche Sprache)


In addition to writing, the expression written language is sometimes used either as a
major heading for the entire conceptual field or for a specific aspect of the field. Five
different approaches can be identified in scientific literature with respect to differentiated
use of the expression.
(1) Written language as a linguistic means of structuring texts. In this sense, no distinction is
made between the form of a written utterance and the linguistic means used in producing it.
The expression is no longer used in this way in linguistic literature, although it does appear
in other disciplines, above all in literary studies.
(2) Written language as a selection of linguistic means chosen under functional points of view
(stylistic concept). One also speaks of variation, styles of speech, and registers. This aspect
does not deal with specific qualities of texts, but with the linguistic means used in written
utterances/texts (i. e., morphological, lexical, syntactic, pragmatic). This concept is widely
used in recent linguistic research.
(3) Written language as the written form of a language (glossematic concept). This concept is
based on the fact that many languages exist in two forms of expression — a spoken one and
a written one — but that both together are seen as representing one language.
(4) Written language as the written norm of the language (functional concept). The structuralists
of the Prague School, who developed this concept, distinguished between the functions of
written and spoken utterances and texts, and based on this, inferred the existence of two sets
of norms for a specific language.
(5) Written language as the language used for reading and writing. This concept is not based on
the relationship between oral (spoken) and written language, but on the relationship between
a language and the individuals who use it. A different language is used for writing than the
one used for speaking. It is precisely this language that is referred to as written language.
Particularly with regard to this expression, it is important to mention that its meaning
can vary even within a single article.

3.4. Writing System, Orthography (Schriftsystem, Orthographie)


Because of the ambiguity of the expressions writing and written language, some concepts
have been defined more rigidly in the past few decades, particularly in the field of
linguistics; to some extent they are defined less rigidly in other sciences and in
colloquial
usage.
T he way in which languages are put into writing varies from language to language.
In logographic writing systems, the characters refer approximately to words or mor-
phemes; in syllabographic systems to syllables; in alphabetical systems to minimal units
of the sound system. In a linguistic context, the term script type or type of writing
system denotes the way a language is put in written form, according to the prevailing
size of linguistic units. A systematic relationship often exists between the language type
(isolating, agglutinative, inflectional) and the script type.
In individual languages, the signs belonging to a script type are then used in different
ways. The writing system (Schriftsystem) of a language determines the form of written
utterances. In addition to the relationship between the sound units and the written
signs, this includes punctuation, the differentiation between upper and lower case, and
conventions for the form of written utterances and texts (letters, essays), etc. T here is
a narrower interpretation, according to which the term writing system is limited to the
subordinate level of phoneme-grapheme correspondence. Linguistic research on written
language systems has been largely limited to this area in the past. Various authors call
this graphemics (Graphemik), a term used by others to refer to research on writing in
general. Within certain theories, the term writing system is used in a very strict sense;
in other approaches, the term is used for anything referring in a linguistic sense to
writing and written language.
XXXII Preface

Most modern writing systems include certain codifications, that is, a prescriptive set
of rules defining a norm for writing. Such a code is referred to as orthography. It
determines whether a written utterance is correct or not, i. e., it is a prescriptive form
of describing a writing system. Regarding regularities in writing for which no prescrip-
tive codification exists, the term sometimes used is spelling (Graphie).
The distinction among writing system, spelling and orthography in scientific language
use is normally only made by linguists and philologists. Cognitive psychology and
educational literature, for instance, rarely differentiate between these terms.

3.5. Character, Grapheme (Schriftzeichen, Graphem)


The concepts script, script type, and writing system are based on the notion that written
language is served by a limited inventory of elements which can be referred to in a
theoretically neutral sense as characters . T his concept has the advantage of being a
broader term than letter or grapheme, and it can be applied to different script types
and writing systems: letters of Latin or Greek alphabets, Japanese kana, and Chinese
hanzi are all characters in this sense.
T he subset of characters which are combined to form meaningful units in syllabo-
graphic or alphabetical systems are called graphemes . Similar to the term phoneme,
grapheme also refers to a theory-dependent theoretical construct. T his involves two
opposing conceptions: first, the older use of the term grapheme denotes those characters
or character combinations through which phonemes of the spoken language are ren-
dered in writing. The more recent concept defines grapheme in a purely distributional
sense as the smallest meaningful unit of the written form of a language, without regard
to phonology. Outside of the field of linguistics, use of the term grapheme cannot be
assumed to signify a specific connotation; it is often simply used to denote a character
or a letter.

3.6. Writing, Reading, Text (Schreiben, Lesen, Text)


These terms are defined most flexibly of all terminology related to this field. In this
handbook, they are used to denote a wide variety of concepts. For this reason it makes
sense to describe the main differences in the possible uses.
T he verbal reading of writing has three meanings in colloquial usage:
(1) The process of putting characters, particularly letters and numbers, on paper
(2) The process of putting something meaningful, as a text, on paper; to put in written form
(3) To be active as a writer
There is a definite semantic relationship among these meanings: No. 3 implies no. 2,
and no. 2 implies no. 1. It is not always clear which of these meanings is intended; it
is difficult to know what is meant by, for example, learning to write . For this reason,
an unambiguous expression is being used more and more in scientific literature to
express no. 2.: the production of written utterances or texts . This denotes all activities
with the common goal of creating a written utterance or text, from the notion of its
thematic, compositional and linguistic development up to the formulation, recording,
editing and publication of the work. One might also say that the term writing can be
used both in a more narrow sense (no. 1) and a broader sense (no. 2). It is of utmost
importance to determine which sense of writing is meant with respect to discussion in
many areas, for example, in defining the term functional literacy .
Similarly, there is a narrow and a broader meaning of reading . T he narrow sense
refers to all processes that are involved in reading in any form. T his includes eye
movements as well as the related cognitive processes of letter and word recognition
and their integration into sentences, i. e., the conversion of written utterances into
Preface XXXIII

mental, linguistic representations. Reading in the broader sense can be described


analogous to writing as the reception of texts. The reading process in this sense includes
the structuring of text information into individual knowledge inventories, the critical
evaluation of this information, comprehension of unknown information, affective and
cognitive assessment of the language used, the relationship to the author and/or the
subject matter of the text, etc.
In the process of writing, written utterances are produced; the process of reading
involves the reception of such utterances. Sometimes, all linguistic utterances are
referred to as text in linguistics research. Such an expansion of the concept is uncommon
in everyday usage, in which the reference of the term to written material is essential
(in this sense, the expression „oral text” would be a contradiction in terms). In text
linguistics, utterances (usually written) are considered texts only if they satisfy the
conditions of coherence, intention, isolation, cohesion, etc. Certain pragmatic concep-
tions refer to texts as the outcome of an extended („zerdehnte”) speaking situation; in
this sense it is not the written state that makes an utterance a text, but its isolability.
In the absence of any more specific conditions, the expression written utterance is
intended in a more neutral sense.

4. Structural Organization of the Handbook


In the organization of the handbook, the editors payed particular attention to the
criterion of establishing clearly discernible subject areas. As a result, there is no chapter
on cultural studies, yet there is one on literate cultures, and another relating to social
aspects. Similarly, there is a chapter that deals with language per se, but not linguistic
studies. T his is the only way to adequately define the systematic relations between
interdisciplinary aspects of Writing and Its Use (Schrift und Schriftlichkeit).
T his orientation influenced the form as well as the placement of each individual
chapter. T he global and general aspects of the subject matter presented in chapter I
are followed by the presentation of issues dealing with the material constitution of
writing in the broadest sense (chapter II). Chapter III covers the history of writing.
This chapter precedes the other appropriately arranged sections, to some extent due to
the fact that the history of writing has been a topic of interest for quite some time
already, therefore representing the section of the handbook that has been researched
most extensively.
Chapters IV and V present the major aspects of a literature culture in terms of
cultural regions and social functionality. Chapter VI then deals with social aspects, and
chapter VII with psychological ones. Issues relating to the acquisition of reading and
writing skills, including educational aspects are discussed in chapter VIII. Chapter IX
presents linguistic aspects of Writing and Its Use . Hence, the important aspects of the
subject are arranged from top to bottom, so to speak: it begins with culture as the
most global aspect and branches out to the specific linguistic manifestations. Chapter
X is also part of this development, including special writing systems. An extensive
index will show the interdisciplinary references on a micro level.
Following is a brief description of the arrangement of the articles in the individual
chapters.

4.1. General Aspects of Writing and Its Use


In the first chapter, interdisciplinary foundations of research on Writing and Its Use
are presented. Art. 1 Orality and Literacy discusses modern approaches to defining the
relationship between spoken and written language. With respect to the distinction
XXXIV Preface

between a medial and a conceptional dimension, long-standing issues of the relationship


between spoken and written language, between orality and literacy are relativized and
new perspectives are developed. The subject of art. 2 Function and Structure of Written
Communication is all forms of linguistic activity in which written means are used to aid
comprehension between communication partners. T he elementary structures of the
written form of linguistic communication are described and its social consequences are
discussed, particularly with regard to further applications. Basic aspects of a semiotic
analysis of writing and written language, the relationship to spoken language and to
other sign and notation systems are discussed in art. 3 Semiotic Aspects of Writing .
T he remaining articles of the first chapter take a historical perspective. Art. 4 The
History of Writing and art. 5 The History of Reading deal with the two fundamental
processes involved in written communication. T he writing process results in a written
text and the reading process always presupposes the existence of a text. T hese written
texts have taken various forms in the course of history. Art. 6 The History of the Book
characterizes the development from written texts to books and beyond. Art. 7 History
of the Reflection on Writing and Its Use provides an overview of historical developments,
helping to shed light on the diverse explicit and implicit prerequisites for the scientific
treatment of the relationship between orality and literacy.

4.2. Material and Formal Aspects of Writing and Its Use


What matters most in the difference between speech and writing is matter, i. e. different
materiality. Spoken utterances are produced auditively by organs developed for that
purpose. T hey extend for a duration, but last only for a temporary period of time.
Written utterances are produced with tools for the visual dimension. They extend over
space and are not temporary. T hese fundamental qualities of written utterances and
texts are the basis for the structural differences between written and oral utterances.
Art. 8 Traditional Writing Materials and Techniques presents a description of the most
important writing instruments, materials, and techniques in the pretypographical age.
Art. 9 then follows with a presentation of modern Electronic Reading and Writing
Technology, with reference to the individual reader and writer dealing with these
techniques.
T he lastingness of written texts makes it possible to preserve them over time. T his
also leads to corresponding problems in locating information. Art. 10 Archiving of
Written Texts deals with traditional methods and art. 11 Data Bases with modern
computer-aided techniques and their relationship to writing.
Special formal aspects of written utterances are among the results of the organization
of writing over space. In art. 12 The Development of Letter Forms in Western Alphabets,
the development of the modern roman script from its Semitic-Greek origins is syste-
matically reconstructed from paleographic and cognitive perspectives. T he most im-
portant prototypes from the occidental sphere such as monumental script, uncials,
Carolingian minuscules, etc. are discussed in detail. T he material innovations and
technical changes that came with the printing press, including the external form of the
characters themselves and their organization on a page and in a book are the subject
of art. 13 Typography. In contrast to that, art. 14 Calligraphy focusses on the aesthetic
potential of script and how this was used in various writing traditions throughout the
world.

4.3. The History of Writing


T he history of writing is the most extensively researched section in this handbook.
Nevertheless, there has been a growing amount of critical debate in recent years on
historical theories of the writing systems on which many presentations are based. Art.
Preface XXXV

15 Theory of the History of Writing considers the basic issues of modern theories of
the history of writing, within the context of efforts to find its origins, the boundary
between script and other visual signs, the reference to the structure of written language,
and the principles upon which the synchronic development of writing systems are based.
T he question as to the origin of writing must be answered case by case; and often,
the answer remains speculative. As regards Sumerian script, however, which can be
considered the origin of all occidental writing systems, research in the last twenty years
has succeeded in reconstructing the evolution rather reliably. T his is presented in art.
16 Forerunners of Writing. Art. 17 Old European-Old Mediterranean Scripts deals with
written signs that are possibly even older, though they have only been brought to
attention a few decades ago.
The next set of articles views the development of individual writing systems or groups
of writing systems. First, the many writing systems are discussed that developed in the
Near East and spread out from there: the Sumerian-Accadic Cuneiform Scripts (art. 18)
and Egyptian Hieroglyphics (art. 19). From the Mesopotamian and Egyptian founda-
tions, many syllabic and consonantal scripts developed (art. 20—24): The Northwest-
Semitic Scripts, The old South- Arabic Script, The Arabic Script, The Ethiopean Script,
and The Indian Script. Based on the Northwest-Semitic systems and being invented
just once in history, The Evolution and Spread of Alphabetic Writing is dealt with in
art. 25.
The next series of articles discusses the two other major regions of the world where
writing systems developed. Art. 26 deals with the Evolution of the Chinese Writing
System over more than 4000 years in China and art. 27 with Adaptations of the Chinese
Writing System in Japan, Korea and Vietnam. The historical writing systems of Central
America took a unique development path, though due to external circumstances, these
could not be continued. Because of this uniqueness regarding the development of
Central American Writing Systems (art. 28), they are of considerable interest from a
comparative point of view, especially since recent findings and decipherings have
facilitated access to and comprehension of these writing systems.
It is a difficult undertaking to gain access to writing systems that are no longer in
use. Signs which are assumed to be part of a writing system, but are not directly
decipherable have always been a source of fascination for science. Art. 29 Decipherment
outlines some particularly interesting stages in the history of deciphering and the
systematic hypotheses arising as a result.

4.4. Literate Cultures


Writing and writing systems have led to the tradition and production of texts for
hundreds and thousands of years. Some of these have had fundamental significance
for the societies in which they were produced. Writing has thus contributed to the
creation, development, continuity and changes of culture in these groups. The expression
literate culture (Schriftkultur) can be used to summarize this aspect. Because such an
exceptionally large volume of written material has been produced up to the present
day, the articles in this chapter do not strive simply to provide surveys of cultural
tradition. Much more, an attempt is made to examine to some extent very well-known
and well-documented facts on the impact and status of writing and literacy in a given
culture. The focus is placed on two questions: (1) What specific text types have evolved
as characteristic of a given literate culture? (2) What specific traditional needs and
innovative processes can be seen in each of these cultures?
Two general articles start off the chapter. Art. 30 Oral and Literate Cultures analyzes
and relativizes the theories of recent years on the relationship between oral and literate
cultures. Art. 31 On the Threshold to Literacy represents an antithesis of sorts, attempt-
XXXVI Preface

ing to define the criteria which determine when a culture can be regarded as a literate
one.
T he discussion of The Sphere of Chinese Characters (art. 32) and The Sphere of
Indian Writing (art. 33) is followed by six historical articles, dealing with The Literate
Culture of Ancient Egypt, Near Eastern Cuneiform Cultures, The Northwest- Semitic
Literate Cultures (art. 34—36), The Greek (art. 37) and The Roman Literate Culture of
Antiquity (art. 38), and finally The Arabian Literate Culture (art. 39).
Three developmental aspects of western literate cultures are dealt with in the following
articles. Art. 40 The Latin Literate Culture of Medieval Europe emphasizes a fact that
is often neglected, namely, that the literate culture in Medieval Europe was based
virtually only on Latin, and discusses the major examples. Art. 41 The Evolution of
Vernacular Literate Cultures in Europe nevertheless requires a comprehensive presen-
tation, since modern western literate cultures developed from these beginnings. The
Impact of the Printing Press (art. 42) represents a major break, which — along with
certain preconditions — paved the way for very different, modern forms of literate
culture to develop over time. Since these modern forms are discussed in various articles,
particularly in the next two chapters, this chapter closes with art. 43 on Perspectives
of Literate Culture.

4.5. Functional Aspects of Literacy


Writing and literacy are valued differently in specific areas of social life. Their different
functions develop in a continuous interrelationship with oral tradition. This relationship
can be competitive and problematic or it can be parallel and complementary, varying
to some extent according to the particular area under consideration.
T his chapter deals with the major areas of society that affect and are affected by
writing and literacy. The chapter starts with art. 44 Writing and Language . This includes
discussion of how writing affects language at a wide variety of levels (conception,
discourse, variation, standardization) as well as interactions with spoken language in
the other direction. T he articles in the next group each deal with a specific area in
which the particular expression of a literate culture was and is of great significance:
Writing and Religion (art. 45), Law (art. 46), Trade (art. 47), Technology (art. 48),
Industrialization (art. 49), and Education (art. 50). These are followed by four contri-
butions on the role of literacy in cultural spheres, namely, Writing and Philosophy (art.
51), Science (art. 52), Literature (art. 53) and Philology (art. 54). The subject matter of
the last article in this chapter, art. 55, is Secondary Functions of Writing. Examples are
provided for the use of writing in contexts which are not (directly) language-related,
such as in magical writings, anagrams and pictures incorporating script, etc.

4.6. Social Aspects of Literacy


Social issues of writing and literacy are concerned with such aspects as societal access
to the rules and standardization of a written language, the skill level with respect to
the written language form, the achievement of societal literacy and its promotion.
Articles 56—61 present the connection between the establishment of a written form
of a language and social and political objectives. Art. 46 Orthography as a Norm for
the Writing System discusses the significance of a standard form of writing in languages
with a long standing writing tradition. The next few articles deal with the establishment
of a written form of a language, either through the adaptation of an existing writing
system for another language (art. 57 Codification by Means of Foreign Systems) or
through an independent development (art. 58 Native Creation of Writing Systems). Art.
59 Development and Reform of Orthography focusses on the German language. In
contrast to these concepts, based on a single language model, art. 60 Writing and
Preface XXXVII

Diglossia and art. 61 Writing Systems in Contact present, respectively, the phenomena
of divergent written and spoken language forms and of multiple written languages in
a society, phenomena which can be increasingly observed throughout the world.
Every person who does not suffer from a disability can speak, yet not all people can
read and write. Art. 62 Demographics of Literacy discusses the problems with respect
to assessing literacy, providing data on the proportion of illiteracy in various parts of
the world. Articles 63—69 then deal with problems facing mass literacy campaigns in
modern times. Art. 63 The Promotion of Literacy in the „Third World” outlines the
issues systematically. T he work of the two most important non-governmental agencies
of literacy campaigns is presented in art. 64 UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy
and art. 65 Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. , followed by a series of
case studies: The Soviet Experiences and Models of Promotion of Literacy, Literacy
Movements and Literacy in Ethiopia, Literacy Movements in Central and South America
and the Caribbean, The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy, and
The Promotion of Literacy in East Asia: The Case of non- Chinese- Speaking People in
China (art. 66—70). (Planned articles on Swahili and French-speaking Black Africa
could not be realized.) These are followed by two historical articles on The Development
and Advancement of Literacy in Germany (art. 71) and in England and North America
(art. 72). Article 73 finally deals with the issue of Literacy and Illiteracy in Modern
Industrial Nations .
Problems of Censorship (art. 74) and Copyright (art. 75) are also social aspects of
writing and literacy; these two articles complete the first volume.

4.7. Psychological Aspects of Writing and Its Use


Whereas the previous chapters dealt with issues of Writing and Its Use that are of a
social, non-individual nature, this section focusses on issues concerning the use of
writing by the individual. Art. 76 Writing and Psychological Structures presents, similar
to the articles of Chapter V, the ways in which access to literacy influences mental
organization, that is, cognitive and emotional processes, the capacity to learn, and
processes of forgetting. Art. 77 Production and Perception of Spoken and Written
Utterances contrasts basic characteristics of oral versus written language processing by
the individual and, based on recent models, formulates differences.
T he next set of articles are concerned with the reading process. First, a Historical
Outline of Psychological Research on Reading is presented in art. 78. Reading can be
considered one of the longest standing research areas in the field of experimental
psychology. The most significant research methods in this area are explained in art. 79
Research Methods in the Psychology of Reading. Because one specific method has
experienced such tremendous progress, it has been extracted for special attention,
namely, eye movement analysis. Art. 80 Eye Movements During Reading offers a survey
of the findings in this area. The next article, The Perception of Words and Letters (art.
81), deals with the core of experimental research on reading over the last hundred
years, concentrating on questions as to the size of units of perception, the extent of
phonological recoding, and the role of lexical structures. Art. 82 Reading as a Means
of Text Processing then deals with text processing; recent research findings on fluent
reading and text comprehension are discussed.
Writing has been a subject of psychological research to a much lesser extent than
has reading. Art. 83 Historical Outline of Psychological Research on Writing provides
a thorough survey of older research. Art. 84 Research Methods in the Psychology of
Writing systematically reports on recent research methods in the field of text production.
T he most significant newer models of the writing process are presented in art. 85:
Writing as a Mental and Linguistic Process is devoted to the writing process in its entire
XXXVIII Preface

complexity, from planning or conception to the process of translation into language to


editing and the interaction of the various individual processes.
T he executive-motoric aspects of the process of writing are handled in separate
articles. Art. 86 Writing by Hand deals with handwriting, including physiological
foundations and pathological disorders of the process. T he process of determining the
writer on the basis of handwriting for forensic purposes is the subject of art. 87 Forensic
Handwriting Analysis; and attempts to trace the connection between handwritten signs
and individual personality traits is discussed in art. 88 Graphology. Because of the
relatively scarce amount of psychological literature on the subject, Typewriting and Its
Forensic Analysis are treated together in art. 89. Art. 90 Writing with a Computer
characterizes the fundamental psychological aspects of writing with this new medium.
Spelling forms a problem field of its own which will be discussed again in chapter
VIII with reference to acquisition problems. Art. 91 Psychological Aspects of Spelling
deals with the role of orthography in writing by adults, looking particularly at patho-
logical disabilities.
Articles 76—91 are based, partly due to the research situation, primarily on findings
relating to specific languages — most of all English, though to a certain extent German
or other languages. T he next two articles deal with fundamental problems of such a
research situation. Art. 92 The Influence of an Alphabetic Writing System on the Reading
Process and art. 93 Cross-Linguistic Analyses of Basic Reading Processes, with Emphasis
on Non- Alphabetic Writing Systems discusses different models on the basis of experi-
mental findings. T he analysis of Disorders of Written Language Processing (art. 94) is
also an interesting aspect of recent psychological research on writing. T he article not
only deals with the connection between such disorders and other language disabilities,
but also analyzes such disorders in view of neuropsychological models of the mental
lexicon and of language processing in general.

4.8. The Acquisition of Literacy


Chapter VIII combines different aspects of literacy acquisition which have traditionally
been treated within separate contexts. Processes of developmental psychology, language
learning processes, methodological and didactic considerations of teaching, and acqui-
sition process disorders are all discussed within the common context of acquisition.
T here is no question that the acquisition of speech takes place to a large degree
spontaneously in early childhood, whereas the acquisition of reading and writing skills
is normally directed by didactic objectives and methodological instruction. Nevertheless
it would be false to assume that the phase of undirected learning processes is simply
replaced by directed processes in school. In fact, the learning processes that take place
in school are always accompanied by individual learning processes outside of school.
For this reason it is necessary to distinguish between the individual psychological
aspects of the acquisition of literacy, on the one hand, and the didactic, methodological
aspects, on the other, as well as to trace the connections between the two. This chapter
is introduced by art. 95 Aspects of the Acquisition of Literacy and art. 96 Conditions of
Acquisition and Teaching of Reading and Writing, both of which discuss such funda-
mental issues.
Articles 97—102 deal with psychological aspects of the acquisition of literacy from
their beginnings through their complex development. In art. 97, Early Reading and
Writing is discussed. The next three articles are concerned with psychological processes
involved in acquiring literacy which interact with methodologically and didactically
directed processes at school: art. 98 The Acquisition of Basic Reading and Writing Skills,
art. 99 The Development of Reading Skills , and art. 100 The Development of Writing
Skills. In art. 101 Acquisition of Written Language under Conditions of Multilingualism,
Preface XXXIX

a subject is discussed which has long been neglected, though it represents what is
currently a relatively normal situation, namely, the acquisition of spoken and written
language in different languages. Finally, art. 102 Written Language as a Means of
Learning Spoken Language deals with the process from a perspective opposite to that
of the normal course of language learning. T he case of deaf people is discussed in
which the primary language acquisition takes place or is promoted in the written mode.
The didactic and methodological aspects of learning to read and write are developed
in the next set of articles. Whereas the subject of instruction is constituted and
legitimized within the context of didactic reflection, the goal of methodological consid-
erations is to develop teaching and learning methods more appropriate to subject and
student. A systematic outline of the subject follows in the next six articles on Aspects
and Problems of the Teaching of Reading resp. Writing: art. 103 Beginning Reading
Skills, art. 104 Advanced Reading Skills, art. 105 Instruction in Literature, art. 106
Beginning Writing Skills, art. 107 Spelling, art. 108 Instruction in Essay Writing. Relevant
factors differ according to the respective socio-historical context, educational tradition,
language, and writing system. There are two historically oriented articles on the didactics
and methodology of instruction in reading and literature, and in writing and essays:
art. 109 History of the Didactics and Methodology of Instruction in Reading and
Literature and art. 110 History of the Didactics and Methodology of Instruction in
Writing and Essay Writing. These are followed by three examples from other sociocul-
tural settings: The Teaching of Reading and Writing in English- Speaking Countries, in
the Arabic- Speaking World, and in East Asia (art. 111—113). Acquisition of Literacy
outside of School is the subject of art. 114. T his includes writing workshops, writers’
seminars, reading circles, book societies, and literary circles.
Difficulties and disorders in the acquisition process often first become apparent
during the school years. Such disorders can stem from individual learning aptitudes
and processing methods as well as didactic decisions and methodological measures.
Art. 115 Disorders in Written Language Acquisition contains a survey of the most
important developmental psychological, pedagogical, and psycholinguistic theories. The
chapter is rounded off with an article on Disorders in Written Language Acquisition
And Learning Disabilities (art. 116). T hese disorders are treated in a separate article
since they have very distinct causes and symptoms, and require a different type of
therapy.

4.9. Linguistic Aspects of Writing and Its Use


Following these social and psychological aspects of writing, linguistic aspects are
treated
in chapter IX. T his includes problems relating to the writing system (art. 117—128),
specific features of written language and written language usage (art. 129—135), and
textual aspects of Writing and Its Use (136—139).
The relationship between Language System and Writing System is discussed in detail
in art. 117. T he question arises whether the reference of the writing system to the so-
called writing principles can be maintained or whether it is not more justified to analyze
the writing system as an autonomous system. T his includes fundamental questions of
orthography. In art. 118, the concept of Typology of Writing Systems is explained
systematically, using individual cases as examples. T he question as to the connection
between Language Change and Writing is treated in art. 119. The hypothesis that written
language always exerts a conservative influence is investigated critically, although
research has not often examined this issue in detail. In addition, the question is posed
as to the consequences that independent changes in spoken and written language have
on the language system as a whole.
XL Preface

T he subjects of the following articles are several writing systems currently in use,
with special references to the relation of each writing system to other levels of the
respective language systems (phonology, morphology, syntax, etc.). The systems chosen
for discussion all represent especially clear examples of particular, widespread writing
systems. The Chinese Writing System (art. 120) is chosen as an example of a logographic
system and The Japanese Writing System (art. 121) as an example of a word-syllabary
one. Of the three main types of alphabetic systems, the Indian Devanagari (art. 122) is
described as an example of the alphabetic-syllabic systems and The Arabic Writing
System (art. 123) as a consonantic alphabetic system. T he opposition between phono-
logically shallow and deep alphabetic systems is outlined by means of descriptions of
some widespread systems. The Spanish Writing System (art. 124) which can be consid-
ered very shallow, and The English Writing System (art. 125), a strongly morphologi-
calized deep system, represent extreme cases, and the French (art. 126), and German
(art. 127) writing systems can be situated within this range. (Planned articles on the
Russian writing system and on written language in Russian could not be realized.)
These systems can also be distinguished from one another with respect to other features,
such as capitalization, foreign word usage, etc. Art. 128 deals with issues of Punctuation,
which have not been researched very extensively up to now, concentrating on the
German language.
T he second part of the chapter is devoted to language as used in written texts, so-
called written language. Only in rare cases are the phenomena treated here restricted
exclusively to written texts. T he forms of expression discussed, however, are generally
distinctive in that they are particularly suited for use in written texts and are thus used
especially frequently in that form. Special features of written language usage can be
found in morphology, lexicon, syntax, and semantics. T aking the respective cultural
conditions into consideration, the next set of articles describes the Written Language:
Chinese, Japanese, Arabic, French, English, and German (art. 129—134). A specific
feature of written language is the occurrence of Abbreviations (art. 135); the article
treats different types of abbreviation conventions in some western European languages
and their historical development.
Textual aspects of the use of writing form the subject of the third part of chapter
IX. Conditions on written texts include constitutive properties of organization and their
consequences, such as linearity, discreteness of signs, and intertextuality (art. 136 The
Constitution of Written Texts ). As regards The Production (art. 137) and The Reception
of Written Texts (art. 138), attention is directed to the processes and activities determined
by the written nature of the text that are involved in the formulation and organization
of written texts and the teaching and interpretation of them. T he structure of written
texts concerns text patterns or text types to the extent that they are used in writing,
that is, whether they are used exclusively in written form, such as in the case of letters,
telegrams, or scientific treatises, or whether they are used both orally and in writing,
as with stories. (Unfortunately, the planned article on the forms of written texts could
not be realized.)
The concept of style is usually associated with written texts but clearly does not refer
to these texts alone. In style manuals, therefore, not only aspects of written texts are
treated, but also questions of oral language usage and communication. Since stylistics
has always been seen in close connection with Writing and Its Use, it is discussed here
in a separate article (art. 139 Stylistics as a Theory of Written Language Usage ).

4.10. Special Writing Systems


The subject of this chapter is quite heterogeneous, dealing with scriptlike sign systems
derived from writing systems such as stenography and secret codes, as well as with
translation into other media and modern substitutes for writing by means of pictograms.
Preface XLI

Art. 140 Writing and Notation provides a systematic comparison of these two
concepts, in an effort to distinguish writing from other systems of notation. The notion
that written signs are used in almost all writing systems for mathematical and organi-
zational purposes is outlined historically and systematically in art. 141 Writing as a
Numbering and Ordering System, centered around the development and use of alpha-
betical order. Another notational system, which is not to be characterized as a script
type, is Phonetic Transcription, treated in art. 142.
T he next set of articles deal with topics of a different type, namely, the translation
of a sequence of written symbols into other sequences. Art. 143 deals with the techniques
of Transliteration, i. e., the translation of symbols of one writing system into those of
another. Art. 144 presents the basic principles and the most important systems of
Stenography. The use of written signs as a means of secret and coded communication
is the subject of art. 145 Secret Codes. The history, techniques, and channels of secret
codes are described. T he next few articles deal with additional transformations, such
as Braille (art. 146), the writing system for the blind. T his involves the transfer of
written signs from the visual to the haptic dimension. Art. 147 Hand Alphabets, deals
with the transformation of permanent written signs to temporary movements for
comprehension by the deaf, and Technical Codes (art. 148) with coding of written signs
for computer use.
Finally, in the last article of the handbook, art. 149 Modern Pictography, this modern
form of visual information is examined and the question is posed to what extent this
represents a writing substitute.

5. Preparing the Articles


The principles used in preparing the individual articles are very similar to those used
for other handbooks in the HSK series. Each article had to be comprehensible on its
own, thus containing all information necessary to recognize the phenomenon under
consideration and to facilitate understanding of existing solutions to the problem, as
well as other possible solutions. It was taken for granted that there would be some
degree of overlapping among the articles. Points of contact are indicated by cross-
references inserted by the editors. The bibliographic references are primarily for newer
works; older references are only included if they are particularly important. In other
words, no effort was made to include a comprehensive bibliography.
T here are, however, some features which are particular to this handbook, arising
primarily as a result of the interdisciplinary perspective already mentioned in section
2. Many of the articles are written by scientists who do not work within the field of
linguistics and communications sciences; rather, their sphere of influence is a very
different one. T he resulting problem of an extremely diverse set of concepts and
terminology could (at the present time) not be solved by offering a standard to be
complied with (see section 3 above). It could not be avoided, therefore, that the
individual chapters each use their own set of concepts and terms; in fact, such
differences
sometimes even appear in adjacent articles within a given chapter. Wherever possible,
therefore, the editors urged authors to introduce concepts that have different meanings
in different disciplines in a way that would define them, insofar as the intended
connotation was not already implied; see also section 3 above.
T he attempt to provide a truly interdisciplinary work is also reflected in the pres-
entation of theoretical approaches. First, it cannot be avoided that more or less mutually
exclusive theories are supported in two different articles. T his is true, for example, in
the case of the position that the writing system is dependent on the spoken language,
as opposed to the position that the written form of a language is autonomous. T his
XLII Preface

reflects the present state of research and the problem of insufficient or nonexistent
interdisciplinary exchange of information up to now. In areas where such a conflict of
positions was forseeable, the editors made every possible effort to represent each existing
research position.
A perhaps more serious problem is the lack of comprehensive knowledge of basic
principles of a given field, in articles from areas outside of that field. In many articles
in chapters VII and VIII, for example, the linguistic concepts which represent the basis
of certain psychological, developmental psychological, and educational interpretations
are very often expressed in a very naive manner. This, too, corresponds to the present
state of research. In very flagrant cases, the editors brought it to the attention of the
authors, though the result was not always satisfactory. It cannot be expected that the
desired goal of this handbook, that is, the intensification of interdisciplinary exchange,
be totally achieved through the existence of the handbook itself.
Because the editors were aware of this problem, however, particular attention was
paid to the preparation of the index. T he method of reference is explained there.
Particularly in the case of divergent theories or conceptuality, it is highly recommended
to make extensive use of the index.

6. Acknowledgements
When the first volume of this handbook becomes available, the editors will have already
spent more than ten years on the project. In 1988, after five years of preparatory work,
the concept for the handbook was publicly presented, which resulted in the editors
receiving much stimulus and numerous ideas, leading to improvements and
supplements,
as well as the inclusion of additional articles. The first invitations were sent to authors
in early 1990, and they also responded with further suggestions. T he Studiengruppe
Geschriebene Sprache, a group of scientists representing various disciplines, planned
and supervised the project. The group is sponsored by the Werner Reimers Foundation;
it was founded in 1981 and has been meeting semiannually since then in Bad Homburg,
Germany. T he Foundation has provided extensive support over all the years of the
work of the group in general, and the preparation of the handbook in particular. T his
is why the editors would like to thank first and foremost the scientific council of the
Werner Reimers Foundation and their staff, without whom this project would never
have been completed.
All of the members of the Studiengruppe, listed below, participated in the conception
of the handbook, in developing its structure, both in terms of formal aspects and the
contents, and in supervising individual articles and entire chapters: Jürgen Baurmann
(Wuppertal), Florian Coulmas (T okyo), Konrad Ehlich (Munich), Peter Eisenberg
(Potsdam), Heinz W. Giese (Ludwigsburg), Helmut Glück (Bamberg), Hartmut Günther
(Innsbruck), Klaus B. Günther (Hamburg), Ulrich Knoop (Marburg), Otto Ludwig
(Hannover), Bernd Pompino-Marschall (Berlin), Eckart Scheerer (Oldenburg), and
Rüdiger Weingarten (Bielefeld), as well as Peter Rück (Marburg) and Claus Wallesch
(Freiburg), who are no longer members of the group. The two main editors would like
to thank their collegues, without whom it would not have been possible to produce a
handbook on such a broad, heterogeneous, unstructured interdisciplinary field as
Writing and Its Use .
All of us, main and associate editors alike, would like to express our sincerest thanks
to the many authors of the individual articles for their willingness to take on articles
in this very difficult field; for the time and energy they invested in preparing the
manuscripts; and for their patience in listening to our reservations, objections and
suggestions, and in incorporating these ideas into their articles wherever possible. Our
XLIII

special thanks go to those authors who jumped in at the last minute for others, and to
our numerous colleagues who assisted us in the search for such last minute authors.
We would also like to express our appreciation and sincerest thanks to the editors
of the handbook series, Hugo Steger and Herbert Ernst Wiegand, for their openness
to the idea of publishing a handbook in this series in an area which has yet to become
firmly established as a research field, and for their unwavering presence and support
of the project; our thanks also go to the de Gruyter Publishing Company and their
staff, especially Christiane Bowinkelmann, Christiane Graefe, Angelika Hermann,
Heike Plank, Susanne Rade, Dr. Brigitte Schöning and Prof. Heinz Wenzel, for the
careful preparation and printing of the handbook.
Finally, we would like to thank Dr. Jutta Becher, for her efforts in the arduous task
of giving structure to this very heterogeneous field in two comprehensive indices.

Hartmut Günther, Innsbruck


Otto Ludwig, Hannover
XLI

Inhalt/Contents

1. Halbband/Volume 1

Vorwort V
Preface IX

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


General Aspects of Writing and Its Use
1. Wolfgang Raible, Orality and Literacy (Mündlichkeit und Schriftlich-
keit) .............................................................................................................. 1
2. Konrad Ehlich, Funktion und Struktur schriftlicher Kom m unikation
(Function and Structure of Written Communication) .................................. 18
3. Roy Harris, Sem iotic Aspects of Writing (Semiotische Aspekte der
Schrift) ......................................................................................................... 41
4. Otto Ludwig, Geschichte des Schreibens (The History of Writing) ............ 48
5. Hans-Martin Gauger, Geschichte des Lesens (The History of Reading) ..... 65
6. Claus Ahlzweig, Geschichte des Buches (The History of the Book) ........... 85
7. Brigitte Schlieben-Lange, Geschichte der Reflexion über Schrift und
Schriftlichkeit (History of the Reflection on Writing and Its Use) .............. 102

II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Material and Formal Aspects of Writing and Its Use
8. Otto Mazal, Traditionelle Schreibm aterialien und -techniken (Tradi-
tional Writing Materials and Techniques) ................................................... 122
9. Eckart Hundt & Gerd Maderlechner, Elektronische Lese- und Schreib-
technologien (Electronic Reading and Writing Technology) ....................... 130
10. Axel Behne, Archivierung von Schriftgut (Archiving of Written Texts) ...... 146
11. Rüdiger Weingarten, Datenbanken (Data Bases) ........................................ 158
12. Herbert E. Brekle, Die Buchstabenform en westlicher Alphabetschrif-
ten in ihrer historischen Entwicklung (The Development of Letter
Forms in Western Alphabets) ....................................................................... 171
13. Herbert E. Brekle, Typographie (Typography) ............................................ 204
14. Christian Scheffler, Kalligraphie (Calligraphy) .......................................... 228

III. Schriftgeschichte
History of Writing
15. Florian Coulm as, Theorie der Schriftgeschichte (Theory of the History
of Writing) .................................................................................................... 256
XLII Inhalt/Contents

16. Denise Schm andt-Besserat, Forerunners of Writing (Vorläufer der


Schrift) ......................................................................................................... 264
17. Harald Haarm ann, Der alteuropäisch-altm editerrane Schriftenkreis
(Old European-Old Mediteranean Scripts) ................................................. 268
18. Manfred Krebernik & Hans J. Nissen, Die sum erisch-akkadische Keil-
schrift (Sumerian-Accadic Cuneiform Scripts) ............................................ 274
19. Wolfgang Schenkel, Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Wei-
terentwicklungen (Egyptian Hieroglyphs and Their Development) ............. 289
20. Josef Tropper, Die nordwestsem itischen Schriften (North-west Semitic
Scripts) ......................................................................................................... 297
21. Walter W. Müller, Die altsüdarabische Schrift (The Old Southern
Arabic Script) ............................................................................................... 307
22. Veronika Wilbertz, Die arabische Schrift (The Arabic Script) .................... 312
23. Ernst Hammerschmidt, Die äthiopische Schrift (The Ethiopean Script) ..... 317
24. William Bright, Evolution of the Indian Writing System (Die indische
Schrift) ......................................................................................................... 322
25. Harald Haarm ann, Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften
(Evolution and Spread of Alphabetic Scripts) .............................................. 329
26. Wolfram Müller-Yokota, Die chinesische Schrift (Evolution of the
Chinese Script) ............................................................................................. 347
27. Wolfram Müller-Yokota, Weiterentwicklungen der chinesischen
Schrift: Japan — Korea — Vietnam (Adaptations of the Chinese Script
in Japan, Korea and Vietnam) ..................................................................... 382
28. Nikolai Grube, Mittelam erikanische Schriften (Central American
Scripts) ......................................................................................................... 405
29. Stanislav Segert, Decipherment (Entzifferungen) ........................................ 416

V. Schriftkulturen
Literate Cultures
30. Nancy H. Hornberger, Oral and Literate Cultures (Mündliche und
schriftliche Kulturen) ................................................................................... 424
31. Jack Goody, On the Threshold to Literacy (Die Schwelle der Litera-
lität) .............................................................................................................. 432
32. Tetsuji Atsuji, Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)
(The Sphere of Chinese Characters) ............................................................ 436
33. Chander J. Daswani, The Sphere of Indian Writing (Der indische
Schriftenkreis) .............................................................................................. 451
34. Jan Assm ann, Die ägyptische Schriftkultur (The Literate Culture of
Ancient Egypt) ............................................................................................. 472
35. Claus Wilcke, Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients (Near
Eastern Cuneiform Cultures) ....................................................................... 491
36. Wolfgang Röllig, Die nordwestsem itischen Schriftkulturen (North-
west-Semitic Literate Cultures) .................................................................... 503
37. Wolfgang Rösler, Die griechische Schriftkultur der Antike (The Greek
Literate Culture of Antiquity) ....................................................................... 511
Inhalt/Contents XLIII

38. Gregor Vogt-Spira, Die lateinische Schriftkultur der Antike (The


Roman Literate Culture of Antiquity) .......................................................... 517
39. Annem arie Schim m el, Die arabische Schriftkultur (The Arabian
Literate Culture) .......................................................................................... 525
40. Matthias M. Tischler, Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schrift-
kultur (The Latin Literate Culture of Medieval Europe) .............................. 536
41. Manfred Günter Scholz, Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkul-
tur in Westeuropa (The Evolution of Vernacular Literate Cultures in
Western Europe) .......................................................................................... 555
42. Ernst Brem er, Der Buchdruck und seine Folgen (The Impact of the
Printing Press) ..................................................................................entfällt
43. Rüdiger Weingarten, Perspektiven der Schriftkultur (Perspectives of
Literate Culture) .......................................................................................... 573

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur


Functional Aspects of Literacy
44. Peter Koch & Wulf Oesterreicher, Schriftlichkeit und Sprache (Writing
and Language) ............................................................................................. 587
45. Philip C. Stine, Writing and Religion (Schriftlichkeit und Religion) ........... 604
46. Jürgen Weitzel, Schriftlichkeit und Recht (Writing and Law) ..................... 610
47. Annelies Häcki Buhofer, Schriftlichkeit im Handel (Writing and Trade) ... 619
48. Reiner Pogarell, Schriftlichkeit und Technik (Writing and Technology) ..... 628
49. David R. Olson, Writing and Industrialization (Schriftlichkeit und
Industrialisierung) ....................................................................................... 635
50. Keith Walters, Writing and Education (Schriftlichkeit und Erziehung) ....... 638
51. Manfred Geier, Schriftlichkeit und Philosophie (Writing and Philoso-
phy) .............................................................................................................. 646
52. David R. Olson, Writing and Science (Schriftlichkeit und Wissen-
schaft) .......................................................................................................... 654
53. Catherine Viollet, Schriftlichkeit und Literatur (Writing and Litera-
ture) .............................................................................................................. 658
54. Gustav Ineichen, Schriftlichkeit und Philologie (Writing and Philo-
logy) ............................................................................................................. 672
55. Manfred Geier, Sekundäre Funktionen der Schrift (Secondary Func-
tions of Writing) ........................................................................................... 678

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Social Aspects of Literacy
56. Christian Stetter, Orthographie als Norm ierung des Schriftsystem s
(Orthography as a Norm for the Writing System) ........................................ 687
57. William A. Sm alley, Codification by Means of Foreign System s (Erst-
verschriftung durch fremde Systeme) ........................................................... 697
58. William A. Sm alley, Native Creation of Writing System s (Autochthone
Erstverschriftung) ........................................................................................ 708
59. Dieter Nerius, Orthographieentwicklung und Orthographiereform
(Development and Reform of Orthography) ................................................ 720
XLIV Inhalt/Contents

60. Florian Coulmas, Schriftlichkeit und Diglossie (Writing and Diglossia) .... 739
61. Helmut Glück, Schriften im Kontakt (Writing Systems in Contact) ............ 745
62. Ludo Verhoeven, Dem ographics of Literacy (Demog raphie der Lite-
ralität) .......................................................................................................... 767
63. Paul E. Fordham , The Prom otion of Literacy in the “Third World”
(Alphabetisierung in der „Dritten Welt“) .................................................... 779
64. Leslie J. Lim age, UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy (Die
Alphabetisierungsarbeit der UNESCO) ....................................................... 790
65. Stephen L. Walter, Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.
(Muttersprachliche Alphabetisierung — die Arbeit des S. I. L.) .................. 798
66. Helm ut Jachnow, Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der
Alphabetisierung (The Soviet Experiences and Models of Promotion of
Literacy) ....................................................................................................... 803
67. Klaus Wedekind, Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien
(Literacy Movements and Literacy in Ethiopia) .......................................... 814
68. Merieta Johnson, Literacy Movem ents in Central and South Am erica
and in the Carribean (Alphabetisierung in Mittel- und Südamerika und
in der Karibik) ............................................................................................. 824
69. Thom as Cream er, The Chinese Experiences and Models of Prom otion
of Literacy (Die chinesischen Erfahrung en und Modelle der Alphabeti-
sierung) ........................................................................................................ 835
70. Thom as Heberer, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung
bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas (The Promotion
of Literacy in East Asia: The Case of Non-Chinese Speaking People in
China) .......................................................................................................... 855
71. Ulrich Knoop, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in
Deutschland (The Development and Advancement of Literacy in Ger-
many) ........................................................................................................... 859
72. Ursula Giere, Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in
England und Nordam erika (The Development and Advancement of
Literacy in England and North America) ..................................................... 873
73. Heinz W. Giese, Literalität und Analphabetism us in m odernen Indu-
strieländern (Literacy and Illiteracy in Modern Industrial Nations) ........... 883
74. Czesław Karolak, Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf
die Literalität (Censorship) .......................................................................... 893
75. Pirrko-Liisa Haarmann, Copyright (Copyright) .......................................... 898

Farbtafeln / Colour Plates


Inhalt/Contents XLV

2. Halbband (Überblick über den vorgesehenen Inhalt)


Volume 2 (Preview of Contents)

VII. Psychologische Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Psychological Aspects of Writing and Its Use
76. Eckart Scheerer, Schriftlichkeit und psychologische Strukturen
(Writing and Psychological Structures) .......................................................
77. Hartm ut Günther & Bernd Pom pino-Marschall, Produktion und Per-
zeption m ündlicher und schriftlicher Äußerungen (Production and
Perception of Spoken and Written Utterances) ............................................
78. Hartm ut Günther, Historisch-system atischer Aufriß der psychologi-
schen Leseforschung (Historical Outline of Psycholog ical Research on
Reading) .......................................................................................................
79. Philip T. Sm ith, Research Methods in the Psychology of Reading
(Methoden der psycholo
g ischen Leseforschun
g )
80. Albrecht Werner Inhoff & Keith Rayner, Das Blickverhalten beim
Lesen (Eye Movements gDurin gReadin )
81. Alexander Pollatsek & Mary Lesch, The Perception of Words and
Letters (Wort- und Buchstabenerkennun g )
82. Wolfgang Schnotz, Lesen als Textverarbeitung (Reading as a Means
of Text Processing)
83. Clem ens Knobloch, Historisch-system atischer Aufriß der psychologi-
schen Schreibforschung (Historical Outline of Psycholog ical Research
on Writing)
84. Gunther Eigler, Methoden der Textproduktionsforschung (Research
Methods in the Psychology of Writing)
85. Sylvie Molitor-Lübbert, Schreiben als m entaler und sprachlicher Pro-
zeß (Writin
g as a Mental and Lin
g uistic Process)
86. Arnold Thom assen, Writing by Hand (Schreiben mit der Hand)
87. Lothar Michel, Forensische Handschriftuntersuchung (Forensic
Handwriting Analysis)
88. Maria Paul-Mengelberg, Graphologie (Graphology)
89. Peter Baier, Maschineschreiben und seine forensische Analyse (Type-
writing and its Forensic Analysis)
90. Markus Pospischill, Schreiben m it dem Com puter (Writing with a
Computer)
91. Janice Kay, Psychological Aspects of Spelling (Psycholog ische Aspekte
des Rechtschreibens)
92. Leonhard Katz & Laurie B. Feldm an, The Influence of an Alphabetic
Writing System on the Reading Process (Der Einfluß eines alphabeti-
schen Schriftsystems auf den Leseprozeß)
93. Ovid Tzeng et al., Cross-Linguistic Analyses of Basic Reading Proces-
ses, with Em phasis on Non-Alphabetic Writing System s (Crossling ui-
stische Analysen basaler Aspekte des Leseprozesses, mit besonderer
Berücksichtigung nicht-alphabetischer Schriftsysteme)
XLVI Inhalt/Contents

94. Walter Huber, Störungen der Verarbeitung schriftlicher Sprache (Dis-


orders of Written Language Processing)

VIII. Der Erwerb von Schriftlichkeit


The Acquisition of Literacy
95. Jürgen Baurm ann, Aspekte des Erwerbs von Schriftlichkeit und seine
Reflektion (Aspects of the Acquisition of Literacy) .....................................
96. Hubert Ivo, Bedingungen der Aneignung und Verm ittlung von Lesen
und Schreiben (Conditions of the Acquisition and Teaching of Reading
and Writing) .................................................................................................
97. Mechthild Dehn & Am elie Sjölin, Frühes Lesen und Schreiben (Early
Reading and Writing) ...................................................................................
98. Gerheid Scheerer-Neum ann, Der Erwerb der basalen Lese- und
Schreibfertigkeiten (The Acquisition of Basic Reading and Writing
Skills) ...........................................................................................................
99. Hugo Aust, Die Entfaltung der Fähigkeit des Lesens (The Development
of Reading Skills) .........................................................................................
100. Helm ut Feilke, Die Entfaltung der Fähigkeit des Schreibens (The
Development of Writing Skills) ....................................................................
101. Edeltraud Karolij & Monika Nehr, Schriftspracherwerb unter Bedin-
gungen der Mehrsprachigkeit (Acquisition of Written Lang uag e under
Conditions of Multilingualism) ....................................................................
102. Klaus B. Günther, Schrift als Mittel zum Verbalspracherwerb bei Ge-
hörlosigkeit und einigen Fällen schwerer Spracherwerbsstörungen
(Written Language as a Means of Learning Spoken Language) ..................
103. Kurt Meiers, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Erstlesen
(Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Beg inning Reading
Skills) ...........................................................................................................
104. Peter Conrady, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Weiterfüh-
rendes Lesen (Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Ad-
vanced Reading Skills) .................................................................................
105. Gerhard Haas, Aspekte und Problem e des Leseunterrichts: Literatur-
unterricht (Aspects and Problems of the Teaching of Reading : Instruc-
tion in Literature) .........................................................................................
106. Elisabeth Neuhaus-Siem on, Aspekte und Problem e des Schreibunter-
richts: Erstschreiben (Aspects and Problems of the Teaching of Writing :
Beginning Writing Skills) .............................................................................
107. Bodo Friedrich, Aspekte und Problem e des Schreibunterrichts: Recht-
schreiben (Aspects and Problems of the Teaching of Writing: Spelling) .....
108. Eduard Haueis, Aspekte und Problem e des Schreibunterrichts: Auf-
satzunterricht (Aspects and Problems of the Teaching of Writing : In-
struction in Essay Writing) ..........................................................................
109. Harro Müller-Michaels, Geschichte der Didaktik und Methodik des
Leseunterrichts und der Lektüre (History of the Didactics and Method-
ology of Instruction in Reading and Literature) ..........................................
Inhalt/Contents XLVII

110. Bernhard Asm uth, Geschichte der Didaktik und Methodik des Schreib-
und Aufsatzunterrichts (History of the Didactics and Methodolog y of
Instruction in Writing and Essay Writing) ...................................................
111. Stephen Parker, The Teaching of Reading and Writing in English-
Speaking Countries (Lese- und Schreibunterricht in eng lischsprachig en
Ländern) ......................................................................................................
112. H. Biesterfeld, Lese- und Schreibunterricht im arabischen Sprachraum
(The Teaching of Reading and Writing in the Arabic-Speaking World) ......
113. Insup Taylor, The Teaching of Reading and Writing in East Asia
(Lese- und Schreibunterricht in Ostasien) ...................................................
114. Joachim Fritzsche, Der außerschulische Erwerb der Schriftlichkeit
(The Acquisition of Literacy Outside of School) ..........................................
115. Gerheid Scheerer-Neum ann, Störungen des Erwerbs der Schriftlichkeit
(Disorders in Written Language Acquisition) ..............................................
116. Gerhard Eberle, Schriftspracherwerbsstörungen und Lernbehinderung
(Disorders in Written Language Acquisition and Learning Disabilities) ....

IX. Sprachliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Linguistic Aspects of Writing and Its Use
117. Peter Eisenberg, Sprachsystem und Schriftsystem (Lang uag e System
and Writing System) .....................................................................................
118. Florian Coulmas, Typology of Writing Systems (Schrifttypologie) ............
119. Jürgen Erfurt, Sprachwandel und Schriftlichkeit (Lang uag e Chang e
and Writing) .................................................................................................
120. Ji Lie, Das chinesische Schriftsystem (The Chinese Writing System) .........
121. Jürgen Stalph, Das japanische Schriftsystem (The Japanese Writing
System) .........................................................................................................
122. Subhadra Kum er Sen, The Devanagari Writing System (Das Deva-
nagari-Schriftsystem) ...................................................................................
123. Thom as Bauer, Das arabische Schriftsystem (The Arabic Writing
System) .........................................................................................................
124. Trudel Meisenburg, Das spanische Schriftsystem (The Spanish Writing
System) .........................................................................................................
125. Michael Stubbs, The English Writing System (Das eng lische Schrift-
system) .........................................................................................................
126. Nina Catach, Das französische Schriftsystem (The French Writing
System) .........................................................................................................
127. Peter Eisenberg, Das deutsche Schriftsystem (The German Writing
System) .........................................................................................................
128. Peter Gallmann, Interpunktion (Punctuation) .............................................
129. W. Lippert, Die schriftliche Sprache im Chinesischen (Written Lan-
guage: Chinese) ...........................................................................................
130. Tatsuo Miyajim a, Written Language: Japanese (Die schriftliche Spra-
che im Japanischen) .....................................................................................
131. Thom as Bauer, Die schriftliche Sprache im Arabischen (Written Lan-
guage: Arabic) .............................................................................................
XLVIII Inhalt/Contents

132. Ralph Ludwig, Die schriftliche Sprache im Französischen (Written


Language: French) .......................................................................................
133. William Grabe & Douglas Biber, Written Language: English (Die
schriftliche Sprache im Englischen) .............................................................
134. Gerhard Augst & Karin Müller, Die schriftliche Sprache im Deutschen
(Written Language: German) ......................................................................
135. Jürgen Römer, Abkürzungen (Abbreviations) ..............................................
136. Klaus Brinker, Die Konstitution schriftlicher Texte (The Constitution
of Written Texts) ...........................................................................................
137. Gerd Antos, Die Produktion schriftlicher Texte (The Production of
Written Texts) ...............................................................................................
138. Ursula Christm ann & Norbert Groeben, Die Rezeption schriftlicher
Texte (The Reception of Written Texts) ........................................................
139. Gerhard Wolff, Stilistik als Theorie des schriftlichen Sprachgebrauchs
(Stilistics as a Theory of Written Language Usage) ....................................

X. Sonderschriften
Special Writing Systems
140. Roy Harris, Writing and Notation (Schrift und Notation) ............................
141. Hartm ut Günther, Schrift als Zahlen- und Ordnungssystem (Writing
as a Numbering and Ordering System) ........................................................
142. Lisa Schiefer & Bernd Pom pino-Marschall, Phonetische Transkription
(Phonetic Transcription) ..............................................................................
143. Hans Zikmund, Transliteration (Transliteration) .........................................
144. Helmut Jochems, Stenographie (Stenography) ............................................
145. P. Costamagna, Geheimschriften (Secret Codes) .........................................
146. Karl Britz, Blindenschrift (Braille) .............................................................
147. Siegfried Prillwitz, Fingeralphabete (Hand Alphabets) ...............................
148. Walter Am eling & Lothar Kreft, Technische Kodierung (Technical
Codes) ..........................................................................................................
149. Hans-Rolf Lutz, Moderne Piktographie (Modern Pictography) ..................
Namen- und Sachregister
Index of Names and Topics
1

I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


General Aspects of Writing and Its Use

1. Orality and Literacy

1. Preliminaries During the same past decades a totally


2. Different meanings and types of ‘orality’ and different discipline — named evolutionäre Er-
‘literacy’ kenntnistheorie — has taken shape especially
3. The medial and the conceptual aspect of in Austrian and German ethology and zoo-
‘orality’ and ‘literacy’ logy. Its central thesis is that, as well as the
4. The possibilities and consequences of forms and the functions of our body are due
a two- to the “struggle for life” leading to successive
fold scalarity in the theoretical framework adaptations with respect to the environment
5. Transitional phenomena of our species and to the environment in
6. Multiform contexts, multicausal and multi- general, the capacities — and above all: the
form evolution processes shortcomings — of our mind and perception
7. References are to be explained as the result of the same
kind of processes (Lorenz 1941; Riedl 1982 ).
Whereas our brain works with multidimen-
1. Preliminaries sional matrices (every English verb form for
During the last decades an ever increasing instance is located in a six-dimensional space),
attention has been paid to l i t e r a c y as op- our visual perception is restricted just to the
posed to o r a l i t y (“l’oral et l’écrit”, “oralité three dimensions which had been sufficient to
et scripturalité”, “Mündlichkeit und Schrift- orientate ourselves in environmental space,
lichkeit”). the pure idea of a fourth dimension already
The central claims made on literacy’s behalf were
exceeding nearly everybody’s capabilities.
that writing had, historically, been responsible for
(Particle physics needs more than ten dimen-
the evolution of new forms of discourse, prose
sions to describe “reality”.) Another short-
fiction and essayist prose being two examples, that
coming is our permanent search for just one
reflected a new approach or understanding of lan-
agent or one cause. In each of our Indo-
guage and a new, more subjective and reflective
European sentences we are accustomed to
frame of mind. Literacy, too, it was argued, had
have a subject representing first and foremost
been responsible in part for new forms of social
this agent. (One needn’t explain why the ques-
organization, of states rather than tribes, and of
tion “who caused this?” following each noise
reading publics rather than oral contact groups.
and each perceived movement could — and
When these arguments were stated more expan-
can — be vital.) Compelled by the shortcom-
sively, literacy was seen as the route to ‘modernity’,
ings of our mind, we look for the Prime
a route that was exportable to developing countries
Mover, the First Origin, the Big Bang, Gen-
that also aspired to that modernity (Olson 1991,
esis, and so on. In the same context, we show
251).
an irresistible tendency to take something that
Other tenets in the discussion are for instance happened prior to some other event for the
the thesis that the distinction between a text cause of this later event. This is the well
and its interpretation, abstract inferring pro- known post hoc — propter hoc fallacy which
cesses and the evolution of self and individ- leads to the development of c a u s a l conjunc-
uality are due to literacy (Luria 1976; Ong tions from temporal ones (e. g. engl. since, fr.
1982 ). To simplify things even more: literacy puisque, germ. nachdem ).
was seen as the basis of Western civilization Knowing these shortcomings of our mind,
with its scientific and technological accom- no matter if literate or not, we might guess
plishments, whereas orality had, of necessity, that the cited accomplishments and changes
to be the form of cultures qualified as more
simple, primitive or even savage.
2 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

which — at first glance so convincingly ( post rice Halbwachs (192 5; 1950). Als Aleida and
hoc — propter hoc ) — seem to have been Jan Assmann (1988; cp. Assmann 1992 ) put
brought about by the one Prime Mover lit- it, collective memory can be divided into a
eracy, might have multiple (and perhaps even cultural and a communicative memory. Cul-
totally different) causes. tural memory guarantees the identity of a
community over time, whereas communica-
tive memory — comprising in general a time-
2. Different meanings and types of span of up to three generations — defines the
‘orality’ and ‘literacy’ identity of smaller subgroups of variable com-
As Aristotle taught us, the first question to position.
ask in a context like ours is: what do orality Irrespective of whether the community in
and literacy mean? Plato called notions which question is literate or oral, both kinds of
are mutually dependent ‘dialectical’. There is memory rely to a very large extent on those
no slave or servant without a master, no lei- complex signs we usually call texts. So both
sure time without work, no nature without oral and literate communities have at their
culture ; in the same way literacy cannot be disposal different genres of in part consider-
conceived of without orality, and orality not able complexity. In the case of cultural mem-
without literacy. Since dialectical notions pre- ory, these texts tend to be large and often
suppose one another, their respective mean- solemn, serious, sometimes boring (Köngäs
ings depend on the meaning of the opposed Maranda 1972 ). Very often their tradition is
notions. Nature is seen in a thoroughly neg- conveyed to specialists in the matter who per-
ative way as dangerous and threatening when form them on particular occasions and under
it is opposed to a culture which means pro- special ritual circumstances (festivals) needing
gress and which facilitates human existence. a large public. They may as well be commu-
Since in a certain sense nature is what is left nicated and interpreted as canonical texts in
by cultural evolution, it is seen in an abso- institutions existing for the purpose of initi-
lutely positive way by those for whom culture ating the young into full adult membership.
is tantamount to irrevocable destruction. Communicative memory accompanies every-
In the same sense Marshall McLuhan day life. Its genres tend to be less solemn and
(1962 ), relying largely on Eric A. Havelock less artful. There may be different kinds of
(Assmann & Assmann 1990), started from an narrative genres next to jokes, riddles and
oral society which was originally closed, gossip — jokes and gossip creating their iden-
which attached importance to the spoken tifying potential at the expense of those who
word, and in which social roles were relatively happen to be absent.
fixed. He opposed this idealized form of com- Now it is important to notice that as far
munity to Western literate societies which, as cultural memory is concerned there are at
having transformed oral language into a vis- least two types of oral societies. In one type
ible literate code, depreciate the spoken word, the texts have to be memorized verbatim, in
compelling us at the same time to cope with the other what is important is the transmis-
different social roles. In this context a partic- sion of the ‘message’. Old India is a well
ularly negative influence is attributed to the known example for the first type, Old Greece
invention of printing. Whereas Jack Goody for the other. The existence of these two types
and Ian Watt (1962 ) see the transition from has important consequences. Since language
orality to literacy more in the sense of a change is inevitable, the same text, transmit-
profit-and-loss account, Walter S. Ong (1982 ) ted ve r b a l ly from one generation to the next
underlines the positive aspects of literacy and for some hundred years, becomes unintelli-
thus suggests to us the positive kind of eval- gible to those who are not initiated. At the
uation McLuhan was only willing to attribute same time, it has to be explained to those
to the New Age of television which, in his who have to transmit and to interpret it. This
view, takes already the place of literacy is why, in India, oral commentaries — them-
(Goetsch 1991). selves transmitted orally from one generation
In order to show the difference between to the next — as well as the grammar of
types of oral societies and thus between dif- Panini, emerged alongside the oral tradition
ferent meanings of ‘orality’, we first have to of the Vedic texts, and why the recitation of
speak of collective memory. Each community these texts, of necessity unintelligible to the
has its collective memory in the sense of Mau- public at large, eventually acquired a purely
ritual function.
1.  Orality and Literacy 3

As to the other type of oral society where phenomenon we would be inclined to attrib-
it is the s a m e m e s s a ge that is to be trans- ute to literacy when we think that oral culture
mitted, the text changes from performance to is tantamount to oral culture. Under the dif-
performance (Paul Zumthor [1987] calls this ferent conditions of Old Greek oral culture,
“la mouvance du texte”) and, above all, it the concept of authorship did indeed only
tends to be constantly adapted to the prob- emerge with written texts (see e. g. Rösler
lems and to the needs of the present — a 1980, Nagy 1988, Stein 1990 for Antiquity;
phenomenon well described in the seminal cp. Minnis 1984 for the Middle Ages).
contribution written by Goody & Watt In a similar way scholars jump to conclu-
(1962 ). In Old Greece grammatical tradition sions concerning the interpretation of texts
began only with the edition of the w r i t t e n and our commenting on texts. There is no
Homeric texts — i. e. texts in a different dia- doubt that every social group has to have at
lect from a past epoch — during the Helle- its disposal rules governing social coexistence,
nistic Age. The grammar of Dionysios the and mechanisms which allow us to settle con-
Thracian (2 nd —1 st century B. C.) — it is a flicts. Thus there must be rules in the form
description of eight partes orationis, not to be of texts in the collective memory, be it in this
compared with the work attributed to Pāṇini case cultural or communicative. A very com-
— took shape in this context. Those who do mon means to this end is narrative; narrative
not see the different meanings and implica- texts always contain implicit rules (for posi-
tions of orality in Old Greek and in Old tive or negative social behaviour) which may
Indian culture tend to infer per analogiam that be made explicit for instance by application
the grammar of Pāṇini (5 th or 4 th century to analogous cases (Domhardt 1991). In lit-
B. C.) presupposes the basis of written texts erate societies this feature may evolve into a
(Goody 1987; 1988) — an assumption which Case Law system (Raible 1991 c). Another
proves to be devoid of any material basis possibility is the proverb — the role of these
(Falk 1990). in an oral society has been described for in-
Another factor which may be connected stance by Jean Paulhan (192 5) — as well as
with major differences between oral cultures explicit rules or bans. Be the respective society
is metre. Metre and rhythm are frequently literate or not, all these texts need interpre-
used in the domain of cultural memory. Nev- tation, discussion and commentary when they
ertheless there are differences between metri- are applied to special cases. So it is not only
cal systems and metrical prescriptions and in the oral culture of Old India that we en-
restrictions. The more difficult a metre is, the counter the activity of commenting on texts,
greater is its impact on the content to be but potentially in all oral societies (for excel-
communicated. Celtic metres are extremely lent examples see Feldman 1991). Comment-
intricate and thus for instance are apt to pro- ing on texts may thus be a very important
tect a text against later modifications (Tranter feature of literate societies (Raible 1983); nev-
1994; Pokorny & Tristram 1992 , 2 11). The ertheless it is by no means restricted to literacy
metrically bound texts resemble so much the in general.
artful, miniaturized products of Celtic crafts- We find the same kind of rash judgements
manship, that it is impossible to convey concerning the link postulated between liter-
“larger”, for instance epic contents in metri- acy and the evolution of self. The modern
cally bound texts. In order to give a simple conception of individuality is due, we are told,
example: the plan to write the Iliad in limer- above all to (written) autobiography (Illich &
icks would rather not be viable (Raible 1990). Sanders 1988). Now it is immediately plau-
As a consequence, in the tradition of Celtic sible that in writing our biography we select
cultural memory those narrative prose genres and reject information, creating thus, as did
exist which are generally seen as an offspring Michel de Montaigne, a highly idiosyncratic
of literacy. and subjective text of ourselves. But an au-
A similar result may be observed in Ice- tobiography need not be written, it may be
land, this time due to the extreme semantic told as well. Here language in general is most
difficulties created by the obligatory use of important. Between the second and the third
‘kenningar’ in certain genres. Not only do we year of their life children begin with autobio-
find there the prose sagas as a backbone of graphical comments (a marvellous example is
cultural memory (Jolies 1930, 62 —90), but in Nelson [ed.] 1989). The comments reflect
also the attribution of metrically bound the child’s understanding himself or herself
scaldic texts to known authors — another and the surrounding world. In the sense of
4 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

L. S. Vygotsky, self is created with the help From left to right — corresponding to the
of speech. Rendering events of one’s life into distinction of Wilhelm von Humboldt — we
an appropriate genre form is a requisite to find speech under its subjective aspect, then
making such event representations fully ame- under its intersubjective. This is what Bühler
nable to thought (Bruner & Weisser 1991, 140; calls “subjektsbezogene Phänomene” as op-
Bruner & Lucariello 1989; Nelson 1989). The posed to “subjektsentbundene, intersubjektiv
written autobiographical texts of adults are fixierte Phänomene”. From top to bottom of
simply particularly elaborate and, above all, his matrix, Bühler makes a distinction be-
fixed instances of this reflective activity. tween the material and the formal aspect of
language. The first one he calls “lower degree
of formalization”, the second one “higher de-
3. The medial and the conceptual gree of formalization”. (This actually trans-
aspect of ‘orality’ and ‘literacy’ forms the vertical dimension of his matrix
The rash judgements we can find in recent into a scale.) In the intersection between the
and even in current discussion suggest that subjective aspect and the low degree of for-
we must be more cautious. Not only do we malization, we have the term ‘Sprechhand-
have to differentiate between various kinds of lung’, speech activity (de Saussure’s parole ),
oral and scriptural communities and between in the intersection with the intersubjective as-
different kinds of orality and literacy; what pect (or von Humboldt’s érgon ), we find the
would be appropriate is also a conception term ‘Sprachwerk’, the text as a planned
which could serve as a theoretical framework product. In the line corresponding to the for-
for our problems. mal aspect, that is to say: to the higher degree
In this respect it is most important to dis- of formalization, we find the term ‘Sprechakt’
tinguish between a purely m e d i a l as against (speech act) in the intersection with the sub-
a c o n c e p t u a l aspect of orality and literacy jective aspect, and ‘Sprachgebilde’ in the
(Koch & Oesterreicher 1985, → art. 44). fourth field of the matrix, the one correspond-
While there is a clearcut medial difference ing to de Saussure’s langue.
between an orally delivered and a written text, The horizontal dimension of Bühler’s ma-
things are more intricate on the conceptual trix corresponds exactly to the c o n c e p t u a l
or c o g n i t i ve aspect of orality and literacy:
side. In the thirties of the 19 th century, Wil- Whereas texts produced in what Bühler
helm von Humboldt established a distinction would call ‘Sprechhandlungen’ — e. g. small-
between speech as an activity or as a process talk — lack planning, his ‘Sprachwerke’ are
(implying a subject), and speech as something highly elaborate, planned texts addressed to
created and produced, i. e. speech as a prod- a large and unspecific public. Since there are
uct. He called it the difference between enér- degrees of planning, it goes without saying
geia and érgon. Later on, Ferdinand de Saus- that, in contradistinction to the medial aspect
sure introduced the distinction between lan- of orality and literacy, there cannot be any
guage as a system of rules, his langue, and clearcut distinction on the conceptual level.
speech activity, his parole. In the third axiom Reading the text of Bühler with some atten-
of his Sprachtheorie, Karl Bühler (1934, 48 ff) tion, we see that it is fully compatible with
combines these two aspects into a matrix with the idea that ‘Sprechhandlung’ and ‘Sprach-
four places (figure 1.1). werk’ mark the extreme positions on a scale
(Raible 1989). Peter Koch and Wulf Oester-
Degree of intersubjectivity and reicher (1985; → art. 44) call this scale the
planning one between “Sprache der Nähe” and
lower higher “Sprache der Distanz”. Since the vertical di-
Lower degree Sprech- Sprachwerk mension of the Bühlerian matrix with its
of formaliza- handlung (text as a lower and higher degree of formalization is
tion (speech activity, planned already a scale, the whole matrix can actually
parole) product) be seen as a combination of two scales.
Higher degree Sprechakt Sprachgebilde Some examples will show the consequences
of formaliza- (speech act) (langue) of this conception: If somebody reads this
tion article to a listener, beyond any doubt it will
be delivered orally. Nevertheless it rests scrip-
Fig. 1.1: Karl Bühler’s ‘four place matrix’ tural by its conception because what passes
(“Vierfelderschema”) through the oral medium is a highly planned
1.  Orality and Literacy 5

text. Oral poetry might serve as another ex- need not) be brought about by literacy:
ample. Although the bard or the rhapsode 1. Literacy may increase the number of tex-
performing an oral epos may be illiterate, the tual genres used in a speech community.
texts they perform will be much more of a There will be neither essays nor editorials,
‘Sprachwerk’ in the Bühlerian sense than a patent specifications or testaments in an
‘Sprechhandlung’ — because it is planned, oral society (→ 5.3., 5.4., 5.6., 5.7.; →
premeditated, and conforms to a macrostruc- art. 44, 3.1. and 3.2. Koch & Oesterreicher
tural scheme. Conceptually speaking it is speak of ‘Diskurstraditionen’).
scriptural. As has been shown by Michael 2. In a literate society there may be a greater
Reichel (1990), the macrostructure of the Iliad number of genres in the conceptual dimen-
with its typical retardation technique is so sion extending between ‘Sprechhandlung’
planned that even the idea of written com- and ‘Sprachwerk’. At the same time, the
position might suggest itself. greater number of textual genres available
We tend to classify something heard or enlarges the conceptual space, shifting the
read as chatter, smalltalk, gossip, discussion, position of the ‘Sprachwerk’ considerably
as an essay, a sermon, an editorial, a novel, to the right (→ 5.4., 5.6., 5.7.) Literacy
a patent specification, a review, a judgement, allows for extremely complex texts which
a testament, and so on. This simply means have to be read and reread in order to be
that we assign texts heard or read to textual understood (cp. for examples e. g. Raible
genres. This allows us to take advantage of 1992, 215 ff).
the vertical scalarity implied by the Bühlerian 3. Having introduced an additional level of
matrix. The lower degree of formalization formalization into the Bühlerian scheme
concerns t ex t s a s t o ke n s , whereas, on the (→ 3.), we are confronted with three scales
higher degree of formalization, we are on the in the horizontal dimension: if there is a
s yst e m i c l eve l . Now one of the levels we scale on the first level between ‘Sprech-
may insert between the two levels of formal- handlung’ and ‘Sprachwerk’, and corre-
ization suggested by Bühler — i. e. the level spondingly another scale on the level of
of text tokens and the systemic level — is text types, we have to take into account a
exactly the level characterized by t y p e s (text scale on the highest, i. e. the systemic level,
genres) as opposed to t o ke n s . It corresponds too (figure 1.2):
to Klaus Heger’s (e. g. 1974, 151) Σ-parole
between the levels of parole and langue. This Degree of intersubjectivity
means that to all the genres which have been and planning
mentioned there corresponds an approximate low ↔ high
position on the c o n c e p t u a l scale which un- lower degree of Sprech- ↔ Sprach-
derlies the scale between ‘Sprechhandlung’ formalization handlung werk
and ‘Sprachwerk’. intermediate level of corresponding text
This holds all the more as the ascription degree types (genres)
of a text to a certain textual genre is tanta- higher degree of Sprech- ↔ Sprach-
mount to saying that it represents a certain formalization akt gebilde
form of thinking, a certain conceptual atti-
tude or framework (Raible 1988). Thus the Fig. 1.2 : Modified and enlarged version of the
genre ‘public lecture’, no matter if it is deliv- Bühlerian four place matrix. On the level of the
ered orally or read afterwards, should at any intermediate formalization degree the different
rate be closer to the pole of the Bühlerian genres have to be arranged according to the
‘Sprachwerk’ than gossip or chatter, genres degree of intersubjectivity and planning they
which generally are near to the pole called presuppose. At the left hand side would be
‘Sprechhandlung’. smalltalk, gossip, and the like; on the right hand
side we would encounter for instance the poetry
of Pindar, patent specifications or French
4. The possibilities and consequences judgements.
of a twofold scalarity in the
theoretical framework This explains why it is a priori impossible
to find, on the level of conceptual orality
These considerations suggest at least five con- and scripturality, the same clearcut dis-
clusions with respect to changes that may (but tinction we necessarily encounter on the
6 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

level of medial realization. Those who set Mount Rushmore, the Egyptian pyramids,
out to find such a distinction had to admit parts of Palestine); the memory of heroes like
afterwards that they — very convincingly Roland, El Cid, William Tell, Joan of Arc,
— had found scales (e. g. Biber 1986), con- Abraham Lincoln, the founders of religions
firming thus indirectly the theoretical (→ 5.3. [effects of canonical texts]). On the
achievements of scholars like Bühler (1934) smaller scale, identity is created by smalltalk,
or Koch & Oesterreicher (1985). gossip, jokes, letters, by a common familiar,
4. The augmentation of textual genres and local or tribal descendance, a common ado-
the extension of the conceptual scale by lescence, a common service in social institu-
the shift to the right already mentioned tions, and so on. Both oral and written texts
automatically means new demands on the thus play an important part in communicative
systemic side (e. g. Vachek 1939; for ex- as well as in cultural memory.
amples from the Romance languages see
Raible 1992 , 191—2 2 1; → art. 44, 2 .1.—
2.3. and 3.). 5. Transitional phenomena
5. A conceptual (or cognitive) scale does not A social community can dispense with liter-
only underlie the scales in the above acy, not with orality. Apart from entirely oral
scheme (4.3.). Two further scales may be cultures, we are thus always confronted with
postulated largely parallel to this concep- m o r e o r l e s s literate societies. Given the
tual scale, concerning this time not texts, dialectical relationship between orality and
genres and their systemic equivalents, but literacy, this means that in different social
the social effects of texts — and of other communities we will find different forms and
cultural symbols (Cassirer 1977) — ac- different assessments of literacy and orality.
cording to their positions in the above Herbert Grundmann (1958) gave an excellent
scheme. The first one is the scale consti- survey for the Middle Ages (cp. Thomas 1989
tuted by c o l l e c t i ve m e m o r y with its and Simondon 1982 for Old Greece). In view
two poles already mentioned (Assmann of the above mentioned fallacies, prudence
1992 , 55 dislikes the idea of a scale in the will thus be advisable concerning our ten-
case of Old Egypt); the second one con- dency to draw too general conclusions and to
cerns the radius of s o c i a l i d e n t i t y which transform observations of a maybe highly
may be created by the corresponding particular and idiosyncratic nature into gen-
manifestations of cultural symbols and eral tendencies. Nevertheless some points —
texts. In conjunction with the underlying mainly concerning alphabetic literacy — de-
scale we thus have another triad of scales serve to be mentioned and even to be com-
(figure 1.3): mented upon with some intensity.
conceptual conceptual
↔ 5.1. Slowness as a characteristic of
orality scripturality ‘invisible hand processes’
— the example of alphabetic writing
communicative cultural

Neogrammarians made us familiar with the
memory memory
“laws of sound change”. We learn for instance
that an unchecked and stressed Latin «a» re-
small radius ↔ large radius
sults in a French «è» (as in pater > père ).
of social of social
Usually such “laws” take into account the
identity identity
starting point and the end of a process, dis-
Fig. 1.3: Two further scales parallel to the one regarding as often thousands of years of in-
extending between conceptual orality and con- termediate states. Similar statements in the
ceptual scripturality. domain of cultural change brought about by
literacy were highlighted at the beginning of
Some examples might be appropriate to illus- this article.
trate the last point. The means contributing As has been shown by the representatives
to the identity of a group on the large scale of Mental History, processes in the domain
may be common habits, common gestures of cultural evolution tend to be just as slow
and rituals; a common language, writing sys- as language change (which is merely another
tem, orthography (→ 5.1.), religion, legal sys- aspect of cultural change). As in language,
tem (→ 5.6.); a ‘holy’ landscape (Mekka, the general slowness does not exclude the
1.  Orality and Literacy 7

possibility of phases characterized by accel- The consequences of this tendency to serve


erated change. the interests of the reader by ideographic ele-
A good example is the evolution of Western ments can be seen in all discussions on or-
alphabetic script. Apart from its very begin- thography. Typically, they are dominated by
ning — which may have been influenced by the perspective of elementary-school teachers
Semitic practice — Greek script shows a fea- who would like to reduce — for those learning
ture characteristic of early alphabetic writing: to write — the difficulties brought about by
it reflects essential aspects of spoken lan- the tendency under discussion (Raible 1991 a;
guage. Since we hear no pauses between Maas 1992 ; Strobel-Köhl 1994). It goes with-
words, scriptura continua is a quite natural out saying that all these achievements (punc-
outcome. It prevails in Western texts up to tuation rules, orthography, layout) increase
the eight century A. D. For reasons not to be the intellectual and the practical effort of the
explained here, a natural and necessary con- writer. Usually the positive side — the facil-
sequence of scriptio continua is reading aloud itation of reading — is not taken into account.
(Saenger 1982). Those who would like to “reform” German
At about 12 00 all the achievements of what orthography (which is fairly easy to handle
most of us would call the ‘modern layout’ are compared e. g. to English or French) wish
present in scholastic texts: spaces between above all to abolish the initial capitals of
words, punctuation, capitals at the beginning nouns. These are the result of a typical ‘in-
of a new sentence, paragraph indention, chap- visible hand process’ (Meisenburg 1990)
ter headings, short summaries in the margin, which facilitates reading, the major problem
footnotes, emphasis by means of different being the interventions made by linguists who
colours and different script, a table of con- formulated inadequate rules at the beginning
tents, alphabetic registers, and so on (Parkes of the 2 0 th century, complicating the handling
1976; 1992 ). The advantage of these aids is and thus obscuring the signification of the
enormous: the reader is not lost in an amor- feature (→ art. 128).
phous text. On the contrary he knows at every Once an orthography has become estab-
page of the book where he is. It is only at lished, it belongs to the deepest layers of
this time that the general practice of silent cultural memory and mentality. Those who
reading can begin. would like to reform it should possibly give
Nearly none of the achievements we find their sanction to the processes of the invisible
in scholastic texts is an exclusive invention of hand and to the logic inherent in them instead
this epoch — we find all of them scattered of trying to impose their will to those who
here and there in earlier texts. It is only their are not willing.
concentrated appearance in one and the same
text which is an ‘invention’ of scholasticism 5.2. The invention of printing — a cause or
(Frank 1994). a consequence?
When we ask for the reasons that might
possibly have brought about scholastic lay- Very convincingly at first glance, the inven-
out, we find a general tendency: in the course tion of the printing press is often seen as a
of their evolution, alphabetic systems depart major achievement with vast consequences.
more and more from the interest of writers; McLuhan (1962 ) even made it a pillar of his
instead, to an increasing degree they serve the general thesis. Paul Saenger (1982 ) wrote a
needs of readers by the introduction of ideo- significant contribution showing that in many
graphic elements. This also explains why these respects the view of McLuhan was erroneous.
phenomena can be observed at the end of the All the accomplishments in the domain of
12 th century: it was not until then that lay layout that we might be inclined to attribute
literacy developed to any significant extent. to printing had already been made by 12 00
We can observe the same interrelation be- (→ 5.1.). There are no major changes in book
tween layout and the potential reading public production during the 50 years before and
in Roman legal texts realized in the form of after the invention of printing (Eisenstein
public inscriptions. Since they were, of neces- 1979).
sity, intended for a l l Roman citizens, their The true revolution did not take place in
form and their legibility anticipates — apart the middle of the 15 th , but at the beginning
from punctuation — what might seem a scho- of the 13 th century. Historians of the Middle
lastic invention by about 12 00 years (Raible Ages know that up to about 12 00 the number
1991 a). of written documents is easily comprehensible
→ art. 40. With the beginning of the 13 th
8 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

century the number of written texts increases number of written texts. The medium was
in a way that makes it impossible for the Latin at the beginning. On the continent, the
historian to keep more than a very general 13 th century at the same time marks the true
perspective. To give just one example: in the onset of vernacular literacy.
Archivio dello S tato di S iena there are about Whereas the texts mentioned for the Ar-
500 documents from the 12 th century, but chivio dello S tato di S iena (→ 5.2 .) were
16,509 for the 13 th century. In the 14 th century “only” documents, more and more books
there is only a slight increase. The rate of were published. In order to give one further
increase is not constant during the course of example: with the help of the bibliography of
the 13 th century. There is an immense accel- Cioranescu we can find out that nearly 10,500
eration between 12 2 0 and 12 40, whereas the book titles were published in France between
annual output of written texts remains more 1650 and 1750. In about 2 00 different genres
or less the same later on (Hartmann 1994). they deal with a panoply of subject matters,
The spectacular acceleration in text pro- the most important being religion (whose
duction coincides historically with major overall share is 1/3, the production of relig-
changes in social, commercial and agricul- ious texts ascending until about 1680, thence
tural organization. Thanks to doings and rapidly descending; cp. Kalverkämper 1985).
dealings the near-democratic city states of Among the writers of this epoch there is a
Northern Italy had already a population sur- first Grand Master, Voltaire (1694—1778),
plus in these times. This compelled them to who dominated the field of literature with the
organize life and everyday supply very strictly 60 odd text genres he mastered. At the same
by written statutes, to include the surround- time he was a European institution (“an in-
ing areas by means of treaties, more and more tellectual superpower in Europe”) populariz-
also by the purchase of real estate. The pres- ing for instance the physics of Newton. He
ent-day landscape of Northern Italy is a prod- was the true head both of the European En-
uct of 13 th century agriculture and, to a large lightenment and of the famous Grande En-
extent, of 13 th century scripturality (Keller cyclopédie (Fontius 1989, xxxiii, xxxvii).
1991). The Encyclopédie itself was an enormous
In this view Gutenberg’s invention presents challenge at the time: to paper and book
itself much more as a necessary consequence, production, to book trade, to capital invest-
than as an ‘agent of change’ in the domain ment (by subscription) — and to censorship.
of literacy. (This holds also for the modern At the same time it was an excellent business.
writing servants we call computers.) It goes This enormous quantity of printed text, con-
without saying that printing had conse- taining in a systematically ordered way the
quences, too. One of them is the tendency to knowledge of the best scholars of the time,
standardize orthography, lexis, and grammar was sold in nearly 2 5,000 — very expensive
(→ art. 44, 4.3.). Another consequence is that, — copies before 1789 (about 11,500 of them
like the computer, it made superfluous certain in France). The major part of the first edition
occupations, at the same time creating new (1751—1772 ) had already to be produced
ones. Major preconditions for printing to un- abroad, mainly in Neuchâtel, then a part of
fold its true possibilities were a new increase Prussia (cp. Darnton 1979 who exploited the
in the potential reading public in conjunction archives of the S ociété typographique de Neu-
with other factors, among them Italian and châtel). The privilège du roi that printers of
French humanism as well as French and Ger- the 16 th century had asked for in order to
man protestantism — the great printers of protect their exclusive copyright for the titles
16 th century France were in general both hu- they sold had imperceptibly turned into a
manists and protestants (Catach 1968). If it highly efficient censorship in France which
were only the invention of printing that allowed both an underground market (Darn-
brought about later Western evolutions, sim- ton 1982 , 1991) and printers in Switzerland
ilar consequences should have been observed and in the Low Countries to flourish (cp. e. g.
in China where the same invention had been Eisenstein 1979). The existence of censorship
discovered earlier. shows that literacy may develop aspects that
are felt to be a ‘threat to the security of the
5.3. Cultural memory, the quantity of texts state’, or to other institutions (at that time
available, and censorship the Catholic Church had already had its index
librorum prohibitorum for centuries).
As explained above (→ 5.2 .), the revolution One of the disadvantages of oral cultures
of the 13 th century enormously increased the is what Roman Jakobson and Pëtr Bogatyrev
1.  Orality and Literacy 9

aptly called a “collective censorship” (“Prä- canon in effect, the majority being discarded.
ventivzensur der Gemeinschaft”, 1966 [192 9], We find this kind of institutional censor-
4). Texts the audience dislikes fall into obliv- ship in all kinds of societies (Assmann &
ion. In literate cultures all written texts can Assmann 1987). Apart from imparting
be preserved and rediscovered by future gen- knowledge which could (but need not neces-
erations, provided the material they are writ- sarily) be of practical importance, education
ten on subsists. This advantage changes into functions as a kind of initiation ritual which
a serious problem with mass media — this is transforms youth into fully-fledged members
above all a true consequence of printing. of society. Another function — and not the
Unless the literate public simply refrains least — is that thereby the young participate
from reading, there are at least three reac- in what is the collective memory of the com-
tions. The first one is already characteristic munity with its power of social identification.
of Antiquity (in the 1 st century B. C. the fa- Making texts as attractive as possible is a
mous Alexandrian Library is said to have third possible answer to unwilling potential
contained 700,000 volumes or pinakes). Since readers. Authors and printers improve text
it may be somewhat tiresome to read entire layout, they illustrate their products. They try
texts, shorter (and cheaper) versions are pro- new techniques, change genres and ‘invent’
duced. They are called epitomē, summarium, new ones; they introduce more — and more
argumentum or hypóthesis (of a play), later natural — dialogue parts into their texts (and
on catechismus, breviarium, compendium. dialect with dialogue — cp. Goetsch 1987),
Other genres make a new text out of parts of they discover new topics (historians of liter-
others. The genres flourishing already in An- ature distinguish them in retrospect with the
tiquity are called florilegium, anthología, ek- label of a new - ism : realism, naturalism, sym-
logía, miscellanea, stromatéus ‘patchwork’, di- bolism, futurism, being well known exam-
gests, pandektá, later on, in scholasticism, ples).
compilatio and encyclopaedia. Alongside with While in literature — thanks to mass media
these reductive forms new genres created in a — there is an increasing tendency to inter-
philological attitude of mind come into being: nationalize such achievements (in Spanish we
for instance the lexicon and the grammar. have the term literatura universal with its very
This tendency to create new texts and text special meaning), scientific writing seems to
genres by abbreviating or compiling other foster national traditions. French scientists
ones has not changed in more recent times. knew (Lepenies 1976, 131 ff) and know that
About 2 00 French titles published in the pe- they write in a way different from their Ger-
riod from 1650 to 1750 belong e. g. to the man colleagues; comprehensible scientific
genre abrégé. Modern forms are Valentino writing has a different standing in anglophone
Bompiani’s Dizionario delle Opere di tutti i science and in the corresponding German-
Tempi e di tutte le Letterature and its different speaking tradition (→ 5.7. [communicative
successors, as well as the primer, the intro- writing]).
duction, the textbook, Reader’s Digest, and so The most radical changes in writing can be
on. observed in the history of mass media, i. e. in
With the terms ‘philology’ and ‘philologist’ journalistic writing and in the corresponding
we come to the second reaction to the over- genres of television. Journalists know best
whelming production of written texts in lit- what they can expect of their readers. Reading
erate societies. These societies tend to create public means circulation and money. Jour-
institutions they call elementary school, col- nalists thus use every trick in the book to
lege, Gymnasium, lycée, university, Grande persuade the potential public by the layout
École, Academy of Science, and the like. The of the First Page, by headers, leads, photo-
graduates leaving such institutions (which graphs and cartoons, the amount of infor-
may be combined with religious instruction) mation to be conveyed being as drastically
are employed in the public and in the private reduced as the value the message has two
economic sector. Since the matters that could days later.
be taken into account during such processes
of education are potentially unlimited, 5.4. The two dimensions of written texts as a
choices have to be made. In this domain every starting point for further achievements
system of education has the function of cen- The evolution of text layout (→ 5.1., 5.3.) has
sorship — only some texts (literary and other) an aspect which merits some more attention.
shall belong to the curriculum, the Lehrplan, Spoken texts are one-dimensional. Utter-
the trivium and quadrivium, or simply to the
10 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ances, words, sounds cannot but follow one process, too. A table (i. e. a particular instance
another. One of the great advantages of writ- of a two-dimensional matrix) is not made for
ten texts is the two-dimensional nature of the linear perception, but for simultaneous,
page. Layout makes use of the respective pos- global reading. Precise information may be
sibilities in marking chapters, paragraphs, found and interpreted in accordance with its
and so on. relative position in a well ordered whole.
There is one further possibility which ap- Contemporaries who are professional read-
pears most clearly in mathematics. When in ers will be familiar with the tendency to take
12 02 Leonardo da Pisa wrote his liber abaci, advantage of the ideographic elements that
he relied on an Arabic original. Problems we tend to develop in the orthographies of al-
would formulate in a few lines extend over phabetic writing systems, of good page layout
one or more pages of normal Latin text. and simultaneously accessible information, in
Mathematicians of the 13 th century are not order to overcome the tiresome process of
yet familiar with the system of notation their linear reading which proves to be too costly
successors use today. This system only devel- in terms of time (Richaudeau 1969; Günther
oped in a slow process between the 13 th and 1988).
the 17 th century. Most of the symbols are the Other — more indirect — consequences of
outcome of an intermediate stage which the two-dimensional page layout (for instance
would not have been possible without alpha- a decisive change in the conception and in the
betic literacy — phenomena of the same kind art of memory — cp. e. g. Yates (1966) — or
can be observed in India (e. g. Brahmagupta) the idea to create a universal language) can
and in Alexandrian mathematics (Diophan- only be mentioned (cp. for this paragraph
tos): this is the stage of abbreviation. To give Raible 1991 b, 1993 a).
some simple examples: abbreviation leads not
only to most familiar signs like & ( et ), but 5.5. The written text as a metaphor
also to the plus and minus (+, —), the sign The Presocratics knew that we have to use
for the square root (√4x 2 ), and so on. For visible models in order to understand things
Leonardo da Pisa the unknown is still res or we cannot see (cp. Anaxagoras, fragment 2 1a
radix, the square of the unknown is termed Diels-Kranz). The model Leucippus and De-
census, the name of its third power is cubus. mocritus used for their atomistic doctrine was
Nearly three centuries later, with Luca Pacioli the Greek alphabet. Matter, they said, is com-
(1494), we find the respective abbreviations posed of invisible atoms and void space be-
co. (for cosa, ‘thing’), ce., cu. (4x 3 is written tween them. The diversity and the variety of
cu. 4). It was Descartes, at the beginning of the visible world is due to the fact that atoms
the 17 th century, who introduced the modern are differently shaped: like an A differs in
conventions (x 0 for absolute numbers, x 1 , x 2 , shape from a N; that their order may be
x 3 , and so on for the powers of the unknown different: AN is different from NA; and that
— cp. e. g. Tropfke 1921). their relative position in space may differ: a
Today’s system of mathematical notation rotation of 90° makes a N out of a Z (cp.
was indeed shaped to a large extent by the Aristotle, Metaphysics A 4, 985 b 15 ff). The
great mathematicians of the 17 th century. It idea behind this conception is the reduction
facilitated the highly momentous discoveries of immense varieties to a restricted set of
of this century: analytic geometry and calcu- elements (the 2 0 odd letters of the Greek
lus, resulting in a new ideographic system. alphabet) we can observe in written texts.
Mathematical ideograms, consequently ex- Models of thinking leave deep imprints in
ploiting the two dimensions of the page, are the history of thought and science. When they
accessible to simultaneous rather than to lin- are used as a model, the works of the clock
ear perception — provided one knows the lead for instance to mechanistic explanations
system. This enormous progress made math- of systems (with God as the great watch-
ematics the most important complementary maker and the Prime Mover), whereas for
science to natural sciences, contributing in a example the model of networks favours the
decisive way to their role in modern science idea of dynamic systems admitting parallel
and technology. instead of linear processing. Now one of the
The two dimensions of the written page most powerful and effective models of think-
have been exploited in other ways, for in- ing in Western thought was the book. Hans
stance in the tables, matrices and graphs we Blumenberg (1981), a German philosopher,
find in our texts. They are the result of a long devoted an entire book to this topic. It is
1.  Orality and Literacy 11

perhaps the most important publication on ebenso gut darin ihren Ausdruck finden kön-
the consequences of literacy (although it has nen, als die Worte und Begriffe aller Sprachen
escaped the attention of most scholars in the in den 2 4 bis 30 Buchstaben des Alphabets”).
domain). The idea of envisaging the world as It was not until in 1943 that the same idea
a book originated in Jewish and Christian was put forward again — this time by the
Antiquity. Nevertheless the idea of the legible Austrian physicist Erwin Schrödinger — in a
world became truly productive only with series of conferences given in Dublin under
scholasticism, i. e. at the moment when for the heading “What is life?”. He suggested a
the first time books had the layout (and the genetic alphabet similar to Morse. Mutations
legibility) familiar to modern readers. would be due to mistakes in the process of
The idea of the two books of God — the copying and reading the code. When Oswald
Scriptures and the world (“the book of na- T. Avery, one year later, published the dis-
ture”) — dominated thinking for centuries. covery of what today would have been called
At the beginning the book of the world, fos- the succesful cloning of bacteria, one of his
tering edification, can be read by illiterates, rare readers, Erwin Chargaff, had at once the
too. It dictates “true philosophy” to its reader. idea of a “grammar of biology”.
But, more and more, special knowledge is Both Miescher and Schrödinger were con-
required in order to read it. Discrepancies firmed in 1953 by the discovery of Francis
between the two books are noticed and com- Crick and James Watson who showed that
mented upon. In the Criticón of Baltasar Gra- the long strands of deoxyribonucleic acid
cián (1601—1658) we need already a descifra- (DNA, Schrödingers punched Morse tapes)
dor in order to understand a human world had the structure of a double helix, and by
which is written in cipher, and the result of the series of momentous discoveries that fol-
our lecture will be desengaño. When the new lowed this breakthrough. The genetic code
ideographic language of mathematics be- underlying all forms of life has exactly the
comes fully available in the first decades of same ‘double articulation’ characteristic of
the 17 th century, Galileo Galilei tells us that human language: corresponding to the
the book of nature is written in cipher, too, sounds or phonemes of our languages there
and that those who intend to read it have to is a “genetic alphabet” consisting of four nu-
master the language of mathematics. He thus cleotides or “letters”, a triplet of letters form-
announces in a prophetic manner the defini- ing a genetic “word” or codon. Homonymy,
tive separation of humanities from natural rare in our languages, is frequent in the do-
sciences so characteristic of modern times. main of genetics since most of the 64 possible
The point in this evolution is that mathemat- three letter words correspond to (“mean”)
ics itself — which brought about these results one of the 2 0 odd amino acids which are the
— does not belong to the natural sciences. In elementary constituents of all forms of life.
the Platonic sense it is a pure science of ideas. The metaphor of language in the form of an
Although by the 17 th century at the latest alphabetic writing system is omnipresent in
we are told that in order to decipher nature molecular biology since 1953 (cp. Raible
we need to know a new language, there will 1993 b).
be one further offshoot of the central meta-
phor which likens nature to a text. It is even 5.6. Tendencies in legal systems.
the most important for modern times since it Some social and institutional
concerns molecular biology. In the 2 2 nd (and consequences of literacy
last) chapter of his book Blumenberg de- Literacy may — but need not — lead to
scribes the process that resulted in the deci- institutions and to institutional changes. Jan
phering of the genetic code. It began with the Assmann (e. g. 1983, 1992 ) described them for
discovery of nucleic acid by Friedrich Old Egypt, others have done it for Mesopo-
Miescher in 1869. In 1893, just before his tamia (→ art. 35). As to more recent times,
death, he put forward the idea that the rela- some of the social consequences of literacy
tion holding between the letters of our alpha- can be shown in areas where a legal system
bet and the enormous number of words their relying on written texts clashes with oral com-
combination results in could explain the re- mon law. This was for instance the case in
lationship between the information contained the Middle Ages. Lots of charters that have
in the nuclei of our cells and the variety of been left to us — many of them belonging to
life forms (“... daß aller Reichtum und alle the first texts written in vernacular languages
Mannigfaltigkeit erblicher Übertragungen — document lawsuits concerning real estate
12 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

affairs. Somebody had made a testament or quantities of written texts — these texts being
a gift in favour of the Church. The — illiterate in one case the judgements pronounced, in
— plaintiffs usually start from the assumption the other the law texts which by their sheer
that, in accordance with customary right, the quantity (→ 5.3.) tend to obscure the princi-
legal heir should be the family or the clan. ples of justness (Raible 1991 c, 441 f).
Since the defendant is able to produce written
legal titles, the suit is hopeless for the plain- 5.7. Cognitive demands and consequences
tiffs. To an illiterate plaintiff familiar with
oral common law, a written provision coming It has already been explained that the scale
into validity after the death of the party who between conceptual orality and scripturality
made it (as testaments are), is simply incom- is essentially a cognitive scale and that textual
prehensible (cp. Clanchy 1993 for England). genres — which may be arranged on such a
Still more recent observations of this kind scale — mean cognitive demands which as
often call for special knowledge (→ above 3.,
concern 17 th and 18 th century Hungary. Here 4.; this holds also for the genres of oral so-
a usually illiterate population clashed with an
administration using not only script, but cieties). Every genre automatically means a
Latin into the bargain. Since neither registers special patterning and a selection of possible
of birth, marriage and death, nor land regis- information because information is by defi-
ters were kept, personal evidence before the nition a ‘reduction of possibilities’. Western
court was most important. The existing re- institutions initiating the young have to spend
cords of the lawsuits show us that nobody a good deal of their time teaching pupils and
knew in which year she or he was born. The students how to write texts and how to excel
date of birth and the importance of people’s in certain textual genres, these genres being
ages seem to be one possible outcome of — like essay, panegyric speech, address to the
institutional literacy. At any rate illiterate jury, or aphorism — at the same time forms
communities fix the age of people in accor- of thinking. French, German, or Italian
dance with the social functions they are able judgements with their higly ritualized text
to fulfill. The people testifying in the Hun- forms demand not only an obligatory legal
garian suits have the age appropriate to the knowledge, but also an intensive and thor-
event to be witnessed. Thus in two different ough training with the aid of specialized text-
records the same witness can grow ten years books (cp. Krefeld 1985). The same thing
younger or older within a fortnight. holds for articles in certain reviews, for letters,
Another observation to be made in this applications, requests, but also for essays,
context concerns communicative and cultural short stories or novels. “Writing can be intel-
memory in conjunction with the correspond- lectually very demanding, requiring attention
ing social radius (→ 2 .). The records show to both rhetorical and substantive issues”
that the memory of a single party or a small (Scardamalia & Bereiter 1985, 327).
group of persons, for instance a family, does As has been said above (→ 2 .), speech has
not exceed 70 years. As soon as events con- an important role in the development of self.
cern a larger community, for instance a whole Since written texts allow us to exteriorize and
village, a fairly reliable memory going far to neatly elaborate problems, and since the
back in time (admittedly without dates) may appropriate abilities have to be acquired, the
be kept alive (Tóth 1991). writing of texts has important ontogenetic
Apart from common law — which for ex- aspects (cp. e. g. Scinto 1986 or Ferreiro 1985
ample was still valid in northern France in for elementary writing; → art. 98). Specialists
generally distinguish several levels to be ac-
the 17 th century — Western civilizations know quired one after the other. The level of “com-
two major legal systems: Case Law and the municative writing” shows what is at issue:
systems which have adopted so called Roman the writer should be able to anticipate the
Law. In both systems all charges, petitions, difficulties potential readers might have with
judgements, injunctions, and so on are in his text (Jechle 1992 ). At the same time the
written form. (Modern) Roman Law requires different drafts preceeding the final version
written laws, bans, prescriptions, stipulations, allow us to retrace the intellectual steps an
and the like (nulla poena sine lege), whereas author made in producing his text (cp. e. g.
Case Law generally deduces the rules leading Grésillon 1988, the contributions in Hay
to a particular judgement from the judge- 1989, and the so called critique génétique).
ments passed on analogous former cases. At least those who practise scientific writ-
B o t h systems have to strive against vast ing will be familiar with an effect called “epi-
1.  Orality and Literacy 13

stemic writing” in the school of Jean Piaget: work on.


after having written down, i. e. exteriorized, To a large extent the mental training one
a text on a certain topic in an often lengthy needs to answer the questions psychologists
process, the subject matter tends to be much like to ask (witness the famous IQ-tests) does
clearer to the author than it was before. He not presuppose literate candidates, although
may have the feeling that he “knows more” the questions themselves are products of lit-
than before, although he need not have used eracy. The same thing holds for the word
exterior knowledge (Eigler et al. 1990). This association tests psychologists have been ad-
is one other reason why undergraduates are ministering since the beginning of the 2 0 th
compelled for their own sake to write papers, century. They presuppose three levels of in-
master’s and doctoral theses. The exteriorized tellectual evolution which seem to be a side
text — something slowly and consciously pro- effect of literate education, too (Raible 1981).
duced and revised several times — among Literacy means demands on the intellect, but
other factors may increase the general effect intellectual evolution might to a large extent
speech has in the construction of self. do without reading and writing since many
In one of his important contributions Ivan intellectual faculties are really indirect or side
Illich (1991) pointed out that literacy creates effects of literacy (Scribner & Cole 1981).
a mentality (he speaks of a “symbolic fallout
form”) which moulds the literate as well as 5.8. The dialectics of literacy
the illiterate members of a community. With
respect to the illiterates he speaks of “lay It has been said that dialectical notions pre-
literacy” — his perspective is a certain kind suppose and define one another (→ 2 .). There
of Western mentality developing since the are not only different kinds of oral and lit-
Middle Ages. A modern example will show erate cultures, but also different degrees of
what is meant: a father goes for a walk with literacy and orality, every change in literacy
his four-year-old son. Somewhere they see a changing at the same time the role and the
dog and a cat and the father asks “what do assessment of orality. Since literacy is in com-
a dog and a cat make?” in order to hear “two petition with other media characterized by an
animals”. In this way he is trainig hierarchies indirect, mediated and unidirectional com-
of notions with an illiterate child. munication, the same holds for the relation
Children have no difficulty at all with this between television resp. broadcasting and the
kind of game. The same holds for the ele- print media. No doubt the abundancy of
mentary set theory underlying such games. At ‘shallow’ broadcast, televised and journalistic
this age children will have no problems when information may give a new value to the
they are asked to arrange objects according ‘deeper’ information a book may convey; no
to certain features (form, colour, number). doubt also the abundancy of mediated infor-
Curiously enough literate adults m ay have mation in general may give a new value to
difficulties with elementary set theory. Some direct (and per definitionem bidirectional)
time ago it was introduced in elementary clas- communication in face-to-face situations. The
ses in Germany. It had to be abolished very impression a good lecture or a dialogue makes
soon because most of the parents — who were on the participants may be much stronger
not acquainted with this subject — made fools than the long time effect conveyed by a good
of themselves. editorial, or even a good book: being s o c i a l
In 1930/31 A. R. Luria carried out field experiences they concern communicative,
studies with illiterate adults in Kasachastan sometimes even cultural memory, not only
and Usbekistan. They were asked for example the individual one.
which one of four objects — for instance a One possible effect of literacy was that the
saw, a hatchet, a hammer and a piece of wood scale between conceptual orality and scrip-
— did not belong to the others. Western psy- turality is enlarged, the pole of conceptual
chologists dislike the log among three tools scripturality being “shifted to the right” in
(Luria 1976, 55 ff). Scribner & Cole (1981) the above schema (→ 4.2 ., 4.3.). This may
made similar tests with — literate — Vai in not only be felt as progress — at the same
Liberia. Neither the peasants of Kasachstan time more and more complex and planned
and Usbekistan nor the Vai people were upset texts may be a disadvantage for comprehen-
by the piece of wood (or its equivalent in sion, they may even be felt as a danger: the
other tests) — on the contrary: it made sense difference between a “normal” speech and the
because the tools presuppose an object to artful speech delivered by a sophist orator,
14 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

for example, was clearly perceptible. Even in ments lead to rather different results? Why
Antiquity this had led, among other things, did the invention of paper money — discov-
to Plato’s critique of literacy or to Alkidamas’ ered by Italian merchants of the 13 th century
critique of the sophists (Kullmann 1990; Frie- as well as in 11 th century China — have so
mann 1990; Usener 1994). totally different consequences in the East and
Just as Culture may cause a new desire for in the West where it became a most important
Nature, Literacy makes us long for the (sup- root of capitalism? Why did (written) Case
posed) simplicity of Orality (→ 2 ., e. g. Law originate in Great Britain whereas most
McLuhan 1962 ), making us call out “write European countries patterned their laws on
the way you speak!” We have only to look at the Roman system? One answer is that the
the transcripts of authentic spoken language same achievements are equivalent only in an
to see that there is not the slightest chance of identical social, economic, institutional, and
this slogan’s being translated into action. cultural context. Like Vai, Cree Indians
The slogan allows us instead to observe the needed script for their communicative, not
dialectics of literacy for a last time. Once a for their cultural memory (→ 4.5., 2 .),
society has become literate, it can never return whereas the great monotheistic religions of
to ‘authentic’ orality. Instead orality will be Europe and the Near East are typical book
created a r t i f i c i a l ly with the means of liter- religions, a most important part of cultural
acy. A good example is ex improviso speech. memory having allegedly been revealed in the
The theoreticians of rhetoric — Aristotle, Ci- form of a written text (→ 5.5. for conse-
cero, Quintilian, modern representatives — quences). Whereas the great reformer Wang
agree on the subject: the more speech is to An Shi tried to impose paper money on an
seem ex improviso, the more it has to be unwilling Chinese population (Ronan 1978),
planned (Bader 1994). The same holds for the European paper money — in the form of
re-oralization of literature, e. g. the skaz fos- cheques and letters of credit — was the quite
tered by the Russian Formalist School. Thus natural outcome of an ever increasing money
ex improviso speech presupposes literacy not and stock exchange during the permanent
only in the dialectical sense, but also on the fairs which took place in the cities of Cham-
level of planning, Paradoxically, a good ex pagne between 1150 and 12 50. Beyond doubt
improviso speech is the incarnation of a there is an immense creative and changing
planned speech — just as 17 th century authors p o t e n t i a l in literacy — but it has to meet
conceive of nature — in literature and in the the appropriate (e. g. institutional) condi-
fine arts — as of “the negation of the negation tions. There are many factors contributing to
of nature”. social and cultural change, a factor of major
importance being what an education system
or a religion make out of literacy (Scribner
6. Multiform contexts, multicausal & Cole 1981; Street 1984).
and multiform evolution processes One thing should be clear: Culture — be
Both powder and printing were invented in it literate or not — is a permanent process.
China as well as in Europe. They had fairly All cultural transition processes concern men-
different effects in the West and in the East. tality, and all processes impinging on men-
By the 1850s nearly universal literacy was tality are extremely slow. If we accelerate
reported among the Cree Indians in a syllabic them artificially, for example by introducing
script. It had been invented for this language Western civilization everywhere, setbacks are
ten years beforehand by a Methodist minister to expected. Currently they are to be observed
and matched the communicative needs of a all over the world.
nomadic community with a scattered settle-
ment pattern. It was used for personal com-
munications (letters, notes), diaries, journals 7. References
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18 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

2. Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation

1. Sprachliches Handeln und Kommunikation mation des mental verarbeiteten partikularen


2. Mündliche Vertextung Erlebens bietet dafür eine elementare Grund-
3. Schrift: Verdauerung II lage. Die Wissensakquisition löst den Han-
4. Strukturale Konsequenzen der Verschriftli- delnden aus der Unmittelbarkeit der jeweili-
chung von Kommunikation für das sprachli- gen Situation. Dies gilt für selbstbewegungs-
che Handeln fähige Systeme insgesamt; es gilt in quanti-
5. Die Verdinglichung des Textes und ihre kom- tativ umfänglicher Weise für den Menschen
munikativen Folgen als ein solches System, das mehrfach quali-
6. Medienmanipulation tativ umschlägt und eine Reihe jeweils neuer
7. Die Transformation des Sprechers zum Autor Stufen der Wissensstrukturierung mit neuen
und ihre soziologischen Konsequenzen Funktionen des Wissens für das System kon-
8. Die Transformation des Hörers zum Leser stituiert. Die Sprache ist mit diesen Prozessen
und ihre soziologischen Konsequenzen auf das engste verbunden, indem sie in ihrer
9. Schriftliche Kommunikation und die Ent- Entwicklung einerseits davon abhängt, an-
wicklung wissenschaftlichen Wissens dererseits wesentliches Medium und so Vor-
10. Schriftlichkeit und das gesellschaftliche Ge- aussetzung für die qualitativen Umschläge ist.
samtwissen (Zur ontogenetischen Entwicklung und ihrer
11. Schriftliche Kommunikation und ihre Weiter- Differenz gegenüber den höchstorganisier-
entwicklung ten sonstigen Lebewesen s. Wygotski (1934)
12. Literatur und A. N. Leontjew (1973); zur Gattungsge-
schichte der Entwicklung des Wissens s. Hegel
1807 und seine Enzyklopädie.)
1. Sprachliches Handeln Die Überwindung der Flüchtigkeit der ein-
und Kommunikation zelnen Sprechhandlungen geschieht in der
Schrift ist (historisch wie systematisch) Mittel gattungsgeschichtlichen Herausbildung der
zur Verdauerung des in sich flüchtigen sprach- sprachlichen Handlungskategorie „Text„. Sie
lichen Grundgeschehens, der sprachlichen bildet das Mittel par excellence für die Er-
Handlung. möglichung von kommunikativ-sprachlicher
Die sprachliche Handlung ist ein — zen- Überlieferung. (Semiotisch entspricht dem
traler — Subtyp der kommunikativen Hand- das Denkmal in seinen verschiedenen For-
lung; diese ist ein Subtyp der interaktiven men.) Wesentlich für den Text in diesem Sinn
Handlung. Als Handlung ist sie eine spezifisch ist eine Strukturveränderung der sprachlichen
menschliche Form von Tätigkeit. Mittel, die sich insbesondere in der Heraus-
Die sprachliche Handlung hat zwei für sie bildung neuer Formen manifestiert. Diese
charakteristische Aktanten, S, den Sprecher, haben die Funktion, durch die Aktualisierung
und H, den Hörer, und eine ihr eigene Situa- besonderer Gedächtnisfähigkeiten Tradition
tion, die Sprechsituation. Die Flüchtigkeit der zu bewerkstelligen und so die Überwindung
sprachlichen Handlung ist die Bedingung der der Flüchtigkeit der unmittelbaren, situativ
Möglichkeit für ihre primäre Effizienz. Durch eingebundenen Sprechhandlung über deren
die sprachliche Handlung greift S in die Si- einfache Re-Instantiierung hinaus zu garan-
tuation von H ein. Die Eingriffe beziehen sich tieren. Diese Prozesse sollen ‘Vertextung’ hei-
auf Hs weitere Handlungen oder ihre Unter- ßen. Ein Heraustreten aus der Mündlichkeit
lassungen und/oder auf Hs Wissen. ist dafür nicht erforderlich, weil die Fälle von
Vertextung mit Blick auf die Gesamtheit der
sprachlichen Handlungen einer Gruppe als
2. Mündliche Vertextung selten zu qualifizieren sind. Zudem wird der
Erfolg der Vertextung durch vielfältige son-
In einigen Fällen tangiert die Flüchtigkeit je- stige begleitende und stützende Maßnahmen
doch die Effizienz der sprachlichen Hand- wie den Ritus oder den Situs erleichtert. Diese
lung. Das kommunikative Verfahren verkehrt Verfahren der Vertextung sind in sich noch
sich dadurch in sein Gegenteil bzw. wird wir- keine völlige Herauslösung aus der Sprech-
kungslos. Dies betrifft vor allem den Bereich situation. Diese geschieht hier vielmehr ledig-
der Wissensübertragung. lich tendenziell, in der Eröffnung einer Mög-
Ein Großteil des Wissens ist seinem Wesen lichkeit dazu, die sogleich durch erhebliche
nach auf Kontinuität angelegt. Die Transfor- Stützmaßnahmen wieder zurückgenommen
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 19

wird, indem gerade die situationellen Ele- schriftliche erhobenen ernsthaften und gra-
mente verstärkt werden. Die Dauerhaftigkeit vierenden Einwände weitgehend abzulösen
wird durch das Herstellen einer artifiziell re- und die „Traditionen des Sprechens“ (Schlie-
petierten Sprechsituation ermöglicht, deren ben-Lange 1983) durch die „Tradition durch
Artifizialität sich in der Herbeigeführtheit für Schrift“ zu ersetzen.
die Aktanten unmittelbar bemerkbar macht. Die Einbeziehung von Schrift für die Ver-
Gerade darin unterscheidet sie sich von der dauerung von flüchtigem sprachlichen Han-
einfachen Instantiierung einer sprachlichen deln führt zu einem systematisch anderen Er-
Handlung aus den Handlungserfordernissen gebnis als bei der mündlichen. Während die
heraus, also aus dem je erneuten Auftreten Textform-Verdauerung im wesentlichen durch
des Anlasses, eine sprachliche Handlung aus- Situationsstärkung gekennzeichnet ist, bedeu-
zuführen, d. h. das ausgearbeitete Handlungs- tet der Einsatz der Schrift, daß eine p r i n z i -
muster erneut zu aktualisieren. Die Herbei- p i e l l e Loslösung von der Sprechsituation er-
geführtheit der Vertextung bedeutet zugleich, folgt. Die in der Verdauerung durch mündli-
daß diese Verdauerung der tradiblen Hand- che Vertextung initiierte Entwicklung kommt
lung eine gewußte ist. damit zu sich selbst. Dies aber bedeutet eine
Revolutionierung des sprachlichen Handelns,
die (systematisch und historisch) nacheinan-
3. Schrift: Verdauerung II der alle seine Dimensionen erfaßt: Sie tangiert
Darüber hinausgehende Verfahren zur Her- (a) die sprachliche Handlung selbst; (b) die
stellung der Dauerhaftigkeit von sprachlichen an ihr beteiligten Aktanten; (c) die Sprech-
Handlungen entstehen demgegenüber auf un- situation und (d) ihre Umsetzung in un-
terschiedlichen Geneselinien, deren wichtigste terschiedliche Teilbereiche der sprachlichen
eine semiotisch-religiöse und eine ephemer- Handlungsformen; aber auch (e) den Tradi-
ökonomische sind. Erstere liegt weitgehend tionsprozeß als einen Prozeß zweiter Stufe, (f)
im Dunkeln (s. aber Art. 17) und wird syste- die Herausbildung neuer Text-Formen und
matisch je und dann reaktualisiert. Die zweite (g) das Verhältnis von Sprache und Wissen.
hingegen ist im einzelnen auf der Grundlage Im Ergebnis erweist sich dieser Prozeß als
von Dokumenten historisch vergleichsweise einer der wesentlichen Gattungsmechanis-
gut greifbar und hat sich sytematisch zu einem men, den die Weiterentwicklung der mensch-
zentralen Stellenwert hin entwickelt (vgl. im lichen Wissenssysteme ausbildet. In sich trägt
einzelnen Ehlich 1980, 1983; Nissen, Dame- er zugleich den Keim zu seiner eigenen Rela-
row & Englund 1991). Beide führen zur Her- tivierung und Entmächtigung, indem an ihm
ausbildung von Schrift. Die zweite erweist die Möglichkeit des Übergangs als Zeichen-
sich dabei als problemlösungsaktiv, obwohl Traduktionsprozeß ersichtlich wird, der —
ihre Fortschreibung keineswegs als Gerade zu erneut angewandt — zur elektronischen
konzeptualisieren ist. Transposition wird, die als solche besonders
Die Verdauerung der flüchtigen sprachli- die Funktionen schriftlicher Wissenstradie-
chen Handlung durch Schrift stellt ein zu den rung betrifft und möglicherweise zu einem
Text-Formen prinzipiell konkurrierendes Ver- erneuten qualitativen Sprung Anlaß gibt.
fahren dar, das — obwohl es in einer langen Im Ergebnis bedeutet die schriftliche Ver-
Koexistenz mit den Textformen als Formen textung die Dissoziierung der in sich homo-
der Verdauerung stand und aus dieser Koexi- genen Sprechsituation. Die Sprechsituation,
stenz erst vergleichsweise rezent herausgetre- die in der Vertextung ohnehin zerdehnt wird,
ten ist — seine empraktische Einbindung erst zerfällt in zwei Bereiche, in denen jeweils einer
allmählich verloren hat. Im Vollzug dieses der Aktanten im Mittelpunkt steht, bis auch
Lösungsprozesses schlug die bloße Parallelität diese Beziehung sich verliert. Während in der
und Koexistenz der beiden Verdauerungsfor- mündlichen Vertextung über die Situations-
men auch konkret zunehmend in eine Kon- stärkung dieser Prozeß überbrückt wird, zer-
kurrenz um, die sich vornehmlich als Kon- fällt die Sprechsituation als einheitliche in der
kurrenz der jeweiligen Trägergruppen äußerte schriftlichen Kommunikation vollends. Dies
und bis heute äußert. Erst die neuzeitlichen wirkt sich besonders hinsichtlich der — durch
Entwicklungen verschufen — insbesondere Kopräsenz der an der Sprechsituation betei-
durch materielle Innovation (Buchdruck, vgl. ligten Aktanten konstituierten — Gemein-
Giesecke 1991) — der Schrift die Möglichkeit, samkeit sinnlicher Wahrnehmung aus, die
die mündliche Tradition trotz aller gegen die dem sprachlichen Handeln und, sofern es die
Wissensvermittlung betrifft, auch dieser Un-
20 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

mittelbarkeit verleiht und sie so notwendig tionsentbindung durch Dissoziierung der ein-
lebensweltlich verankert. fachen Sprechsituation bedeutet zugleich die
Demgegenüber hat die Dissoziierung der Kombination von in sich Disparatem in einer
Sprechsituation durch den schriftlichen Text neuen, komplexeren Einheit. Während etwa
zur Folge, daß die sinnliche Zugänglichkeit im Institut des Boten (vgl. Ehlich 1983) diese
auf die Materialität der Zeichengestaltung Kombinatorik über die mentale mnemotech-
einerseits (Haptik), die bloße Konzentration nische Aktivität des Boten vermittelt ist, liegt
auf die Visualität andererseits zurückgenom- der wesentliche Beitrag der Verschriftung
men wird. Bereits dadurch wird der schrift- darin, daß die sprachliche Handlung selbst
liche Kommunikationsprozeß wesentlich ab- durch ihre mediale Transposition in einzelne
strakter als der mündliche; Abstraktion be- Momente dissoziiert und insbesondere deren
deutet hier Zurückführung von Sinnlichkeit Resultat sowohl gegen seine Produktion wie
durch Konzentration und durch Heraushe- gegen seine Rezeption isoliert wird. Dies be-
bung einer Dimension der Wahrnehmungs- deutet, daß sich im verschriftlichten sprach-
tätigkeit gegenüber anderen und gegenüber lichen Handeln selbst eine neue Substruktur
ihrer Kombinatorik. A. Assmann (1993) zur Deutlichkeit entfaltet, die vor allem die
spricht in diesem Zusammenhang von einer Grundlage für eine neue Konzeptualisierung
Exkarnation des Textes. von Sprache bildet. Der logos verliert seinen
Dies ist freilich bloß ein Aspekt des Ab- komplexen Charakter als Einheit von Ge-
straktionsprozesses. Dieser findet seine wei- schehen, Geschichte und Wort, der dābār (alt-
tere Auswirkung in der Struktur dessen, was hebräisch für „Wort“ wie für „Sache“) wird
durch die Verschriftung an Sprache selbst ge- in Richtung auf seine sprachlichen Anteile hin
schieht. Die sprachlichen Laute werden — vereindeutigt. Alle heutige Konzeptualisie-
sofern Schrift den Weg hin zur Laut-Fundie- rung von Sprache setzt diese Differenzierung
rung geht — einer sekundären S emiotisierung immer schon voraus, ist also in einem syste-
unterzogen. Die Leichtigkeit, Glätte und ent- matischen Sinn post-skriptoral. Dies macht
wicklungsbezogene Frühe des Erwerbs dieses sich nicht zuletzt in der langen Unfähigkeit
Verfahrens in Regionen mit entwickelten Al- der Wissenschaft bemerkbar, Mündlichkeit
phabetisierungsstrukturen (Elementarschul- theoretisch angemessen zu konzeptualisieren
systemen) täuscht nur allzu leicht über den (vgl. Ong 1987, Linell 1986).
Schwellenwert dieses Abstraktionsverfahrens Der Sprachbegriff, der sich — vorwissen-
hinweg. Sprache, eine in sich abstrakte, weil schaftlich und wissenschaftlich — auf der
Repräsentationen entwickelnde und unterhal- Grundlage der so kommunikativ entwickelten
tende Struktur, wird ein weiteres Mal abstra- Dissoziierung der sprachlichen Handlung und
hiert. Dadurch werden die Rekonstruktions- der Vergegenständlichung des Handlungspro-
prozesse, die der einzelne Aktant zu leisten duktes ausbilden konnte, neigt also aus seiner
hat, (a) länger und (b) aufwendiger. Selbst die inneren Systematik heraus einer Isolierung
erworbene Routine kann diese Grundkenn- sowohl gegenüber dem Verstehen wie gegen-
zeichen nicht überwinden und macht sich in über der Erzeugung dieses Produktes zu.
der Anstrengung des Schreibens, insbeson- Während dies einerseits Sprache als spezifi-
dere aber des Lesens bemerkbar, die offenbar sche menschliche Struktur überhaupt erst er-
dauerhaft sind. kennbar werden läßt, führt es andererseits
immer schon dazu, daß diese Erkenntnis we-
sentliche Aspekte des zu Konzeptualisieren-
4. Strukturale Konsequenzen der den — und zwar gerade aus systematischen
Verschriftlichung von Kommuni- Gründen — vernachlässigt. Damit hat die
kation für das sprachliche Handeln Einsicht in Funktionen und Strukturen
sprachlicher Kommunikation paradoxerweise
4.1. Allgemeines in diesen selbst nicht nur ihre Voraussetzun-
gen, sondern auch die Bedingungen ihres
Während Kommunikation im Medium der Scheiterns.
Mündlichkeit für den Fall der elementaren
sprachlichen Handlung sich als ein prinzipiell Eine Überwindung dieses Dilemmas ist nur
durch eine im strengen Sinn gefaßte Reflexion
synchrones Geschehen darstellt, sind bereits möglich, die eben diese strukturellen Gründe
die systematischen Übergangsformen hin zu für ihre eigene Problematik systematisch in
einer — noch mündlichen — interaktiven die Analyse von Sprache und sprachlichem
(d. h. nicht nur intramentalen) Überlieferung Handeln miteinbezieht.
komplexere Kommunikationsformen. Situa-
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 21

4.2. Veränderungen des sprachlichen melle Strukturbereiche, die Interjektionen,


Handelns durch die Verschriftlichung den Imperativ und den Vokativ. Imperative
der Kommunikation und Vokative treten in Kombination mit an-
deren Prozeduren, insbesondere solchen des
Die Dissoziierung des sprachlichen Handelns, Symbolfeldes, auf, Interjektionen gehören
das Auseinandertreten seiner verschiedenen dem Lenkfeld und nur ihm genuin zu. Die
Aspekte in seinem Vollzug und die Verselb- durch die Verwendung von Lenkfeldausdrük-
ständigung des Handlungsproduktes gegen ken gekennzeichneten sprachlichen Tätigkei-
seine Produktion und seine Produzenten wie ten, die expeditiven Prozeduren, sind Verfah-
gegen seine Rezeption und seine Rezipienten ren zur unmittelbaren Einflußnahme eines In-
tangiert und verändert die verschiedenen teraktanten innerhalb einer Kommunika-
Aspekte dieses sprachlichen Handelns selbst, tionssituation auf die aktionale, verbale und/
und zwar in jeweils unterschiedlicher und für oder mentale Aktivität eines anderen. Gerade
seine verschiedenen Dimensionen je spezifi- die Unmittelbarkeit dieser Einflußnahme
scher Weise. Einige dieser Veränderungen sol- macht die expeditiven Prozeduren in beson-
len im folgenden thematisiert werden, indem derer Weise durch die Dissoziierung der
zunächst das sprachliche Handeln selbst pro- Sprechsituation und des sprachlichen Han-
zedural (vgl. Ehlich 1991), illokutiv (vgl. delns durch die Verschriftlichung tangibel. In-
Searle 1969), propositional und hinsichtlich dem die Voraussetzung der Unmittelbarkeit
der Formentwicklung betrachtet wird. In den in der Verschriftlichung eo ipso aufgehoben
Abschnitten 5 und 6 werden dann mediale wird, entfällt die Bedingung der Möglichkeit
Aspekte und ihre Folgen, in den Abschnitten für die Anwendung expeditiver Prozeduren.
7 und 8 einige Konsequenzen der durch die Für einen Teil der Lenkfeldausdrücke, ins-
schriftliche Kommunikation bedingten Trans- besondere die Interjektionen, bedeutet dies,
formationen von Sprecher und Hörer erör- daß sie in schriftlicher Kommunikation keine
tert. Dabei werden besonders die prozedura- raison d’être mehr haben. (Dies hat innerhalb
len Konsequenzen (4.3.) vergleichsweise aus- der schriftzentrierten Linguistik zur Folge,
führlich behandelt, weil sie bisher wenig Auf- daß ihr sprachlicher Stellenwert selbst in
merksamkeit erfahren haben. Frage gestellt wurde.)
Diese Strategie, das Lenkfeld fallen zu las-
4.3. Prozedurale Konsequenzen sen, läßt sich freilich nicht in gleicher Weise
Die sprachlichen Handlungen konkretisieren auf alle Bereiche der Lenkfeldausdrücke aus-
sich in sehr vielen Fällen in einem Zusam- dehnen, denn eine wesentliche Teilgruppe der
mentreten der lediglich analytisch zu schei- Lenkfeldausdrücke dient der Realisierung
denden Akttypen Äußerungsakt, propositio- von expeditiven Prozeduren, deren Funktion
naler Akt und illokutiver Akt. In diese gehen in der Prozessierung des sprachlichen Han-
kleinere Handlungseinheiten, die Prozeduren, delns selbst als einer interaktiven Tätigkeit
ein, die zum Teil freilich auch in sich hinrei- ( hm, na, usw.) liegt.
chende Formen des sprachlichen Handelns Durch die Dissoziierung der unmittelbaren
sein können (selbstsuffiziente Prozeduren). Sprechsituation und die neue Zugänglichkeit
Fünf Typen von Prozeduren sind voneinander des Äußerungsproduktes stellen sich die Pro-
zu unterscheiden (vgl. Ehlich 1993); ihnen bleme der interaktiven Prozessierung von
gehören jeweils spezifische sprachliche Aus- sprachlichem Handeln prinzipiell neu. Für die
drucksmittel zu, soweit eine Sprachstruktur verständigungsbezogenen Teile des Lenkfel-
hier bis zur eigenen Formbildung vorange- des ist es entsprechend unumgänglich, daß
schritten ist: expeditive Prozeduren/Lenkfeld; kompensatorische Verfahren gefunden wer-
deiktische Prozeduren/Zeigfeld, nennende den, die deren kommunikative Funktion
Prozeduren/Symbolfeld; operative Prozedu- übernehmen. Hier ist der sprachstrukturell
ren/operatives Feld; malende Prozeduren/ wichtigste Innovationsbedarf bei der Heraus-
Malfeld. Diese Prozedurentypen und die dar- bildung von Schrift gegeben, ein Innovations-
auf bezogenen Felder werden von der Ver- bedarf, der in dem Maß besonders spürbar
schriftlichung in systematisch jeweils sehr un- wird, wie auch die empraktische Einbindung
terschiedlicher Weise betroffen. des schriftlichen Textes aufgelöst wird. Auf
Grund der Dissoziierung von Sprecher und
4.3.1. Die Eliminierung von Teilen Hörer und ihrer Transformation zu Autor
des Lenkfeldes und Leser gestaltet sich das Verständigungs-
geschehen zwischen beiden völlig neu. Ver-
Das Lenkfeld umfaßt insbesondere drei for- ständigung geschieht nicht mehr „on line„.
Dies bedeutet verstärkte Antizipation des
22 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Verstehensprozesses des Lesers als Anforde- drückt sich für den Vokativ in der Geschichte
rung an den Autor und Tentativität und Re- der Adressatenartikulation schriftlicher, be-
petitivität des Verstehensprozesses durch den sonders brieflicher Texte und der Einbindung
Leser. Der Autor modelliert sich einen „im- in schriftspezifische Grußformeln aus. Sol-
pliziten“ Leser (Iser 1976). Dieses Modell chen Vokativen und solchen Formen kommt
steuert den Explizitheitsgrad der Verbalisie- sozusagen die Funktion zu, jene Unmittel-
rung. Während in der unmittelbaren münd- barkeit der Sprechsituation artifiziell zu evo-
lichen Kommunikation Verständlichkeit un- zieren, die durch die Verschriftlichung eo ipso
mittelbar hergestellt werden kann, indem ver- verloren gegangen ist. Gerade im Fall des
ständigungsgefährdete interaktive Passagen primär diatopisch motivierten Textes mit nur
direkt bearbeitet werden, entfallen diese Mög- geringer Adressatenreichweite und wenig
lichkeiten in zunehmendem Maße im Prozeß differenzierter Adressatenstreuung ist diese
der Vertextung. Ist für den mündlichen Text Funktion des Vokativs zur Überbrückung des
eine sekundäre Empraxie — z. B. im Kultus dem Text eigenen Abstands charakteristisch.
— und eine Veräußerlichung bzw. Transposi- Eine Geschichte der Entwicklung und des
tion von Teilen des sprachlichen Handelns in mählichen Sich-Verlierens dieser expeditiven
semiotische Mittel ein praktisch hinreichen- Hilfskonstruktion würde eine mikroskopische
des Gegenmittel, so wird für den aus der Darstellung der prozeduralen Konsequenzen
Empraxie herausgelösten schriftlichen Text von Verschriftlichung ermöglichen.
eine textinterne Bearbeitung der Problematik Hinsichtlich des Imperativs bietet die zur
unumgänglich. Eine Fehlmodellierung des Formel erstarrte Terminologie des wissen-
Lesers wirkt sich fatal für das Verstehen aus. schaftlichen Verweiswesens ( s., vgl., l. usw.)
Diese Problematik verstärkt sich durch den ein anderes Beispiel der Probleme der Um-
beliebigen Akzeß, den der Text finden kann, setzung dieser Lenkfeldprozedur in das Me-
und die Vervielfältigung des Lesers zur Leser- dium des Textes.
gruppe. Der Text selbst hat also mit Blick auf
angezielte Leser eine mittlere Verständlich- 4.3.2. Veränderungen im Zeigfeld
keitsstruktur anzustreben. Die Problemlösun-
gen, die entwickelt werden, beziehen die Spe- Einigermaßen anders als beim Lenkfeld stel-
zifik der Schrift in charakteristischer Weise len sich die Konsequenzen der Verschriftli-
ein. Text in schriftlicher Form ist ein Verste- chung für das Zeigfeld dar, obwohl auch hier
henspotential, der Leseprozeß ist potentiell massive Folgen zu beobachten sind.
rekursiv. Die „on line“-Prozessierung kann Die deiktische Prozedur dient der Orientie-
entlastet werden, indem das Potential selbst rung der Höreraufmerksamkeit primär unter
möglichst reichhaltig ausgestaltet wird. Be- Bezug auf das Sprecher und Hörer gemeinsam
sonders die semiotischen Kennzeichen des zugängliche Wahrnehmungsfeld. Insofern ist
Textes werden genutzt, um Verstehenserleich- auch die deiktische Prozedur an die Münd-
terung zu betreiben. Dies beginnt mit der lichkeit der unmittelbaren Sprechsituation
Wort-Separation im schriftlichen Text (Spa- substantiell gebunden. Bereits bei der kom-
tium bzw. z. B. Kleinkeile im Ugaritischen) munikativen Funktionalisierung der Rede
und setzt sich bis zur komplexen graphischen wird diese Bindung gelöst, indem neben dem
Gestalt von gedruckten Texten fort. Die gra- Sprechraum der Rederaum zum Verweisraum
phisch-semiotische Struktur von schriftlichen wird. Dieser Prozeß der Ablösung verstärkt
Texten kann also als systematische Umset- sich im Falle des Textes und insbesondere des
zung von Funktionen der verständigungsbe- schriftlichen Textes. So, wie die Rede einen
zogenen Lenkfeldausdrücke in das Medium eigenen Verweisraum konstituiert, tut es der
der Schrift verstanden werden. Text. Anders als im Rederaum bietet sich im
Während die Interjektionen von der Ver- Falle des Textraums eine Erleichterung der
schriftlichung des sprachlichen Handelns viel- prozeduralen Transposition, und zwar da-
leicht am stärksten unter allen Sprachstruk- durch, daß der Text gerade als schriftlicher
turen tangiert werden, bleiben auch Vokativ in die haptische und visuelle Dimension
und Imperativ davon nicht unberührt, wenn der sinnlichen Wahrnehmung umgesetztes
sie auch nicht in gleicher Weise davon be- sprachliches Handlungsprodukt ist. Die Be-
troffen sind. Für beide Bereiche ergibt sich züge der deiktischen Prozedur auf sinnliche
als eigenartige Konsequenz der Verschrift- Gewißheit in der Fokussierung von Aufmerk-
lichung das funktional-kommunikative Pa- samkeit des Adressaten erhält einen neuen
radox einer „indirekten Direktheit„. Dies Objektbereich. Allerdings ergibt sich ein Pro-
blem in der Lokalisierung der Origo: Wel-
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 23

chem Teil der zerdehnten Sprechsituation ist 4.3.3. Transformationen und Expansionen


die Origo zuzuordnen, dem des Sprechers/ des operativen Feldes
Schreibers, dem des Hörers/Lesers oder dem
aus beiden ablösbaren Text selbst? Die Ant- Die erhebliche Komplexitätserweiterung des
worten auf diese Frage sind in der Geschichte sprachlichen Handelns durch die schriftliche
der deiktischen Prozeduren vielfältig und kei- Kommunikation verlangt eine Umstrukturie-
neswegs einheitlich. Eine Rekonstruktion rung und Erweiterung derjenigen sprachli-
etwa in einer kulturenübergreifenden Ge- chen Prozeduren, die unmittelbar der Prozes-
schichte des Briefes fehlt. sierung des sprachlichen Handelns dienen, der
Die neue Qualität des schriftlichen Textes operativen Prozeduren. Schriftliche Kommu-
als potentiellen Verweisobjektes wirkt sich nikation ermöglicht eine Konzentration auf
auch so aus, daß — zum Teil in idealisierter solche ontologischen Aspekte, die in der Ver-
Form — dieser zum Verweisobjekt für eine balisierung von Sachverhalten etwa innerhalb
neue Gruppe paradeiktischer Ausdrücke der indoeuropäischen Satzform zwar im Prin-
wird, die sich entweder auf das visuelle Objekt zip angelegt, aber doch nur in vergleichsweise
in einer idealisierten räumlichen Erstreckung geringem Umfang konkret verbalisiert wer-
(oben, unten) oder auf die schreibende Her- den. Besonders komplexere Strukturzusam-
stellung bzw. die lesende Verarbeitung des menhänge wie Temporalität oder Kausalität
textuellen Objektes beziehen (vorher, im fol- werden standardmäßig in Verbalisierungspro-
genden). Für diese paradeiktischen Prozedu- zesse einbezogen. Hierfür bildet sich unter
ren wird die jeweilige Schreib- bzw. Lese- dem Einfluß schriftlicher Kommunikation
(Teil-)-Zeile/-Spalte/-Seite bzw. der jeweilige das System sprachlicher Mittel um. Dieser
Abschnitt, das jeweilige Kapitel zum Origo- Prozeß ist — wenn er auch nicht als unilinear
Ort. zu sehen ist, wie etwa die Umstrukturierung
Die deiktischen Prozeduren werden in einer des altgriechischen zum neugriechischen Sy-
zweiten Hinsicht für den schriftlichen Text mit stems zeigt — an verschiedenen Sprachen
einer neuen Funktionalität versehen. Schrift- (durchaus auch unterschiedlichen Typs) zu
liche Texte enthalten in sich die Möglichkeit beobachten. Die frühere naiv-evolutionisti-
zu einer qualitativ neuen Stufe von Komple- sche Interpretation verfehlt zwar die ange-
xität (vgl. 4.4.). Diese erfordert mentale Ver- messene Konzeptualisierung (siehe zuletzt
arbeitungsverfahren neuer Art. In dichter Betten 1987); gleichwohl bedarf die allge-
Verarbeitungsfolge müssen die je erreichten meine Entwicklungstendenz einer theoretisch
mentalen Verarbeitungsresultate für den wei- angemessenen Darstellung, die die Sprach-
teren Verarbeitungsprozeß präsent gehalten transformation durch Schrift systematisch re-
und neuen Zugriffen zugänglich gemacht wer- konstruiert. An zwei Beispielen des operati-
den. Diese Zugriffsmöglichkeiten sind in einer ven Feldes lassen sich die Veränderungen illu-
Weise erfordert, die es vermeidet, eine einfa- strieren:
che Repetition der bereits durchgeführten (a) Die Entfaltung des Ausdrucksmittels
Verarbeitungsprozesse zu verlangen. Eine der- Hypotaxe zum Periodenbau. Hypotaxe ist ein
artige einfache Rekursion würde ja die gleiche Verfahren der Desententialisierung von Sät-
mentale Arbeit erfordern, die bereits ver- zen: Ein Satz wird zur Konstituente eines
braucht wurde. Um eine Fokussierung der anderen Satzes. Dieses in sich „trickreiche“
mentalen Verarbeitungsresultate zu ermögli- sprachliche Verfahren wird — allerdings kei-
chen, bietet die deiktische Prozedur sich an. neswegs notwendig — durch eigene operative
Ihr Objekt wird dafür freilich transformiert: Prozeduren kenntlich gemacht, um so die Ver-
nicht der schriftliche Text als sinnlich wahr- arbeitung des Rezipienten zu vereinfachen.
nehmbarer Gegenstand, sondern insbeson- Die Existenz komplexer Hypotaxenmarkie-
dere dessen propositionale (Teil-)Gehalte wer- rung erleichtert die Mehrfachanwendung des
den Verweisobjekt. Verbunden mit Verände- Verfahrens innerhalb des Einzelsatzes. So ent-
rungen im operativen Feld (vgl. 4.3.3.) ent- stehen komplexe Perioden. Die Verarbei-
stehen neue Verwendungsbereiche deiktischer tungskomplexität, die dem Rezipienten zu-
Ausdrücke. Teilweise ergibt sich so ein ganzer gemutet werden kann, erreicht auf Grund der
Bereich paraoperativer Verwendungen von Verarbeitungsrekursion beim schriftlichen
Deixeis (vgl. Redder 1990, Rehbein 1993). Text eine qualitativ neue Stufe.
Deiktische Ausdrücke werden so für die (b) Eng verbunden mit der Hypotaxenent-
Organisation komplexer schriftlicher Texte wicklung ist die Entfaltung des operativen
funktionalisiert. Teilfeldes der „Subjunktionen„. Während in
24 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

frühen Sprachstufen zum Teil eine vergleichs- von denen der größte Teil dem Symbolfeld
weise kleine und funktional undifferenzier- zugehört. Der bisher für keine Sprache er-
te Zahl von Subjunktionen für die Zwecke schöpfend erfaßte Gesamtwortschatz einer
der Kommunikation ausreichend war (siehe modernen Sprache dürfte wahrscheinlich mit
z. B. Althebräisch eine nota relationis, eine allen Fachausdrücken ein Vielfaches davon
polyfunktionale Konjunktion ki „so; dann, umfassen. Das Symbolfeld unterliegt also
ebenso; vielmehr, sondern, trotzdem; weil, einer mit der schriftlichen Kommunikation
denn; daß; als, da, wann, wenn; selbst wenn, und ihren Bedürfnissen einhergehenden per-
obschon; siehe!, da!“ (Fohrer 1989, 12 2 ), manenten Expansion. Diese bedeutet zu-
eine zweite dubitative Konjunktion ’im „ob, gleich, daß das Lexikon der Sprache für den
wenn“), so wächst parallel zur Entfaltung der Großteil ihrer Sprecher zu einer bloß virtuel-
Schriftlichkeit dieses operative Teilfeld zu len Struktur wird. Kein einzelner Sprecher
einer immer detaillierteren Bezeichnung ein- verfügt konkret über das gesamte Symbolfeld
zelner Relationen. Dabei werden z. T. Aus- der Sprache, dessen er sich bedient. Lediglich
drucksmittel anderer Felder, insbesondere in der Gestalt externalisierter schriftlicher
solche des Zeigfeldes ( denn, da, Redder 1990) oder nach-schriftlicher Speicherungsmedien
und des Symbolfeldes ( weil ) und Kombinatio- ist die Sprache als ganze noch existent. Hier
nen daraus ( trotzdem, Rehbein 1993) operativ zeigt sich ein weiterer Abstraktionsprozeß,
funktionalisiert. der durch die schriftliche Kommunikation an
Während diese Prozesse in verschiedenen den Sprechern zur Wirkung kommt. Sprache
Sprachen zu beobachten sind, entwickeln wird durch die schriftliche Kommunikation
einige speziellere Strategien. Ein Beispiel da- für die Interaktanten zu einer virtuellen, von
für ist die Entwicklung der Verbalklammer im ihnen losgelösten Größe.
Deutschen als operatives Strukturierungsmit-
tel (siehe Weinrich 1993, Betten 1987), wobei 4.3.5. Konsequenzen der schriftlichen
gerade dessen grammatisch-strukturelle Ver- Kommunikation für das Malfeld
festigung auf die Bedingungen und Möglich-
keiten schriftlicher Kommunikation in beson- Nahezu ohne Transformationsmöglichkeiten
derer Weise bezogen ist. in das Medium der Schrift erwiesen sich lange
die sprachlichen Prozeduren des Malfeldes.
4.3.4. Expansionsmöglichkeiten Dieses hat es mit der Kommunikation von
des Symbolfeldes emotionalen und situativ-atmosphärischen
Aspekten der Kommunikationssituation zu
Die schriftliche Kommunikation löst nicht tun. Die Ausdrucksformen für malende Pro-
nur den Bezug zur Sprechsituation auf. Sie zeduren nutzen in europäischen Sprachen vor
verobjektiviert Sprache auch gegenüber den allem paralinguistische Faktoren. Diese er-
Speicherungsmöglichkeiten der an ihr Betei- weisen sich als schwer in die Schriftform von
ligten. Dieser Aspekt betrifft vor allem den Texten überführbar. Die Aufgabe, die es dafür
Bereich des Symbolfeldes. Die individuellen zu bearbeiten galt, ist die Entwicklung von
Zugriffsmöglichkeiten auf Symbolfeldaus- Parallel-Strukturen zu den akustisch-intona-
drücke finden in den mnemotechnischen torischen Möglichkeiten innerhalb der hapti-
Möglichkeiten der Interaktanten in der schen und/oder visuellen Dimension des
mündlichen Kommunikation ihre Grenzen. schriftlichen Textes. Eher als eine solche Um-
Eine über diese Kapazitäten hinausgehende setzung hat sich historisch und systematisch
Existenz sprachlicher Ausdrücke ist nicht eine genuine ästhetische Dimension für die
möglich. Durch die Verschriftlichung hinge- Schrift entfaltet, die in der Formqualität der
gen wird eine Auslagerung von Ausdrücken Schriftzeichen ihren Ausgang nahm. Als frühe
jenseits der mnemotechnischen Kapazitäten Äquivalenzen von malenden Prozeduren für
gegeben. Diese Möglichkeit wird vor allem den schriftlichen Text sind Schriftumfeldfak-
realisiert in bezug auf die Vervielfältigung toren wie etwa die Schriftträger monumen-
der Menge von Symbolfeldausdrücken. Eine taler Texte (Königs-, religiöse Stelen usw.)
noch weitgehend mündlich geprägte Kom- anzusehen. Erst in der scripto- bzw. typogra-
munikationsstruktur wie die althebräische phischen Entfaltung des entwickelten Schrift-
umfaßt für einen Kommunikationszeitraum systems werden genuine Malfeldmittel für die
von mehr als 1000 Jahren einen Symbolfeld- schriftlichen Texte vorgehalten. Sie bedeuten
Type-Umfang von ca. 5500 Einheiten. Ein in den meisten Fällen eine Semiotisierung des
heutiges unspezialisiertes Wörterverzeichnis Malfeldes.
wie der Duden enthält über 110.000 Einträge,
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 25

4.4. Illokutive Konsequenzen gänglich bleibt. Aus dieser funktionalen Ver-


äußerlichung der Illokution entwickelt sich
4.4.1. Grundbestimmungen ein spezialisiertes System von Handlungsträ-
gern zweiter Stufe, ein bis heute expandieren-
In der Kategorie der Illokution wird die sy- der Teilbereich des „Rechts“ mit einem zu-
stematische Zweckhaftigkeit des sprachlichen nehmend erheblichen Bedarf an für diese
Handelns erfaßt. Dessen Verdauerung im Text Zwecke schriftlicher Kommunikation spezia-
und insbesondere im schriftlichen Text scheint lisiertem Personal.
zunächst von lediglich medialer Bedeutung zu
sein, also den Zweckcharakter des sprachli- 4.4.2. Ephemeridität
chen Handelns nicht zu betreffen. So wurde
auch in der Linguistik Schrift lange lediglich Anders, als es die heutige Allgegenwärtigkeit
als mediales Epiphänomen behandelt (vgl. schriftlicher Kommunikation nahelegt, sind
Coulmas 1981). Dieser Eindruck ist jedoch wesentliche Gründe für ihre Herausbildung in
eine durch die Schriftzentrierung der Lingui- alltäglichen, sozusagen banalen Überliefe-
stik bedingte Verkürzung. Die Herausbildung rungsanlässen zu sehen. Schriftliche Kom-
der Schrift als Verdauerungsform sprachli- munikation beruht zunächst und vor allem
chen Handelns verdankt sich selbst der Be- auf ephemeren Überlieferungszwecken. Erst
arbeitung eines Defizits bei der Erfüllung von in einem langen, konkurrentiellen und für
dessen Zwecken. Diese Verdauerung erweist Jahrhunderte unentschiedenen Prozeß wur-
sich überall dort als notwendig, wo sich den mündlich realisierte Zweckbereiche von
sprachliches Handeln nicht in der Unmittel- Überlieferung dem neuen Überlieferungsmit-
barkeit seines situs, seiner Situativität er- tel allmählich subsumiert (s. auch oben Zf.
schöpft. Innerhalb der Systematik illokutiver 1). Die Funktionalität schriftlicher Kommu-
Akte betrifft dies einerseits den Umstand, nikation erschöpft sich hier — besonders für
daß eine Sprechhandlung ausgeführt worden den dokumentarischen Zweckbereich — also
ist, also die Dimension der Vergangenheit. im „Daß“ des Geschehenseins des illokutiven
Schriftliche Kommunikation hat hier die Aktes. Im Zweckbereich der Überwindung
Funktion, das Ausgeführtwordensein einer Il- von Diatopie ist dieser ephemere Charakter
lokution als solches in einer neuen Gegenwart noch weiter verstärkt, indem der Überliefe-
präsent zu halten. (Dieser Fall ist zu unter- rungszweck auf die mediale Dimension zu-
scheiden von der Re-Instantiierung desselben rückgenommen ist. Solche Funktionen
illokutiven Typs in einem neuen Token.) Ins- schriftlicher Kommunikation sind ihr bis
besondere dieser Bereich steht historisch am heute inhärent. Sie haben einen bleibenden
Anfang der bis heute existierenden Schrift- systematischen Stellenwert. Dieser Bereich
systeme. von Funktionalität ist durch ein Minimum
Die zweite Gruppe von Illokutionen, die in von Form gekennzeichnet, die jenseits der
besonderer Weise des Übergriffs über die un- Formalität des Überlieferungsmittels Schrift
mittelbare Sprechsituation bedürfen, haben es läge.
mit der Dimension der Zukunft zu tun. Dies
betrifft Illokutionen, in deren propositionaler 4.4.3. Typologien
Bedingung es um zukünftige Ereignisse, ins-
besondere um zukünftige Handlungen von S Eine systematische Typologie der Funktionen
oder H geht. Schriftliche Kommunikation von schriftlicher Kommunikation unter dem
führt hier zu einer Ausweitung der sprachli- illokutiven Gesichtspunkt ist ein Desidera-
chen Handlungsmöglichkeiten. Dies ist ex- tum, das bisher um so weniger angegangen
emplarisch am Beispiel der Transformation werden konnte, als auch eine überzeugende
des illokutiven Typs des „Versprechens“ (vgl. illokutive Typologie insgesamt noch immer
Wonneberger & Hecht 1986) hin zum „Ver- fehlt. Zwar lassen sich relativ leicht Funk-
trag“ zu illustrieren. Die Schriftform entbin- tionsbereiche additiv versammeln, die dann
det das Versprechen aus der unmittelbaren zu einer „Textsorten“-Aufzählung umgearbei-
Sprechsituation. Sie objektiviert es und er- tet werden; doch eignet solchen Aufzählun-
leichtert so die Garantierung durch die Ein- gen, so dringend eine Typologie für zahlreiche
richtung einer externalisierten Appellinstanz. linguistische und applikative Zwecke benötigt
Das Erfolgtsein der sprachlichen Handlung wäre, sowohl systematisch wie empirisch im
wird in der Schriftform so dokumentiert, daß allgemeinen ein derartiges Maß an Zufällig-
die sprachliche Handlung bis zur Erfüllung keit, daß sie den an sie zu stellenden Anfor-
der nicht-sprachlichen Handlung jederzeit zu- derungen kaum genügen können.
26 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

4.5. Propositionale Konsequenzen 4.6. Die Formentwicklung schriftlicher


Tradition gegenüber der mündlichen
Zahlreiche sich in der Sprechsituation erfül-
lende sprachliche Handlungen sind durch ein Die Herausbildung der Schrift als eines eige-
Gleichgewicht von illokutiver und propositio- nen Überlieferungsmediums bedeutet gegen-
naler Dimension gekennzeichnet, ja im Fall über den hochentwickelten mündlichen Text-
empraktisch eingebundener sprachlicher formen als Traditionsmedium zunächst und
Handlungen kann die Verbalisierung propo- vor allem eine erhebliche Dekomplexivierung.
sitionaler Elemente geradezu minimiert sein. Die Veräußerlichung des zu Überliefernden
Die Erfordernisse der Überlieferung haben es gegenüber dem Überlieferungsprozeß selbst
hingegen bereits im Fall ihrer mündlichen Be- nimmt der Form ihre substantielle Qualität
arbeitung im allgemeinen mit erheblichen für den Überlieferungsprozeß. Die Struktur
Propositionsmengen zu tun, die es über die schriftlicher Kommunikation verlangt dem
jeweilige Sprechsituation hinaus zu erhalten Kommunikationsprozeß also weniger Form
gilt. Die Herausbildung von Überlieferungs- ab als die mündliche Vertextung. (Dies geht
verfahren ist insofern substantiell darauf be- gut zusammen mit dem ephemeren Charakter
zogen, der propositionalen Dimension des der Texte, für die und an denen Schrift sich
sprachlichen Handelns ein Übergewicht ge- zunächst entfaltete).
genüber der illokutiven zukommen zu lassen. Gegenüber der erreichten Strukturkomple-
Die Entwicklung von Form als wesent- xität von Vertextung ist schriftliche Kom-
lichem Überlieferungsverfahren im Medium munikation also zunächst durch eine struk-
der Mündlichkeit entspricht diesem Desiderat turelle Armut gekennzeichnet. Diese bildet die
nur zum Teil. Die Form vermittelt illokutiven Basis und den Ausgangspunkt dafür, daß sich
Zweck, Überlieferungszweck und propositio- im Medium der Schrift und für es eine neue
nalen Gehalt in jeweils spezifischer Weise. formale Vielfalt entwickeln konnte und daß
Diejenige Form, für die dies am wenigsten schließlich auch die bereits erreichten Text-
gilt, die Liste, ist zugleich das am geringsten Formen und Strukturen ins Medium der
ausgeprägte, das schwächste formale Mittel Schriftlichkeit übersetzt werden konnten. Das
für den Überlieferungszweck. Ergebnis ist eine scheinbar kommunikations-
Erst die aus den ephemeren Überliefe- unabhängige Vielfalt textueller Formen, die
rungszwecken resultierende Schriftform löst bis zur Beliebigkeit hin differenziert, spezia-
diesen Zusammenhang und ermöglicht so eine lisiert, ja zerfasert sein kann.
veräußerlichte beliebige Repräsentanz belie- Die Umsetzung des Überlieferungsprozes-
biger propositionaler Gehalte. Damit gewinnt ses in die Dimension der Visualität bedeutet
schriftliche Kommunikation eine gegenüber neben der Medialisierung zugleich seine Se-
der ihr systematisch und historisch vorauslie- miotisierung. Diese enthält in sich die Mög-
genden Form von Kommunikation potentiell lichkeit der Ästhetisierung, die sich auf alle
neue Qualität. Diese sollte sich so sehr ent- Dimensionen der schriftlichen Kommunika-
falten, daß es schließlich innerhalb der tion beziehen kann. Insbesondere die Schrift-
sprachbezogenen Theoriebildung zur völligen systeme selbst entfalten sich nicht zuletzt nach
Illokutionsvergessenheit kam. ästhetischen Gesichtspunkten, wobei dieser
Erst die Schrift stellt die Überlieferung für Aspekt in den verschiedenen Schriftsystemen
jedwede und beliebige sowie in beliebiger unterschiedlich relevant wird. Der schriftliche
Quantität auftretende Überlieferungsinhalte Kommunikationsprozeß erhält so eine An-
offen. Damit schafft sie die Voraussetzung für schlußmöglichkeit zu anderen semiotischen
die Herauslösung der propositionalen Dimen- Systemen — wie denn auch eine — freilich
sion aus dem sprachlichen Handeln und stellt nicht dominant gewordene — Entwicklungs-
so eine transindividuelle künstliche Mentali- linie aus der (religiös eingebundenen) Ästhe-
tät zweiter Stufe her. Die propositionalen Ge- tik heraus entfaltet wurde.
halte werden in der schriftlichen Kommuni-
kation anschaubar und so verallgemeinerbar. 4.7. Überlieferungszwecke und
Insofern ist schriftliche Kommunikation not- Textartenvielfalt
wendige Voraussetzung für eine ganze Gruppe
von Wissenschaften, ja für Wissenschaft über- 4.7.1. Ephemere Schriftlichkeit
haupt (→ Art. 51).
Durch das entfaltete Überlieferungsmittel
Schrift werden dem sprachlichen Handeln
Überlieferungsmöglichkeiten geboten, die
weit über die seine Entstehung bestimmende
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 27

hinausgehen. Große Teile sprachlicher Kom- „Funktionen“ und „Titel(n)“ (Hunger 1989,
munikation werden überlieferungsfähig. Ge- 12 0) sowie in den Suprapositionen und Kon-
rade die Ephemeridität macht dabei bleibend traktionen christlich-theologischer Namen
einen wesentlichen Teilbereich aus. Der Gat- insbesondere in der byzantinischen Schreib-
tungssektor des Briefes als Textart erhält diese tradition und Ikonographie (Hunger 1989,
Charakteristik als bleibende Möglichkeit. Ex- 12 2 f) gefunden. Diese auf 15 theologisch ge-
trem gesteigert wird die Ephemeridität im blo- wichtige Namen (Iesoys → IC) bzw. Qualifi-
ßen Merkzettel zum Zwecke der externalisier- kationen (z. B. theotokos, Gottesgebärerin)
ten Memorierleistung, bei der zudem der sowie ihre Ableitungen beschränkten Kürzel
Schreiber zugleich zum Adressaten und zu- führten zu schriftlichen Gesamtgestalten, die
künftigen Leser wird. Hier wird Schrift pri- gerade auf Grund ihrer zeitübergreifenden
mär in der Dimension der Diachronie genutzt. Identität aus dem üblichen Schriftsystem her-
Der Formverzicht, der als eine Möglichkeit ausfielen und eine neue semiotische, als Ge-
in der ephemeren Schriftlichkeit angelegt ist, samtgestalt leicht wiedererkennbare und
wird hier in besonderer Weise aktualisiert. leicht „lesbare“ Form gewannen, die in einen
Wie die Untersuchungen von Häcki-Buhofer systematischen Zusammenhang mit indivi-
(1985) zeigen, spielen derartige Formen der dual geprägten sekundären Schriftverwen-
Schriftlichkeit in der Schreibpraxis etwa eines dungen wie Signaturen, Unterschriften oder
Wirtschaftsunternehmens eine nicht unerheb- Logos gehört.
liche Rolle. Für solche ephemeren Formen
schriftlicher Kommunikation ist kennzeich- 4.7.3. Heilige Texte
nend, daß die äußeren formalen Strukturen
ganz der Schnelligkeit des Notats verpflichtet Die Subsumtion bereits mündlich überlieferter
sind. Davon kann die Schriftgestalt stark tan- sprachlicher Handlungen unter das Medium
giert werden. Dadurch, daß der Schreiber zu- der Schriftlichkeit und damit die Integration
gleich angestrebter Leser sein kann, kann die erreichter Formalität markiert den entgegen-
äußere Form idiosynkratisch werden, indem gesetzten Pol. Insbesondere die Schriftlichkeit
nicht nur die Individualität der einzelnen der drei sogenannten „Buch“-Religionen Ju-
Handschrift sich besonders deutlich zur dentum, Christentum, Islam bieten hierfür
Kenntnis bringt, sondern indem diese — in prominente Beispiele. Der „heilige Text“ er-
der Form von individuellen Abbreviaturen fährt eine geradezu hyperpräzise Verschriftli-
u. ä. — bis hin zu einer sekundären Schrift- chung. Diese wird für sakrosankt erklärt und
lichkeit modifiziert wird. so zusätzlich überlieferungs-gesichert. Die
Das Erfordernis der Schnelligkeit bei der Überlieferungstreue und -präzision ist dabei
Umsetzung gesprochener oder gar bloß ge- insbesondere den Zwecken der Re-Oralisie-
dachter Sprache in Schrift hat in verschiede- rung des heiligen Textes geschuldet (→ Art.
nen Epochen der Schriftentwicklung auch zu 45). Bis hin zum in der hebräischen und der
verallgemeinerten Spezialschriften, von der arabischen Schrift im Prinzip nicht bezeich-
antiken Tachygraphie (Boge 1973) (insbeson- neten Vokalismus soll Überlieferungstreue
dere den vom Cicero-Sekretär M. Tullius Tiro und -präzision für die liturgische mündliche
erfundenen notae Tironianae) bis hin zu den Reproduktion des Textes ermöglicht werden;
modernen Stenographien und Kurzschriften, darüber hinaus werden schriftliche Intona-
geführt (→ Art. 144). Derartige Formen von tionsfixierungen angestrebt (s. das System der
Schriftlichkeit haben im allgemeinen — wenn accentus distinctivi und servi im masoretischen
sie nicht reine individuelle Merkhilfen sind — Text und die Neumen in der griechisch-latei-
die Funktion einer Zwischenspeicherung des nischen Tradition).
in seiner Äußerungsgeschwindigkeit nicht be- Für die genannten drei Religionen ist cha-
einflußbaren mündlichen sprachlichen Han- rakteristisch, daß der Umschlag bzw. die Um-
delns, z. B. bei Predigten oder Vorträgen (vgl. setzung von der Mündlichkeit in die Schrift-
Hunger 1989, 120 ff). lichkeit in den Traditionen selbst noch präsent
gehalten wird. Genauer, es ist in ihnen ein
4.7.2. Signaturen mehrmaliger Übergang von Mündlichkeit zu
Schriftlichkeit zu Mündlichkeit zu Schriftlich-
In der Nachantike haben derartige Kürzun- keit usw. zu konstatieren, der freilich jeweils
gen auch einen Eingang in die allgemeinen andere Formen entwickelt und die vorgängi-
Schriften, insbesondere im Zusammenhang gen derartigen Umschlagprozesse in sich ent-
der Monokondylien (ineinander geschriebe- hält und spezifisch weiterverarbeitet. Die Her-
nen Subskriptionen von „Namensformen“, ausbildung eines Kanons stellt in diesem Zu-
28 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

sammenhang einen besonderen Kristallisa- spannt sich die Fülle der schriftlichen Text-
tionspunkt dar. Lediglich im Islam ist der arten auf, die sich im kaum zu klassifizieren-
Kanonisierungsprozeß innerhalb zweier Ge- den historischen und gegenwärtigen Schrift-
nerationen erfolgt und in eine schriftliche bestand vorfindet. Die immanenten Modifi-
Form gebracht worden (vgl. u. a. Graham kationen der schriftlichen Kommunikation in
1977). Innerhalb der christlichen Kirche hat ihren verschiedenen Dimensionen und Aspek-
die Kanonisierung sich in einem über mehr ten setzt sich in je neue und andere Text-
als 150 Jahre hinziehenden Prozeß abgespielt arten um. Zugleich werden — so wie die
(s. v. Campenhausen 1968, Karpp 1992 ). Die mündlichen Textarten der Schrift subsumiert
kanonisierten schriftlichen Grundtexte blie- und ihren Erfordernissen und Möglichkeiten
ben zudem an die mündlich und personal adaptiert werden — überkommene Formen
vermittelte, bischöflich garantierte Tradi- überformt, verändert und neuen kommuni-
tionskette gebunden. Erst mit der reformato- kativen Zwecken zugänglich gemacht. Ein-
rischen Bewegung wurde dieser Zusammen- zelne Umschlagpunkte haben dabei zu beson-
hang dissoziiert und die Schrift als norma ders gravierenden Konsequenzen geführt, ins-
normans aller mündlichen Tradition schroff besondere der Buchdruck (vgl. Giesecke 1991;
gegenübergestellt. Im Judentum ging dem Ka- → Art. 42 ). Ein dadurch beeinflußter, aber in
nonisierungsprozeß (Synode von Jamnia, ca. seiner Entwicklung sich wesentlich länger er-
90 n. Chr.) eine bereits jahrhundertelange streckender Prozeß ist die Verschriftlichung
auch schriftliche Tradition voraus. der Rhetorik, die von einer Anweisung zum
Der einmal erreichte und mit Schrift ver- richtigen und kommunikativ effizienten Re-
bundene kanonische Status hebt einzelne hei- den zu einer Kunst des richtigen Schreibens
lige Texte heraus und macht die weitere Text- und als solche besonders in der spätabsolu-
beschäftigung zu einer auslegenden Tätigkeit. tistischen Zeit eine rein literarisch bezogene
Diese kann wiederum quasi kanonischen Stel- sprachliche Theorie wurde (vgl. Lausberg
lenwert erhalten, wie insbesondere an der jü- 1960).
dischen Entwicklung zu greifen ist (Mischna
— Gemara), wie aber auch aus dem Stellen- 4.8. Geschriebene Sprache,
wert der patristischen Literatur im orthodo- schriftliche Sprache, Schriftsprache
xen und römischen Christentum erhellt.
Die schriftlich fixierte Kanonisierung des Die Situationsentbindung der schriftlichen
heiligen Textes wird in zweierlei Richtung Kommunikation verleiht nicht nur dem Pro-
reaktualisiert: einerseits durch die je neu vor- dukt des sprachlichen Handelns eine eigene
genommene Reoralisierung im Kultus in der Materialität. Sie trägt auch wesentlich zur
lauten Verlesung von Abschnitten (Periko- Herausbildung des Konzepts Sprache selbst
pen), wobei das schriftliche Wort auch in sei- bei. Schrift — in welcher typologischen Form
ner Materialität einen besonderen Stellenwert auch immer — ist verobjektivierte, visuell zu-
erhält (Thora-Rollen in der Synagoge, der gängliche Sprachgliederung, „Artikulation“
„Große Einzug“ ( megale eisodos ) des göttli- im wörtlichen Sinn des Ausdrucks. Im schrift-
chen Wortes im orthodoxen Gottesdienst); lichen Produkt, dem verschrifteten Text, wird
andererseits im Auslegungsgeschehen, indem Sprache als ersichtlich segmentierte zugäng-
eine spezifische Problematik des schriftlichen lich (Günther 1988, Kap. 1).
Wortes bearbeitet und überwunden werden Diese Beiträge zur Herausbildung eines an
soll, die Gefahr nämlich, daß der schriftliche schriftlichen Texten entwickelten Sprachkon-
Text zum sinn-leeren und damit zum sinn- zepts sind freilich erst der Anfang einer Ent-
losen, bloßen Zeichenprodukt verkommt. In wicklung, die sich in die Strukturkennzeichen
den Oppositionen von Buchstabe und Geist von Sprache selbst hinein fortsetzt. Durch die
( littera und spiritus ) wird diese Problematik oben beschriebenen systematischen Verände-
als ein permanenter Begleitdiskurs der Ver- rungen gewinnt Sprache im Medium der
schriftlichung gerade im religiösen Kontext Schrift und für es eine spezifische Formalität.
aktuell (vgl. u. Zf. 8). Die schulbezogene Basiertheit des Erwerbs
der Schreib- und Lesefähigkeit reglementiert
4.7.4. Textarten-Vielfalt schriftliche Kommunikation von vorneherein
institutionell. Für ihre Praxis ist die Natur-
Zwischen den rein ephemeren, häufig ver- wüchsigkeit des sprachlichen Handelns auf-
gleichsweise formlosen schriftlichen Texten gegeben. Das sprachliche Handeln in seinen
und den bis ins letzte Detail formierten und schriftlichen Formen unterliegt der Didakti-
in ihrer Form abgesicherten „heiligen“ Texten sierung und enthält so alle Voraussetzungen
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 29

für Standardisierungs- und Normierungspro- Sprache ein theoretischer Platz eingeräumt


zesse. Diese kommen zugleich substantiellen (insbesondere in den programmatischen Er-
Zweckbereichen der schriftlichen Kommuni- klärungen der Junggrammatiker, nicht jedoch
kation entgegen, insbesondere der extensiven in deren Praxis). In Vacheks Konzept von
Diatopisierung des schriftlichen sprachlichen „written language“ (Vachek 1939, 1973, 1989)
Handelns. Der schriftliche Text soll auch dem wird die geschriebene Sprache als besondere
fernen Adressaten zugänglich werden. Dieser Sprache zum besonderen linguistischen Ob-
hat die Möglichkeit des Lesens dann, wenn jekt erhoben. In neueren Entwicklungen
er in den gleichen Normierungskontext ein- (Feldbusch 1985, 1988) wird dann die ge-
gebunden ist wie der Schreibende. Erst ent- schriebene Sprache gegenüber der gesproche-
wickelte administrative Strukturen setzen nen vollends noch einmal theoretisch verselb-
Schrift in nennenswertem Umfang in Gang. ständigt (zur Kritik siehe Knoop 1989).
Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Komple- Demgegenüber ist die Faktizität des gesell-
xität, die in der spezifisch schriftbezogenen schaftlich ausgearbeiteten und praktizierten
Varietät von Sprache bleibend erfordert ist. Sprachbegriffs von einer vielfältigen Wechsel-
Sprache als geschriebene wird also zu einer seitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlich-
spezifisch schriftlichen Varietät, zur „schrift- keit geprägt. Die Maxime „Schreibe wie du
lichen Sprache“ (Günther 1983, 1988; Ludwig sprichst!“ (Müller 1990) illustriert in der Viel-
1983; Klein 1985). Diese gewinnt dann, wenn falt ihrer Auswirkungen exemplarisch die
Normierungsprozesse und dafür erforderliche Komplexität dieses Verhältnisses.
Agenturen in erheblichem Umfang realisiert Eine Dimension der Anordnung von
werden, die Qualität von Schriftsprache. Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist die von
Dieses Konzept wirkt in bezug auf die „Nähe und Distanz“ (Koch & Oesterreicher
Sprachauffassung seinerseits normierend zu- 1985; → Art. 1; 44). Sie ergibt sich aus den
rück. Die als „Schriftsprache“ ausgezeichnete systematischen Bestimmungen des Verhältnis-
Varietät einer Sprache hat aufgrund ihrer ses von mündlicher und schriftlicher Kom-
normativen Qualitäten den Anspruch, diese munikation selbst.
Sprache allein zu repräsentieren, sie zu sein. Eine umfassende Systematik von geschrie-
Ein solches Konzept von Sprache, das sich bener Sprache, schriftlicher Sprache und
insbesondere für die buchdruckbasierten neu- Schriftsprache wäre wahrscheinlich nicht nur
zeitlichen europäischen Sprachen herausge- linguistisch, sondern auch gesellschaftlich von
bildet und im Zusammenhang der Nationa- großem Nutzen.
lisierung der Spachfrage im 18. und 19. Jahr-
hundert verallgemeinert hat, läßt die Rede-
weise von „dem Deutschen“, „dem Franzö- 5. Die Verdinglichung des Textes und
sischen“, „dem Italienischen“ als den Nor- ihre kommunikativen Folgen
malfall des Sprechens von Sprache erschei-
nen. Dieses Konstrukt, aus der oben bezeich- 5.1. Verdinglichung und Materialitätswandel
neten Entwicklung heraus als gesellschaftli-
ches Abstraktionsresultat auf der Grundlage Die schriftliche Vertextung als Sprachumset-
der Abstraktion des schriftlichen Textes aller- zung in die visuelle und haptische Dimension
erst hergestellt, wird wiederum überall dort verlangt ein in diesen Dimensionen zugäng-
normativ eingesetzt, wo die schriftsprachliche liches physisches Substrat. Schriftliche Kom-
Vereinheitlichung noch nicht gegriffen hat munikation ist also substratgebunden. Dabei
(„das Provenzalische“, „das Baskische“). ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden,
Diese Abstraktionsprozesse kulminieren in der eigentlichen Grundlage und den Mitteln
der wissenschaftlich organisierten Form der der Manipulation dieser Grundlage. Je nach
Sprachkonzeptualisierung, der Linguistik. dem Charakter beider sind zwei- (z. B. be-
Ihre Entfaltung im vorigen und in diesem drucktes Papier) und dreidimensionale For-
Jahrhundert hat in den meisten Fällen die men (z. B. in Stein oder aus Stein (heraus-)
Gleichung Sprache = schriftliche Varietät = geschlagene Inschriften oder auch Keileinprä-
Schriftsprache immer schon vorausgesetzt, gungen in Tontäfelchen) schriftlicher Texte zu
was innerhalb der Linguistik zu einem „writ- differenzieren. (Andere Formen der Verdaue-
ten language bias“ geführt hat (Linell 1982 ; rung wie z. B. die Quipuschnüre (vgl. Haar-
Klein 1985), der das linguistische Geschäft mann 1990, 56 ff) haben sich demgegenüber
bis heute präsuppositionell bestimmt. Müh- nicht durchgesetzt.) Für die Visualisierung
sam wurde demgegenüber der gesprochenen von Sprache wird also jeweils eine Oberfläche
30 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

verwendet, die in sich kontinuierlich, glatt komobilität selbst. Die Substrate wurden in
und von einer gewissen zweidimensionalen ihrer Geschichte leichter. Dieses Erfordernis
Erstreckung sein muß. In den seltensten Fäl- erfährt seine Grenze durch den anderen zen-
len sind solche Oberflächen von Natur aus tralen Parameter, nämlich den der Material-
da. Ihre Herstellung bedarf also der Arbeit, dauerhaftigkeit, bezogen auf die jeweils an-
und diese bedarf einer gewissen Entwicklung gestrebte Traditionserstreckung. Steine und
von Werkzeugen. Das gleiche gilt für die Ma- Ton, dieser in eigens für die Vertextung ge-
nipulationsmittel dieser Oberfläche, durch die nutzter Form (Keilschrifttafeln) oder in für
diese entweder direkt verändert wird (Tonein- andere Zwecke bereits gehärteter oder ge-
druck durch Holzgriffel) oder durch deren brannter Form (Scherben, Ostraka) stehen
eines ein anderes Manipulationsmittel der am Anfang dieses Prozesses. Sie sind von
Oberfläche appliziert wird (Tusche/Pinsel; großer Dauerhaftigkeit, aber schwer. Holz
Farbband/Schreibmaschine etc.). hingegen ist leichter, aber auch weniger dau-
Je nach dem spezifischen Verdauerungser- erhaft. Tierhäute (Pergament), besonders
fordernis ist der Schriftträger selbst als fix aber Papyrus und Papier sind wesentlich
oder (in der Mehrzahl der Fälle) als trans- leichter und für viele Kommunikationszwecke
portabel ausgelegt. Die fixen Typen finden in hinreichend dauerhaft. Die aufzuwendende
der Gestalt etwa von Stelen, Grabmalen, Mei- Arbeit für die verschiedenen Substrate sowie
lensteinen, Teilen von Bauwerken usw. ihre je die Naturbedingungen, die ihrer Verwendbar-
spezifische Form. Für sie alle ist charakteri- keit zugrunde liegen (vgl. die Einsatzmöglich-
stisch, daß die rezeptive Teildimension der keiten des Tones im Vorderen Orient mit einer
sprachlichen Handlung dadurch initiiert wird, hinreichenden Dauerhaftigkeit durch Luft-
daß in sich lokomobile potentielle Leser in trocknung der Oberfläche vs. deren Nichtver-
den visuellen Horizont des schriftlichen Tex- wendbarkeit in Nordeuropa) gehen weiter in
tes treten und die Möglichkeit der Lektüre die Geschichte des Materialitätswandels be-
aktualisieren. (Einen elementaren und Über- stimmend ein. Während die lokostatischen
gangstyp dieser Klasse bilden nur geringfügig Substrate durch eine relative Beständigkeit
oder gar nicht bearbeitete Gesteinsplatten, die der für sie überhaupt in Frage kommenden
als Schreibgrund in Anspruch genommen Mittel, zugleich durch eine zunehmende Ver-
wurden und darin andere semiotische Verfah- lagerung ihrer kommunikativen Bedeutung
ren, insbesondere Felszeichnungen (vgl. an die Ränder der gesellschaftlichen Relevanz
Haarmann 1990, Kap. 1), zur Voraussetzung gekennzeichnet sind, ist die Geschichte der
hatten.) lokomobilen Substrate nach den jeweiligen
Nennen wir diesen Typ von Texten loko- hauptsächlichen Typen geradezu epochal zu
statisch. Dieser ist nicht nur auf den medialen gliedern: Die Tonphase (insbesondere vorder-
Bereich beschränkt, sondern er gewinnt zu- orientalisch-keilschriftlich) wird durch die Pa-
gleich eine eigene systematische Qualität. J. pyrus-, diese durch die Pergamentphase und
Assmann (1993) spricht hier von „Inschrift- diese wiederum durch die Phase des Papiers
lichkeit“, die den Leser geradezu einer über abgelöst (→ Art. 8). Die textkritische Arbeit
Flüche abgesicherten „inschriftliche(n) Ge- der Philologie macht von dieser Epochenein-
walt“ (1993, 225) unterstellt. teilung vielfältigen Gebrauch.
Vom lokostatischen ist der lokomobile Typ Innerhalb der einzelnen Epochen können
zu unterscheiden. Er erlaubt den Transport darüber hinaus die Manipulationsmittel für
des Textes in je neue rezeptive Teilsprech- die Oberflächen weitere wichtige Einschnitte
handlungen. Es ist dieser Typ des schriftlichen bedeuten wie insbesondere die Entwicklung
Textes, der die wesentlichen Expansionen und von Auftragungsmitteln (Naturfarben mit ge-
Veränderungen schriftlicher Kommunikation ringer Beständigkeit, Aschen, Tusche, Tinte
zur Folge gehabt hat. Die Transportabilität usw.).
des sprachlichen Handlungsproduktes ermög-
lichte und ermöglicht die Vervielfältigung von 5.2. Soziologische Konsequenzen:
Rezeptionshandlungen, indem der Text dia- Die Herausbildung von Schriftarbeitern
topisch beliebig zugänglich gemacht wird.
Gerade die lokomobilen Substrate erfuh- Der Umstand, daß bereits die Substrate des
ren in der Geschichte der schriftlichen Kom- mediatisierten Textes gesellschaftliche Arbeit
munikation permanente Veränderungen. erfordern, führt schon in frühen hochentwik-
Einer der für diese Entwicklung zentralen Pa- kelten Kulturen dazu, daß Spezialisten für die
rameter ergibt sich aus dem Zweck der Lo- Herstellung dieser Substrate eigene Berufs-
ausprägungen finden, die freilich lange mit
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 31

der eigentlichen professionellen Schreibfähig- 7—9; → Art. 7; 51). Erst der im Kontext
keit (vgl. unten Zf. 7) verbunden blieben. Erst der Druck-Medienrevolution aufkommende
mit der Entfaltung des Druckwesens nimmt Umwertungsprozeß der frühen Neuzeit (Re-
diese Entwicklung einen explosionsartigen formation) hat diese Suspektheit der Un-
Fortgang, der durch die Subsumtion unter zuverlässigkeit, ja Kontraproduktivität des
kapitalistische Einzelproduktion und -distri- schriftlichen Textes für den Überlieferungs-
bution — mit daran anschließenden Konzen- zweck allmählich aufgelöst und Schriftlichkeit
trationsprozessen — eine ihm geeignete öko- zur prinzipiellen Grundlage gesellschaftlicher
nomische Form findet. Überlieferungsprozesse gemacht. Damit ist
Schriftkommunikation zur primären Kom-
munikationsform geworden, die insbesondere
6. Medienmanipulation die translokalen, sich bis zum Weltmarkt ent-
faltenden kommunikativen Erfordernisse der
6.1. Die Falsifizierbarkeit des schriftlichen kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsfor-
Textes als Konsequenz seiner mation zu gewährleisten in der Lage war.
kommunikativen Entfremdung Neben der prinzipiell den schriftlichen Tra-
und die apotropäischen Maßnahmen ditionsprozeß diskreditierenden Skepsis und
zu ihrer Verhinderung als Reaktion auf sie ist die Herstellung und
Die Herauslösung des schriftlichen Textes aus Übermittlung schriftlicher Texte begleitet von
der Sprechsituation und seine Verselbständi- apotropäischen Maßnahmen, die die Gefähr-
gung gegen diese, die als kommunikative Ent- dungen des Überlieferungsprozesses im Me-
fremdung gekennzeichnet werden können, dium der Schrift bearbeiten und beseitigen
machen den schriftlichen Text zu einem äu- sollten.
ßerst gefährdeten Medium für die Zwecke der Im folgenden werden einige Aspekte der
Sprechhandlungsüberlieferung. Dadurch, daß Medienmanipulation und ihrer Bearbeitung
der schriftliche Text auch materiell durch die dargestellt.
Umsetzung in die haptisch-visuelle Dimen-
sion seine verdinglichte Verselbständigung er- 6.2. Traditionssichernde Flüche
fahren hat, wird der Transport der sprachli- Bereits sehr früh wird der schriftliche Text
chen Handlung selbst einer Reihe von — zum selbst in den fluchbewehrten Schutzbezirk
Teil fatalen — Problemen ausgesetzt. Bereits sonstiger der unmittelbaren Macht des Spre-
die Loslösung vom Sprecher hat eine End- chenden nicht zugänglicher Handlungssphä-
gültigkeit erreicht, die den schriftlichen Text ren einbezogen. So wie Verträge (vgl. Hillers
unwägbaren Einflüssen offenlegt. Neben den 1964) und Rechtssetzungen (vgl. u. a. Mercer
rein natürlichen materiellen Gefährdungen 1915, Assmann 1993) durch Flüche gesichert
sind es vor allem die Möglichkeiten der Ein- werden, so wird der schriftliche Text selbst
flußnahme anderer auf den schriftlichen Text, durch Fluch geschützt. Bereits auf einer Sta-
die das herausgehobene schriftliche Tradi- tue Gudeas von Lagasch (3. Jahrtausend vor
tionsmittel in sein Gegenteil umschlagen las- Chr.) findet sich die Formulierung „Wer im-
sen können. Die mangelnde Möglichkeit sinn- mer diese Statue aus dem E-ninnu entfernen
lich vermittelter personaler Vergewisserung oder ihre Inschrift auslöschen wird [...], des-
innerhalb der durch Sprecher- und Hörerko- sen Schicksal sollen Anu und Enlil wenden,
präsenz geprägten unmittelbaren Sprechsitua- dem sollen sie die Tage zerbrechen wie einem
tion hat diese Problematik frühzeitig eine be- Ochsen und seine Kraft zu Boden werfen wie
sondere Aufmerksamkeit der Kommunika- einem Wildstier, dem sollen sie den Thron zu
tionsteilnehmer finden lassen. Die konkurren- Boden stürzen, den er errichtet hat.“ (zitiert
tielle Auseinandersetzung zwischen mündli- nach Assmann 1993, 2 44). Diese fluchge-
cher und schriftlicher Vertextung, die die fak- schützte Garantie der Überlieferungsqualität
tische Koexistenz beider Traditionsverfahren setzt sich über die rechtssetzend-konstituie-
über mindestens 2 000 Jahre prägte, ist von rende Kraft, wie sie im Kodex Hammurabi
dem Mißtrauen gegenüber der Traditionsver- (Epilog, Rs. XXVI, 18 ff) in Anspruch genom-
läßlichkeit des schriftlichen Textes geprägt. men wird, und die Kolophone von Schreibern
Die platonische Ablehnung der Schrift etwa als Authentizitätsgarantie und in die (stark
ist Ausdruck der Befürchtung prinzipieller weisheitlich bestimmten) frühchristlichen
Unzuverlässigkeit des schriftlichen Vertex- Zeugnisse fort (exemplarisch Offbg. 2 2 , 18 f:
tungsverfahrens (Phaidros 2 74 c—2 78 b; s. „Ich bezeuge allen, die da hören die Worte
z. B. Assmann, Assmann & Hardmeier 1983, der Weissagung in diesem Buch: Wenn je-
32 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

mand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Formen der Kommunikation wie die militä-
Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrie- rische.
ben stehen. Und wenn jemand etwas weg- Wichtiger ist demgegenüber eine Absiche-
nimmt von den Worten des Buchs dieser Weis- rung des Texttransports, die vor allem durch
sagung, so wird Gott ihm seinen Anteil weg- dessen Professionalisierung bewerkstelligt
nehmen am Baum des Lebens und an der werden sollte. Die Herausbildung eines welt-
heiligen Stadt, von denen in diesem Buch weiten Postsystems hat hier ihren systemati-
geschrieben steht.“). schen Ort (vgl. Glaser & Werner 1990). Des-
Die Sicherung des veräußerlichten schrift- sen Geschichte freilich zeigt, etwa am Hause
lichen Textes gegen seine Fälschung mit Hilfe Thurn und Taxis, dem für Mitteleuropa das
des Fluches greift auf einen genuin mündli- Postprivileg zufiel (vgl. Dallmeier 1977), daß
chen illokutiven Typ sprachlichen Handelns insbesondere die parasitäre Nutzung der
zurück, in dem Wirkmächtigkeit des illokutiv Texte damit noch keineswegs ausgeschlossen,
realisierten Wortes unterstellt ist. Dieses wird diese vielmehr geradezu provoziert wurde.
im apotropäischen Textteil „beschworen“. Für das Gelingen gerade bürgerlicher schrift-
Seine illokutive Kraft wird einfach in An- licher Kommunikation wurde diesen Gefähr-
spruch genommen. Damit wird freilich eben dungen eine neue Form apotropäischer Be-
die Voraussetzung für die Notwendigkeit sol- arbeitung gegenübergestellt, nämlich die
cher Beschwörung, die Auflösung der perso- rechtliche des „Brief- und Postgeheimnisses“.
nal vermittelten Sprechsituation über ihre Dieses wurde als wesentliches bürgerliches
Zerdehnung hinaus hin zum veräußerlichten Freiheitsrecht im letzten und in diesem Jahr-
Sprechhandlungsprodukt, strukturell gerade hundert erkämpft und in bürgerlichen Verfas-
nicht ernst genommen. Insofern ist das Mittel sungen verallgemeinert. Damit wird schrift-
der Falsifikationssicherung selbst in den Ge- liche Kommunikation als direkt der per-
fährdungszusammenhang eingebunden, den sönlichen Integrität der Interaktanten zu-
zu überwinden es bemüht wird. Mit anderen gehörig interpretiert. Das sprachliche Han-
Worten: Es ist ein ungeeignetes Verfahren, das deln in seiner schriftlichen Form wird — wie
sich denn auch im Laufe des historischen Pro- andere Formen des sprachlichen Handelns
zesses verliert und durch andere Verfahren der (Bekenntnishandeln, Meinungsäußerung) —
Produktsicherung abgelöst wird. als Grundrecht geschützt, seine Einschrän-
kung an besondere rechtliche Bedingungen
6.3. Kommunikationsraub und geknüpft.
parasitäre Textaneignung
6.4. Bücherverbrennung und Zensur
Die Veräußerlichung des Sprechhandlungs-
produktes im schriftlichen Text bedeutet im Nachdem durch die Entwicklung des Druckes
lokomobilen Fall selbstverständlich die belie- die Vervielfältigung des schriftlichen Textes
bige Aneignungsmöglichkeit dieses Textes. quantitativ beliebig möglich wurde, geriet
Während der Bote als Träger des zu Überlie- schriftliche Kommunikation überall dort in
fernden nur durch List und Folter zur Preis- Konflikt mit gesellschaftlichen Strukturen,
gabe der Botschaft bewegt werden kann, wird wo die Verallgemeinerung von Wissen syste-
die Abzweigung des schriftlichen Textes für matisch eingeschränkt werden mußte oder
andere als die vorgesehenen Adressaten beim sollte. Durch die Dissoziierung der sprachli-
schriftlichen Text wesentlich leichter. Die Ver- chen Handlung in ihre für sich stehenden
äußerlichung des schriftlichen Textes gegen- Dimensionen und Aspekte wird die Eingriffs-
über der Kommunikationssituation kann also möglichkeit zur Verhinderung schriftlicher
den Kommunikationsprozeß substantiell ge- Kommunikation vielfältig. Sie kann an allen
fährden. Entsprechend ist die Geschichte der diesen Dimensionen ansetzen: Die Interak-
schriftlichen Kommunikation von einer Reihe tanten selbst können am Produzieren bzw.
von Schutzmaßnahmen begleitet, die dieses Rezipieren durch ihre Kasernierung oder Eli-
strukturelle Problem bearbeiten sollen. Diese minierung gehindert werden. Insbesondere
betreffen einerseits die Schriftform selbst, in- aber erweist sich die vervielfältigte Reproduk-
dem das Kommunikationsprodukt ein weite- tions- und Distributionsstruktur als für solche
res Mal umgesetzt, in eine Geheimschrift um- Eingriffe extrem anfällig. Das Institut des
kodiert wird (→ Art. 145). Dieses vergleichs- Zensors blockiert den Eintritt in den eigent-
weise aufwendige Verfahren steht freilich im lichen Reproduktionsprozeß. Die Beschlag-
Widerspruch zur Ökonomie der Schriftbe- nahme des Druckerzeugnisses unterbricht die
herrschung und beschränkt sich auf spezielle Distribution. Die Bücherverbrennung besei-
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 33

tigt mit dem veräußerlichten Kommunika- chen Text auf oder in sich enthält, als eines
tionsprodukt die Möglichkeit für seine Re- rein physischen Objektes — der Tontafel, des
zeption (→ Art. 6; 74). Nur allzu oft ist diese Steines, des Pergaments usw. — wird sekun-
nur der erste Schritt zur physischen Bedro- därer Lektüre zugänglich gemacht. Im Fall
hung des Autors und der potentiellen Rezi- der bis heute nicht oder kaum entschlüsselten
pienten. Texte ist die kommunikative Qualität völlig
in die Potentialität zurückgenommen. Erst
6.5. Der Zerfall der Textträger der Entzifferungsakt hebt diese re-physikali-
sierten Objekte erneut in den kommunikati-
Die Materialität des schriftlichen Textes ver- ven Zusammenhang hinein (→ Art. 29).
langt ein materielles Substrat. Dieses unter-
liegt der Gefahr des Zerfalls. Die Veräußer- 6.8. Die magische Inanspruchnahme
lichung der schriftlichen Kommunikation des Textes
kann so die Voraussetzung für ihre Unmög-
lichkeit, für das Verfehlen ihres Zweckes sein. Die Herauslösbarkeit des schriftlichen Textes
Gerade die Bearbeitung der Diachronie stellt in seiner Materialität aus der Sprechsituation
hohe Anforderungen an die materielle Dau- ermöglicht schließlich dessen Inanspruch-
erhaftigkeit des Substrats. Diese ist bei der nahme für magische Praktiken. Das veräu-
Entwicklung neuer Kommunikationsträger ßerlichte sprachliche Handeln in seiner phy-
keineswegs immer abschätzbar. Säurezerfall sischen Objektform macht das Objekt und
von Büchern, klimatische Zerstörungen, Ver- mit ihm und durch es nach magischem Ver-
witterung usw. bedrohen den Kommunika- ständnis das sprachliche Handeln selbst ma-
tionszweck. Die schriftliche Wissensspeiche- nipulierbar. Eine Herkunftslinie von Schrift
rung erfordert erhebliche gesellschaftliche ist diesem Zusammenhang geschuldet. Die
Aufwendungen, um diesem Substratzerfall zu zur Schriftlichkeit verdeutlichte sprachliche
wehren. Handlung wird als verobjektivierte Gegen-
stand vielfältiger weiterer Bearbeitung. Dabei
6.6. Texte sekundärer Entstehung ist immer unterstellt, daß diese Bearbeitungen
auf den Kommunikationsprozeß selbst durch-
Die Begründung des Textes im Überliefe- schlagen. Die magische Inanspruchnahme
rungszweck und die Veräußerlichung in der schriftlicher Kommunikation entfaltet sich in
Form des schriftlichen Dokuments ermög- den verschiedenen kommunikativen Dimen-
licht eine Verdauerung von Kommunikation, sionen. Sie intendiert den Umschlag aus phy-
wo diese weder vom Sprecher noch vom Hö- sischer Manipulation in illokutive Kraft.
rer beabsichtigt ist. Dies geschieht etwa bei Auch die Schrift selbst, ihre innere Struk-
geheimen schriftlichen Protokollierungen des tur, ihre ABC-darische Anordnung (→ Art.
gesprochenen Wortes und insbesondere bei 142 ) werden vielfältig für derartige Praktiken
den post-skriptoralen Formen der Vertextung funktionalisiert (Dornseiff 192 2 , Glück 1987),
z. B. durch Magnetaufnahmen. Hier wird insbesondere auch, um den wissensbezogenen
Kommunikation so „abgezweigt“, daß eine Nutzen von Schrift zur Gewinnung von Me-
hinsichtlich der primär beteiligten Personen tawissen und zur Wissensgewinnung aus dem
nicht-intentionale Verschriftung bzw. Überlie- Medium allein heraus einzusetzen: Wenn
ferung in anderer Form hergestellt wird. Die Schrift zur Speicherung beliebiger propositio-
Veräußerlichung der Kommunikation wird naler Gehalte genutzt wird, so sollen in sol-
also von außen induziert. Das Ergebnis sind chen Verfahren propositionale Gehalte aus
Texte sekundärer Entstehung. dem Medium selbst erzeugt werden. Dieses
Konzept setzt sich bis in bestimmte Tradi-
6.7. Der Kommunikationsverlust des Textes tionslinien einer ontologisch sorglosen Logik
Die Veräußerlichung des schriftlichen Textes fort.
gegenüber der Sprechsituation kann auch be-
deuten, daß die Texte letztlich als materielle
überdauern, ohne noch rezipiert zu werden. 7. Die Transformation des Sprechers
Auch hier wird eine genuine Möglichkeit der zum Autor und
Textherauslösung aus dem Kommunikations- ihre soziologischen Konsequenzen
zusammenhang objektiv realisiert. Nahezu all
unsere Kenntnis früherer Epochen schriftli- 7.1. Schreiber
cher Kommunikation verdankt sich solchem Schrift entsteht in Gesellschaften, die eine ge-
Überdauern von Dokumenten, die nicht für wisse Stufe arbeitsteiliger Komplexität er-
unsere Lektüre bestimmt waren. Die Konser- reicht haben. Insbesondere die Herausbildung
vierung des Textsubstrats, das den schriftli-
34 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

zentraler Verwaltungstätigkeiten, die als sol- 7.2. Autorschaft


che selbstverständlich auch religiös organi-
siert sind, setzt sich in der ephemeren Schrift- Die Notwendigkeit zu schreiben entfaltet sich
lichkeit um — wie die komplexe kultische im Lauf der letzten drei Jahrtausende derart,
Aktivität arbeitsteiliger Hierarchien sich der daß bis in dieses Jahrhundert hinein immer
Schrift früh bedient (vgl. insbes. Schenkel größere Bereiche der Schriftlichkeit subsu-
1983 am ägyptischen Beispiel). Insofern ist miert werden oder sie jedenfalls subsidiär nut-
Schrift auf ein spezialisiertes Personal von zen. Damit wird auch der Kreis der Schrei-
vorneherein bezogen, das freilich zunächst benden potentiell erweitert. Selbst bei „de-
Schriftfertigkeit nur als eines seiner spezifi- mokratisch“ strukturierten, d. h. potentiell
schen Qualifikationsmerkmale aufweist. Erst einer großen Zahl von Schreibern zugängli-
die weitere Differenzierung grenzt aus dieser chen Schriftsystemen erfordert der Umfang
Gruppe wiederum die „Schreiber“ aus. Deren der Schreibanlässe keineswegs auch die tat-
Stellung schwankt von der einer relativ un- sächliche Verallgemeinerung der Schreibfä-
tergeordneten, im wesentlichen medial defi- higkeit für die gesamte Sprechergruppe (vgl.
nierten Position bis hin zu einer Position, in Maas 1985) oder große Teile von ihr, wie z. B.
der dem Schreiber die Zuständigkeit für das die Situation des Äthiopischen durch die
Wissen prinzipiell zugeschrieben ist. Diese Jahrhunderte zeigt (→ Art. 23; 67).
Ambivalenz charakterisiert die Position von Erst eine komplexe Matrix ermöglicht eine
„Schreibern“ bis heute. Im ersten Fall sind Soziographie von Schreibenden, Schrift und
Schriftlichkeit (vgl. zur Problematik exempla-
sie lediglich auf den Äußerungsakt bezogene risch Haug 1983).
subsidiäre Kräfte für einen von ihnen unab-
hängigen sprachlichen Handlungszusammen- Die medial-funktionale Position des
hang. So wie der die Botschaft auswendig Schreibers läßt die Frage der Urheberschaft
lernende Typus des Boten durch sein Memo- prinzipiell noch ganz im weitestgehend insti-
rieren die Sprechhandlung vertextet, sich um tutionell-religiös geregelten Zusammenhang
ihren propositionalen Gehalt und ihre illo- mündlicher Kommunikation. Wie der Griot
kutive Qualität aber weder kümmern darf (vgl. Camara 1976) Sprachmittler zwischen
noch zu kümmern braucht, so leistet der dem Herrscher und dem Volk im Medium der
Schreiber lediglich die mediale Umsetzung der Mündlichkeit ist, so der Schreiber im schrift-
gesprochenen Handlung in eine erhaltungs- lichen Zusammenhang. Zwar werden bereits
fähige und transportable Form (vgl. Zf. 5.2 ). in den Kolophonen akkadischer Keilschrift-
Anders hingegen gestaltet sich seine Position, tafeln auch Schreibernamen mitgeteilt. Doch
wenn er selbst — wie etwa im diplomatischen erst mit der gesamtgesellschaftlichen Verselb-
oder klerikalen Kontext — die Sprechhand- ständigung der ägyptischen Beamtenschaft
lung erst im Sinne des autoritativen Spre- (vgl. J. Assmann 1992 ) entstehen eine Auto-
chers, etwa des Herrschenden oder im Sinne nomisierung und Individualisierung des Au-
des Tempels verfertigt. Der Stellenwert alt- tors, wie sie uns heute selbstverständlich
ägyptischer Beamter, chinesischer Manda- scheinen Im Griechentum wird dieser Prozeß
rine, karolingischer Geistlicher, wilhelmini- qualitativ umgesetzt und beschleunigt. Die
scher Politiker („Emser Depesche“), demo- antike Welt kennt eine Vielfalt von Autoren
kratischer „Ghost Writers“ zeigt die Vielfalt, — sie kennt aber auch das umstandslose Sub-
die Macht und die Ohnmacht dieser aus sumieren von Sprachprodukten unter auto-
dem medialen Kontext herausgewachsenen ritative Verfasserschaft, die von einer späte-
Schreibspezialisten. ren, an historischer Authentizität orientierten
In dem Maß, in dem das Schriftsystem Zeit mit dem negativen Stichwort der „Pseud-
selbst die Voraussetzungen für eine verallge- epigraphie“ belegt wurde. Die postantiken
meinerte Nutzung durch große Populationen Autorschaften bewegten sich in der kommen-
(auf Grund veränderter Verschriftungserfor- tierenden Reproduktion des Traditionsbe-
dernisse mittels Strukturveränderungen des standes. Autorschaft aktualisierte sich hier
Systems — Konsonanten- bzw. Alphabet- nahezu immer innerhalb textueller Räume,
schrift — und/oder durch verallgemeinerten die bereits vorlagen, und in der Verarbeitung
Unterricht in der Kunst des Schreibens) und dem Neuarrangement des bereits Be-
schafft, wird der Spezialistenstatus der Schrei- kannten. Eine angemessene Würdigung sol-
ber gesellschaftlich überflüssig — um sich bei cher Formen von Autorschaft war unter den
jeweiligen technischen Innovationen natur- Bedingungen der Philologie des vorigen und
wüchsig wiederherzustellen. dieses Jahrhunderts, die viele Quellen erst zu-
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 35

gänglich machte, kaum möglich, weil hier ein schaft, ihrer Verstehensmöglichkeiten und ih-
Autorkonzept präsuppositionell war, das rer Leseerwartungen werden zu zentralen
sachlich durch mehrere Innovationsschübe Aufgaben des Autors — bis dahin, daß diese
seit der Verbreitung des Buchdrucks und da- Zusammenhänge für das Bewußtsein von Le-
nach in einer ganz anderen Weise bestimmt sern und teilweise auch Autoren selbst als
war. spezifisch verschleierungswürdig erfahren
Der Bezug auf ein latentes Gesamtwissen werden, um im Modus der schriftlich vermit-
erleichterte noch dem mittelalterlichen Autor telten Indirektheit die Fiktion von Authenti-
die Verfertigung von Schriftlichkeit. Die Mo- zität und Direktheit möglichst aufrecht zu
dellierung des Lesers konnte so gleichsam erhalten.
prinzipiell nach seinem eigenen Bild gesche-
hen — d. h., sie konnte als explizite Tätigkeit
weithin unterbleiben, weil der gemeinsame 8. Die Transformationen vom Hörer
Wissenshintergrund der Sorge enthob, den zum Leser und ihre soziologischen
konkreten Leser zu verfehlen. Die kanoni- Konsequenzen
sierte Elementarbildung und die verallgemei-
nerte Sprache des gesellschaftlichen Wissens Hören geschieht ohne Mühe — Lesen nicht.
(Latein bzw. Griechisch bzw. Arabisch) ga- In der unmittelbaren Sprechsituation sind die
rantierten jene sprechsituationsübergreifende Voraussetzungen für das Gelingen des Verste-
Gemeinsamkeit, die die Bedingung der Mög- hens also ebenso unmittelbar gegeben, wenn
lichkeit für das Gelingen schriftlicher Kom- dieses dadurch freilich auch noch nicht ga-
munikation war. rantiert ist.
In dem Maße, in dem die Dissoziierung der
Sprechsituation zur Distanzierung des Hörers
7.3. Autorschaft unter den Bedingungen führt, verliert sich die auditive Sinnlichkeit
der Neuzeit wie die personale Vermittlung des Geschehens
Diese selbstverständlichen Rahmenbedingun- insgesamt. Im Fall der Schriftlichkeit wird der
gen zerfielen mit der Reetablierung eines Teil- Hörer zum Leser transformiert. Die schrift-
Wissenssystems, nämlich des klassischen in liche Kommunikation verlangt vom Leser die
der Renaissance, besonders aber mit der De- rezeptive Beherrschung der schriftlichen Ver-
valuierung der Tradition innerhalb der Re- fahren. Sie verlangt von ihm vor allem aber
formation und durch die Vervielfältigung von das Umgehen mit dem aus der Kommunika-
Autorschaft, die durch den Buchdruck er- tionssituation herausgehobenen Text und mit
möglicht wurde. all den Konsequenzen, die dieser Auflösungs-
Damit kommt das Konzept von Autor- prozeß für das sprachliche Handeln hat
schaft auf den ihm eigenen neuzeitlichen Be- (Zf. 4.).
griff, in dem die Dissoziierungs- und damit Die heutige Form des leisen Lesens, der
Entfaltungsmöglichkeiten der Kommunika- schweigenden „Sinnentnahme“ aus dem Text,
tionssituation realisiert sind. Das Gelingen setzt einen voll entwickelten Fertigkeitsfächer
der schriftlichen Kommunikation als einer voraus. Der Umstand, daß dieser zum didak-
Bewältigung der in sich paradoxen zerdehn- tischen Grundbaustein geworden ist, täuscht
ten Kommunikationssituation wird zu einem über Umfang und Schwierigkeit der dabei
wesentlichen Bereich der Autor-Tätigkeit. Sie beteiligten Verfahren hinweg. Offenbar ist es
wird zum Metier des Autors, der Autor wird selbst bei das Lesen erleichternden phonogra-
zunehmend professionalisiert. Dies betrifft phischen Schriftsystemen keineswegs selbst-
alle Bereiche der schriftlichen Textproduk- verständlich, daß die volle Nutzung des Fer-
tion. Am massivsten macht es sich bemerkbar tigkeitspotentiales trotz verallgemeinerter Al-
in der Herausbildung einer „Literatur“, die phabetisierung oder Literalität praktiziert
den Bezug auf die Schriftlichkeit bereits in werden kann (funktionaler Analphabetismus
ihrem Namen trägt. Diese entfaltet sich durch (→ Art. 73).
die Professionalisierung der Autoren, die mit Für lange Zeit gehörte es zu den Aufgaben
den kapitalistischen Produktions- und Distri- des „Schreibers“, zugleich auch Vorleser zu
butionsverfahren der schriftlichen Texte als sein (vgl. exemplarisch Jeremia 36). Das
gedruckten „Büchern“ auch die ökonomi- schriftliche Produkt wurde vorgelesen und so
schen Voraussetzungen für die Professionali- reoralisiert. Dafür bietet die Antike zahlreiche
tät ihres Schreibens finden. Zeugnisse. In diesem Sinn kann sich der Vor-
Die Modellierung der angezielten Leser- lesende auch selbst zu seinem eigenen Audi-
torium machen. Dies war bis mindestens in
36 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die spätantike Zeit der Normalfall (vgl. Schee- gegenüber dem Autor. Der Text als heraus-
rer 1993). Die Abkürzung des Rezeptionspro- gelöster wird zum manipulierbaren Objekt,
zesses zu einer weitgehend mentalen, entsinn- zum Material, aus dem die philologische Tä-
lichten Tätigkeit ist zwar in der Dissoziierung tigkeit eine neue Sinnwirklichkeit formt. Ge-
der Sprechsituation von vorneherein angelegt, rade die Entwicklungen der literarisch-philo-
wird aber erst relativ spät zur historischen logischen Disziplinen in der zweiten Hälfte
und dann auch verallgemeinerten Realität. In des 2 0. Jahrhunderts zeigten eine Reihe von
diesem Prozeß vereinsamt der Leser zuneh- methodologisch abgeleiteten Konzepten wie
mend. Die gesellige Form der Lektüre, wie den Dekonstruktivismus, in denen der pro-
sie noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fessionalisierte Leser sich und sein Publikum
gebräuchlich war, erfuhr zu diesem Zeitpunkt von der eigenen Unabhängigkeit gegenüber
einen qualitativen Bruch, der von Schön dem Autor und von der eigenen Autonomie
(1987) als „Verlust von Sinnlichkeit“ treffend zu überzeugen trachtet. (Van Peer 1992
charakterisiert wird. Damit geschieht der spricht in einer glücklichen Metapher für die
sprachlichen Handlung eine weitere Dekom- philologische Tätigkeit von „the taming of the
munizierung. Diese geht mit einer anderen text“.)
Charakteristik einher, der potentiellen Repe-
titivität des Lesens. Dadurch wird Verstehen
zu einem lang anhaltenden, möglicherweise 9. Schriftliche Kommunikation
auch stochastischen, ja zu einem vieldimen- und die Entwicklung
sionalen, aber auch vielfach gebrochenen Pro- wissenschaftlichen Wissens
zeß. Der schriftliche Text kann weggelegt und
wieder aufgenommen werden. Der Verste- 9.1. Schrift und die Herausbildung
hensprozeß wird segmentiert — mit der Ge- von Wissenschaft
fahr seiner Zerstückelung und einer neuen
Form des Mißlingens. Wissenschaft, besonders in ihrer vorderorien-
Dies ruft professionelle Leser auf den Plan, talisch-europäischen Form, ist mit Schriftlich-
bedeutet also eine Professionalisierung ein- keit jedenfalls phänomenologisch auf das eng-
zelner Teile des rezipierenden Verstehenspro- ste verknüpft. Dies hat zur Überlegung Anlaß
zesses. So, wie sich eine Differenzierung in gegeben, daß Schriftlichkeit notwendige Vor-
der produktiven Dimension abspielt, entwik- aussetzung für das Auftreten von Wissen-
kelt sich eine ebensolche in der rezeptiven schaft ist (insbesondere Goody & Watt 1963
(Raible 1972 , 1983). Je nach dem Funktions- und öfter; Havelock 1976, 1982 ; Ong 1987;
bereich von Schrift unterscheidet sich das Ver- Logan 1986; → Art. 52 ). Diese These, die
stehenspersonal, von den antiken Hermeneu- auch erheblichen Widerspruch erfahren hat,
ten und textexplizierenden Philologen (vgl. benennt jedenfalls im Kern eine für die Ent-
Bruns 1992 ) über die christlichen Interpreten, wicklung bis hin zur neuzeitlichen Wissen-
Prediger und Theologen (vgl. Brinkmann schaft offensichtliche Konkomitanz von
1980) hin zu den professionalisierten Lesern Schrift und Wissenschaft. Allerdings steht sie
des Literaturbetriebes, den Kritikern, und den in der Gefahr, das Verhältnis zu einfach zu
zunächst am — sekundär mit Sinnstiftungs- modellieren, und zwar sowohl für die An-
autorität ausgestatteten — klassischen Text- fänge wie für die entfalteten Wissenschafts-
bestand arbeitenden Philologen des eigentli- systeme als Ensembles gesellschaftlicher In-
chen philologischen, des 19. Jahrhunderts, stitute und Institutionen in ihrem komplexen
und den Literaturwissenschaftlern des 2 0. Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlich-
(Die englische Bezeichnung für deren Ge- keit.
schäft, „literary criticism“, hält den Bezug Die Herausbildung der in der Form des
zwischen literarischer Kritik und philologi- Spruches für die mündliche Tradition hervor-
schem Textumgang im Terminus selbst prä- ragend zubereiteten abstrakten Zusammen-
sent). Gerade die starke institutionelle Posi- hangsbestimmungen in der altorientalischen
tion der Philologie mit ihren universitären Weisheit; die Liste als eine für die mündliche
und schulischen Betätigungsfeldern bietet eine Tradition von Wissen zubereitete Textform
Grundlage dafür, daß diese professionalisierte für die Erfassung und Tradierung auch kom-
Leseaktivität sich aus ihrem Vermittlungszu- plexer geographischer, kosmologischer, ge-
sammenhang herauslöst und verselbständigt, nealogischer Wissensbestände; der Mythos als
und zwar nicht nur gegenüber den Endadres- narrativ organisierte mündliche Wissenswei-
saten, den eigentlichen Lesern, sondern auch tergabeform ermöglichen eine Komplexität
der Wissensgewinnung, -organisation und
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 37

-tradierung, die erheblich ist und über die Dieses reflektierende Denken wurde in einer
Unmittelbarkeit des situativ eingebundenen raschen Entwicklungsfolge zu einem Nach-
sprachlichen Handelns weit hinausgeht. Ge- denken über die arché, die „Prinzipien“, die
rade die weisheitlichen Wissensstrukturen alles beherrschenden „Anfänge“ im vorsokra-
sind in ihrer Abstraktheit eher dem wissen- tischen philosophischen Denken der Ionier
schaftlichen als dem alltäglichen Wissen zu- entfaltet. Es ist wahrscheinlich, daß hierfür
zuordnen. eine andere abstrakte Kategorie, die in die
Die sich bis in die Gegenwart fortsetzende sinnliche Erscheinung trat, das Geld, eine zu-
Ambivalenz hinsichtlich von Mündlichkeit gleich befördernde Wirkung hatte. (Zur
und Schriftlichkeit, die Wissenschaft als ge- Nachgeschichte dieses Gedankens siehe jetzt
sellschaftliche Organisationsform kennzeich- Coulmas 1992, § I.)
net, genauer die Koexistenz und wechselsei-
tige Vermittlung beider, insbesondere in der 9.2. Die Entfaltung des Potentials
didaktisch organisierten Wissensweitergabe von Schrift zur Erhaltung
mit und in ihren Institutionen und in den wissenschaftlichen Wissens
kollektiv und diskursiv organisierten Formen
der Wissensgewinnung und -distribution von Von Anfang an liegt eine zentrale Bestim-
der Forschungsgruppe bis hin zu den auf face- mung schriftlicher Kommunikation in der
to-face-Kommunikation ausgerichteten wis- Entwicklung von Erhaltungsmöglichkeiten
senschaftlichen Kongressen zeigen bis heute, beliebiger propositionaler Gehalte, gerade
welche erhebliche Bedeutung für den Wissen- auch der ephemeren (vgl. Zf. 4.2 und Ass-
schaftsprozeß auch der mündlichen Kom- mann 1994). Die Schrift bietet dafür in all
munikation zukommt. Die weitgehend auf ihren Dimensionen — von der Materialität
Mündlichkeit verpflichteten Formen antiken des Substrats bis hin zu den inneren Schrift-
Philosophierens, die Mündlichkeit des mittel- strukturen — eine Reihe von Problemlösun-
alterlichen Universitätsbetriebes (vgl. Miethke gen an, von denen zwar keine ideal ist, die in
1991), die memorierende Praxis der Wissen- ihrer Gesamtheit aber äußerste Effizienz sol-
saneignung des Talmuds in der jüdischen Tra- cher Speicherung ermöglichen. Wissenschaft-
dition demonstrieren die Kontinuität der es- liches Wissen geht über die Unmittelbarkeit
sentiellen Mündlichkeit im Wissenschaftsall- des sinnlich Zugänglichen hinaus (— selbst
tag. Die systematische Vernachlässigung die- noch im empiristisch-sensualistischen Protest
ser Faktoren in der Konzeptualisierung von dagegen, indem dieser Protest seinerseits den-
Wissenschaft ist demgegenüber vor allem der kender Protest ist und als solcher kommuni-
Schriftzentrierung geschuldet, die sich mit der ziert werden will). Die Abstraktion von der
vollen Entfaltung des Buchdrucks herausbil- Mannigfaltigkeit und Beliebigkeit der sinnli-
dete. Diese wirkte sich also nicht nur hinsicht- chen Zugänglichkeit ebenso wie die dauernde
lich der Entwicklung des Sprachkonzeptes Re-Präsentivierung des einmaligen und ver-
(Zf. 4.8), sondern auch hinsichtlich der Kon- gangenen Ereignisses wie auch die Antizipa-
zeptualisierung von Wissenschaft aus. tion des noch nicht Zugänglichen, aber wahr-
Gleichwohl hat insbesondere die mit der scheinlich Zugänglich-Werdenden bedarf der
griechischen Alphabetschrift erreichte Form Herauslösung von Wissen aus jener Unmit-
von Schrift in ihrer leichten Zugänglichkeit, telbarkeit, der auch die sprechsituativ einge-
Lehrbarkeit und Nutzbarkeit, verbunden mit bundene Handlung zugehört. Schriftliche
einer entwickelten Schriftpraxis, zur Ermögli- Kommunikation als zeitüberbrückende, als
chung nicht nur der materialisiert verobjek- diachrone Kommunikation ist in diesem Sinn
tivierten Ablösung des sprachlichen Hand- für wissenschaftliches Wissen zentral. Die
lungsproduktes aus der Situation geführt, Speicherung des bereits ins Wissen Gehobe-
sondern dazu, daß Wissen in die Form — um nen und die Möglichkeit seiner distanzieren-
es paradox zu sagen — einer abstrakten An- den und distanzierten Betrachtung und Wei-
schaulichkeit überführt wurde. Dies macht terverarbeitung gehen als notwendige Vor-
sich hinsichtlich der Sprache und ihrer Ent- aussetzung in die Erzeugung neuen Wissens
faltung zur Ausbildung und Verwendung von ein. Die Wissensspeicher, die erst in der
zahlreichen Abstraktbildungen (Logan 1986, schriftlichen Form für beliebige propositio-
104) bemerkbar. Es macht sich vor allem aber nale Gehalte voll zugänglich werden, haben
in der Ermöglichung von Reflexion bemerk- insofern einen fundierenden Stellenwert für
bar, die die Isolation des Wissens und seine das wissenschaftliche Wissen, der im Gedan-
Betrachtbarkeit immer schon voraussetzt. ken des „archive“ bei Maingueneau (1991)
begrifflich umgesetzt wird.
38 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

9.3. Archivierungen des Wissens 9.4. Schriftlichkeit und die Wissenschaften


Das losgelöste, verselbständigte Wissen in Die Rolle der Schriftlichkeit für die Wissen-
schriftlicher Form hat die Beziehung zur ge- schaften differenziert sich nach der Typologie
sellschaftlichen Praxis nur noch indirekt. Es des Wissens, die für die einzelnen Wissen-
bietet sich aufgrund seiner Herauslösung für schaften kennzeichnend ist, nach dem Ver-
die Thesaurierung an. Diese erfolgt nicht hältnis zum sprachlichen Handeln als einem
mehr in den praxisnahen Zusammenhängen, — möglicherweise zentralen — Objektbereich
die für empraktisch bezogenes Wissen cha- der jeweiligen Wissenschaft, nach den didak-
rakteristisch, ja notwendig sind. Es entstehen tischen Erfordernissen, dem Verallgemeine-
Institutionen der Speicherung von Wissen. rungsgrad des erreichten Wissensstands und
Dies sind zunächst und vor allem Bibliothe- der Auslagerung einzelner Wissensbereiche in
ken (vgl. Kittler 1985, 1986). Sie sind zugleich die Propädeutik bzw. in die Wissenschaftsdi-
die Orte, an denen die Ordnung des Wissens daktik, d. h. mit Blick auf die Mentalisie-
systematisierend hergestellt wird. rungserfordernisse für die am Wissenschafts-
Die Zwecke solcher Institute sind unter- betrieb Partizipierenden. Ausführliche Wis-
schiedlich. Bereits aus der keilschriftlichen Pe- senschaftsgeschichten, die der Rolle der
riode gab es Sammlungsbemühungen, die ex- schriftlichen Kommunikation und ihren Fol-
plizit auch der Kanonbildung dienten. Gerade gen für die Disziplinbildung und -entwicklung
in den Situationen eines brüchig gewordenen detailliert nachgingen, sind weithin ein Desi-
Wissensuniversums, das sich nicht mehr über derat.
die Selbstverständlichkeit seiner eigenen Prä-
suppositionalität reproduzierte, wurde die
Sammlung, Ordnung und Systematisierung 10. Schriftlichkeit und das
des Wissens zu einer zentralen Aufgabe. Die gesellschaftliche Gesamtwissen
Zeit des Hellenismus ist dafür exemplarisch, Die Entfaltung des wissenschaftlichen Wis-
die alexandrinische Bibliothek der geradezu sens unter den Bedingungen der Schriftlich-
paradigmatische Fall des Resultats. keit und durch sie ist freilich nur ein — wenn
Je nach dem Stellenwert, den Mündlichkeit auch ein besonders herausgehobener — Fall
und Schriftlichkeit in der Organisation des der qualitativen Veränderungen, die Schrift-
Wissenschaftsbetriebes haben und der ihre lichkeit für das gesellschaftliche Wissen be-
Verhältnisbestimmung determiniert, verschie- deutet. In seiner Monographie über „das kul-
ben sich die Orte der Archivierung. Das west- turelle Gedächtnis“ hat Assmann 1992 an
europäische Kloster etwa wird für die mittel- einer Reihe von für den vorderorientalisch-
alterliche Struktur zum Ort, an dem die Co- europäischen Zusammenhang zentralen Be-
dices und Bücher gesammelt, die Kopien er- reichen die gesellschaftlichen Veränderungen
stellt und die Inhalte in der mündlichen An- rekonstruiert, die sich durch die Schriftlich-
eignung umgesetzt und reproduziert wurden. keit ergeben. Durch die Schrift entstehen
Die neuzeitliche, durch den Druck bestimmte Möglichkeiten einer neuen Kontinuitätsbil-
Struktur der Wissensorganisation verlangte dung innerhalb von Gesellschaften — die frei-
schnell qualitativ neue Lösungen, die wie- lich zugleich in größerem Maße gefährdet ist.
derum exemplarisch (Wolfenbüttel) entwik- Die gesellschaftliche Identitätsbildung gestal-
kelt wurden und sich nach Maßgabe der öko- tet sich bei entwickelter Schrift anders als
nomischen Möglichkeiten entfalteten. Das er- ohne sie. So hat Schriftlichkeit als wesent-
forderliche Personal professionalisierte sich liches Resultat schriftlicher Kommunikation
vom „homme de lettre“, der seine Fähigkeit, Konsequenzen, die die Gruppenmitglieder,
mit dem Buch umzugehen, als hinreichende die sich ihrer bedienen können, in einer tief-
Qualifikation einbrachte, zum fachausgebil- greifenden Weise beeinflußt.
deten Bibliothekar, das Bibliothekswesen von
einer dienenden Hilfsfunktion der (auch im
ökonomischen Sinn) Schatzverwaltung hin 11. Schriftliche Kommunikation und
zu den Informations-Wissenschaften unserer ihre Weiterentwicklung
Tage, denen es schwerfällt, die Notwendigkeit
der sammelnden und bereitstellenden Tätig-
keiten in bezug auf das vorhandene und je 11.1. Die synchron-diatopisch zerdehnte
neu erzeugte wissenschaftliche Wissen gesell- Sprechsituation
schaftlich noch hinreichend zu vermitteln. Trotz und bei aller Komplexitätserzeugung,
die durch die schriftliche Kommunikation er-
möglicht und realisiert wird, bleibt ihr immer
2.  Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation 39

der subsidiäre Charakter eingeschrieben, aus ler, Alois & Huber, Jörg (ed.), Raum und Verfah-
dem heraus sie entstanden ist. Die Schrift ist ren. Basel, 133—155.
e i n e Problemlösung — nicht jedoch die ein- Assmann, Jan. 1992 . Das kulturelle Gedächtnis.
zige. Die Suche nach anderen, möglicherweise Schrift, Erinnerung und politische Identität in frü-
weniger aufwendigen Lösungen setzte sich hen Hochkulturen. München.
kontinuierlich fort. Die Einbeziehung elektri- —. 1993. Altorientalische Fluchinschriften und das
scher und elektronischer Übertragungen und Problem performativer Schriftlichkeit. Vertrag und
Speicherungen hat hier zu den substantiellsten Monument als Allegorien des Lesens. In: Gum-
Veränderungen geführt. Die Entwicklung von brecht & Pfeiffer, 233—255.
Telephon und Telegraph im vorigen Jahrhun- —. 1994. Lesende und nichtlesende Gesellschaften.
dert hat die Überwindung der diatopischen Forschung und Lehre 1/2, 28—31.
Differenz in einer Weise ermöglicht, die eine Assmann, Aleida & Assmann, Jan. 1983. Schrift
— lebensweltlich gesehen — Synchronie auch und Gedächtnis. In: Assmann et al., 265—284.
bei großen Entfernungen gestattet. Freilich
Assmann, Aleida & Assmann, Jan. 1988. Schrift,
wird durch diesen Übertragungs -shortcut Tradition und Kultur. In: Raible, Wolfgang (ed.),
beim Telephon die Möglichkeit der Speiche-
Zwischen Festtag und Alltag: 10 Beiträge zum
rung zunächst aufgegeben — und damit ein
Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Tübin-
Nebeneffekt, der für die schriftliche Kom-
gen, 25—49.
munikation immer gegeben ist. Gegenüber
der schriftlichen Kommunikation ist die te- Assmann, Aleida, Assmann, Jan & Hardmeier,
lephonische eine Restituierung von Münd- Christof (ed.). 1983. Schrift und Gedächtnis. Mün-
lichkeit unter den Bedingungen der nur noch chen.
akustischen Kopräsenz der Interaktanten. Betten, Anne. 1987. Grundzüge der Prosasyntax.
Die verschiedenen sprachlichen Dimensionen Tübingen.
(vgl. Zf. 4.) werden hiervon jeweils wieder Boge, Herbert. 1973. Griechische Tachygraphie und
anders tangiert als im Fall der schriftlichen Tironische Noten. Berlin.
Kommunikation. Es kommt — systematisch Brinkmann, Henning. 1980. Mittelalterliche Her-
gesehen — zu einem Grenzfall zwischen Text meneutik. Tübingen.
und Diskurs. Ihm wird vor allem die ephe- Bruns, Gerald L. 1992 . Hermeneutics. Ancient and
mere Kommunikation zugewiesen. Modern. New Haven/London.
(Die Telegraphie erweist sich demgegen- Camara, Sory. 1976. Gens de la parol. Essai sur la
über als wesentlich weniger revolutionär, weil condition et le rôle des griots dans la société Ma-
die Umsetzung der sekundären Kodierung in linké. Paris/La Haye.
die schriftliche Form beschränkt ist auf ein Campenhausen, Hans von. 1968. Die Entstehung
codiertechnisch-mediales Problem.) der christlichen Bibel. Tübingen.
Coulmas, Florian. 1981. Über Schrift. Frankfurt.
11.2. Die elektronische Transposition
—. 1989. The writing systems of the world. Oxford.
Von wesentlich größerer Tragweite ist dage- —. 1992 . Die Wirtschaft mit der Sprache. Eine
gen die elektronische Transposition des Tex- sprachsoziologische Studie. Frankfurt am Main.
tes. Diese liegt primär auf der Linie der Spei- Dallmeier, Martin. 1977. Quellen zur Geschichte
cherungsfunktionen schriftlicher Kommuni- des Europäischen Postwesens. Kallmünz.
kation, kommt hier aber zu prinzipiell ande-
Dornseiff, Franz. 192 2 . Das Alphabet in Mystik
ren — zunächst medialen, dann und von dort
und Magie. Leipzig/Berlin.
aus aber viele andere Bereiche der Vertextung
betreffenden — Faktoren. Die Weiterungen Ehlich, Konrad. 1980. Schriftentwicklung als ge-
dieser Entwicklung geschehen unter der Be- sellschaftliches Problemlösen. Zeitschrift für Se-
teiligung der gegenwärtigen Generation. Ob miotik 2, 335—359.
die elektronische Transposition von ähnlichen —. 1983. Text und sprachliches Handeln. Die Ent-
Folgen wie etwa die typographische sein wird, stehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Über-
wird sich zeigen müssen (vgl. Giesecke 1992 , lieferung. In: Assmann et al., 24—43.
Kittler 1993, Weingarten 1989; → Art. 9; 42). —. 1991. Funktional-pragmatische Kommunika-
tionsanalyse — Ziele und Verfahren. In: Flader,
Dieter (ed.), Verbale Interaktion. Studien zur Em-
12. Literatur pirie und Methodologie der Pragmatik. Stuttgart,
127—143.
Assmann, Aleida. 1993. Exkarnation. Gedanken
zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Mül- —. 1993. Prozedur. In: Glück, Helmut (ed.), Metz-
ler-Lexikon Sprache. Stuttgart, 491.
40 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Fohrer, Georg (ed.) 2 1989. Hebräisches und ara- —. 1830. Enzyklopädie der philosophischen Wis-
mäisches Wörterbuch zum Alten Testament. Berlin. senschaften. Ed. 1959 von: Nicolin, Friedrich &
Giesecke, Michael. 1991. Der Buchdruck in der Pöggeler, Otto. Hamburg.
frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Hillers, D. R. 1964. Treaty-Curses and the Old
Durchsetzung neuer Informations- und Kommu- Testament Prophets. Rom.
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3.  Semiotic Aspects of Writing 41

im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zeit- Schenkel, Wolfgang. 1983. Wozu die Ägypter eine
schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59, Schrift brauchten. In: Assmann et al., 45—63.
55—81. Schlieben-Lange, Brigitte. 1982 . Für eine Ge-
Maingueneau, Dominique. 1991. L’Analyse du dis- schichte von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In:
cours. Paris. Schlieben-Lange, Brigitte & Gessinger, Joachim
Mercer, A. A. B. 1915. The Malediction in Cunei- (ed.), Sprachgeschichte und Sozialgeschichte. Göt-
form Inscriptions. Journal of the Ancient Oriental tingen, 104—117.
Society 34, 282—309. —. 1983. Traditionen des Sprechens. Elemente
Miethke, Jürgen. 1991. Die mittelalterlichen Uni- einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung.
versitäten und das gesprochene Wort. Historische Stuttgart.
Zeitschrift 251/1, 1—44. Schön, Erich. 1987. Der Verlust der Sinnlichkeit
Müller, Karin. 1990. „Schreibe wie du sprichst“. oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswan-
Frankfurt am Main. del um 1800. Stuttgart.
Nerius, Dieter & Augst, Gerhard (ed.). 1987. Pro- Searle, John R. 1969. Speech Acts. An Essay in the
bleme der geschriebenen Sprache. Beiträge der Philosophy of Language. Cambridge.
Schriftlinguistik auf dem XIV. Internationalen Lin- Vachek, Josef. 1939. Zum Problem der geschrie-
guistenkongreß 1987 in Berlin. Linguistische Stu- benen Sprache. In: Travaux du Cercle Linguistique
dien. Reihe A, 173. Berlin. de Prague 8, 94—104. Wieder abgedruckt in:
Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro- Scharnhorst, Jürgen & Ising, Erika (ed.). 1976.
bert (ed.). 1991. Frühe Schrift und Techniken der Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager
Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege.
Bad Salzdetfurth. Teil 1. Berlin, 229—239.
Ong, Walter J. 1987. Oralität und Literalität. Die —. 1973. Written Language. General Problems and
Technologisierung des Wortes. Opladen. Problems of English. The Hague.
Raible, Wolfgang. 1972 . Vom Autor als Kopist zum —. 1989. Written language revisited. Amsterdam.
Leser als Autor. Literaturtheorie in der literarischen Van Peer, Willie. 1992 . The taming of the text.
Praxis. Poetica 5, 133—151. London.
—. 1983. Vom Text und seinen vielen Vätern. In: Weingarten, Rüdiger. 1989. Die Verkabelung der
Assmann et al., 20—23. Sprache. Grenzen der Technisierung von Kommu-
Redder, Angelika. 1990. Grammatiktheorie und nikation. Frankfurt.
sprachliches Handeln: „denn“ und „da“. Tübingen. Weinrich, Harald. 1993. Textgrammatik der deut-
Rehbein, Jochen. 1993. Über zusammengesetzte schen Sprache. Mannheim.
Verweiswörter und ihre Rolle in argumentierender Wonneberger, Reinhard & Hecht, Hans P. 1986.
Rede. Hamburg. Verheißung und Versprechen. Eine theologische
Scheerer, Eckart. 1993. Mündlichkeit und Schrift- und sprachanalytische Klärung. Göttingen.
lichkeit — Implikationen für die Modellierung ko- Wygotski, Lew Semjonowitsch. 1964. Denken und
gnitiver Prozesse. In: Baurmann, J., Günther, H. Sprechen (Original 1934). Berlin.
& Knoop, U. (ed.), Homo Scribens — Perspektiven
der Schriftlichkeitsforschung. Tübingen, 141—176. Konrad Ehlich, München (Deutschland)

3. Semiotic Aspects of Writing

1. Introduction prisingly little has been published which at-


2. Written signs as metasigns tempts to apply sign theory in a principled
3. Writing and representation way to the analysis of written communica-
4. Writing and linearity tion. Apart from Harris 1994, no comprehen-
5. Conclusion sive study of this type has so far appeared.
6. References The reason for this neglect is not difficult
to ascertain. It stems from the unquestioned
acceptance of a view long dominant in West-
1. Introduction ern education, which relegates writing to the
Although it is commonly taken for granted status of a merely ancillary sign system, based
that writing systems are systems of signs, sur- on speech and to be interpreted solely by
reference to speech. This view has been rein-
3.  Semiotic Aspects of Writing 41

im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zeit- Schenkel, Wolfgang. 1983. Wozu die Ägypter eine
schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59, Schrift brauchten. In: Assmann et al., 45—63.
55—81. Schlieben-Lange, Brigitte. 1982 . Für eine Ge-
Maingueneau, Dominique. 1991. L’Analyse du dis- schichte von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In:
cours. Paris. Schlieben-Lange, Brigitte & Gessinger, Joachim
Mercer, A. A. B. 1915. The Malediction in Cunei- (ed.), Sprachgeschichte und Sozialgeschichte. Göt-
form Inscriptions. Journal of the Ancient Oriental tingen, 104—117.
Society 34, 282—309. —. 1983. Traditionen des Sprechens. Elemente
Miethke, Jürgen. 1991. Die mittelalterlichen Uni- einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung.
versitäten und das gesprochene Wort. Historische Stuttgart.
Zeitschrift 251/1, 1—44. Schön, Erich. 1987. Der Verlust der Sinnlichkeit
Müller, Karin. 1990. „Schreibe wie du sprichst“. oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswan-
Frankfurt am Main. del um 1800. Stuttgart.
Nerius, Dieter & Augst, Gerhard (ed.). 1987. Pro- Searle, John R. 1969. Speech Acts. An Essay in the
bleme der geschriebenen Sprache. Beiträge der Philosophy of Language. Cambridge.
Schriftlinguistik auf dem XIV. Internationalen Lin- Vachek, Josef. 1939. Zum Problem der geschrie-
guistenkongreß 1987 in Berlin. Linguistische Stu- benen Sprache. In: Travaux du Cercle Linguistique
dien. Reihe A, 173. Berlin. de Prague 8, 94—104. Wieder abgedruckt in:
Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro- Scharnhorst, Jürgen & Ising, Erika (ed.). 1976.
bert (ed.). 1991. Frühe Schrift und Techniken der Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager
Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege.
Bad Salzdetfurth. Teil 1. Berlin, 229—239.
Ong, Walter J. 1987. Oralität und Literalität. Die —. 1973. Written Language. General Problems and
Technologisierung des Wortes. Opladen. Problems of English. The Hague.
Raible, Wolfgang. 1972 . Vom Autor als Kopist zum —. 1989. Written language revisited. Amsterdam.
Leser als Autor. Literaturtheorie in der literarischen Van Peer, Willie. 1992 . The taming of the text.
Praxis. Poetica 5, 133—151. London.
—. 1983. Vom Text und seinen vielen Vätern. In: Weingarten, Rüdiger. 1989. Die Verkabelung der
Assmann et al., 20—23. Sprache. Grenzen der Technisierung von Kommu-
Redder, Angelika. 1990. Grammatiktheorie und nikation. Frankfurt.
sprachliches Handeln: „denn“ und „da“. Tübingen. Weinrich, Harald. 1993. Textgrammatik der deut-
Rehbein, Jochen. 1993. Über zusammengesetzte schen Sprache. Mannheim.
Verweiswörter und ihre Rolle in argumentierender Wonneberger, Reinhard & Hecht, Hans P. 1986.
Rede. Hamburg. Verheißung und Versprechen. Eine theologische
Scheerer, Eckart. 1993. Mündlichkeit und Schrift- und sprachanalytische Klärung. Göttingen.
lichkeit — Implikationen für die Modellierung ko- Wygotski, Lew Semjonowitsch. 1964. Denken und
gnitiver Prozesse. In: Baurmann, J., Günther, H. Sprechen (Original 1934). Berlin.
& Knoop, U. (ed.), Homo Scribens — Perspektiven
der Schriftlichkeitsforschung. Tübingen, 141—176. Konrad Ehlich, München (Deutschland)

3. Semiotic Aspects of Writing

1. Introduction prisingly little has been published which at-


2. Written signs as metasigns tempts to apply sign theory in a principled
3. Writing and representation way to the analysis of written communica-
4. Writing and linearity tion. Apart from Harris 1994, no comprehen-
5. Conclusion sive study of this type has so far appeared.
6. References The reason for this neglect is not difficult
to ascertain. It stems from the unquestioned
acceptance of a view long dominant in West-
1. Introduction ern education, which relegates writing to the
Although it is commonly taken for granted status of a merely ancillary sign system, based
that writing systems are systems of signs, sur- on speech and to be interpreted solely by
reference to speech. This view has been rein-
42 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

forced by the theoretical perspectives adopted ducible elements of speech.” (Saussure 192 2 ,
in modern linguistics, a notoriously phono- 47)
centric discipline. Saussure’s admiration for the Greek alpha-
In view of this situation, the present article bet is obvious: he describes it as a system of
focuses upon a limited number of issues which brilliant simplicity (Saussure 192 2 ,64). The
are among those most widely raised when reason for his admiration is also clear: the
writing is discussed within what might be Greek alphabet, in his view, approximates to
called — even loosely — a semiotic frame- a one-one correspondence between letter and
work. The issues are: (i) the written sign as sound ( phonème in Saussure’s terminology;
metasign, (ii) the notion that writing ‘repre- but not a phoneme in the sense of the Prague
sents’ speech and (iii) the alleged ‘linearity’ of school and later phonological theories). In
writing. other words, this approval of the Greek al-
phabet itself has a semiotic basis, inasmuch
as the virtue of the writing system is seen as
2. Written signs as metasigns residing jointly in the unambiguity of its signs,
The first explicitly formulated semiotic view and the identification of a minimal unit of
of writing in the Western tradition is that of speech as the basis for each written sign. But
Aristotle, who describes the semiotic status of it does not appear to have occurred to Saus-
the written word in the following terms: sure that it might be possible to give any other
“Words spoken are symbols or signs of affec- semiotic analysis of Greek writing than the
tions or impressions of the soul; written words one he assumes to be obviously correct. Nor
(γραϕόμενα) are the signs (σύμβολα) of does he attempt to justify his assumption by
words spoken.” ( De Interpretatione, 16A) a systematic application of his own semiotic
This doctrine of ‘double symbolism’ (Harris principles.
1986, 2 7, 81 f) was one particularly appropri- That Saussure’s analysis falls in direct line
ate to the kind of writing with which Aristotle of descent from Aristotle’s needs no empha-
was most familiar, i. e. Greek alphabetic writ- sizing. It is perhaps less obvious that Saus-
ing. Aristotle adds cryptically that, as in the sure’s view represents only one of at least two
case of speech, writing is not the same for all possible developments of the Aristotelian po-
peoples; but he does not further distinguish sition. The key features involved, in a semiotic
between different types of writing (γράμ- perspective are: (i) the implicit or explicit re-
ματα). striction of the concept ‘writing’ to visual
When we compare Aristotle’s position on signs that are directly connected in some way
writing with that taken by Saussure in the with speech, (ii) the assumption that the writ-
early 2 0th century, little at first sight seems ten sign is by nature a metasign, i. e. a sign
to have changed. The doctrine of double sym- for another sign, and is thus situated at a
bolism is still pre-eminent. According to Saus- second-order level of semiosis, and (iii) the
sure, the sole reason for the existence of writ- notion that the relationship between the writ-
ing is to represent the spoken language (Saus- ten sign and what it signifies is one of ‘rep-
sure 192 2 , 45). However, it does so — in many resentation’. These features will be discussed
cases — only imperfectly. Saussure’s main in more detail below.
advance on the rudimentary semiotic theory Aristotle’s definition seems either to ex-
advanced by Aristotle is to distinguish be- clude or to ignore non-glottic uses of writing,
tween two major types of writing system, i. e. the possibility of using writing for pur-
namely: poses other than the recording of speech.
“1. The ideographic system, in which a This exclusion has several possible expla-
word is represented by some uniquely dis- nations. Greek musical notation was itself an
tinctive sign which has nothing to do with the adaptation of the γράμματα. There were two
sounds involved. This sign represents the systems, one for singing and another for in-
word as a whole, and hence represents indi- struments (Torr 192 9). But both used signs
rectly the idea expressed. The classic example which were variants of the Greek alphabetic
of this system is Chinese. letters, and the system for voices was based
2 . The system often called ‘phonetic’, in- on conventional alphabetic order. Since any
tended to represent the sequence of sounds Greek acquainted with musical notation
as they occur in the word. Some phonetic would almost certainly have been acquainted
writing systems are syllabic. Others are al- with the use of the alphabet to transcribe
phabetic, that is to say based upon the irre- speech, it would doubtless have seemed nat-
3.  Semiotic Aspects of Writing 43

ural to treat the musical system as derivative, It is one of the ironies of history that
rather than as an independent system. among the spurs towards the development of
The history of Greek mathematical nota- a writing system which would overcome the
tion (Thomas 1939; → art. 141) also shows imperfections of speech was an imperfect se-
the letters of the alphabet pressed into service miotic analysis of ancient systems of writing.
from an early date. Here, however, there is Francis Bacon, for instance, supposed that
evidence of the survival of Phoenician char- both Chinese characters and Egyptian hiero-
acters which did not continue in use in glottic glyphs were writing systems which bypassed
script: so any Greek aware of this discrepancy speech (Large 1985, 11 f). Already in antiquity
could hardly have supposed that the γράμ- Diodorus Siculus had proposed this interpre-
ματα had no other function than to preserve tation of Egyptian hieroglyphs (Harris 1986,
legal decrees, the poetry of Homer, etc. 80 f). The first universal language scheme to
Nevertheless, the use of the alphabet for be published, by Lodwick in 1647, was pro-
musical and mathematical purposes might posed by its author as a language-neutral
have seemed, in the context of Greek culture, ‘common writing’; but in fact it turned out
marginal exceptions not important enough to to be a kind of basic English rendered into
undermine a generalization identifying writ- an arbitrary graphic system (Large 1985,
ing as glottic script. Aristotle, in any case, 2 2 ff). John Wilkins held that, linguistic dif-
was not concerned with the theoretical impli- ferences notwithstanding, all people used the
cations attaching to distinctions of this order. same concepts (an essentially Aristotelian po-
But the same cannot be said of Saussure, sition) and estimated that it needed no more
who was keenly aware of them. As the foun- than about 8,000 written signs to record this
der of modern semiology ( sémiologie ), he conceptual inventory.
could hardly have failed to realize that what Some of the advocates of ‘real character’
is at issue here is the choice of a set of semiotic systems, including Wilkins himself, supposed
criteria for defining writing. From Saussure’s that there would be no obstacle in the way of
point of view, the defect of Aristotle’s semiotic proposing a phonetic interpretation of the
definition is that it fails to specify the mech- characters, so that the system could be spoken
anism of the metasign; and this omission as well as written. The development of any
leaves an important theoretical gap. such form of speech would in effect reverse
For instance, what Aristotle says does not Saussurean assumptions concerning the se-
exclude the following possibility. Let ∼ be miological status of writing; i. e. produce a
the written sign for negation and P the written communication system in which the written
sign to indicate that parking is permitted. form is primary and the corresponding spo-
Then ∼ P can serve as a sign to indicate that ken form is a secondary derivative. The re-
parking is not allowed. However, under this lationship would still be that of sign to me-
system there is no exact verbal translation of tasign, but the written form would be basic
∼ P; or rather, there are various possible and the spoken form a metasign.
translations. They include ‘No Parking’, Once this possibility is envisaged, it leads
‘Parking Prohibited’, ‘Défense de stationner’, naturally to questioning the restriction of the
‘Stationnement interdit’, all of these differing concept ‘writing’ to cases of glottic script,
verbally one from another, whether interlin- and, more generally, the notion of semiotic
guistically or intralinguistically. ‘priority’.
Nothing in Aristotle’s definition rules out As regards the first of these two issues, the
cases like ∼ P as written signs; but this is fact has to be recognized that from a semiotic
precisely the possibility Saussure seeks to point of view the restriction is totally unwar-
exclude from the theoretical domain of writ- ranted. That is to say, there is nothing dis-
ing, i. e. that there might be language-neutral tinctive about glottic scriptorial signs which
forms of writing. That possibility, however, sets them apart, as a class or category, from
was one which had played an important role non-glottic signs. The recording of speech by
in European intellectual history. It is the pos- means of writing does not eo ipso impose any
sibility of a Begriffschrift or, as Wilkins called particular structure upon the signs to be em-
it in the 17th century, a real character. In ployed for that purpose.
other words, it is the notion that writing The second issue is more complex. Theo-
might bypass speech altogether, expressing rists who have discussed the relative priority
ideas directly and independently. of speech and writing as forms of communi-
cation distinguish four types of criteria that
44 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

may be employed. These have been termed municative functions. Without this, the con-
‘phylogenetic priority’, ‘ontogenetic priority’, cept that writing ‘substitutes for’ speech is
‘functional priority’ and ‘structural priority’ deprived of any objective basis. Speech might
(Lyons 1972). equally well be held to substitute for writing
Phylogenetic priority is usually presented (e. g. in such cases as making a telephone call
as a generalized form of historical precedence. in preference to writing a letter).
Lyons formulates it in the following terms: Structural priority is the notion which
“Every community of men of which we have comes closest to providing a basis for a se-
any direct knowledge, or any historical miotic relationship between speech and writ-
knowledge, has, or had, a spoken language. ing. As explained by Lyons, it involves a
It is reasonable to suppose that in all cases “correspondence” between the “basic units”
written language is based upon (i. e. derived of script and the spoken language. These lat-
from) speech; though in the case of written ter units may be either phonological or gram-
languages with a long literary or scribal tra- matical, and the correspondence involved is
dition, we may have to go back a long way not necessarily one-one. Nevertheless, it is
before arriving at the point of derivation.” such that the patterns of combination into
(Lyons 1972, 62) which the letters or characters enter, “though
But here the crucial notions ‘based upon’ arbitrary and inexplicable in terms of their
and ‘derived from’ are themselves left unex- shapes”, can be “accounted for” by relating
plicated. What the ‘point of derivation’ would them to the patterns of combination of the
look like — if it were accessible to observation corresponding spoken units.
— is equally obscure. The biological meta- But there are two major difficulties which
phor (‘phylogenesis’) seems out of place in the notion of structural priority encounters.
this context, for its use already presupposes One is the occurrence of so many cases where
a conclusion which has not yet been estab- the spelling of a word patently cannot be
lished; namely, that there is a ‘biological’ type ‘accounted for’ by reference to its pronunci-
of evolutionary connexion between speech ation. The abundance of such cases is the
and writing. And that is precisely what is far main reason for the existence of manuals of
from clear. orthography. But the second difficulty is more
Ontogenetic priority is held to depend on fundamental. If the correspondence on which
the invariant order of acquisition of skills. structural priority is said to be based is valid,
Children, it is claimed, acquire a spoken lan- then it is not clear why the priority in question
guage first and a written language, if at all, cannot be reversed. According to Saussure,
only later. According to some theorists, on- this reversal is in fact a conspicuous feature
tological priority also implies genetic pro- of lay conceptions of the relationship between
gramming (Lyons 1972 , 63). Again, the no- speech and writing. In other words, pronun-
tion is obscure: i. e. it is unclear what an ciation is commonly ‘explained’ by reference
acquisitional sequence is deemed to establish to spelling rather than vice versa (Saussure
about the relationship between the skills ac- 1922, 51 ff).
quired. Presumably most children can walk Thus it emerges that none of the four pri-
before they can tie their own shoelaces (if orities discussed above affords any sound ba-
they wear shoes). But this hardly proves that sis for explicating a semiotic priority of speech
the ability to do the latter is connected in any over writing. The only theoretically plausible
way with the ability to do the former. basis for establishing such a priority between
Phylogenetic and ontogenetic priority both any two systems of signs is in terms of their
appeal, albeit in different ways, to the notion relative scope. Thus system A and system B
of chronological precedence; but this is not may be said to be of equivalent scope if both
the case with functional and structural pri- can handle exactly the same set of messages.
ority. But A may be said to take priority over B if
Functional priority is held to depend on a A can handle all the messages that B can
difference in the range of communicative handle and if additionally there are some mes-
functions. Speech is held to serve a wider sages that A can handle which B can not.
range of functions than writing. In some of Judged by this criterion, speech as such
these, but not all, writing can be used as a would appear to have no priority over writ-
substitute. This claim would be more impres- ing. On the contrary, writing takes priority,
sive if it were backed by a well established since it is is able to exploit many more di-
method for identifying and counting com- mensions of contrast in the communication
3.  Semiotic Aspects of Writing 45

process. As a result, it is possible to formulate spoken discourse, or whether it represents the


written messages (exploiting contrasts of po- discourse itself. In Saussurean terms, is what
sition, direction, size, colour, fount etc.) which is represented langue or parole ?
cannot be rendered in the more restricted There is a long tradition which explains
channel of oral-aural communication. But it alphabetic letter-shapes as being phonetically
is difficult to imagine examples of spoken iconic. On this view, what is represented is
messages which could not, in principle, be ‘the spoken sound’. But this in turn lends
rendered by a graphic system. itself to two possible interpretations, depend-
ing on whether the iconicity is deemed to be
articulatory or acoustic. It is perfectly possi-
3. Writing and representation ble to devise systems of phonetic notation
The semiotic status of writing is often de- based on either principle, i. e. systems in
scribed in terms of ‘representation’: as e. g. which the letter forms indicate positions of
when it is said that ‘writing represents speech’. the organs of speech, or systems in which
(For a detailed discussion of this topic, see they indicate properties of the sound waves
Harris 1986, Ch. 4.) in question (Potter, Kopp & Green 1947). But
Representation in general is usually treated it is important to note that the difference
as an asymmetric relation: aRb is not taken between these two cases involves a different
to entail bRa, but does not preclude it either. notion of representation. In the first case, the
It is a relation which has tended to assume a representation is visually iconic (as when, for
rather crucial importance in discussions of instance, the letter O is said to represent the
writing, inasmuch as the difference between lip position appropriate for a rounded vowel).
scriptorial and pictorial communication is of- In the second case, however, it is doubtful
ten held to depend on the fact that two dif- whether the phenomenon can properly be de-
ferent classes of things are represented in the scribed as one of iconicity at all, inasmuch as
two cases. Furthermore, the origin of writing it is unclear what properties the letter would
is often described in terms which assume a have to display in order to make it an ‘image’
gradual transition from the (pictorial) repre- of the sound. (The system proposed in Potter
sentation of ideas, objects, etc. to the (scrip- et al. 1947 is based on sound spectrograms,
torial) representation of the words designat- but this does not answer the fundamental
ing them. This notion was already current in question being raised here, since in their sys-
Graeco-Roman antiquity and has remained tem the letter-shape is derived from a prior
popular ever since. It resurfaces in a number visual image, which is itself derived from one
of 2 0th-century accounts of the origin of writ- arbitrary set of correlations used in a sophis-
ing. ticated piece of electronic equipment.)
From a semiotic point of view, the first Shorthand systems of writing such as Pit-
point to note is that when we say that ‘ a man’s are sometimes described as ‘analogi-
represents b ’ it is unclear that we have said cally iconic’, but the term is quite misleading
anything more than that a is a sign and b is from a semiotic point of view. That a straight
what it signifies. And unless it can be shown line always indicates a stop consonant, a
that there is something more to it than this, curved line a fricative, etc. merely means that
then it is merely circular to deploy the relation a given sign provides certain physiological
of representation ( R ) as providing any clari- information about the articulation in ques-
fication of how the sign signifies. On the tion. But it does not in any other sense ‘rep-
contrary, all the problems that might be raised resent’ the information it provides.
concerning signification immediately resur- When we turn from deliberately con-
face as problems about representation. structed writing systems (such as shorthand
The second point is that in any case the and phonetic notation) to traditional systems,
relation R itself is obscure unless it can be these problems loom even larger. Does the
made clear, in any given instance, what rep- form of the letter P represent the outline of
resents what. It is here that claims such as the closed lips (as earlier theorists of phonetic
‘writing represents speech’ run into serious iconicity held)? And if it is not the fo r m of
difficulties. the letter which represents anything, what else
If we take English alphabetic writing as an does? Similarly, if it is not the shape of the
example, the first issue that calls for clarifi- closed lips that is represented, what other
cation is whether the claim is that the writing candidates are there? Is it the movement of
represents an abstract set of units underlying the lips towards closure, or the closure itself,
46 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

or the labial release from the closed position? since its configurations exploit the geometry
Or is it neither the articulatory movement nor of two- and three-dimensional objects (Harris
the articulatory posture but the characteristic 1994, Ch. 18).
concomitant disturbance of air? And if so, It is important to draw a semiotic distinc-
what features of this vibratory event are rep- tion between linearity and alignment. Failure
resented, and how? Or is what is represented to draw this distinction is at the root of most
neither an articulatory nor an acoustic event, of the confusions referred to above. Align-
but just the auditory impression of these ment is a matter of the orientation of the
events that the ear registers? And again, if so, written sign relative to the surface on which
how is this impression to be characterized and it is inscribed: it has no counterpart in the
how are its characteristics represented? case of speech. Furthermore, alignment obeys
No respite from these problems is gained a logic which p r e s u p p o s e s freedom of ar-
if the theorist espouses the alternative pro- rangement in at least two dimensions. This
posal that what the various written characters logic will be sketched briefly below. It is based
represent are not features of parole but fea- on a very simple fact: that a written message
tures of langue. It might be urged, for in- require a blank space, and somewhere in this
stance, that we should construe alphabetic space the written signs have to be arranged
writing as operating on a principle analogous in such a way that they can be read.
to the phonemic principle for speech. Thus, The first principle is equally simple: given
crudely speaking, the traditional P of the a blank space and a written message that
English alphabet would represent not a pro- requires a number of written signs, a start
nunciation but, more abstractly, a certain must be made somewhere. And the location
phoneme of English. of the starting point will limit the options for
The trouble with this move is that it is continuing. The maximum number of options
doubtful whether it leaves us with anything are those available if the written message
we can reasonably call ‘representation’ at all. starts in the middle of the blank space. If the
The particular shape of the letter P is now first sign is placed in the middle, then the
irrelevant. Or rather, it is the set of visual second can be written immediately above, be-
differences between P and the other letters low, to the left, to the right, at forty-five
which are claimed to correlate somehow with degrees, etc.
the differences between a certain phonemic This assumes a written message in which
abstraction and others. And it is not at all the signs have to be read as ordered in a
clear that this even makes sense as a construal recognizable sequence. If this is not a require-
of the relation aRb. ment, then the signs can be set down at ran-
dom. But if it is, random distribution of signs
throughout the space available would require
4. Writing and linearity the form of each sign itself to indicate the
Those theorists who claim that (glottic) writ- sequence a reader is expected to reconstruct.
ing ‘represents speech’ often draw attention No known glottic writing system operates on
to what is claimed to be a basic similarity of this principle.
semiotic structure; namely, that both systems One sequencing device used in all tradi-
are ‘linear’. This is another breeding-ground tional forms of glottic writing is what may be
for endless confusion. called concatenation or the beads-on-a-string
With regard to speech, the linearity is said model (the only device which, from a semiotic
to be derived from, or rather dictated by, the point of view, can be called ‘linear’). This
limitations of the human vocal organs, these ensures than any three adjacent signs are con-
limitations being such as to impose a one- nected either in the order abc or in the order
dimensional temporal sequence on spoken cba. In itself, that does not reveal which fol-
signs (Saussure 192 2 , 103). Writing is then lows which, but it cuts down the number of
said to be similarly linear, although the visual possibilities to two, depending on which di-
mechanism of writing allows for a variety of rection along the string is followed. Direction,
‘directions’ in which this linearity may be it should be noted, is not to be confused with
expressed. alignment, but the two are semiotically con-
In a semiotic perspective, this view is at nected (see below).
best the product of a dangerously strained One of the interesting things about the
analogy, and at worst downright nonsense. history of glottic scripts is that no major script
Writing by definition is not one-dimensional, was ever developed on the basis of putting
3.  Semiotic Aspects of Writing 47

the first sign in the middle of the blank space. torial arrangement. The convention underly-
The reason for this has to do with a principle ing what is thought of as a ‘line’ of writing is
which might be summarized in the injunction: that instead of continuing the string of signs
don’t waste space. In other words, if it is by looping it round, a break is introduced
desired to make as much use of the available and a fresh start made on an adjacent parallel
writing space as possible, leaving no areas of string which begins on a level with its pre-
it empty, then either the project of construct- decessor and is scanned in the same direction.
ing a single continuous string of signs has to This convention sacrifices strict continuity of
be abandoned, or else at some point the string the string of signs in favour of allowing all
must loop back upon itself. The reason why signs to face the same way and be scanned
no major script ever developed on the basis uni-directionally: i. e. directionality takes
of using a spiral configuration also has to do precedence over the ‘string of beads’ principle.
with the logic of alignment: it involves con- This same feature is characteristic of tradi-
tinually shifting the orientation relative to the tional Chinese writing too, although there it
surface. In other words, such a system would is a vertical column, not a horizontal row. (In
be very difficult to write and no less difficult this sense, Chinese writing is less different
to read. from European writing than at first sight ap-
The semiotic notion of direction (in glottic pears.)
writing) is more complex than it sounds. The main exception to the above prece-
Whether one writes horizontally in rows, as dence in favour of uni-directionality is bou-
in this book, or vertically in columns, as in strophedon writing, which is arranged in al-
traditional Chinese writing, there are actually ternating directions in successive lines. It is
two directions to take into account. One is interesting that this did not survive as the
the direction followed by signs within the row major form of writing in any civilization we
or the column, and the other is the direction know, which would seem to imply that, for
followed by the rows or columns in sequence. reasons as yet unknown, it is easier for the
These two directions are in principle inde- hand and the eye to proceed uni-directionally,
pendent of each other. Rows may follow from if the alternative is to follow a strict sequence,
top to bottom or bottom to top independently but one which changes direction intermit-
of whether the signs themselves are going tently.
from left to right or right to left. And mutatis The logic outlined above has also had its
mutandis for columns. (‘Top’, ‘bottom’, ‘left’ impact on the composition of the book and
and ‘right’ are concepts of alignment, not the newspaper: that is to say, on the organi-
direction. Direction is the result of applying zation of a text spaced out over consecutive
a sequencing principle to the possibilities af- surfaces of the same dimensions. From the
forded by alignment.) But the combination of Western viewpoint, Chinese books are printed
these two produces a third direction, which from back to front, as are Arabic newspapers.
is the direction obtained by drawing a straight This does not depend in the least on whether
line between the first sign on the surface and the writing is horizontal or vertical, but on
the last sign. European writing starts at the the ‘third’ direction of writing: i. e. whether a
top left and finishes at the bottom right. Tra- page starts at the top right and ends at the
ditional Chinese writing starts at the top right bottom left or begins at the top left and ends
and finishes at the bottom left. No major at the bottom right. In Europe, China and
glottic writing system goes from bottom right the Middle East, the principle adopted here
to top left, or from bottom left to top right. is that the composition of the book follows
The reason usually adduced for this is that the direction of the script (which may be
any bottom-up system will have the disad- regarded as an extension of the preference for
vantage (for the writer) of forcing the hand uni-directionality).
to conceal part of what has been written pre- Once this geometrical logic of writing is
viously; whereas with top-down systems the clearly understood, it becomes obvious that
writer can always inspect ambulando what has no equation at all can be made between the
just been written. (And if ink is being used, ‘linearity’ of speech and the basic principles
there is less risk of smudging.) But these are which govern the visual disposition of written
considerations which lie outside the semiotic signs. The alleged linearity of both reduces to
system as such. the fact that at some level or levels of corre-
European writing offers a very interesting spondence between speech and glottic script
solution to the geometrical problem of scrip- a sequencing requirement is introduced and
catered for by meaning of concatenation.
48 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

5. Conclusion chester.
Harris, Roy. 1986. The origin of writing. London.
The three issues examined briefly above pro-
—. 1994. Sémiologie de l’écriture. Paris.
vide clear illustrations of the extent to which
the analysis of writing has been hampered on Saussure, Ferdinand de. 192 2 . Cours de linguis-
the one hand by subservience to certain tra- tique générale, 2 me éd. Paris. Trans. R. Harris.
ditional dogmas and on the other by the fail- London.
ure to develop explicit semiotic criteria which Large, Andrew. 1985. The artificial language move-
do not prejudge the status and function of ment. Oxford.
the written sign. As a result, it is not difficult Lyons, John. 1972 . Human language. In: Robert
for a semiotician today to endorse the obser- A. Hinde (ed.), Non-verbal communication. Cam-
vation made a quarter of a century ago by bridge.
Haas that “the study of writing is still in its Potter, R. K., Kopp, G. A. & Green, H. C. 1947.
infancy” (Haas 1976, 132). Visible Speech. New York.
Thomas, Ivor. 1939. Greek mathematics. London.
Torr, Cecil. 192 9. Greek music. In: P. C. Buck (ed.).
6. References Oxford History of Music, Introductory Volume.
Aristotle. De Interpretatione. Trans. H. P. Cooke, Oxford.
Loeb Classical Library. London.
Roy Harris, Oxford (Great Britain)
Haas, William. 1976. Writing without letters. Man-

4. Geschichte des Schreibens

1. Einführung Eine Geschichte des Schreibens würde die


2. Die Anfänge des Schreibens Geschichte der Schrift ergänzen, indem sie
3. Der alte Orient aufzeigt, wie die Schriften jeweils verwendet
4. Das alte Ägypten worden sind. So die Einordnung, die man in
5. Die griechische und römische Antike der Literatur findet. Es wäre jedoch ange-
6. Das europäische Mittelalter messener festzustellen, daß die Verwendung
7. Neuzeit und Moderne der Schrift nur ein Moment im Prozeß des
8. Literatur Schreibens ist und insofern die Geschichte der
Schriften in der des Schreibens enthalten ist.
Einer Darstellung der Geschichte des
1. Einführung Schreibens stellen sich mehr Fragen, als hier
Eine Geschichte des Schreibens expliziert Er- angedeutet werden können. Gibt es über-
fahrungen, Einsichten, Erkenntnisse und Wis- haupt eine Geschichte des Schreibens oder
sen, die in unsere Schreibpraxis eingegangen handelt es sich nicht vielmehr um mehrere
und in ihr aufgehoben sind, derer wir uns wie Geschichten? Zweifellos ist auch in Mittel-
selbstverständlich bedienen, die in Wirklich- amerika und vor allem in Ostasien schon früh
keit aber das Ergebnis einer Entwicklung von geschrieben worden. Insofern gibt es mehrere
mehr als fünftausend Jahren sind. Eine Ge- Geschichten des Schreibens. Man kann die
schichte des Schreibens projiziert also das Frage aber auch enger fassen. Trifft es zu,
Wissen, das der gegenwärtigen Schreibpraxis daß, wie auch immer im alten Mesopotamien,
zugrundeliegt, in die Zeit, in der sie sich aus- Ägypten, Griechenland, Rom, später im Mit-
gebildet hat, und trägt damit zur Erhellung telalter geschrieben wurde und heute geschrie-
eben dieser Praxis bei. ben wird, ein roter Faden nachzuweisen ist,
Es gibt mehrere ausgezeichnete Darstellun- der es erlaubt, von einer einheitlichen Ent-
gen der Geschichte der Schrift (vgl. das ge- wicklung zu sprechen? Die folgenden Ausfüh-
samte Kap. 3 des Handbuches), aber noch rungen möchten belegen, daß dies der Fall
keine zusammenhängende Darstellung einer ist, und beschränken sich darum ausschließ-
Geschichte des Schreibens. Was vorliegt, sind lich auf diesen.
Detailstudien, meist auf eine Epoche der Wie ist eine Geschichte des Schreibens von
Schreibgeschichte beschränkt. anderen sie begleitenden oder mit ihr kon-
48 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

5. Conclusion chester.
Harris, Roy. 1986. The origin of writing. London.
The three issues examined briefly above pro-
—. 1994. Sémiologie de l’écriture. Paris.
vide clear illustrations of the extent to which
the analysis of writing has been hampered on Saussure, Ferdinand de. 192 2 . Cours de linguis-
the one hand by subservience to certain tra- tique générale, 2 me éd. Paris. Trans. R. Harris.
ditional dogmas and on the other by the fail- London.
ure to develop explicit semiotic criteria which Large, Andrew. 1985. The artificial language move-
do not prejudge the status and function of ment. Oxford.
the written sign. As a result, it is not difficult Lyons, John. 1972 . Human language. In: Robert
for a semiotician today to endorse the obser- A. Hinde (ed.), Non-verbal communication. Cam-
vation made a quarter of a century ago by bridge.
Haas that “the study of writing is still in its Potter, R. K., Kopp, G. A. & Green, H. C. 1947.
infancy” (Haas 1976, 132). Visible Speech. New York.
Thomas, Ivor. 1939. Greek mathematics. London.
Torr, Cecil. 192 9. Greek music. In: P. C. Buck (ed.).
6. References Oxford History of Music, Introductory Volume.
Aristotle. De Interpretatione. Trans. H. P. Cooke, Oxford.
Loeb Classical Library. London.
Roy Harris, Oxford (Great Britain)
Haas, William. 1976. Writing without letters. Man-

4. Geschichte des Schreibens

1. Einführung Eine Geschichte des Schreibens würde die


2. Die Anfänge des Schreibens Geschichte der Schrift ergänzen, indem sie
3. Der alte Orient aufzeigt, wie die Schriften jeweils verwendet
4. Das alte Ägypten worden sind. So die Einordnung, die man in
5. Die griechische und römische Antike der Literatur findet. Es wäre jedoch ange-
6. Das europäische Mittelalter messener festzustellen, daß die Verwendung
7. Neuzeit und Moderne der Schrift nur ein Moment im Prozeß des
8. Literatur Schreibens ist und insofern die Geschichte der
Schriften in der des Schreibens enthalten ist.
Einer Darstellung der Geschichte des
1. Einführung Schreibens stellen sich mehr Fragen, als hier
Eine Geschichte des Schreibens expliziert Er- angedeutet werden können. Gibt es über-
fahrungen, Einsichten, Erkenntnisse und Wis- haupt eine Geschichte des Schreibens oder
sen, die in unsere Schreibpraxis eingegangen handelt es sich nicht vielmehr um mehrere
und in ihr aufgehoben sind, derer wir uns wie Geschichten? Zweifellos ist auch in Mittel-
selbstverständlich bedienen, die in Wirklich- amerika und vor allem in Ostasien schon früh
keit aber das Ergebnis einer Entwicklung von geschrieben worden. Insofern gibt es mehrere
mehr als fünftausend Jahren sind. Eine Ge- Geschichten des Schreibens. Man kann die
schichte des Schreibens projiziert also das Frage aber auch enger fassen. Trifft es zu,
Wissen, das der gegenwärtigen Schreibpraxis daß, wie auch immer im alten Mesopotamien,
zugrundeliegt, in die Zeit, in der sie sich aus- Ägypten, Griechenland, Rom, später im Mit-
gebildet hat, und trägt damit zur Erhellung telalter geschrieben wurde und heute geschrie-
eben dieser Praxis bei. ben wird, ein roter Faden nachzuweisen ist,
Es gibt mehrere ausgezeichnete Darstellun- der es erlaubt, von einer einheitlichen Ent-
gen der Geschichte der Schrift (vgl. das ge- wicklung zu sprechen? Die folgenden Ausfüh-
samte Kap. 3 des Handbuches), aber noch rungen möchten belegen, daß dies der Fall
keine zusammenhängende Darstellung einer ist, und beschränken sich darum ausschließ-
Geschichte des Schreibens. Was vorliegt, sind lich auf diesen.
Detailstudien, meist auf eine Epoche der Wie ist eine Geschichte des Schreibens von
Schreibgeschichte beschränkt. anderen sie begleitenden oder mit ihr kon-
4.  Geschichte des Schreibens 49

kurrierenden Geschichten abzugrenzen? ter brachte den Text ins Reine (der Schreiber
Kann man von Schreiben sprechen, wenn im eigentlichen Sinne des Wortes), ein vierter
Schriftzeichen für Zahlen verwendet und zur korrigierte, ein fünfter edierte usw. Die Or-
Grundlage von mathematischen Operationen ganisation der Schreibarbeit — also ebenfalls
werden? Ist Drucken eine andere Art des ein Aspekt in einer Geschichte des Schreibens.
Schreibens, ein Moment im Prozeß des Schließlich gehören zu einer Geschichte des
Schreibens oder etwas ganz anderes? Haben Schreibens auch die Veränderungen der psy-
die ägyptischen und römischen Steinmetze ge- chischen Prozesse: der Rückgriff auf das vi-
schrieben, wenn sie nach Vorzeichnungen suelle Gedächtnis, die planmäßige Entwick-
Buchstaben für Buchstaben in den Stein lung eines Textes und eine rational-argumen-
schlugen? Wie ist überhaupt die Rolle des tative Weise, ihn zu konzipieren.
Schreibens bei der Produktion von Texten, Die folgenden Ausführungen stellen den
insbesondere von Kodices und Büchern, zu Versuch dar, erste Antworten zu geben und
bestimmen? Gehört die Bearbeitung der die Konturen einer noch zu schreibenden
Schreibmaterialien und der Schreibwerkzeuge Darstellung der Geschichte des Schreibens
dazu? Wie steht es mit dem Buchschmuck, vorzuzeichnen.
dem Einband, dem Binden überhaupt? Wann
ist die Handlung des Schreibens abgeschlos-
sen? Mit dem letzten Pinselstrich? Mit der 2. Die Anfänge des Schreibens
Veröffentlichung des Textes? Nachdem sich spätestens vor 40 000 Jahren
Welche Aspekte des Schreibprozesses soll- bei allen Hominiden eine voll artikulierte
ten in einer Darstellung der Geschichte des Lautsprache endgültig durchgesetzt hatte,
Schreibens Beachtung finden? Bisher hat man sind vor etwa 35 000 Jahren die ersten Ver-
sich allzu sehr auf die technischen Aspekte suche unternommen worden, Gegenstände in
des Schreibens beschränkt: das Schreibmate- bildhaften oder räumlichen Artefakten dar-
rial, die Schreibwerkzeuge, die Bearbeitung zustellen (White 1989). An die Seite sprach-
des Schreibmaterials usw. Zu den Schreib- lichen Denkens trat eine Art visuellen Den-
techniken kommen aber die Schreibkonven- kens, zur sprachlichen Kommunikation eine
tionen: eine geeignete Schrift, die Aufteilung Kommunikation mithilfe von Bildern.
der Schreibfläche in Kästen, Kolumnen oder Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß beide
Zeilen; die Richtung, in der geschrieben wird; Systeme auf die Dauer nicht Einfluß aufein-
die Markierung von Wort- und Satzgrenzen ander genommen haben. Wann aber Men-
sowie von Absätzen. Mindestens so bedeut- schen entdeckten, daß visuelle Bedeutungen
sam wie die Schreibtechniken und Schreib- auch sprachlich und sprachliche Bedeutungen
konventionen sind die pragmatischen Aspekte visuell repräsentiert werden können, entzieht
des Schreibens: Wer hat geschrieben? Zu wel- sich unserer Kenntnis. Wir können lediglich
chem Zweck? Mit welchen Inhalten? Die feststellen, daß Teilsysteme ihrer Sprachen be-
Zwecke des Schreibens müssen von denen des reits eine visuelle Repräsentation erfahren
Geschriebenen unterschieden werden. Allge-
mein werden zwei Zwecke des Schreibens an- hatten, als die Ägypter um 3000 und die Su-
geführt: die Produktion und die Reproduk- merer gar um 3300 v. Chr. zu schreiben anfin-
tion von Texten. Damit sind die Funktionen gen. Zahlen wurden durch Kerbe, Striche
des Schreibens aber nur unvollständig erfaßt. oder Eindrücke (in Ton) zu Ziffern, bildhafte
Schreiben ist ein komplexer Prozeß. Er be- Darstellungen von konkreten Gegenständen
steht aus mehreren Teilaktivitäten. Deren zu Symbolen. Möglicherweise ist die Idee zu
Ausführung ist in der Geschichte des Schrei- schreiben mit dem Zählen entwickelt worden
bens unterschiedlich organisiert worden. Zu (→ Art. 16; 141).
allen Zeiten kam es vor, daß ein und dieselbe
Person alle Aktivitäten selber verrichtete. Es 3. Der alte Orient
hat aber auch Zeiten gegeben, in denen dies
eine Ausnahme war. Nicht eine, sondern meh- Es gibt heute niemanden, der noch die Schrift
rere Personen waren an der Schreibarbeit be- des alten Orients, die Schrift der Sumerer und
teiligt. Einer konzipierte, komponierte und Akkader (Babylonier und Assyrer), schreibt.
diktierte den Text (der Autor oder, wie man Das letzte Dokument in Keilschrift stammt
ihn tatsächlich genannt hat, der „Diktator“), aus der Zeit um 75 n. Chr. Doch die Praxis,
ein anderer notierte das Diktierte und fertigte in der diese Schrift Verwendung fand, hat sich
eine Schreibvorlage an (der Sekretär), ein drit- weitgehend erhalten. So haben die Völker des
50 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

alten Zweistromlandes, allen voran die Su- verändert. Mit einem spitzen Griffel lassen
merer, den Grund für eine Schreibpraxis ge- sich ohne weiteres gebogene oder gekrümmte
legt, die sich bis auf den heutigen Tag bewährt Linien ziehen, mit einem die Form eines drei-
hat. Vieles, was uns heute beim Schreiben so seitigen Prismas annehmenden Griffel ist dies
vertraut ist, daß wir es für selbstverständlich jedoch kaum mehr möglich. So mußte denn
halten, mußte damals erst einmal gefunden ein Kreis in eine Reihe gerader Linien, eine
werden und sich bewähren (→ Art. 18, 35). gebogene Linie in eine Folge kurzer Striche
aufgelöst werden. Die Folge war, daß die Zahl
3.1. Die Produktion der Schriftzeichen der Elemente, aus denen sich ein Schriftzei-
chen zusammensetzte, reduziert, die Ausfüh-
Die Geschichte des Schreibens beginnt in Me- rung der Schriftzeichen vereinfacht und die
sopotamien im Neolithikum (ab etwa 9000 Richtungen, in denen der Griffel geführt
v. Chr.). Am Anfang finden sich aus Ton ge- wurde, standardisiert werden konnten.
formte Zählsteine, sogenannte tokens, die für
gezählte Gegenstände stehen (→ Art. 16). 3.2. Die Organisation der Schreibfläche
Diese wurden dann, damit an ihrer Zahl keine
Veränderungen vorgenommen werden konn- Die Sumerer haben als erste die Möglichkeit
ten, in hohlen, etwa tennisballgroßen Ton- erforscht, die eine Schreibfläche zur Auf-
kugeln, sogenannten „Bullen“, verschlossen. nahme von Eintragungen bietet. „As long as
Diese hatten jedoch den Nachteil, daß sie a tablet records a brief memo containing only
zerbrochen werden mußten, um ihren Inhalt a few signs, their arrangement on the tablet
in Augenschein nehmen zu können. So verfiel seems to be of little importance. But greater
man auf die Idee, auf der Außenseite der detail or quantity of information needs some
Tonkugel einen Abdruck der Zählsteine zu coherent method of organisation“ (Green
nehmen. An die Stelle eines Abdruckes 1981, 349). Nacheinander sind drei Lösungen
konnte man auch das stumpfe Ende eines durchgespielt worden, deren letzte schließlich
Griffels so oft eindrücken, wie die Kugel an Bestand bis auf unsere Tage hat.
Zählsteinen enthielt. Man hatte so ein Ver- (1) Am Anfang steht ein Verfahren (Green
fahren, das geeignet war, Zahlen aufzuschrei- 1981), das man als sign clustering gekenn-
ben. Da die Zählsteine oft für verschiedene zeichnet hat. Kleinere ungeordnete Mengen
Arten von Gegenständen (etwa Kühe und von Schriftzeichen ( cluster ) wurden frei auf
Schafe) standen und sich darum auch in ihrer der Schreibfläche verteilt. Auf diese Weise
Form unterschieden, legte es sich nahe, neben ließen sich Teile von Texten voneinander tren-
den Mengenangaben Abbildungen in Form nen. Da aber kaum mehr als drei Cluster auf
von Zeichnungen der Gegenstände anzubrin- einem Täfelchen Platz fanden, war das Ver-
gen, die gezählt worden waren. So entstanden fahren recht unökonomisch.
Piktogramme. (2 ) Die Clusterbildung wurde schon recht
In der Tat weisen die ältesten Schriftstücke bald durch dividing-line patterns (Green 1981)
der Sumerer (ca. 3300 v. Chr.) die Anwendung abgelöst. Das heißt, die Schreibfläche wurde
beider Schreibtechniken auf: Zeichen für Zah- durch in den Ton gezogene Striche systema-
len wurden in den Ton eingedrückt, Zeichen tisch aufgeteilt. Waren nur zwei Einträge vor-
für Gegenstände mit einem spitzen Griffel gesehen, so genügte es, die Schreibfläche
eingeritzt. „Von diesem Versuch, die Bilder durch einen vertikalen oder einen horizontal
(...) mit einer Nadel in den weichen Ton zu geführten Strich in zwei Teile aufzuteilen.
ritzen, mußte man aber bald Abstand neh- Texte mit mehrfachen Einträgen konnten zu
men, da es nicht möglich ist, dabei scharfe einer Aufteilung in Kolumnen führen, die zu-
und befriedigende Zeichnungen zu erhalten. nächst horizontal, später vertikal angelegt
Denn der Ton wird beim Ritzen aufgerissen“ wurden. Die Kolumnen selbst ließen sich wie-
(Messerschmidt 1906, 194). So ist man dazu derum in „Fächer“ (Kästchen) zerlegen, unse-
übergegangen, die Technik, die sich bei der ren Abschnitten vergleichbar. „We would in-
Schreibung der Zahlen bewährt hatte, auch terpret the invention of columns and cases as
für die Schreibung von Wörtern zu verwen- an attempt to devise a system of text orga-
den. Von nun wurden alle Schriftzeichen mit nization which could encompass more, detai-
einem an der Spitze dreikantig zugeschnitte- led information within a single tablet record.
nen Schreibrohr in den Ton gedrückt. Mere spatial separation was found to be in-
Die neue Weise, in den Ton zu schreiben, sufficient, but the addition of linear separa-
hat die Produktion der Schriftzeichen radikal tors became a satisfactory solution“ (Green
1981, 351).
4.  Geschichte des Schreibens 51

Wenn die auf einer Tafel zur Verfügung Schreibung der Sumerer, wenn man einmal
stehende Fläche nicht ausreichte (die größte davon absieht, daß die Buchstaben sozusagen
aufgefundene Tafel hat einen Umfang von auf dem Bauch liegen. Die Sumerer haben die
36 × 33 cm), so ließ sich auch die Rückseite Tontafeln im Gegenuhrzeigersinn um 90° ge-
beschriften: „dabei wird jedoch nicht, wie bei dreht, dabei aber die Schriftzeichen in ihrer
unseren Büchern, der linke Rand als Achse ursprünglichen Lage belassen: „Alle Men-
genommen, sondern vielmehr die untere schen lagen mit einemmal auf dem Rücken
Kante. Der Vorteil dieser Methode besteht (...), die Formen der Vögel und übrigen Tiere
darin, daß man im Notfall außer der unteren waren kaum mehr zu erkennen“ (Chiera ohne
und oberen Kante auch den linken frei ge- Jahr, 53 f). Auf diese Weise konnten die alten
bliebenen Rand als Schriftträger verwenden Texte sowohl nach der neuen wie nach der
konnte, während der rechte Rand die Enden alten Manier gelesen werden. „Steinerne Ste-
längerer Zeilen aufzunehmen vermochte“ len, Weihgaben in Stein oder Metall und Sie-
(Kienast 1969, 46). Wenn schließlich Vorder- gel, deren Ober- und Unterkanten zweifelsfrei
und Rückseite einer Tafel nicht ausreichten, festliegen (...), zeigen bis zur Mitte des 2 .
konnte man weitere Tafeln hinzuziehen, so Jahrtausends v. Chr. die archaische Leserich-
daß ganze Serien von Tafeln entstanden. Eine tung“ (Wilke 1991, 2 72 ). Die Forschung ist
der längsten besteht aus insgesamt 42 Tafeln. sich „über den genauen chronologischen An-
(3) Das Prinzip der Einheit des Raumes satz jenes Prozesses wie auch über die
wurde von der Mitte des 3. Jahrtausends an Gründe, die hierzu führten, nach wie vor nicht
durch das Prinzip der „strikten Einhaltung vollkommen im klaren, auch nicht darüber,
der Sprech- bzw. Lesereihenfolge“ (Nissen, wann der Vorgang abgeschlossen war“ (Nis-
Damerow & Englund 1991, 163) abgelöst. sen et al. 1991, 162 ). Es werden verschiedene
War bis dahin die Reihenfolge der Schriftzei- Gründe angegeben: größere Tontafeln; die
chen innerhalb der Fächer oder Kolumnen Gefahr, daß bei linksläufiger Beschriftung der
nicht unbedingt festgelegt, so kann man seit Tafeln die Schriftzeichen mit der Hand ver-
der Mitte des 3. Jahrtausends beobachten, wie wischt werden können; eine bequemere Hand-
sie in die Reihenfolge gebracht werden, in der habung der Schrift u. a. m. Wie dem auch sei:
sie auch gesprochen, d. h. gelesen oder vor- die neue Schreibrichtung war erfolgreich und
gelesen werden können. Das Ergebnis dieser hat sich bis heute behaupten können.
Entwicklung ist die Strukturierung der
Schreibfläche in Schriftzeilen. Es fällt schwer, 3.3. Die Entwicklung der Schreibprodukte
eine solche Linearisierung der Schriftzeichen
nicht in einen Zusammenhang mit zeitglei- Es bedurfte mehrerer Jahrhunderte, um zu
chen Versuchen zu bringen, die geschriebene dem zu gelangen, was wir heute als „Texte“
der gesprochenen Sprache anzunähern. oder zumindest als „schriftliche Äußerungen“
Auf eine Erscheinung ist noch aufmerksam bezeichnen würden. Den Weg dazu haben
zu machen, von der nicht klar ist, ob sie mit wiederum als erste die Sumerer beschritten.
den bereits angeführten in Verbindung steht. „Mit den ältesten Elementen aus der
„Für die ältesten Texte mit ihren noch stark Gruppe der vorschriftlichen Verwaltungshil-
bildhaften Zeichen wird man davon ausge- fen, den Tonobjekten und den Siegeln, waren
hen, daß sie so gelesen wurden, daß die Bilder Möglichkeiten geschaffen worden, besonders
in ihrer natürlichen Lage zu erkennen waren. prägnante Einzelheiten wirtschaftlicher Vor-
Das bedeutet, daß die Spalten waagerecht gänge, Mengen bzw. die Identität der betei-
lagen und die darin abgeteilten Fächer von ligten Personen festzuhalten und für nach-
rechts nach links beschrieben wurden. Inner- trägliche Kontrollen aufzubewahren“ (Nissen
halb der Fächer wurden die Zeichen von oben et al. 1991, 158). Mit der Entwicklung der
nach unten angeordnet. Demgegenüber kann Schrift „konnten (...) alle Informationen fest-
man zeigen, daß in späterer Zeit so geschrie- gehalten werden, die man als nötig ansah:
ben wurde, daß die Zeichen im Verlauf ihrer Nicht nur Mengen und Informationen über
Entwicklung aus der am Sehbild orientierten die beteiligten Personen, sondern auch An-
Position um 90° nach links gedreht worden gaben zur Warenart, Zeit, Ort und Kategorie
sind“ (Nissen et al. 1991, 162 ). Man kann sich des Vorgangs“ (ebd.). In dem Maße, wie die
die Veränderung am besten vor Augen führen, Transaktionen umfangreicher und kompli-
wenn man ein beschriebenes Blatt Papier zur zierter, die administrativen Kontrollen dichter
Hand nimmt. Dreht man es um 90° im Uhr- wurden, nahm die Anzahl und die Art der
zeigersinn, dann hat man in etwa die alte Einträge auf den Tafeln zu: „Texts became
more specific about all aspects of the tran-
52 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

saction — who, what, how much, where and Die Texte wurden nicht nur expliziter, son-
why“ (Green 1981, 362 ). Dennoch blieb die dern mit der Explizitheit zugleich auch
Struktur, die Art der Texte und ihre Funktion sprachabhängiger. Die Zahl der lautlichen
über viele Jahrhunderte weitgehend gleich. Abstraktionen (die sog. phonetischen Schrei-
Diese archaischen Texte zeichnen sich bungen) nahm zu. Geschriebene und gespro-
durch einen hohen Grad von Implizitheit aus: chene Sprache waren nicht mehr durch die
„Alles, was in irgendeiner Weise bei dem Le- Menschen, die sie verwendeten, aufeinander
ser bzw. Kontrolleur als bekannt vorausge- bezogen, sondern nun auch durch ihre Form.
setzt werden konnte, wurde nicht notiert“ Schließlich wurde auch die genrespezifische
(Nissen et al. 1991, 56). Ein Bezug auf die Organisation der Tafeln aufgegeben zugun-
gesprochene Sprache oder gar die Übertra- sten einer einheitlichen Aufteilung der
gung gesprochener Äußerungen in das schrift- Schreibfläche in Kolumne und Zeilen (s. o.).
liche Medium lag nicht vor. Alle Texte ori- Die Linearisierung der Schriftzeichen folgt
entierten sich ausschließlich an räumlich-vi- einem Prinzip der gesprochenen Sprache. Nur
suellen Gegebenheiten. Nicht auf die For- in dieser Form konnten schriftliche Aufzeich-
mulierung kam es an, sondern auf die Plazie- nungen laut gelesen oder vorgelesen werden.
rung der Schriftzeichen auf der Schreibfläche. Man hat angenommen, daß es die Königs-
Und diese war genrespezifisch organisiert. Li- listen waren, an denen die Entwicklung an-
sten, etwa 10% der ältesten Texte, zeichneten setzte: „Die sumerischen Königsinschriften
sich dadurch aus, daß jede Eintragung mit haben dem altsumerischen Schreiber zum er-
einem Zeichen für „1“ versehen wurde (unse- sten Mal geregelt die Möglichkeit geboten,
rem Gedankenstrich vergleichbar), Verwal- ganze Sätze niederzuschreiben und aneinan-
tungstexte, 90% der Texte, waren nach fol- derzureihen“ (Kraus 1973, 36). Neben den
gendem Schema aufgebaut: Anzahl der Ob- Königsinschriften kommen aber auch noch
jekte einer Transaktion, ihre Art, Namen der die Briefe in Betracht, in denen die Könige
an der Transaktion beteiligten Personen, nä- untereinander verkehrten oder Anweisungen
here Bestimmungen der Personen, z. B. durch an ihre Beamte gaben. Königsinschriften und
Beruf, Herkunftsort oder andere Personen Briefe finden sich vereinzelt schon unter den
(Ulshöfer 1991, 153). So war das Layout ein ältesten Texten. In beiden Gattungen steht die
wichtiger Bedeutungsträger. Mitteilung im Vordergrund, so daß die An-
Diese Eigenschaften der ältesten Texte fin- nahme, daß die Bildung neuer Textformen bei
det ihre Erklärung in der Funktion der Texte. ihnen ihren Anfang nahm, recht plausibel ist.
Listen dienten der Organisation von Wissen. Nachdem die Begrenzung der Textbildung
Sie spielten in der Ausbildung der Schreiber auf Verwaltungstexte und Objektlisten auf-
eine Rolle. Verwaltungstexte waren nicht Mit- gehoben war, konnten neue Bereiche (Gesetz-
teilungen, sondern Gedächtnishilfen, „Mittel gebung, Handel, Religion, Wissenschaften,
zum Erinnern“ (Plato), und in dieser Funk- der diplomatische Verkehr u. a. m.) der Schrift
tion auch Instrumente der administrativen erschlossen und eine Fülle neuer Textsorten
Kontrolle. Was sich im Verlauf des 3. Jahr- gebildet werden. Für die Texte der altbaby-
tausends änderte und zu dem führte, was wir lonischen Zeit (2 000—1600 v. Chr.) gibt
als Texte bezeichnen können, war die Ent- Kraus (1973, 16 f) das folgende Bild: „Das
wicklung einer neuen Funktion des Schrei- Gebrauchsschrifttum (...) besteht fort, ver-
bens. mehrt um gleichartige akkadische Urkunden.
Neben die memorative Funktion, die ein Die nur noch sporadisch vorkommenden su-
Teil der Texte nach wie vor hatte, trat die merischen ‘letter-orders’ werden von der gro-
kommunikative Funktion von Texten. Schrei- ßen und artreichen akkadischen Briefliteratur
ben war nun dem Reden und Sprechen ver- abgelöst. Auf dem Gebiet der Inschriften sind
gleichbar. die vielen, jetzt oft ausführlichen Königsin-
Implizite Bedeutungen mußten expliziert schriften sumerisch, zweisprachig oder akka-
werden: „information which belonged to the disch abgefaßt. Neben sie treten sumerische
sphere of the scribe’s personal familarity with und akkadische Sammlungen sogenannter
language and writing system, information Gesetze und akkadische Edikte des Königs
which was used by him to supplement the (...). Geradezu verblüffend wirkt die Fülle
featural information of grapheme and text, und Vielfalt der sumerischen literarischen
became systematically incorporated into the Texte“. Mit der Aufzeichnung der aus der
writing system itself“ (Green 1981, 360). mündlichen Tradition stammenden literari-
schen Texte gewinnt Schreiben im alten Orient
4.  Geschichte des Schreibens 53

eine weitere, eine dritte Funktion. Schreiben vom ‘Malen’ “ (Weber 1969, 66 f) und konnte
wird zu einem Mittel, mündliche Äußerungen so mit demselben Wort wiedergegeben wer-
in eine schriftliche Form zu bringen — „a den. Man schrieb und malte auf denselben
tool for transferring speech to a more per- Materialien mit denselben Werkzeugen, und
manent storage medium“ (Green 1981, 366). auch die Schriftzeichen waren anfangs noch
Es sind hauptsächlich drei Errungenschaf- regelrechte Zeichnungen. So dürfte das
ten, die wir dem alten Vorderen Orient ver- Schreiben im alten Ägypten eher in einer iko-
danken: (1) eine Standardisierung der Schrift- nographischen denn in einer epigraphischen
zeichen; (2 ) eine Standardisierung in der Or- Tradition gestanden haben.
ganisation der Schreibseite und (3) eine erste
Differenzierung der Funktionen des Schrei- 4.2. Die Schreibprodukte (Texte)
bens.
Wieder brauchte man ein halbes Jahrtausend
zur Ausbildung zusammenhängender schrift-
4. Das alte Ägypten licher Äußerungen. Die Zäsur fällt in die Zeit
der dritten Dynastie (2 635—2 570 v. Chr.) und
Bei den alten Ägyptern war so ziemlich alles könnte durchaus in einem Zusammenhang
anders als bei den Sumerern und Babyloniern: mit den Reformen des Imhotep (um 2 62 0
eine andere Schrift, andere Schriftträger, an- v. Chr.) stehen, die sowohl der Architektur als
dere Schreibtechniken und Schreibkonventio- auch dem Verwaltungswesen galten (Baines
nen. Sie entwickelten andere Textformen. 1983). Vorher hat man kaum mehr als Na-
Und vor allem: die Voraussetzungen waren men, Listen und dergleichen aufgezeichnet:
andere. Anders als in Mesopotamien „ent- „Äußerungen, Überschriften vergleichbar,
wickelt sich die Schrift in Ägypten nicht im keine Texte“ (ebd., 576). Bis zum Ende des
Rahmen der Wirtschaft, sondern der politi- alten Reiches (2 135 v. Chr.) dominierten kür-
schen Organisation und Repräsentation“ zere Texte: Dekrete, Kontrakte, Briefe usw.
(Assmann 1992 , 169). Dennoch sind die Er- Dann aber entwickelte sich ein breites Spek-
gebnisse, zu denen die Entwicklung in Ägyp- trum an Texten, auch umfangreicheren: reli-
ten kam, nicht weit von dem entfernt, was im giöse, historische, juristische, wissenschaft-
Vorderen Orient erreicht wurde. Man kann liche und schließlich literarische.
also sagen, daß in unserem Kulturkreis das Texte dienten im alten Ägypten zwei Zwek-
Schreiben gleich zweimal entwickelt und aus- ken: der Administration und der Repräsen-
gebildet worden ist, einmal im Vorderen Ori- tation (Baines) bzw. der Gebrauchs- und der
ent und ziemlich gleichzeitig in Ägypten (→ Gedächtniskultur (Assmann). Die Zwecke
Art. 19; 34). finden in den Schreibprodukten ihren Aus-
druck: auf der einen Seite die in Stein gemei-
4.1. Die Herkunft ßelten Inschriften, die wir noch heute auf
Grab- und Tempelwänden sowie in den Mu-
Die Ägypter fingen um 3000 v. Chr., also 2 00 seen der Welt bewundern können, auf der
oder 300 Jahre nach den Sumerern, an zu anderen Seite die vielen auf Papyrus geschrie-
schreiben. Man sollte darum annehmen, daß benen Gebrauchstexte, die sich am ehesten
sie die neue Kunst von ihren Nachbarn über- mit denen des Vorderen Orients vergleichen
nommen haben. Doch genau dies scheint lassen. Assmann unterscheidet „Inschriftlich-
nicht der Fall gewesen zu sein. Was sie über- keit“ und „Handschriftlichkeit“ (Assmann
nommen haben könnten, ist allenfalls die Idee 1991).
des Schreibens. Doch auch das ist nicht ge-
wiß. 4.3. Die Inschriften
Man gebrauchte in Ägypten ein und das-
selbe Wort zur Bezeichnung sowohl des Man kann im Zweifel sein, ob das Einmeißeln
Schreibens als auch des Malens. „Sehr wahr- von Schriftzeichen in den Stein als Schreiben
scheinlich dürfte dabei die Bedeutung des gelten kann. Technisch ist der Unterschied
‘Malens’ die ältere von beiden sein. Unter den zwischen dem Einritzen, einer der ältesten
Zeugnissen aus der schriftlosen vordynasti- Weisen zu schreiben, und dem Einmeißeln
schen Zeit finden sich nämlich bereits viele nicht groß. Ausschlaggebend dürfte aber die
bemalte Gegenstände, so daß angenommen Bestimmung der Funktion sein. Assmann
werden darf, daß es in dieser Zeit nur den (1991, 143 f) bestimmt die Herstellung einer
Vorgang des ‘Malens’ bezeichnete. Das später Inschrift als „einen performativen Schreib-
aufkommende ‘Schreiben’ unterschied sich in akt“: „Im Modus der hieroglyphischen In-
der technischen Ausführung nur unwesentlich schriftlichkeit verläßt die Sprache die ihr ei-
54 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gentümliche situative Eingebundenheit in den führenden Arbeiten saß man auf dem Boden
Zeit-Ort der Kommunikation (ihren ‘Sitz im im Schneidersitz, einen Schurz straff zwischen
Leben’) und geht über in die vollkommen die Knie gespannt, so daß darauf, gleichsam
andere situative Eingebundenheit des monu- wie auf einem Schreibtisch, der offene Ab-
mentalen Bildes. (...) Die Inschrift (...) gibt schnitt der Papyrusrolle gelegt und beschrie-
kein Sprechen wieder, sondern spricht selbst ben werden konnte. Tische wurden nicht be-
im Medium monumentaler Sichtbarkeit und nutzt.
Präsenz“. Anfangs folgten die Schriftzeichen von
Der andere Zweck kommt in einer Reihe oben nach unten: in Kolumnen. Um 2 000
von epigraphischen Besonderheiten zum Aus- v. Chr. entdeckte man, wie im Zweistromland,
druck. Den Inschriften war eine besondere die Vorteile der Zeilenschreibung. Solange
Schriftform vorbehalten: die Hieroglyphen- man in Kolumnen schrieb, „war die Auftei-
schrift. „Das Spezifikum der Hieroglyphen- lung der Rolle unproblematisch: Man schrieb
schrift ist ihre Bildhaftigkeit“. Sie ist „ein Teil einfach von rechts nach links Kolumne hinter
der Kunst, war Sache derselben Handwerker“ Kolumne. Sobald jedoch Zeilen vorkamen,
(Assmann 1991, 142 ). Auch galten hier andere hatte man die Wahl, wie lang man sie machen
Schreibkonventionen. Während die Schreib- wollte; theoretisch hätten sie so lang sein kön-
richtung in allen anderen Schriftstücken auf nen wie die ganze Papyrusrolle. Zum Schrei-
eine Richtung festgelegt war (s. unten), waren ben und Lesen wäre dies jedoch ein sehr un-
die Schreiber der Inschriften freier in ihrer praktisches Verfahren gewesen, da man ja
Handhabung: sie konnten von rechts nach dann den Papyrus für jede Zeile vollständig
links, von links nach rechts, aber auch von hätte aufrollen müssen. Deshalb teilten die
oben nach unten schreiben. Später zeichneten Schreiber die Papyrusrollen in einzelne ‘Sei-
sich Inschriften auch durch eine andere ten’ auf, die gerade so breit waren, daß man
Sprachform aus. „Bis zum Aussterben der sie bequem handhaben konnte” (Schlott 1989,
Hieroglyphenschrift“ (das letzte Zeugnis 68). Eine Aufteilung der Rolle war überflüs-
stammt aus dem Jahre 394 n. Chr.) behielt sig, wenn man die Zeilen quer zur Längsseite
man „die Sprachstufe des Ägyptischen bei, anlegte, und so die gesamte Schreibfläche
die im Mittleren Reich in Gebrauch war. Das Zeile für Zeile beschriftet werden konnte —
heißt, man schrieb Mittelägyptisch“ (Schlott ein Verfahren, das man bei der Anfertigung
1989, 207). von kurzen Schriftstücken, etwa bei Briefen,
bevorzugte.
4.4. Die Handschriften Das Schriftbild altägyptischer Handschrif-
ten zeichnet sich dadurch aus, daß so gut wie
Was die Kultur des alten Ägypten zu einer keine Untergliederungen vorgenommen wur-
Schriftkultur machte, war die Tatsache, daß den: Schriftzeichen reihte sich an Schriftzei-
die Verwaltung des Landes, wie bei den Su- chen, Satz an Satz. Lediglich der Beginn eines
merern auch, in den Händen der schreibenden neuen Abschnittes konnte dadurch markiert
Zunft lag: „der Stand der ‘Schreiber’ oder sein, daß das erste Wort mit roter Farbe aus-
‘Kanzlisten’ gab dem Lande seine Signatur“ gezeichnet war. Eine so wenig entwickelte Ge-
(Birt 1907, 8). Und so machen nicht Inschrif- staltung des Schriftbildes läßt darauf schlie-
ten, sondern Handschriften den größten Teil ßen, daß die Handschriften nicht für die Lek-
der ägyptischen Schriftstücke aus. türe über das Auge, als vielmehr zum Vortrag
Beamte benötigen eine flüssig zu schrei- vor Hörern bestimmt waren.
bende Schrift, ohne Schnörkel, von Hand zu In vielen, vielleicht sogar in den meisten
schreiben: eine Zweckschrift. Eine solche ent- Fällen wird der Schreiber den Text nicht nur
wickelte sich sehr bald aus der Hieroglyphen- niedergeschrieben, sondern auch selber auf-
schrift: die hieratische Schrift (→ Art. 19). gesetzt haben. Für Listen, Register, Urkun-
Wer schreiben lernte, schrieb in hieratischer den, Gerichtsentscheidungen usw. lagen
Schrift. Muster bereit, auf die jederzeit zurückgegrif-
Geschrieben wurde vornehmlich auf Strei- fen werden konnten. Es unterliegt aber kei-
fen von Papyrus (→ Art. 8), mit einem Pinsel, nem Zweifel, daß Texte auch diktiert worden
in schwarzer und roter Tinte. Die rote Tinte sind. Das Vorbild gaben die Herrschaften:
diente zu Hervorhebungen der verschieden- „The governor or executive dictated: the
sten Art. scribe translated his words into script“ (Ha-
Waren nur kurze Eintragungen vorzuneh- velock 1963, 117). Nach diesem Muster konn-
men, so konnte dies stehend vorgenommen ten sich auch zwei Schreiber die Arbeit teilen:
werden. Bei längeren oder sorgfältig auszu-
4.  Geschichte des Schreibens 55

der eine formulierte den Text, der andere sache, daß sie „sich auch die Schreibpraktiken
schrieb ihn auf. Oft genügte es, wenn der derjenigen zueigen gemacht haben, deren Vor-
Auftraggeber mit dem Schreiber die Haupt- bild sie die eigene Schriftlichkeit verdanken“
punkte seines Anliegens durchging. Im übri- (Heubeck 1979, 145). Sie haben — wie diese
gen können wir davon ausgehen, daß eine — mit Griffeln auf wachsbeschichtete Täfel-
solche Praxis auch den Nachbarn im Zwei- chen geschrieben oder mit Pinsel und Tusche
stromland nicht unbekannt war. Nur ist sie auf Papyrus, Leder oder Ostraka; anfangs
für Ägypten besser dokumentiert. auch in der im Orient üblichen Weise: von
Ein großer Teil der Tätigkeit von Schrei- rechts nach links; ohne Worttrenner, also
bern bestand in der Anfertigung von Ab- scriptura continua.
schriften. Abschriften von Dokumenten wur- Ob sie die Schrift auch zu denselben Zwek-
den zur Archivierung, Abschriften von lite- ken wie ihre phönikischen Nachbarn verwen-
rarischen Werken für die Verbreitung und det haben, ist in der Forschung kontrovers.
Überlieferung benötigt. Auch Abschriften Indizien könnten dafür sprechen, daß es ent-
wurden nach Diktat vorgenommen: „al- weder „griechische Händler und Kaufleute“
though dictation was certainly employed in waren, „die bei ihren phönikischen Partnern
Pharaonic Egypt for the writing of documents den täglichen Gebrauch der Schrift gesehen,
which were required in several copies, there als nützlich und notwendig erkannt und des-
is as yet no agreement among scholars as to halb auch in ihre eigene tägliche Praxis über-
the extent, if at all, it was used for the mul- nommen haben“ (Heubeck 1979, 151), oder
tiplication of literary texts“ (Skeat 1956, 183). „orientalische Handwerker“, die „in die grie-
Wie stets in alten Zeiten haben sich die Schrei- chischen Städte einwanderten und dort ihre
ber nicht gescheut, ihre eigenen Kommentare Fertigkeiten an Griechen weitergaben“ (Bur-
in den Text hineinzuschreiben und Moderni- kert 1984, 2 5). Sollten solche Annahmen der
sierung vorzunehmen. Wirklichkeit entsprechen, so hätten wir mit
einer Phase in der griechischen Schriftge-
schichte zu rechnen, die in starkem Maße von
5. Die griechische und der der Orientalen abhängig war und diese
römische Antike zunächst einmal fortsetzte. Es fehlen jedoch
die archäologischen Belege. Darum ist nicht
Die Griechen und Römer brauchten das auszuschließen, daß die griechische Schrift-
Schreiben nicht noch einmal zu erfinden. Sie geschichte von Anfang an einen anderen Ver-
fanden es vor. Dennoch ist ihre Weise zu lauf genommen hat.
schreiben nicht eine Fortsetzung der bei den
Sumerern und Ägyptern begonnenen Ge- 5.2. Die Entwicklung in Griechenland
schichte. Daß diese noch einmal neu ansetzt,
einen eigenen Verlauf nimmt und schließlich Daß die Geschichte des Schreibens in Grie-
eine Prägung erhält, die es erlaubt, von einer chenland anders verlaufen ist als bei den öst-
griechisch-römischen Schriftkultur zu spre- lichen Nachbarn, ist in erster Linie auf die
chen (→ Art. 37, 38), ist auf die Tatsache besonderen gesellschaftlichen und politischen
zurückzuführen, daß die Bedingungen für ihre Verhältnisse zurückzuführen. „Der Sonder-
Ausprägung in Griechenland ganz besondere weg griechischer Kulturentwicklung ist im
waren. engsten Verbund mit einer technologischen
Revolution, der Erfindung der Alphabet-
5.1. Das phönikische Erbe schrift, zu sehen. Jedoch ist es nicht allein eine
Sache des Schriftsystems, sondern eines viel
Bekanntlich haben die Griechen die Grund- komplexeren Befundes, in dem es auf die
züge ihres Schriftsystems von ihren östlichen Frage ankommt, wo die Instanzen der Wei-
Nachbarn, den Phönikern, übernommen, ver- sung konzentriert sind, wie Verbindlichkeit
mutlich in der ersten Hälfte des 8. Jahrhun- gesichert und durchgesetzt wird. Das Beson-
derts v. Chr. In Anpassung an die Besonder- dere der griechischen Situation liegt in der
heiten ihrer Lautsprache wurde sie zu einer soziopolitischen Verwendung der Schrift“ (A.
regelrechten Lautschrift ausgebaut (→ Art. und J. Assmann in Havelock 1990, 14).
2 5). Dieser Tatsache wird allgemein eine Schreiben war im alten Griechenland kein
große Bedeutung für die Alphabetisierung der Mittel, um administrative Kontrollen durch-
Griechen und für die spezifische Ausprägung zuführen oder die Macht eines Herrschers ins
ihrer Form von Literalität beigemessen. Was Bild zu setzen. Schreiben diente hier der Her-
weniger Beachtung gefunden hat, ist die Tat-
56 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

stellung von Öffentlichkeit in einer sich de- erste Komponenten der Schriftlichkeit inner-
mokratisch verfassenden Gesellschaft. halb einer immer noch vorwiegend mündli-
Dies erklärt zum einen, daß Schreiben chen Kultur“ (Andresen 1987, 37). Zwar meh-
nicht das Privileg einer bestimmten sozialen ren sich die Texte, die von vornherein zum
Gruppe war, weder der Beamten noch der Lesen eingerichtet waren. Doch die große
Priester. Auch gibt es keine Anzeichen für Masse war für den öffentlichen Vortrag be-
eine Professionalisierung des Schreibens. Der stimmt und wurde über das Ohr, auditiv, auf-
Weg zum Schreiben stand grundsätzlich allen genommen. Die Rezeption dieser Texte blieb
freien Bürgern offen. Das heißt aber nicht, also, was sie immer schon war: aural. Hier
daß auch jeder Bürger geschrieben hätte. Bis hat sich vorerst nichts geändert. Was sich
zum 6. Jahrhundert v. Chr. war die Kunst des änderte, war der Modus der Produktion. Ein
Schreibens auf ganz wenige Kreise der Be- Text entstand nicht mehr im Augenblick des
völkerung beschränkt. Im Verlauf des 5. Jahr- Vortrages und bei jedem Vortrag immer wie-
hunderts nahm die Zahl derer, die schreiben der neu, sondern wurde vor dem Vortrag und
konnten, rapide zu. Hier wird sich die Tat- unabhängig von ihm aufgeschrieben. Schrei-
sache ausgewirkt haben, daß spätestens im ben ersetzte die ephemere Produktionsweise
ausgehenden 6. Jahrhundert Schreiben zum der alten oralen Praxis. Das hatte Konse-
Gegenstand des Elementarunterrichtes wur- quenzen.
de. Man schätzt, daß im 4. Jahrhundert fast Texte brauchten nicht mehr von Mund zu
jeder Bürger von Athen die neue Kunst be- Mund weitergegeben zu werden, es genügte,
herrschte (Harvey 1966; vorsichtiger Thomas daß man sie aufschrieb. Die Veröffentlichung
1989). vollzog sich teils oral, teils literal. Sie blieb
Die Aufgabe, die dem Schreiben in Grie- oral, insoweit der Text zum Vortrag kam. Sie
chenland zufiel, erklärt zum anderen die wurde literal in dem Maße, wie sich der Vor-
Funktion der Texte, die nun geschrieben wur- tragende, der „Rhapsode“, auf einen schrift-
den. „The earliest Greek inscriptions are pu- lich ausgearbeiteten Text stützen konnte, sei
blic statements; they explain some object, or es daß er nach ihm memorierte, sei es daß er
intention, to a reading public“ (Jeffery 1982 , einfach aus ihm vorlas.
831). Bemerkenswert schnell drang die neue
Kunst in den Bereich ein, in dem das gesell- 5.3. Die Entwicklung im römischen Reich
schaftliche Wissen überliefert und der darum
schon seit eh und je öffentlich war: den Be- Während wir im alten Griechenland ziemlich
reich der Lieder und vor allem der großen genau den Übergang von einer oralen zu einer
Epen. Die homerischen Epen sind vielleicht literalen Praxis verfolgen können, zumindest
schon im 8. Jahrhundert schriftlich festgehal- genauer als dies für Ägypten und den Vor-
ten worden. Im 6. Jahrhundert wurden die deren Orient möglich ist, geben uns die latei-
Gesetze aufgezeichnet. Das 5. Jahrhundert nischen Quellen eine einigermaßen vollstän-
zeigt eine Fülle an schriftstellerischen Akti- dige Vorstellung von der Praxis des Schrei-
vitäten: philosophische, historische und wis- bens, die, wenn auch vermutlich nicht in dem
senschaftliche. Komödien und Tragödien wer- Maße ausgeprägt, so doch im Grundsatz
den geschrieben und vor allem Reden der schon in griechischer Zeit vorhanden gewesen
verschiedensten Art. „Le tribunale est (...) la sein dürfte.
grande forge où le discours écrit s’élabore et In technologischer, organisatorischer und
se perfectionne“ (Canfora 1988, 2 12 ). Im 4. funktionaler Hinsicht lassen sich die folgen-
Jahrhundert gab es schließlich kaum noch den Arten des Schreibens unterscheiden:
einen Vorgang von öffentlichem Interesse, der (1) Man schrieb eigenhändig, aber „nur in
nicht schriftlich zu erfolgen hatte: „for real Ausnahmefällen“ (Norden 1981, 954): flüch-
and striking proof one needed written docu- tige Notizen, persönliche Aufzeichnungen,
mentation“ (Thomas 1989, 286). vertrauliche Briefe und wohl auch Gedichte
Die Rolle, die das Schreiben bei der all- (Kleberg 1969).
mählichen Verschriftlichung der griechischen (2 ) In der Regel zog man das Diktat vor:
Kultur spielte, muß im Zusammenhang mit man ließ nach Diktat schreiben. Anders als
grundlegenden Veränderungen der sprachli- in den bürokratisch oder autoritär organi-
chen Kommunikation insgesamt gesehen wer- sierten Schriftkulturen des Nahen Ostens galt
den. „Was uns schriftlich aus dem achten, das Schreiben bei den Römern als eine min-
siebten, sechsten und teilweise auch noch aus derwertige Tätigkeit, die man lieber Ange-
dem fünften Jahrhundert begegnet (...), sind stellten oder Sklaven überließ (Dekkers 1952).
4.  Geschichte des Schreibens 57

(3) Dem Nach-Diktat-Schreiben nahe steht in Kursive und führte (übrigens schon in grie-
das Mitschreiben oder Mitstenographieren. chischer Zeit) Abkürzungen ein: ließ Teile von
Mitgeschrieben wurden Reden oder Predigten Wörtern oder Sätzen einfach weg, zog Wort-
bekannter Persönlichkeiten, Anklageschriften teile oder ganze Wörter zusammen und setzte
und Zeugenaussagen, Debatten aller Art. Pro- (in römischer Zeit) eine Art Kurzschrift ein,
tokollanten oder Stenographen ( notarii, ex- die sog. „tironischen Noten“.
ceptores ) nahmen die Aufzeichnungen auf Die Aufzeichnung mußte in eine Fassung
Wachstäfelchen vor, gleichzeitig oder sich ab- gebracht werden, die einem Schreiber diktiert
wechselnd, erstellten auf der Grundlage ihrer oder zur Abschrift vorgelegt werden konnte.
Aufzeichnungen ein Manuskript, das dann Ergänzungen wurden vorgenommen, wenn
zur Reinschrift auf Papyrus oder Pergament die Zeit nicht ausgereicht hatte, um alles auf-
gebracht werden konnte. zuzeichnen. Wenn eine Rede von mehreren
(4) Abschreiben: „In den frühesten Zeiten Sekretären mitstenographiert worden war,
der Buchgeschichte war es ohne Zweifel der mußte das Manuskript aus den verschiedenen
einzige (...) Weg, um sich ein Buch zu be- Mitschriften erstellt werden.
schaffen, das man besitzen wollte: man ließ Für die Reinschrift waren in der Regel
durch einen des Schreibens kundigen Sklaven Schreiber ( librarii, scriptores oder scribae ) zu-
ein verfügbares Exemplar (...) abschreiben ständig. Ihre Aufgabe bestand darin, ein Ex-
oder aber besorgte dies mit eigener Hand“ emplar des Textes herzustellen, das, wenn es
(Kleberg 1969, 5). Abgeschrieben wurde ent- sich um einen Brief handelte, verschickt oder,
weder von einer Vorlage oder nach Diktat. wenn es sich um ein Buch handelte, veröf-
„The scribe copying visually can range over fentlicht werden konnte. Da während der
the exemplar at will, he can gain a complete ganzen Antike scriptura continua üblich war,
image of a passage, and look either forwards diese Schreibkonvention aber das Lesen
or backwards in search of a clue to the mean- schwierig machte, hat man Vorlesehilfen ein-
ing; nor is he troubled by any need to keep geführt. Dazu zählt die Gliederung des Textes
up with the speed of the dictator. The scribe in Abschnitte. Raible (1991) führt weitere Hil-
writing from dictation, on the other hand, is fen an: Akzente oder ein kommaähnliches
in a fundamentally different predicament; he Zeichen über dem Raum zwischen zwei Buch-
depends entirely on a single, fleeting, auditory staben zur Kennzeichnung von Wortgrenzen;
image for the produktion of his text, and if Zeichen für Aspiration bzw. Nichtaspiration
he mishears the chances of his rectifying, or zur Kennzeichnung eines Wortanfanges;
ever realizing, the mistake are small. All he schließlich die ersten Interpunktionszeichen.
has before him at any one time is the small Korrekturarbeiten fielen in allen Stadien
section of text with which he is currently der Produktion eines Manuskriptes an. Als
concerned“ (Skeat 1956, 206). erstes mußten die Aufzeichnungen der Sekre-
(5) Die Anfertigung einer Reinschrift. täre korrigiert werden. Nicht selten wurden
Sieht man von dem eigenhändigen Schrei- sie erst auf andere Täfelchen übertragen,
ben einmal ab und berücksichtigt man, daß „puisque la hâte d’un tachygraphe et sa tech-
das Schreiben ins Reine nur ein Moment bei nique toujours très personelle rendent inutile
der Produktion von Manuskripten ist, so läßt un grande partie de sa correction“ (Arns 1953,
sich der Prozeß der Produktion für das Nach- 73). Eine weitere Korrektur wurde notwendig,
Diktat-Schreiben, das Mit- und Abschreiben sobald die Reinschrift vorlag. Diese wurde
ziemlich einheitlich beschreiben. mit der Vorlage verglichen und, falls nötig,
Da das Mit- und Nach-Diktat-Schreiben verbessert. Schließlich konnten am Manu-
erheblich mehr Zeit als das Sprechen bean- skript auch dann noch Korrekturen vorge-
sprucht, galt es, die unterschiedlichen Ge- nommen werden, wenn Abschriften schon im
schwindigkeiten aufeinander abzustimmen. Umlauf waren.
Wer diktiert, kann Rücksicht auf den Schrei-
benden nehmen: das Tempo verzögern, Pau-
sen einlegen oder Wiederholungen zulassen. 6. Das europäische Mittelalter
Einem Vortragenden bleibt dies jedoch ver- Die antike Schreibpraxis setzt sich im Mittel-
sagt. Man behalf sich auf verschiedene Weisen alter in vieler Hinsicht fort (Bischoff 1986;
(Arns 1953). Man verwendete für die Auf- Vezin 1989; → Art. 40). Nach wie vor werden
zeichnung Wachstafeln unter anderem auch Texte diktiert und Reden mitgeschrieben. Der
deswegen, weil sie ein höheres Schreibtempo Codex als die für das Mittelalter charakteri-
erlaubten als andere Materialien. Man schrieb stische Buchform war bereits in der späten
58 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Antike bekannt. Das gilt auch für das Abschrift bereit gehalten. Auch Bücher stam-
Schreibpult. Latein blieb noch lange die men aus dieser Zeit, vornehmlich historische
sprachliche Form, in der vornehmlich ge- Darstellungen: die Geschichte als Dokument
schrieben wurde. Und geschrieben wurde wie der Werke Gottes. Einige Autoren schrieben
eh und je auf Wachstäfelchen und Pergament. ihre Texte eigenhändig. Sie blieben jedoch die
Papier kam erst gegen Ende des Mittelalters Ausnahme. In der Regel wurde diktiert.
auf. In den Klöstern wurden jedoch mehr Bü-
Veränderungen in der Schreibpraxis sind cher abgeschrieben als verfaßt. Schreiben war
selten und eher periphär. Die Kenntnis der in dieser Zeit eine ausgesprochen reproduk-
tironischen Noten ist wohl nie ganz verloren tive Kunst, und so finden wir hier die be-
gegangen, doch hat man von ihnen nur recht deutsamsten Veränderungen in der Praxis des
sporadisch Gebrauch gemacht. Das Schreib- Schreibens. Die Einführung der Worttren-
rohr, der calamus der Römer, wurde durch nung (Saenger 1982 ) erlaubte es, gleich aus
die Feder, eine Vogel- oder Gänsefeder, er- der Vorlage abzuschreiben. Sie hatte zur
setzt. Das hatte Folgen für die Handhaltung, Folge, daß man sich nicht mehr an den ein-
zumindest bei kalligraphischem Schreiben. zelnen Buchstaben, sondern an ganzen Wör-
Die Feder wurde mit drei gestreckten Fingern tern orientierte: „So wie die Seite und die Zeile
gehalten. Mit Ring- und kleinem Finger sollte auch der Wortkörper einen Block bil-
stützte man die Hand ab. den. (...) Das Ziel war die Vernetzung der
Die Veränderungen, die das Schreiben er- Zeichen zu einem Körper, die optische Dar-
fahren hat, sind nicht so sehr in den Techni- stellung, nicht die schreibmotorische Herstel-
ken und Konventionen des Schreibens, als lung einer graphischen Einheit“ (Rück 1988,
vielmehr in den Zwecken zu suchen. Es war 12 7). — Mönche haben viel Zeit, und so kam
die Kirche, die sich des geschriebenen Wortes es ihnen nicht darauf an, schnell zu schreiben,
bemächtigte und damit das kulturelle Erbe sondern eine dem sakralen Inhalt der Texte
der Antike antrat (McKitterick 1989; zur by- angemessene Schrift zu finden. Das Ergebnis
zantinischen Schreibkultur vgl. Hunger 1989). war die karolingische Minuskel, keine Ge-
brauchs-, sondern eine Buchschrift (Bischoff
6.1. Monastisches Schreiben 1986). — In vielen Fällen beschränkte sich
die Abschrift nicht auf die Reproduktion der
Das ganze Mittelalter hindurch gab es Laien, sprachlichen Vorgaben, sondern umfaßte
die schreiben konnten, und notarii, die für auch die künstlerische Gestaltung sowohl je-
andere schrieben (vgl. dazu 5.3.). Die Schreib- der einzelnen Seite als auch des ganzen Bu-
kultur, die sich zwischen dem 7. und 12 . Jahr- ches (Jantzen 1940). Die Seite wird zum Bild,
hundert entwickelte, wurde durch Mönche das Buch zu einem heiligen Gegenstand, der
geprägt (Leclercq 1963; Clanchy 1979; Saen- Reliquie vergleichbar, und so Schreiben zu
ger 1982; McKitterick 1989). einer Kunst, die dem Malen und Zeichnen
Schreiben war wie Beten und Fasten, La- näher stand als dem Sprechen.
tein und Chorgesang ein wesentliches Element Angefertigt wurden die Abschriften von
der monastischen Lebensform: „Der Mönch Büchern fast ausschließlich in den Skriptorien
schreibt, weil er nicht spricht und um nicht der Klöster (Bischoff 1986, 63 f; Trost 1986;
zu sprechen“ (Leclercq 1963, 173). Die Mön- Bibliotheka Palatina 1986). Oft ist die Ab-
che haben in erster Linie für geistliche Zwecke schrift das Werk eines einzigen Schreibmei-
geschrieben: zur Versorgung der Kirchen mit sters. Er schrieb nicht nur den Text ab, son-
liturgischen Büchern, zur Tradierung vor al- dern bestimmte auch die Gesamtanlage der
lem des christlich-antiken Erbes, aber auch Handschrift, die Aufteilung der einzelnen
heidnischer Schriftsteller, zumindest soweit Seite, die Zuordnung von Text und Bild und
sie für das Verständnis der heiligen Schrift als nahm selbst die Rubrizierung, die Verzierung
nützlich erachtet wurden. Vor allem aber der Ränder sowie die Vorzeichnung der Bilder
diente ihr Schreiben dem Lobe Gottes: „Writ- und ihre Bemalung vor.
ing was aimed at God’s eye more often than
at communicating information to fellow hu- 6.2. Scholastisches Schreiben
man beings“ (Clanchy 1979, 226).
Mönche haben zwar in einem bescheidenen Um 1150 wird ein neues Kapitel in der mit-
Rahmen Texte verfaßt und Bücher geschrie- telalterlichen Geschichte des Schreibens auf-
ben. Zwischen den Klöstern bestand ein reger geschlagen (Saenger 1982 ; Illich 1991). Die
Briefverkehr. Predigten wurden mitgeschrie- ersten Universitäten wurden gegründet, und
ben, aufgearbeitet und in Sammlungen für die in ihnen entstand ein neues Denken, ein Den-
4.  Geschichte des Schreibens 59

ken, in dem Offenbarung und Vernunft ver- of editing and disseminating a text composed,
söhnt werden sollten: die Scholastik. at least in rough form, by his own hand“
In dem Bereich, in dem zuvor die größten (Saenger 1982, 387).
Veränderungen zu verzeichnen waren, dem (3) Die Behinderungen, die der Schreibpro-
Bereich der Reproduktion von Texten, trat zeß durch die Schrift erfuhr, wurden im 14.
nun eher ein Stillstand ein. Nach wie vor blieb Jahrhundert mit der Entwicklung der goti-
Schreiben in den Skriptorien der Klöster eine schen Kursive und eines Systems von Abkür-
Art Gottesdienst. Doch jenseits der Kloster- zungen aus dem Weg geräumt. Das Diktat
mauern verlor die Abschrift ihren geistlichen wurde überflüssig. Der Autor konnte selber
Glanz. An die Seite des monastischen Schrei- seine Texte niederschreiben.
bers trat der professionelle Schreiber, der für Solange Schreiben arbeitsteilig vollzogen
Lohn schrieb und, um möglichst rationell ar- wurde, hatten die einzelnen Aktivitäten einen
beiten zu können, sich auf bestimmte Tätig- hohen Grad an Eigenständigkeit. Die Korrek-
keiten (Ausführung der Schrift, der Initiale, turarbeiten hoben sich deutlich von den
der Seitenränder, der Illustrationen) speziali- Schreibarbeiten im engeren Sinne des Wortes
sierte. Der Markt bestimmte, was und wieviel ab: der Nieder- und Reinschrift. Und diese
abgeschrieben wurde. Worauf es ankam, war wiederum waren deutlich von den mentalen
nicht die Herstellung eines Manuskriptes, Vorgängen im Kopf des Autors abgesetzt.
sondern die Multiplikation eines Textes. Der Man hatte noch nicht einmal einen Begriff
Text löst sich aus seiner Bindung an das für den Schreibprozeß als ganzen und ver-
Manuskript (s. unten). mutlich auch nur wenig klare Vorstellungen
Was die Zeit nach 1150 auszeichnet, sind von der Zusammengehörigkeit der einzelnen
die Veränderungen im produktiven Bereich. Vorgänge. Die Selbständigkeit der verschie-
Der Autor wird zum Schreiber. Er verwandelt denen Aktivitäten dürfte verhindert haben,
sich von einem „Diktator“ zu einer frühen daß die eine auf die andere einen nachhaltigen
Form des Schriftstellers. Saenger hat auf die- Einfluß nahm. Das mußte sich mit dem Au-
sem Weg drei Stadien unterschieden: genblick ändern, in dem alle diese Aktivitäten
(1) Die Theologen des 12 . Jahrhunderts von ein und derselben Person ausgeführt wur-
waren Kommentatoren. Sie folgten dem Text den. Nun war es möglich, daß sprachliche
Satz für Satz, schrieben ihre Glossen auf Korrekturen, selbst kompositorische oder gar
kleine Wachstafeln und überließen diese konzeptionelle Veränderungen noch während
einem Schreiber zur Abschrift. der Niederschrift vorgenommen werden
(2 ) Die Autoren des 13. Jahrhunderts, konnten und — was sich als noch bedeutsa-
Scholastiker wie Albertus Magnus und Tho- mer erwies — daß der Vollzug der Nieder-
mas von Aquin, begnügten sich nicht mehr schrift sich auf Formulierungen, die Kom-
mit Glossen und Kommentaren: „Der Autor position und sogar auf die Konzeption des
wählt selbst ein Thema und bringt seine Textes auswirken konnte. Kurz: die Integra-
eigene Ordnung in die Reihenfolge, in der er tion der verschiedenen Schreibarbeiten in
sich mit dem Thema befassen wird. Die sicht- einer einheitlichen, kontinuierlich sich entwik-
bare Seite ist nicht mehr die Aufzeichnung kelnden Schreibhandlung führte zu einer In-
von Äußerungen, sondern die visuelle Dar- teraktion unter diesen und veränderte so den
stellung einer durchdachten Beweisführung“ Schreibprozeß grundlegend.
(Illich 1991, 106). Da Wachstäfelchen für
die Aufzeichnung komplexer und darum um- 6.3. Säkulares Schreiben
fangreicher Gedankengänge wenig geeignet
waren, gingen die Scholastiker dazu über, Auch außerhalb der Klöster und Universitä-
gleich auf Pergament zu schreiben. Diese ten ist im Mittelalter viel geschrieben worden
Autographenmanuskripte waren aber für (Clanchy 1979; Saenger 1982 ; McKitterick
Außenstehende kaum zu lesen, da weder eine 1989). Hier ging es nicht um geistliche, son-
flüssig zu schreibende Kursive noch ein stan- dern ausschließlich um weltliche Dinge. Juri-
dardisiertes System von Abkürzungen zur stische und verwaltungstechnische Intelligenz,
Verfügung stand. Die schriftlichen Aufzeich- kaufmännische Rationalität und diplomati-
nungen mußten also nach wie vor einem Se- sche Klugheit bestimmten nicht nur, was und
kretär diktiert werden. Doch das Diktat hatte wieviel, sondern auch wie geschrieben wurde.
seine Funktion geändert: „Saint Bernhard Dies erklärt, weshalb von allen Weisen mit-
had used dictation to compose his works; telalterlichen Schreibens diese der Praxis
Saint Thomas used dictation in the process heute am nächsten kommt.
60 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Die Integration des Schreibens in die viele Jahrhunderte die literale Kultur des Mit-
Rechtsgeschäfte hatte lange vor dem Mittel- telalters von der oralen Welt der großen
alter begonnen: „Writing shifted the emphasis Mehrheit der Bevölkerung trennte, eingeeb-
in testing truth from speech to document“ net. Schreiben war nicht länger mehr eine
(Clanchy 1979, 2 0). Mit den Rechtsgeschäften Kunst, wie Zeichnen und Malen, sondern ein
zog Schreiben zugleich in den Bereich der Analogon oder besser eine Alternative zum
Ausübung von Herrschaft ein. Hier gewinnt Sprechen, genau so, wie wir es heute für
es zunehmend an Bedeutung, bis sich schließ- selbstverständlich halten.
lich, seit dem 13. Jahrhundert, „Herrschaft
mit Hilfe von Schrift zu ‘Verwaltung’ “ (Patze
1970, 9) wandelte. Urkunden und Briefe 7. Neuzeit und Moderne
waren die häufigsten Schriftstücke. Es kamen Es gibt kein Ereignis, das erlauben würde, in
hinzu: Verträge, Gesetze, Erlasse, Listen, Be- der Geschichte des Schreibens eine Zäsur zwi-
richte, Register, aber auch Protokolle, Stadt- schen Mittelalter und Neuzeit zu setzen. Auch
bücher und Chroniken. Die im Spätmittelal- die Einführung des Buchdruckes im 15. Jahr-
ter entstehende Kommunalverwaltung ist hundert ist nur ein Moment, gleichwohl ein
ohne Schreiben nicht denkbar. sehr augenfälliges, in einem kontinuierlich
Die Integration des Schreibens in die Han-
delsgeschäfte, zunächst in die des Fernhandels sich vollziehenden Übergang.
(Pitz 1989), hatte „die Trennung der leitenden
von der ausführenden Arbeit“ (ebd., 381) zur 7.1. Fortsetzungen
Voraussetzung, d. h. die Tatsache, daß die Einige Entwicklungen, die noch im Mittelal-
Kaufleute in zunehmendem Maße die risiko- ter eingesetzt haben, fanden in der Neuzeit
reichen Seefahrten ihren Agenten überließen, eine Fortsetzung. So hat sich der Autor, der
um von den Kontoren aus ihre Unterneh- selber schreibt, bereits im späten Mittelalter
mungen zu leiten. Das geschah etwa im 13. etabliert, aber durchgesetzt hat er sich erst in
Jahrhundert, also ziemlich gleichzeitig mit der Neuzeit. Es waren Kaufleute, die bereits
den Reformen in der Administration. Mit im ausgehenden Mittelalter für private
Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen konnte Zwecke schrieben: Briefe, aber auch Tagebü-
präziser kalkuliert, rationeller organisiert und cher, Lebenserinnerungen und Chroniken. In
verläßlicher verwaltet werden. Geschäftskor- der Neuzeit erfaßte die Privatisierung des
respondenzen, Buchungen, Ausstellung von Schreibens weitere Kreise der Bevölkerung,
Verträgen und Rechnungen waren täglich zu im 17. und 18. Jahrhundert das Bürgertum
verrichtende Arbeiten. „Les écrits des hom- (Engelsing 1973), im 19. Jahrhundert auch die
mes d’affaires se distinguent par leur appa- unteren Schichten, die Handwerker und Bau-
rance même de ceux des notaires ou des lettres ern (Schikorsky 1991; → Art. 70).
de profession. Tant dans leur expression que Das Schreiben expandierte aber auch in
dans leur graphie ils sont claire, nets, précis, den Bereichen, in denen es bereits im Mittel-
ordonné“ (Bec 1967, 49). alter und vorher Fuß gefaßt hatte: in der
Schließlich hielt Schreiben auch Einzug in Administration, im Handel und in der Diplo-
den diplomatischen Verkehr (Queller 1967, matie. Neue Bereiche kamen und kommen
10): „While babarian rulers at the dawn of hinzu: im 19. Jahrhundert die Industrie, im
the Middle Ages sent envoys without letters 2 0. Jahrhundert die Bedürfnisse der moder-
merely to mouth memorized messages, civi- nen Informations- und Kommunikationsge-
lized states such as those of the High Middle sellschaft (Beniger 1986). In allen diesen Be-
Ages conducted their relations by means of reichen wird die Notwendigkeit der Kontrolle
envoys whose powers depended upon the let- dringlicher und damit der Bedarf an der
ters entrusted to them“. Dazu kamen die Be- Sammlung, Speicherung, Verarbeitung und
richte, die die Gesandten regelmäßig abzulie- Verbreitung von Informationen größer.
fern hatten. Nirgendwo ist die Expansion des Schrei-
Spätestens seit dem 14. und 15. Jahrhun- bens deutlicher erkennbar als in den Schulen.
dert drang Schreiben in alle Kreise der Laien- In den Schreibschulen des Mittelalters lernten
schaft. Damit verlor die lateinische Sprache die Söhne der Kaufleute und Handwerker
das Monopol, das sie so viele Jahrhunderte neben Rechnen und Lesen auch Schreiben,
hindurch hatte behaupten können (→ Art. doch nur soviel, wie ihnen später nützlich zu
40; 41). An ihre Stelle trat eine sich nun aus- werden versprach: das Alphabet, die Recht-
bildende geschriebene Form der jeweiligen schreibung, vor allem die Kalligraphie und
Landessprache. Damit war der Graben, der
4.  Geschichte des Schreibens 61

das Aufsetzen geschäftlicher Texte nach vor- schehen war, nur auf eine neue und rationel-
gegebenen Mustern. In den Lateinschulen des lere Weise. Er hat (...) der in weiten Kreisen
ausgehenden Mittelalters und der beginnen- seit langem bestehenden Hinwendung zum
den Neuzeit fertigten die Söhne des begüter- Buch durch seinen codex impressus eine Dy-
ten Bürgertums Reden, Briefe und Gedichte namik verliehen, die der codex manuscriptus
im Rahmen des Lateinunterrichtes an. Die nie besitzen konnte. Denn bei diesem entstand
Anfertigung erfolgte schriftlich, doch vorge- durch den Arbeitsvorgang des Abschreibens
tragen wurden die Texte mündlich. Erst in der jeweils nur ein neues Exemplar, beim codex
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand impressus dagegen durch den vergleichbaren
in Deutschland an den Gymnasien der schrift- einen Arbeitsvorgang des Druckens eine Auf-
liche Aufsatz (Ludwig 1988), eine Übungs- lage, d. h. eine Anzahl identischer Exemplare“
form, die nicht auf den Vortrag abzielte, son- (Schmidt 1973, 32 5). So läßt sich feststellen,
dern ausschließlich das Schreibvermögen daß das Drucken das Schreiben weder ersetzt
schulen sollte. Erst im Verlauf des 19. Jahr- noch in seiner Bedeutung beeinträchtigt hat.
hunderts setzte sich der schriftliche Aufsatz Es hat lediglich eine Funktion der Reproduk-
auch in den Elementarschulen durch, so daß tion: die massenhafte Vervielfältigung von
man davon ausgehen kann, daß am Ende des Texten übernommen. Nach wie vor mußte
Jahrhunderts so gut wie jeder Bürger zumin- aber alles, was gedruckt werden sollte, erst
dest einmal in seinem Leben mit der Schrift einmal aufgeschrieben werden. Und bei wei-
in Berührung gekommen war. tem nicht alles, was geschrieben wurde, wurde
Im folgenden sollen drei neuere Entwick- auch gedruckt: nicht die vielen Akten und
lungen in der Praxis des Schreibens dargestellt Urkunden, die in den Kanzleien angefertigt
werden. Man könnte weitere anführen, so die wurden. Nicht die vielen persönlichen Auf-
Ausbildung einer Schriftsprache seit dem 15. zeichnungen. Selbst Abschriften wurden viel-
Jahrhundert (Giesecke 1992 ); die Entwick- fach noch mit der Hand vorgenommen, bis
lung von Stenographien (Segelken 1991; → dann der Kopierer das Abschreiben weitge-
Art. 144); die Normierungen der Schriftspra- hend überflüssig machte.
che, also der Sprache, die beim Schreiben
verwendet wird, durch die Stilistiken des 19. 7.3. Andere Vorstellung vom Schreiben
Jahrhunderts (→ Art. 139); der Einsatz von
Diktiergeräten; die wissenschaftliche Erfor- „Im Westen war bis über die Renaissance
schung des Schreibprozesses (→ Art. 83—86). hinaus die förmliche Rede die meistgelehrte
Die Beschränkung auf drei Entwicklungen ist aller verbalen Produktionen. Implizit blieb sie
damit zu rechtfertigen, daß wir über die Ver- das Basis-Paradigma für jeden Diskurs, den
änderungen, die die Schreibpraxis in der Neu- schriftlichen wie den mündlichen“ (Ong 1987,
zeit erfahren hat, kaum etwas wissen, und es 119 f). Autoren waren Redner, nicht Schrift-
erst einmal darauf ankommt, einige Gesichts- steller, und die Rede war definiert durch die
punkte für ihre Darstellung ausfindig zu ma- Wirkung, die sie auf die Zuhörer ausübte.
chen und zu explizieren. Schreiben spielte nur eine untergeordnete
Rolle, diente der Herstellung eines Manu-
skriptes, auf das man sich während des Vor-
7.2. Die Auswirkungen des Buchdruckes trages stützen konnte. Auch viele Texte, die
Um die Auswirkungen des Buchdruckes auf nicht vorgetragen wurden, waren wie Reden
die Praxis des Schreibens (Giesecke 1991) ins angelegt.
rechte Licht zu rücken, muß man sie in einen Eine ganz andere Vorstellung von Schrei-
größeren Rahmen stellen. Bis zur Einführung ben kam während des 18. Jahrhunderts auf
des Buchdruckes hatte Schreiben zwei Haupt- (Geitner 1992 ). Aufgeklärte Menschen reden
funktionen zu erfüllen: die Produktion und und schreiben nicht, um Einfluß auf andere
die Reproduktion von Texten. Das eine ge- Menschen zu nehmen oder gar um diese zu
schah durch Aufschreiben, das andere durch überreden, sie reden und schreiben, um ihre
Abschreiben. Seit etwa dem 3. Jahrhundert Gedanken, Ansichten und Meinungen zum
wurden Bücher abgeschrieben, um sie zu ver- Ausdruck zu bringen. Nicht die Wirkungen,
vielfältigen. Genau diese Aufgabe hat im 15. die ein Text auf Zuhörer oder Leser ausübt,
Jahrhundert der Druck übernommen. Mehr standen im Mittelpunkt ihrer Vorstellungen,
nicht. „Gutenberg blieb in der Tradition und sondern die Gedanken, die in ihm zum Aus-
zielte auch seinerseits auf nichts anderes ab, druck kommen. Damit haben sich die Vor-
als literarische Texte zu vermitteln und zu stellungen vom Schreiben ziemlich grundle-
vervielfältigen, so wie es seit langer Zeit ge- gend geändert. Im Schreiben entdeckte man
62 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die Möglichkeit, nicht nur Gedanken zum züge empfahlen die Schreibmaschine vor al-
Ausdruck zu bringen (das leistete das Reden lem für den Einsatz in Büros. Der Hauptvor-
auch), sondern darüberhinaus Gedanken zu zug der Schreibmaschine ist aber ihre leichte
ordnen, sich Klarheit über Gedanken zu ver- Handhabbarkeit. Aus der übersichtlichen
schaffen, Gedanken zu verarbeiten und — Menge von Tasten einer klar strukturierten
überhaupt erst einmal auf Gedanken zu kom- Tastatur ist nur jeweils die Taste zu wählen
men. „Der Griffel, d. i. bey uns die Schreib- und anzuschlagen, die das gewünschte
feder“, so Herder, „schärft den Verstand, sie Schriftzeichen trägt. So eignet sich die
entwickelt Ideen, sie macht die Seele auf eine Schreibmaschine für alle Arten von Abschrif-
wundersame Weise thätig“ (182 0, 170). Einst ten, insbesondere für das Schreiben nach Ste-
„die Magd der Rede“ (Giesecke) wird Schrei- nogramm, findet aber auch Verwendung beim
ben nun zur Herrin. Der Schriftsteller ver- Aufsetzen von Texten. Für den modernen
drängt als Leitfigur den Redner. Das „Basis- Schriftsteller wurde sie oft zu einem unent-
Paradigma für jeden Diskurs, den schriftli- behrlichen Werkzeug.
chen wie den mündlichen“ (Ong) ist nun der
Text, der schriftliche Text, das Buch, und 7.4.2. Der Telegraph
nicht mehr die förmliche Rede.
Nirgends kommen die Veränderungen in Der Telegraph, in demselben Jahr erfunden
den Vorstellungen vom Schreiben emphati- wie der Morseapparat (1837), hat zwar nicht
scher zum Ausdruck als in dem Begriff, den den Schreibakt als solchen, wohl aber den
die Schriftsteller von ihrer Tätigkeit entwik- Produktionsprozeß von Texten verändert.
kelt haben. „Aus der traditionellen Gleichset- Man schreibt wie auf einer Schreibmaschine,
zung von Stil und Mensch ist im 19. Jahr- doch der Text erscheint nicht unmittelbar vor
hundert die Gleichsetzung von Kunst und Augen auf einem Bogen Papier, sondern wird
Mensch geworden. Daraus ging die moderne in einem Sendegerät in elektrische Impulse
Vorstellung hervor, daß sich der Dichter oder Impulsfolgen umgewandelt (kodiert).
durch seine sprachkünstlerische Arbeit in Diese können von einem Aufnahmegerät
einem ‘Transformationsprozeß’ in das Kunst- empfangen, in Buchstaben oder Buchstaben-
werk umsetzt und dieses ein objektives Äqui- folgen zurückverwandelt (dekodiert) und
valent der Künstlerseele oder eines Seelenzu- dann aufgezeichnet und gelesen werden.
standes (...) des Künstlers ist“ (Müller 1981, Durch die Einschaltung von Geräten wird der
156). unmittelbare Zusammenhang zwischen der
Erstellung eines Textes in seiner abstrakten
Bedeutung (dem sog. Textkorpus oder der
7.4. Die Technisierung des Schreibens Textbasis) und seiner konkreten Darstellung
„Während die Technik in allen anderen Ge- auf einem Schriftträger aufgelöst. Man
bieten der menschlichen Arbeit Neuerungen brauchte nun nicht mehr einen Boten oder
brachte, ging sie bis über die Mitte des 18. die Post auf den Weg zu schicken, um einem
Jahrhunderts an den Büros vorbei“ (Segelken Empfänger eine Nachricht zukommen zu las-
1991, 14), und nicht nur an den Büros, wie sen. Den Transport der elektrischen Signale
zu ergänzen ist, sondern überall, wo geschrie- besorgte ein Kabel bei der drahtgebundenen
ben wurde. Nachhaltigen Einfluß auf die Pra- oder der Funk bei der drahtlosen Telegraphie.
xis des Schreibens konnte die Technik erst Die Folgen waren immens. Fast ohne Zeit-
gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen. verlust konnten so Nachrichten auch über
Der Einsatz der Schreibmaschine, des Tele- große Distanzen hinweg übermittelt werden,
graphen und des Computers haben sie radikal eine wichtige Voraussetzung für die um die
verändert. Mitte des vorigen Jahrhunderts einsetzende
Industrialisierung (Beniger 1986).
7.4.1. Die Schreibmaschine Die Ausgliederung der Textdarstellung und
die Übermittlung des Textkorpus auf ener-
Die Schreibmaschine (Segelken 1991; → Art. getischem Wege haben zu einer Variante in
89) führte das Prinzip des Druckens, das bis- der Organisation der Textproduktion geführt.
her ausschließlich bei der Multiplikation von Bis zur Erfindung der Telegraphie konnten
Texten genutzt worden war, in die Praxis des Texte erst distribuiert werden, nachdem sie
Schreibens generell ein. Im Vergleich zum eine Darstellung gefunden hatten. Ein Brief
Schreiben mit der Hand läßt sich das Schrei- muß geschrieben sein, um verschickt werden
ben mit der Maschine erheblich schneller be- zu können. Mit der Telegraphie tritt die Dis-
werkstelligen. Die Typoskripte sind leichter tribution zwischen die Erstellung des Text-
und vor allem eindeutiger lesbar. Diese Vor-
4.  Geschichte des Schreibens 63

korpus und seine Darstellung. Die Nachricht (3) Bei der Herstellung des Textkorpus
wird kodiert, auf den Weg geschickt und können Programme einbezogen werden, Pro-
kommt dann erst zur Darstellung. Die Dis- gramme etwa zur Unterstützung der Wort-
tribution ist zu einem Teil der Produktion trennung am Zeilenende. Ist in dem Compu-
geworden. ter ein Wörterbuch gespeichert, so kann dem
Schreibenden signalisiert werden, ob ein Wort
7.4.3. Der Computer richtig oder falsch geschrieben worden ist. Die
Maschine braucht nur nach dem geschriebe-
Die Computertechnik hat sich die Einsichten, nen Wort zu suchen und zu prüfen, wie es zu
die man bei der Entwicklung des Telegraphen schreiben ist. Man spricht von einem „Recht-
gewonnen hatte, zunutze gemacht. Der Text schreibprüfer“ ( spelling checker ). Es gibt auch
wird einer Maschine eingegeben, kodiert, da- schon stylecheckers, sozusagen „stilistische
mit er in Zahlen ausdrückbar wird, doch dann Kontrolleure“, allerdings bisher nur für das
werden die Zahlen nicht auf die Reise ge- Englische: Programme, die den Schreibenden
schickt, sondern in Form elektromagnetischer darauf aufmerksam machen, wenn er Wörter
Signale auf einer Datenbank gespeichert. Der wiederholt, die Sätze unvollständig sind oder
Text ist zwar noch beständig, da „elektro- ungewöhnliche Ausdrücke verwendet werden.
magnetisch gebunden“, aber nicht mehr sicht- Die Einschaltung solcher Programme bei der
bar. Damit ein solcher Text wahrgenommen Herstellung der Textbasis geht über die bisher
und gelesen werden kann, muß er sichtbar dargestellten Möglichkeiten insofern hinaus,
gemacht werden. Sichtbar wird er durch seine als in ihnen Wissen zur Anwendung kommt,
Darstellung auf einem Bildschirm oder auf über das der Schreiber nur unzureichend oder
einem Ausdruck. Also ist auch hier der Zu- überhaupt nicht verfügt. Der Computer ver-
sammenhang zwischen der Erstellung des doppelt in diesem Fall nicht das Wissen des
Textkorpus und seiner Darstellung aufgelöst. Schreibenden, sondern er ergänzt es.
Auf der Trennung der Funktionen beruhen (4) Mindestens ebenso folgenreich wie die
alle Veränderungen, die der Computer für das Einbeziehung von zusätzlichen Programmen
Schreiben mit sich gebracht hat. Es handelt in die Herstellung von Texten dürfte eine Ver-
sich um die folgenden (→ Art. 9; 90). änderung in der Struktur der Textbasis sein:
(1) Wer schreibt, verändert oft das Ge- der „determinierte Charakter, der einen ein-
schriebene. Veränderungen werden zwar am mal erstellten Text für immer in der Wortfolge
Computer über den Bildschirm vorgenom- festlegt, ist prinzipiell auflösbar, indem man
men, doch verändert wird nicht, wie beim statt der starren Fixierung eines Textes auf
herkömmlichen Schreiben, die Textdarstel- dem Papier eine Rechenvorschrift zur Erstel-
lung, sondern die Textbasis. Und weil das so lung des Textes angibt und dadurch dem ‘Le-
ist, können solche Veränderungen in Bruch- ser’ die Möglichkeit zur interaktiven Nutzung
teilen von Sekunden durchgeführt werden, solcher rekombinierenden Algorithmen bie-
ohne größeren Aufwand, genauso schnell und tet. (...) Für den Leser am Bildschirm löst
mühelos wie die Veränderungen, die wir im sich damit die lineare Textfolge auf (...) und
Kopfe vornehmen. der Autor kann nicht mehr eindeutig festle-
(2 ) Wenn wir in Gedanken einen Text kon- gen, wie der Text zu lesen ist. (...) Mit dem
zipiert haben, müssen wir uns entscheiden, Computer steht so ein technisches Potential
wie er dargestellt werden soll: gesprochen zur Erzeugung nichtlinearer und nicht mehr
oder geschrieben; geschrieben mit der Hand vollständig determinierter Texte zur Verfü-
oder mit der Schreibmaschine; nur flüchtig gung“ (Coy 1989, 53 f). Für eine nichtlineare
hingeschrieben oder gleich ins Reine usw. Nutzung der Textbasis werden die folgenden
Schreiben wir mit dem Computer, so bleibt Beispiele angeführt: „die Kombination von im
uns diese Entscheidung nicht erspart, sie ist linearen Raum des Buches entfernt liegenden
nun aber an der Maschine durchzuführen. Textteilen“ (ebd., 55); „das Guide-System, das
Durch eine einfache Schaltung entscheidet der für einzelne Worte den Verweis auf tiefer lie-
Schreiber darüber, wie der ausgedruckte Text gende Texte zuläßt, die die Worte erläutern
aussehen soll: er kann die Schrifttypen, die oder andere Verbindungen zulassen“ (ebd.,
Schriftgrößen, die Formatierung der Text- 60) sowie das System der Hypercard, „das
seite, die Gestaltung der Fußnoten, kurz das eine eigene Programmiersprache (HyperTalk)
gesamte Layout bestimmen. So läßt sich jeder zu vieldimensionalen Verknüpfungen von
Text im Computer druckreif machen und Texten, Graphiken, Bildern und Dateien zu-
ohne Zwischenschaltung von Lektoren, Druk- läßt“ (ebd.). Der traditionell eindimensionale
kern usw. abdrucken.
64 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Text wird zu einem multidimensionalen Text türe. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutsch-
und die Produktion von Texten, also das, was land zwischen feudaler und industrieller Gesell-
früher „Schreiben“ genannt wurde, zu einer schaft. Stuttgart.
Angelegenheit, die sich nicht mehr aus einer Geitner, Ursula. 1992 . Die Sprache der Verstellung.
einzelnen Schreibhandlung ergibt. Studien zum rhetorischen und anthropologischen
Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen.
Giesecke, Michael. 1991. Der Buchdruck in der
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5.  Geschichte des Lesens 65

Müller, Wolfgang. 1981. Topik des Stilbegriffs. Zur Schikorski, Isa. 1990. Private Schriftlichkeit im 19.
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bis zur Gegenwart. Darmstadt. Schlott, Adelheid. 1989. Schrift und Schreiber im
Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro- alten Ägypten. München.
berg. 1991. Frühe Schrift und Techniken der Wirt- Schmidt, Wieland. 1973. Vom Lesen und Schreiben
schaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Infor- im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der deut-
mationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 schen Sprache und Literatur 95, 309—327.
Jahren. 2. Aufl. Berlin. Segelken, Sabine. 1991. Stenographie und Schreib-
Norden, Eduard. 1981. Die antike Kunstprosa vom maschine. Bad Salzdetfurth.
VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renais- Skeat, T.-C. 1956. The Use of Dictation in Ancient
sance. Bd. 2, 8. Aufl. Darmstadt. Book Produktion. Proceedings of the British Aca-
Ong, Walter S. 1987. Oralität und Literalität. Die demy 42, 179—208.
Technologisierung des Wortes. Opladen. Thomas, Rosalin. 1989. Oral Tradition and written
Patze, Hans. 1970. Neue Typen des Geschäfts- Record in Classical Athens. Cambridge.
schriftgutes im 14. Jahrhundert. In: ders. (ed.), Der Trost, Vera. 1986. Scriptorium. Die Buchherstel-
deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert. Bd. 1. lung im Mittelalter. Heidelberg (Heidelberger
Sigmaringen, 9—64. Bibliotheksschriften 25).
Pitz, E. 1898. Fernhandel. In: Lexikon des Mittel- Ulshöfer, Andrea. 1991. Überlegungen zu den me-
alters 4, München/Zürich, 378—382. sopotamischen Listen als Phänomene früher Ver-
Queller, D. 1967. The Office of the Ambassador in schriftlichung. In: Raible, W. (ed.), Symbolische
the Middle Ages. Princeton. Formen, Medien, Identität. Tübingen, 147—169.
Raible, Wolfgang. 1991. Zur Entwicklung von Al- Vezin, J. 1989. La fabrication du manuscrit. In:
phabetschrift-Systemen. Heidelberg (Sitzungsber. Martin, J. & Chartier, R. (ed.). Histoire de l’édition
der Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-hist. Klasse). francaise. Bd. 1. Paris, 21—51.
Rück, Peter. 1988. Ligatur und Isolierung: Bemer- Weber, Manfred. 1969. Beiträge zur Kenntnis des
kungen zum kursiven Schreiben im Mittelalter. Schrift- und Buchwesens der alten Ägypter. Köln.
Germanistische Linguistik 93/94, 111—138. White, Randall. 1989. Visual Thinking in the Ice
—. 1988/1989. Schreiben als Askese und Gottes- Age. Scientific American 261 (1), 74—81.
dienst. Zum Evangeliar Heinrichs des Löwen (um Wilcke, Claus. 1991. Schrift und Literatur. In:
1175). In: alma mater philippina, Marburger Uni- Hrouda, Barthel (ed.), Der alte Orient. Geschichte
versitätsbund, 21—25. und Kultur des alten Vorderasiens. Gütersloh,
Saenger, Paul. 1982 . Silent Reading: Its Impact on 271—297.
Late Medieval Script and Society. Viator 13, 367—
414. Otto Ludwig, Hannover (Deutschland)

5. Geschichte des Lesens

1. Lesen und Verstehen wir, nach und nach zu bestimmen. Lesen ist
2. Fragen, die zu stellen sind eine Tätigkeit. Freilich gilt dies kaum, wenn
3. Materielle Voraussetzungen „lesen“ nur etwas wie ein kurzes Zurkennt-
4. Sechs Lesekulturen nisnehmen ist: man liest auf einem Wegweiser
5. Vorhellenistische Lesekultur „Hauptbahnhof“ oder „Frankfurt“. In „Bud-
6. Hellenistisch-römische Lesekultur denbrooks“, dritter Teil, findet sich eingangs
7. Frühmittelalterliche Lesekultur eine Beschreibung. Die Familie sitzt im Gar-
8. Hochmittelalterliche Lesekultur ten; da heißt es: „Und Klothilde, die mager
9. Frühneuzeitliche Lesekultur und ältlich in ihrem geblümten Kattunkleide
10. Moderne Lesekultur dasaß, las eine Erzählung, welche den Titel
11. Fragen und Schwierigkeiten trug: ‘Blind, taub, stumm und dennoch glück-
12. Literatur selig’ “. Hier ist Lesen zweifellos eine Tätig-
keit. Anders jedoch wenige Zeilen später: An-
ton, der Diener, kommt über den Hof, auf
1. Lesen und Verstehen dem Teebrett eine Visitenkarte; man sieht ihm
Was ist das — lesen? Die Frage ist nicht so erwartungsvoll entgegen. „‘Grünlich, Agent’,
leicht zu beantworten, wie es scheint. Suchen las der Konsul. ‘Aus Hamburg. Ein angeneh-
5.  Geschichte des Lesens 65

Müller, Wolfgang. 1981. Topik des Stilbegriffs. Zur Schikorski, Isa. 1990. Private Schriftlichkeit im 19.
Geschichte des Stilverständnisses von der Antike Jahrhundert. Tübingen.
bis zur Gegenwart. Darmstadt. Schlott, Adelheid. 1989. Schrift und Schreiber im
Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro- alten Ägypten. München.
berg. 1991. Frühe Schrift und Techniken der Wirt- Schmidt, Wieland. 1973. Vom Lesen und Schreiben
schaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Infor- im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der deut-
mationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 schen Sprache und Literatur 95, 309—327.
Jahren. 2. Aufl. Berlin. Segelken, Sabine. 1991. Stenographie und Schreib-
Norden, Eduard. 1981. Die antike Kunstprosa vom maschine. Bad Salzdetfurth.
VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renais- Skeat, T.-C. 1956. The Use of Dictation in Ancient
sance. Bd. 2, 8. Aufl. Darmstadt. Book Produktion. Proceedings of the British Aca-
Ong, Walter S. 1987. Oralität und Literalität. Die demy 42, 179—208.
Technologisierung des Wortes. Opladen. Thomas, Rosalin. 1989. Oral Tradition and written
Patze, Hans. 1970. Neue Typen des Geschäfts- Record in Classical Athens. Cambridge.
schriftgutes im 14. Jahrhundert. In: ders. (ed.), Der Trost, Vera. 1986. Scriptorium. Die Buchherstel-
deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert. Bd. 1. lung im Mittelalter. Heidelberg (Heidelberger
Sigmaringen, 9—64. Bibliotheksschriften 25).
Pitz, E. 1898. Fernhandel. In: Lexikon des Mittel- Ulshöfer, Andrea. 1991. Überlegungen zu den me-
alters 4, München/Zürich, 378—382. sopotamischen Listen als Phänomene früher Ver-
Queller, D. 1967. The Office of the Ambassador in schriftlichung. In: Raible, W. (ed.), Symbolische
the Middle Ages. Princeton. Formen, Medien, Identität. Tübingen, 147—169.
Raible, Wolfgang. 1991. Zur Entwicklung von Al- Vezin, J. 1989. La fabrication du manuscrit. In:
phabetschrift-Systemen. Heidelberg (Sitzungsber. Martin, J. & Chartier, R. (ed.). Histoire de l’édition
der Heidelberger Ak. d. Wiss., Philos.-hist. Klasse). francaise. Bd. 1. Paris, 21—51.
Rück, Peter. 1988. Ligatur und Isolierung: Bemer- Weber, Manfred. 1969. Beiträge zur Kenntnis des
kungen zum kursiven Schreiben im Mittelalter. Schrift- und Buchwesens der alten Ägypter. Köln.
Germanistische Linguistik 93/94, 111—138. White, Randall. 1989. Visual Thinking in the Ice
—. 1988/1989. Schreiben als Askese und Gottes- Age. Scientific American 261 (1), 74—81.
dienst. Zum Evangeliar Heinrichs des Löwen (um Wilcke, Claus. 1991. Schrift und Literatur. In:
1175). In: alma mater philippina, Marburger Uni- Hrouda, Barthel (ed.), Der alte Orient. Geschichte
versitätsbund, 21—25. und Kultur des alten Vorderasiens. Gütersloh,
Saenger, Paul. 1982 . Silent Reading: Its Impact on 271—297.
Late Medieval Script and Society. Viator 13, 367—
414. Otto Ludwig, Hannover (Deutschland)

5. Geschichte des Lesens

1. Lesen und Verstehen wir, nach und nach zu bestimmen. Lesen ist
2. Fragen, die zu stellen sind eine Tätigkeit. Freilich gilt dies kaum, wenn
3. Materielle Voraussetzungen „lesen“ nur etwas wie ein kurzes Zurkennt-
4. Sechs Lesekulturen nisnehmen ist: man liest auf einem Wegweiser
5. Vorhellenistische Lesekultur „Hauptbahnhof“ oder „Frankfurt“. In „Bud-
6. Hellenistisch-römische Lesekultur denbrooks“, dritter Teil, findet sich eingangs
7. Frühmittelalterliche Lesekultur eine Beschreibung. Die Familie sitzt im Gar-
8. Hochmittelalterliche Lesekultur ten; da heißt es: „Und Klothilde, die mager
9. Frühneuzeitliche Lesekultur und ältlich in ihrem geblümten Kattunkleide
10. Moderne Lesekultur dasaß, las eine Erzählung, welche den Titel
11. Fragen und Schwierigkeiten trug: ‘Blind, taub, stumm und dennoch glück-
12. Literatur selig’ “. Hier ist Lesen zweifellos eine Tätig-
keit. Anders jedoch wenige Zeilen später: An-
ton, der Diener, kommt über den Hof, auf
1. Lesen und Verstehen dem Teebrett eine Visitenkarte; man sieht ihm
Was ist das — lesen? Die Frage ist nicht so erwartungsvoll entgegen. „‘Grünlich, Agent’,
leicht zu beantworten, wie es scheint. Suchen las der Konsul. ‘Aus Hamburg. Ein angeneh-
66 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

mer, gut empfohlener Mann, ein Pastorssohn blitzte drin von Lieb’ und Glück ein Schein
... Sage dem Herrn ... er möge sich hierher ...“ (Victor von Scheffel). Oder dann die
bemühen’“. Bei diesem Lesen mag man von große, rekurrente Metapher vom „Lesen im
„Tätigkeit“ kaum reden; trotzdem geht es um Buch der Natur“, die eigentlich der Renais-
Lesen. Was uns jedoch, wenn von der Ge- sance zugehört, sich aber schon im Mittelalter
schichte des Lesens die Rede ist, interessieren findet: „omnis mundi creatura / quasi liber,
muß, ist Lesen als Tätigkeit: ein Vorgang von et pictura — nobis est et speculum“ (Alain
einiger Dauer und Konzentration; das Inter- de Lille, zit. bei Illich, 1991, 132 ; dann etwa
esse wendet sich dem Geschriebenen zu, Descartes, Discours de la méthode, Ende 1.
gleichzeitig vom Umgebenden ab. Teil: „étudier dans le livre du monde“, Des-
Ferner: lesen ist eine menschliche, schärfer: cartes sagt also „studieren“, nicht „lesen“,
eine dem Menschen s p e z i f i s ch e Tätigkeit; und er sagt „Welt“, nicht „Natur“). Hier geht
kein Tier liest, und nicht allein deshalb nicht, es überall um Übertragung. Auch etwa in dem
weil kein Tier schreibt (denkbar wäre ja, weil witzigen Carlo Schmid zugeschriebenen Satz
eine gewisse Getrenntheit hier vorliegt, daß über die Beschäftigung mit Illustrierten:
ein Tier zwar lesen, nicht aber schreiben „Man liest die Bilder und sieht den Text an“.
könnte). Mag man zögern, ob man bestimm- Lesen kann man ja Bilder gerade nicht, und
ten Tiergattungen Sprache in jeder Hinsicht Texte kann man nicht ansehen; auch „anse-
absprechen soll (es ist dies auch eine Frage hen“ ist hier metaphorisch und zwar für
der Definition), wenn es aber um Lesen geht, „flüchtig lesen“. Somit: „lesen“ bezieht sich
ist die Antwort klar. stets auf etwas Geschriebenes; alle anderen
Sodann: es geht beim Lesen um eine ge i - Verwendungen sind von daher analogisch
st i ge Tätigkeit, obwohl sie auf das engste an übertragen.
Materielles gebunden und auf Materielles ge- Schließlich und vor allem setzt „Lesen“
richtet ist. Weiter: es ist eine k u l t u r e l l e Tä- einen Nachvollzug voraus und zwar zumin-
tigkeit; das heißt: es ist historisch. Es ist nicht dest einen a n s a t z we i s e n . Denn dies ist
nur historisch überformt (in-formiert), wie wichtig: einerseits wird ein solcher Nachvoll-
dies wohl für alles Menschliche gilt, sogar zug durch den Begriff „lesen“ selbst voraus-
zum Beispiel für ein zunächst so eminent „na- gesetzt, andererseits reicht es bereits, wenn
türlich“ erscheinendes Phänomen wie das des dieser nur ansatzweise vorhanden ist. Man
Sexuellen. Das Lesen ist also nicht nur kul- kann dies natürlich auch „Informationsverar-
turell überformt, es ist kulturell durch und beitung“ nennen. „Lesen“ impliziert also Ver-
durch, und zwar in einer noch radikaleren stehen, weshalb neuerdings, nicht allein im
Weise als das Sprechen. Dies impliziert: das Deutschen, dieses Verb einfach synonym zu
Lesen vollzieht sich in einer spezifischen „Verstehen“ verwendet wird, zum Beispiel,
Form, die historisch geworden und dem wenn jemand sagt: „man kann diesen Text
Wechsel unterworfen ist und die man als Ein- auch sozialkritisch lesen“ oder einfach „man
zelner gelernt haben muß. Dieses Lernen ist kann das Buch auch so lesen“ (was übrigens
dabei in einem doppelten Sinne zu nehmen: irreal ist — in Wirklichkeit laufen beim Lesen
einmal geht es um die schiere Technik des mehrere „Verständnisse“ nebeneinander her).
Entzifferns, die man mehr oder weniger früh Auch würde man die Frage „Lesen Sie Rus-
erwirbt (in Deutschland später, in aller Regel, sisch?“ schwerlich als in dem Sinne gemeint
als in den romanischen Ländern), dann um verstehen, daß es hier lediglich um die laut-
das Lernen des Lesens in einem inhaltlicheren, liche Entzifferung der kyrillischen Alphabet-
quantitativ und qualitativ spezifizierten Sinn. Zeichen ginge. Ein bemerkenswertes bibli-
Goethe: „Die guten Leutchen wissen nicht, sches Beispiel: die Erzählung von jenem
was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um Äthiopier, einem hohen Beamten, dem „Käm-
lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu merer aus dem Mohrenland“, wie er bei Lu-
gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, ther heißt, den der Apostel Philippus lesend
daß ich am Ziel wäre“ (Gedenkausgabe der antrifft (Apostelgeschichte 8, 2 8—35): „Er
Werke, Briefe und Gespräche, ed. Beutler, saß auf seinem Wagen und las den Propheten
Zürich, 1949, 24, 709). Jesaja. Und der Geist sagte zu Philippus: Geh
Gegenstand des Lesens, sodann, ist etwas und folge diesem Wagen! Philippus lief hin
Geschriebenes. Man verwendet „lesen“ zwar und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da
auch im Blick auf anderes als Geschriebenes; sagte er: Verstehst du auch, was du liest? Jener
aber diese Verwendung ist nur metaphorisch: antwortete: Wie könnte ich es, wenn mich
„In deinen Augen hab ich einst gelesen, / Es niemand anleitet?“. Und nun erklärt Philip-
5.  Geschichte des Lesens 67

pus die fragliche Stelle, legt sie aus, sagt dem mit nicht genug. Die Situation zeigt sich
Äthiopier, wer hier gemeint ist. Wichtig schließlich als noch komplexer: das „Meinen“
hieran ist für uns dies: einerseits liest der eines Texts und sein „Verstehen“ können ja
Äthiopier bereits, er versteht irgendetwas, auch in einem weiteren und nun gleichsam
versteht insoweit den Text. Er muß aber noch o b j e k t i ve n Sinne genommen werden: ein
zum r i ch t i ge n Verstehen gebracht werden. Text kann objektiv, t a t s ä ch l i ch etwas sagen,
Prinzipiell ist das Verstehen unabschließbar. das in der Intention (in deren bewußten und
Das heißt: es gibt natürlich Äußerungen, die unbewußten Elementen) beim Autor mitnich-
abschließbar, ohne irgendeine Offenheit ver- ten war. „Objektiv“ kann hier aber nur mei-
stehbar sind, aber prinzipiell ist bei jeder nen „unabhängig vom Autor“, denn jedes
Äußerung mit solcher Unabschließbarkeit zu Meinen und Verstehen ist an ein Subjekt ge-
rechnen. bunden: es gibt beide nur innerhalb von Sub-
Wir stoßen also hier auf das äußerst jektivität.
schwierige Problem des Verstehens, das sich All dies kann und muß Lesen involvieren.
bei Geschriebenem sehr anders als beim Ge- Also wirklich nichts Einfaches ... Karl Vossler
sprochenen stellt, schon weil man in aller Re- sagt einmal pathetisch: „Ein ähnliches Gefühl
gel nicht zurückfragen kann „Wie meinst du beschleicht uns, wenn von den Galerien einer
das?“ (nämlich dann, wenn der Autor nicht großen Bibliothek vieltausend Bände auf uns
oder — als Verstorbener — definitiv nicht niederblicken, von denen jeder doch ein Ge-
mehr greifbar ist). Verstehen heißt hier: Re- schöpf eines ringenden, sich abarbeitenden
konstruktion dessen, was dem Autor als Mei- Menschen ist, der angehört und verstanden
nung vorschwebte, bevor und während er und durch uns, die wir lebendig sind, erlöst
schrieb. Es geht um seine Intention. Verstehen sein möchte aus seinen toten Papieren und
ist hier wirklich ein Zwischen-Lesen, inter- Buchstaben und wieder aufleben mit s e i n e r
legere , bildlich geredet: die zu ermittelnde In- in m e i n e r Seele“ (Die Universität als Bil-
tention ist hier gerade nicht im materiell Er- dungsstätte, Vortrag, 15. 12 . 192 2 , München
scheinenden, sondern in dem, was z w i s ch e n 192 3, 3). Wer liest, in der Tat, bietet sein
ihm ist. Sie ist gleichsam im Leeren; man liest lebendes Bewußtsein (es gibt nur lebendes Be-
immer „zwischen den Zeilen“. Jene Intention wußtsein) dem toten Geschriebenen an, auf
kann in eine Reihe von Elementen auseinan- daß es sich in ihm erneut realisiere. Was ist
dergefaltet werden, denn sie ist in der Tat ein Text, den niemand liest? Er ist doch ei-
zusammengesetzt: da ist einmal die Intention gentlich bloß etwas Materielles. Lesen ist im-
im Sinne der Bühlerschen Aufteilung in „Dar- mer Rekonstruktion, geradezu: Wiederaufer-
stellung“, „Ausdruck“ und „Appell“. Hinzu- stehung — und durchaus von Totem.
kommen aber zumindest zwei weitere Inten- Wichtig ist demnach, daß Lesen einerseits
tionselemente: der Text fügt sich ein (oder Verstehen impliziert, andererseits aber ein an-
w i l l dies) in eine bestimmte Diskurstradition, satzweises Verstehen schon genügt. Man kann
er will, formal und inhaltlich, einen bestimm- etwa sagen: ich habe es gelesen, aber nicht
ten vorgegebenen Texttyp realisieren oder ab- richtig, nicht ganz, gar nicht verstanden. Selbst
wandeln (was auch eine Realisierung ist). So- aber wenn wir sagen gar nicht meinen wir,
dann kann der Text bestimmte andere Texte daß wir doch etwas verstanden haben, etwa
als Vorbild haben: das Phänomen, also, das — ungefähr — worum es geht. Dies entspricht
man mit dem von Kristeva eingeführten Ter- dem alltagssprachlichen Gebrauch von „le-
minus „Intertextualität“ zu fassen sucht; be- sen“. Für die wissenschaftliche Verwendung,
stimmte Texte können als Vorbilder fungie- jedenfalls für unseren Zweck, haben wir je-
ren, als positive oder „negative“ Vorbilder doch ein Interesse, zwei Arten von Lesen zu
(mein Text soll so sein wie der Text A ..., unterscheiden: erstens ein Lesen mit Verständ-
oder: so wie der Text A soll meiner gerade nis zumindest in jenem ansatzweisen Sinne,
auf keinen Fall sein), und es gibt natürlich also ein gleichsam s e m a n t i s c h e s Lesen (Le-
noch andere intertextuelle Gegebenheiten. sen 1), zweitens ein Lesen im Sinne der puren
Dies alles, die drei Bühlerschen und die beiden Fähigkeit zu vokalisieren, der Fähigkeit, das
anderen Intentionen, läßt sich unter „Inten- Geschriebene zu Gehör zu bringen, ein bloß
tion“ insgesamt subsumieren. Intention ist, l a u t l i c h e s Lesen (Lesen 2). Wenn es um eine
was ein Text „meint“. Die Komplexität ver- Fremdsprache geht, ist das Lesen im letzteren
größert sich nun aber dadurch erheblich, daß Sinne bereits eine nicht unbeträchtliche Fer-
zu den bewußten Elementen unbewußte Ele- tigkeit: jemand kann etwas mehr oder weniger
mente in aller Regel hinzukommen. Aber da- lautkorrekt vorlesen; er kann es lesen in einem
68 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

phonetischen Sinne, wenn er es unter Um- buchs herauszuheben: ein Buch dient zur Ein-
ständen auch gar nicht — nicht einmal in führung in eine wissenschaftliche Disziplin.
dem zuvor vorausgesetzten ansatzweisen Wissenschaftliche Lektüre hat den Charakter
Sinne — versteht. Was wir „Lesen 1“ nennen, der Arbeit, obgleich auch hier das Element
kann sich ausbilden zu einer regelrechten Unterhaltung keineswegs zu fehlen braucht;
Kunst im Sinne literarischen oder wissen- die Elemente Vergnügen und geistige Berei-
schaftlichen oder lebenstechnischen Umgangs cherung fehlen ohnehin nicht. Bei den soge-
mit Geschriebenem. „Umgang“ — in der Tat nannten Sachbüchern geht es um die Ver-
kann man mit Geschriebenem, mit Büchern mittlung von Wissen nach außen, wobei —
„umgehen“ beinahe wie mit einem Menschen sehr oft übersehen — zu beachten ist, daß
... Und das g u t e Lesen hat einen quantita- auch gerade der Wissenschaftler zu diesem
tiven, vor allem aber auch einen qualitativen „außen“ gehört, wenn nämlich die entspre-
Aspekt: der gute Leser liest erstens nicht we- chende Materie nicht die seines Faches ist: so
nig, zweitens (in verschiedener Weise) Gutes, dienen auch solche Bücher für „Außenste-
drittens liest er Gutes gut, in angemessener hende“ nicht selten wissenschaftlichem Aus-
Weise, und viertens bedarf er, besonders beim tausch. Austausch ist übrigens auch für die
wissenschaftlichen Lesen, eines gesunden, „schöne“ Literatur von Bedeutung, freilich in
streng auswählenden Egoismus, um zu dem ganz anderer Weise (der genannte Begriff der
zu kommen, was er in den jeweiligen Zusam- „Intertextualität“ gehört hierher). Dann kann
menhängen, die ihn beschäftigen, braucht es um Schriften gehen, die eine Fertigkeit
(hierüber Weinrich 1984). Eine schöne Be- wissenschaftlicher oder außerwissenschaftli-
stimmung des Lesens — im Sinne eines Ge- cher Art zu vermitteln suchen, also nicht ein
sprächs — findet sich bei Descartes: „la lec- Wissen theoretischer Art, sondern ein Kön-
ture de tous les bon livres est comme une nen, ein knowing how, nicht ein knowing that.
conversation avec les plus honnêtes gens des Schließlich gibt es Schriften, die der religiösen
siècles passés, qui en ont été les auteurs, et Erbauung oder Erweckung oder — allgemei-
même une conversation étudiée, en laquelle ner — spirituell religiöser Anleitung dienen.
ils ne nous découvrent que les meilleures de Sie sind, wie immer geartet, gegenüber der
leurs pensées“ (Discours de la méthode, Er- „schönen“ und der wissenschaftlichen Lite-
ster Teil). ratur eindeutig etwas verschiedenes Drittes,
obwohl sie sich oft wissenschaftlich oder ge-
radezu a l s Wissenschaft geben.
2. Fragen, die zu stellen sind Dem Kriterium “ wo ?“ mag hier geringere
Die Geschichte des Lesens kann verfolgt wer- Bedeutung zukommen; es spielt aber seine
den nach dem bekannten, als Hexameter Rolle: lesen zu Hause, auf Reisen, im Freien,
skandierten Frageraster: quis? quid? ubi? qui- in einer Bibliothek. Immerhin setzt intensives
bus auxiliis? cur? quomodo? quando? Lesen Stille voraus, wird jedenfalls durch
Also zunächst: we r liest? Was sind dies Stille stark gefördert, weil diese jene Abkehr
jeweils für Menschen, die lesen? Zwei äußer- von der Außenwelt und den Rückzug auf das
liche Voraussetzungen müssen ja zusammen- eigentümliche Gespräch mit dem zugleich re-
kommen: man muß lesen können (lesen 1) denden und doch stummen Autor — ein Ge-
und muß über Geschriebenes verfügen. Bei- spräch im Lesenden selbst — erleichtert.
des, besonders das letztere, hängt auch mit Diese Abkehr gehört zum Lesen, weshalb es
Wohlstand zusammen; es gilt weit mehr als eine Unhöflichkeit ist oder sein kann zu lesen,
für heute für frühere Zeiten. wenn ein Anwesender mit einem reden will.
Dann: wa s wird gelesen? Hier nun sind die Stille, also, als fördernde, wenngleich keines-
Arten des Geschriebenen zu unterscheiden. Es wegs notwendige Voraussetzung des Lesens.
gibt „schöne“ Literatur, die gelesen wird zur Bei der Frage “ m i t we l ch e n M i t t e l n ?“
Unterhaltung und zur (wie immer gearteten) geht es um die Art der Vervielfältigung und
geistigen Bereicherung, dann wissenschaft- der Verbreitung (Verlage, Vertrieb, Bibliothe-
liche Literatur, die dem Austausch der Wis- ken).
senschaftler und Gelehrten untereinander Die Frage “ wa r u m ?“ hängt mit den Arten
dient (und der geistigen Bereicherung natür- des Geschriebenen zusammen. Bereits Francis
lich auch). Da Wissenschaft ein kollektiv Bacon unterscheidet, einigermaßen vollstän-
kommunikatives Unternehmen ist, ist Aus- dig, drei Gründe, die einen zum Lesen brin-
tausch hier essentiell — geradezu condicio sine gen: die Suche nach delight, nach ornament
qua non. Hier ist der besondere Fall des Lehr- und nach ability, wobei die „innere Bereiche-
5.  Geschichte des Lesens 69

rung“ unter ornament subsumiert werden scheint. Auch dies gehört zu den materiellen
kann. Man liest also, weil es Vergnügen be- Bedingungen (→ Art. 8). Schicken wir, was
reitet, dann um sich geistig zu bereichern, hier zu sagen ist, voraus! Was wir zunächst
oder endlich um eine Fertigkeit zu erwerben. antreffen, sind Papyrusrollen. Sie wurden ge-
Bemerkenswert, daß hier die für unsere Le- fertigt aus dem Mark der Stengel der Papy-
sekultur so kennzeichnende Aufspaltung in russtaude, Cyperus Papyrus, und bestanden
„schöne Literatur“ einerseits, „wissenschaft- aus zusammengeklebten Blättern. Die Rollen
liche Literatur“ und „Sachbücher“ anderer- waren in der Regel fünf bis zehn Meter lang
seits noch kaum angelegt ist. und fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter
Was nun das “ W i e “ des Lesens angeht, so breit; sie wurden abgewickelt von rechts nach
ist zu unterscheiden einmal das individuelle links, und der Text war in Kolumnen ge-
Lesen und das kollektive, welch letzteres in schrieben. Eine solche Rolle konnte man also
der Weise geschieht, daß einer einem anderen schon rein materiell nicht so lesen wie ein
oder vielen anderen vorliest, wobei unter Buch: „Unsere Haltung, auf einem Stuhl vor
Umständen das Lesen zu zweit wiederum einem Tisch zu sitzen und darauf zu lesen,
spezifisch ist. Sodann ist zu unterscheiden war der Antike unbekannt“ (Schön 1987, 31).
ein lautes Lesen, das vom Lauten bis zum Der Papyrus blieb bis ins 9. Jahrhundert
gerade noch Vernehmbaren, schließlich zur n. Chr. im Gebrauch, wurde aber ab 2 00
stummen, aber sichtbaren Bewegung der Ar- n. Chr. mehr und mehr durch das Pergament
tikulationsorgane gehen kann (entscheidend verdrängt. Hier handelte es sich um Blätter
ist also die Artikulation) und ein stummes, aus ungegerbter, geglätteter Tierhaut. Natür-
nicht mehr artikuliertes, „subvokales“ Lesen. lich waren sie ungleich dauerhafter als der
Schließlich ein langsames und ein schnelles, Papyrus, und vor allem wurde nun das Buch,
sich unter Zeitdruck setzendes, ein „diago- der Kodex, ermöglicht, wenngleich es hier
nales“, nämlich Einschlägiges oder in anderer meist — durchaus nicht immer — um ein
Weise Wichtiges s u ch e n d e s Lesen, welch großes, also relativ unhandliches Format
letzteres eine spezifische Fertigkeit darstellt ging; es gab nämlich früh auch kleinere For-
(hierüber Weinrich 1984). Verfolgen wir das mate, so daß sich hier, wiederum rein vom
Lesen mit diesen Kriterien durch die Ge- Materiellen her, das Lesen veränderte.
schichte! Zwischen dem 12 . und dem 14. Jahrhun-
Seit wa n n wird gelesen? Auch diese Frage dert endlich breitete das Papier sich aus. Die
ist nicht so leicht zu beantworten, wie es zu- Erfindung geht auf China zurück (100
nächst scheint. Natürlich koinzidiert der Be- n. Chr.), sie gelangte von dort in den arabi-
ginn eigentlichen Lesens mit dem Beginn ei- schen Kulturkreis und auf diesem Weg nach
gentlichen Schreibens. Hier haben wir nun Spanien; von dort aus breitete sie sich über-
zwei Einsätze: Sumer 3300 v. Chr. und Ägyp- allhin aus. Papier wurde aus Lumpen herge-
ten 3000 v. Chr. (→ Art. 4). Es ist jedoch zu stellt, erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts
beachten, daß es bildartige Darstellungen von gelang die Herstellung aus Holz. Das leere,
Gegenständen und Sachverhalten schon viel, dem Schreiben dienende, dann das beschrie-
viel früher gab. Wir müssen da bis 35 000 bene oder bedruckte Papier wurde zu dem,
v. Chr. zurückgehen. Hier ist in der Tat eine was es bis heute, wenngleich mit Einbrüchen,
Art von „visuellem Denken“ vorauszusetzen ist: das grundlegende Kulturmittel. Man muß
(Ludwig), das j a übrigens auch die „archai- sich die materiellen Bedingungen des Lesens
sche Ausdrucksweise“ (Freud) des „manife- insgesamt klarmachen, weil sie das Wie des
sten“ Traums bestimmt. Auch diese Darstel- Lesens mitbedingen (hoher Preis, Unhand-
lungen mußten in gewissem Sinn durchaus lichkeit, Lesestäbe, Lesepulte, Vorrichtungen
„gelesen“ werden. Doch steht an dieser Stelle anderer Art).
nur das Lesen zur Debatte, das dem eigent- Hinzu kam um 1400 der Holzschnitt, um
lichen Schreiben entspricht, wenngleich die 1450 der Kupferstich, also zeitgleich mit der
Koppelung keineswegs so eng ist, wie man Erfindung des Buchdrucks (Vervielfältigung
von heute aus schließen möchte. mit Hilfe beweglicher Lettern aus Metall)
durch Johann Gutenberg oder Gensfleisch.
Mit Recht hebt Schön hervor, daß diese Er-
3. Materielle Voraussetzungen findung „im historischen Moment nicht jenes
umwälzende technische Faktum war, welches
Die Art des Lesens ist auch mitbedingt durch revolutionäre Veränderungen des Buchwesens
das Material (und seine Aufbereitung), auf verursachte und mit einem Schlage eine Buch-
dem das Geschriebene (oder Gedruckte) er-
70 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

und Lesekultur erschuf, als das sie von geläu- schen diesen Kulturen und der sogenannten
figen Vorstellungen gern gesehen wird“. Al- abendländischen. Doch bereitet es bei jenen
lerdings: „Möglich wurden nun gleichförmige Kulturen noch ungleich größere Schwierig-
Editionen nach den Bedürfnissen der Gelehr- keiten, sie von außen her nachzuvollziehen,
ten, ohne die bisherige Unzuverlässigkeit der sich in sie einzuleben, weil hierfür — für uns
Abschreiber, schnellere, zahlreichere und da- — entscheidende Voraussetzungen fehlen. Es
mit bald auch billigere Ausgaben ...“ (Schön ist für die früheren Zeiten abendländischer
1987, 35 f). Daß die Erfindung des Buch- Lesekultur schon schwer genug. Im übrigen
drucks so bedeutsam nicht war, ist nunmehr gibt es hier keine Kontinuität; für Amerika
so oft gesagt worden, daß es wichtig wird zu gilt es ohnehin, es gilt aber auch für Ostasien;
betonen, daß sie trotz allem keineswegs un- im Falle Ägyptens mag es sich anders ver-
erheblich war. Nur muß man dies sehen: halten. Für Europa darf und muß gesagt wer-
große geistige Erneuerungen machten zu frü- den, daß auch hier das Neue in Griechenland
heren Zeiten auch ohne dieses Mittel rasch beginnt. Wobei freilich dies Neue aus dem
ihren Weg. Es ist also verfehlt, etwa den „Er- Vorderen Orient stammt. Schreiben und Le-
folg“ der Reformation durch den Buchdruck sen kamen im 8. Jahrhundert v. Chr. nach
mitzuerklären, ganz abgesehen davon, daß Griechenland aus Phönizien; die Buchstaben
dies Mittel ja auch der anderen Seite zur Ver- hießen einige Zeit hindurch, in Griechenland,
fügung stand und auch von dieser bald ge- „die phönikischen“ (Zeichen). Unsere Skizze
braucht wurde. Weitere wichtige Stationen ist zudem, auch innerhalb Europas, auf die
sind: Flachdruck (Lithographie), um 1800, „großen“ Sprachräume hin orientiert; anders
die mechanische Papierherstellung, ebenfalls sieht es vielfach bei den „kleineren“ Sprachen
um 1800, nur wenig später die Zylinder- aus, dem Rumänischen etwa oder auch, wie-
druckmaschine („Schnellpresse“), die Setz- der nur als Beispiel, dem Galegischen in
maschine (1872 ), die es ermöglichte, sieben- Nordwestspanien.
tausend Buchstaben pro Stunde zu setzen (mit Wir unterscheiden, im Raum der Zeit, ins-
der Hand bis dahin ungefähr zweitausend), gesamt sechs verschiedene Lesekulturen. Er-
dann, ebenfalls 1872 , die Rotationsmaschine, stens die vorhellenistische Lesekultur, die bis
die bis zu vierundzwanzigtausend Abdrucke 400 v. Chr. dauerte. Zweitens die hellenistisch-
pro Stunde ermöglichte (in den Vereinigten römische Lesekultur von 400 v. Chr. bis 500
Staaten gab es sie schon zehn Jahre früher), n. Chr.; sie ist die längste und dauerte über
schließlich die Falzmaschine (1890, alle diese tausend Jahre. Drittens die frühmittelalterli-
Angaben nach Schön 1987, 51 f). Insgesamt: che Lesekultur von 800—1150; es ist da also,
das Materielle ist auch hier wichtig, es sollte zwischen der zweiten und dritten Lesekultur,
aber, auch hier, in seiner Bedeutung, seinem eine undeutliche Lücke von rund dreihundert
Gewicht für das Geistige nicht überschätzt Jahren. Der frühmittelalterlichen schließt sich
werden. Man kann ja in gewissem Sinne auch viertens die kurze hoch- und spätmittelalter-
jeweils umgekehrt sagen: diese Erfindungen liche Lesekultur an, die um 1300 endet. Fünf-
wurden gemacht und ins Werk gesetzt, weil tens die frühneuzeitliche Lesekultur von 1300
sie „geistig“ gebraucht wurden. bis 1800. Schließlich, sechstens, die moderne
Lesekultur, die im 18. Jahrhundert beginnt
und sich von da an nur noch ausweitet und
4. Sechs Lesekulturen intensiviert mit einem Einbruch oder sich ab-
Wenn wir die komplexe Geschichte des Lesens zeichnenden oder zu vermutenden Umbruch
durchlaufen, ist es sinnvoll, zumindest sechs in unseren Jahrzehnten. Dies gilt es nun, im
verschiedene Lesekulturen zu unterscheiden. Einzelnen, wenngleich skizzenhaft, auszufüh-
Sie gehören in verschiedene Kulturwelten, ren.
verschiedene kulturelle Zusammenhänge, die
sich in vieler Hinsicht voneinander unter-
scheiden, wobei aber ein jeweils spezifischer 5. Vorhellenistische Lesekultur
Stellenwert d e s L e s e n s gerade konstituie- Die vorhellenistische Lesekultur umfaßt die
rend beiträgt zur Verschiedenheit jener Kul- hohe Zeit des Griechentums. Insofern ist die
turwelten. Gewiß ist übrigens unsere Skizze relative und gleichsam negative Kennzeich-
eurozentrisch. Eine Geschichte des Lesens nung „vorhellenistisch“ leicht irreführend.
müßte auch Altamerika und Ostasien, auch Doch gilt es, sich zu verständigen. Erst die
etwa Ägypten, miteinbeziehen (→ Kap. IV). hellenistische Kultur brachte nämlich eine
Es gibt sicher auch Gemeinsamkeiten zwi- wirkliche Entfaltung des Lesens. Für die vor-
5.  Geschichte des Lesens 71

hellenistische Zeit war die Bedeutung des Le- aus. Schrift- und Sprachskepsis treten im Ju-
sens gering. Das eigentliche Mittel der Bil- dentum wie auch im Christentum erst nach-
dung war da keineswegs das Lesen, sondern biblisch, etwa in der jüdischen und christli-
der Vortrag, öffentlich oder nicht, vor einem chen Mystik, auf. Das Vertrauen in das Auf-
mehr oder weniger großen (oder kleinen) geschriebene erscheint besonders eindrucks-
Kreis; auch das Einzelgespräch spielte eine voll in einer im Alten Testament im 2 . Buch
erhebliche Rolle. Funktion des Lesens war Könige 2 2 berichteten Episode: hier wird er-
vorwiegend, dem Memorieren Hilfe zu bieten. zählt von der Auffindung des Gesetzbuches
Der aufgeschriebene Text war Hilfsmittel für unter König Joschija anläßlich von Repara-
das Memorieren, dem größte Bedeutung zu- turen am Tempel. Der Hohepriester Hilkija
kam. Zwar veränderte sich die Kultur grund- findet das Gesetzbuch, übergibt es dem
legend durch die Anwesenheit der Schrift, sie Staatsschreiber Schafan, der es dem König
blieb jedoch wesentlich mündlich. Hierzu ge- vorliest. Dieser zerreißt, nachdem er es gehört
hört, daß die Literatur jener Welt keineswegs hat, seine Kleider und weint: „Der Zorn des
zum Lesen gedacht, sondern zum freien, nicht Herrn muß heftig gegen uns entbrannt sein,
manuskriptgestützten Vortrag. weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches
Überaus bemerkenswert ist in diesem Zu- nicht gehört und weil sie nicht getan haben,
sammenhang auch die Schrift- und also Lese- was in ihm niedergeschrieben ist“. Gerade
skepsis des klassischen Griechentums, wie sie wenn, wie zu vermuten, diese Episode spätere
insbesondere bei Platon hervortritt. Im „Phai- Konstruktion ist, ist sie für unseren Zusam-
dros“ läßt Platon den Sokrates seine Ein- menhang lehrreich: sie zeigt die außerordent-
wände gegen die Schriftlichkeit darlegen liche Bedeutsamkeit, die der schriftlichen Auf-
(2 74 c—2 77 a): Schrift führe zu einer Schwä- bewahrung und der durch diese gewährleiste-
chung des Gedächtnisses, und zwar eben weil ten genauen Reproduzierbarkeit zugemessen
sie das Gedächtnis „stütze“; gerade die wird. Ein aufgeschriebenes Gesetz ist ein stän-
Stützung des Gedächtnisses führe zu seiner dig bereitliegender Maßstab für das Verhalten
Schwächung; wirkliche Belehrung sei nur und seine Beurteilung (→ Art. 46). Zu erin-
dialogisch möglich, wenn also der Belehrte nern ist hier namentlich auch daran, daß es
und der Lehrende zurückfragen können, bis Jahwe selbst ist, der den Dekalog auf die
der Belehrte weiß, daß er richtig verstanden beiden doppelseitig beschriebenen Tafeln
hat, und der Lehrende, daß er richtig ver- schreibt: „Die Tafeln hatte Gott selbst ge-
standen wurde; das Geschriebene hingegen macht, und die Schrift, die auf den Tafeln
zeichne sich durch irritierende, dialogfremde eingegraben war, war Gottes Schrift“ (Exodus
„Stummheit“ aus, es wiederhole gleichsam 32 ). Die weitergehenden Weisungen schreibt
nur immer sich selbst; zudem gerate das Ge- dann Mose auf, übergibt das Aufgeschriebene
schriebene — dies ist für Platon überaus wich- zur sicheren Verwahrung den Leviten, ordnet
tig — leicht in Hände, für die es nicht gedacht zusätzlich an, daß das Aufgeschriebene alle
war, in die Hände von Köpfen, die es nicht sieben Jahre bei der Zusammenkunft im
verstehen können oder es falsch verstehen Laubhüttenfest „laut vorgetragen“ werde,
müssen, was auf dasselbe hinausläuft; auf schließlich soll die Weisung auswendig gelernt
diese Weise komme kein wirkliches, „philo- werden. Also: eine Sicherung erstens durch
sophisches“ Wissen, sondern bloßes Schein- schriftliche Niederlegung, zweitens durch si-
wissen und Blendwerk zustande. Alle diese chere Aufbewahrung des Geschriebenen, drit-
Einwände gegen das Geschriebene gelten ei- tens durch lauten mündlichen Vortrag — das
gentlich d e m L e s e n, denn man schreibt für Geschriebene muß immer wieder vermünd-
das Lesen; sie meinen es immer mit. Im übri- licht werden —, schließlich, viertens, die Si-
gen verbindet sich bei Platon Schriftskepsis cherung durch Auswendiglernen (Deutero-
mit Sprachskepsis überhaupt; was für die nomium 31). Interessant ist hier das Neben-
Sprache überhaupt gilt, ein unzuverlässiges, einander, die Verschränkung von Mündlich-
vielfach trügerisches Mittel, gilt für das Ge- keit und Schriftlichkeit. Es geht um Münd-
schriebene erst recht (→ Art. 51). lichkeit, aber um eine schriftgestützte, immer
Hier ist nun hinzuweisen auf einen bemer- wieder auf die Schrift rekurrierende, eine le-
kenswerten Unterschied zur biblischen Welt. sende Mündlichkeit. Die griechische Welt
Altes und Neues Testament zeichnen sich ge- kennt solchen Buchrekurs nicht. Natürlich
genüber der griechischen Welt in gleicher hängt dieser Buchrekurs der biblischen Welt
Weise durch ein ungebrochenes Vertrauen so- mit der außerordentlichen Bedeutung des Ge-
wohl in die Sprache als auch in die Schrift schichtlichen zusammen, die dem Griechen-
72 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tum ebenfalls fremd ist: der „eminente Ge- Mund aufgenommen und vom Leser für das
schichtsbezug“ (Gerhard Ebeling, vgl. Rudolf eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite
Smend, Zur ältesten Geschichte Israels, Ge- wird durch das Lesen buchstäblich einver-
sammelte Studien, Band 2 ), der dem Juden- leibt“ (Illich 1987). Gerade die berühmte
tum eignet und den das Christentum fortsetzt Stelle Augustins über Ambrosius (Confessio-
in anderer, radikalisierter Weise. Noch auf der nes VI, 3), in der mit Erstaunen hervorgeho-
letzten Seite des Neuen Testaments definiert ben wird, daß Ambrosius las, ohne daß man
sich Gott selbst alphabetisch: „ich bin das irgendetwas vernahm und ohne daß er auch
Alpha und das Omega, der Erste und der nur die Zunge bewegte ( vox autem et lingua
letzte, der Anfang und das Ende“ (Offenba- quiescebant ) zeigt, daß dies eine Ausnahme
rung 2 2 , 13), was heißt: alles, ohne Ausnahme war. Gleichwohl mag man sich fragen, ob
alles, kann gesagt und a u f ge s ch r i e b e n wer- solche Ausnahmen nicht doch häufiger und
den. „normaler“ waren. Es ist für uns kaum nach-
vollziehbar, daß diese Mitartikulation so sel-
ten unterblieben sein soll. Illich erklärt den
6. Hellenistisch-römische Lesekultur Sachverhalt so: „Auf Wachstäfelchen, Papy-
Die hellenistisch-römische Lesekultur, die 400 rus und Pergament war jede Zeile eine un-
v. Chr. beginnt, ist gekennzeichnet durch eine unterbrochene Folge von Buchstaben. Es gab
erhebliche Zunahme individuellen Lesens, das kaum eine andere Möglichkeit zu lesen, als
zunächst kaum anderes als bloßer Ersatz war die Zeilen laut aufzusagen und zu horchen,
für fehlende Mündlichkeit, also einen nicht ob sie einen Sinn ergaben“ (Illich 1992 , 119).
möglichen Vortrag. Das individuelle Lesen Natürlich stellt sich da die Frage: warum aber
wird nun zum eigentlichen Bildungsmittel. hat man dann gerade so geschrieben? Unbe-
Wir gelangen zu einer „Lesekultur des einzel- streitbar ist jedoch, daß individuelles Lesen
nen Lesers“ (Schön 1987, 31), doch behält in aller Regel und wesentlich artikuliertes Le-
das Vorlesen außerordentliche Bedeutung; sen war. Hinzukommt die klassische Vorle-
dasselbe gilt für den Vortrag von Memorier- sesituation: „Selig, wer diese prophetischen
tem. Gerade dieses individuelle Lesen wird Worte vorliest (das heißt: auch sich selbst)
nun auch zum Gegenstand von Kritik und und wer sie hört“, „Μακάριος ὁ άναγινώσ-
expliziter Anleitung. Das Problem freien Le- κον καὶ οἱ άκούοντες τους λόγους τῆς προ-
sens und die Notwendigkeit, dieses zu regeln, ϕητείς“, Offenbarung, 1,3). Was für den Hel-
zu disziplinieren, werden gesehen. Erst vom lenismus gilt, gilt für das republikanische und
5. vorchristlichen Jahrhundert an gibt es auch insbesondere kaiserliche Rom, weil es sich
vermehrt Bücher. Eines ist aber hervorzuhe- hier um eine Fortsetzung, wenngleich mit Ab-
ben: das Lesen erfolgte mehr oder weniger wandlungen, des Hellenismus handelte. Wer
hörbar l a u t , man artikulierte mit. In der zu- las in der römischen Welt? Voraussetzungen
vor herangezogenen Stelle aus der Apostel- waren für Lektüre als Mußetätigkeit Wohl-
geschichte, die etwa in die zeitliche Mitte die- stand und Bildung. Es lasen somit gebildete
ser Lesekultur fällt, tritt dies klar hervor: Phi- Adlige oder andere Gebildete, die auf ande-
rem Weg am Wohlstand partizipierten. So-
lippus h ö r t e , wie der Äthiopier den Jesaja gleich ist hier auf die bedeutsame Rolle der
las („ἤκουσεν αὐτοῦ άναγινώσκοντος ’Ἠσαίαν Frauen hinzuweisen. Leser sind von früh an
τον προϕήτην“, “ audivit eum legentem Isaiam und durch die Jahrhunderte hindurch we-
prophetam “). Die Rede ist hier traditionell
von den „Stimmen der Buchseiten“, „voces sentlich Leserinnen. Es lasen aber auch Skla-
paginarum“. Illich hat den Tatbestand gera- ven und Freigelassene, die auf spezifisch ver-
dezu sinnlich (vielleicht ein wenig überzogen, mittelte Weise am Wohlstand teilhatten.
aber gewiß eindrucksvoll und in die richtige Schön geht so weit, im Blick auf die römische
Richtung gehend) dargelegt: „In einer an- Kaiserzeit, was das Lesen angeht, von einer
derthalb Jahrtausende langen Tradition geben „Alltagskompetenz“ zu reden (Schön 1987,
die sich bewegenden Lippen und die Zunge 32 ). Was das quibus auxiliis? betrifft, ist hin-
die klingenden Seiten als Echo wieder. Die zuweisen auf die Verbreitung von Geschrie-
Ohren des Lesers sind aufmerksam und mü- benem durch Schreibstuben, auch auf eine
hen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund Art von Buchhandel: Werke, die als interes-
äußert. So wird die Buchstabenfolge unmit- sant galten, fanden auf diesem Weg eine den
telbar in Körperbewegungen umgewandelt, damaligen Gegebenheiten entsprechend r a -
und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die s ch e Verbreitung im Imperium. Es gab auch
Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem öffentliche Bibliotheken, zum Teil von den
5.  Geschichte des Lesens 73

Kaisern eingerichtet, zum Teil auch durch Pri- sprache in Schriftlichkeit zu verzeichnen, na-
vatpersonen. Natürlich blieb aber Geschrie- mentlich im altenglischen Bereich, wo sie sich
benes in dieser ganzen Zeit eine erhebliche erheblich früher finden als anderswo; im ro-
Kostbarkeit. Auch dies ein materieller Beitrag manischen Bereich liegen sie im Französi-
zur Wertschätzung gerade auch des I n h a l t - schen früher als etwa im Italienischen. Illich
l i ch e n am Buch. Die hellenistisch-römische spricht von einer „Alleinherrschaft des La-
Lesekultur endete im 5. und 6. Jahrhundert. teins über die Buchstaben“. Beredt macht er
deutlich, was uns hieran überaus fremd ist:
„Wenn wir das Alphabet betrachten, sehen
7. Frühmittelalterliche Lesekultur wir in ihm ein Werkzeug, das der Aufzeich-
Die frühmittelalterliche Lesekultur ist gegen- nung sprachlicher Laute dient. Anderthalb
über der vorhergehenden stark reduziert, Jahrtausende lang war das einfach nicht so
nämlich auf die Klöster, auf die Mönche in ... Das Monopol des Lateinischen über sein
ihnen. Es handelt sich hier um das „monasti- Alphabet war so absolut, daß es nie als Er-
sche Lesen“ (Illich). Dieses Lesen kennzeich- gebnis eines ‘Tabus’ betrachtet und nie als
net die Zeit zwischen 800 und 1150; in der überraschende historische Anomalie einge-
Mitte des 12 . Jahrhunderts kam es zu einem schätzt worden ist. Diese Vernachlässigung
Umbruch, wobei dieser Umbruch — dies ist einer verfügbaren Technik ist genauso auffäl-
wichtig und kennzeichnend — keineswegs al- lig wie die Vernachlässigung des Rads in prä-
leine steht, sondern mit anderen Umbrüchen kolumbianischen Kulturen, in denen nur Göt-
im Sozialen und Geistigen zusammenhängt. ter und Spielsachen jemals auf einen Wagen
Gegenüber der vorhergehenden Lesekultur gesetzt wurden ... Im ausgedehnten und po-
haben wir in der frühmittelalterlichen eine litisch differenzierten Gebiet zwischen dem
Reduzierung sowohl der Lesenden als auch Schwarzen Meer und Spanien wurde das la-
des Lesestoffs, Reduktion also im quis? und teinische Alphabet nie dazu verwendet, das
im quid?. Eigentlich lesen nur Kleriker; sie niederzuschreiben, was die Leute redeten“ (Il-
haben ein Lesemonopol. Nur sie also lesen lich 1991). Also gab es davon, vom tatsächlich
(das französische clerc ist bis heute ein ele- dort Geredeten, auch so gut wie nichts zu
gantes Synonym zu intellectuel, so in dem lesen. Nur wenige, nämlich die Kleriker, sag-
berühmten Titel Julien Bendas La trahison ten wir, konnten lesen. Dies heißt nun aber
des clercs, 192 7), aber nicht einmal für alle — unter Voraussetzung jener Bindung ans
Geistlichen ist andererseits Lesefähigkeit ge- Lateinische — umgekehrt: wer lesen konnte,
sichert. Sodann reduziert sich der Lesestoff konnte auch Latein. So ist die berühmte
enorm: biblische Schriften, natürlich nur in Selbstkennzeichnung des alemannischen Rit-
enger Auswahl, insbesondere, von herausra- ters Hartmann von Aue zu verstehen: „ein
gender Bedeutung, die 150 Psalmen, also der ritter sô gelêret was / daz er an den buochen
„Psalter“ oder „Psalterium“, dann Heiligen- las / swaz er dar an geschriben vant ...“ Das
heißt: der Mann konnte Lateinisches lesen
legenden und Ähnliches. Freilich wird von der und zwar, offenbar, was immer er an in dieser
römischen Literatur doch einiges mitgenom- Sprache Geschriebenem antraf. Auch sehr
men: Ovid etwa oder das späte „De conso- hochgestellte Persönlichkeiten waren somit
latione philosophiae“ des Boethius (6. Jahr- Analphabeten, ko n n t e n es jedenfalls sein:
hundert), ein Werk, das für das Mittelalter zum Lesen und Schreiben (dies war die Auf-
und darüber hinaus besonders bedeutsam fassung) hatte man Leute, „Personal“. Wie-
war. derum eine gewisse Ausnahme bilden hier die
Etwas Spezifisches und für unsere Begriffe Frauen: „Den lateinischen Psalter lesen und
überaus Merkwürdiges ist die Bindung der beten zu können, war für sie Bildungsnorm“
Literalität an das Lateinische, also an eine (Schön 1987, 33). Natürlich handelte es sich
Sprache, die nicht oder kaum alltagssprach- da um a d l i ge Leserinnen.
lich (und dann in räumlich auch jeweils sehr Illich hält sich bei seiner Schilderung des
besonderer Weise) gesprochen wurde. Aber „monastischen Lesens“ exemplarisch an das
mehr noch: nicht nur wurden die Volksspra- „Didascalicon“ von Hugo von St. Victor, das
chen nicht oder kaum durch die Buchstaben gegen Ende der dritten Lesekultur, um 1130,
reproduziert, sondern nicht einmal das tat- geschrieben wurde. Zunächst wird hier deut-
sächlich gesprochene Latein: die Schriftlich- lich, daß es sich um ein intensives Lesen han-
keit blieb verbunden mit einer Form des La- delte, intensiv freilich nur in einem bestimm-
teinischen, die nicht mehr gesprochen wurde. ten Sinn: in dem einer spezifischen Aneig-
Gewiß sind einzelne Einbrüche der Volks-
74 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

nung. Hugo fordert ein eigentliches und stren- endend um 1300. Aus der „Partitur für
ges studium legendi. Das Lesen ist ihm der fromme Murmler wurde der optisch plan-
Anfang des Lernens, principium doctrinae. mäßig gebaute Text für logisch Denkende
Zunächst wieder das Memorieren, dann die ...“, wie Illich etwas weitgehend formuliert.
Klarlegung der historia, also wohl der Fabel, Ob nun „logisch denkend“ oder nicht, das
des plot ; die historia wird interpretiert nach Lesen wandelt sich: „Die Buchseite wurde von
dem Verfahren der analogia : Analoges ist zwi- einer Partitur zum Textträger umgestaltet“.
schen den berichteten oder erzählten Ereig- Dem „monastischen“ Lesen folgt das „scho-
nissen aufzudecken; dann geht es weiter zu lastische“. Dies heißt: es ergibt sich jetzt, was
anagogia, welche so etwas ist wie die „Ein- etwas Neues ist, einerseits ein gelehrtes Lesen,
verleibung“ des Lesers in die historia. Es folgt mit spezifischer Zielsetzung und Technik, an-
die cogitatio, von Illich als „konzeptuelle dererseits ein ungelehrtes Lesen, ein anderen
Analyse“ herausgestellt, schließlich die medi- Zwecken dienendes Lesen a u ß e r h a l b der
tatio, die eine gleichsam gesteigerte, intensi- Gelehrsamkeit. Es entstehen nunmehr zwei
vierte cogitatio ist. Hugo definiert die medi- verschiedene Lesekulturen innerhalb des Le-
tatio als eine cogitatio frequens cum consilio, sens, man könnte auch sagen: die neue Le-
also, wie Illich zutreffend übersetzt, „wohl- sekultur zeichnet sich durch solche Aufspal-
überlegtes und anhaltendes Nachdenken“. tung aus. Nun nämlich (es hängt mit der
Die meditatio, Ziel geistlichen Lebens, hebt Aufspaltung zusammen) geschieht dies Neue,
somit an, letzten Endes, mit dem Lesen. Dies daß die „Volkssprachen“ eintreten in die
zeigt dessen wahrhaft grundlegenden Charak- Schriftlichkeit, wobei „Volkssprache“ ein ir-
ter für diese Kultur. Wobei in der meditatio reführender Ausdruck ist, denn nun wird eben
das Lesen eine eigentümliche Freiheit ge- in breiter Front die Sprache geschrieben, die
winnt; es ist dann nur noch etwas wie ein tatsächlich — nicht allein vom „Volk“ — ge-
Anstoß, eine textgebundene, gleichsam, mit sprochen wird (bei allen Abstrichen, die hier
Freud zu sprechen, „freischwebende Auf- zu machen sind, weil das Geschriebene nie
merksamkeit“. genau dem Gesprochenen entspricht: das me-
Das Lesen erscheint monastisch in zwei- dial Differente hat „konzeptionelle“ Konse-
erlei Gestalt: einmal als ein sibi legere, „für quenzen, und das „Konzeptionelle“ ist ein
sich selbst lesen“, dann aber, im Unterschied Stück weit auch unabhängig vom Medialen;
dazu, als clara lectio, als lautes Lesen also für hierzu Koch & Oesterreicher 1985; → Art. 1;
die Ohren anderer. Zudem ist d i e s wichtig: 44). „Volkssprache“, vulgaris elocutio (Dantes
nach abgeschlossenem Lesen, sei dies nun in- Ausdruck in De vulgari eloquentia, „Über
dividuell oder kollektiv, setzt es sich fort Dichtung in der Volkssprache“, 1303/1304),
durch ein Murmeln, eine Art von Wieder- meint hier den Unterschied zum Latein, da-
käuen, wie es mehrfach beschrieben wird, und mals schlicht grammatica genannt. Die Lage
ruminatio ist auch das übliche Wort: „Wäh- war ja vorher die, daß überhaupt nur eine
rend der dunklen Stunden zwischen Mitter- Sprache geschrieben wurde, die man n i ch t
nachtsgebet und Morgendämmerung summt (jedenfalls nicht spontan, alltagssprachlich)
Johannes von Gorze (976 gest.) ‘wie eine sprach. Latein wird nun (freilich nur in die-
Biene die Psalmen, leise und ohne Unterbre- sem Sinn) eine Sprache neben anderen; sie
chung’ ( in morem apis psalmos tacito murmure bleibt in anderer Hinsicht gewiß privilegiert.
continuo revolvens ) (Illich 1991, 58); offenbar In Deutschland lernt man aber doch erst im
war er keine Ausnahme. Ein Text war für jene 16. Jahrhundert m i t dem Deutschen und i n
Lesekultur, wie Illich drastisch formuliert, ihm lesen; bis dahin erfolgte der Einstieg in
eine „Partitur für fromme Murmler“, und die Literalität noch immer übers Lateinische.
Klöster sind ihm für jene Zeit geradezu „Auf- Hervorzuheben ist auch, was uns ebenfalls
enthaltsorte für Murmler“. Man sieht: dies fremd erscheint, daß man zuerst lesen lernte
Lesen ist Einverleibung; es setzt sich fort und dann erst, in einem gewissen Abstand,
o h n e das Geschriebene; das Einverleibte wird schreiben. Also eine eigentümliche Trennung
wieder ins Murmeln, in den Raum der Arti- von Lese- und Schreibkompetenz. Diese di-
kulation, zurückgeholt. daktische Praxis wurde bis ins 19. Jahrhun-
dert fortgesetzt. Nunmehr ergibt sich also ein
gewisser Bruch mit der Mündlichkeit („kon-
8. Hochmittelalterliche Lesekultur zeptionelle“ Schriftlichkeit entsteht in der
Nunmehr die vierte Lesekultur, die des Hoch- Volkssprache, die dann rückwirkt auf das
und Spätmittelalters, um 1150 beginnend und Mündliche). Andererseits ist die Verschriftung
der gesprochenen Sprache auch wieder als
5.  Geschichte des Lesens 75

Gewinn an Mündlichkeit zu verbuchen (An- zifischer Weise hilft: Paragraphen, Angabe


sätze zu „konzeptioneller“ Mündlichkeit im des Inhalts am Rand, den Inhalt aufschlie-
Geschriebenen). Es entsteht nun eigentliche ßende Überschriften, Indices, auch dann gra-
Schrift- und Lesekultur, wobei dem freien phische Darstellungen, kurz, was Raible
oder dem lesegestützten Vortrag, dann auch (1991) mit einem glücklichen Ausdruck „Se-
dem Vorlesen, weiterhin größte Bedeutung miotik der Textgestalt“ nennt. Raible kann
zukommt. Dies gilt natürlich weit bis in die aber auch zeigen, daß sich in diese Richtung
Neuzeit, ja, in die moderne Zeit hinein. Im Gehendes schon weit früher findet, daß da
„Don Quijote“ (1605—1616) lautet eine Ka- eher ein Kontinuum ist. Daß Bücher Vorteile
pitelüberschrift witzig: „Handelt von dem, haben können, gegenüber dem Unterricht
welches der sehen wird, der es liest, oder der durch Personen, wird — im Unterschied zu
hören, der es sich vorlesen läßt“ ( Que trata Plato, aber ohne Bezugnahme auf ihn — von
de lo que verá el que lo leyere, o lo oirá el que R. de Bury („Philobiblon“, 1345) bemerkens-
lo escuchare leer, 1. Kap. des 11. Buchs). Nach wert hervorgehoben: Bücher „sind Lehrer, die
wie vor findet sich auch das laute individuelle uns ohne Ruten und Gerten unterrichten,
Lesen. Und wiederum sind es vor allem die ohne zornige Worte, ohne Kleider und Geld.
Frauen, die sich auszeichnen durch Lesekom- Wenn du zu ihnen kommst, schlafen sie nicht.
petenz. Die individuelle Leserin, die dann na- Wenn du sie befragst und ausforschst, halten
türlich auch vorliest, wird zu einem wichtigen sie nicht zurück. Sie fahren dich nicht an,
Adressaten der Literatur. Ritter und andere wenn du etwas nicht weißt“ (zit. bei Müller
hochgestellte Männer lesen in dieser Zeit in 1988).
aller Regel noch nicht. Was die verschiedenen
Rezeptionssituationen angeht, verweist Schön
mit Recht auf die große Schwierigkeit, Typen 9. Frühneuzeitliche Lesekultur
von Texten nach der Art der Rezeption zu
unterscheiden, wie dies häufig versucht Die fünfte Lesekultur beginnt um 1300. Hier
wurde: „ein rezeptionsästhetischer Holzweg“. haben wir zunächst eine beträchtliche Zu-
Vermutlich ist es in der Tat, wie er andeutet, nahme individuellen Lesens zu verzeichnen.
so, daß damals keine entscheidende Differenz Neben den Adel treten nun zunehmend die
erlebt wurde zwischen e i ge n e m Lesen und Bürger; das quis? des Lesens also weitet sich
dem Zuhören des Vorlesens eines anderen. aus. Zum Feudaladel kommt ein städtisches
Wirklich ist ja generell die Stimme dessen, der Patriziat, kommen Kaufleute, dann auch
redet, völlig anders, wenn er vo r l i e s t, als Handwerker hinzu. Letztere lesen (und schrei-
wenn er redet, o h n e vorzulesen (Jean-Paul ben) natürlich auch vielfach und nun zuneh-
Sartre hat dies überaus plastisch in „Les mend aus praktischen Gründen: es gehört zu
mots“, 1964, S. 35, beschrieben; übrigens eine ihrer — ganz außerliterarischen — Tätigkeit.
auch unter diesem Gesichtspunkt äußerst be- Die zwei Lesekulturen bestehen weiter fort,
merkenswerte Schriftlichkeit-Autobiographie: formieren sich stärker und setzen sich da-
„Lesen“ und „Schreiben“ lauten, nicht zufäl- durch stärker voneinander ab. Auf der einen
lig, die Titel der beiden, nahezu gleichlangen Seite die Gelehrten, deren Sprache weiterhin
Teile). Es ist bis heute ein gewaltiger Unter- das Lateinische ist. Auch sind die Schriftstel-
schied, ob man jemandem zuhört, während ler, für die sie sich interessieren, natürlich die
er redet oder während er vorliest. So war wohl antiken Schriftsteller. Daneben die Bürger
damals der Unterschied zwischen einem Sich- und die Adligen. Sie lesen religiöse Literatur
selbst-Vorlesen und einem Vorlesen für einen (Biblisches, erbauliche Schriften, Katechis-
oder mehrere andere nicht groß. men), auch praktisch weltlich Orientiertes
Was nun das spezifisch gelehrte, das „scho- (Recht, Medizin), dann aber auch, in Frank-
lastische“ Lesen angeht, so geht es da gar reich früher als in Deutschland, Literarisches.
nicht mehr um Murmeln, sondern um geord- Schön hat aber Recht, wenn er hervorhebt,
nete Anhäufung von Wissen, um gedankliche daß es damals „noch kein literarisches Lese-
Durchdringung, verstehendes, intelligentes publikum im heutigen Sinne“ gab. Immerhin
Gedächtnis. Man liest nun nicht mehr einen war nun das Lesemonopol der „Kleriker“, vor
Text, wie eine „Partitur“, von vorne bis hin- allem im Zusammenhang mit der Gründung
ten, sondern wählt aus ihm aus, was man in der Universitäten, von der Mitte des 14. Jahr-
den jeweiligen gedanklichen Zusammenhän- hunderts an, gebrochen. Andererseits kehren
gen braucht. Dem kommt dann eine neue in der Lektüre dieselben Bücher immer wie-
Textgestalt entgegen, die diesem Lesen in spe- der: Biblisches, wiederum besonders die Psal-
men, Andachtsbücher. Und noch immer hieß
76 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Lesen einen Text laut werden lassen: „Das auf Angaben von Welke 1981 stützt). Was die
Schreiben blieb, wie das Lesen, eine mur- Buchproduktion angeht, ist zu betonen, daß
melnde Tätigkeit“ (Illich 1991). hier weiterhin Gelehrte für Gelehrte, Leser
Was die Zahlen derer, die überhaupt lesen für Leser, produzieren, und an der Spitze der
können, angeht, so werden für die Zeit um Fächer steht hier mit großem Abstand die
1500 für Deutschland 5% der Stadtbevölke- Theologie. Die Dichtung war im 17. Jahrhun-
rung genannt, und dies heißt weniger als 1% dert noch durchaus Randproduktion. Ihr
der Gesamtbevölkerung. Eine andere Schät- Adressatenkreis war außerordentlich gering,
zung kommt auf 3% bis 4% Leser (→ Art. es handelte sich um die „literarische Kultur
70). Zu Recht weist aber Schön, der diese einer kleinen Oberschicht“, wiederum mit
Angaben referiert, auf die Problematik sol- Frauendominanz, die aus dem Adel und Pa-
cher Schätzungen hin: „Zwischen Lesefähig- triziern bestand. Die übrige Bevölkerung, in-
keit und tatsächlicher regelmäßiger Lektüre sofern sie überhaupt las, las Zeitungen, Ka-
besteht eine große Kluft, die nur in Ausnah- lender, Flugschriften und natürlich religiöses
mefällen geschlossen wird“ (Schön 1987, 37). Schrifttum, all das, was vom Adel und von
Es lesen (im Sinne von lesen 1) also weit den Patriziern noch zusätzlich gelesen wurde.
weniger als lesen könnten (lesen 2 ). Schön Mit Recht weist Schön, wie andere vor ihm,
selbst nennt schließlich als „regelmäßig Le- darauf hin, daß es sich bei der Buchlektüre
sende“ für die Zeit um 1500 1% bis 2 %, für weithin um Wiederholungslektüre handelt
die Zeit um 1600 2 % bis 4%. Hier handle es (dasselbe Buch, vererbt durch die Generatio-
sich aber vor allem um „Leser von berufsbe- nen, wird wieder und wieder gelesen) und daß,
zogener Lektüre“, dann von religiösen Texten inhaltlich gesehen, die moralische Nutzan-
und von Sachliteratur. Das literarische Publi- wendung im Vordergrund stand: man suchte
kum bildete hiervon nur „einen kleinen Belehrung und Erbauung, Lebenshilfe.
Bruchteil“. Bekannt ist, daß unter Protestan-
ten mehr gelesen wird als unter Katholiken.
Für Deutschland speziell ist bemerkenswert, 10. Moderne Lesekultur
aber kaum überraschend, der enorme Rück- Die sechste Lesekultur hebt, wie gesagt, mit
gang des Lesens (auch der Buchproduktion) dem 18. Jahrhundert an, wobei diese Zeitan-
im Dreißigjährigen Krieg. gabe natürlich nur ungefähren Charakter hat.
In die Zeit dieser Lesekultur fällt, wie ge- Es entstand nun, nach und nach, ein wirkli-
sagt, die Erfindung des Buchdrucks: sie ver- ches Lesepublikum, und zwar eines, das sich
änderte für den Augenblick nichts oder wenig, vom heutigen nicht grundlegend unterschei-
aber auf Dauer wurde sie natürlich doch zu det. Im Verein damit entstand ein neuer Be-
einem wichtigen Markstein in der Geschichte griff von Literatur. Träger dieses neuen Lite-
des Lesens. Man kann hier zweierlei beobach- raturbegriffs war eine Bildungsschicht, die
ten: einmal, daß eine solche Erfindung, wie sich in England und in Frankreich im reicher
die Technik bekanntlich überhaupt, eine Ei- werdenden Bürgertum herausbildete, sich in
gendynamik entwickelt, zum anderen, daß sie Deutschland hingegen eher auf die Beamten-
Bedürfnisse weckt oder verstärkt, die dann schaft stützte. Das „Merkmal“ der Schicht,
ihrerseits die technische Entwicklung weiter- welche die Literaturrezeption nun trägt, „ist
treiben. Der Buchdruck entlastete das Schrei- vornehmlich Bildung, zunächst instrumentell
ben (das Abschreiben); er belastete anderer- zur Erlangung eines Amtes, dann auch als
seits, auf Dauer, das Lesen ... Einige Zahlen Wert an sich in Profilierung gegenüber dem
für den deutschen Sprachraum: während des Adel“ (Schön 1987, 42 , der hier speziell
15. Jahrhunderts wurden sechshundert bis Deutschland meint). Die soziale Grundlage
achthundert Titel produziert, während des 16. dieses entscheidenden Wandels im Lesever-
Jahrhunderts hunderttausend, im 17. hun- halten, gerade im Blick auf „schöne“ Litera-
dertfünfzigtausend bis zweihunderttausend. tur, ist klar greifbar. Andererseits steht dieser
Von erheblicher Bedeutung war das Entstehen Wandel natürlich auch mit der Tatsache in
einer neuen Kommunikationsform: um 1700 Zusammenhang, daß das 18. Jahrhundert
gab es im deutschen Sprachraum zwischen überhaupt die Moderne vorbereitet, ja, in ge-
fünfzig und sechzig Zeitungen, um 1800 be- wissem Sinn schon die Moderne i st . Dies gilt
reits zweihundert; die Gesamtauflage all die- insbesondere für den Umbruch zwischen dem
ser Blätter betrug dreihunderttausend, und ausgehenden 18. und dem beginnenden 19.
die Zahl der Rezipienten wird auf drei Millio- Jahrhundert, von Kosellek nicht zu Unrecht,
nen geschätzt (Schön 1987, 38, der sich hier wenngleich vielleicht überpointiert, als „Sat-
5.  Geschichte des Lesens 77

telzeit“ herausgestellt. Weniger einleuchtend sich auch das Bürgertum und der Adel be-
erscheint es, wenn Schön, unter Hinweis auf dienten, denn noch immer war ein Buch ein
Foucault, einen Zusammenhang jener neuen relativ teurer Gegenstand. Schließlich ist be-
Lesekultur mit der „Verzeitlichung“ herzu- merkenswert die Etablierung des „freien“
stellen sucht, wie sie als Kategorie für die Schriftstellers: es gibt nun Autoren, die von
Analysen Foucaults wichtig ist. Treffender als den Erträgen ihrer literarischen Produktion
„Verzeitlichung“ wäre übrigens „Vergeschicht- leben. Dies gilt in Frankreich insbesondere
lichung“ (hierzu Walter Schulz, Philosophie für Jean-Jacques Rousseau, dessen „Nouvelle
in der veränderten Welt, 1972 , 469—62 8). Héloïse“ ein enormer Bucherfolg gewesen ist.
Bereits Theodor Litt sprach, mit klarer Wer- Für die große Zunahme des Lesens in
tung, von der „Befreiung des geschichtlichen quantitativer Hinsicht spricht auch eine spe-
Bewußtseins“ (durch Johann Gottfried Her- zifische Diskussion, die nun anhebt und die
der). Doch ist ein Zusammenhang zwischen sogenannte „Lesesucht“ oder „Lesewut“ zum
„Vergeschichtlichung“ und neuer Lesekultur Gegenstand hat. Die Motivation dieser Kritik
schwer dingfest zu machen. Die These ist ist einerseits religiös und kommt hier beson-
nicht plausibel. Es ist eben nur wieder so, daß ders von calvinistischer und pietistischer
die neue Lesekultur in ihrem zeitlichen Zu- Seite, andererseits sind die Gründe auch
sammenhang zu sehen ist mit einer allgemei- gleichsam ökonomischer Art (die auf das Le-
neren, in diesem Falle sehr tiefgreifenden und sen verwendete Zeit werde, wird argumen-
vielleicht irreversiblen geistesgeschichtlichen tiert, gewinnbringender Arbeit, der Arbeit
Veränderung: der Konstituierung eines histo- überhaupt, entzogen). Natürlich spielt hier
rischen Bewußtseins. auch, im Zusammenhang mit der religiösen
Zunächst einmal machen jedoch die sozia- Motivation, der inhaltliche Gedanke eine
len Veränderungen für sich allein diese neue Rolle, daß Bücher zu Zuchtlosigkeit verfüh-
Lesekultur hinreichend plausibel. Auch hier ren können, was bereits Dante im fünften
ist wiederum hinzuweisen auf die spezifische Höllengesang zum Thema macht ( Galeotto fu
Dominanz der Frauen. Die Delegierung häus- il libro e chi lo scrisse — der Verführer Lan-
licher Arbeiten an Dienstpersonal gibt auch celots und Guenievres wird an dem fatalen
den Frauen des Bürgertums mehr Muße. Tag, an dem sie „nicht weiterlasen“ — quel
Überhaupt entsteht nun ein neues Phänomen, giorno più non vi leggemmo avante —, zum
das frühere Zeiten in dieser Form nicht kann- Verführer von Francesca und Paolo). Das
ten, nämlich „die heute geläufige kategoriale Buch als Verführer, Lektüre als Quelle von
Trennung von Arbeit und Freizeit“ (Schön). Wirklichkeitsverlust und falschem Bewußt-
Dies führt nun dazu, daß nun auch die Män- sein ist im übrigen ein wichtiges Thema der
ner sich mehr und mehr zu Lesern emanzi- Literatur selbst („Don Quijote“, „Madame
pieren. Überhaupt ist für das 18. Jahrhundert Bovary“).
eine enorme quantitative Steigerung des Le- Es ist wohl zutreffend, wenn Schön für das
sens zu verzeichnen, wenngleich, was den 19. Jahrhundert, gegenüber dem 18., lediglich
Anteil der regelmäßig Lesenden an der Ge- noch quantitative Veränderungen der Lese-
samtbevölkerung angeht, die Zahl möglicher- kultur verzeichnet: Massenproduktion. Hin-
weise nur von einem auf zwei Prozent gestie- zukommt aber gewiß auch, wie er ebenfalls
gen ist (es bleibt dies aber eine Verdopplung). hervorhebt, eine Verstärkung in der Differen-
Die absolute Steigerung liegt auch in der zierung des Publikums. Die beiden Lesekul-
Bevölkerungszunahme. Starken Aufschwung turen, die der Bildung verpflichtete und eine
nimmt in dieser Zeit namentlich die belletri- eher volkstümliche, treten stärker und defi-
stische Produktion: zwischen 1740 und 1800 nitiv auseinander: E-Literatur und U-Litera-
ergibt sich bei der Dichtung ein Zunahme- tur. Auf der einen Seite das später sogenannte
verhältnis von 1 : 13, beim Roman speziell ist „Bildungsbürgertum“, auf der anderen das
das Zunahmeverhältnis zwischen 1750 und übrige Leserpublikum, wobei das erstere of-
1805 1 : 32 (Angaben wiederum nach Schön fen gewesen sein dürfte — relativ zumindest
1987, 44). — für den Lesestoff des letzteren; in die um-
Auch im quibus auxiliis? finden sich nun gekehrte Richtung ging die Offenheit kaum.
wichtige Veränderungen: zu nennen sind hier Eine wichtige Veränderung, die sich seit un-
die Lesegesellschaften, Diskussionszirkel, in gefähr 1870 ergab, war die Ermöglichung der
denen über gemeinsame Lektüre gesprochen Produktion für Einzelne, das heißt: es wurden
und zu gemeinsamer Lektüre angeregt wurde, nun Bücher massenhaft produziert für ein-
dann vor allem die Leihbibliotheken, deren zelne Käufer. Es ergaben sich — eben durch
78 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Massenproduktion — wirklich niedrigere objekte und vielfach eben bloß aufstellt, weil
Preise, während bisher Bücher weiterhin teuer dies eben dazugehört, und kaum liest: das
waren (im Lauf des 18. Jahrhunderts waren Buch als Möbel. Schön glaubt, von 1900 an
die Preise sogar kräftig angestiegen). Zuvor ungefähr, etwas zu erkennen wie eine Auflö-
bediente sich, wie gesagt, auch das reiche Bür- sung dieser schichtspezifischen Literatur, was
gertum und gar der Adel der Leihbibliothe- sich dann gesteigert zeige ab 192 0, nach dem
ken. Das „Volk“ im übrigen wurde versorgt, Ersten Weltkrieg, „mit dessen Beginn so vieles
insbesondere natürlich auf dem breiten Land, begann, was zu beginnen wohl kaum schon
durch den sogenannten „Kolporteur“, den aufgehört hat“, wie Thomas Manns ominöse
fahrenden Händler. Der Kolporteur war eine Formulierung im „Vorsatz“ zum „Zauber-
Erscheinung des 18. und frühen 19. Jahrhun- berg“ (192 4) lautet. Das naturalistische Werk
derts. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Hauptmanns wäre hier zu nennen oder, be-
kommen nun Zeitschriften, dann, speziell für sonders entschieden in diese Richtung ge-
das Proletariat, Kalender und Heftchen hin- hend, Döblins „Berlin Alexanderplatz“
zu, in denen oft Romane in Fortsetzung er- (192 9). Richtig ist hieran gewiß, daß sich da
scheinen. Auch dies ist eine neue Form des in der Literatur selbst etwas öffnete. Die li-
Lesens. Was die Lesefähigkeit angeht, die na- terarische Moderne ist ja, von ihrem Anbe-
türlich im Lauf des 19. Jahrhunderts enorm ginn in Frankreich an, gerade auch ein Sich-
zunahm, nennt Schenda für Deutschland die absetzen von der überkommenen „bürgerli-
folgenden Zahlen: um 1800 2 5% der Ge- chen“ Bildungswelt, auch von ihrer Sprache,
samtbevölkerung, um 1830 40%, um 1870 eben der Bildungssprache, der Sprache, die
75%, um 1900 90% (zit. bei Schön 1987, 45; das Bürgertum als für Dichtung kennzeich-
→ Art. 70). Neu ist jetzt auch, daß Lesen und nend zu betrachten gewohnt war („gute Auto-
Schreiben nunmehr zu e i n e r Fähigkeit wer- ren“). Andererseits ist aber dann doch zu
den: wer l e s e n kann, kann auch s ch r e i b e n . sagen, daß sich gerade die moderne Dichtung
Freilich wird sich dies wieder ändern in unse- durch Elitarismus kennzeichnet: sie richtet
ren Jahrzehnten. sich an wenige, wird nur von wenigen, eben
Was ist hervorzuheben an Veränderungen Hochgebildeten, rezipiert. Es gilt für Mal-
in unserem zu Ende gehenden Jahrhundert? larmé und Valéry, aber auch für Eliot und
Es bleibt zunächst die starke Verbindung des Pound, dann für Rilke und Benn; es gilt auch
Lesens „guter“ Literatur mit dem gebildeten für die großen Romanciers: für Kafka und
Bürgertum, das sich eben Bildung als Privileg Joyce und Proust, auch für Thomas Mann,
und Auszeichnung anrechnet. Bildung als der am „Bildungsbürgertum“, wenngleich iro-
Ausweis und als Besitz: „und bringt ein Ge- nisch parodistisch, partizipiert. Kaum je fin-
spräch über Stellen aus guten Autoren in den wir hier Werke, welche einerseits die Kri-
Lauf“, wie es — bereits ironisch — in dem terien von E-Literatur erfüllten und trotzdem
Studentenlied heißt („Es wär’ der studieren- viel gelesen würde, wirklich p o p u l ä r wären
den Jugend die herrlichste Zukunft gewiß (es gibt Ausnahmen: in Spanien gilt es für
...“). Hierher gehört auch das Empfinden die- den Lyriker Antonio Machado und für den
ser Literatur, wie auch der Musik und der Lyriker und Dramatiker Federico García
bildenden Künste, als Reservat, als Ausgleich, Lorca). Auch für Brecht, so zugänglich er als
als geschützten und schützenden Bereich für Lyriker und Dramatiker ist, läßt sich Volks-
die Erholung von Geschäften und Arbeits- tümlichkeit — weder bürgerliche noch gar
welt. Der Schwund des Religiösen erhebt die proletarische — nicht behaupten. Kein Ver-
Kunst, nicht nur für die Künstler selbst, son- gleich zu Heines „Buch der Lieder“, einem
dern auch für jenes Bürgertum, zu einer Art lyrischen Großerfolg. So bleibt es bis heute
Religionsersatz. Sie befriedigt ja auch, rein bei der Fortexistenz jener zweier Kulturen
psychologisch gesehen, dieselben Bedürfnisse. innerhalb der Lesewelt, das heißt: wir haben
Diese oft ganz implizite Auffassung und die- zwei Lesewelten, die der Bildung und die an-
ses Erleben von Literatur können gehen bis dere, die der Unbildung, die von „Bild“, einer
zur regelrechten Verdinglichung des Buchs, Zeitung für Nicht-Leser, und Konsalik und
die in ganz anderer Weise auch schon zu frü- Simmel, um im deutschsprachigen Raum zu
heren Zeiten, etwa im Mittelalter, während bleiben; aber die beiden letztgenannten Auto-
der „monastischen“ Lesekultur (und darüber ren hatten und haben auch über diesen hinaus
hinaus), gegeben war: Lesebildung als Aus- größten Erfolg.
weis der Zugehörigkeit: also Prachtausgaben Sodann finden wir die offenkundige Redu-
der Klassiker, die man aufstellt wie Kunst- zierung des Lesens in den vergangenen Jahr-
5.  Geschichte des Lesens 79

zehnten, so daß Beobachter bereits von einer um Konkurrenzunternehmen. Sie erfüllen die-
„postliteralen Kultur“, auch von „Post“- und selben Funktionen: Unterhaltung, durchaus
„Semi-Literalität“ sprechen. Illich gebraucht auch Belehrung, zum Teil (Film!) erheben sie
diese Ausdrücke und legt dar, in unseren Ta- auch — sehr zu Recht — hohen Kunstan-
gen gehe ein „Kulturverhalten“ zu Ende, das spruch, oft auch literarisch abgestützt (der
vor achthundert Jahren begonnen habe und Film zum Buch), dann gibt es auch hier etwas
das er mit George Steiner als bookish bezeich- wie soziale Verpflichtung („das muß man ge-
net: „Die universale Liebe zum Buch wurde sehen haben“); kurz: diese Konkurrenzunter-
zum Kern der westlichen säkularen Religion, nehmen halten vom Lesen ab. Alles, was beim
Unterricht wurde zu ihrer Kirche. Heute ist Lesen von Literatur purer „Zeitvertreib“ ist
die westliche Gesellschaft diesem Glauben an — und dies ist ja ein legitimes, keineswegs
das Buch entwachsen, vielleicht so, wie sie unkulturelles Bedürfnis —, wird nun von die-
auch dem Christentum entwachsen ist. In- sen Konkurrenzunternehmen e h e r erfüllt,
zwischen ist das Buch längst nicht mehr die ganz besonders vom Fernsehen, das so be-
wichtigste Grundlage des Bildungswesens. quem zuhanden ist. Diesen Konkurrenzun-
Wir haben die Kontrolle über sein Wachstum ternehmen gegenüber hat das Lesen den Cha-
verloren. Medien und Kommunikation, der rakter von Arbeit. Es ist aber festzustellen,
Bildschirm haben die Buchstaben, die Buch- daß es keineswegs nur jene Konkurrenz ist,
seite und das Buchlesen verdrängt“ (Illich die das Lesen reduziert. Zunächst ist da die
1991). Arbeit selbst, die viele so anstrengt und mit-
Ist dies so? Die Schwierigkeit liegt darin, nimmt, daß trotz vermehrter Freizeit kein
daß wir hier auf viele Fragen nicht die nöti- Raum für ausgedehntes Lesen, für Lesen als
gen, ausreichend präzisen und ausreichend wirkliche Tätigkeit, bleibt. Man könnte und
verläßlichen Antworten bekommen. Ganz müßte wohl aber auch sagen: ausgedehntes
ohne Zweifel ist aber an den Feststellungen, Lesen wird nicht mehr als Bedürfnis empfun-
die in diese Richtung zielen, etwas daran. Das den, so daß es auch dann unterbleibt, wenn
Schreiben, zunächst — dies hat mit dem Le- es ohne weiteres stattfinden könnte. Eine der
sen zu schaffen — ging enorm zurück: viele häufigsten Auskünfte ist: ‘Ich habe leider zum
schreiben so gut wie gar nicht mehr; mit der Lesen kaum noch Zeit’. Dies ist aber wohl
Hand, von der Leistung der Unterschrift ab- immer so interpretierbar: das Lesen ist mir
gesehen, noch weniger. Aber auch das Lesen nicht so wichtig; es ist mir kein elementares
ging zurück, obwohl andererseits immer mehr Bedürfnis. Und wirklich ist es ja so: wer tat-
Bücher — von der Zahl und den Titeln her sächlich und dringend lesen w i l l , findet im-
— verkauft und also produziert werden. Es mer Zeit (er stiehlt sie dann seiner Arbeit,
wird immer noch viel gelesen: in den Schulen seiner Familie, seiner Nachtruhe ...). Wir fü-
aller Art, in der Ausbildung überhaupt. Zu- gen an dieser Stelle eine Übersicht des B. A. T.
rück ging aber das Lesen belletristischer Lite- Freizeit-Forschungsinstituts ein, die uns Gun-
ratur im Sinne wirklicher und anhaltender ther Eigler vermittelte und die für sich selbst
Tätigkeit. Und dieser Rückgang betrifft nicht spricht (Abb. 5.1).
allein die klassische Literatur (im weiten Sinne Im Mai 192 4 hielt Viscount Grey of Fal-
dieses Begriffs, für das Deutsche etwa von lodon, britischer Außenminister zwischen
Lessing bis Fontane), sondern auch die Lek- 1905 und 1916, vor der Royal Society of Li-
türe der modernen. Das Bürgertum ist heute terature in London einen Vortrag über das
nicht mehr in der Weise „literat“, wie es dies Thema „The Pleasure of Reading“. Er nennt
vor achtzig Jahren war. Auch gelten Lesen die folgenden Hindernisse: zunächst, eigen-
und Besitz von Büchern weniger als früher tümlicherweise, die Post: man verliere viel
als Merkmal der Zugehörigkeit — wenngleich Zeit mit unnötiger, belangloser, lästiger Kor-
dieser Literaturbezug keineswegs geschwun- respondenz. Danach die Mobilität, das ver-
den ist. mehrte Herumreisen. Zwar sei die Eisenbahn
Natürlich sind hier zunächst andere Me- zum Lesen vorzüglich geeignet, werde aber
dien, dann speziell die neuen Medien zu nen- dafür nicht ausreichend benutzt, nun aber das
nen. An erster Stelle, oft übersehen, die Illu- Auto, das in dieser Hinsicht nur Nachteile
strierten, Zeitschriften mit Bildern, die es ja bringe: „even for people with good eyes“ (ein
nicht erst in unseren Jahrzehnten gibt. Dann Chauffeur wird also mit Selbstverständlich-
das Kino, das Radio, das Fernsehen und die keit vorausgesetzt). Das Telefon schließlich sei
Videokassette als dessen Verlängerung und „a deadly disadvantage; it minces time into
Verstärkung. Hier handelt es sich durchweg fragments and frays the spirit“. Zerstücke-
80 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 5.1.
5.  Geschichte des Lesens 81

lung, also, der Zeit und Zermürbung des Gei- 44%, im Jahre 1981 41%. Im Jahr 1967 lasen
stes. Radio und Kino wirkten sich, trotz un- ein Buch, das ‘zur Weiterbildung beiträgt’,
bestreitbar positiver Elemente, weiterhin un- 2 3% und im Jahr 1981 2 5%“. Insgesamt stellt
günstig aus (hierüber, sehr interessant, auch Schön fest, auf dessen Gewährsleute wir hier
Sartre in seiner Autobiographie: Kino, ge- rekurrieren, daß der „Leseumfang fast kon-
heim frequentiertes Laster, als Gegenwelt zum stant“ sei, „daß das Lesen der Männer ‘zur
Buch). Schließlich wird das Vordringen der Unterhaltung’ in seiner Häufigkeit deutlich
„picture papers“ als äußerst negativ heraus- abnimmt, obwohl sie ohnehin seit je geringer
gestellt: „picture papers are tending to divert war als bei den Frauen“. Und „daß das Lesen
people not only from reading, but from der Frauen ‘zur Weiterbildung’ stark zu-
thought“. Und Viscount Grey ist in der Lage, nimmt“. Insgesamt habe „die Zahl der pro
ein Sonett von Wordsworth aus dem Jahr Kopf gelesenen Bücher in den letzten fünf-
1846 zu zitieren, welches diese Gefahr schon zehn bis zwanzig Jahren eher abgenommen,
herausstellt und im übrigen viele bemerkens- obwohl sich der Buch-Stückumsatz verviel-
werte Bildungstopoi enthält: fachte“ (Schön 1987, 59).
„A backward movement surely have we here, Wird der Computer zu einer weiteren Re-
From manhood — back to childhood; for the age — duzierung des Lesens führen? Muß er einge-
Back towards caverned life’s first rude career. reiht werden in die Reihe der Faktoren, die
Avaunt this vile abuse of pictured page!“ zu jener Reduzierung beitragen? So ohne wei-
Und lange vor Fernsehen und Video und teres wird man dies nicht tun wollen, allein
Computer, welch letzterer nicht ohne weiteres deshalb nicht, weil mit dem Computer sowohl
auf dieser Linie einzuordnen ist, stellt Vis- geschrieben als auch gelesen wird (→ Art. 43).
count Grey fest: „All these things must make Er gehört auch nicht zu den Konkurrenzun-
it more difficult for successive generations to ternehmen wie etwa das Fernsehen, das —
acquire the habit of reading, and, if that habit ohne Arbeitscharakter — dieselben Bedürf-
be acquired, to maintain it. Even before all nisse wie das Lesen befriedigt, es sei denn, er
these changes it was not easy to maintain the würde genutzt, was ja eine propagierte Mög-
habit, but it could be done“. Es ist dies alles lichkeit ist, als Spielzeug: für Computerspiele,
vielleicht nicht gerade kritische, aber doch ohne Zweifel, gilt unsere Einschränkung
britische Vernunft. Und was Grey hier beob- nicht. Insgesamt ist es doch wohl verfrüht
achtet, ist, fernab von Zahlen, Repräsentativ- oder vielleicht überhaupt verfehlt, von einem
befragungen und soziologischen Analysen, Ende des Buchs als Kulturmittel zu sprechen:
schlicht richtig. Das Wichtigste und Notwen- „man kann nur das sehen, was schon ist“
digste für die Freude am Lesen sei es, daß ( videri nisi quod est non potest, Augustin). Was
die Gewohnheit des Lesens f r ü h erworben eindeutig zurückgegangen ist, im „Bürger-
werde, „when people are young“. Gerade dies tum“, das es ja in d e r Weise auch nicht mehr
werde aber zunehmend schwieriger ... gibt, ist die von Viscount Grey apostrophierte
Es ist, was den letzteren Punkt angeht, in „Freude am Lesen“. „In old days I think it
unseren Bereichen wohl so, daß Kinder, na- must have been easy to acquire the habit of
mentlich in der ausgehenden Kindheit, fast reading. People stayed for months in the same
alle viel, zum Teil gar sehr viel lesen, auch house without stirring from it even for a
wenn es da vielfach bloß um „Comics“ geht. night. The opportunities for reading were so
Da ist noch immer, für kurze Zeit, „Lese- many, and the opportunities for doing other
sucht“. Dann aber bricht sie ab. Das Lesen, things were comparatively so few, that the
das nun als Forderung herantritt und den habit of reading must almost have been forced
Charakter der Arbeit gewinnt, wird aufgege- upon them“. Natürlich sieht der Viscount dies
ben. Die Schule hindert dies offensichtlich aus seiner Sicht oder Schicht: was er meint,
nicht — im Gegenteil, muß man wohl sagen. galt für Menschen, die der Arbeitsfron nicht
So sind die Leser, also die, die aus Vergnügen oder kaum oder doch nur in sehr vertretba-
weiterlesen, eigentlich die, die so betrachtet, rem Maß unterworfen waren. Heute jedoch
infantil geblieben sind. Bei Umfragen zeigt ist es so, daß gerade in der Freizeit, die für
sich: „Eine niedrigere Altersgrenze erhöht diejenigen, die jener Fron unterworfen sind,
stets den Anteil und die Lesehäufigkeit der erheblich zugenommen hat, die Faktoren, die
Buchleser“ (Schön 1987, 58). Im Jahre 1967 vom Lesen abhalten und früher gar nicht da
lasen in der Bundesrepublik „mindestens ein- waren, so zahlreich und übermächtig gewor-
mal pro Woche ‘ein Buch zur Unterhaltung’ den sind, daß sich das Lesen von Büchern,
82 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

das Lesen aus purer Freude, aus früh erwor- ganz anderen Bedingungen unterlagen als die-
bener und gefestigter Gewohnheit und aus jenigen, die wir überblicken. Da ist zunächst
gefühlter Notwendigkeit, reduzierte. die Schwierigkeit, sich hineinzudenken in ein
„Jenseits der Schrift“ (Illich). Kaum leichter
ist es, sich hineinzudenken in ein „Jenseits“
11. Fragen und Schwierigkeiten der Buchkultur oder dann, weiter zurück, in
Stellen wir abschließend einige Punkte zusam- ein „Jenseits“ der Manuskriptkultur ... Die
men. Von erheblichem Interesse wäre eine Aussagekraft, sodann, der Zeugnisse wäre
Untersuchung, in systematischem Durchgang hier genau zu überprüfen. Was dringend fehlt,
durch die Geschichte, der Thematisierung des ist eine möglichst vollständige Zusammen-
Lesens überhaupt und dann auch bestimmter, stellung dieser Zeugnisse und eine sorgfältige
positiv oder negativ eingeschätzter Lektüren Interpretation, die sich vor allem zum Ziel
in der Literatur selbst. Hierzu gibt es bisher setzen müßte zu klären, was diese Zeugnisse
nur punktuelle Ansätze. Untersuchenswert tatsächlich hergeben und was sie, genau ge-
wäre auch die Kritik des Lesens unter mora- nommen, offen lassen. Konkret, zum Beispiel:
lischen oder philosophischen Aspekten (ein was folgt tatsächlich aus dem immer wieder
überaus eindrucksvolles Beispiel hierfür fin- zitierten Zeugnis Augustins in Bezug auf Am-
det sich bei Descartes an der genannten Stelle brosius? Wir haben dieses Problem aber nicht
im „Discours de la méthode“, vielleicht die nur bei den frühen Zeugnissen. Bei dem
erste, jedenfalls eine frühe gleichsam antihu- Thema „Lesen“ und „Geschichte des Lesens“
manistische Stellungnahme; aber in Shake- stoßen wir vielfach auf Daten, die unvollstän-
speares „Love’s labour’s lost“, I, 1, äußert dig, ungenau und unzuverlässig sind. Infol-
eine Figur, Berowne, auch schon Bedenken: gedessen gibt es hier viel empirisch unabge-
“... painfully to pore — „brüten“ — upon a stützte Spekulation. Dies trifft gerade auch
book / To seek the light of truth; while truth für die Gegenwart zu. Eine Arbeit wie die von
the while / Doth falsely blind the eyesight of Steiner After the book? ist dafür, gerade weil
his look“, und dann: „S mall have continual sie geistvoll ist, ein Beleg, aber wirklich nur
plodders — „Büffler“ — ever won , / Save base einer unter vielen.
authority from others’ books ...“). Sodann: es Eine andere Schwierigkeit besteht darin,
gibt ohne Zweifel große Leser, Männer und daß es in der Geschichte des Lesens sowohl
Frauen, die nicht nur literarisch groß sind für Brüche als auch Kontinua gibt und daß es
sich selbst, sondern gerade auch als Leser, schwer ist, sie beide in ihrem jeweils korrekten
denen es also gelungen ist, ihre Lektüre in Nebeneinander zu sehen. Oft ist Unterschied-
besonderer Weise für ihr eigenes Werk frucht- liches, ja Gegensätzliches, gleichzeitig da, oft
bar zu machen. Natürlich heißt dies gerade verschieben sich im Wandel lediglich die
nicht, daß sie besonders viel gelesen haben. Akzente. Natürlich gibt es hier überall auch
Zu denken wäre hier an Figuren wie Mon- die häufig apostrophierte „Gleichzeitigkeit
taigne, Goethe, Nietzsche (letzterer ein klas- des Ungleichzeitigen“, was ja oft eine allzu
sischer Wenig-Leser, aber ein guter gleich- bequeme Formel ist, denn: inwiefern kann das
wohl, und er konnte sich gründen auf eine Gleichzeitige als ungleichzeitig bezeichnet
überaus solide Schulbildung). In gewissem werden, wenn es faktisch doch gleichzeitig
erscheint? Wer entscheidet über die Ungleich-
Sinn, weiterer Punkt, gehört auch das Über- zeitigkeit? Ist das Ungleichzeitige nur darum
setzen zu unserem Thema, denn der Überset- ungleichzeitig, weil es — im Rückblick —
zer ist ein spezifischer Leser: ein Leser, der schon früher da war und später nicht mehr?
s ch r e i b t und zwar auf Grund vorhergehen- Es bestehen hier zwei konträre Gefahren: die
der, möglichst genauer Lektüre. Er schreibt Gefahr, daß nur Kontinua, also keine Brüche
sein Lesen, und sein Ziel ist es, das Gelesene gesehen werden, und die Gefahr, daß nur
undeformiert, soweit es seine Bedingungen, Brüche gesehen oder daß sie überakzentuiert
also seine Sprache, dies erlauben, wiederzu- werden und das Kontinuum, das Beharrende,
geben. Das Thema „Übersetzung“, speziell aus dem Blick gerät. Zu beachten ist auch,
dann die „literarische Übersetzung“, wäre was die erste Gefahr angeht, daß dasselbe
auch unter diesem Aspekt anzugehen — der a n d e r s sein kann in einem a n d e r e n Kon-
Übersetzer als Leser. text.
Eine konstante Schwierigkeit, die sich auch Schließlich liegt überall, nicht nur im Blick
bei der Geschichte des Lesens stellt, besteht auf das Thema „Lesen“, sondern im Bereich
darin, daß es kaum möglich ist, sich zurück- Schriftlichkeit/Mündlichkeit überhaupt, die
zuversetzen in Zeiten, die in dieser Hinsicht
5.  Geschichte des Lesens 83

Gefahr einer Überschätzung des Medialen. Es 12. Literatur


ist nicht leicht, die Bedeutung des medialen
Alarcos Lllorach, Emilio. 1968. Les représentations
richtig einzuschätzen. Natürlich, zum Bei-
graphiques du langage. In: Martinet, Andre (ed.),
spiel, spielt die mediale Differenz — gespro-
Le langage. Paris.
chen/geschrieben — eine Rolle. Aber sie ist
doch nicht alles. Gerade darum ist die Unter- Althaus, Hans Peter. 1980. Graphetik. In: Lexikon
scheidung zwischen den beiden Unterschei- der Germanistischen Linguistik. 2 . Aufl. Tübingen,
dungen — phonisch/graphisch — mündlich/ 138—142.
schriftlich —, auf die Koch & Oesterreicher —. 1980. Graphemik. In: Lexikon der Germanisti-
1985 im Anschluß an Söll so großen Wert schen Linguistik. 2. Aufl. Tübingen, 142—151.
legen, von Gewicht. Sie zeigt, daß die Diffe- Assmann, Aleida, Assmann, Jan & Hardmeier,
renz mündlich/schriftlich in gewissem Sinn Christian (ed.). 1983. Schrift und Gedächtnis. Bei-
unabhängig ist vom Medialen. Nur darf, an- träge zur Archäologie der literarischen Kommuni-
dererseits, hier auch wieder die Bedeutung der kation. München.
medialen Differenz nicht verkürzt werden, Aust, Hugo. 1983. Lesen. Überlegungen zum
weil Schriftlichkeit, zum Beispiel, doch wieder sprachlichen Verstehen. Tübingen.
viel zu tun hat mit dem Medium des Graphi- Bäuml, Franz H. 1968. Der Übergang mündlicher
schen, des bloß Optischen. Nun aber wieder zur artesbestimmten Literatur des Mittelalters. Ge-
umgekehrt: das Mediale spielt in der Ge- danken und Bedenken. In: Voorwinden & de Haan
schichte des Lesens eine bedeutsame Rolle, (ed.), 238—250.
immer wieder ist aber doch auch festzustellen, Balogh, Josef. 192 7. „Voces paginarum“, Beiträge
daß dies Mediale ge i st i g gleichsam über- zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens.
spielt werden kann. So haben wir, bereits bei Philologus 82, 84—240.
Plato, eine Überschätzung der Veränderun- Baumgärtner, Alfred C. (ed.). 1973. Lesen — ein
gen, die die Schrift bewirkte, eine Überschät- Handbuch. Hamburg.
zung dann auch der Veränderungen, die der Beinlich, Alexander. 1973. Die Entwicklung des
Buchdruck bewirkte, eine Überschätzung si- Lesers. In: Baumgärtner, 172—210.
cher auch der Veränderungen, die der Com-
puter bewirkt hat und weiter bewirkt. Dies —. 1973. Zu einer Typologie des Lesers. In: Baum-
zeigt sich auch vielfach im Einzelnen. Zum gärtner, 211—227.
Beispiel ist die Behauptung schwer haltbar, Blumenberg, Hans. 1981. Die Lesbarkeit der Welt.
daß erst die Schrift ein Wortbewußtsein ver- Frankfurt a. M.
mittelt habe, so als hätten die Sprechenden in Bumke, Joachim. 1987. Höfische Kultur. Literatur
jenem „Jenseits der Schrift“ nicht über ein und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. Mün-
intuitives Wissen darüber verfügt, was ein chen.
Wort ist. Als ob dazu die Schrift notwendig Chartier, Roger. 1981. La circulation de l’écrit. In:
gewesen wäre! Als ob das Wort ein Produkt Chartier, Roger (ed.), Histoire de la France ur-
wäre der Schrift! Es ist doch unzweifelhaft so, baine, Bd. III, La ville classique. De la Renaissance
daß die Logographie nur denkbar ist unter aux révolutions. Paris.
Voraussetzung eines Wortbegriffs im Sinne —. 1982 . Lectures et lecteurs dans la France d’An-
von Dingbezeichnungen (Wort als Name cien Régime, Paris.
eines Dings, einer Eigenschaft, eines Vorgangs —. 1985. Ist eine Geschichte des Lesens möglich?
und Zustands ...). Daß daneben, gramma- Vom Buch zum Lesen: einige Hypothesen. Zeit-
tisch betrachtet, das Wort von Sprache zu schrift für Linguistik und Literaturwissenschaft 57/
Sprache, „einzelsprachlich“, variieren kann, 58, 250—273.
steht auf einem anderen Blatt. Ein intuitives Disch, Robert. (ed.). 1973. The Future of Literacy.
Wissen über das, was ein Wort ist, gab und Englewood Cliffs, N. J.
gibt es also vo r und unabhängig von jeder
Engelsing, Rolf. 1970. Die Perioden der Leserge-
Schrift. Wobei wir wiederum sehen müssen,
schichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß
daß die Schrift, dann speziell die Einführung
und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. Ar-
der spatia in der Schrift zwischen den Wör-
chiv für Geschichte des Buchwesens 10, 945—1002.
tern, die Wortbewußtheit bereits zur Voraus-
setzung hat, dies Bewußtsein weiter verstärk- —. 1973. Analphabetentum und Lektüre. Zur So-
ten. Es geht also um die richtige Einschätzung zialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen
des Medialen und der Veränderungen im Me- feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart.
dialen, die sich in der langen Geschichte des —. 1974. Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in
Lesens (und Schreibens) ergaben und jetzt Deutschland 1500—1800. Stuttgart.
und künftig weiter ergeben. Fritz, Adolf. 1989. Lesen in der Mediengesellschaft.
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84 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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6.  Geschichte des Buches 85

6. Geschichte des Buches

1. Allgemeines sich auf kulturelle gesellschaftliche Erfah-


2. Der alte Orient und die Antike rung, oder es handelt sich um ein Fach-,
3. Das Mittelalter und die frühe Neuzeit Sach-, Schul- oder Lehrbuch.
4. Das 17. und 18. Jahrhundert Das Buch ist eine Ware; es wird von einem
5. Das 19. Jahrhundert Verlag produziert, bei dem das Copyright liegt
6. Das 20. Jahrhundert und der das Buch von einer Druckerei und
7. Literatur einer Buchbinderei herstellen läßt; er wirbt
für das Buch und distribuiert es über Groß-
händler und Sortiment, teilweise auch über
1. Allgemeines andere Geschäftsformen. Der Verlag be-
Nach der Geschichte des Lesens und der Ge- stimmt die Ausstattung des Buches, schreibt
schichte des Schreibens wäre an dieser Stelle dem Handel den Endverkaufspreis (gebun-
des Handbuchs eine Geschichte des Textes dene Preise) vor, bezahlt aus den Einnahmen
bzw. der Texte zu erwarten. Eine solche Ge- das Autorenhonorar, die Verlags- und Druck-
schichte würde freilich den Rahmen eines kosten und räumt dem Großhandel und dem
Handbuchartikels sprengen. Es soll stattdes- Sortimentsbuchhandel einen bestimmten An-
sen die Entwicklung des Buches als einer pro- teil am Endverkaufspreis ein.
totypischen Form schriftlicher Texte gekenn- Im Sortimentsbuchhandel erscheint das
zeichnet werden. Das ist selbstverständlich Buch in einer bestimmten Ausstattung mit
eine Einengung. So ist das Buch in seiner einem festgelegten Titel, der über Verlags-
heutigen Form primär ein Träger westlicher oder Buchhandelsverzeichnisse erschließbar
Schriftkultur: die Entwicklungen in Fernost ist. Für dieses Buch wird Werbung betrieben,
oder z. B. auch in der jüdischen oder arabi- damit es Käufer findet, die es dem potentiel-
schen Geschichte sind durchaus anders ver- len Leser zuführen. Es wird Bestandteil einer
laufen (→ Kap. IV). Darüberhinaus wird in privaten oder öffentlichen Bibliothek, die die
diesem Beitrag, insbesondere bezüglich der Literaturversorgung der Bevölkerung sicher-
neuzeitlichen Geschichte, die Kennzeichnung stellen und so — gemeinsam mit anderen
exemplarisch am Beispiel der Entwicklung in Presseerzeugnissen und den elektronischen
Deutschland vorgenommen. Medien — eine Öffentlichkeit schaffen, die
Was ein Buch ist, wird in unterschiedli- durch den freien Zugang zu allen Informatio-
chen Zusammenhängen sehr verschieden be- nen konstituiert wird.
stimmt. Für die Mehrwertsteuerermäßigung Diese Bestimmungen charakterisieren das
sind ganz andere Kriterien maßgebend als Buch und den Buchmarkt in Westeuropa seit
etwa für die juristische Regelung des Copy- dem 18. Jahrhundert, denn erst seit dieser Zeit
rights oder für die Bestimmung der kulturel- bilden die einzelnen Merkmale eine Einheit.
len Bedeutung des Buches. Deshalb soll hier Aber jede dieser Bestimmungen hat eine zum
der „Normalfall“, der Prototyp Buch, be- Teil Jahrtausende alte eigene Geschichte.
schrieben werden, der die durchschnittliche
gesellschaftliche Erfahrung von „Buch“ in
den westeuropäischen Ländern der Gegen- 2. Der alte Orient und die Antike
wart prägt. Diesen Prototyp „Buch“ formen
dann Merkmale und Bedingungen, die in 2.1. Tontafeln
einem konkreten Einzelfall „Buch“ nicht alle Eine wichtige Funktion des Buches, die Über-
verwirklicht sein müssen, und so entstehen lieferung längerer zusammenhängender Texte,
Übergänge zu anderen Formen von kulturel- wird sehr bald nach der Erfindung von Auf-
len Äußerungen. schreibsystemen in allen Schriftkulturen mit
Ein Buch ist ein von Menschen hergestell- Hilfe der jeweils verbreitetsten Schreibmate-
ter Gegenstand, der aus einer Menge von rialien vorgenommen. So finden sich die äl-
bedruckten Papierseiten in einem Einband be- testen Vorläufer des Buches auch in den äl-
steht. Die Papierseiten sind mit einem Text testen Schriftkulturen. In Mesopotamien als
bedruckt, der von einem oder mehreren Auto- der Wiege der Schreibkunst enthalten ca. 3000
ren oder Herausgebern verfaßt oder zusam- der bisher gefundenen 300 000 Keilschriftton-
mengestellt ist. Dieser Text besteht aus Un- tafeln der Sumerer literarische Texte. Ein
terhaltungs- oder Bildungsliteratur, er bezieht „Buch“ besteht oft aus mehreren Tafeln, die
86 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

numeriert sind und auf jeder Tafel die Anzahl ter, die großen Prosawerke etwa eines Perikles
der zusammengehörigen Tafeln und die An- wurden von vornherein schriftlich konzipiert.
fangsworte des Textes verzeichnen. Diese Diese Entwicklungen vollzogen sich öffent-
Tontafeln stammen meist aus dem späten 3. lich, „demokratisch“ kontrolliert, und hatten
und frühen 2 . Jahrtausend v. u. Z., gehen aber so für das Literaturverständnis eine unerhörte
sicher auf ältere Vorlagen zurück (→ Art. 35). Bedeutung (→ Art. 37): Während in der ora-
Die Texte wurden in Tempelbibliotheken ge- len Kultur Dichtung durch ihre formalen Ei-
sammelt und in Schreibschulen, die den Tem- genschaften gekennzeichnet war und im übri-
peln angegliedert waren, tradiert. Spätestens gen der Selbstvergewisserung der kulturellen
in babylonischer Zeit (ca. 18.—17. Jahrhun- Gruppe diente, ihr also von vornherein Wahr-
dert v. u. Z.) hat es einen Austausch zwischen heitswert zukam, wurden bei der schriftlichen
den verschiedenen Tempelbibliotheken gege- Aufzeichnung von Literatur „unwahre“, der
ben. eigenen Erkenntnis widersprechende Aussa-
gen fixiert und für die Rezipienten erfahrbar.
2.2. Papyrusrollen So erhielt Dichtung fiktionalen Charakter
(Rösler 1980).
Wichtiger für die Geschichte des Buches Über die schriftliche Überlieferung einer
wurde Ägypten. Hier begann die schriftliche Dichtung entschieden im klassischen Grie-
Überlieferung etwa 3000 v. u. Z. Überliefert chenland die Zeitgenossen der Dichter, die
sind ähnliche Texte wie in Mesopotamien sich die Manuskripte der erfolgreichen Werke
(Lieder, Mythen, epische und hymnische abschrieben und so deren Tradierung sicher-
Dichtung, Reiseschilderungen und Romane ten. Daneben ist ein professioneller Ab-
etc.; → Art. 34). Entscheidend ist aber der schreibbetrieb und ein Handschriftenhandel
Gebrauch eines neuen Beschreibstoffes, des für griechische Städte seit dem 5. Jahrhundert
Papyrus. bezeugt. In dieser Zeit bekommen Bücher eine
Der Papyrus ist eine Pflanze, die im Nil- neue Funktion, sie sind nicht mehr nur Auf-
delta in großen Mengen wuchs. Sie wurde zeichnung erfolgreicher Texte, sondern bereits
von den Ägyptern vielseitig verwendet, und das Medium, in dem die Konzeption der
ihre schreibtechnischen Vorteile wurden früh Werke erfolgt, und auch die Verbreitung die-
entdeckt: Bereits in Steininschriften, die 5000 ser Werke erfolgt nicht mehr primär münd-
Jahre alt sind, ist eine Hieroglyphe für eine lich, sondern mündlich und schriftlich. Dies
Papyrusrolle überliefert, die ältesten gefun- beweist nicht nur der Bücherhandel, sondern
denen Papyri stammen aus dem 3. vorchrist- auch die Entstehung einer Vielzahl von Bi-
lichen Jahrtausend. Das Material des Papyrus bliotheken.
führte zur Rollenform schriftlicher Texte. Mit den Bibliotheken von Alexandria und
Diese Form wurde der „Normalfall“, und so Pergamon wurde eine neue Qualität der
wurden auch Tierhäute zu einer Rolle zusam- schriftlichen Überlieferung entwickelt: Da
mengenäht. aufgrund der klimatischen Verhältnisse au-
Eine neue gesellschaftliche Qualität erhielt ßerhalb Ägyptens Papyrusrollen nach zwei-
das Buch, als Texte in Alphabetschrift verfer- oder dreihundert Jahren unbrauchbar wur-
tigt werden konnten. Zwar stellten die su- den, mußten ältere Texte immer wieder ab-
merischen und ägyptischen Texte bereits das geschrieben werden. Bei diesem Abschreiben
„gesellschaftliche Gedächtnis“ dar, aber die- ergaben sich notwendigerweise Abweichun-
ses war nur einer kleinen Gruppe zugänglich gen von der Vorlage, so daß der Wortlaut
und wurde nur zu bestimmten Anlässen ak- eines Textes größeren Schwankungen unter-
tiviert, konnte also gesellschaftliche Kom- worfen war. Da sich gleichzeitig die Sprache
munikationsbeziehungen noch nicht durch- verändert hatte, entwickelten die Bibliothe-
greifend umstrukturieren. Dies änderte sich kare Alexandrias eine philologisch-hermeneu-
mit der Übernahme der Buchrolle durch die tische Methode, die den „Urzustand“ der
Griechen, die nicht nur ihr Alphabet, sondern Texte wiederherstellte bzw. ihre unveränderte
auch ihren Beschreibstoff von den Phöniziern Tradierung gewährleistete. Die damals ent-
übernahmen: Schon der Name biblos verweist wickelten Methoden prägen die Philologien
auf den phönizischen Hafen Gubla, aus dem bis heute (→ Art. 54).
die Griechen ihre Papyrusrollen importierten. In dieser alexandrinischen Philologen-
Spätestens seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. schule wurde erstmals ein Unterschied zwi-
wurde griechische Dichtung schriftlich tra- schen Text und Buch relevant: Während bei
diert, seit ca. 550 v. u. Z. gab es in Athen handschriftlicher Buchproduktion normaler-
Staatshandschriften der „klassischen“ Dich-
6.  Geschichte des Buches 87

weise Text und Handschrift als Einheit erfah- Ausgaben eines Werkes sprechen kann. Die
ren wurden, wurde nun ein „Originaltext“ aus Vervielfältigungen wurden in Schreibmanu-
unterschiedlichen Handschriften rekonstru- fakturen in der Regel von Schreibsklaven
iert, und so der Text als sprachlich-literarische kommerziell hergestellt (im allgemeinen wohl
Größe von dem materiellen Träger unterschie- nach Diktat). Sie wurden von einem das ganze
den. Damit entstand eine Buchproduktion, Imperium Romanum umspannenden Netz
die sich auf Bücher bezog: Kataloge, Inhalts- von Buchhändlern vertrieben und zumindest
angaben, Kommentare und methodische Ab- in Einzelfällen von Verlegern betreut. Bücher
handlungen, die das Buch selbst zum Gegen- unterlagen bereits damals der Zensur. Der
stand hatten (Erbse in Hunger et al. 1975, Autor wurde durch „Mäzene“ gefördert, über
221 ff). Autorenhonorare ist nichts bekannt. Wichtig
Die beiden größten Bibliotheken des Al- für den Autor war der literarische Ruhm, die
tertums initiierten zur Bestandssicherung gesellschaftliche Anerkennung, die sein sozia-
einen das ganze Mittelmeer umspannenden les Fortkommen bestimmte, nicht das Ho-
Handschriftenhandel und entwickelten so die norar. In der Spätantike begann das Buch-
Kommerzialisierung der Handschriftenpro- wesen so unübersichtlich zu werden, daß
duktion entscheidend weiter. Die Bibliothek Kurzfassungen der wichtigsten Werke für ei-
von Alexandria soll ca. 400 000 Rollen ent- lige Leser erstellt werden mußten (Erbse in
halten haben, da aber wohl nur von 2 0 000 Hunger et al. 1975, 234 ff).
verschiedenen Texten für das ganze griechi- In den ersten Jahrhunderten n. Chr. scheint
sche Altertum auszugehen ist, zeigt diese Pro- sich die Buchform je nach Inhalt des Buches
portion die in dieser Bibliothek geleistete Ar- unterschieden zu haben. Juristische, philoso-
beit an (Hunger 1975 et al., 63 f; Canfora phische, historische und literarische Texte
1990, passim). wurden sowohl als Rolle wie als Codex ver-
Pergament ist ein Beschreibstoff, der durch breitet, christliche Texte, vor allem die Bibel
Gerbung aus Tierhäuten hergestellt wurde. bzw. das NT, erschienen fast ausschließlich
Auch die Herstellung dieses Beschreibstoffes als Pergament- oder Papyruscodex. Die Be-
war sehr aufwendig, denn für zwei Folioseiten vorzugung des Codex im christlichen Schrift-
mußte jeweils ein Tier geschlachtet werden, tum mag ein Grund für die Durchsetzung
aber Pergament hatte vor dem Papyrus den dieser Buchform in den ersten 5 Jahrhunder-
Vorzug, daß Texte gelöscht und es wiederbe- ten n. Chr. gewesen sein. Daneben hat aber
schriftet werden konnte (sog. Palimpseste). sicherlich die Veränderung in der Versorgung
mit Beschreibstoff eine Rolle gespielt, da der
2.3. Der Codex Papyrusanbau in Ägypten einen Niedergang
erlebte und zugleich die Handelsverbindun-
Auch das Pergament wurde in der Antike in gen nach dem Ende des weströmischen Rei-
Rollenform verwandt, doch entsteht in Rom ches erschwert waren. Vom 4.—6. Jahrhun-
daneben der Codex. Er wurde entwickelt aus dert jedenfalls erfolgte der Umwandlungspro-
der Form zusammengebundener Wachstäfel- zeß der Papyrusrolle zum Pergamentkodex
chen, die an einer Seite durch Lederriemen auch für Literaturwerke.
verbunden waren. Diese Technik wurde zum
Zusammenheften von Einzelblättern über-
nommen, und daraus entwickelte sich die Bin- 2.4. Büchervernichtung
dung des Codex an der linken Seite. Diese Die Geschichte der christlichen Literatur ist
Form hatte gegenüber der Rolle einige Vor- eine Geschichte der Zensur, der Verfolgung
teile: Man konnte den Codex aufschlagen, auf und der Bücherverbrennung. Zwar gibt es den
einen Tisch legen, Vorder- und Rückseiten der Versuch, durch Zensur und Verbot das kol-
Blätter beschreiben. Der Leser konnte vor- lektive Gedächtnis und die „öffentliche Mei-
und zurückblättern und damit erst wörtlich nung“ zu steuern, seitdem wir schriftliche
zitieren. Durch die Bindung wurden Reihen- Überlieferungen kennen (z. B. ließ der ägyp-
folge und Gesamtumfang einer Werksamm- tische Pharao Thutmosis III. nach seinem Re-
lung „kodifiziert“, Codices waren praktischer. gierungsantritt den Namen seiner Vorgänge-
Rolle und Codex (sowohl aus Pergament rin Hatschepsut aus allen öffentlichen In-
wie aus Papyrus) existierten in römischer Zeit schriften entfernen, und auch das klassische
nebeneinander, wobei der Codex als geringer- Griechenland kannte Bücherverbrennungen).
wertig galt. Literarische Werke konnten in Dennoch hat es erst die spätrömische Kaiser-
beiden Formen vertrieben werden, so daß zeit zu einer organisierten Verfolgung und
man in römischer Zeit von verschiedenen Vernichtung von Büchern, Bücherbesitzern
88 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

und den Anhängern der in diesen Büchern Buchbindern und Lesern (Wittmann 1991,
vertretenen Lehren gebracht. Objekt dieser 13).
Verfolgungen waren alle religiösen Gruppen, Das kirchliche Interesse galt der Sicherung
die sich der Staatsreligion widersetzten, am der Überlieferung der religiösen Texte, die im
heftigsten traf sie die Christen und die christ- Vordergrund aller schreibsprachlichen Be-
liche Literatur. Einen durchschlagenden Er- mühungen stand. Als Staatskirche hatte die
folg konnten Zensurmaßnahmen allerdings christliche Kirche jedoch auch ein genuines
aufgrund der Abschreibpraxis und der damit Interesse an der Überlieferung juristischer
verbundenen individuellen Vervielfältigung Texte, denn diese schrieben auch die Privile-
von Manuskripten nicht haben. gien der Kirche fest bzw. waren für ihre
Die Zensur christlicher Literatur endete Zwecke auch umzuschreiben. S o war durch
mit dem Mailänder Edikt von 313, in dem den Charakter der tradierenden Institution
Kaiser Konstantin den Christen Schutz ge- die Überlieferung zweier entscheidender lite-
währte. Nach der Anerkennung begann das rarischer Bereiche gesichert. Die Überliefe-
Christentum seinerseits mit dem Verbrennen rung des dritten literarischen Bereiches, Phi-
von Büchern und Menschen. „Die Bücher- losophie, Geschichte, Medizin und Literatur,
verbrennung ist ein Teil der Christianisie- ergab sich aus der Notwendigkeit, das Ver-
rung“ (Canfora 1990, 184). Diesem Vorgehen ständnis der biblischen Texte zu sichern. Wie
fielen nicht nur die antichristlichen heidni- bei Gründung der Bibliothek von Alexandria
schen Schriften und die christlich-häretischen ergab sich aufgrund der sprachlichen Ent-
Werke zum Opfer, die Christianisierung be- wicklung die Notwendigkeit, Grammatik und
deutete auch das Ende für die berühmteste Lexik der zu untersuchenden Texte zu erläu-
Bibliothek der Antike, der Bibliothek von tern, und dies war nur mit Hilfe der profanen
Alexandria. Nachdem eine kleinere Biblio- Literatur möglich. Die Überlieferung der an-
thek in Alexandria wohl bei der Eroberung tiken Literatur in Europa verdankt sich also
der Stadt durch Julius Caesar vernichtet im wesentlichen pädagogisch-philologischen
wurde und die zweite bedeutende Bibliothek Interessen. Dies erklärt auch, daß viele Per-
der Antike in Pergamon als römische Kriegs- gamenthandschriften, die profane Literatur
beute zerstreut worden war, haben die ver- enthielten, im Laufe der Zeit neu geglättet
schiedenen Christianisierungen Ägyptens im und mit christlichen Texten beschrieben wur-
4. Jahrhundert das Ende der großen alexan- den, während der umgekehrte Vorgang sehr
drinischen Bibliothek bedeutet (Canfora selten ist. Immerhin ist das, was an klassischer
1990). Die christliche Bücherverbrennungs- Literatur bis 1500 in Europa bekannt war,
praxis erfaßte seit dem 5. Jahrhundert auch entweder durch die Abschreibetätigkeit
zunehmend die religiösen Schriften des Ju- christlicher Mönche überliefert worden oder
dentums, vor allem den Talmud, der bis in durch die Vermittlung der spanischen Araber
die Neuzeit immer wieder dem Feuer über- auf uns gekommen.
geben wurde. Die mittelalterlichen Klöster und ihre Bi-
bliotheken im deutschsprachigen Raum sind
Produkte der angloirischen Mission, und die
3. Das Mittelalter und Missionare brachten auch ihre Bücher von
die frühe Neuzeit den Inseln mit. Diese waren in einer neuen
Schreibkonvention verfaßt: Die irischen
3.1. Handschriften Mönche setzten nicht Buchstaben neben
Nach dem Zerfall des römischen Weltreiches Buchstaben, wie es während der gesamten
entfielen die Voraussetzungen für die antike Antike der Fall war, sondern setzten die ein-
Schriftkultur in weiten Teilen Europas. Dies zelnen Wörter durch Zwischenräume, Spa-
zwang die christliche Kirche, die Tradierung tien, voneinander ab. In diesen Handschriften
der Basistexte und deren Verständlichkeit zu vergegenständlicht also bereits der Schreiber
sichern. Diese Aufgabe fiel den im 6. Jahr- eine Analyse des Satzes, der Leser muß die
hundert neugeschaffenen Mönchsorden zu. syntaktische Gliederung nicht mehr durch
So entstanden anstelle der antiken Bibliothe- lautes Lesen selbst vornehmen. Diese neue
ken die mittelalterlichen Klosterbibliotheken. Schreibtechnik war eine der Voraussetzungen
An die Stelle des relativ offenen antiken Li- für das „stille“ Lesen und damit für eine re-
teraturmarktes trat ein „geschlossener Kreis- volutionär veränderte Einstellung zum Buch:
lauf“ von Autoren, Herausgebern, Schrei- das Buch wurde zu einem Objekt für das Auge
bern, Korrektoren, Illustratoren, Kopisten, (Illich 1991, 91 ff).
6.  Geschichte des Buches 89

Karl der Große wollte sein Reich religiös Herstellung einer Handschrift, dennoch
und politisch vereinheitlichen, und dies war machten die Beschreibstoffkosten immer
bei der Größe des Gebietes nur durch eine noch die Hälfte des Endpreises eines Buches
Vereinheitlichung des Schriftwesens zu errei- aus. Da das Papier nicht nur für die Buch-
chen. Nach dem Vorbild der karolingischen produktion benötigt wurde, war es zweitens
Hofschule wurde die Schrift reformiert (ka- immer in ausreichenden Mengen erhältlich.
rolingische Minuskel), in den Kloster- und Zum dritten war das Papier erheblich leichter
Bischofsbibliotheken wurden revidierte Texte und damit einfacher zu transportieren, und
abgeschrieben und dazu Schreibschulen ein- dies galt auch für das Endprodukt. Endlich
gerichtet. Der Bücherbestand der ostfränki- garantierte der maschinelle Herstellungspro-
schen Bibliotheken ist weitgehend auf die zeß eine gleichbleibende Qualität und gleich-
Kulturpolitik Karls zurückzuführen (Schmitz bleibende Maße. Papier konnte darüber hin-
1984, 19 ff). Die Mönche vermehrten ihre aus mit anderen Tinten und anderen Schreib-
Bibliotheksbestände vor allem dadurch, daß werkzeugen beschrieben werden als Perga-
sie sich Bücher aus anderen Bibliotheken aus- ment. Diese Möglichkeiten trugen ebenso wie
liehen und diese abschrieben. Daneben hat es neuentwickelte Techniken der Buchbinder, die
in geringem Maße auch den Kauf von Hand- erheblich leichtere Einbände produzierten,
schriften gegeben, und neben der Produktion dazu bei, daß sich im 14. Jahrhundert ein
für den im engeren Sinne kirchlichen Bedarf neuer Buchtyp entwickelte, der neue Möglich-
sind auch Prachtkodices für weltliche Herr- keiten des Gebrauchs bot, unter anderem das
scher angefertigt worden, die schon wegen individuelle Lesen ermöglichte.
ihrer Größe und ihres Gewichtes nur Reprä- Ivan Illich (1991 passim) hat darauf hin-
sentationszwecken dienen konnten. Aber gewiesen, daß mit der Entstehung der Scho-
auch die „Gebrauchshandschriften“ des Mit- lastik im 13. Jahrhundert eine radikal neue
telalters waren so gewichtig, daß sie nur in Einstellung zum Buch verbunden war: Seit
den seltensten Fällen die ganze Bibel enthiel- dieser Zeit muß auch im christlichen Europa
ten. Für den kirchlichen Gebrauch bestand zwischen Text und Buch unterschieden wer-
die Bibel aus einer Sammlung separater, vo- den. Bis zu dieser Zeit waren Text und Buch
luminöser Bände, denn die zur Verfügung ste- eine Einheit, die Lektüre eines Buches verwies
henden Blätter aus Pergament waren zu auf die Welt, auf die das Buch bezogen war.
schwer und zu sperrig, als daß eine vollstän- Jetzt wurde der Text zu einer Einheit der
dige Bibel hätte problemlos gebunden werden Kommunikation, er verwies auf einen argu-
können, und die verwendeten Buchstaben mentativen Diskurs. An die Stelle des dicta-
waren zu groß, um viel Text auf einer Seite tors des Buches trat der auctor des Textes, der
unterzubringen. Auch eine Bibel des 13. Jahr- als Individuum für das Geschriebene verant-
hunderts, die in kleinen Buchstaben und mit wortlich war. Eine der Voraussetzungen für
vielen Abkürzungen geschrieben war, wog diese Entwicklung war die Wiederentdeckung
noch 5 kg. So war das Buch bis ins 13. Jahr- der antiken Philosophie, eine der Folgen, daß
hundert Kult- und Repräsentationsgegen- jetzt nicht mehr das Buch von der Hörerge-
stand, der Text der Bibel wurde auswendig meinde kollektiv nachvollzogen wurde, son-
gelernt. Auch die seit der Antike bekannten dern daß die Inhalte vom Leser erschlossen
Handschriftenillustrationen dienten der Re- werden mußten. Dies geschah u. a. durch
präsentation und als Memorierhilfe. Dieser nach dem Alphabet gegliederte Register, Kon-
Funktionsbestimmung und der Anzahl der kordanzen, Bibliotheksinventare; Wörterbü-
verfügbaren Handschriften genügte ein Ka- cher wurden seit dem 12 .—13. Jahrhundert
talogisier- und Zitierverfahren, das die An- nach dem Alphabet gegliedert (→ Art. 141)
fangs- und Schlußworte der Handschrift an- und folgten nicht mehr der Reihenfolge eines
führte, das Incipit und das Excipit, wie päpst- vorgegebenen Textes oder einem Sachzusam-
liche Enzykliken ja auch heute noch nach menhang, die geschriebene Sprache löste sich
ihrem Incipit benannt werden. von ihrem materiellen Träger wie die Buch-
staben von der lateinischen Sprache, seit die-
3.2. Das Papier ser Zeit wurde das lateinische Alphabet all-
gemein für volkssprachliche Aufzeichnungen
Von kaum zu überschätzender Bedeutung war verwandt. Diese Entwicklungen waren not-
die Übernahme des Papiers im christlichen wendige Voraussetzungen für die Erfindung
Europa. Es veränderte das Buchwesen in we- des Buchdrucks, in dem dann der Text seine
sentlichen Punkten. Es verbilligte erstens die Materialisierung erfuhr.
90 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Eine andere wesentliche Voraussetzung für Eine wesentlich breitere Öffentlichkeit


die Erfindung des Buchdrucks war die Ent- wurde mit holzgeschnittenen Bildern und Tex-
stehung eines allgemeinen gesellschaftlichen ten erreicht. Etwa seit 1380 wurden Heiligen-
Bedürfnisses nach Büchern. Dazu trugen die bilder und Spielkarten „massenhaft“ dadurch
Veränderungen im Bildungsbereich wesent- produziert, daß Holzschnitte auf Papier ab-
lich bei, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert gezogen wurden. Zum Holzschnittbild trat
erfolgte eine enorme quantitative Ausweitung dann bald der Text, der seitenverkehrt in die
des Schulwesens durch die Einrichtung neuer Holztafel eingeschnitten wurde und dann auf
Dom- und Ratsschulen. Eine qualitative Aus- dem Papier als normal lesbare Schrift er-
weitung läßt sich darin erblicken, daß die schien. Diese Technik war von der Stempel-
Juristen in den neu entstehenden Verwaltun- herstellung und der Münzprägung bekannt
gen auf dieses Medium angewiesen waren, und wurde erst für Einblattdrucke, dann auch
daß in diesen Jahrhunderten das Beherrschen für Bücher genutzt. Diese „Blockbücher“ ent-
des Lesens und Schreibens für das städtische hielten nur einseitig bedruckte Blätter, da der
Patriziat und die Fernhandelskaufleute zur hier angewandte Reiberdruck durch das Blatt
Selbstverständlichkeit wurde und auch die durchschien. Die bekanntesten Blockbücher
verschiedenen Schichten des Adels in unter- stellen die sogenannten Armenbibeln dar, die
schiedlicher Form literarisiert wurden. Mit Teile der biblischen Geschichte als Bilderfolge
der Entstehung dieser literaten Schichten ist darstellen. Daneben gab es Blockbücher, die
wiederum eine Verlagerung der literarischen reinen Text enthielten. Diese Blockbücher
Interessen verbunden. Neben die theologische wandten sich nicht an das „einfache Volk“,
und erbauliche Literatur treten juristische, sondern an den niederen Klerus, der des Le-
aber auch poetische und sachgebundene sens und Schreibens wie des Lateins nur un-
Texte. Wichtig gerade für die neu literarisier- vollkommen mächtig war.
ten Schichten wurde die Ende des 13. Jahr- So entstand in den Jahrhunderten vor der
hunderts erfolgte Übernahme des von den Erfindung des Buchdrucks ein neues Lese-
Arabern entwickelten Lesesteins, der wie eine publikum mit einem neuen Textverständnis
Lupe auf den Text gelegt wurde und diesen und differenzierten literarischen Neigungen,
vergrößerte. Dieser Lesestein wurde in dessen Bedürfnisse aber noch durch die hand-
Europa bald zur Niet- und Bügelbrille wei- werksmäßige Vervielfältigung von Hand-
terentwickelt. Erst mit dieser Erfindung schriften oder Blockbüchern befriedigt wer-
wurde die Lesefähigkeit nicht mehr durch die den konnten, da durch die Entwicklung der
Alterssichtigkeit begrenzt (Wittmann 1991, Papiermanufaktur ein relativ preiswerter Be-
14 ff). schreibstoff zur Verfügung stand und die
Der Bedarf an Literatur führte in Italien handwerkliche Arbeitsteilung hinreichend ef-
und Frankreich schon früh zur Massenpro- fektiv war. Diese Verhältnisse wurden durch
duktion von Handschriften durch Verleger. die Erfindung des Buchdruckes mit Hilfe be-
Der bedeutendste Handschriftenhändler des weglicher Metallettern durch Johannes Gens-
15. Jahrhunderts, Vespasiano da Bisticci, be- fleisch zum Gutenberg in wenigen Jahrzehn-
schäftigte zeitweise 45 Lohnschreiber und ten revolutioniert.
konnte so für Cosimo de Medici innerhalb
von 2 2 Monaten über 2 00 Prachthandschrif- 3.3. Der Buchdruck
ten liefern. Der bekannteste deutsche Hand-
schriftenproduzent und -verleger, Diebold Johannes Gutenberg entstammte dem main-
Lauber, betrieb im elsässischen Hagenau eine zischen Patriziat und wurde zwischen 1394
rege deutschsprachige Bücherproduktion auf und 1404 in Mainz geboren, wuchs in Mainz
Vorrat, nicht mehr auf Bestellung, er entwik- und Eltville auf und hat wahrscheinlich stu-
kelte die ersten überlieferten Verlagsanzeigen diert, wohl in Erfurt, und das Goldschmie-
und belieferte mit den Erzeugnissen seiner dehandwerk erlernt. Zwischen 1434 und 1444
Schreiberwerkstatt zwischen 142 5 und 1467 hielt er sich in Straßburg auf und experimen-
vor allem die Rheinlande, Franken und die tierte mit metallenen Druckvorlagen. Dabei
Schweiz. Zu seinen Kunden gehörten Ange- dürfte es sich um Pilgerzeichen und Wall-
hörige des Hochadels, vermögende Stadtpa- fahrtsandenken gehandelt haben, also um
trizier, Angehörige des hohen Klerus und Massenartikel, die in hoher Stückzahl pro-
auch Klöster, insgesamt ein sozial sehr ge- duziert werden mußten. Diese Erfahrungen
schlossener Kreis, der aber nicht mehr nur machte Gutenberg sich für den Buchdruck
kirchlich bestimmt war. zunutze. 1449 gründete er zusammen mit sei-
nem Geldgeber Johann Fust in Mainz eine
6.  Geschichte des Buches 91

Druckerei, aus der 1454 das erste gedruckte Druckereieinrichtung in den alleinigen Besitz
Buch, die berühmte 42 zeilige lateinische Bibel, Johann Fusts überging, der die Druckerei mit
hervorging (Kapr 1988; → Art. 13; → Abb. seinem Schwiegersohn Peter Schöffer weiter-
14.7 auf Tafel XVI). betrieb und in der Folgezeit öfter als Erfinder
Die einzelnen Techniken des Druckens mit der Buchdruckerkunst bezeichnet wurde. Un-
beweglichen Metallettern waren zu Guten- abhängig von diesen Streitereien um das gei-
bergs Zeit bereits bekannt, so daß als sein stige Eigentum an der Erfindung war jedoch
eigener Beitrag „nur“ die Erfindung des die Existenz zweier Druckereien und der da-
Handgießinstrumentes gilt, das die industri- mit verbundene Loyalitätskonflikt der be-
elle Herstellung von Lettern ermöglichte, und troffenen Mitarbeiter in diesen Druckereien
die Herstellung einer Druckerschwärze, die an eine der Voraussetzungen für die ungeheuer
den Metalltypen haften und deshalb ganz an- schnelle Verbreitung der Druckkunst, die
dere chemische Eigenschaften haben mußte trotz versuchter Geheimhaltung des Produk-
als diejenige, welche beim Abdruck von Holz- tionsprozesses, die j a auch durchaus den da-
stöcken gebraucht worden war. „Seine eigent- maligen Gepflogenheiten entsprach, erfolgte.
liche Leistung beruhte also vor allem in der Von 1455 bis 1500 wurde in 2 55 Orten, die
wissenschaftlichen Synthese der zu seiner Zeit sich über ganz Mittel- und Westeuropa er-
bekannten Verfahren der Vervielfältigung von streckten, ca. 2 7 000 verschiedene Bücher in
Schrift“ (Steinberg 1988, 2 7). Michael Gie- einer Gesamtauflage von etwa 2 0 Millionen
secke (1991, 77 ff) hat jedoch zu Recht darauf Exemplaren gedruckt. „Unter den aus der
hingewiesen, daß schon die Wahl des Metalls Frühdruckzeit erhaltenen Druckwerken neh-
als materiellem Träger der Schrift keineswegs men, soweit sich das Material überblicken
selbstverständlich war, daß eine Linearisie- läßt, die in lateinischer Sprache gedruckten
rung des Produktionsverfahrens eine Vielzahl mit 77,5% mit Abstand den Vorrang ein;
von neuartigen Abstimmungen der beteiligten deutlich treten demgegenüber die Titel zu-
Einzelteile erforderte und daß das Prinzip der rück, die in Landessprachen gehalten waren
Wiederverwendbarkeit des Typenvorrats den (2 2 %), und ganz gering (0,5%) ist der Anteil
Druck zum Prototyp eines industriellen Ver- der auf uns gekommenen Drucke in Hebrä-
fahrens machte. Gutenbergs Erfindung ist isch, Griechisch und Kirchenslawisch.“ (Wid-
eine geniale Entdeckung gewesen und nicht mann 1975, 48)
auf ein Einzelmoment reduzierbar. Wie fort- Durch den Buchdruck ergab sich ein völlig
schrittlich seine Erfindung war, zeigt die An- verändertes Verhältnis zur schriftlichen Über-
ekdote, daß 1485 alle Exemplare der ersten lieferung: Kam es vor der Erfindung des
Druckausgabe des Regensburger Meßbuches Buchdrucks darauf an, eine möglichst gute
von mehreren Geistlichen einzeln mit der Handschrift als Vorlage für seine Abschrift
Druckvorlage verglichen wurden und diese zu erhalten, so konnte nun für den Druck ein
dabei feststellten, daß die Druckexemplare kritischer Text erstellt werden, der auf der
übereinstimmten. M. Giesecke zeigt auch, daß Vergleichung vieler Handschriften und der
Gutenberg nicht die einfache Vervielfältigung Anwendung textkritischer Methoden beruhte.
von Handschriften beabsichtigte, sondern die Dadurch wurde der Text endgültig vom Buch
künstlerische Vollendung des Buches. Indem unterschieden, die Handschrift als Form der
er den Schreibvorgang mechanisierte, machte mittelalterlichen Überlieferung und Veröf-
er ihn von menschlichen Unzulänglichkeiten fentlichung eines Werkes wurde entscheidend
unabhängig. S o läßt sich die immer wieder abgewertet, eine Handschrift bot von jetzt an
bestaunte ästhetische Vollendung gerade der den verderbteren Text gegenüber der gedruck-
frühesten Drucke erklären, und so erklärt sich ten kritischen Edition und stellte keine Form
der Qualitätsverlust der gedruckten Bücher in der Veröffentlichung mehr da, sondern eine
den folgenden Jahrzehnten auch nicht einfach Form der Privatisierung (Giesecke 1991,
als durch die Kommerzialisierung bedingte 319 ff). Dem entsprach eine neue Form der
„Verwilderung“, sondern dadurch, daß Bü- Distribution des Buches. Mit der Durchbre-
cher von dieser Zeit an nicht mehr vollende- chung der geschlossenen Kreisläufe des Buch-
tere Handschriften sein sollten, sondern ge- vertriebs in Kirche und Verwaltung war ein
rade gewollt Druckerzeugnisse. neues Wirtschaften verbunden. Der Schreiber
In den Jahren 1454 und 1455 kam es zu kannte seinen Auftraggeber, Handschriften-
gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen händler wie Diebold Lauber hatten eine gute
Gutenberg und seinem Geldgeber Fust, die Vorstellung von ihrem Kundenkreis. Ein
damit endeten, daß die (oder besser eine) Drucker mußte seine Absatzmöglichkeiten
92 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

frei kalkulieren. Dabei zwang die Größe des führend, entstanden ihnen bald in Lyon und
in die Druckerei investierten Kapitals zu einer Paris wichtige Konkurrenten. Zur dominie-
möglichst großen Ausnutzung der Maschi- renden Buchdruck- und Buchhandelsstadt
nen. So mußte der Drucker einerseits über entwickelte sich aber für das 15. und 16. Jahr-
genügend Manuskripte verfügen, um etwas hundert Venedig, ehe es von Paris abgelöst
drucken zu können, andererseits mußten seine wurde. In Venedig, dem Zentrum des euro-
Waren Käufer finden. Daraus ergaben sich päischen Handschriftenhandels, wurde die
die Notwendigkeiten, neue Leserschichten zu wirtschaftliche Bedeutung des Verlagswesens
erschließen bzw. den Menschen den Nutzen früh erkannt und die Buchdruckerkunst ent-
des Lesens zu demonstrieren, ein Verteilungs- schieden gefördert, hier entstanden die wich-
system für Bücher aufzubauen und genügend tigsten Ausgaben antiker Autoren (und der
Autoren zu gewinnen. Darüber hinaus muß- erste Druck des hebräischen Alten Testa-
ten genügend Rohstoffe für die Bücherpro- ments), hier wurden neue Drucktypen, neue
duktion bereit gestellt werden. So entstanden Formen der Buchillustration und des Buch-
neue Berufsgruppen, von den Lumpensamm- einbands entwickelt (→ Art. 13).
lern, die den Rohstoff für die Papierherstel- Der Vertrieb von Büchern war unterschied-
lung heranschafften, über die Papiermacher, lich organisiert. Bei Auftragsproduktionen
die meist für Handelskapitalisten die Produk- übernahm der Auftraggeber den Vertrieb,
tionsstätten betrieben, über die akademisch sonst verkauften sowohl der Drucker-Verle-
gebildeten Drucker (Lateinkenntnisse waren ger selbst als auch von ihm beauftragte Ver-
für die Bücherproduktion unabdingbare Vor- treter. In den großen Städten gab es sehr rasch
aussetzung), die Stempelschneider und Gra- stationäre Bücherlager, in den anderen Ge-
veure, die oft Künstler bzw. Kunsthandwer- bieten wurden Bücher durch Handlungsrei-
ker waren, die ungelernten Druckereiarbeiter, sende vertrieben. Feste Preise gab es nicht.
die humanistisch gebildeten Editoren und Mit der Entwicklung der Handschrift zum
Korrektoren, die Verleger und Buchführer, gedruckten Buch wurden neue Gestaltungs-
die alle nicht mehr in Formen des mittelalter- formen notwendig, Bücher konnten nicht
lichen Zunfthandwerks organisierbar waren, mehr nach dem Incipit unterschieden werden.
sondern bereits Kapitalverwertungsbedingun- So setzte sich um 1480 das Titelblatt durch,
gen unterlagen. das Foliantenformat der Handschriften wur-
Die ersten Buchdrucker-Verleger gingen de durch kleinere, leichter zu transportie-
noch von den Erfahrungen der Handschriften- rende Formate ersetzt, die ursprüngliche Ty-
produktion aus, viele volkssprachige Drucke penvielfalt der Drucker wurde vereinheitlicht,
zielten noch auf einen regional begrenzten aus den Bilderklärungen von Kupferstich-
Kommunikationsraum, der als Absatzgebiet oder Holzschnittillustrationen wurden Kapi-
anvisiert wurde, und wenn der Text auch in telüberschriften. Hinzu kamen dann im 16.
anderen Gebieten von Interesse war, wurde er Jahrhundert wegen der Zensur Vorschriften
in einer den dortigen kulturellen und sprach- für die Buchgestaltung: ab 1530 mußte jedes
lichen Gegebenheiten angepaßten Form nach- gedruckte Buch den Namen des Druckers und
gedruckt. So entstanden überregionale Aus- den Druckort enthalten (Wittmann 1991,
gleichssprachen, die sich um bekannte Druk- 25 ff).
korte gruppieren.
Große wissenschaftliche Editionsvorhaben 3.4. Zensur
wurden überregional geplant, zumal man an
die Erfahrungen des internationalen Hand- Zu einem ökonomischen Problem wurde bald
schriftenhandels anknüpfen konnte. So ent- der Nachdruck erfolgreicher Werke. Zu Zei-
standen gespaltene Märkte, auf der einen ten der Handschriftenproduktion war das
Seite etwa Auftragsproduktionen für eine be- Abschreiben, also das Vervielfältigen einer
stimmte Kirchenprovinz, auf der anderen Vorlage, die einzige Möglichkeit, an den Text
Seite eine Buchproduktion, die mit dem Fern- zu gelangen. Jetzt stellten Nachdrucke eine
handel verbunden war. Vor allem diese Fern- Konkurrenz für den Erstdrucker dar. Gegen
handels-Drucker-Verleger konnten ihre An- diese Nachdruckpraxis entwickelten die Ver-
lagen kontinuierlich auslasten, sodaß die be- leger unterschiedliche Strategien. Die verbrei-
deutenden Verlage nicht in den Universitäts- tetste Maßnahme war der Versuch, Privilegien
oder Bischofsstädten angesiedelt waren, son- für den alleinigen Vertrieb eines Titels zu er-
dern in den Zentren des europäischen Fern- langen. Diese Privilegien galten jedoch immer
handels. Waren hier anfangs deutsche Städte nur für begrenzte Gebiete, selbst ein kaiser-
liches Privileg wurde durch Territorialhohei-
6.  Geschichte des Buches 93

ten begrenzt und galt außerhalb des Reiches 3.5. Luther und die Reformation
natürlich nicht. Dennoch waren kaiserliche
oder landesherrliche Privilegien der wirksam- Die Zensurmaßnahmen zeigen, daß die Re-
ste Schutz gegen Nachdrucke. formation nicht nur religiös und politisch
Diese Privilegien wurden aber nur für Bü- einer der entscheidenden Vorgänge des 16.
cher erteilt, die zuvor der Privilegien erteilen- Jahrhunderts war, sondern auch buchge-
den Stelle vorgelegt worden waren, sie wurden schichtlich eine herausragende Stellung ein-
so zu einem Mittel der Vorzensur. Staatlichen nimmt. Im Verlauf der Reformation nahm die
und vor allem kirchlichen Stellen war der Bücherproduktion in Deutschland ein neues
Buchdruck nicht nur ein „Geschenk Gottes“, Gesicht an: theologische, wissenschaftliche
sondern die durch ihn ermöglichte öffentliche und politische Fragen wurden mit Hilfe des
Diskussion, die neue und allgemeine, unge- Buchdrucks zum ersten Male öffentlich dis-
steuerte Kommunikation, wurde auch als Ge- kutiert, dementsprechend stieg die Produk-
fahr für bestehende Zustände begriffen. Be- tion deutschsprachiger Bücher und die Zahl
reits 1485 verbot der Erzbischof von Mainz der Lesekundigen. Volkssprachige reformato-
rische Schriften erreichten Auflagenhöhen,
(!) den Verkauf von deutschen Übersetzungen die vorher undenkbar gewesen waren. Dies
aus dem Lateinischen oder Griechischen, betraf erst einmal die Schriften Luthers. Seine
wenn diese Übersetzungen nicht zuvor von Flugschriften erschienen jeweils in Erstaufla-
Theologen eine Unbedenklichkeitsbescheini- gen, die bis zu 4000 Exemplare betrugen, und
gung erhalten hatten, 1479 wurde vom Papst wurden zu seinen Lebzeiten bis zu 2 5mal
die Zensur für gedruckte Bücher gefordert, nachgedruckt. Dennoch nehmen sich diese
1512 verbot Kaiser Maximilian 1. die „juden- Auflagen bescheiden aus gegen den Erfolg
freundlichen“ Bücher des Johannes Reuchlin. seiner Bibelübersetzung. Von 152 2 bis zu Lu-
Zur institutionellen Macht wurde die Zensur thers Tod 1546 erschienen etwa 2 00 000 Teil-
aber erst mit den reformatorischen Ausein- drucke und Gesamtausgaben der „Luther-
andersetzungen. Nachdem Luther 152 0 vom bibel“, bis zur Jahrhundertwende rechnen
Papst durch die Bulle „exsurge domine“ öf- manche Forscher gar mit 1 Million Bibel- und
fentlich als Ketzer verdammt worden war, Bibelteildrucken. Auch für die Sprachge-
verbot Kaiser Karl V. 152 1 die Schriften Lu- schichte ist die Bibelübersetzung von gar nicht
thers, ohne die Reichsstände zu hören. In der zu überschätzender Bedeutung, nicht nur we-
Folge des „kaiserlichen Mandates“ entstand gen ihres Vorbildcharakters, sondern auch
ein System der Aufsicht über das Buchwesen. deshalb, weil Luthers Korrektoren nach sei-
Das Recht und die Pflicht, eine Vorzensur nem Tode verlangten, daß die Nachdrucker
über sämtliche in den Druck gehenden Schrif- den Graphembestand seiner Bibel nicht an-
ten auszuüben, stand den „landesherrlichen tasteten. Hier wurde aus der theologischen
Ortsobrigkeiten“ unter der Aufsicht des Lan- Autorität Luthers die Unveränderlichkeit sei-
desherrn zu. Seit Beginn der Reformation war ner Orthographie abgeleitet und damit ein
es das Hauptziel der Zensurmaßnahmen, die neues Sprachnormbewußtsein formuliert. Mit
publizistischen Angriffe auf die katholische der reformatorischen Literatur kehrte sich das
Kirche und den Papst abzuwehren, nach dem Verhältnis von lateinischen und deutschen
Augsburger Religionsfrieden wurde die Wah- Drucken um: waren im 15. Jahrhundert 74%
rung von dessen Bestimmungen zum Haupt- der Drucke in Latein erfolgt, so waren 152 2
zweck der Zensur. Der Augsburger Religions- 72 % der Drucke deutschsprachig. Mit der
friede verbot, die zugelassenen Religionen Konsolidierung der Reformation steigt der
und deren Anhänger zu schmähen und zu Anteil des lateinischsprachigen Buchangebots
beleidigen. Die Zensur wurde jedoch jeweils allerdings wieder stark an, erst 1692 überwie-
von den Landesherren parteiisch im Sinne gen volkssprachige Drucke endgültig (Witt-
ihrer Konfession ausgeübt, und so entstan- mann 1991, 47—77).
den katholische und evangelische Bücher- Außer durch reformatorische Schriften
märkte und Kommunikationsräume (Eisen- wurde der Buchmarkt durch Sachliteratur
hardt 1985). vergrößert, durch „beschreibende Fach-
Im 16. Jahrhundert wird dann in allen prosa“, die praktische Nutzanwendungen für
europäischen Ländern versucht, den Buch- Menschen bot, die anders nicht an diese In-
markt unter die Kontrolle der in den jeweili- formationen gelangen konnten. Diese Bücher
gen Ländern Herrschenden zu bringen (Wey- wandten sich an verschiedene Interessengrup-
rauch 1985). pen und schufen so zum erstenmal einen in-
94 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

homogenen Büchermarkt, machten gerade men viel rascher. Einer früheren Zentralisie-
dadurch für viele Menschen das Lesenlernen rung des Verlagswesens entsprach eine ra-
erst interessant. schere Entwicklung des Marktes. Bereits 1709
Eine weitere Folge der Reformation war wurde in England das Eigentumsrecht eines
ein schwerer Eingriff in das Bibliothekswesen Autoren an seinem Werk gesetzlich verankert,
Deutschlands. In den evangelischen Ländern damit konnte sich eine „freie“ Schriftsteller-
wurden die Orden und Klöster und damit ihre existenz entwickeln. Der Nachdruck wurde
Bibliotheken aufgehoben. Die Anhänger der illegal.
Reformation hatten oft kein Interesse an den Deutschland verlor durch den 30jährigen
„alten pfäffischen Schriften“, und so sind Krieg in vielen Bereichen den Anschluß an
zahlreiche wertvolle Klosterbibliotheken in diese Entwicklung ganz. Eine entscheidende
den evangelischen Gebieten zugrunde gegan- Voraussetzung für die westeuropäische Ent-
gen. Die Reformation führte demgegenüber wicklung, die Existenz eines einheitlichen na-
zur Gründung von Schul- und Stadtbiblio- tionalen Büchermarktes, fehlte in Deutsch-
theken, deren Bestand sich jedoch von dem land von Anfang an. Hier wurde der nationale
der herkömmlichen katholischen Bibliothe- Buchaustausch durch die Buchmessen ge-
ken unterschied (Schmitz 1984, 70 ff). währleistet, die in Frankfurt und Leipzig
stattfanden, wobei die Frankfurter Messe an-
fangs, besonders für den Fernhandel, bedeu-
4. Das 17. und 18. Jahrhundert tender war. Der internationale Buchhandel
wurde gegen Bezahlung abgewickelt und war
4.1. Der Buchmarkt von daher organisatorisch problemlos, über-
forderte aber die Finanzkraft vieler Buch-
Reformation und Gegenreformation hatten händler und verlor auch stetig an Gewicht
die Bücherflut so anschwellen lassen, daß gegenüber dem deutschsprachigen Buchhan-
schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun- del. Da die Verleger meist auch Buchhändler
derts erste Versuche gemacht wurden, Kata- waren, tauschten sie ihre Erzeugnisse gegen
loge aller gedruckten Bücher und Verzeich- die Produkte anderer Verleger, und zwar
nisse der Neuerscheinungen zu erstellen. Menge bedruckten Papiers gegen Menge be-
Diese Bibliographien mußten bald durch in- druckten Papiers, Tauschwert gegen Tausch-
haltliche Zusammenfassungen, durch Rezen- wert unabhängig vom Gebrauchswert. Auf
sionen, Inhaltsangaben etc. ergänzt werden, diese Weise war gewährleistet, daß die Ver-
so daß seit dem 17. Jahrhundert eine Gattung lagsprodukte überall im deutschsprachigen
von Druckwerken existiert, die sich vor allem Raum erhältlich waren. Jeder Buchhändler
mit Büchern beschäftigt. Derartige Unter- war aber auch gezwungen, selbst Verleger zu
nehmungen waren vor allem in den Wissen- werden, um Ware zum Tausch zu haben.
schaften notwendig, die Gelehrten entwickel- Durch diese Organisationsform wurde eine
ten Zusammenfassungen des Bücherwissens, schon in Ansätzen vorhandene Arbeitsteilung
Polyhistorien. Daneben entwickelte sich ein und die Differenzierung von Drucker, Verle-
wissenschaftliches Zeitschriftenwesen, das für ger und Buchhändler wieder zurückgenom-
eine schnellere wissenschaftliche Kommuni- men und eine weitere Spezialisierung und Pro-
kation sorgen sollte. Auch im nichtwissen- fessionalisierung verhindert. Dennoch war
schaftlichen Bereich etablierten sich bereits im diese Organisationsform den politischen und
17. Jahrhundert Periodika, die Nachrichten wirtschaftlichen Verhältnissen in den deut-
allgemein interessierenden Inhalts verbreite- schen Staaten angemessen und funktionierte
ten, Vorläufer des Zeitungswesens. fast zweihundert Jahre gut.
In all diesen Bereichen entwickelte sich das Die Messeplätze Frankfurt und Leipzig
westeuropäische Buchwesen erheblich schnel- waren von Zensurbestimmungen unterschied-
ler. Auch wenn auf dem deutschen Buchmarkt lich betroffen: Zwar war der Frankfurter Ma-
einzelne Erscheinungen früher als im übrigen gistrat bestrebt, den eigenen Buchhandels-
Europa auftraten (etwa Einblattdrucke etc.), platz zu schützen und zu fördern, als freie
blieben diese vereinzelt, während sich in West- Reichsstadt war Frankfurt jedoch dem Zu-
europa bereits im 17. Jahrhundert eine lite- griff der kaiserlichen Zensurbehörde, die im
rarisch-politische Öffentlichkeit bildete. Dort 17. Jahrhundert aus päpstlichen Beauftragten
veränderten sich das Verhältnis von Autor bestand, viel unmittelbarer ausgesetzt als
und Werk, von Werk und Publikum und die Leipzig. Hinzu kam durch den 30jährigen
damit verbundenen Distributionsmechanis- Krieg ein Rückgang des Fernhandels mit Bü-
6.  Geschichte des Buches 95

chern. All diese Faktoren begünstigten die lich Themen, die in nichtkatholischen Gebie-
Leipziger Buchmesse (Widmann 1975, 87 ff). ten niemanden interessierten. Dadurch wurde
Der 30jährige Krieg bedeutete für das die Tauschfähigkeit des süddeutschen Buch-
Buchwesen einen ähnlichen Einschnitt wie das handels sehr eingeschränkt, und dies war eine
Reformationszeitalter. Zwar sind die Orga- der Ursachen für die Veränderung der Buch-
nisationsformen des Buchhandels vor und handelsstrukturen.
nach diesem Krieg gleich, dennoch haben sich
wesentliche Bedingungen verändert. Während 4.3. „Nettohandel“ und Nachdruck
zwischen 1610 und 1619 jährlich etwa 1500
neue Buchtitel erschienen, wurden im letzten Zwischen 1740 und 1770 stieß der vorherr-
Jahrzehnt des Krieges auf den Messen nur schende Tauschhandel zwischen den Verle-
noch 660 neue Titel angeboten, der nationale gern an seine Grenzen. Der Tausch von be-
Bücheraustausch war zusammengebrochen. drucktem Papier gegen bedrucktes Papier
Erst 1768 erreichte er wieder den Stand von ohne Berücksichtigung des Inhaltes hatte bei
1618. vielen Verlegerbuchhändlern zu riesigen La-
gern mit unverkäuflichen Produkten geführt,
4.2. Bibliotheken und dies zwang sowohl zu einer Verände-
rung der Ware Buch (um 1750 verschwinden
Im dreißigjährigen Krieg wurden viele bedeu- schlagartig die barocken Titel, die Literatur
tende Bibliotheken zerstört oder geplündert. erschließt sich neue Inhalte und Gattungen)
Die bekanntesten Verluste sind wohl die Plün- wie zu einer Veränderung der Austauschbe-
derung der Heidelberger Bibliothek, die im dingungen: die Leipziger Buchhändler unter
Vatikan landete, und der Prager Bibliothek, Führung des Buchhändlers Philipp Erasmus
aus der wichtige Bestände nach Schweden Reich ersetzten den Tauschverkehr durch den
verschleppt wurden. Aber auch andere Biblio- Nettohandel. Buchhändler, die die Produkte
theken, wie Bremen, München, Hohentübin- Leipziger Verleger erwerben wollten, mußten
gen oder Mainz sind um ganze Schiffsladun- diese bar bezahlen, ohne Rückgaberecht. Die
gen von Büchern erleichtert worden. In der modernere Form der Geldwirtschaft war vom
Folge des 30jährigen Krieges verlieren die süddeutschen Buchhandel nicht zu verkraf-
Stadtbibliotheken an Bedeutung, da sie finan- ten, zumal das Geschäftsrisiko allein beim
ziell kaum noch unterstützt werden können, Buchhändler lag.
und wichtig für das deutsche Bibliothekswe- Leipzig aber war das Zentrum nicht nur
sen werden die Fürstenbibliotheken in den des deutschen Buchhandels (nach 1764 boy-
absolutistisch regierten Flächenstaaten. Da- kottierten die Leipziger Buchhändler die
neben entwickeln sich bedeutende Privatbi- Frankfurter Buchmesse, die zur völligen Be-
bliotheken von Gelehrten und gebildeten Bür- deutungslosigkeit herabsank), sondern auch
gern. des deutschen Verlagswesen. Leipzig war das
Bedeutender als der dreißigjährige Krieg entscheidende Zentrum der deutschen Früh-
selbst waren jedoch die Folgen des Friedens- aufklärung, die Leipziger Verleger verlegten
schlusses. Die vielen quasi-autonomen abso- so auch den interessantesten Teil der deut-
lutistischen Territorien versuchten, ihre jewei- schen Literatur, Leipzig erlangte durch die
ligen Einzelinteressen durchzusetzten, und Konzentration der Buchmarktfunktionen
dazu gehörte u. a. eine Religions- und Bil- auch noch ein Übersetzungsmonopol für
dungspolitik, die auf innere Homogenisierung fremdsprachige Werke. Hinzu kam, daß die
abzielte. Dazu wurden Einfuhrverbote für Leipziger Verleger gerade um die Mitte des
Bücher erlassen, die die jeweils falsche Kon- 18. Jahrhunderts ihre Bücher enorm verteu-
fession unterstützten. Dies führte etwa für erten. Auf diese neue Situation antworteten
Bayern und Österreich zu einem weitgehen- sowohl die nord- wie die süddeutschen Ver-
den Einfuhrverbot für nord- und mitteldeut- leger mit einer Intensivierung und Systema-
sche Bücher, während spanische und italie- tisierung des Nachdruckwesens, das gezielt
nische sogar ohne Vorzensur eingeführt wer- eingesetzt wurde, um die Leipziger Buch-
den durften. Diese Ablehnung protestanti- händler zu schädigen, zumal die süddeutschen
scher Bücher ging soweit, daß die Sprachform „Reichsbuchhändler“ nicht Gefahr liefen,
der norddeutschen Literatur verpönt war. Für selbst zu Opfern des Nachdrucks zu werden,
das süddeutsche Buchwesen hatte diese Ab- da nach ihren Originalproduktionen keine
schottung zwar keine Abschwächung der überregionale Nachfrage bestand. Nach eini-
Druckproduktion zur Folge, aber die volks- gen Veränderungen der Leipziger Bedingun-
sprachliche Buchproduktion umfaßte wesent- gen ging der Nachdruck in Norddeutschland
96 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

wesentlich zurück, hörte allerdings nicht völ- die Voraussetzung für die Entstehung eines
lig auf. In den süddeutschen Gebieten domi- leistungsfähigen literarischen Marktes, der die
nierte er für einige Jahrzehnte den Buchhan- Existenz des Autoren materiell sichern
del, es kam sogar zur Privilegierung von konnte, die Anonymität dieses Marktes war
Nachdrucken, denn diese Nachdruckpraxis aber für die Autoren anfangs eher abschrek-
befand sich in Übereinstimmung mit der kam- kend. Für den Autor stellte sich der Verleger
meralistischen Wirtschaftspolitik der absolu- zwischen ihn und sein Publikum, der Verleger
tistischen Kleinstaaten. Diese Nachdruckpo- erwarb ja auch alle Rechte an dem Werk, er
litik behinderte die Entfaltung eines moder- hatte den materiellen Nutzen von einem lite-
nen Buchwesens und die Etablierung kapita- rarischen Erfolg. Um diesem „Diktat“ der
listischer Buchmarktstrukturen, denn der Verleger zu entgehen, wurden in der zweiten
Nachdruck schädigte ja nicht nur die Leip- Hälfte des 18. Jahrhunderts Autorenverlage
ziger Verleger, sondern durch das entgangene gegründet, die den Verfasser auch zum Nutz-
Honorar auch die Autoren. Leipziger Verleger niesser seines Werkes machen und den Kon-
hatten nämlich begonnen, ihre Marktposition takt zum individuellen Leser herstellen soll-
auch dadurch zu festigen, daß sie vielverspre- ten. Noch deutlicher diente das Pränumera-
chende Autoren durch höhere Honorare an tionswesen und die Subskription von Büchern
sich banden. Hier wurden in Deutschland zö- sowohl ökonomischen Zwecken wie der Kon-
gernd Entwicklungen zur Etablierung eines stitution einer Gesellschaft von literarisch Ge-
freien Schriftstellerdaseins vollzogen, die in bildeten (Wittmann 1991). Aber auch die Ent-
Westeuropa 100 Jahre früher begonnen hat- stehung von Lesegesellschaften und Litera-
ten, und die in Deutschland auch nur bedingt turzirkeln hatte sowohl den Sinn, die Kauf-
erfolgreich waren. Die ersten „freien Schrift- preise zu minimieren, wie für eine gebildete
steller“, die von ihren Werken bedingt existie- Gesellschaft zu sorgen und einen Gruppen-
ren konnten, waren Wieland und Goethe, diskurs zu ermöglichen. Gerade wegen des
während Lessing bekanntermaßen bei diesem aufkommenden anonymen Büchermarktes
Versuch scheiterte. vollzog sich so die Stabilisierung einer bil-
Auch bei den Leipziger Verlegern war die dungsbürgerlichen Gesellschaft, die durch die
Einführung des Geldverkehrs nicht in der Kenntnis schöngeistiger Literatur charakte-
Fürsorge für die Autoren begründet, denn risiert war. Dies wiederum verallgemeinerte
weder erkannten sie das Recht auf die Ver- die Sprachformen dieser Literatur. Die ab-
fügung der Autoren über ihre Werke an, noch geschlossenen Literaturzirkel wurden dann
hielten sie sich an ihre eigenen Verträge: der oft zu Gruppen, die durch die Zeitungs- und
Nachdruckpraxis der süddeutschen Verleger Zeitschriftenlektüre eine Art bürgerlicher Öf-
entsprach bei ihnen eine Doppeldruckpraxis, fentlichkeit herstellten. Diese war jedoch auch
d. h., wenn die durch das Honorar bezahlte weiterhin durch die Zensur eingeschränkt, alle
Erstauflage eines Werkes vergriffen und die klassischen deutschen Dichter von Lessing
Nachfrage noch nicht befriedigt war, legten über Wieland bis Schiller und Goethe waren
sie das Buch mit dem Originaltitelblatt noch von Zensurmaßnahmen ebenso betroffen wie
ein- oder mehreremal auf und ersparten sich viele heute vergessene Autoren. Dabei schufen
damit weitere Honorarzahlungen. Für einige gerade aufgeklärte Herrscher, die die Zensur
Werke Wielands sind zahlreichere Doppel- auch als Mittel der Modernisierung ihrer
drucke seines Originalverlegers Göschen be- Staaten nutzen wollten, indem sie traditio-
legt als süddeutsche Nachdrucke (Wittmann nalistische Propaganda unterdrückten, mo-
1982). derne und effektive Zensurinstitutionen, die
dann unter veränderten politischen Bedingun-
4.4. Das Lesepublikum gen auch wieder gegen aufklärerische Litera-
tur eingesetzt wurden, zumal gegen Ende des
Die süddeutschen Verleger setzten mit ihrer 18. Jahrhunderts, als die Verbreitung der Ge-
Nachdruckpraxis eine einheitliche deutsche danken der französischen Revolution unter-
Nationalliteratur auch in den katholischen bunden werden sollte. Einer besonders stren-
Gebieten durch, sie sorgten damit für die gen Kontrolle unterlagen dabei das Theater,
Durchsetzung einer einheitlichen schrift- Zeitungen und Zeitschriften. Insgesamt wird
sprachlichen Norm. Durch die Verbilligung im 18. Jahrhundert die religiöse Zensur ersetzt
der Bücher erschlossen sie neue Käufer- und durch offen politische Unterdrückung und
Leserschichten und trugen damit indirekt zur diese ergänzt durch eine Zensur aus ästheti-
Herstellung eines Massenpublikums bei. schen Gründen.
Dieses Massenpublikum war zwar objektiv
6.  Geschichte des Buches 97

5. Das 19. Jahrhundert die dem Informationsbedürfnis neuer Auf-


steigerschichten entsprachen. Während von
Die napoleonischen Kriege veränderten die der ersten Auflage des „Brockhaus“ von 1809
Bedingungen für das Buch weiter, vor allem nur 2 000 Exemplare abgesetzt werden konn-
in den katholischen Gebieten. Dort waren ten, wurden bis zur Jahrhundertmitte etwa
nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 150 000 Exemplare der Neuauflagen verkauft
dessen Bibliotheken in Staatsbesitz gelangt und von den Nachahmungen und Konkur-
und erweiterten staatliche Bibliotheken be- renzunternehmungen noch einmal soviel
trächtlich, doch erst die Aufhebung der geist- (Wittmann 1991, 211 ff).
lichen Territorien und vor allem der Klöster Neben diesen sozialen Bedingungen präg-
1803 ließen die reichen Bestände etwa der ten jedoch staatliche Maßnahmen und Un-
Wiener oder Münchener Bibliotheken entste- terlassungen den Buchmarkt: Die Zensur (→
hen. Bei dieser Auflösung der Klosterbiblio- Art. 74) und die fehlende Regelung des Copy-
theken ging jedoch der größte Teil der Buch- rights (→ Art. 75).
bestände, der für die Hofbibliotheken nicht Der deutsche Buchhandel versuchte auf
von Interesse war, verloren (Schmitz 1984, dem Wiener Kongreß, ein einheitliches Gesetz
107 ff). gegen den Nachdruck in allen Bundesstaaten
Die Zeit von 1770 bis 1830 war für das durchzusetzen. Da der Büchernachdruck in
deutsche Buchwesen von entscheidender Be-
deutung. In dieser Zeit trennte sich allmählich Österreich und in Württemberg aber immer
noch ein florierender Wirtschaftszweig war,
der Verleger vom Sortimentsbuchhändler, das enthielt die Bundesakte von 1815 in ihrem
literarische Publikum erweiterte sich auf ca. letzten Artikel nur eine unverbindliche Ab-
300 000 Leser, deren Interessen sich immer sichtserklärung. Es dauerte noch bis 1835, bis
mehr ausdifferenzierten. So entstanden neue ein generelles Nachdruckverbot für alle Län-
literarische Teilmärkte, aber gleichzeitig wur- der des Deutschen Bundes beschlossen wurde.
de die Sprache der schönen Literatur zur Die Rechte an einem Text lagen von nun an
(natürlich nicht immer erreichten) Norm der beim Verfasser und erloschen 30 Jahre nach
Publikationen, die sich an einen Berufsstand seinem Tode. Erst 1856 wurde bestimmt, daß
richteten, etwa an die Juristen. Erst seit dieser die Werke aller vor 1837 verstorbenen Auto-
Zeit gab es Fachsprachen und damit Klagen ren von 1867 an frei seien. Ein umfassendes
über das „Amtsdeutsch“. Die schöne Litera- reichseinheitliches Urheberrecht erlangte erst
tur wurde quantitativ und für das gesell- 1871 Gültigkeit.
schaftliche Bewußtsein zum führenden Seg- Eine einheitliche Regelung der Zensur
ment des Buchmarktes vor der Theologie und wurde viel schneller erreicht. Die absolutisti-
der übrigen Fachliteratur. Die schöne Lite- sche Reaktion setzte alles daran, die in der
ratur begriff sich erstmals als Erscheinung des napoleonischen Aera entstandene bürgerliche
Druckmediums, die Autoren fingierten nicht
mehr selbstverständlich „mündliche Erzäh- politische Öffentlichkeit unter ihre Kontrolle
lung“, sondern bedienten sich auch der Mög- zu bekommen und nahm den Mord an Au-
lichkeiten eines Druckwerkes, wie es etwa gust von Kotzebue zum Vorwand, um 1819
in den Verweisstrukturen der Fachliteratur die Karlsbader Beschlüsse zu fassen, die eine
längst üblich war. Damit veränderte sich auch umfassende Vorzensur für sämtliche Zeitun-
der Autor, der nicht nur von seiner Arbeit gen, Zeitschriften und Bücher bis zu einem
leben zu können beanspruchte, sondern durch Umfang von 2 0 Bogen, d. h. 32 0 Seiten Ok-
die Anerkennung der medialen Gebundenheit tav, vorschrieben. Umfangreichere Bücher
seiner Arbeit auch auf den Journalismus und unterlagen nur der Nachzensur, hier sorgte
die entstehende periodische Presse verwiesen das finanzielle Risiko des Verlegers für die
wurde. Die Romanproduktion, die bis 1805 Einhaltung der Zensurvorschriften.
stetig zunahm, wurde zahlenmäßig bald von Auf technischem Gebiet wurde das Druck-
ökonomischen und politischen Schriften er- wesen und seine Voraussetzungen revolutio-
reicht. Zum anderen erwuchs der Unterhal- niert. Diese Veränderungen betrafen sowohl
tungsliteratur in den Zeitungen und Zeit- die Papierherstellung (seit 1844 konnte Papier
schriften eine bedeutende Konkurrenz. Cha- aus Holz hergestellt werden) wie die Typen-
rakteristisch für die sozialen Folgen des ge- herstellung (vollautomatische Typengießma-
sellschaftlichen Umbruchs der napoleoni- schine seit 1883), den Setzvorgang durch die
schen Zeit ist darüber hinaus die Verbreitung Erfindung von Matern (Stereotypie seit 182 0)
der neu entstehenden Conversationslexika, und durch die automatische Zeilensetz- und
Gießmaschine Linotype 1886, die Illustra-
98 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tionsverfahren wie das Buchbinden (Draht- verlage und Verlage für Belletristik. Anderer-
und Fadenheftmaschine). Am bedeutsamsten seits wuchs die lesefähige Bevölkerung rapide
aber war die erste große Neuerung auf dem an, am Ende des 19. Jahrhunderts ist in etwa
Gebiet des Buchdrucks seit Gutenberg: die der heutige Alphabetisierungsgrad der Bevöl-
von Friedrich König konstruierte Schnell- kerung erreicht.
presse, die die flache Druckform durch ro- Dieser Parzellierung des Buchmarktes
tierende Zylinder ersetzte. 1865 wurde die stand das Prestige der klassischen deutschen
Schnellpresse zur Rollenrotationsmaschine Literatur gegenüber, das für alle Leserschich-
weiterentwickelt, die für Bücher wie für Zei- ten galt und sich vor allem im Kauf der Werke
tungen Verwendung fand. Schillers und Goethes äußerte, nicht unbe-
Gegen die staatliche Bevormundung und dingt auch in der Lektüre dieser Schriften,
die „unseriöse“ Konkurrenz organisierten deren Kenntnis vielmehr durch die Schule ver-
sich die Buchhändler ab 182 5 im Börsenverein mittelt wurde. Der Erwerb dieser Schriften
der deutschen Buchhändler. Um 1835 war war nach 1867 auch durch die Freigabe der
eine relativ einheitliche Organisation des Urheberrechte ermöglicht worden, die eine
deutschen Buchhandels entwickelt worden, Flut preiswerter Klassikereditionen nach sich
die auch für eine schnelle und umfassende zog, die unter anderem das Programm der
Distribution der Produktion sorgte und die jetzt entstehenden Reihen wie Reclams Uni-
finanziellen Beziehungen zwischen den Ver- versalbibliothek prägten. Bedeutsam für die
lagen, den Groß-, Mittel- und Einzelhändlern Geschichte der deutschen Sprache wurde aber
regelte. vor allem, daß die Trivialliteratur, die von
Die gescheiterte bürgerliche Revolution allen Schichten der Bevölkerung massenhaft
von 1848 stellt für das deutsche Buchwesen gelesen wurde, in der „Sprache Schillers und
in vielerlei Hinsicht einen Einschnitt dar. Die Goethes“ verfaßt wurde, d. h. sich an den
Aufhebung der Zensur 1848 war nur ein vor- Stilnormen der deutschen Klassik orientierte
übergehendes Zwischenspiel, denn 1849 wur- und dadurch zur allgemeinen Durchsetzung
den wieder rigorose Maßnahmen zur Mei- der Standardsprache beitrug. Die Geltung
nungskontrolle eingeführt, allerdings nicht dieser Standardsprache war so allgemein, daß
mehr als Präventivzensur, sondern durch ju- im 19. Jahrhundert die Verfasser von Litera-
ristische Maßnahmen, die nicht mehr vor al- tur sich unbedenklich der Dialekte (Hebel,
lem das Buch, sondern die mit seiner Her- Reuter, Groth) und Soziolekte (Hauptmann)
stellung und Verbreitung befaßten Menschen bedienen konnten, während es noch im 18.
betrafen. Diese Kontrolle richtete sich aber Jahrhundert eine Aufgabe der Literatur war,
nun gegen eine Öffentlichkeit, die nicht mehr die Hochsprache zu entwickeln. Im Ausland
primär durch die Rezeption literarischer bestand ein großes Interesse an der deutsch-
Werke geprägt war, sondern in der Meinungs- sprachigen Literatur, sodaß der Buchexport
bildung als Massenprozeß vor allem durch einträglich wurde. Besonders auf dem Fach-
die sich rasant entwickelnde Zeitung und die buchmarkt und auf dem Fachzeitschriften-
Zeitschriften erfolgte. Das Publikum für fort- markt wurde die deutsche Sprache wichtige
schrittliche, ästhetisch anspruchsvolle Litera- internationale Publikationssprache und deut-
tur war in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- sche wissenschaftliche Bücher und Zeitschrif-
hunderts sicher nicht zahlreicher als um 1800. ten führend auch in den westeuropäischen
Das Bürgertum, das sich politisch mit den und amerikanischen Staaten.
herrschenden Zuständen arrangierte, miß- Der Differenzierung des Buchangebotes
traute einer Literatur, die auf Veränderung und des Publikums entsprach in der zweiten
drängte, und kanonisierte die Klassiker, bil- Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Diffe-
dete sich seine politische Meinung durch Ta- renzierung des Buchhandels und der buch-
gespresse und Zeitschriften wie die „Garten- händlerischen Gewohnheiten. Nach der Ab-
laube“ und las eskapistische oder affirmative satzkrise von 1843 erreichte der Buchmarkt
Trivialliteratur. Dieser Funktionsverlust der erst 1879 wieder den vorherigen Stand. Diese
anspruchsvollen Literatur führte zu einer Bücher wurden durch eine stetig wachsende
Funktionsaufsplitterung des Buchmarktes. In Zahl von kleinen und kapitalschwachen
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ent- Buchhandlungen vertrieben, die sich große
standen Richtungsverlage, die konfessionell Lager gar nicht leisten konnten. Dies führte
oder politisch gebunden waren, Fachbuch- in den Gründerjahren zu neuen Buchhandels-
verlage, die sich an die Spezialisten bestimm- usancen, die Sortimenter hielten nur noch ein
ter Fächer wandten, es entstanden Sachbuch- kleines Lager an gefragten Werken vorrätig
6.  Geschichte des Buches 99

und bestellten die anderen gewünschten Bü- wurde und trotz einiger kartellrechtlicher Be-
cher fest mit günstigeren Rabatten bei den denken staatlicherseits abgesegnet wurde und
Kommissionären (Zwischenhändlern) oder bis heute den Buchmarkt in Deutschland
beim Verlag. Durch die verbesserten Trans- prägt.
portwege wurde dies ebenso begünstigt wie Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist
durch die Praxis der Zwischenhändler, die ebenso durch die Einrichtung von Volksbi-
etwa seit 1852 die broschierten Bücher der bliotheken gekennzeichnet. In der Gründung
Verlage kauften und sie industriell binden lie- von Volksbüchereien schlugen sich volksauf-
ßen. Da die industrielle Bindemethode sehr klärerische Gedanken, Erfahrungen mit dem
viel billiger war, erlangten die Kommissionäre ein halbes Jahrhundert älteren angelsächsi-
einen erheblichen Handelsvorteil, bis gegen schen öffentlichen Bibliothekswesen und ka-
1870 das Innungsprivileg der Buchbinder, das ritative Vorstellungen (besonders von seiten
nur sie zum Verkauf von gebundenen Büchern der Kirchen) nieder. Vor allem aber dienten
berechtigte, abgeschafft wurde und sich der diese Büchereien der Untertanentreue; wäh-
Verlegereinband durchsetzte. Dieser wurde rend die Zensur unerwünschte Publikationen
bald darauf durch Schutzumschläge ergänzt, verhinderte, lenkten die Volksbibliotheken
mit denen der Buchhandel werben konnte, durch ihr Bücherangebot die Lektüre der Un-
nachdem sich das Schaufensterglas durchge- terschichten. Bis heute wechselten nur die Be-
setzt hatte und Straßenbeleuchtung üblich ge- gründungen für die Lektüresteuerung, es folg-
worden war. Gleichzeitig veränderte das elek- ten pädagogische, moralische, ästhetische und
trische Licht auch die Lesegewohnheiten des offen politische (im Nationalsozialismus) Be-
Publikums. gründungen. Die Volksbüchereien haben im
Viele der traditionellen Sortimenter wur- wesentlichen zur Erschließung neuer Leser-
den finanziell vom Zwischen- und Großhan- schichten und zur Alphabetisierung der deut-
del abhängig, vor allem, weil sie der neuen schen Bevölkerung beigetragen. Dies wurde
Konkurrenz der „Ramscher“ und des Kol- vor allem durch die quantitative Ausweitung
portagebuchhandels nicht gewachsen waren. dieses Zweigs des Bibliothekswesens möglich.
Die Ramscher waren zu einer übermächtigen Seit der ersten Hälfte des 2 0. Jahrhunderts
Konkurrenz geworden, weil die technischen erreichen öffentliche Bibliotheken im Prinzip
Möglichkeiten und die Form des Sortiments- die gesamte Bevölkerung.
verkehrs zu einer Überproduktion von Bü-
chern geführt hatten, die die Verleger über
das „moderne Antiquariat“ absetzen wollten. 6. Das 20. Jahrhundert
Zwischen 1850 und 1870 wurden Bücher häu-
fig schon nach wenigen Monaten im moder- 6.1. Das Buch in der Weimarer Republik
nen Antiquariat zu einem Bruchteil des Der erste Weltkrieg stellte auch für das deut-
Originalpreises angeboten. Gegen die Prakti- sche Buchwesen einen Einschnitt dar. Nach
ken des „Ramschens“ und „Verschleuderns“ dem Grauen des ersten Weltkrieges schwand
wehrte sich der traditionelle Buchhandel das internationale Interesse an deutscher Lite-
durch „genossenschaftliche Selbsthilfe“. Auf ratur und damit auch nach Literatur in deut-
Initiative des Stuttgarter Großverlegers Adolf scher Sprache, zum anderen waren deutsche
Kröner beschloß eine außerordentliche Wissenschaftler durch den Versailler Vertrag
Hauptversammlung des deutschen Börsenver- von der internationalen wissenschaftlichen
eins in Frankfurt (nicht in Leipzig, da die Kommunikation weitgehend ausgeschlossen.
dortigen Kommissionäre an der Schleuder- Deutsch war nur noch in seltenen Fällen
praxis gut verdienten) 1887 die sog. Kröner- Konferenzsprache, die neue wissenschaftliche
sche Reform. „Sie erklärte bei Verkäufen an Literatur des Auslandes selbst fehlte in
das Publikum den vom Verleger festgesetzten Deutschland, da sie während des Krieges
Ladenpreis als verbindlich für alle Mitglieder nicht erworben werden konnte und nach dem
in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Krieg wegen der Inflation nicht zu bezahlen
Zuwiderhandelnde wurden von sämtlichen war. Diese Lücke in der Literaturversorgung
Verlagslieferungen und allen Einrichtungen konnte durch die Einrichtung zentraler Ko-
der Standesorganisation ausgeschlossen.“ pierstellen und durch ausländische Hilfe be-
(Wittmann 1991, 2 44). Dieser monopolisti- helfsweise geschlossen werden, und nach der
sche Grundsatz wurde 1888 zum wichtigsten Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund
Punkt der Buchhändlerischen Verkehrsord- 192 6 wurden die Beschränkungen für die wis-
nung, die vom Börsenverein durchgesetzt senschaftliche Kommunikation aufgehoben.
100 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Nun errang die wissenschaftliche deutsche dest mit den Verhältnissen; hinhaltender Wi-
Literatur auch in den westlichen Ländern eine derstand gegen die NS-Kulturpolitik, wie ihn
Stellung, die der Bedeutung der deutschen etwa Peter Suhrkamp übte, blieb die Aus-
Wissenschaft im internationalen Vergleich zu- nahme. Eine der Folgen war die totale Pro-
kam. Im Bereich der wissenschaftlichen Zeit- vinzialisierung der im Reich erscheinenden
schriften wurden die deutschen Publikationen Literatur, denn auch die internationale Lite-
sogar — auch gegen die immer stärker wer- ratur, die in Übersetzungen erschien, wurde
dende US-amerikanische Konkurrenz — füh- nach den üblichen politischen Grundsätzen
rend, so daß Deutsch als Wissenschaftsspra- ausgewählt.
che sich behauptete, allerdings ohne die un- Demgegenüber entwickelte sich im Exil un-
umschränkte Geltung von vor dem ersten ter schwierigsten materiellen und politischen
Weltkrieg wieder zu erlangen. Bedingungen eine Exilliteratur. Sie wurde ge-
Nach dem ersten Weltkrieg erfolgte eben- tragen von den renommiertesten und ästhe-
falls eine radikale Umwälzung des Buch- tisch anspruchvollsten deutschen Autoren
marktes. Verleger und Buchhändler hatten und in Exilverlagen publiziert, bis 1938 noch
mit der Inflation zu kämpfen, die Honorare in Österreich und der Schweiz, aber auch
der Autoren, die ja nachträglich gezahlt wur- schon seit 1933 in deutschsprachigen Verlagen
den, wurden durch die Inflation fast bis auf in der ganzen Welt. Trotz der enormen indi-
Null reduziert, vor allem aber waren die tra- viduellen Leistungen wurde diese Literatur in
ditionellen Bücherkäufer, Bildungsbürger und Deutschland jedoch kaum noch rezipiert.
intellektueller Mittelstand, durch Krieg und
Kriegsfolgen ruiniert und fielen als Käufer- 6.3. Das Buch im Nachkriegsdeutschland
schichten auf Dauer aus. „Aus der tiefgreifen-
den sozialen Umschichtung ging der neue Ty- Auch nach der Niederlage des Nationalsozia-
pus des kleinen Angestellten hervor, der in lismus konnte diese bessere deutsche Literatur
einer hektisch und schnellebig gewordenen nicht traditionsbildend wirken. Das gesamte
Zeit nach aktueller unterhaltsamer Lektüre Publikationswesen wurde von den vier Besat-
verlangte“ (Meyer 1987, 2 52 ). In Konkurrenz zungsmächten kontrolliert und bald durch
zu dieser Unterhaltungslektüre traten zuneh- neulizensierte Verleger dominiert. Wegen des
mend die neuen Medien Radio, Film und sich entwickelnden kalten Krieges kam es zu
Massensportveranstaltungen. So werden als unterschiedlichen Buchmärkten im Osten und
neue Verkaufsstrategien einerseits Buchge- in Westen Deutschlands sowie Österreichs. Im
meinschaften gegründet, auf der anderen Seite Osten Deutschlands wurde eine umfassende
billige Großauflagen über Kaufhäuser abge- Säuberung von NS-Literatur versucht und
setzt. Auf der organisatorischen Ebene ent- bald eine Verstaatlichung der lizensierten Ver-
spricht dieser Phase der Kapitalverwertung lage vorgenommen. Die Verleger übersiedel-
die Entstehung von Druckimperien, Ullstein ten daraufhin in den Westen. Daraus entstan-
und Hugenberg werden zu großen Konzer- den Rechtsstreitigkeiten, die während der Exi-
nen. stenz der DDR den freien Bücheraustausch
in ganz Deutschland ebenso behinderten wie
6.2. Das Buch im Dritten Reich die Zensurpolitik der DDR.
Die im Osten angesiedelten Verlage arbei-
Diese Konzentrationsprozesse wurden poli- teten wesentlich arbeitsteilig nach politischen
tisch im Dritten Reich vollendet. Mit der Ver- Vorgaben der Staatsführung. Trotz massiver
brennung des „schädlichen und unerwünsch- Indoktrination entwickelte sich in der DDR
ten Schrifttums“ am 10. Mai 1933, der „Säu- eine Lesekultur, die dem Buch eine außer-
berung“ der öffentlichen und sogar privaten ordentliche Bedeutung verlieh. In den ost-
Bibliotheken, der Volks- und Leihbüchereien, deutschen Verlagen fanden auch viele Exilau-
der „Arisierung“ und Gleichschaltung der toren ihre verlegerische Heimat, da für ihre
Verlage, der Vertreibung unerwünschter Literatur in der Restaurationsphase der BRD
Autoren und der Organisation der Reichs- kein großes Interesse bestand, hier bestimm-
schrifttumskammer betrieben die National- ten eher die Literaten der „inneren Emigra-
sozialisten eine konsequente Kulturpolitik. tion“ das kulturelle Klima.
Dem entsprach eine Förderung „deutscher“ In der BRD entwickelte sich nach der Zeit
Literatur und Kunst, die in der deutschen der von den Alliierten lizensierten Verlage eine
Geschichte ohne Beispiel ist. So machte die auf den ersten Blick unübersehbare Verlags-
Mehrzahl der verbliebenen „Kulturschaffen- landschaft und ein vielfältiges Bücherange-
den“ willig mit oder arrangierte sich zumin- bot. Die auffälligste Veränderung des Bücher-
6.  Geschichte des Buches 101

marktes war das Erscheinen des Taschen- Eisenhardt, Ulrich. 1985. Staatliche und kirchliche
buchs, das heute ein Drittel der Buchhandels- Einflußnahmen auf den deutschen Buchhandel im
umsätze trägt. Nicht so offensichtlich ist der 16. Jahrhundert. In: Göpfert, G. et al., 295—313.
stetige Konzentrationsprozess, der auf dem Engelsing, Rolf. 1973. Analphabetentum und Lek-
Büchermarkt wie in allen übrigen Wirt- türe: zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutsch-
schaftsbereichen vor sich geht, und die Tat- land zwischen feudaler und industrieller Gesell-
sache, daß sich hinter der Vielfalt des Buch- schaft. Stuttgart.
angebotes vielfach eine Konformität des An- —. 1974. Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in
gebotenen verbirgt. So waren etwa in den Deutschland 1500—1800. Stuttgart.
sechziger Jahren „linke“ Autoren im Buch- Funke, Fritz. 1959. Buchkunde. Ein Überblick über
handel nicht erhältlich und mußten durch die Geschichte des Buch- und Schriftwesens. Leip-
„Raubdrucker“ der interessierten Öffentlich- zig.
keit zur Verfügung gestellt werden. Genette, Gerard. 1989. Paratexte: das Buch vom
Die Spaltung Deutschlands führte zu zwei Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M./New York.
Buchmarktorganisationen, die sich in Leipzig
und Frankfurt ihre Buchmessen schufen. Giesecke, Michael. 1991. Der Buchdruck in der
Heute ist die Frankfurter Buchmesse die frühen Neuzeit: eine historische Fallstudie über die
wichtigste Buchhandelsmesse der Welt (ge- Durchsetzung neuer Informations- und Kommu-
handelt werden natürlich Verwertungsrechte), nikationstechnologien. Frankfurt a. M.
der deutsche Buchmarkt ist der zweit- oder Göpfert, G. et al. (ed.). 1985. Beiträge zur Ge-
drittgrößte Buchmarkt der Welt (über den schichte des Buchwesens im konfessionellen Zeit-
Buchmarkt der ehemaligen Sowjetunion ist alter. Wiesbaden.
derzeit keine genaue Aussage zu machen), er Hunger, Herbert & Stegmüller, Otto et al. 1975.
wird durch jährlich ca. 100 000 Neuerschei- Die Textüberlieferung der antiken Literatur und
nungen geprägt. Durch diese enorme Über- der Bibel. München.
produktion ergeben sich seit einigen Jahren Illich, Ivan. 1991. Im Weinberg des Textes. Als das
die gleichen Probleme wie zur Zeit der „Krö- Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt a. M.
nerschen Reform“, das Ramschen und das Jäger, Georg. 1987. Historische Lese(r)forschung.
„moderne Antiquariat“ bedrohen die Buch- In: Arnold et al. 485—507.
handelsstrukturen wie damals. Hinzu kom- Kapr, Albert. 1988. Johannes Gutenberg. Persön-
men aber heute die Konkurrenz durch neue lichkeit und Leistung. 2 München.
Medien, die Bedrohung des festen Laden- Kautzsch, Rudolf. 1895. Diebolt Lauber und seine
preises durch die europäische Integration und Werkstatt in Hagenau. ZfB 12, 1—32, 57—113.
Konzentrationsprozesse auf der Ebene der
Verlage und des Zwischenbuchhandels (hier Kiesel, Helmuth & Münch, Paul. 1977. Gesellschaft
dürften nur zwei oder drei Zwischenbuch- und Literatur im 18. Jahrhundert: Voraussetzungen
handlungen, die zudem Teile internationaler und Entstehung des literarischen Markts in
Konzerne bilden werden, überleben), wäh- Deutschland. München.
rend der Sortimentsbuchhandel noch nicht Kleberg, Tönnes. 1967. Buchhandel und Verlags-
wie in den USA durch Ladenketten bestimmt wesen in der Antike. Darmstadt.
wird. Meyer, Horst. 1987. Buchhandel. In: Arnold et al.,
188—260.
Ong, Walter J. 1987. Oralität und Literalität. Die
7. Literatur Technologisierung des Wortes. Opladen. (Engl. Ori-
ginal 1982).
Arnold, Werner, Dittrich W. & Zeller, B. (ed.). 1987.
Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksge- Rösler, Wolfgang. 1980. Die Entdeckung der Fik-
schichte in Deutschland. Wiesbaden. tionalität in der Antike. Poetica 12, 283—319.
Arnold, Werner & Vodosek, Peter (ed.). 1988. Bi- Rothe, Arnold. 1986. Der literarische Titel: Funk-
bliotheken und Aufklärung. Wiesbaden. tionen, Formen, Geschichte. Frankfurt a. M.
Breuer, Dieter. 1982 . Geschichte der literarischen Schmitz, Wolfgang. 1984. Deutsche Bibliotheksge-
Zensur in Deutschland. Heidelberg. schichte. Bern/Frankfurt a. M.
Canfora, Luciano. 1990. Die verschwundene Bi- Schönstedt, Eduard. 1991. Der Buchverlag. Ge-
bliothek. Berlin. (Ital. Original 1988). schichte, Aufbau, Wirtschaftsprinzipien, Kalkula-
tion und Marketing. Stuttgart.
Corsten, Severin et al. (ed.). 1987. Lexikon des ge-
Schubart, Wilhelm. 192 1. Das Buch bei den Grie-
samten Buchwesens (LGB), 2 Stuttgart 1987 ff.
Dahl, Svend. 1928. Geschichte des Buches. Leipzig. chen und Römern. 2 Berlin und Leipzig.
102 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Steinberg, S. H. 1988. Die schwarze Kunst: 500 dels vom Altertum bis zur Gegenwart, Teil 1 bis
Jahre Buchwesen. 3 München. zur Erfindung des Buchdrucks sowie Geschichte
Vogel, Martin. 1987. Deutsche Urheber- und Ver- des deutschen Buchhandels. 2 Wiesbaden.
lagsrechtsgeschichte zwischen 1450 und 1850. LGB —. 1967. Herstellung und Vertrieb des Buches in
XlX, Sp. 1—190. der griechisch-römischen Welt. LGB VIII, Sp.
Weyrauch, Erdmann. 1985. Leges librorum. Kir- 546—640.
chen- und profanrechtliche Reglementierungen des Wittmann, Reinhard. 1982 . Buchmarkt und Lek-
Buchhandels in Europa. In: Göpfert et al., türe im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum
315—335. literarischen Leben 1750—1880. Tübingen.
—. 1987. Zensur-Forschung. In: Arnold et al., —. 1991. Geschichte des deutschen Buchhandels:
475—484. ein Überblick. München.
Widmann, Hans. 1975. Geschichte des Buchhan-
Claus Ahlzweig, Hannover (Deutschland)

7. Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

1. Vorüberlegungen gen, ohne daß sie expliziert würden. So wird


2. Antike häufig gesagt, daß die Alphabetschriften eine
3. Mittelalter Phonemtheorie oder zumindest eine Phone-
4. Renaissance manalyse implizit enthalten (so vor allem
5. Das 17. Jahrhundert Lüdtke 1969). Solange diese impliziten An-
6. Das 18. Jahrhundert nahmen nicht ausformuliert werden, können
7. Das 19. Jahrhundert sie nicht als Beitrag zu der Geschichte der
8. Das 20. Jahrhundert Schriftreflexion behandelt werden, sondern
9. Literatur nur als Bedingung für die Entwicklung der
Schriftreflexion in die eine oder andere Rich-
tung. Weiterhin muß ich auch einschränkend
1. Vorüberlegungen vorausschicken, daß es in diesem Beitrag auf-
Wenn ich im folgenden versuche, die Ge- grund meiner eingeschränkten Kompetenz für
schichte der Schriftreflexion zu skizzieren, so andere Kulturkreise und die dort entwickelte
geschieht dies unter bestimmten Vorausset- Sprach- und Schriftreflexion nur um die Re-
zungen und Einschränkungen, die vorweg er- konstruktion der europäischen Tradition ge-
läutert werden sollen. Diese Skizze trägt die hen wird, die selbstverständlich in hohem
Maße alphabetzentriert ist und für die andere
Überschrift „Geschichte der Reflexion über Schriftsysteme nur am Rande relativierend in
Schrift und Schriftlichkeit“. Sie könnte auch den Blick kommen.
heißen „Geschichte der Schrift- und Schrift- Wie immer, wenn die Geschichte komple-
lichkeitstheorien“ oder „Geschichte der Wis- xer Sachverhalte geschrieben werden soll,
senschaft von Schrift und Schriftlichkeit“. stellt sich das Problem, ob die systematische
Damit ist gemeint, daß die zu den jeweiligen Verschränkung verschiedener Aspekte wäh-
historischen Zeiten üblichen systematischen rend einer Epoche oder aber die Kontinuität
und expliziten Bearbeitungen der Schriftpro- und Transformation einzelner Traditionen
blematik rekonstruiert werden sollen. Dies über die Epochen hinweg die Darstellung do-
impliziert zweierlei. Einmal verwende ich miniert, ob also Querschnitte oder Längs-
einen weiten Begriff von Wissenschaft und schnitte die Materialien strukturieren sollen.
Theorie, der keine strikte Trennung zwischen Vor- und Nachteile beider Optionen liegen
einer „vor“ wissenschaftlichen und einer wis- auf der Hand: wenn man sich für die Dar-
senschaftlichen Periode der Schriftreflexion stellung der synchronischen Verschränkungen
macht. Wissenschaft und Theorie werden als strukturierendes Prinzip entscheidet, so
selbst als historische Ausdrücke verstanden. geht leicht der Blick für durchgehende Tra-
Zum anderen kann es nur um explizite Äuße- ditionen verloren; im anderen Fall, wenn
rungen gehen, nicht etwa um implizite Schrift- nämlich die Längsschnitte nacheinander ab-
„theorien“, die bestimmten Schriftsystemen gearbeitet werden, fällt dieser Darstellungs-
oder Schriftlichkeitspraktiken zugrundelie- weise die Verflochtenheit verschiedener
102 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Steinberg, S. H. 1988. Die schwarze Kunst: 500 dels vom Altertum bis zur Gegenwart, Teil 1 bis
Jahre Buchwesen. 3 München. zur Erfindung des Buchdrucks sowie Geschichte
Vogel, Martin. 1987. Deutsche Urheber- und Ver- des deutschen Buchhandels. 2 Wiesbaden.
lagsrechtsgeschichte zwischen 1450 und 1850. LGB —. 1967. Herstellung und Vertrieb des Buches in
XlX, Sp. 1—190. der griechisch-römischen Welt. LGB VIII, Sp.
Weyrauch, Erdmann. 1985. Leges librorum. Kir- 546—640.
chen- und profanrechtliche Reglementierungen des Wittmann, Reinhard. 1982 . Buchmarkt und Lek-
Buchhandels in Europa. In: Göpfert et al., türe im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum
315—335. literarischen Leben 1750—1880. Tübingen.
—. 1987. Zensur-Forschung. In: Arnold et al., —. 1991. Geschichte des deutschen Buchhandels:
475—484. ein Überblick. München.
Widmann, Hans. 1975. Geschichte des Buchhan-
Claus Ahlzweig, Hannover (Deutschland)

7. Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit

1. Vorüberlegungen gen, ohne daß sie expliziert würden. So wird


2. Antike häufig gesagt, daß die Alphabetschriften eine
3. Mittelalter Phonemtheorie oder zumindest eine Phone-
4. Renaissance manalyse implizit enthalten (so vor allem
5. Das 17. Jahrhundert Lüdtke 1969). Solange diese impliziten An-
6. Das 18. Jahrhundert nahmen nicht ausformuliert werden, können
7. Das 19. Jahrhundert sie nicht als Beitrag zu der Geschichte der
8. Das 20. Jahrhundert Schriftreflexion behandelt werden, sondern
9. Literatur nur als Bedingung für die Entwicklung der
Schriftreflexion in die eine oder andere Rich-
tung. Weiterhin muß ich auch einschränkend
1. Vorüberlegungen vorausschicken, daß es in diesem Beitrag auf-
Wenn ich im folgenden versuche, die Ge- grund meiner eingeschränkten Kompetenz für
schichte der Schriftreflexion zu skizzieren, so andere Kulturkreise und die dort entwickelte
geschieht dies unter bestimmten Vorausset- Sprach- und Schriftreflexion nur um die Re-
zungen und Einschränkungen, die vorweg er- konstruktion der europäischen Tradition ge-
läutert werden sollen. Diese Skizze trägt die hen wird, die selbstverständlich in hohem
Maße alphabetzentriert ist und für die andere
Überschrift „Geschichte der Reflexion über Schriftsysteme nur am Rande relativierend in
Schrift und Schriftlichkeit“. Sie könnte auch den Blick kommen.
heißen „Geschichte der Schrift- und Schrift- Wie immer, wenn die Geschichte komple-
lichkeitstheorien“ oder „Geschichte der Wis- xer Sachverhalte geschrieben werden soll,
senschaft von Schrift und Schriftlichkeit“. stellt sich das Problem, ob die systematische
Damit ist gemeint, daß die zu den jeweiligen Verschränkung verschiedener Aspekte wäh-
historischen Zeiten üblichen systematischen rend einer Epoche oder aber die Kontinuität
und expliziten Bearbeitungen der Schriftpro- und Transformation einzelner Traditionen
blematik rekonstruiert werden sollen. Dies über die Epochen hinweg die Darstellung do-
impliziert zweierlei. Einmal verwende ich miniert, ob also Querschnitte oder Längs-
einen weiten Begriff von Wissenschaft und schnitte die Materialien strukturieren sollen.
Theorie, der keine strikte Trennung zwischen Vor- und Nachteile beider Optionen liegen
einer „vor“ wissenschaftlichen und einer wis- auf der Hand: wenn man sich für die Dar-
senschaftlichen Periode der Schriftreflexion stellung der synchronischen Verschränkungen
macht. Wissenschaft und Theorie werden als strukturierendes Prinzip entscheidet, so
selbst als historische Ausdrücke verstanden. geht leicht der Blick für durchgehende Tra-
Zum anderen kann es nur um explizite Äuße- ditionen verloren; im anderen Fall, wenn
rungen gehen, nicht etwa um implizite Schrift- nämlich die Längsschnitte nacheinander ab-
„theorien“, die bestimmten Schriftsystemen gearbeitet werden, fällt dieser Darstellungs-
oder Schriftlichkeitspraktiken zugrundelie- weise die Verflochtenheit verschiedener
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 103

Aspekte im gleichen Zeitraum zum Opfer. gendes System. In diesem Falle wäre also der
Gerade im Bereich der Schriftreflexion gäbe Autonomie die Integration, nicht die Abhän-
es eine Reihe von Einzeltraditionen, die über gigkeit entgegengesetzt. Zwischen diesen drei
große Zeiträume hinweg strukturierend wir- Positionen lassen sich selbstverständlich auch
ken, etwa die Idee der untrennbaren Zusam- Zwischenpositionen ausmachen, die von der
mengehörigkeit von Laut und Schrift, die sich Dominanz des einen oder anderen Prinzips
auch in einer jahrhundertelang gültigen Ter- ausgehen, dessen Gültigkeit aber durch An-
minologie ( littera als Überbegriff, dazu Vogt- teile des jeweils anderen Prinzips relativiert
Spira 1991) widerspiegelt, oder die Konkur- wird.
renz phonographischer und morphologischer 2 . Wird ein Unterschied zwischen medialer
Interpretationen der Abbildfunktion von und konzeptioneller Schriftlichkeit gemacht?
Schrift in der aristotelischen Tradition (vgl. Damit beziehe ich mich auf die im Freiburger
Maas 1986). Trotz der Bedeutsamkeit dieser Projekt „Übergänge und Spannungsfelder
durchgehenden Stränge entscheide ich mich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, be-
für die Darstellung der Schrift- und Schrift- sonders von Koch & Oesterreicher (1985) in
lichkeitsreflexion im Epochenzusammenhang. Anschluß an Ludwig Söll entwickelte Unter-
So ist es möglich, die Verflechtung der unter- scheidung von Sprache der Distanz und Spra-
schiedlichen Aspekte von Schrift und Schrift- che der Nähe, in denen unterschiedliche Ver-
lichkeit (Schrift vs. Laut, medial vs. konzep- fahren der Versprachlichung verwendet wer-
tuell, Folgen der Schriftlichkeit), die Beto- den. Hier wäre zu denken an unterschiedliche
nung oder das Fehlen des einen oder anderen Verfahren der Referentialisierung, eine unter-
Gesichtspunkts zu einem bestimmten Zeit- schiedliche Beteiligung der verschiedenen
punkt sowie die Einbettung der Schriftrefle- Umfelder (z. B. Situation und Kontext) am
xion in kulturelle Zusammenhänge und wis- Sprechen, an dialoggebundene Praktiken, an
senschaftliche Entwicklungen im Blick zu be- Verfahren des Ausdrucks emotionaler Betei-
halten. ligung usw. Betrifft also die Schriftreflexion
Für jede Epoche soll also zunächst ganz zu einer bestimmten Zeit nicht oder nicht nur
kurz die kulturelle und wissenschaftliche Si- die unterschiedlichen Materialitäten, sondern
tuation umrissen werden, auf deren Hinter- auch diese unterschiedlichen Verfahren der
grund die jeweiligen Überlegungen zur Schrift Versprachlichung?
entwickelt werden. Die schrifttheoretischen 3. Betrifft die Schriftreflexion über die me-
Äußerungen (die selbstverständlich meist in dialen und konzeptionellen Unterschiede von
direktem Kontrast zum Bereich des Lautli- Rede und Schrift hinaus auch die kulturellen
chen, der Rede und der Mündlichkeit im all- Erscheinungsformen und Implikationen der
gemeinen ausformuliert werden) sollen dann Schriftlichkeit? Wie wird das Verhältnis von
unter drei Gesichtspunkten vorgestellt werden Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu einer be-
(wobei die Reihenfolge der Behandlung dieser stimmten Zeit interpretiert (autonom vs. an-
drei Fragestellungen je nach den Gegeben- zillar; umfassend vs. sektorial usw.)? Spielen
heiten der Epochen variieren kann): die Folgen der Einführung von Schrift in einer
1. Wie wird das Verhältnis zwischen Schrift Kultur eine Rolle in der Schriftreflexion, also
und Laut interpretiert? Wird die Schrift als zum Beispiel die Veränderungen des kulturel-
völlig abhängig vom Lautsystem gesehen? len Gedächtnisses, die Problematik der Wahr-
Oder werden Lautsystem und Schriftsystem heit der Dichtung, die Übermittlung und
als (relativ) selbständige Systeme gesehen, die Konzeptualisierung von Wissen, die Verän-
weitgehend unterschiedlichen Prinzipien fol- derung religiöser und administrativer Prakti-
gen? Diese beiden Möglichkeiten der Konzep- ken? Wird die fundierende Rolle der Schrift
tualisierung des Verhältnisses von Schrift und bei der Entwicklung sprachtheoretischer und
Laut (Abhängigkeit vs. Autonomie) werden historiographischer Arbeit thematisiert?
gelegentlich zur Strukturierung der gesamten Es gibt bislang keine umfassende Darstel-
Schriftdiskussion herangezogen (vgl. Feld- lung der Geschichte der Schriftreflexion.
busch 1985, Müller 1990). Die strenge Dicho- Zwar sind einzelne Traditionsstränge bear-
tomisierung darf aber nicht den Blick dafür beitet worden (vgl. Maas 1986 zur Aristoteles-
verstellen, daß im Laufe der Geschichte der Interpretation, Vogt-Spira 1991 zur Termi-
Schriftreflexion auch andere Möglichkeiten nologie im Umkreis von vox und littera ; Gie-
der Konzeptualisierung eine Rolle gespielt secke 1991 zur Schriftreflexion im Umkreis
haben, z. B. die Zurückführung beider Mo- des Buchdrucks, David 1965 zur europä-
dalitäten auf ein gemeinsames zugrundelie- ischen Hieroglyphen-Rezeption, Couturat &
104 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Léau 1907 zur Geschichte der Universalspra- andersetzungen mit Schrift und Schriftlichkeit
chen, die ja weithin Universalschriften sind, entstanden sind.
Müller 1990 zur Geschichte der Maxime Die griechische Schriftreflexion setzt ein
„Schreibe, wie du sprichst“, Kohrt 1985 zur mit Platos Schriftkritik, die er vor allem im
Geschichte des Graphembegriffs vor allem im Phaidros ausformuliert. Sie ist im Zusammen-
europäischen Strukturalismus), und die hang des neu erwachten Interesses für Schrift
schrifttheoretischen Äußerungen einzelner und Schriftlichkeit in den letzten Jahren wie-
Autoren sind interpretiert worden (z. B. Set- derholt ausführlich zitiert und interpretiert
tekorn 1979 zu Tory, Derrida 1967 zu Plato, worden (Derrida 1967, der Plato in die Reihe
Rousseau und Hegel, Labarrière 1986 und der von ihm kritisierten logozentrischen
Schlieben-Lange 1986 zu Destutt de Tracy Autoren einordnet, dazu Assmann 1983, Ga-
und den anderen Idéologues, Trabant 1986/ damer 1983, Raible 1983, Knoop 1983, Ehlich
1990, 1988/1990 und 1993 und Stetter 1989 1983, Schlieben-Lange 1983, Illich 1984, Feld-
zu Humboldt). Darüber hinaus findet man busch 1985, Borsche 1986; eine kurze Zusam-
zahlreiche Hinweise in den umfassenden Dar- menfassung dieser Diskussion bei Müller
stellungen der Schriftproblematik und der 1990). Wichtig sind aber vor allem auch die
Schriftgeschichte. Weitere Hinweise erhält Interpretationen der Schriftkritik im Zusam-
man in den Kommentaren zu den einschlä- menhang des platonischen Gesamtwerks
gigen Autoren. Man kann aber für die uns (dazu besonders Sinaiko 1965, Laborderie
hier interessierende wissenschaftsgeschichtli- 1971, Derbolav 1972 , Wieland 1982 , Erler
che Fragestellung ohne Übertreibung be- 1987, Szlezák 1985, Wyller 1991).
haupten, daß noch sehr viel zu tun bleibt. So Im Phaidros lobt der ägyptische Gott
ist sicher auch die hier vorgelegte Skizze nach Theuth (in der Tradition später mit Hermes
der Erschließung weiterer Quellen und nach und Merkur identifiziert) seine Erfindungen,
Vorlage weiterer Interpretationen und Rekon- darunter besonders die Schrift. Der König
struktionen revisionsbedürftig. Thamus ist skeptisch: statt Erinnern wird die
Schrift Vergessen mit sich bringen. Ohne An-
wesenheit des „Vaters“ der Gedanken bleibt
2. Antike der schriftverfaßte Text stumm. Plato führt
also zwei Argumente zusammen, einmal, daß
Die griechische Antike ist sicher, wie vor al- schriftlich Erinnertes immer den Subjekten
lem Havelock (z. B. 1963) betont hat, sehr äußerlich bleibt, während nur die von einem
stark dadurch gekennzeichnet, daß sich hier lebendigen Subjekt im Dialog entwickelten
unter Entfaltung der Möglichkeiten der Al- Gedanken erinnerungsfähig sind. Komple-
phabetschrift eine differenzierte Schriftkultur mentär dazu stellt er fest, daß der Text keine
mit allen zugehörigen Institutionen (Buch, über sich selbst hinausgehende Antwort geben
Verleger, Buchhandel, Bibliotheken usw.) ent- kann, während im Dialog gerade neue Ge-
wickelt hat, die die ältere mündliche Kultur danken erzeugt und von den Subjekten sich
marginalisiert hat oder zumindest das Ver- anverwandelt werden. Offensichtlich handelt
hältnis beider Kulturen als problematisch er- es sich bei diesen Reflexionen um eine Ant-
scheinen ließ. Freilich ist Havelocks These wort auf einen sich vollziehenden tiefgreifen-
von der Schriftverfaßtheit der griechischen den Wandel, wie er sich beispielsweise in der
Kultur keineswegs unwidersprochen geblie- Tatsache manifestiert, daß Perikles schriftver-
ben. Verschiedene Autoren halten dagegen, faßte Reden vorträgt.
daß die griechische Kultur gerade durch eine Erler (1987) zitiert eine Reihe von Parallel-
explizite Schriftskepsis charakterisiert sei und texten, die zeigen, daß die im Phaidros for-
daß vor allem eine Sakralisierung schriftver- mulierte Schriftkritik einem größeren Diskus-
faßter Texte, wie sie in anderen Kulturen vor- sionszusammenhang angehört: so äußert sich
liege, vor allem jenen, die Träger der großen Alkidamas ähnlich radikal wie Plato zugun-
Offenbarungsreligionen sind, der griechischen sten der älteren Kultur; Isokrates teilt die
Kultur gänzlich fremd sei (vgl. Glück 1987; Bedenken, daß schriftverfaßte Texte „ohne
Erler 1987, 46). Wie auch immer man die wi- Hilfe“ des Verfassers unflexibel sind; insge-
dersprüchlichen Erscheinungen interpretiert: samt ist er aber weniger skeptisch: die Qua-
sicher ist, daß die Einführung der Schrift in lität des Adressaten (der nun als Interpret
Wissenschaft und Dichtung ein Gegenstand einspringen muß, wenn der Vater schweigt)
intensiven Nachdenkens ist, und daß in die- vermag die Nachteile weitgehend auszuglei-
sem Umfeld die ersten für die gesamte euro- chen.
päische Tradition richtungweisenden Ausein-
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 105

Die explizite Schriftkritik wirft für die pretiert worden, die von der vollständigen
Plato-Interpretation insgesamt große Pro- Abhängigkeit der Schrift vom Lautlichen aus-
bleme auf. Sie berührt direkt die alte Frage gehe (vgl. Müller 1990, 2 86 f, 305 ff). Dem-
der ungeschriebenen Lehre Platos (VII. Brief). gegenüber weist Günther (1983) auf die Fort-
Spricht die vehemente Schriftkritik nicht da- setzung der oft zitierten Stelle hin, die eher
für, daß die zentralen Teile der philosophi- auf eine Parallelisierung von grammata und
schen Lehre gar nicht erst der Schrift über- phonai ( litterae und voces ) schließen läßt denn
antwortet worden sind? Darüber hinausge- auf die Formulierung der Nachgeordnetheit
hend stellt sich die Frage, weshalb Plato über- der Schrift. Maas (1986) zeigt, auch unter
haupt (mehr oder minder große, je nachdem Rückgriff auf Steinthals Aristoteles-Interpre-
wie die Antwort auf die Frage nach der un- tation (1890), daß bei genauer Übersetzung
geschriebenen Lehre aussieht) Teile seines die übliche Interpretation nicht haltbar ist.
Denkens schriftlich niedergelegt hat. Bei der Das Korrelat zum schriftlichen Zeichen ist
Beantwortung dieser Frage muß der Dialog- das, was in der S timme enthalten ist (d. h.
form entscheidende Bedeutung zukommen. die sprachlich-grammatische Gestaltung der
Nur die Dialogform kann garantieren, daß Welt), nicht die Stimme selbst. Erst im Laufe
der dialogische Prozeß nachvollziehbar bleibt. der Tradition, endgültig im Grunde erst in der
So erscheinen die platonischen Dialoge als Renaissance, setzt sich die phonographische
Form, die die Vorteile von Mündlichkeit und Lesart durch (zu dieser Tradition Maas 1986).
Schriftlichkeit verbindet, und als Antwort auf Es wäre aber falsch, nur die Schriftrefle-
eine komplexe kulturelle Situation mit wider- xion des Aristoteles in einem engeren sprach-
sprüchlichen Anforderungen: Die Prozeßhaf- theoretischen Sinne zur Kenntnis zu nehmen.
tigkeit der Erkenntnissuche bleibt bewahrt, Er befaßt sich durchaus auch mit den Folgen
sie kann aber nur im Medium der Schrift der Durchsetzung der Schriftkultur, zunächst
gezeigt und tradiert werden. einmal insofern er den apophantischen, lo-
Nach Plato nimmt eine Generation später gisch-darstellenden Diskurs in seinem sprach-
Aristoteles eine „modernere“ Position ein. Er theoretischen Denken als Normalfall setzt,
kämpft nicht mehr argumentativ gegen die dann aber auch, indem er die bereits geraume
Schrift an, sondern arbeitet sie in einer selbst- Zeit währende Diskussion über die Wahrheit
verständlichen Weise sowohl in seine sprach- der Dichter (zu dieser Diskussion vom 8.—4.
theoretischen als auch in seine dichtungstheo- Jahrhundert und ihrer Verschränkung mit der
retischen Schriften ein. Trabant (1986/1990, Einführung der Schriftkultur Rösler 1983)
186) nennt folgende Züge der aristotelischen einer überraschenden Auflösung zuführt, die
Theorie als schriftvermittelt: die Äußerungen in der „Entdeckung“ und Bestimmung von
zur lautlichen Artikulation, zur Arbitrarietät, Fiktionalität besteht. Die Wahrheit der Dich-
zum apophantischen, d. h. logisch-darstellen- ter ist gegenüber der der Historiographen all-
den Diskurs, zu einer nicht-religiösen Auffas- gemeiner und „philosophischer“: die Dichter
sung der Dichtung. Die sprachtheoretischen zeigen nämlich nicht, wie es gewesen ist, son-
Äußerungen zum Verhältnis von Laut und dern was geschehen könnte.
Schrift finden sich vor allem in Peri Herme- In der hellenistischen Zeit, die eine Hoch-
neias 16 a (in der lateinischen Tradition De blüte der Schrift- und Buchkultur (Bibliothe-
Interpretatione ). Dort heißt es: Ἔsti mèn un ken, Philologie) erlebte, wurde die Termino-
tà n tẽ phonẽ tõn n tẽ psychẽ pathemáton logie für Laut und Schrift entwickelt und
sýmbola, kaì tà graphómena tõn én tẽphonẽ bekam ihre kanonische, in der lateinischen
(in der lateinischen Übersetzung des Boethius, Antike und in der mittelalterlichen Schul-
die für das Mittelalter traditionsbildend grammatik verbindliche Form. Der Teil der
wurde: S unt ergo ea quae sunt in voce earum Grammatik, der die grammata/litterae behan-
quae sunt in anima passionum notae, et ea quae delt, war neben einem optionalen prosodi-
scribuntur eorum quae sunt in voce ). Diese schen Teil und der Wortartenlehre das Kern-
Äußerung steht in einem Kontext, in dem es stück der antik-mittelalterlichen Grammatik.
vor allem um die Selbständigkeit der sprach- An der Entwicklung der Schriftterminologie
lichen Zeichen gegenüber den Dingen geht, hatten Vertreter verschiedener Schulen Anteil,
und in dem die Charakterisierung des Sprach- besonders die Stoa und die alexandrinische
lichen als artikuliert und konventionell ( kata Schule.
synthéken ) erfolgt. Sie ist vielfach paraphra- Die Geschichte der Terminologie ist zuletzt
siert und häufig als Grundlegung einer spe- von Vogt-Spira 1991 (unter Rückgriff auf Ax
zifisch aristotelischen Schriftauffassung inter- 1986) rekonstruiert worden. Die terminolo-
106 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gische Unterscheidung zwischen phonischen geordnete Bedeutung zugestanden werden


und graphischen Elementen wird systema- (zur Rolle der Rezitation in der römischen
tisch von stoischen Autoren gemacht. So Kultur Vogt-Spira 1990). Andererseits ent-
unterscheidet Diogenes von Babylon im 2 . wickelte sich aber in der Spätantike allmäh-
Jahrhundert v. Chr. unter dem Überbegriff lich Techniken des leisen Lesens, die zu einer
gramma drei zu unterscheidende Lesarten: Abkopplung des Lesevorgangs vom Lautli-
stoicheion (Elementarteil, hier wohl phonisch chen implizierten (zum leisen Lesen Balogh
interpretiert), charakter (graphische Gestalt) 192 7, Saenger 1989). Bekannt ist der Bericht
und onoma (Name des Elementarteils). Be- Augustins in den Confessiones, der zu seinem
sondere Beachtung verdient in diesem Zusam- großen Erstaunen seinen Lehrer Ambrosius
menhang der Begriff stoicheion (Elementar- lesen sieht, ohne daß er Töne hervorbringt:
teil, Glied einer Kette, dazu Burkert 1959), Sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas
der ursprünglich wohl die Funktion des Über- et cor intellectum rimabatur, vox autem et lin-
begriffs hatte (so noch belegt bei Sextus Emp- gua quiescebant. Die Erforschung des Zusam-
iricus). Jedenfalls werden gramma und stoi- menhangs zwischen der Entwicklung von
cheion lange Zeit gleichbedeutend (so bei Dio- Lesetechniken und der Veränderung von
nysios Thrax und Dionys von Halikarnaß) Schreibtechniken (Markierung von Wort-
verwendet. In der Einführung eines Begriffs grenzen statt scriptio continua , dazu Raible
für ein sprachliches Elementarteilchen und in 1991) steht erst am Anfang. Diese beiden
der Aufzählung solcher Elementarteilchen, gegenläufigen Tendenzen: Unterordnung der
wie sie Dionysios Thrax vornimmt, sieht Schrift unter die Finalitäten der mündlich frei
Lüdtke (1969) eine erste rudimentäre For- vorgetragenen Rede einerseits und Autono-
mulierung einer Phonemtheorie. Im Wege der misierung der Schrift durch lautunabhängige
Differenzierung wird dann stoicheion für das Lesetechniken müßten in ihren Konsequenzen
Lautliche festgelegt, so kanonisch im byzan- für die antiken und spätantiken Schrifttheo-
tinischen Ammonius-Lexikon, das auf ein rien erst noch gewürdigt werden.
Synonymen-Lexikon des 1. oder 2 . Jahrhun- Quintilian formuliert in De institutione ora-
derts n. Chr. zurückgeht. Die Divergenzen toria (I, 7, 30—31) ein Schriftverständnis aus,
zwischen den verschiedenen Akzentuierungen das abhängig ist von der klaren Priorität der
und Definitionen erklärt Ax (1986) mit dem mündlichen Rede: Ego (...) sic sribendum
in den aristotelischen Texten selbst angelegten quidque iudico, quomodo sonat. Hic enim est
Schwanken zwischen einer mehr physiologi- usus litterarum, ut custodiant voces et velut
schen Sprachauffassung (in der die Kriterien depositum reddant legentibus. Diese Auffas-
der Artikuliertheit und Untrennbarkeit als sung der Funktion der Schrift als lediglich der
entscheidende Merkmale des menschlichen Aufbewahrung dienend und der mündlichen
Sprechens im Vordergrund stehen) und einer Rede eindeutig nachgeordnet ist natürlich
semiotischen Konzeption (in der die unter- dazu geeignet, eine phonographische Inter-
schiedlichen Zeichenrelationen reflektiert wer- pretation der aristotelischen Schrifttheorie zu
den, wie z. B. in der oben skizzierten Stelle begünstigen. Die zitierte Stelle ist jedenfalls
aus Peri Hermeneias). der locus classicus , auf den sich später, vor
In der römischen Antike wurden im we- allem in der Neuzeit und vor allem in der
sentlichen die aristotelischen und hellenisti- deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahr-
schen Ansätze weiter systematisiert (dazu Ax hunderts (vgl. Müller 1990) die Vertreter einer
1985, Maas 1986, Vogt-Spira 1991). Zwei kul- obersten Maxime „Schreibe, wie du sprichst“
turelle Rahmenbedingungen müssen hier be- wieder und wieder beziehen werden, auch
sonders ins Auge gefaßt werden, deren Aus- wenn es längst nicht mehr um die Bestim-
wirkung für die Entwicklung unterschied- mung der Funktion der Schrift in einer re-
licher Schrifttheorien noch nicht abschließend deorientierten Kultur, sondern um die Nor-
erforscht sind. Einmal ist dies die herausra- mierung der Einzelsprachen in völlig verän-
gende Bedeutung der Rhetorik als Technik derten kulturellen Kontexten geht.
der mündlichen Rede in der römischen Kultur In der Spätantike bildet sich eine Trennung
(Cicero, Quintilian), in der memoria (Ge- zwischen einer praxis- und didaktikorientier-
dächtnistechniken) und pronuntiatio (münd- ten Schulgrammatik einerseits (die im Mittel-
liche Performanz) integrierende Teile sind. alter dann als grammatica positiva fortgeführt
Unter dieser Finalisierung konnte der Schrift wird) und einer an sprachtheoretischen Fra-
allenfalls als Instrument der memoria nach- gen interessierten Sprachphilosophie anderer-
seits (die sich im Mittelalter als grammatica
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 107

speculativa auch deskriptiven Fragen zuwen- auch oft kritisch, beziehen wird, nimmt in
den wird), heraus. gewisser Hinsicht eine Mittelstellung zwi-
Die Schulgrammatik, deren wichtigste und schen Schulgrammatik und philosophischer
für die Tradition des Mittelalters bekannteste Sprachtheorie ein. Er formuliert eine recht
Autoren Donat (4. Jh.) und Priscian (6. Jh.) komplexe Schrifttheorie, in der er die kon-
sind, unternimmt es, die griechischen Ansätze kurrierenden Ansätze der antiken Schriftre-
zu einer Schrifttheorie zu vereinheitlichen und flexion synthetisiert. So übernimmt er einer-
systematisierend zu vereinfachen. In der hel- seits die physiologische Interpretation des
lenistischen Tradition waren zwei unter- Lautes als artikuliert (gegenüber den nicht-
schiedliche Arten der Zuordnung der ver- artikulierten tierischen Lauten); andererseits
schiedenen Bedeutungen von gramma ent- verweist er aber auch auf die semiotische In-
standen: Identifikation (so bei Sextus Emp- terpretation der littera als Symbol, nota des
iricus) oder Attribution. Das zweite Verständ- Lautlichen (wobei, wie wir gesehen haben,
nis setzt sich nun in der lateinischen Tradition phonographische und semiotisch-grammati-
durch. Dort werden drei kanonische Akziden- sche Ausdeutungen konkurrieren). Die wich-
tien zu littera angenommen: nomen — forma tigsten Elemente seiner Schriftauffassung
vox/vis (für dynamis)/sonus (Belegstellen bei seien hier kurz zitiert (aus Priscian, Institutio-
Vogt-Spira 1991, 308), später kanonisch in nes I, 3—8): Litera est pars minima vocis com-
der Form: nomen — figura — potestas. Littera positae oder litera est vox, quae scribi potest
kommen also drei Akzidentien zu: der Name individua; dann aber auch: Litera igitur est
einer Einheit ( nomen ), ihre schriftliche Form nota elementi (hier Rückgriff auf das stoi-
( forma/figura ) und ihr Lautwert ( vox/sonus cheion der griechischen Schrifttheorie) (...)
bzw. elementum bzw. vis/potestas. Die eindeu- hoc ergo interest inter elementa et literas, quod
tige Festlegung von littera als Übergriff ge- elementa proprie dicuntur ipsae pronuntiatio-
genüber dem schwankenden Gebrauch von nes, notae autem earum literae. (...) S unt igi-
gramma in der griechischen Tradition ist auch tur figurae literarum quibus nos utimur viginti
durch die geringere etymologische Festlegung tres (...) und schließlich Accidit igitur literae
von littera auf die Schrift erklärbar. Diese nomen, figura, potestas.
Systematisierung wird der feste Bezugspunkt
für die Schriftreflexion im Mittelalter und in
der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhun- 3. Mittelalter
derts sein. Es ist sehr schwer, die Rahmenbedingungen
Die spätantike Sprachphilosophie betont der Schriftreflexion im Mittelalter umfassend
die semiotischen Aspekte von Schrift. Dies zu charakterisieren, dies umsomehr, als sich
gilt in besonderer Weise für Augustinus, der durch die neueste Forschung unsere Kennt-
als der eigentliche Begründer der Semiotik nisse und Einschätzungen sehr gründlich ge-
gelten kann. In De doctrina christiana ändert haben, ohne daß schon eine neue Syn-
(397—427) behandelt er die Schrift unter dem Ge- these in Sicht wäre. Ein wichtiger Gesichts-
punkt ist ganz sicher, daß im Zuge der Ver-
sichtspunkt einer Klassifikation unterschied- schriftung der Volkssprachen, auch wenn sie
licher semiotischer Systeme. Bemerkenswert zunächst für begrenzte Sektoren des kulturel-
ist, daß Augustinus annimmt, auch die Schrift len und politisch-administrativen Lebens er-
sei der babylonischen Verwirrung zum Opfer folgte, das Verhältnis von Laut und Schrift
gefallen ( De doctrina christiana II, 5). Boe- neu überdacht werden mußte (→ Art. 41).
thius (6. Jh.) versucht in seiner Aristoteles- Konnte man einfach das lateinische Vorbild
Übersetzung (aus der wir oben zitiert haben) übernehmen? Genügte die Hinzufügung eini-
und in seinem Kommentar, die Komplexität ger Buchstaben? Oder bedurfte es einer um-
der aristotelischen Schriftauffassung zu zei- fassenden neuen Analyse der zu verschriften-
gen und eine semiotisch-kulturwissenschaft- den Sprachen in lautlicher Hinsicht? Die Ein-
liche Auffassung von Laut und Schrift gegen- führung der Schrift in den Volkssprachen be-
über der konkurrierenden physiologischen deutete natürlich nicht nur die Einführung
stark zu machen. Sicher müßten auch noch eines neuen Mediums, sondern auch die
andere spätantike Gelehrte unter dem Ge- Veränderung der konzeptionellen Formulie-
sichtspunkte ihrer Aussagen zur Schrifttheo- rungstechniken. Weiterhin stellten sich auch
rie untersucht werden (vgl. z. B. den Hinweis die bei Einführung von Schriftlichkeit not-
von Vogt-Spira 1991 zu Isidor von Sevilla). wendigerweise auftretenden strukturellen
Priscian, auf den sich auch die mittelalter- Fragen: nach der Wahrheit der Dichter an-
liche grammatica speculativa vielfach, wenn
108 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gesichts konkurrierender Traditionen, nach strukturelle Ähnlichkeiten mit der von Rösler
dem Funktionieren des kulturellen Gedächt- 1980 rekonstruierten Debatte über die Wahr-
nisses, nach der Legitimität mündlicher und heit der Dichter in der griechischen Antike
schriftlicher Vereinbarungen usw. Es ist wahr- hatte. Diese Auseinandersetzung findet vor
scheinlich, daß in all diesen Umbruchsituatio- allem im Umkreis der Entstehung der Pro-
nen, die ja in den verschiedenen europäischen saromane, die die Versepik ablösen, statt (vgl.
Ländern nicht gleichzeitig eintreten, eine ver- Schlieben-Lange 1987). Ob es sich dabei nur
stärkte Bereitschaft zur Reflexion über Schrift um verstreute Bemerkungen handelt, oder
und Schriftlichkeit vorhanden war. Weiterhin aber ob die Elemente dieser in Ansätzen
zwingt uns die Forschung der letzten Jahre nachweisbaren Schriftlichkeitsreflexion syste-
dazu, das stereotype Bild des oral geprägten matisch zusammengeführt werden, ist eine
Mittelalters gegenüber der schriftkulturorien- Frage, die sich aufgrund der Forschungslage
tierten Renaissance zu revidieren. Es scheint noch nicht abschließend beantworten läßt.
fast das Gegenteil der Fall zu sein: das Mit- Was die Behandlung der Schrift in sprach-
telalter entwickelt eine dezidiert schriftorien- theoretischer Hinsicht angeht, so ist zu un-
tierte Kultur, auf die die Renaissance mit terscheiden zwischen drei unterschiedlichen
einem Re-Oralisierungsschub zu antworten Traditionen: der Schulgrammatik, der philo-
scheint. Sicher sind beide Arten der Gegen- sophischen Grammatik und den ersten An-
überstellung zu pauschal; wichtig ist jedoch sätzen von auf die Volkssprachen bezogener
die neue Erschließung verschiedener Aspekte Sprachbeschreibung.
der Schriftorientierung der mittelalterlichen Die Schulgrammatik erscheint im Mittel-
Kultur. Dazu gehört z. B. der von einer Reihe alter in zwei Formen, einmal als Tradition der
von Forschern geführte Nachweis (dazu spätantiken Artes von Donat und Priscian in
McKitterick 1989) einer wesentlich stärkeren zahlreichen Abschriften und Überarbeitun-
Kontinuität von Spätantike und Frühmittel- gen, andererseits in Form von Lehrgedichten
alter, als sie bisher angenommen wurde, die auf der Basis des antiken grammatischen Wis-
auch die Kontinuität zwischen Latein und sens, wie etwa des außerordentlich erfolg-
romanischen Volkssprachen (einschließlich reichen Doctrinale des Alexander von Villa-
der Verschriftungsmodalitäten) einschließt. Dei (12 . Jh.). Weder hier noch da finden sich
Andere Untersuchungen weisen einen hohen in schrifttheoretischer Hinsicht interessante
Grad an Schriftorientierung und die Entwick- Neuerungen. Die Definitionen von Donat
lung skripturaler Techniken in verschiedenen und Priscian werden in stark vereinfachter
Phasen und Ländern nach, so im administra- und stereotypisierter Form wiederholt. Dies
tiv-juristischen Bereich (Clanchy 1979), im gilt auch für eine Reihe von schulgrammati-
religiösen Bereich (Stock 1983), beim Über- schen Autoren des 15. Jahrhunderts wie Pa-
gang der mündlichkeitsorientierten Rhetorik strana, Guarino Veronese und Niccolò Perotti
zu den schriftorientierten Artes Dictaminis (Jensen 1990; Vogt-Spira 1991).
(Koch 1989), in der Entwicklung der schola- Ganz anders verhält es sich in der gram-
stischen Buchkultur und den damit einher- matica speculativa. In Auseinandersetzung
gehenden technischen Neuerungen (leises Le- mit Priscian und in Fortsetzung der über Boe-
sen: Saenger 1989, scriptio discontinua: Raible thius vermittelten Aristoteles-Tradition, spä-
1991, Techniken der Klassifikation von Wis- ter auch unter Heranziehung weiterer Aristo-
sen und der Visualisierung von Klassifikatio- teles-Texte, entsteht eine äußerst scharfsinnige
nen: Raible 1990, Carruthers 1990; Ablösung Auseinandersetzung gerade auch mit den
mnemotechnischer Verfahren durch Techni- überlieferten schrifttheoretischen Konzepten.
ken der Visualisierung: Carruthers 1990, die Da die Erschließung der grammatica specu-
sich damit gegen die lange Zeit unangefoch- lativa sich bisher vor allem auf die semanti-
tenen Thesen von Yates 1966 wendet). schen Überlegungen (die sog. modi signifi-
Es ist noch nicht abzusehen, ob diese erst candi ), die Wortartenlehre und die Syntax
in letzter Zeit beschriebenen schriftorientier- konzentriert hat, fehlen noch systematische
ten Veränderungen der mittelalterlichen Kul- Untersuchungen in dem uns interessierenden
tur auch zu einer expliziten Reflexion über Bereich. Maas (1986) weist auf die Behand-
Schriftlichkeit geführt haben. Für einen Be- lung der Schrift bei Abaelardus, Albertus Ma-
reich ist das sicher der Fall, nämlich dort, wo gnus und Thomas von Aquin hin, Vogt-Spira
schriftliche Erzähltraditionen in Konkurrenz (1991) auf Hugo von St. Viktor (dazu auch
zur mündlich überlieferten Literatur treten. Illich 1991) und Johannes Dacus. Hugo von
Es entsteht hier eine Auseinandersetzung, die St. Viktor formuliert die traditionelle Unter-
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 109

scheidung littera — figura/elementum in Ter- der Reformation, Demotisierung von Wissen,


mini von Genus und Spezies neu: ... cuius administrative Praktiken und Rechtsrefor-
repraesentatio quod scribitur figura est, quod men, Unterwerfung von Gedächtnis und In-
dicitur elementum, littera utrumque (S. 77, 43). formation unter Marktmechanismen, Selbst-
Ganz klar trennt Johannes Dacus zwischen reflexion der Nationen als Schriftgemein-
Laut und Schrift und schlägt auf dem Hin- schaften, Nationalisierung von Wissen, Über-
tergrund der aristotelischen hyle-eidos-Unter- legungen zu Urheberrecht, Zensur und Mei-
scheidung weitere Feinunterscheidungen vor: nungsfreiheit. Die Reformation ist der zweite
... quod littera in scripto et littera in pronun- Faktor, der das Verhältnis von Mündlichkeit
tiatione non sunt idem, quia littera in pronun- und Schriftlichkeit tiefgreifend ändert, vor al-
tiatione est pars vocis, sed littera in scripto non lem insofern sie der in der katholischen Tra-
est pars vocis (S. 113 f). Die littera in scripto dition geltenden Gleichberechtigung von
ist viererlei: materia in qua est, materia ex qua mündlicher und schriftlicher Überlieferung
est, figura, dispositio (zitiert nach Vogt-Spira ein exklusives sola scriptura entgegensetzt, das
1991, 320). natürlich in erster Linie die Bibel als Garant
Die dritte Gruppe von mittelalterlichen der Offenbarung meint, aber in der Konse-
Sprachbeschreibungen, die auch erst in An- quenz eine Marginalisierung und Stigmatisie-
sätzen erschlossen und fast noch überhaupt rung mündlicher Überlieferungen ganz allge-
nicht unter schrifttheoretischen Gesichts- mein mit sich bringt. Buchdruck und Refor-
punkten betrachtet worden ist, bilden die mation wirken nicht nur gleichzeitig; beides
Grammatiken der Volkssprachen. Diese ste- hängt auch eng zusammen: der Erfolg der
hen teilweise vollständig in der Donat-Tra- Reformation wäre ohne die schnelle Verbrei-
dition, sind teilweise aber auch sehr selbstän- tung durch gedruckte Flugschriften nicht
dig (wie etwa die Gruppe der Leys d’Amors- denkbar gewesen. Und schließlich sind beide
Grammatiken für das Altokzitanische). Erste Bewegungen eng mit der Nationalisierung
Ansätze zur schrifttheoretischen Erschließung verbunden (nationale Märkte beim Buch-
dieser Texte finden wir bei Günther 1985 (zu druck, Bibelübersetzungen, Nationalisierung
Otfried von Weißenburg) und Maas 1986 (zu der Kirchen). Unter dem Eindruck der Re-
einer isländischen Grammatik des 12 . Jahr- formation und der massenhaften Ausbreitung
hunderts). des Buchdrucks entsteht als Gegenbewegung
eine Art Re-Oralisierung, die sich in unter-
schiedlichen Weisen manifestiert. So kann
4. Renaissance man zum Beispiel, vor allem in der Gegen-
Zwei einschneidende Veränderungen in reformation, eine — zumindest kurzfristige
schriftkultureller Hinsicht charakterisieren — Wiederbelebung der fast schon vergessenen
den Beginn der Neuzeit: die Erfindung und ars memorativa feststellen. Diese Versuche zur
Ausbreitung des Buchdrucks und die Refor- Rehabilitierung der mündlichen Überliefe-
mation. Wenn auch, wie wir gesehen haben, rung aus anti-reformatorischen Gründen fal-
die neueste Forschung zeigt, daß bereits durch len teilweise zusammen mit neuplatonisti-
die „scholastische“ Buchrevolution viele Ent- schen Gedankengängen, die ebenfalls die
wicklungen vorbereitet waren, die man bisher mündliche Überlieferung und Gewinnung
mit dem Buchdruck in Verbindung gebracht von Wissen, auch durch die Reaktualisierung
hatte, bildet doch die massenhafte Verbrei- von dialogischen Formen, fördern.
tung von gedruckten Schriftzeugnissen eine Die Konsequenzen der Schriftlichkeit unter
einschneidende Neuerung (wobei übrigens der den Bedingungen ihrer massenhaften Repro-
Gesichtspunkt der „Masse“ als Garant von duzierbarkeit sind Gegenstand intensiver De-
Unvergänglichkeit in der zeitgenössischen batten im 16. Jahrhundert. Giesecke (1991)
Diskussion eine große Rolle spielt). Eisenstein hat für Deutschland die entsprechenden Texte
(1979), Maas (1985) und Giesecke (1991, erschlossen; in anderen europäischen Ländern
1992 ) haben umfassend die Dimensionen des gibt es diese Debatten natürlich auch, sie sind
durch den Buchdruck induzierten Kulturwan- nur noch nicht unter schriftlichkeitstheoreti-
dels aufgezeigt. Einige Stichpunkte mögen ge- schen Gesichtspunkten aufgearbeitet worden.
nügen: Entwicklung der Wissenschaften auf- Zwei Gesichtspunkte, die Gegenstand des
grund der Entbindung der Techniken aus der Nachdenkens zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Werkstattsituation und des mit der schriftli- sind, möchte ich besonders hervorheben: die
chen Formulierung einhergehenden Zwangs Überlegungen zur Überlieferung und Gene-
zur Konzeptualisierung, schnelle Verbreitung rierung von Wissen. Giesecke (1991, 1992 ) hat
110 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gezeigt, daß die Verfasser von deutschspra- auch die erste Formulierung der Maxime
chiger Fachprosa in der ersten Hälfte des 16. „Schreibe, wie du sprichst“ finden (Gauger
Jahrhunderts (Brunfels, Bock, Fuchs u. a.) 1986).
sich zunächst sehr besorgt äußern über den Wie wirken sich nun die oben skizzierten
abgang der erkantnuß , d. h. also das Vergessen Bedingungen (Buchdruck und Reformation
von Fachwissen, das mit der Drucklegung mit der damit einhergehenden Aufwertung
von Fachprosa-Texten einhergehe, also eine und Festlegung der Volkssprachen, Demoti-
strukturell ähnliche Überlegung, wie sie Plato sierung der Schrift, Nationalisierung, Ver-
angesichts der Bedrohung durch die sich marktung) auf die Schrifttheorie im engeren
durchsetzende Schriftkultur formuliert hatte, Sinne aus? Die schnelle Durchsetzung des
wenn hier auch beschränkt auf je eng um- Buchdrucks machte eine umfassende Normie-
grenzte Wissensgebiete, z. B. das Wissen über rung der Volkssprachen, vor allem ihrer Or-
Heilpflanzen u. ä. Diese Befürchtung war eng thographie, notwendig, und zwar in einer sehr
an das Problem der Versprachlichung von rigiden Weise, da es ja um die technologische
Werkstattwissen gebunden, das bis dahin über Notwendigkeit der Herstellung von Lettern
Verfahren der Ostension vermittelt wurde. und der Instruktion von Druckern ging. Vom
Während man also einerseits den Verlust Erfolg der möglichst eindeutigen Durch-
mündlicher Überlieferung beklagte, arbeitete führung der notwendigen Festlegung hing
man gleichzeitig an der Entwicklung von schließlich auch die Konkurrenzfähigkeit der
Strategien, die die Loslösung des Wissens aus Druckunternehmen ab. Der Zusammenhang
der Werkstatt ermöglichen sollten, z. B. Lehr- zwischen Sprachnormierung und Buchdruck
dialoge, partielle Entsituierung mit dem An- ist in vielen Fällen sehr eindeutig: so waren
gebot, bei Bedarf die beschriebenen Techni- Geoffroy Tory, der Verfasser des ersten Re-
ken zu zeigen. Ein anderer wichtiger Gesichts- naissance-Traktats über das Französische
punkt, der gerade im reformatorischen (152 9, vgl. Settekorn 1979) und die verschie-
Deutschland explizit diskutiert wurde, war die denen Mitglieder der Familie Estienne in
Demotisierung der Schrift (Maas 1985). Frankreich selbst Drucker; Aldo Manuzio,
Schrift war aufgrund der Möglichkeiten des der große venezianische Drucker, war Rat-
Buchdrucks nicht mehr einer gebildeten Elite geber von Bembo; die von Giesecke (1992 )
vorbehalten, sondern wurde Allgemeingut. Es analysierte Orthotypographia (1608) des Hier-
ging also darum, durch geeignete Verfahren, onymus Holzschuch verdichtet diesen Zusam-
d. h. vor allem durch einen adäquaten Erst- menhang im Titel. Auch in anderen Fällen
leseunterricht, die neuen Schichten an Schrift, wird man solche Kontakte vermuten können,
Schriftlichkeit und ihre Möglichkeiten her- z. B. bei Fernão de Oliveira, dem Verfasser
anzuführen mit dem Ziel, daß jeder darueber der ältesten portugiesischen „Grammatik“
(= reformatorische Diskussionen) selbs lesen (1536, dazu Schlieben-Lange 1994). Ganz
und desto bas darin urteilen moege. Diese Be- gleich wie eng man im Einzelfall die Zusam-
mühungen werden vor allem von reformato- menarbeit von Druckern und Grammatikern
rischen Grammatikern wie Valentin Ickelsa- zu denken hat, die Fixierung der Lettern
mer und Fabian Frangk vorangetrieben (Gie- macht eine umfassende Re-Analyse des Gra-
secke 1992 ). Dieser Versuch, die Möglichkei- pheminventars der jeweiligen Sprache not-
ten der Schrift durch Alphabetisierungskam- wendig. Dabei sind besonders eindeutige und
pagnen und Erstleseunterricht für breite Be- besonders ökonomische Lösungen vorzuzie-
völkerungsschichten zu erschließen, impliziert hen, die sich dann ergeben, wenn sie auf einer
natürlich auch eine Orientierung an den Ver- genauen phonologischen Analyse beruhen. So
stehensmöglichkeiten der Zielgruppen, d. h. kann man tatsächlich feststellen (Giesecke
gerade der Versuch, die Schrift zu verbreiten, 1992 , 302 ff), daß im Laufe von drei Gene-
ist notwendigerweise begleitet von der Ori- rationen die Zahl der Lettern drastisch re-
entierung an mündlichen Modellen. Diese duziert wird, alle Ligaturen und Abkürzungen
Orientierung am mündlichen Sprachgebrauch verschwinden, übrig bleiben die Lettern, die
leitet im übrigen auch die schriftstellerische Phoneme repräsentieren; d. h. daß sich in re-
Tätigkeit der Reformatoren. Man denke nur lativ kurzer Zeit das phonographische Prinzip
an Luthers Erläuterung seiner Übersetzungs- gegenüber konkurrierenden (logographischen
praxis im S endbrief vom Dolmetschen, wo es oder syllabographischen) durchsetzt.
heißt, man müsse dem Volk aufs Maul Sowohl in konzeptioneller („dem Volk aufs
schauen. So ist es sicher auch kein Zufall, Maul schauen“) als auch in medialer Hinsicht
wenn wir in dieser Zeit, nämlich bei Valdés, orientieren sich also die Schriftsteller und die
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 111

Grammatiker/Drucker des 16. Jahrhunderts Julius Caesar Scaliger versucht unter Rück-
am mündlichen Sprachgebrauch. Neben den griff auf die griechisch-römische Tradition vor
praktischen Überlegungen (Verständlichkeit Donat und Priscian in seinen De causis lin-
für neu alphabetisierte Sozialschichten; Ver- guae latinae libri tredecim (1540) den Begriff
einfachung der Drucktechnik) spielt dafür si- littera enger mit dem geschriebenen Buchsta-
cher auch die anti-scholastische Orientierung ben zu verknüpfen und klar von der lautlichen
an der Natur, wie sie der Humanismus pro- Realisierung zu trennen. Daraus folgt eine
pagiert, eine Rolle. Paradoxerweise hat also klare Trennung von Schrift und Laut (vgl.
die massenhafte Verbreitung von Schrift ge- Jensen 1990; Vogt-Spira 1991, 312 ). Übrigens
rade eine Orientierung des Schreibens und der folgen ihm hier auch volkssprachliche Gram-
Schrift an der mündlichen Rede und am Laut matiker, vor allem des 17. Jahrhunderts, z. B.
zur Folge und damit auch eine Nachordnung Buommattei, der auch von der Selbständig-
der Schrift gegenüber dem Laut. keit von Laut und Schrift ausgeht (vgl. Brekle
Erst jetzt setzt sich eine eindeutig phono- 1980). Scaligers Auffassung trägt in gewisser
graphische Interpretation der aristotelischen Hinsicht der kulturellen Entwicklung des
Schriftauffassung durch (Maas 1986, 2 64). Spätmittelalters (Techniken des leisen Lesens,
Sehr deutlich ist dies zum Beispiel bei Antonio scriptio discontinua ) besser Rechnung als die
de Nebrija, der sich in der Gramática de la volkssprachlichen Grammatiker, die sich von
lengua castellana (1492 ) und den Reglas de den technologischen und sozialen Notwendig-
orthographia en la lengua castellana (1517), keiten leiten lassen. Ganz anders wieder Sanc-
übrigens auch in seinen von den Zeitgenossen tius, der in seiner Minerva explizit die Be-
wesentlich mehr beachteten lateinischen handlung der Schrift ablehnt; diese gehöre
Schriften, auf die einschlägigen Stellen bei zum Diskurs, nicht zur Grammatik. Mögli-
Aristoteles und Quintilian bezieht und diese cherweise hat diese völlige Ausblendung der
eindeutig phonographisch interpretiert (zur Schriftproblematik auch etwas mit Sanctius
Terminologie und den antiken Quellen Quilis neuplatonischer Orientierung zu tun.
1977 und Tollis 1971). Jede Sprache muß ge-
sondert phonologisch analysiert werden (das
Kastilische anders als das Lateinische oder 5. Das 17. Jahrhundert
das Arabische), und jedem in der betreffenden
Sprache identifizierten Laut ( boz, pronuncia- Viele schrifttheoretische Äußerungen des 17.
ción, fuerça ) wird eine Graphie ( letra, figura ) Jahrhunderts sind als unmittelbare Fortset-
zugeordnet und zwar nach dem obersten Prin- zung der Bemühungen des 16. Jahrhunderts
zip: ... assí tenemos de escrivir como pronun- zu verstehen (einige Autoren sind auch schon
ciamos, & pronunciar como escrivimos (Gra- im Zusammenhang des 16. Jahrhunderts ge-
nannt worden). Vorherrschend ist dabei wei-
mática, Kap. I, 10). Ähnliche Prinzipien be- terhin die phonographische Orientierung,
folgen auch viele andere Orthographen und häufig unter Berufung auf ihre Naturgemäß-
Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts, heit. Andererseits gibt es aber auch eine Reihe
in Spanien in der Nachfolge Nebrijas Villalón, von Grammatikern, die die Grenzen der pho-
Alemán, Jiménez Patón, Correas, in Portugal nographischen Orientierung erkennen und die
Fernão de Oliveira. In Frankreich löst Louis Selbständigkeit der beiden Modalitäten be-
Meigret mit seinem Vorschlag einer phono- tonen. Von Buommattei war oben schon die
logischen Orthographie für das Französische Rede; auf deutscher Seite müßte in diesem
eine umfangreiche Debatte (1532 —1550) über Zusammenhang Schottel genannt werden
Vor- und Nachteile einer etymologisierenden (vgl. Maas 1986, 2 73 f; Müller 1990, 30 ff).
Orthographie aus (vgl. Hausmann 1980), in Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß gerade
der wichtige schrifttheoretische Argumente italienische und deutsche Autoren eine der
ausgetauscht werden (Durchsichtigkeit der Grenzen der rein phonographischen Schrift in
Derivationen, Unterscheidung von Homo- der diatopischen Vielfalt ihrer jeweiligen
nymen). Sprachen sehen. Auch die Stildiskussionen
Während die volkssprachlichen Gramma- orientieren sich weiterhin vielfach am Ideal
tiker in der skizzierten Weise die Schrift pho- einer mündlichkeitsnahen Art der Verschrif-
nographisch interpretieren und aufgrund tung. Besonders aufschlußreich in dieser Hin-
phonologischer Analysen normieren, verhal- sicht ist die Diskussion um den plain style als
ten sich die Grammatiker des Lateinischen Stilideal im englischen 17. Jahrhundert (Hül-
zwar auch zu den Rahmenbedingungen des len 1990).
16. Jahrhunderts, jedoch in anderer Weise.
112 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Andererseits entsteht aber im 17. Jahrhun- Nutzung der gegenüber der Linearität gespro-
dert ein ganz neues Interesse an der Schrift. chener Sprache autonomen Möglichkeiten
In gewisser Hinsicht kann vieles im 17. Jahr- der Visualisierung und andererseits der Er-
hundert als Wiederaufnahme mittelalterlicher weiterung des Schrift-Horizonts, entsteht ein
Traditionen interpretiert werden, und meist vielfach und explizit artikuliertes Interesse an
geschieht dies von einer aufklärerischen Schrift, losgelöst von der Lautsprache. Es ma-
Position her: in dieser Perspektive erscheint nifestiert sich vor allem in den zahlreichen
dann das 17. Jahrhundert als Verzögerung Vorschlägen zur Entwicklung einer universel-
der Durchsetzung humanistischer Positionen, len Wissenschaftssprache auf visueller Basis,
die erst im 18. Jahrhundert greifen werden. der gar kein direktes lautliches Substrat ent-
Aus einer schriftgeschichtlichen Perspektive spricht. Besonders interessant unter schrift-
scheint aber das 16. Jahrhundert mit seiner theoretischen Gesichtspunkten ist der Mer-
(unter den unterschiedlichsten Bedingungen cury: or the secret and swift messenger (1641)
entstandenen) Mündlichkeitsorientierung die von John Wilkins (dazu Asbach-Schnitker
Entfaltung der Visualisierung von Wissen und 1984), ein Traktat über Schrift im Zusam-
der Autonomisierung der schriftspezifischen menhang anderer semiotischer Systeme, be-
Möglichkeiten, wie sie die „scholastische sonders über Geheimschriften. George Dal-
Buchrevolution“ angelegt hatte, behindert zu garno macht in seiner Ars S ignorum (1661)
haben. Hier knüpfen die Wissenschaftler und ausdrücklich den Unterschied zwischen den
Dichter des 17. Jahrhunderts an und entwik- S igna S ignorum, id est sonorum einerseits und
keln einen ausgeprägten Sinn für die Mög- den Bildschriften, die Zeichen rerum ipsarum
lichkeiten visueller Medien. Ich erinnere nur & mentis conceptuum sind. Der Gebrauch von
an die entfalteten Taxonomien und ihre Vi- Tönen und Figuren ist dem Menschen glei-
sualisierung in den Wissenschaften (vgl. Rai- chermaßen natürlich ( naturale ) und kann glei-
ble 1991) und an die Nutzung der linear- chermaßen Gegenstand von Vereinbarung ( ad
holistischen Doppelkodierung geschriebener placitum ) werden; Annahmen über die Prio-
Texte in der Barocklyrik. Wenn hier die Epo- rität des Lautlichen seien abzulehnen. Auch
chen in dieser umfassenden Weise charakte- die anderen Entwürfe für Universalsprachen
risiert werden, so darf das natürlich nicht den (vgl. Couturat-Léau 1907) müßten unter
Blick dafür verstellen, daß die unterschied- schrifttheoretischen Gesichtspunkten unter-
lichen Orientierungen, die dann in einer be- sucht werden (Kircher, Comenius, Leibniz).
stimmten Epoche als dominant erscheinen, Diese Abkopplung der Schrift von der Laut-
häufig auch an unterschiedliche Gruppen und sprache wird vorangetrieben durch die Ent-
Finalisierungen gebunden sind (z. B. Volks- wicklung der Mathematik und der Natur-
bildung vs. Wissenschaft), häufig sogar in- wissenschaften, die sich gerade auch unter
nerhalb derselben Gruppe eine komplexe Mi- Nutzung visueller Symbole schnell entwickeln
schung eingehen (z. B. plain style und Ent- und verselbständigen. Die Entwicklung einer
wicklung von lautunabhängigen Visualisie- Universalsprache ohne einzelsprachliches
rungstechniken). lautliches Substrat scheint auch wünschens-
Das neue Interesse an der Schrift als eigen- wert unter dem Gesichtspunkt der Ablösung
ständigem Medium, das nicht vollständig in des obsolet gewordenen Latein als Wissen-
der isomorphen Abbildung der Lautsprache schaftssprache ohne gleichzeitige Schaffung
aufgeht, wird weiterhin dadurch genährt, daß einer modernen Sprach-Hegemonie.
andere Schriftsysteme als die Alphabetschrift In dieser Perspektive erscheint die Schrift
in den Horizont der Gebildeten des 17. Jahr- als ein semiotisches System, das anderen Ge-
hunderts treten. Dies geschieht einerseits setzmäßigkeiten folgt als die Lautsprache. Die
durch Reiseberichte; so ist der Bericht Aco- Wissenschaftssystematiken des 17. Jahrhun-
stas über Mexiko (1590) eine im 17. und 18. derts, die immer ausgeprägtere semiotische
Jahrhundert vielzitierte Quelle der Kenntnis Überlegungen enthalten, weisen der Schrift
der aztekischen Bilderschrift. Andererseits einen ausgezeichneten Platz zu. So ist das 6.
entsteht auch ein neues historisches Interesse: Buch des Novum Organum von Francis Ba-
besonders die Hieroglyphen (Athanasius Kir- con, das ja häufig als Beginn der neuzeitlichen
cher), deren Kenntnis ja nie ganz erloschen Wissenschaft gewürdigt wird, der Ars Tra-
war, beschäftigen die Gelehrten des ausgehen- dendi gewidmet, wobei explizit zwischen lo-
den 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts cutio und scriptio unterschieden und der Dar-
(David 1965). stellung der unterschiedlichen Arten von
Auf diesem Hintergrund, einerseits der
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 113

Schrift viel Raum gewidmet wird (vgl. Maas ler Texte Platz. Freilich gilt es auch hier wie-
1986, 2 76 f). In Leibniz Schriften spielen der Unterschiede zu beachten: so fragt z. B.
Überlegungen zur symbolischen Fundierung Chartier (1985), ob es in Frankreich über-
der Wissenschaften eine große Rolle, in syste- haupt die intensive Lektüre, die Engelsing für
matischer und entfalteter Form dann vor al- Deutschland beschreibt, in gleicher Weise ge-
lem auch im 18. Jahrhundert bei Christian geben hat, da in Frankreich der für diese Art
Wolff, hier besonders in der Psychologia Em- der Lektüre konstitutive protestantisch-pieti-
pirica (1732 ). Die Wissenschaftssystematiken stische Hintergrund weithin fehle. Weiterhin
und Semiotiken des 17. und frühen 18. Jahr- muß einschränkend gesagt werden, daß zu-
hunderts (z. B. Izquierdo, Costadau) sind ins- mindest in Frankreich die Schriftorientierung
gesamt kaum erschlossen; hier ist sicher in relativiert wird durch die dialogischen For-
schrifttheoretischer Hinsicht noch mancher men der aufklärerischen Soziabilität (Salons,
Fund zu erwarten. Akademien, sociétés savantes ). Häufig entste-
Im 17. Jahrhundert entsteht auch wieder hen auch sehr komplexe Mischformen: so
eine Art der Sprachbetrachtung, die sich als wird man sicher annehmen müssen, daß die
übereinzelsprachlich versteht so wie die Gram- aufgeklärte Kommunikation in Deutschland,
matica speculativa im Mittelalter (die Diskus- aufgrund der Zersplitterung und des Fehlens
sion darüber, ob hier Beziehungen bestehen, einer Metropole, sehr viel stärker schrift-
hält an), nämlich die Grammaire générale et orientiert war als in Frankreich: trotzdem
raisonnée (1661) von Port-Royal. Die tradi- wird hier, und zwar gerade im bewußten Ge-
tionelle Unterteilung der Grammatik in einen genzug zu Frankreich mit seiner aristokra-
lautlich-orthographischen und einen gram- tisch geprägten Schriftkultur, die Maxime
matischen Teil wird beibehalten, allerdings „Schreib, wie du sprichst“ (z. B. bei Gottsched
in kartesianischer Weise re-interpretiert als und Adelung, dazu Müller 1990) hochgehal-
Behandlung des materiellen bzw. ideellen ten. Trotz all dieser Unterschiede und Ver-
Aspekts von Sprache. Im ersten Teil, der sich werfungen im einzelnen ist aber die Charak-
mit den Materialitäten ( Des signes ) beschäf- terisierung des 18. Jahrhunderts als Jahrhun-
tigt, gehen die Autoren sehr selbständig mit derts der Schriftkultur vertretbar, insbeson-
der littera-Tradition um und erkennen den dere aufgrund der engen Verbindung von
beiden Modalitäten durchaus eine gewisse Ei- Aufklärung und Schriftkultur. Die Befreiung
gengesetzlichkeit zu (dazu Maas 1986, 2 73). des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Sie verwenden damit (wie auch Dalgarno) Unmündigkeit, die sich als Emanzipation aus
eine Unterscheidung, die für das 18. Jahrhun- theologischer und absolutistischer Bevormun-
dert sehr folgenreich werden sollte, nämlich dung konkretisiert, erscheint als untrennbar
die zwischen signes des sons und signes des verbunden mit dem ungehinderten Zugang zu
idées. Damit tragen sie der Entdeckung und aufklärerischen Texten. Das große Projekt der
Diskussion unterschiedlicher Schriftsysteme Encyclopédie ist auf diesem Hintergrund zu
im 17. Jahrhundert Rechnung, legen aber verstehen. Aufklärung ist auch vor allem
auch gleichzeitig — wohl unter Rückbezug Kampf gegen die Instanzen, die diesen Zu-
auf Augustinus — die Grundlagen für eine gang versperren: Zensur und Privilegienwirt-
differenzierte Semiotik der Schrift. schaft. Die Herausbildung einer opinion pu-
blique als Basis der politischen Freiheit ge-
schieht über die Schrift und wird auch schrift-
6. Das 18. Jahrhundert vermittelt gedacht.
Die Schriftreflexion wird weiterhin, wie
Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der schon im 17. Jahrhundert, angeregt durch die
intensiven Schriftreflexion par excellence. Diskussion anderer als alphabetischer Schrif-
Diese Schriftreflexion entfaltet sich auf dem ten. Besondere Bedeutung kommt hier Wil-
Hintergrund der endgültigen Durchsetzung liam Warburtons Ausführungen zu den Hier-
einer umfassenden Schriftkultur (Verlage, Bi- oglyphen, die zuerst im Rahmen einer theo-
bliotheken, Periodica, soziale Orte, an denen logischen Untersuchung (1738—41) auf Eng-
Lektüre einen zentralen Stellenwert hat: Café,
Cabinet de lecture , Lesegesellschaften usw., lisch erschienen sind, dann aber in der Über-
Autor, unveränderlicher Text, Copyright), der setzung von Léonard de Malpeines unter dem
gegenüber oral strukturierte Bereiche und Titel Essai sur les hiéroglyphes des Egyptiens
Traditionen als marginal und anachronistisch (1744) traditionsbildend geworden sind. Die-
erscheinen. Die intensive Lektüre einiger we- ser Übersetzung fügt de Malpeines (unter Be-
niger Texte macht der extensiven Lektüre vie- zugnahme auf Frérets Arbeiten zur chinesi-
114 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

schen Schrift (1718/1733) übrigens noch einer Emanzipation von bildlichen Elementen
eigene Remarques sur la première écriture des Hand in Hand geht und in der Alphabet-
Chinois an (vgl. die Ausgabe von 1977 mit schrift ihren Höhepunkt erreicht. Diese Art
Kommentaren von Derrida und Tort). War- der Schriftreflexion ist in der zweiten Hälfte
burton entwirft eine Systematik der Schrift- des 18. Jahrhunderts beherrschend. Sie kul-
systeme, auf die während des ganzen 18. Jahr- miniert in und nach der Französischen Re-
hunderts immer wieder Bezug genommen volution im Umkreis der sog. Idéologues , die
wird (vgl. Condillac, Rousseau, Encyclopé- die Condillacsche sensualistische Theorie aus-
die): Auf die peinture der Mexikaner (unter bauen. Besonders wichtig sind in diesem Zu-
Verweis auf die Beschreibung Acostas von sammenhang Condorcets Esquisse d’un ta-
1590) folgen die Hieroglyphen, die peinture bleau historique du progrès de l’esprit humain
und caractère gleichzeitig sind, die chinesische (1793), eine Menschheitsgeschichte, die vor
Schrift, die die idées direkt symbolisiert, und allem eine Geschichte der Fortschritte der
schließlich die Alphabetschrift. Er betont die Schriftkultur und der dadurch ermöglichten
Nähe von Gesten ( langage d’action ) und pein- Fortschritte von Wissenschaft und Freiheit
ture. Die Alphabetschrift habe sich direkt aus ist, und das 5. Kapitel des 2 . Bands der Elé-
den Hieroglyphen entwickelt, wobei die Ar- mens d’Idéologie (1803) von Destutt de Tracy,
gumentation bemerkenswerterweise an einer in dem die Alphabetschrift als Schrift, die dem
wörtlichen Interpretation des antiken Begriffs Laut folgt ( signes des signes ), als entschei-
des stoicheion festmacht. dende Errungenschaft der Menschheitsge-
Auf dem Hintergrund der Erprobung der schichte gefeiert wird. Dieses Schriftlob ist
Möglichkeiten taxonomischer Visualisierun- also eng an die Unterordnung unter den Laut
gen und der Reichweite von lautunabhängi- gebunden, wie überhaupt das phonographi-
gen Wissenschaftssprachen sowie des An- sche Prinzip in der Französischen Revolution,
wachsens der Kenntnisse über nicht-alpha- z. B. bei Domergue gegen das etymologische
betische Schriftsysteme entwickelt nun die Prinzip als Rest des Ancien Régime stark ge-
Schriftreflexion des 18. Jahrhunderts ihre Dy- macht wird. Dabei kommt der leichten Er-
namik. Diese entsteht vor allem dadurch, daß lernbarkeit als Argument der Breitenaufklä-
sie integriert wird in genetische Theorien sen- rung besonderes Gewicht zu. Die Völker, die
sualistischer Prägung. Ein Hauptschauplatz nicht zur Alphabetschrift übergehen, schnit-
der Aufklärungsdiskussionen ist die Sprach- ten sich damit selbst jede Möglichkeit zum
ursprungsfrage (vgl. Gessinger & von Rahden Fortschritt ab. Die Alphabetschrift macht
1986), da hier den Offenbarungsreligionen die auch eine lautunabhängige Universalsprache
Zuständigkeit auf ihrem ureigensten Terrain überflüssig (so gegen die in der Französischen
streitig gemacht wurde, nämlich eben die Ur- Revolution wieder auftretenden Vorschläge
sprungsfragen betreffend (übrigens auch in- für Pasigraphien z. B. von de Maimieux,
duziert durch die Entwicklung der Geologie). Hourwitz und Grotefend); sie i st das Univer-
In diesem Diskussionszusammenhang entwik- selle im jeweils Besonderen der Einzelsprache
kelte Condillac z. B. im Essai sur l’origine des (dazu Labarrière 1986, Schlieben-Lange 1986,
connaissances humaines (1746) eine genetische dort auch zu weiteren Idéologues wie Volney,
Theorie der Selbstkonstruktion des Men- Degérando, Lancelin; Trabant 1994).
schengeschlechts, wobei die verschiedenen Die Condillacsche Tradition, in der die Al-
Zeichensysteme eine zentrale Rolle bei der phabetschrift vorläufiges Ende und Gipfel-
Ermöglichung höherrangiger intellektueller punkt der Genese des Menschengeschlechts
Operationen spielen. Der Schrift als eindeutig darstellt, ist im 18. Jahrhundert in Frankreich
von Menschen geschaffenem Zeichensystem beherrschend. Vergleichbare Ansätze in an-
kommt hierbei ein Teil der Beweislast zu: deren europäischen Ländern sind unter
Wenn sie von den Menschen geschaffen ist, Schriftgesichtspunkten noch kaum unter-
so ist das auch für die Lautsprache, die ih- sucht. Hier wäre auf jeden Fall an Johann
rerzeit wieder eine Weiterentwicklung der Ge- Nicolaus Tetens, vor allem an Über den Ur-
stensprache war, denkbar. Die Entwicklung sprung der S prachen und der S chrift (1772 ) zu
der verschiedenen Schriftsysteme, deren Cha- denken.
rakterisierung Condillac von Warburton Es gibt aber durchaus auch andere Arten
übernimmt, wird nun ebenfalls in eine gene- der genetischen Rekonstruktion. Hier ist zu-
tische Reihe gebracht: von der peinture , die nächst einmal an diejenigen Autoren zu den-
direkt mit dem langage d’action verbunden ken, für die die Schrift älter als die Lautspra-
ist, zu einer immer größeren Klarheit, die mit che und aufgrund der direkten Abbildungs-
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 115

beziehung zu den Dingen auch „natürlicher“ verschiedener Schrifttypen verweist auf die
ist. Auroux (1983) nennt als Vertreter einer Bestimmung der Spezifizität der verschiede-
solchen kratylischen Sprach- und Schriftauf- nen Künste (Dubos, Mercier, Lessing u. a.).
fassung de Brosses und Court de Gébelin Der Zusammenhang ist besonders deutlich
(übrigens wäre durchaus auch Condillac teil- dort, wo von Malerei/peinture und Bild/image
weise so zu lesen). Ob hier ein direkter Rück- die Rede ist. Ein weiterer Gesichtspunkt bei
griff auf Plato vorliegt und wie diese auch im der Bearbeitung der Schrifttheorien des 18.
platonischen Rahmen neue Zuordnung Jahrhunderts, der der systematischen Bear-
Schrift — Natur argumentativ vertreten wird, beitung bedürfte, ist die Funktionalisierung
wäre noch im Detail zu untersuchen. Vor al- des aufklärerischen Kernbegriffs der „Natur“.
lem aber wäre natürlich in diesem Zusam- Die meisten Schrifttheoretiker nehmen darauf
menhang an Vico zu denken (Trabant 1987). Bezug, jedoch in sehr unterschiedlicher Weise:
Andere Autoren unterscheiden sich zwar für diejenigen, die von der Gleichursprüng-
nicht hinsichtlich der genetischen Abfolge, da- lichkeit oder gar Priorität der Schrift ausge-
für aber um so radikaler in der Wertung von hen, ist diese gerade aufgrund ihrer maleri-
Lautsprache und Schrift. Hier ist besonders schen Qualitäten und der unvermittelten Ab-
an Rousseaus Essai sur l’origine des langues bildung der Natur näher als die Lautsprache;
(verfaßt um 1750/1781) zu denken, der ja von für Rousseau ist die Lautsprache die Sprache
Derrida zum Kronzeugen des europäischen der Natur, von der sie die Schrift entfernt; für
Phonozentrismus erhoben wird. Er verwendet die Orthographietheoretiker der Französi-
dieselben (von Warburton übernommenen) schen Revolution muß das Prinzip der Ortho-
Elemente wie Condillac, kommt aber zu einer graphie in der Natur aufzufinden sein, und
gänzlich anderen Einschätzung: die Schrift, zwar in den Lauten, die eine rein phonogra-
die doch die Lautsprache nur fixieren sollte, phische Wiedergabe erfordern.
verändert sie vollständig. Diese Charakteri- Neben dieser zentralen semiotisch-geneti-
sierung der Wirkung von Schrift impliziert schen Schriftdiskussion finden wir im 18.
eine sehr klare und zu dieser Zeit neue Ein- Jahrhundert auch umfangreiche Diskussionen
schätzung der konzeptuellen Unterschiede der über die verschiedensten Aspekte der Schrift-
beiden Medien. Die Schrift ist in Rousseaus kultur und der Konsequenzen von Schrift. So
Denken der Sündenfall der Sprache (ähnlich interessiert man sich für die unterschiedlichen
dem Eigentum in sozialer Hinsicht). Auch für Formen des Lesens (z. B. im Artikel Lecture
Herder, der in seiner Abhandlung über den der Encyclopédie ). Besonders Rousseau wen-
Ursprung der S prache (1772 ) das Ursprungs- det sich gegen die „extensive Lektüre“ (Ter-
problem als anthropologische Frage umfor- minus von Engelsing), d. h. die oberflächliche
muliert und der in dieser neuen anthropolo- Lektüre vieler Texte und versucht dagegen die
gischen Perspektive sehr ausführlich das Ohr intime gemeinschaftliche und tiefempfundene
als den eigentlich menschlichen „mittleren“ Lektüre weniger Texte stark zu machen
Sinn charakterisiert, ist die Schrift der Laut- (Darnton 1985, Schlieben-Lange 1991).
sprache eindeutig nachgeordnet, sie ist ihr Besonders wird immer wieder die Bedeu-
gegenüber sogar defizitär, die Buchstaben tung der Schrift für das Gedächtnis ( mémoire )
nichts als „Schatten“ der Laute. hervorgehoben. Dies geschieht vor allem im
Die genetischen Rekonstruktionen des 18. Umkreis der genetischen Rekonstruktionen.
Jahrhunderts sind untrennbar verknüpft mit Besonders die sensualistischen Theoretiker
einem semiotischen Begriffsinstrumentarium, gehen ja davon aus, daß höherrangige kog-
das im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert nitive Fähigkeiten nicht ohne Zeichenver-
sowohl in rationalistischen als auch in em- mittlung gedacht werden können. Dies be-
piristischen Zusammenhängen entwickelt trifft vor allem die mémoire , und hier ist
worden war (vgl. oben). Die Schrift und ihre selbstverständlich die Schrift noch bedeutsa-
Funktion wird gefaßt in Begriffen von facul- mer als die Lautsprache. So wird in der Sy-
tés, sens, idées usw. Besonders der Zusam- stematik der Encyclopédie und der Encyclo-
menhang mit der Leibniz-Wolffschen Tradi- pédie S ystématique (hier sogar noch ausge-
tion (z. B. Lamberts Ausführungen im zweiten prägter) die Schrift dem Gedächtnis zugeord-
Teil des Neuen Organon , der Semiotik von net.
1764) harrt hier noch der Aufarbeitung. Das Ein weiterer hervorstechender Zug der Re-
gleiche gilt für die Zusammenhänge von flexion über Schriftkultur ist die Engführung
Schriftdiskussion und ästhetischer Diskus- von Schrift und Aufklärung, wie sie sich be-
sion. Die Charakterisierung der Schrift und sonders in der Apotheose des Buchdrucks
116 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(z. B. bei Condorcet) verdichtet. Alphabet- Eindeutig zugunsten der Priorität der Laut-
schrift und Buchdruck sind die Voraussetzun- sprache äußert sich Hegel (wie vor ihm schon
gen für Breitenaufklärung. Die im 16. Jahr- Herder; zu Hegel Knoop 1983, Maas 1986,
hundert begonnene „Demotisierung“ (Maas 2 75 und Trabant 1990), an einigen Stellen der
1985) von Schrift wird hier weitergeführt und Enzyklopädie der Wissenschaften , weshalb ihn
zum Gegenstand expliziter Reflexion ge- denn auch Derridas Phonozentrismus-Kritik
macht. trifft. Dabei benutzt er durchaus die schrift-
Besonders bemerkenswert ist die Diskus- theoretischen Topoi des 18. Jahrhunderts,
sion der Schrift als Voraussetzung für ge- wenn er von der Alphabetschrift, Zeichen der
schichtliches Bewußtsein und für Historiogra- Zeichen , als der „an und für sich intelligen-
phie, wie sie vor allem von Volney (nach dem teren“ Schrift spricht und die Gedächtnislei-
im 19. Jahrhundert der Prix Volney für das stung der Schrift hervorhebt. Andere Auto-
beste internationale Schriftsystem benannt ren, die ebenfalls in der Sprachreflexion der
ist) in seinen Leçons d’histoire (1795) geführt Aufklärung verwurzelt sind und doch zu
wird. In dieser Perspektive erweist sich die schriftkritischen Schlußfolgerungen kommen,
Schrift als einzig zuverlässige Voraussetzung sind Jochmann und Schlabrendorf (vgl. Mül-
(im Gegensatz zu Polymorphie und Verän- ler 1990, 116).
derlichkeit der mündlichen Überlieferung) der Ganz in der Tradition der Aufklärung steht
histoire positive , also der empirischen Ge- dagegen A. F. Bernhardi mit seiner positiven
schichtswissenschaft, die der konjekturalen Bewertung der Schrift als eines höherrangigen
Geschichte der genetischen Rekonstruktionen Fluchtpunkts der Sprachentwicklung in sei-
gegenübergestellt wird (ähnlich auch schon ner Sprachlehre (1801).
bei Condorcet). Besonders bemerkenswert (und in einem
gewissen Umfang auch traditionsbildend)
sind Wilhelm von Humboldts Überlegungen
7. Das 19. Jahrhundert zur Schrift, vor allem in der Akademie-Rede
Das 19. Jahrhundert ist unter schrifttheore- Über die Buchstabenschrift und ihren Zusam-
tischen Gesichtspunkten, wenn man von eini- menhang mit dem S prachbau (182 4) (dazu
gen allerdings herausragenden Autoren ab- Maas 1986, Stetter 1989, Trabant 1986/1990
sieht, recht unergiebig. Das betrifft vor allem und 1988/1990). In dieser Rede unterscheidet
die main stream-Sprachwissenschaft, die zwar Humboldt wie die Autoren der Aufklärung
mit der jahrtausendealten Zuordnung von drei Schrifttypen; die Alphabetschrift sei der
Sprache am angemessensten, weil sie am be-
Laut und Schriftzeichen unter einem Über- sten das „Theilungsgeschäft der Sprache“ er-
begriff ( littera, lettre, Buchstabe ) definitiv ab-
schließt (so finden wir bei Jacob Grimm in ledige, insofern sie die Artikulation als zweite
der ersten Auflage der Deutschen Grammatik Gliederung der Sprache direkt erfasse. Dies
ist natürlich besonders bedeutsam in den flek-
(1818) noch den Überbegriff „Buchstabe“, tierenden Sprachen, in denen Grammatik und
der beides umschließt; zwar wird dies in den Laut am engsten miteinander verbunden sind.
späteren Auflagen verändert), jedoch keine Insofern ist also erst in der Schrift die Arbeit
neue Schriftreflexion dagegensetzt. Diese Ab- des Sprachsinns vollendet. Trabant 1986/1990
stinenz in schrifttheoretischer Hinsicht ist zu
verstehen auf dem Hintergrund einer selbst- betont, daß Humboldts Äußerungen zur
verständlichen und vollständig durchgesetz- Schrift im Zusammenhang der Humboldt-
ten Schriftkultur, die nicht mehr verteidigt schen Anthropologie gesehen werden müssen,
werden muß. In dieser Situation erfolgt die deren Zentrum das Individuum ist, wobei
romantische Rückwendung auf die mündli- eben die Individuierung durch Schrift erst er-
chen Traditionen, die interessanter als die möglicht werde. „Wenn Humboldt die Schrift
herrschende Schriftkultur erscheinen. Hinzu so mit der Sprache verschränkt, daß erst sie
kommt, daß in Deutschland, wo die neue die Arbeit des Sprachsinns vollendet, so ist
Form der Sprachwissenschaft entsteht, die — man ist versucht zu sagen: Herder und
Orientierung am mündlichen Sprachgebrauch Kant vermittelnd — im Grunde zu Beginn
— im Gegenzug zur etymologischen Orientie- des 19. Jahrhunderts der neue Phonozentris-
rung des Französischen (vgl. Müller 1990) mus schon überwunden.“ (Trabant 1990,
und kompensatorisch zur faktischen Verwie- 2 16). Humboldt vermittelt also aufklärerische
senheit auf Schrift aufgrund des Fehlens einer Schrifttheoreme mit der Auseinandersetzung
Metropole — eine lange Tradition hat. mit den phonozentrischen Positionen seiner
Zeit und schafft eine neue Schrifttheorie, die
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 117

ihre besondere Qualität daraus bezieht, daß sprache prinzipiell und noch mehr in der Aus-
sie Teil einer umfassenden Sprachtheorie ist. führung defizitär; andererseits ermöglicht
Dadurch unterscheidet sie sich auch von der aber gerade dieses Fehlen von Deckungs-
Schrifttheorie der Idéologues , die noch nicht gleichheit geographische und historische
durch die Auseinandersetzung mit phono- Kontinuität. Die Leistungen der Schrift wer-
zentrischen Positionen hindurchgegangen ist den also gerade durch ihre Defizienzen er-
und auch nicht integraler Bestandteil einer möglicht.
Sprachtheorie ist (Trabant 1994). Trabant Bei den Junggrammatikern und noch mehr
(1990, 195) weist darauf hin, daß Humboldts dann in der Sprachgeographie kehrt das
Beschäftigung mit dem Schriftthema vor Schriftproblem allerdings auf eine überra-
allem auch durch die Auseinandersetzung mit schende Weise zurück: es erweist sich, daß die
Champollions Hieroglyphen-Entzifferung aus- lebendigen Sprachformen gar nicht direkt zu-
gelöst worden sei. Die Verbindungen zwischen gänglich sind, sondern nur in fixierter Form,
Schriftkenntnissen und Schrifttheorien müß- d. h. also über Transkriptionen.
ten systematisch aufgearbeitet werden (vgl.
oben zu Fréret).
In der Humboldt-Tradition, die aber im 8. Das 20. Jahrhundert
19. Jahrhundert gerade nicht die dominie- Die Sprachwissenschaft des 2 0. Jahrhunderts
rende Richtung der Sprachwissenschaft ist, wird, wieder abgesehen von einigen Ausnah-
bleibt das Interesse an der Schrift bestehen. men, ähnlich wie schon die des 19. Jahrhun-
Das gilt sowohl für Heymann Steinthal als derts die Schrift entweder ignorieren oder aus-
auch für Georg von der Gabelentz. Dieser drücklich der Lautsprache nachordnen. Va-
behandelt in Die S prachwissenschaft (1890) im chek 1973, Günther & Günther 1983, Feld-
Kap. 18 „Sprache und Schrift“. Drei Trieb- busch 1985, Maas 1986, Baum 1987, Glück
federn für die Schrifterfindung führt er an: 1987, Erfurt 1991 kritisieren diese Auffassung
den „Trieb zu bildnerischem Schaffen“, das und zitieren umfassend die in dieser Hinsicht
Verlangen nach Verewigung und das Bedürf- wichtigsten Belegstellen. Ich kann mich im
nis, ein Hilfsmittel gegen die Vergeßlichkeit folgenden also auf die Skizzierung der großen
zu schaffen. Von reinen Bildersystemen un- Linien beschränken, zumal die aktuelle Dis-
terscheidet sich die Schrift durch ihre „Les- kussion der Gegenstand vieler anderer Artikel
barkeit“, d. h. dadurch, daß Schrift nur sinn- dieses Handbuchs ist.
voll in Hinsicht auf eine Sprache interpretiert Sowohl im europäischen Strukturalismus
werden kann. Die orthographische Festigung Saussurescher Prägung als auch im amerika-
führt im Laufe der Geschichte einer Einzel- nischen Strukturalismus einschließlich der
sprache zur Auseinanderentwicklung von Generativen Grammatik spielt die Schrift
Lautsprache und Schrift, womit sich aber die keine Rolle, wird sogar gelegentlich explizit
Mitglieder der Sprachgemeinschaft in der Re- aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik
gel gut zurechtfinden. Die Vorteile der rela- ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluß erfolgt
tiven Selbständigkeit der Schrift sind die Ver- z. B. bei Ferdinand de Saussure (1916) im
bindlichkeit eines Schriftsystems für verschie- Cours de Linguistique Générale (zumindest in
dene Dialekte und die Gewährleistung histo- der postumen Ausgabe, die traditionsbildend
rischer Kontinuität. Auch andere Autoren des geworden ist, vgl. Baum 1987, 18 f): langue et
19. Jahrhunderts wie z. B. Whitney erkennen écriture sont deux systèmes de signes distincts;
der Schrift relative Selbständigkeit zu. l’unique raison d’être du second est de repré-
In der historisch-vergleichenden Sprach- senter le premier; l’objet linguistique n’est pas
wissenschaft ist dagegen die Schriftreflexion défini par la combinaison du mot écrit et du
sehr schwach ausgeprägt. Das Bekenntnis zur mot parlé; ce dernier constitue à lui seul cet
Priorität des Lautlichen wird expliziter Pro- objet. Freilich darf man nicht übersehen, daß
grammpunkt bei den Junggrammatikern, die dieses ausschließliche Objekt der Sprachwis-
gegenüber ihren Vorgängern vor allem die senschaft, die gesprochene Sprache, in Saus-
Untersuchung moderner Sprachen vorantrei- sures Sprachkonzeption stark schriftsprach-
ben. Man muß allerdings sehen, daß Her- lich überformt ist: alphabetische Phonema-
mann Paul, der führende Junggrammatiker, nalyse, scriptio discontinua , Formulierung im
in seinen Prinzipien der S prachgeschichte Duktus konzeptioneller Schriftlichkeit gehö-
(1889) dem Zusammenhang von S prache und ren zu den Selbstverständlichkeiten der struk-
Schrift ein sehr differenziertes Kapitel wid- turalistischen Sprachauffassung (vgl. Auer
met: zwar sei die Schrift gegenüber der Laut- 1993; Müller 1993). Dieses Zusammenspiel
118 I. Allgemeine Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

von expliziter Ausgrenzung von Schrift und Manifestation des Sprachlichen, die vor allem
faktischer — nicht reflektierter — Bindung auf der „Befreiung aus den Situationshilfen“
an Schrift ist konstitutiv für die meisten beruht, ist lesbar als Beschreibung schrift-
sprachwissenschaftlichen Richtungen des 2 0. sprachlicher Konzeptualisierung (so Raible
Jahrhunderts. 1989). Besonders aber die Unterscheidung
Das soeben Gesagte gilt jedoch nicht für von Zeigfeld und Symbolfeld ist von grund-
alle sprachwissenschaftlichen Schulen des 2 0. legender Bedeutung für die angemessene Er-
Jahrhunderts. Hier ist zunächst Baudouin de fassung der konzeptuellen Unterschiede von
Courtenay zu nennen, der in mehreren Schrif- Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bühlers
ten zu Beginn des Jahrhunderts die Eigenge- Text selbst enthält eine Reihe von Hinweisen
setzlichkeit der beiden Modalitäten betont auf die Möglichkeit dieser Interpretation.
hat, die lediglich psychisch aufeinander be- In der Kopenhagener Schule (Glossematik)
zogen seien. Ihm sind auch erste Fassungen spielt die Schriftreflexion ebenfalls eine ge-
des Graphem-Begriffs zu verdanken (vgl. wisse Rolle, jedoch in anderer Weise als in
Kohrt 1985). der Prager Schule. Für Louis Hjelmslev und
Die strukturalistische Richtung, in der die die Glossematik ganz allgemein ist sowohl auf
Beschäftigung mit Schrift und Schriftlichkeit der Inhaltsebene als auch auf der Ausdrucks-
den größten Raum einnimmt, ist die Prager ebene die Form, also die distinktive Gestal-
Schule. Dies gilt in gewisser Hinsicht bereits tung, der Gegenstand der Beschreibung, nicht
für Nikolaj S. Trubetzkoy, der vor allem die die jeweilige Substanz. Der Ausdrucksform
implizite phonologische Analyse durch die (die allein Gegenstand des linguistischen In-
Alphabetschrift für seine Auffassung der Pho- teresses ist) entsprechen verschiedene Aus-
nologie explizit nutzbar macht (Kohrt 1985). druckssubstanzen, nämlich eben Laut und
Der wichtigste Schrifttheoretiker der Prager Schrift. In gewisser Weise erscheint hier also
Schule ist Josef Vachek, der 1939 ( Zum Pro- wieder eine Übereinheit, ähnlich der antiken
blem der geschriebenen S prache ) erstmals ex- littera (vgl. Vogt-Spira 1991), die sich in zwei
plizit die relative Autonomie von gesproche- verschiedenen Ausprägungen manifestiert.
ner und geschriebener Sprache feststellt und Damit sind zwar Laut und Schrift gleich-
aus ihrer unterschiedlichen Funktion begrün- geordnet, aber auch im gleichen Schritt in
det. Dabei bezieht er sich auf Baudouin de ihrer Substantialität als für die Linguistik un-
Courtenay, Frinta und Artymovic als seine erheblich erklärt. Diese bei Hjelmslev in Om-
Vorläufer. 1948 ( Written language and printed kring sprogteoriens grundlaeggelse (1943) an-
language ) beschreibt Vachek die gedruckte gelegte Konzeption wird von H. J. Uldall
Sprache als Intensivierung der Schriftsprache. 1944 ( S peech and writing ) und Henning
In zahlreichen weiteren Aufsätzen diskutiert Spang-Hanssen 1959 ( Phoneme and Gra-
er Einzelaspekte, die er in einer Synthese, die pheme ) weiterentwickelt.
zugleich auch Forschungsbericht ist, zusam- Auch in der amerikanischen Linguistik, die
menfaßt: Written Language (1973). Die Ar- im Gefolge von Leonard Bloomfield die
beiten von Vachek berühren einerseits das Schrift als sekundär und vernachlässigbar an-
Medium (Verhältnis von Phonem und Gra- sieht, gibt es doch eine Reihe von interessan-
phem, Problem der spelling pronounciation, ten Ansätzen zur Schrifttheorie. Ich denke
phonographische und logographische Prinzi- hier besonders an die Arbeiten von Ernst Pul-
pien in der Schrift), aber auch die konzeptio- gram und Dwight Bolinger, von diesem Autor
nellen Unterschiede zwischen den beiden Me- vor allem an den Aufsatz Visual Morphemes
dien. Diese Schriftorientierung gilt jedoch (1946), in dem er auf die logographischen
nicht in gleichem Maße für alle Mitglieder der Elemente von Alphabetschriften hinweist.
Prager Schule, so etwa nicht für Roman Ja- In der Gegenwart erleben wir die Zunahme
kobson, der an dem sekundären Status der des Interesses an Schrifttheorie, möglicher-
Schrift festhält. Im Zusammenhang der Pra- weise aus dem Bedürfnis heraus, sich über das
ger Schule muß auch Karl Bühlers Sprach- Funktionieren eines bedrohten Mediums zu
theorie (1934) erwähnt werden, die viele An- vergewissern, ähnlich wie in der Geschichte
sätze für eine Theorie von Schrift und Schrift- das Interesse an der Mündlichkeit immer
lichkeit enthält. So kann etwa die Unterschei- dann besonders stark war, wenn die Schrift-
dung zwischen Sprechhandlung und Sprach- kultur sich durchsetzte. Trabant (1986/1990)
werk in dieser Hinsicht interpretiert werden: gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild
die Definition des Sprachwerks als objektiver, der Eule der Minerva, die erst mit der einbre-
interindividuell zugänglicher und gestalteter chenden Dämmerung ihren Flug beginnt. In
7.  Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit 119

diesem späten Schriftinteresse konvergieren Christoph (ed.). 1983. Schrift und Gedächtnis.
ganz unterschiedliche Forschungsansätze: München.
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— kulturanthropologische Forschungsrich- Göttingen.
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Balogh, Josef. Voces Paginarum. Philologus 82 ,
Folgen von Schrift interessieren (Goody,
84—109 und 202—240.
Ong)
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— psycholinguistische Fragestellungen (Le- Borsche, Tilman. 1986. Der Herr der Situation
ontev) verliert die Übersicht. Bemerkungen zu Platons
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Cohen, Diringer, Coulmas, Simpson, Haar- Brekle, Herbert E. 1980. Graphemtheoretische Be-
mann). merkungen in Benedetto Buommatteis Della Lin-
Von besonderer Bedeutung bei der Auslö- gua Toscana (1643). Zeitschrift für Semiotik 2 ,
sung der gegenwärtigen Schriftdiskussion 375—379.
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Kritik an der phonozentrischen Tradition der Idéologues. Amsterdam/Philadelphia.
europäischen Philosophie, wie sie Derrida Carruthers, Mary. 1990. The Book of Memory.
formuliert hat, und nicht zuletzt die paläon- Cambridge.
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hans, die auf die Bedeutung schriftsymboli- sens möglich? Zeitschrift für Literaturwissenschaft
scher Praktiken in der Menschheitsgeschichte und Linguistik 57/58, 250—273.
hinweisen.
Die Rekonstruktion der Behandlung der Clanchy, Michael T. 1979. From Memory to Writ-
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schaftsgeschichte kann beitragen zur Syste- Couturat, L. & Léau, L. 1907. Histoire de la langue
matisierung der Fragestellungen, zur Identi- universelle. Paris.
fikation von — teilweise langverschütteten — Darnton, Robert. 1985. Rousseau und sein Leser.
Traditionen. Sie kann zeigen, daß im Bereich Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
der Kulturgegenstände gewonnene Einsichten 57/58, 111—146.
nicht „veralten“: man denke etwa an die späte David, Madeleine. 1965. Le débat sur les écritures
Rechtfertigung (wenn ich es einmal so ver- et l’hiéroglyphe au XVIIe et XVIIIe siècles. Paris.
kürzt formulieren darf) Vicos durch Leroi- Derbolav, Josef. 1972 . Platons Sprachphilosophie
Gourhan. Sie kann aber vor allem unsere im Kratylos und in den späteren Schriften. Darm-
Sensibilität wecken für die Einbettung unserer stadt.
wissenschaftlichen Fragestellungen in Bedin- Derrida, Jacques. 1967. De la grammatologie. Pa-
gungen, die einerseits durch die Entwicklun- ris.
gen der jeweiligen Wissenschaften selbst und Eisenstein, Elizabeth L. 1979. The Printing Press
andererseits durch die kulturellen Verände- as an Agent of Change. Cambridge/London.
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122

II. Materiale und formale Aspekte von


Schrift und Schriftlichkeit
Material and Formal Aspects of Writing and Its Use

8. Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken

1. Einleitung Pergament und Papier als vornehmliche und


2. Papyrus traditionelle Materialien der Schriftlichkeit zu
3. Pergament berücksichtigen.
4. Papier
5. Schreibinstrumente
6. Literatur 2. Papyrus
Innerhalb der griechisch - römischen Antike
1. Einleitung tritt Papyrus (πάπυρος, βύβλος, βίβλος) als
umfassender Überlieferungsträger auf. Das
Im Rahmen der kulturellen Entwicklung der Haupterzeugungsgebiet war Ägypten; als
Menschheit war Schriftlichkeit entstanden, Sumpfpflanze wuchs die Papyrusstaude in
als sich der Zweck der bewußten Mitteilung stehenden Gewässern oder versumpfenden
eines gedanklichen Inhaltes an andere oder Flußarmen; besonders das Nildelta bot einen
als Gedächtnisstütze des Schreibers selbst mit vortrefflichen Nährboden. Mesopotamien,
der Anbringung des Geschriebenen auf einem Syrien und Sizilien sind als weitere Regionen
für diesen Zweck bestimmten Untergrund des Wachstums der Staude zu nennen. Zum
oder Beschreibstoffverband; fehlt eines dieser Zwecke der Bereitung des Beschreibstoffes
Merkmale, kann nur von Vorstufen der wurde das poröse und weiche Mark der Stau-
Schrift gesprochen werden. Im Verlauf der denstengel der Länge nach in dünne Streifen
menschlichen Geschichte wurden denn auch zerschnitten, welche in der Folge, einander
zahlreiche Materialien zur Anbringung teilweise überdeckend, nebeneinander gelegt
schriftlich fixierter Gedanken verwendet; man wurden; eine zweite Schicht von Streifen
denke an Stein, Marmor, Holz, Baumrinde, wurde in analoger Weise, im rechten Winkel
Bast, Textilien, Tontafeln, Wachstafeln, Me- gedreht, auf die erste Schicht gelegt. Durch
tallplatten, Scherben, Leder, Knochen oder Klopfen mit Fauststein oder Holzhammer
dickblättrige Pflanzen. In Hochkulturen wur- wurden beide Schichten zu einem zusammen-
den allmählich dauerhafte und transportfä- hängenden Blatt geformt; der eigene Saft der
hige Materialien als Überlieferungsträger ka- Pflanze dürfte im Wesentlichen zur Festigung
nonisiert; Palmblätter und Baumrinde aus des Blattes genügt haben. Ein eigentlicher
fernöstlichen Kulturen seien ebenso erwähnt Klebstoff wurde erst bei der Verbindung von
wie Tontafeln der mesopotamischen Kultu- Einzelblättern zu Rollen oder größeren Stük-
ren. Für die große Masse der schriftlichen ken in Anwendung gebracht. Trocknen und
Denkmäler des antiken Mittelmeerraumes, Glätten der Blätter rundeten den Arbeitsvor-
der mittelalterlichen Kulturwelten und der gang ab. Die natürliche Größe des Stauden-
Neuzeit wurden indes drei Beschreibstoffe stils setzte der Blattgröße Grenzen; allerdings
von kanonischer Bedeutung: der Papyrus, das waren Blattgrößen von 60 bis 100 cm nicht
Pergament und das Papier. Als sekundäre Be- unbekannt; die Durchschnittsbreite von Blät-
schreibstoffe konnten in der Antike Holz- und tern, die zu Rollen verarbeitet wurden, betrug
Wachstafeln, Ostraka und Leder verwendet 25 bis 30 cm; die Breite konnte aber auch
werden. Die Darstellung der mittelmeerischen zwischen 15 und 40 cm schwanken.
und der europäischen Handschriftenkunde Für die Beschriftung der Blätter kam in
hat die drei genannten Schriftträger Papyrus, erster Linie jene Seite in Frage, auf der die
8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken 123

Fasern des Marks horizontal verliefen; diese der Außenseite der geschlossenen Rolle. War
Seite wird daher als Rectoseite bezeichnet; die ein literarisches Werk in mehrere Rollen un-
Außenseite mit den vertikal verlaufenden Fa- terteilt, war eine Wiederholung von Autor-
sern ist die Versoseite. Bei opisthograph be- namen und Titel zu Beginn und am Ende
schriebenen Blättern ist also in der Regel die jedes Buches notwendig. Es war ein bemer-
Schrift auf der Rectoseite die ältere. Die kenswertes Phänomen des buchgeschichtli-
Farbe der Papyrusblätter war Schwankungen chen Traditionalismus, daß die Sitte der Wie-
unterworfen; ihre Palette reichte von weiß- dergabe des Incipit und Explicit auch noch
lichgelb bis schokoladebraun. im Codex beibehalten wurden, in den Hand-
Die Rollenform war in der Antike die vor- schriften des Mittelalters in Ost und West
herrschende Form des Buches. Auch die Ma- belegt ist, ja sogar noch in den frühen Buch-
terialien Leder und Pergament konnten in der druck eindrang. Nach dem Aufkommen der
Antike in Rollenform verarbeitet werden. Die Unterbringung der Rollen in Fächern eines
Papyrusrolle konnte durch das Aneinander- Bücherkastens kam die Sitte der Etikettierung
kleben von einzelnen Papyrusblättern in be- auf; Pergamentstreifen (σίλλυβοι, tituli ) mit
liebiger Länge angefertigt werden. Die als dem Titel der Rolle wurden am oberen Rand
χάρτης, charta , βίβλος oder liber , κύλινδρος der Rolle derart befestigt, daß sie von der
oder volumen , später auch als τόμος bezeich- liegenden Rolle im Fach herabhingen und
nete Rolle besaß im Durchschnitt eine Länge leicht gelesen werden konnten.
von 6 bis 10 Metern; auch größere Längen Da die Papyrusrolle als Hieroglyphe in
sind bezeugt. Die Blätter wurden derart auf- Ägypten bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. auf-
einandergeklebt, daß die horizontal verlau- scheint, muß ihre Verwendung in diese Epo-
fenden Fasern innen zu liegen kamen; auf che zurückreichen. Aus dem 3. Jahrtausend
dieser Rectoseite konnte der Kalamos leicht v. Chr. stammen bereits die ältesten erhalte-
über den Beschreibstoff gleiten, während ihm nen beschrifteten Papyrusstücke. Reste von
die vertikalen Fasern der Versoseite doch ge- Papyrusrollen reichen ins 2. Jahrtausend zu-
wissen Widerstand entgegensetzten. Fein aus- rück. In seiner Historia naturalis berichtet der
geführte Klebung an den Nahtstellen der ältere Plinius († 79 n. Chr.) über die Herstel-
Blätter konnte vom Schreiber leicht über- lung des Papyrus (13, 74—82). Aus diesem
schrieben werden. Bericht geht hervor, daß zur Zeit des Autors
Die Beschriftung literarischer Papyrusrol- sechs Sorten des Beschreibstoffes bekannt
len fand durch Kolumnen gleichmäßiger waren, die vom Luxuspapyrus bis zum Pack-
Breite statt, die parallel zum Längsrand stan- papier reichten.
den und möglichst gleiche Zeilenzahl aufwie- Erzeugerland des Papyrus war durch Jahr-
sen. Ober- und unterhalb der Kolumnen blieb tausende fast ausschließlich Ägypten. Auf-
ein Streifen leer; denn an den Rändern der grund des immer größer werdenden Bedarfes
Rollen konnten beim Manipulieren leicht Be- mußten auch künstliche Pflanzungen veran-
schädigungen eintreten; zudem kam ein brei- staltet werden; denn es war nicht nur der
ter Rand bibliophilen Bedürfnissen entgegen. ägyptische, sondern auch der vorderasiati-
Kommentierende Bemerkungen und Scholien sche, griechische, römische und abendländi-
konnten ober- und unterhalb der Spalten oder sche Markt zu versorgen. Früh mag eine
dazwischen eingesetzt werden. Waren Illustra- staatliche Aufsicht bestanden haben; ein
tionen vonnöten, konnten diese ihren Platz in Staatsmonopol dürfte sich in ptolemäischer
frei gebliebenen Räumen in der Kolumne Zeit entwickelt haben, das auch in der römi-
oder auch zwischen diesen und an den Rän- schen Kaiserzeit und der frühbyzantinischen
dern finden. Während der Tätigkeit des Le- Epoche bestand und noch von den arabischen
sens hatte die rechte Hand des Benützers den Eroberern übernommen wurde. Papyrus -
Text aufzurollen, während die linke Hand den pflanzungen sind auch für Sizilien belegt, so-
gelesenen Text ihrerseits einzurollen hatte. gar noch bis ins 13. Jahrhundert. Die ägyp-
Von dieser Art der Manipulation stammt der tische Papyruspflanzung ging allerdings unter
Terminus volumen. Nach Beendigung der dem Druck der wachsenden Papiererzeugung
Lektüre mußte die Rolle wieder zurückgerollt mehr und mehr zurück, um im 11. Jahrhun-
werden, um abermals gebrauchsfertig zu sein. dert eingestellt zu werden.
Ein in die Rolle gesteckter Stab (ὀμφαλός, Die umfassende Verwendung des Papyrus
umbilicus ) konnte dabei von Nutzen sein. Der für literarische, urkundliche, juristische und
Titel des Werkes (τέλος, explicit ) war am private Zwecke wurde ab dem 4. Jahrhundert
Ende der Rolle vermerkt; ebenso stand er auf n. Chr. durch die Konkurrenz des Pergaments
124 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

in Frage gestellt; in der gleichen Epoche be- dar. Tierhäute in Gestalt des durch Gerbung
gann auch der Siegeszug der Codexform des erzeugten Leders waren in Ägypten und Vor-
Buches, der die Rolle zurückdrängte. Zwar derasien seit ältesten Zeiten als Beschreibstoff
gab es auch Papyruscodices; in Ägypten sind verwendet worden. Aus dem 2. Jahrtausend
die ältesten erhaltenen Papyruscodices ins 1. ist auch bereits eine pergamentartig verarbei-
Jahrhundert n. Chr. zu datieren. Bis zum tete literarische Rolle bezeugt. Seit dem 9.
Ende des 3. Jahrhunderts waren ägyptische Jahrhundert v. Chr. wurden Lederrollen in
Papyruscodices einlagig; Blätter wurden oft Babylonien neben den Tontafeln verwendet;
aus Rollen herausgeschnitten, bis im 4. Jahr- auf diese Weise gelangte das Leder als Be-
hundert eigens Papyrusblätter für Codices an- schreibmaterial zu den Phönikern und Jo-
gefertigt wurden. Doch konnte auf Grund der niern. Relativ früh findet sich die Lederrolle
Sprödigkeit des Materials die Codexform für bei den Festlandgriechen und Italikern sowie
Papyrus keine glückliche Lösung bedeuten. im jüdischen Kulturkreis.
Die Heftfäden ließen die Doppelblätter leicht Das Pergament unterscheidet sich vom Le-
einreißen, wogegen man sich durch Fälze zu der durch den Wegfall der Gerbung. Galenos
schützen suchte. Als sich Pergament als Über- bezeugt auf Pergament geschriebene Texte des
lieferungsträger literarischer Texte durch - Hippokrates aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.
setzte, beschränkte sich Papyrus auf die Ver- Eine verfeinerte Methode der Herstellung des
wendung für Urkunden und Briefe in Ost und Pergaments ist mit der Dynastie der Attaliden
West. Die letzten Ausläufer von Papyrusrol- in Pergamon aus hellenistischer Zeit verbun-
len literarischen Inhaltes finden sich im 6. den; unter König Eumenes II. (195—158
Jahrhundert n. Chr. Papyrusrollen urkundli- v. Chr.) soll die heute übliche Art der Pro-
chen Inhaltes begegnet man bis in die zweite duktion erfunden worden sein, woran auch
Hälfte des 11. Jahrhunderts. Die frühbyzan- der Name περγαμηvóv erinnert. In der Antike
tinische Kaiserkanzlei verwendete noch Pa- wurde der Beschreibstoff zumeist als διφθέρα
pyrus; aus dem lateinischen Kulturkreis sind bezeichnet; es finden sich auch Termini wie
seit dem Ende des 5. Jahrhunderts neben eini- σωμάτιον, δέρμα, μεμβράνα, περγαμενή und
gen wissenschaftlichen, juristischen und μεμβράνα περγαμενή. Der Begriff membrana
christlichen Papyri Urkunden der germani- taucht seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. im la-
schen Reiche der Völkerwanderungszeit zu teinischen Kulturkreis auf. Sueton (70—140)
nennen, insbesondere des Odoaker, der ost- kennt den Ausdruck membrana pergamena ,
gotischen und langobardischen Könige. Die Hieronymus bereits die Termini membrana
merowingischen Herrscher verwendeten Pa- und pergamena. Der für Papyrus gebräuchli-
pyrusurkunden von 625 bis ca. 673, die Kanz- che Ausdruck charta konnte mitunter unter
lei der Päpste bis ins 11. Jahrhundert, die Hinzuziehung unterscheidender Adjektiva für
Erzbischöfe von Ravenna bis in die Mitte des Pergament verwendet werden; man denke an
9. Jahrhunderts. Karolingische Kaiser- und Ausdrücke wie charta pergamena, charta
Königsurkunden sind aus dem 8. und 10. ovina, charta vitulina, charta montoniana.
Jahrhundert bezeugt, Privaturkunden aus Ita- Der Herstellungsprozeß des Pergaments
lien bis ins 10. und 11. Jahrhundert, aus dem zerfiel in der Regel in folgende Phasen. Die
Frankenreich bis ins 8. Jahrhundert, aus Spa- Tierhaut wurde für einige Tage in eine Kalk-
nien bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhun- lösung gelegt, danach wurden Haare, Ober-
derts. In Sizilien ist Papyrus noch bis ins 13. haut und Fleischreste abgeschabt. Nach einer
Jahrhundert verwendet worden. Den Termi- Reinigung wurde die Haut gespannt, getrock-
nus papirus hat Friedrich II. 1231 für das neu net und schließlich mit Bimsstein und Kreide
aufkommende Papier verwendet. Auch der geglättet und geweißt. Im Süden Europas ver-
Terminus chartaceus bedeutete in der Antike wendete man vorwiegend Schaf- und Ziegen-
den Papyrus; erst sekundär wurden die alten häute, im Norden hauptsächlich Kalbfelle.
Bezeichnungen auf das neue Medium Papier Das feinste Pergament — die charta virginea
angewandt, was in der Regel nicht vor dem — wurde aus der Haut neu- oder ungeborener
14. Jahrhundert stattgefunden hat. Lämmer angefertigt. Das fertige Pergament
läßt eine Haar- und eine Fleischseite unter-
scheiden. In der Regel ist die Fleischseite weiß
3. Pergament bis weißlichgrau, die Haarseite eher gelblich;
auch sind auf der Haarseite die Poren sicht-
Entwicklungsgeschichtlich gesehen stellt Per- bar. In verschiedenen Regionen gab es eine
gament eine durch verfeinerte Bearbeitungs- unterschiedliche Bearbeitung des Pergaments.
methoden fortentwickelte Form des Leders
8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken 125

Vor allem im Urkundenwesen traten Unter- sesten erhalten. Welcher Art getilgte Texte
schiede stärker hervor als im Buchwesen; dies sind, läßt oft einen interessanten Einblick in
ist verständlich, da Urkunden nur einseitig, Geschmack oder literarische Bildung einer
Buchseiten aber zweiseitig zu beschreiben Schreibschule zu. Theologische Interessen
waren. Im Süden wurde die Fleischseite besser mittelalterlicher Schreiber konnten an der
geglättet und kalziniert, die Haarseite hinge- Vernichtung antiker paganer Autoren schuld
gen weniger glatt bearbeitet. Für den Norden sein; doch fehlt es nicht an Beispielen für die
ist meist eine ziemlich gleichmäßige Bearbei- Palimpsestierung christlicher Texte; man
tung des Pergaments auf beiden Seiten, die denke etwa an patristische Werke, die dem
den Gegensatz zwischen Haar- und Fleisch- Schabmesser zum Opfer fielen, damit über sie
seite zurücktreten läßt, charakteristisch. hagiographische Texte geschrieben werden
„Südliches“ Pergament ist vor allem in Ita- konnten. Erwähnt seien als Beispiele Apoph-
lien, auf der Iberischen Halbinsel und in Süd- thegmata patrum und Heiligenviten über
frankreich in Gebrauch gestanden. Mögli- Reden von Gregor von Nazianz in den Co-
cherweise stammt die Bearbeitungsart des dices Suppl. gr. 59 und Suppl. gr. 189 der
südlichen Pergaments aus Kanzleien, die Österreichischen Nationalbibliothek zu Wien.
durch einseitige Bearbeitung des Beschreib- Ebenso konnten in den philologisch orien-
stoffes den einseitig zu beschreibenden Pa- tierten Skriptorien der Palaiologenzeit hoch-
pyrus nachahmten. Selbstredend mußte aus geschätzte Klassiker über ältere theologische
praktischen Gründen frühzeitig eine doppel- Texte geschrieben werden. Während man im
seitige Bearbeitung des Pergaments stattfin- 19. Jahrhundert die ältere Schrift mittels Che-
den, doch blieb einseitig bearbeitetes Perga- mikalien zu reaktivieren suchte und damit
ment der Beschreibstoff südlicher Kanzleien. auch viel Unheil anrichtete, arbeitet die
Hingegen ist bei den Angelsachsen Aufrau- neuere Forschung mit Ultraviolett- oder In-
hung der Häute auf beiden Seiten festzustel- frarotlampen, deren Strahlen im Dunkel die
len, wodurch der Unterschied zwischen Haar- alte Schrift mit gewisser Deutlichkeit sichtbar
und Fleischseite verschwand. werden läßt.
Pergamentherstellung war auch von wirt- Zu den bisher ältesten erhaltenen Perga-
schaftlichen Problemen begleitet, da für die mentstücken zählen Urkunden aus Dura Eu-
Fertigung allein eines umfänglichen Codex ropos in Mesopotamien aus der Zeit von 195
bereits viele Tiere geopfert werden mußten. v. Chr. bis 121 n. Chr. Seit dem 2. Jahrhundert
So nimmt es nicht wunder, daß für weniger n. Chr. stieg die Verwendung des Pergaments
anspruchsvolle Handschriften auch fehler - rasch an, bis ab dem 4. Jahrhundert dieses
hafte, mit Löchern und Rissen versehene Per- Material über Papyrus zu überwiegen begann.
gamentblätter verwendet werden konnten, ja Die Überlegenheit des Pergaments über den
mußten. Fallweise wurden die Löcher und Papyrus war zu augenscheinlich, als daß sein
Risse im Skriptorium vernäht; immerhin Siegeszug aufgehalten werden konnte. In Ge-
hatte der Schreiber die Löcher im Text aus- stalt von Tieren war der Rohstoff praktisch
zusparen und zu umschreiben. Regionen wie überall zu finden. Ferner stand die Dauer-
Süditalien sind für ihr schlechtes Pergament haftigkeit und die Geschmeidigkeit von Per-
bekannt gewesen. Eine Möglichkeit der Be- gament in großem Kontrast zum spröden und
schaffung billigen Beschreibstoffes war die brüchig werdenden Papyrus. Da Pergament-
Wiederverwendung älterer Handschriften blätter beiderseitig zu beschreiben und auch
nach der Tilgung der ursprünglichen Schrift. zu bemalen waren, ja da auf Pergament neue
Die Tinte konnte mit einem Bimsstein abge- Techniken der Buchmalerei angewendet wer-
schabt oder mittels Feuchtigkeit abgewaschen den konnten, boten sich durch Pergament und
werden. Derart bearbeitete Handschriften in Verbindung damit durch die Codexform
werden als Palimpseste (παλίμψηστος = wie- des Buches neue Möglichkeiten der Kompo-
der abgekratzt, abgewischt; lateinisch: codex sition von Schrift und Bild; alsbald nahm die
rescriptus ) bezeichnet. Die Bedeutung der Pa- Buchkunst nach der Durchsetzung des Per-
limpseste für die Textüberlieferung kann fall- gamentcodex einen großen Aufschwung.
weise sehr beträchtlich sein. Ihr Wert liegt Waren Denkmäler der Buchkunst im 7.
nicht nur darin, daß oft ein sehr alter Text- und 8. Jahrhundert im allgemeinen selten, so
zeuge ganz oder teilweise zu Tage tritt; man- tritt mit der Epoche der karolingischen Re-
che Texte wie Ciceros De re publica, Briefe novatio im ausgehenden 8. und im 9. Jahr-
von Fronto, Institutiones des Gaius und Li- hundert ein erster großer Schwerpunkt der
viusfragmente aus Verona sind nur in Palimp- mittelalterlichen Textüberlieferung auf, der
126 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

sich in der Anfertigung zahlreicher Perga- reich wurden Briefe und Urkunden ab dem
menthandschriften dokumentierte. Was in der 4./5. Jahrhundert parallel zur Breite beschrie-
Epoche der Umschrift der alten Majuskelco- ben. Mittelalterliche Beispiele für nichtarchi-
dices in Minuskelcodices in karolingischer valische Pergamentrollen, gleichfalls parallel
Minuskel berücksichtigt wurde, blieb auch in zur Breite beschrieben, bilden liturgische Rol-
der Regel den folgenden Jahrhunderten er- len der Ostkirche bis ins 16. Jahrhundert und
halten. In auffallender zeitlicher Parallele war die hochmittelalterlichen Exultetrollen für die
es auch die Epoche des 9. Jahrhunderts, in Liturgie der Osternacht in Süditalien. Der
der im byzantinischen Kulturkreis die kriti- Codex hingegen besteht aus einer Mehrzahl
sche Phase der Umschrift der Majuskelhand- gefalteter und gehefteter Blätter, die zum
schriften in die neue griechische Minuskel Schutz vor mechanischer Beschädigung einen
stattfand. Aus der Epoche vom 9. bis zum 12. Einband erhielten. Als Urform des Codex
Jahrhundert sind Tausende von Pergament- dürfen antike Wachstafeln, Diptycha oder
handschriften erhalten. Vor allem war die Polyptycha, angesehen werden. Bereits aus
abendländische Produktion von Pergament- dem 1. Jahrhundert v. Chr. sind Zeugnisse für
handschriften im 12. Jahrhundert sehr groß; das Auftreten der Codexform bekannt. Mög-
die Schreibfreudigkeit dieser Epoche resul- licherweise hat die juristische Literatur den
tierte aus einer Bildungsexplosion, aus der Übergang vom Aktenkonvolut zum Codex
Begegnung mit dem arabisch- islamischen und gefördert. So werden vom Juristen Neratius
dem byzantinischen Kulturkreis, dem Aufblü- Priscus aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. sieben
hen von Stadtkultur und höherem Bildungs- Bücher als membrana bezeichnet, die als Per-
wesen, der Entstehung der scholastischen gamentcodices betrachtet werden dürfen. Der
Theologie und Philosophie, der Anreicherung Dichter Martial (40—104 n. Chr.) berichtet
des Kanons der Fachdisziplinen. Ab dem 13. über die Verwendung von pugillares membra-
Jahrhundert begannen die Papierhandschrif- nei , von Pergamentcodices für literarische
ten vorzudringen, die das Pergament im 14. Werke wie Homer, Ovid, Vergil, Cicero, Li-
und 15. Jahrhundert entscheidend zurück - vius und eigene Werke. Der 2. Timotheusbrief
drängten. Eine letzte Belebung der Herstel- (4, 13) belegt die Existenz des christlichen Per-
lung von Pergamentcodices brachte das Zeit- gamentcodex bereits für die zweite Hälfte des
alter des Humanismus und der Renaissance. 1. Jahrhunderts. Die ältesten erhaltenen Per-
Für bestimmte Literaturgattungen, wie Bi- gamentblätter entstammen dem 2. Jahrhun-
beln und liturgische Bücher, wurde allerdings dert n. Chr. Bei den Juristen des 3. Jahrhun-
mehrheitlich Pergament verwendet; auch derts ist der Codex bereits arriviert. Die alte
dort, wo es wirtschaftliche Gegebenheiten er- Bedeutung des caudex für „Holzblock“ hat
laubten oder bibliophile Ansprüche forderten, bereits die Bezeichnung für „Buch“ angenom-
blieb Pergament im ganzen Mittelalter in Ge- men. Römische Gesetzessammlungen des 3.
brauch. Die Sitte von Drucken auf Pergament Jahrhunderts wie der Codex Gregorianus
im frühen Buchdruck war ein letzter Nachhall oder der Codex Hermogenianus belegen den
mittelalterlicher Bibliophilie. Codex als publiziertes Buch und als autori-
Pergament als Beschreibstoff für Urkun- sierte Sammlung. Der endgültige Durchbruch
den wurde im Westen zuerst in Italien ver- des Pergamentcodex gelang im 4. Jahrhun-
wendet; die ältesten erhaltenen Pergamentur- dert. Durchgesetzt hatte sich die Einsicht in
kunden setzten im langobardischen Italien in die technischen Vorteile und in die neuen
der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein. Möglichkeiten des Codex für die Buchkunst;
Merowingische Pergamenturkunden reichen damit kam der Codex auch dem kulturellen
bis in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts Selbstverständnis der Kirche entgegen. So ist
zurück. Aus Deutschland sind Beispiele ab überliefert, daß bereits Konstantin I. der
dem 8. Jahrhundert erhalten; ähnlich liegen Große an Eusebios von Kaisareia den Auftrag
die Verhältnisse in England und Spanien. erteilte, 50 Codices für den liturgischen Ge-
Der Beschreibstoff Pergament war in Spät- brauch in den Kirchen seiner neuen Haupt-
antike und Mittelalter fast ausschließlich mit stadt Konstantinopel anfertigen zu lassen.
der Buchform des Codex verbunden. Für mit- Umschreibeaktionen in Pergamentcodices
telalterliche Pergamentrollen wurden mehrere retteten zahlreiche antike Texte; man denke
Einzelblätter aneinandergenäht; doch sind li- an das Beispiel der im Verfall befindlichen
terarische Pergamentrollen im Mittelalter sel- Bibliothek des Origenes und Pamphilos in
ten; die Hauptmasse wird von Urkunden in Kaisareia, die durch zwei Nachfolger des Eu-
Rollenform gestellt. Im byzantinischen Be- sebios auf die angedeutete Weise gerettet
8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken 127

wurde. Die Skriptorien des Benediktineror- Mittelalters war das Papier. Die Erfindung ist
dens fertigten nurmehr Pergamentcodices an. dem chinesischen Kulturraum zuzuschreiben
Auch im byzantinischen Bereich wurde der und reicht bis in vorchristliche Zeit zurück.
Codex ab dem 7. Jahrhundert zur Normal- Seidenabfälle, Faserpflanzen, Bast, Hanf,
form des Buches. Lumpen und Fischernetze konnten als Roh-
Älteste Pergamentcodices waren meist ein- material dienen. Eine Quelle des 5. Jahr-
lagig und daher in ihrem Umfang begrenzt, hunderts n. Chr. berichtet von der Erfindung
wie denn auch die Breite des Codexblattes des kaiserlichen Beamten Tsai- Lun von 105
nach innen abnehmen mußte. Ab dem 4. Jahr- n. Chr., aus Baumrinde, Hanfabfällen, Fi-
hundert sind mehrlagige Pergamentcodices schernetzen und Hadern einen Beschreibstoff
erhalten. Die aus dem Pergamentrohstoff ge- herzustellen. Es mag sich um die Verbesserung
schnittenen Blätter wurden in der Mitte zu einer älteren Erfindung gehandelt haben. Die
Doppelblättern gefalzt; fertig beschriebene ältesten erhaltenen fernöstlichen Papiere ge-
Doppelblätter wurden zu Lagen zusammen- hören dem Zeitraum des 2. bis 6. Jahrhun-
gesetzt. Ein Doppelblatt wird als eine Unio derts n. Chr. an.
bezeichnet, zwei Doppelblätter bilden eine Bi- Nachdem die Araber seit dem 7. Jahrhun-
nio, drei Doppelblätter eine Ternio, deren vier dert Papier aus China importiert hatten, über-
eine Quaternio, deren fünf eine Quinternio; nahmen sie im 8. Jahrhundert selbst die Pa-
seltener sind höhere Zusammensetzungen von pierfabrikation. Chinesische Kriegsgefangene
Lagen. Alte Bezeichnungen der Buchform der in Samarkand im Jahre 751 machten ihre
Rolle wurden allmählich auf dem Pergament- Sieger mit der neuen Kunst bekannt. Schon
codex übertragen, so die Termini βίβλος, li- um 800 veranlaßte der Kalif Harun ar- Rašid
ber, volumen und tomus. Seit dem 3. Jahrhun- (786—809) seine Kanzleien in Bagdad, vom
dert ist die Bezeichnung codex allgemein ge- Papyrus bzw. Pergament auf Papier überzu-
bräuchlich. Da die Worte liber, volumen und gehen. Um 900 dürfte man in Kairo, bald
tomus längere Zeit sowohl für die Rolle als darauf in Syrien, um 1000 in Marokko mit
auch den Codex in Gebrauch standen, ist es der Papierherstellung begonnen haben. Die
im Einzelfall nicht immer eindeutig, ob tat- Araber verbesserten die Produktionsverfah-
sächlich die Codexform stets gemeint ist. ren durch praktischere Stampfung, Stärkelei-
Doch dürften die Papstregister des 6. Jahr- mung und Verwendung neuerer Arten von
hunderts bereits Codices gewesen sein. Rohmaterial wie Linnen- und Hanfhadern,
Vor der Beschriftung der Pergamentblätter eventuell auch Baumwollhadern.
konnte der Schreiber eine Glättung, Reini- Das orientalische Papier besitzt eine bräun-
gung und allfällige Ausbesserung vornehmen. liche Farbe und eine sehr glatte Oberfläche;
Einstiche mit dem Zirkel dienten der Festle- es ist gut geleimt und sieht mitunter wie
gung des Linienschemas. Die Blindlinierung Löschpapier aus. Trotz der gewissen Stärke
ist seit dem 5./6. Jahrhundert belegt. Schon ist es geschmeidig. Seine Formstreifen — je
im 12. Jahrhundert begann die Bleistiftlinie- 20 in einer Breite von 22—30 mm — sind
rung aufzutreten, Tintenlinierung im 13. Jahr- fein, manchmal gekrümmt oder schief; die
hundert. Die Zahl der Schriftkolumnen be- Stege sind unregelmäßig verteilt. Es können
trug in frühen Handschriften bis zu deren drei Größenformate beobachtet werden. Hin-
vier; später schwankte sie zwischen einer und gegen hat das noch zu besprechende abend-
zweien. Seiten- oder Blattzählung sind in ländische Papier eine weiße oder gelbliche
Spätantike und Mittelalter belegt, aber unter- Farbe und eine runzlig- hökerige Oberfläche
schiedlich gebraucht worden. Im Spätmittel- ohne festen Körper, ebenso eine Konsistenz
alter setzte sich die Foliierung durch. Üblich nach Art eines weichen Stoffes. Die Form-
ist auch die seit dem 4. Jahrhundert zu be- streifen — je 20 in einer Breite von 34 bis
obachtende Lagenzählung geworden, und 52 mm — stehen dicht, stets gerade und par-
zwar mit Hilfe sogenannter Kustoden am An- allel zum Blattrand, während die Stege regel-
fang oder Ende der Lagen. Die Reklamanten mäßig verteilt sind. Im Gegensatz zum ori-
— Anfangsworte einer Lage am Ende der entalischen Papier besitzt das abendländische
vorhergehenden Lage — entwickelten sich im zumeist Wasserzeichen. Das Wasserzeichen ist
Mittelalter von der Hilfe für den Buchbinder eine italienische Erfindung; ein erster Beleg
zu einer Lesehilfe. stammt aus Bologna aus dem Jahre 1282.
Im 8. Jahrhundert sind griechische Papier-
handschriften nichtbyzantinischen Ursprungs
4. Papier belegt. Datierbare griechische Papierhand -
schriften sind erst ab dem 12. und 13. Jahr-
Der dritte traditionelle Beschreibstoff des hundert belegbar, wenngleich die Existenz sol-
128 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

cher Codices schon vor dieser Epoche zu po- setzt die Verwendung des Papiers in der un-
stulieren ist. Orientalisches Papier ist in der garischen Königskanzlei ein. England kannte
byzantinischen Kaiserkanzlei seit der Mitte vor 1300 Importpapier; die erste englische
des 11. Jahrhunderts nachweisbar. Im Westen Papierfabrik wurde wohl 1494 gegründet.
finden sich Papierurkunden bereits im Sizilien Holland benützte Papier seit 1308. Die skan-
des späten 11. Jahrhunderts. Auch in den dinavischen Länder errichteten Papiermühlen
Kanzleien der normannischen und staufischen erst im 16. und 17. Jahrhundert.
Herrscher wurde Papier neben Pergament ge- Als Rohstoff für die Papierherstellung
braucht. Das mit 1154 beginnende Imbrevia- dienten im Abendland lange Zeit Lumpen
turbuch aus Genua ist auf arabischem Im- und Hadern. Nach der Reinigung und Zer-
portpapier abgefaßt. Seit dem 13. Jahrhun- kleinerung des Materials wurde der Rohstoff
dert ist die Verwendung von Papier für Akten in Wasser geweicht, einem Fäulnisprozeß un-
der Apostolischen Kammer belegt, seit dem terzogen, mit Wasser versetzt und mittels des
14. Jahrhundert für die Urkunden der päpst- Stampfgeschirrs zum „Halbzeug“ zerkleinert.
lichen Kanzlei. Das islamische Spanien Ein weiteres Stampfverfahren brachte das
kannte Papier seit der zweiten Hälfte des 9. „Ganzzeug“ hervor. Aus den Bottichen, die
Jahrhunderts. Ein auf 1009 datiertes Papier- mit dieser Masse gefüllt waren, schöpfte der
dokument im Eskorial und zwei Handschrif- Büttgeselle eine dünne Schicht mittels eines
ten, die im Kloster San Domingo in Silos bei mit Bronzedraht bespannten Holzrahmens.
Burgos im 11. und 12. Jahrhundert geschrie- Ein leichtes Schütteln der Masse ließ das
ben sind, zeigen, daß in dieser Epoche Papier Wasser ablaufen und eine Verfilzung der
in Spanien in verbreiteter Verwendung stand. Fasern eintreten. Der Gautscher übernahm
Eine spanische Papierfabrikation ist für die vom Schöpfer den feuchten Bogen und
Mitte des 12. Jahrhunderts bezeugt. „gautschte“ ihn auf einem Filz ab. An der
Bis über die Mitte des 13. Jahrhunderts Bütte wurde mit zwei Formen gearbeitet, die
scheint Papier in Italien Importartikel gewe- stets zwischen Schöpfer und Gautscher wech-
sen zu sein. Erst ab der zweiten Hälfte des selten. Beim Gautschen kam Papier auf Filz,
13. Jahrhunderts sind Zeugnisse für eine Filz auf Papier, bis ein Stoß von 181 Bogen
eigene italienische Papierfabrikation vorhan- zwischen 182 Filzen erzeugt war, ein soge-
den. Datierbare Papiere sind ab 1260 fest- nannter „Bausch“ oder „Puscht“. Nach einem
stellbar. Die Herstellung breitete sich rasch Preßvorgang in der Büttenpresse wurden vom
aus; und schon nach der Mitte des 13. Jahr- Leger Bogen und Filze getrennt, die Papier-
hunderts war Italien Zentrum der abendlän- bogen abermals gepreßt und zum Trocknen
dischen Papierfabrikation geworden. In aufgehängt. Die letzten Arbeitsvorgänge be-
Frankreich war wohl um die Mitte des 12. standen in der Leimung der Oberfläche, im
Jahrhunderts die Kenntnis des Papiers vor- Pressen, Trocknen, Glätten, Zählen und Ver-
handen. Nach einer Phase des Importes von packen. Ein Ries Schreibpapier umfaßte 480
Papier wurde eine landeseigene Papierfabri- Bogen, ein Ries Druckpapier 500 Bogen. Das
kation in der ersten Hälfte des 14. Jahrhun- Ries hatte 20 Buch, ein Buch umfaßte 24
derts aufgebaut. Die Zeugnisse beginnen mit Bogen Schreibpapier bzw. 25 Bogen Druck-
dem Jahre 1338. Die Kenntnis des Papiers papier. Ein Ballen umfaßte 10 Ries. Neuerun-
drang in Deutschland im 10./11. Jahrhundert gen in der Papierfabrikation traten erst in der
ein. Eine Verwendung als Beschreibstoff ist Neuzeit auf.
seit dem Ende des 13. Jahrhunderts nach- Nahezu alle Papiere nach 1300 weisen Was-
weisbar. Aber erst spät begann die eigene serzeichen auf. Es sind dies durchscheinende
deutsche Papierherstellung. Unsicher sind die Zeichen oder Buchstaben, die durch Drähte
Nachrichten von rheinischen Mühlen um erzeugt werden, die auf dem Schöpfsieb auf-
1320 oder süddeutschen Mühlen der 30er und genäht oder aufgelötet waren. Auf den Stegen
40er Jahre des 14. Jahrhunderts. Sicher nach- des Schöpfrahmens ruht ein Drahtgeflecht,
weisbar ist die Gründung der ersten Nürn- das ebenfalls seinen Abdruck auf dem Pa-
berger Papiermühle durch Ulman Stromer pierbogen hinterläßt. Das Wasserzeichen kam
um 1389/90. In der ersten Hälfte des 15. Jahr- auf dem Steg oder zwischen den Stegen zu
hunderts bestanden bereits Papiermühlen in stehen, fallweise konnte es über mehrere Stege
etwa einem Dutzend deutscher Städte. Eine laufen. Da zwei Formen für die Papierher-
böhmische Papierfabrikation ist 1499 belegt, stellung verwendet wurden, treten Wasserzei-
wiewohl schon um 1310 das Prager Stadtbuch chen immer paarweise auf. Im Folioformat
auf Papier angelegt worden war. Um 1300 liegt das Wasserzeichen in der Regel — zu-
8.  Traditionelle Schreibmaterialien und -techniken 129

mindest im ausgehenden Mittelalter — in der Autoren, deren Werke nur mehr in Papier-
Mitte des einmal gefalzten Bogens, während handschriften überliefert sind.
der gegenüberliegende Halbbogen frei blieb.
Wurde der Bogen zweimal zum Quartformat
gefalzt, änderten die Stege ihre Richtung, 5. Schreibinstrumente
während das Wasserzeichen durch die Fal-
zung halbiert und auf zwei Buchseiten verteilt Als Schreibinstrument wurden im alten Ägyp-
wurde. Eine dreimalige Falzung des Bogens ten dünne Binsen verwendet, die mit ihrem
läßt die Stege abermals vertikal stehen, das gekappten Ende je nach Ansatz dicke oder
Wasserzeichen hingegen geviertelt in die obe- dünne Striche erzeugten. In Vertiefungen von
ren Ecken der Seiten rücken. Schreibpaletten konnte Tinte und Farbe ver-
Die Wahl der Wasserzeichenmotive stand wahrt werden; in röhrenförmigen Vertiefun-
im Belieben der Betreiber der Papiermühle. gen steckten die Binsen. Etwa im 3. Jahrhun-
Es gab „redende“ Zeichen, Motive aus der dert v. Chr. wurde der Kalamos, ein gespitztes
Volkskunde oder Motive auf der Basis reli- Schreibrohr, in allgemeine Verwendung ge-
giöser oder weltanschaulicher Einstellung. bracht. Im Abendland trat seit dem frühen
Motive konnten auf Geschichte, Sage, Zeit- Mittelalter die Gänsefeder auf, die mit schar-
ereignisse und lokale Gegebenheiten zurück- fen Messern zurechtgeschnitten wurde.
zuführen sein; es konnte sich um Wappen des Die antike Rußtinte wurde durch Mi-
Ortes, des Landes, der Herrschaft, der privi- schung eines Klebestoffes mit Ruß unter Bei-
leggebenden Herren handeln. Allmählich, so satz von Wasser hergestellt. Die Römer nann-
im 15. Jahrhundert, setzte eine behördliche ten sie atramentum oder encaustum. Auf den
Regelung des Führens der Wasserzeichen ein. letzteren Begriff gehen die Termini inchiostro
Alte Wasserzeichen bieten oft Tier- und Pflan- (italienisch), inkoust (böhmisch), encre (fran-
zenmotive oder Buchstaben oder Geräte ab. zösisch), ink (englisch), inkt (niederländisch)
Man denke an den weit verbreiteten Ochsen- zurück. Der deutsche Name Tinte und das
kopf, an das gotische p, das Posthorn, die spanische tinta stammen vom Begriff tinctura
Lilie, die Weintraube, die Schlange, den Nar- oder tincta ab. Seit frühbyzantinischer Zeit
renkopf, die Krone, den Bogen mit Pfeil. Die tritt braunrote Metalltinte auf, mitunter auch
Wasserzeichenforschung hat sich für die pa- bläulich- grüne Tinte mit dem Beisatz von
läographische Bestimmung von Texten als Kupfervitriol. Galläpfel, Kupfervitriol, Wein,
sehr nützliche Hilfsdisziplin erwiesen. Aller- Essig blieben im Mittelalter häufige Ingre-
dings muß sich die Forschung weitgehend dienzien der Tinte.
damit begnügen, die Zeit der Verwendung Rote Tinte wurde für Überschriften, Aus-
und das Verbreitungsgebiet eines Wasserzei- zeichnungsstriche, Unterstreichungen, Zah -
chens zu ermitteln. len, Paragraphenzeichen, Rubrikzeichen, Ti-
Bei der Verbreitung des Papiers im Abend- tel und Schlußschriften verwendet. Schreiber
land wurden ältere Termini für den Papyrus oder Rubrikatoren waren für diese Rubrizie-
auf den neuen Beschreibstoff übertragen, so rung verantwortlich. Tintenfässer, oft paar-
die Begriffe carta oder charta ; unterschei- weise für schwarze und rote Tinte, sind schon
dende Adjektiva wie carta papyri, carta cut- aus der Antike bekannt. Auch ein Horn
tunea, carta xylina konnten hinzutreten. Die konnte als Tintenfaß dienen.
Termini bombycinus und cuttuneus dürften auf Zu den vom antiken Schreiber benötigten
den Rohstoff Leinenhadern hindeuten; es Gegenständen gehörten auch ein Lineal und
handelt sich um orientalische Lehnwörter. Im ein Schwamm zum Löschen. Der mittelalter-
liche Schreiber besaß ein Radiermesser und
13. Jahrhundert erfolgte der Übergang des einen Bimsstein zum Tilgen von Schrift. Ein
Wortes papyrus von Papyrus auf Papier.
Die übergroße Zahl der Papierhandschrif- Zirkel diente der Herstellung der für die Li-
ten des 14. bis 16. Jahrhunderts mit Texten nierung benötigten Löcher an den Rändern
griechischer, lateinischer und mittelalterlicher der Blätter. Die Blindlinien wurden mit Blei-
Autoren erhellt augenscheinlich die Bedeu- rad, Griffel und Lineal eingeritzt; später tra-
ten Bleistifte für Bleistiftlinierung hinzu. Le-
tung des Papiers als Überlieferungsträger. sepulte dienten als Unterlagen. Häufig schrieb
Mögen viele Codices auch als spätere Ab- der Kopist aber auf seinen Knien, wie erhal-
schriften philologisch weniger bedeutsam er- tene Miniaturen zeigen.
scheinen, so dürfen die codices recentiores Im Zeitalter des Codex wurden die fliegen-
nicht pauschal als deteriores abqualifiziert den Blätter beschrieben, die erst dann zu La-
werden. Auch gibt es viele mittelalterliche
130 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

gen zusammengesetzt wurden. Rubrikatoren Lemaire, Jacques. 1989. Introduction à la codico-


und Illuminatoren vollendeten ihr Werk zu logie. Louvain.la-neuve.
einem späteren Zeitpunkt; der Schreiber hatte Lowe, Elias Avery. 1964. Codices rescripti. A list
nach entsprechender Vorgabe den Platz für of the oldest Latin palimpsests with stray obser-
Initialen, Ziertitel und Miniaturen freizulas- vations on their origin. In: Mélanges Eugène Tis-
sen. serant. 5. Citta del Vaticano, 67 ff.
Mazal, Otto. 1986. Lehrbuch der Handschriften-
kunde. Wiesbaden.
6. Literatur Mošin, Vladimir & Traljić, S. M. 1957. Vodeni
Bischoff, Bernhard. 1986. Paläographie des römi- znakovi XIII i XIV vijeka. Zagreb.
schen Altertums und des abendländischen Mittel- Piccard, Gerhard. 1961 ff. Wasserzeichen. Veröf-
alters. 2. Auflage. Berlin. fentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Ba-
Briquet, Charles - Moise. 1923. Les filigranes. 4 den-Württemberg. Stuttgart.
Bände, 2. Aufl. Leipzig. Ranker, A. 1950. Das Buch vom Papier. 3. Aufl.
Dold, Alban. 1950. Palimpsesthandschriften, ihre Wiesbaden.
Erschließung einst und jetzt, ihre Bedeutung. In: Reed, R. 1973. Ancient skins, parchments and lea-
Gutenbergjahrbuch 1950, 16 ff. thers. London.
Hunger, Herbert, Stegmüller, Otto, Erbse, Hartmut —. 1975. The making and nature of parchment.
et al. (ed.). 1961. Geschichte der Textüberlieferung Leeds.
der antiken und mittelalterlichen Literatur Band 1. Sabbe, E. 1947. Papyrus et parchemin du haut
Zürich. moyen age. In: Miscellanea in Honorem Leonis
Labarre, Emile Joseph. 1952—1967. Dictionary van der Essen. 1. Brüssel, 95—103.
and encyclopedia of paper and papermaking. Am- Santifaller, Leo. 1953. Beiträge zur Geschichte der
sterdam. Beschreibstoffe im Mittelalter. Teil 1: Untersuchun-
—. et al. (ed.). 1950 ff. Monumenta chartae papy- gen. Graz/Köln.
raceae historiam illustrantia or Collection of works Stiennon, Jacques. 1973. Paléographie du moyen
and documents illustrating the history of paper. age. Paris.
Hilversum. Weiss, Karl Theodor. 1962. Handbuch der Wasser-
Leif, I. P. 1978. An international sourcebook of zeichenkunde. Leipzig.
paper history. Hamden.
Otto Mazal, Wien (Österreich)

9. Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

1. Einleitung und Schreibtechnologie in einem Maße ver-


2. Überblick ändert, das an die Einführung des Buchdruk-
3. Möglichkeiten elektronischer kes durch J. Gutenberg im 15. Jahrhundert
Datenverarbeitung erinnert. Diese neuen Technologien ermögli-
4. Desktop publishing (DTP) chen heute eine nahezu uneingeschränkte Ge-
5. Schriftzeichenerkennung staltungsvielfalt von Schriften und Dokumen-
6. Dokumentanalyse ten, die Speicherung und rasche Verfügbarkeit
7. Scanner der notwendigen Informationen sowie den
8. Drucker weltweiten Austausch von Nachrichten in Se-
9. Elektronischer Dokumentaustausch und kundenschnelle. Die Schriftlichkeit erreicht
Standards damit eine weltweite Dimension und eine
10. Schlußbetrachtung Vielseitigkeit, die über alle Kulturen und Be-
11. Literatur völkerungsschichten übergreift. Die Auswir-
kungen dieser technologischen Veränderun-
gen auf unsere Kultur, Politik, Wissenschaft
1. Einleitung und Publizistik sind gewaltig. Wie alle tech-
Elektronische Datenverarbeitung und mo- nischen Neuerungen bieten auch diese eine
derne Kommunikationstechnik haben wäh - Fülle von Chancen zur fruchtbaren Nutzung,
rend des vergangenen Jahrzehnts die Lese- aber auch gewisse Risiken des Mißbrauchs.
130 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

gen zusammengesetzt wurden. Rubrikatoren Lemaire, Jacques. 1989. Introduction à la codico-


und Illuminatoren vollendeten ihr Werk zu logie. Louvain.la-neuve.
einem späteren Zeitpunkt; der Schreiber hatte Lowe, Elias Avery. 1964. Codices rescripti. A list
nach entsprechender Vorgabe den Platz für of the oldest Latin palimpsests with stray obser-
Initialen, Ziertitel und Miniaturen freizulas- vations on their origin. In: Mélanges Eugène Tis-
sen. serant. 5. Citta del Vaticano, 67 ff.
Mazal, Otto. 1986. Lehrbuch der Handschriften-
kunde. Wiesbaden.
6. Literatur Mošin, Vladimir & Traljić, S. M. 1957. Vodeni
Bischoff, Bernhard. 1986. Paläographie des römi- znakovi XIII i XIV vijeka. Zagreb.
schen Altertums und des abendländischen Mittel- Piccard, Gerhard. 1961 ff. Wasserzeichen. Veröf-
alters. 2. Auflage. Berlin. fentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Ba-
Briquet, Charles - Moise. 1923. Les filigranes. 4 den-Württemberg. Stuttgart.
Bände, 2. Aufl. Leipzig. Ranker, A. 1950. Das Buch vom Papier. 3. Aufl.
Dold, Alban. 1950. Palimpsesthandschriften, ihre Wiesbaden.
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Otto Mazal, Wien (Österreich)

9. Elektronische Lese- und Schreibtechnologien

1. Einleitung und Schreibtechnologie in einem Maße ver-


2. Überblick ändert, das an die Einführung des Buchdruk-
3. Möglichkeiten elektronischer kes durch J. Gutenberg im 15. Jahrhundert
Datenverarbeitung erinnert. Diese neuen Technologien ermögli-
4. Desktop publishing (DTP) chen heute eine nahezu uneingeschränkte Ge-
5. Schriftzeichenerkennung staltungsvielfalt von Schriften und Dokumen-
6. Dokumentanalyse ten, die Speicherung und rasche Verfügbarkeit
7. Scanner der notwendigen Informationen sowie den
8. Drucker weltweiten Austausch von Nachrichten in Se-
9. Elektronischer Dokumentaustausch und kundenschnelle. Die Schriftlichkeit erreicht
Standards damit eine weltweite Dimension und eine
10. Schlußbetrachtung Vielseitigkeit, die über alle Kulturen und Be-
11. Literatur völkerungsschichten übergreift. Die Auswir-
kungen dieser technologischen Veränderun-
gen auf unsere Kultur, Politik, Wissenschaft
1. Einleitung und Publizistik sind gewaltig. Wie alle tech-
Elektronische Datenverarbeitung und mo- nischen Neuerungen bieten auch diese eine
derne Kommunikationstechnik haben wäh - Fülle von Chancen zur fruchtbaren Nutzung,
rend des vergangenen Jahrzehnts die Lese- aber auch gewisse Risiken des Mißbrauchs.
131

das papierlose Büro bleibt auch in nächster


Funktionen Anwendungsbeispiele
Zukunft eine Fiktion (Ryan 1991, Schäfer
elektronische Belege lesen
1986).
Verarbeitung Texte verfassen
Auf der anderen Seite werden die Möglich-
Grafik erstellen
keiten und der Funktionsumfang der elektro-
desktop publishing
nischen Verarbeitung durch die moderne
Speicherung elektronische Aktenordner
Rechnertechnik ständig erhöht. Abb. 9.1 gibt
Archive (magnet. und optische Speicher)
darüber einen Überblick. Texte können bei-
Datenbanken l
spielsweise mit Hilfe von Publishing Systemen
Übertragung FAX
gestaltet, mit Bildern und Grafiken kombi-
electronic mall
niert und aufbereitet werden. Als elektroni-
sche Daten werden Briefe, Dokumente und
Abb. 9.1: Funktionen der maschinellen Verarbei- Informationen über schnelle Nachrichtenka-
tung von Schriften. näle über die ganze Welt verbreitet, auf Da-
tenbanken (→ Art. 11) gespeichert und für
Der vorliegende Beitrag stellt die Funktions- raschen Zugriff verfügbar gemacht. Auf diese
weise und die Möglichkeiten der elektroni- Weise ist auch die elektronische Form der
schen Lese- und Schreibtechnologien dar und Schrift aus unserem heutigen Leben nicht
versucht, die Bedeutung an einigen Beispielen mehr wegzudenken, und sie erreicht eine stets
zu belegen. wachsende Bedeutung.
In unserem täglichen Leben sind wir Men- Elektronische Lese- und Schreibtechnolo-
schen daran gewöhnt, Schriften auf Papier in gien ermöglichen die Umsetzung zwischen der
Händen zu halten. Dabei verwenden wir sehr papierenen und der elektronischen Welt (z. B.
vielfältige Formen wie beispielsweise Bücher, Baird 1992, O’Gorman 1992, Hundt 1987,
Zeitungen, Briefe, Dokumente, Skizzen, Plä- Schürmann 1984). Lesegeräte und - techno-
ne und vieles andere. Sie werden von uns logien setzen Papiervorlagen in elektronische
Menschen gelesen und in der uns allen ver- Daten um, die dann elektronisch weiterver-
trauten Weise genutzt. Papiervorlagen sind arbeitet werden können. Schreibgeräte und
bequem zu handhaben, lassen sich leicht - technologien erzeugen aus den Daten wieder
transportieren, können an jedem Ort ohne Papiervorlagen, die für unseren üblichen Um-
technische Einrichtung bearbeitet werden, gang geeignet sind. Schreib- und Lesetech-
können leicht mit Notizen versehen werden nologie sind Bindeglieder eines Kreislaufes
und sind schließlich vor Zerstörung relativ zwischen Papier und elektronischen Daten
sicher. So werden die Menschen auf Schriften bzw. zwischen elektronischer Verarbeitung
in Papierform nicht verzichten können und

Abb. 9.2: „Kreislauf“ von der Erzeugung eines Papierdokumentes über den Drucker zur Erfassung von
Papierdokumenten durch den Scanner und anschließende Interpretation.
132 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

und menschlicher Handhabung, wie er in gen und auszutauschen. In großen Datenban-


Abb. 9.2 dargestellt ist. Diese Technologien ken elektronisch gespeicherte Informationen
nehmen Schlüsselfunktionen im Umgang mit können in Sekundenschnelle über große Ent-
Schrift und Schriftlichkeit ein. fernungen abgerufen werden. Diese Techni-
ken werden in Zf. 9 betrachtet.
2. Überblick
3. Möglichkeiten elektronischer
Der vorliegende Beitrag beschreibt die große Datenverarbeitung
Spannweite elektronischer Schreib- und Le-
setechnologien. Ihre Einsatzmöglichkeiten Ohne elektronische Datenverarbeitung wer-
und Funktionsweisen sowie die heute verfüg- den Texte handschriftlich oder mit Schreib-
baren Funktionalitäten werden erörtert und maschine geschrieben. Das Ergebnis ist dabei
an einigen erklärenden Anwendungsbeispie- ein Papierdokument. Immer mehr Texte wer-
len diskutiert. Zugleich wird der Stand der den heute schon gleich mit dem Computer
am Markt verfügbaren Komponenten und erstellt. Das Ergebnis ist ein elektronisches
Geräte vorgestellt. Dokument, das mit den vielfältigen Verfahren
Zf. 3 zeigt die Möglichkeiten elektronischer der elektronischen Datenverarbeitung (EDV)
Datenverarbeitung im Zusammenhang mit weiterverarbeitet werden kann. Es kann auch
Schreib- und Lesetechnologien auf. Beispiele jederzeit auf dem Bildschirm dargestellt oder
sind die numerische kalkulatorische Bearbei- mit dem Drucker auf Papier gebracht werden.
tung von Belegen, die Automatisierung im Die neuen Möglichkeiten und Trends der
Büro und in der Verwaltung sowie die redak- EDV für Schrift und Schriftlichkeit werden
tionelle Texterstellung und die Unterstützung im folgenden vorgestellt.
des kreativen Schreibprozesses für Publizistik, Es werden beispielhaft zwei Gebiete be-
Wissenschaft und Wirtschaft. Aufkommende schrieben, die heute schon die EDV intensiv
neue Technologien wie Multimedia und elek- nutzen: (1) Die reine Texterstellung und - bear-
tronisches Papier werden kurz erläutert. beitung im Büro und in Verlagen, und (2) die
Zf. 4 beleuchtet Desktop publishing (DTP) Buchungs - und Datenbankanwendungen in
als ganz neues, im Entstehen begriffenes, aber Banken, Versicherungen und Betrieben.
für die Zukunft wichtiges Beispiel der elek- Die Texterstellung am Computer mittels
tronischen Schreibtechnologie. DTP bedeutet Tastatur und Bildschirm ist zwar der Arbeit
die Unterstützung durch den Computer bei mit der Schreibmaschine sehr ähnlich, erlaubt
allen Schritten von der Erstellung des Ma- aber müheloses Korrigieren, Abändern und
nuskriptes bis zum Druck der endgültigen Wiederverwenden von Texten und Textteilen.
Vorlage. Hinzu kommen noch die vielfältigen Gestal-
Die Zfn. 5 und 6 beschäftigen sich mit den tungsmöglichkeiten bei der Form und Struk-
Verfahren der elektronischen Lesetechnolo- tur des Dokumentes. Wenn das elektronische
gien. Die in jedem Lesegerät vorhandene Dokument nach Fertigstellung am Bildschirm
Schriftzeichenerkennung (OCR) wird in Zf. 5 im Büro gleich ausgedruckt wird und in klei-
ausführlich vorgestellt und erklärt. Während ner Auflage verteilt wird, spricht man von
die OCR nur die Aufgabe hat, zu jedem ein- Desktop publishing (vgl. Zf. 4). Für größere
zelnen Bild eines isolierten Schriftzeichens den Auflagen wird die EDV noch weiter genutzt
zugehörigen Computer - Code zu erkennen, zum automatischen Erstellen der Druckvor-
geht es bei der Dokumentanalyse in Zf. 6 um lagen aus dem elektronisch gespeicherten Do-
eine weitergehende Analyse des ganzen Do- kument. Zeit und Kosten für die Druckerei
kumentes. Dabei wird sowohl die Form und können dadurch gesenkt werden. In Zeitungs-
der Aufbau eines Dokumentes analysiert als verlagen können aktuelle Meldungen gleich
auch der Inhalt erschlossen. elektronisch über Fernschreiber usw. über-
Die Zfn. 7 und 8 beschreiben die zum elek- nommen und von Redakteuren überarbeitet
tronischen Lesen und Schreiben benötigten werden. Dabei hat jeder am Erstellungspro-
Geräte. Die Funktionsweise und Technik der zess Beteiligte Zugriff auf die aktuelle Version
Scanner wird in Zf. 7 und die der Drucker in des Textes, wenn die Computerarbeitsplätze
Zf. 8 behandelt. miteinander vernetzt sind. Die Stärke der Tex-
Wachsende Bedeutung haben heute die terstellung mit Hilfe der EDV zeigt sich durch
Möglichkeiten, über öffentliche oder private Zusatzfunktionen wie automatische Silben-
Netze Nachrichten und Schriften zu übertra- trennung, Randausgleich, Rechtschreibkor
-
9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien 133

er die Zahlenwerte in der Tabelle gleich au-


tomatisch verknüpfen und auswerten kann,
wie z. B. die Summe über alle Einträge einer
Spalte. Hier steht die übersichtliche Darstel-
lung und die leichte Änderbarkeit im Vorder-
grund.
Darüber hinaus gibt es noch viele EDV
Anwendungen, die erst durch die elektroni-
sche Form der Dokumente möglich sind, wie
z. B. das Senden und Empfangen von elektro-
nischer Post (e-mail), Facsimile (FAX, Fern-
kopie) oder Teletext. Hierzu sind allerdings
einheitliche Standards (vgl. Zf. 9) für die For-
mate der zu übertragenden Daten erforder-
lich. Zur Umwandlung der verschiedenen vor-
handenen elektronischen Formate werden
Konversionsprogramme angeboten.
Das Papier als Träger der Information wird
in steigendem Maße durch digitale Speicher-
medien ergänzt. Halbleiter- und Magnetspei-
cher sowie optische Speichermedien werden
immer leistungsfähiger und billiger. Mit opti-
schen Platten ist beispielsweise eine sehr kom-
Abb. 9.3: Überweisungsbelege als Beispiel für die pakte Speicherung von Dokumenten möglich,
automatische Erfassung und Bearbeitung von Do- auf einer Platte lassen sich ca. 100 000 Seiten
kumenten. Text unterbringen. Solange jedoch die Bild-
schirme noch nicht die hohe Bildschärfe, Mo-
rektur oder sogar Hinweise auf stilistische bilität und Flexibilität des Papiers haben,
Schwächen wie Wortwiederholungen. wird man auf das Papier nicht verzichten kön-
Im Gegensatz zur Texterstellung in Büro nen.
und Verlagen wird die Schriftlichkeit auf dem Während die bisher erwähnten Techniken
Gebiet der kommerziellen EDV (Banken, Ver- des Umganges mit dem Computer über Bild-
sicherungen usw.) weitgehend nach inhaltli- schirm und Tastatur in schriftlicher Form er-
chen Aspekten ausgewertet. Hier spielen die folgen, lassen innovative Entwicklungen, auf
Zahleneingaben und kurze Eintragungen wie Gebieten wie Spracherkennung, Multimedia-
Namen die entscheidende Rolle. Bei einer Technik und Elektronischem Papier, in Zu-
Banküberweisung wird z. B. ein Feld für den kunft Einfluß auf den Umgang mit Schrift
Empfänger, eines als Kontonummer und ein und Schriftlichkeit erwarten:
anderes als Überweisungsbetrag ausgewertet Wenn die langjährigen Forschungsarbeiten
(vgl. Abb. 9.3). Das ermöglicht z. B. eine un- auf dem Gebiet der automatischen Erken-
mittelbare Aktualisierung des Kontostandes nung der gesprochenen Sprache zu leistungs-
durch den Computer. Wenn die Überweisung fähigen und erschwinglichen Erkennungsge-
vom Kunden auf einem Papierformular aus- räten führen, dann wird sicher ein großer Teil
gefüllt wurde, müssen die Daten entweder des Schreibens durch das Diktieren ersetzt
über das Terminal oder durch einen Belegleser werden. Mit einer Sprachausgabe können
(vg. Zfn. 5 und 6) in den Computer gebracht auch elektronische Dokumente automatisch
werden. Mit Datenbanken und vernetzten vorgelesen werden. Auf eine angenehme Com-
Computersystemen lassen sich weltweit Bu- puterstimme wird man allerdings noch ge-
chungen oder auch Reservierungen für Flüge raume Zeit warten müssen.
oder Hotels durchführen. Mit der Multimediatechnik wird die Schrift
Eine vor allem im kaufmännischen Bereich durch weitere Medien wie Grafik, Bild, Bild-
weit verbreitete Anwendung ist das Schreiben szene, Sprache und Ton ergänzt. Dadurch
und Auswerten von Tabellen. Dazu bietet die wird zugleich die Mensch- Maschine Kom-
elektronischen Datenverarbeitung heute lei- munikation auf eine breitere Basis gestellt und
stungsfähige Programme, sogenannte Spread- ein effektiverer Informationsaustausch mög-
sheet
- oder Tabellenkalkulationsprogramme. lich im Vergleich zu den rein textorientierten
Der Vorteil des Rechners besteht darin, daß Systemen. So können z. B. Kommentare zu
einem Text als Sprachanmerkungen im elek
134 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

tronischen Dokument eingefügt werden, um arbeitungsschritte des DTP sind Manuskript


dem Leser auf natürliche Weise akustisch eine schreiben, Korrektur des Textes, Layout er-
Zusatzinformation zu geben. Multimediasy- stellen, Bilder und Grafiken erzeugen, Bilder
steme erlauben auch die Integration von Vi- und Grafiken in das Dokument einbinden,
deoszenen oder bewegter Computergrafik, Auswahl des Zeichensatzes, Seitenumbruch,
um beispielsweise dem Servicepersonal die Seitennumerierung, u. U. Inhaltsverzeichnis
Fehlersuche in komplexen Anlagen zu erleich- erstellen, und schließlich Ausdruck auf La-
tern. serdrucker.
Eine weitere neue Entwicklung ist das soge- DTP- Systeme bestehen aus Hardware und
nannte elektronische Papier (s. a. Carr 1991). Software. Zur Hardware gehören der Com-
Mit einem elektronischen Griffel (Schreib- puter mit den Ein- und Ausgabegeräten Ta-
stift) schreibt der Benutzer auf ein flaches statur, Maus und Bildschirm sowie Drucker
Display, das die Spur seiner Schriftzüge als und Scanner. Die DTP- Software besteht aus
„elektronische Tinte“ wie auf dem Papier wie- Programmen zur Erstellung und Korrektur
dergibt. Die Hardware besteht aus einem fla- von Texten (Texteditoren) sowie zur Gestal-
chen Display (LCD- Monitor) und einem auf tung des Layouts, d. h. der Anordnung von
seiner Oberfläche angebrachten positions - Textspalten, Abbildungen, Bildunterschriften
empfindlichen Sensortablett. Kernstück die- usw. Außerdem kann die Typographie in na-
ser neuen Technik ist jedoch eine Software, hezu unbegrenzter Art und Weise gestaltet
die aus den Schriftzügen die Bedeutung der werden durch graphisches Erzeugen neuer
Schriftzeichen erkennt und als Computer- Schriftzeichenformen (Fonts) und deren Her-
Code in die Anwendungsprogramme des vorhebungsmöglichkeiten wie Kursiv- , Fett-
Computers umsetzt, wie z. B. in Textverar- druck usw. Im folgenden werden die Kom-
beitungs- Programme. Wenn die technischen ponenten von DTP-Systemen vorgestellt.
Probleme hierzu gelöst sind, können wir eines Zum Kern der Hardware eines DTP Sy-
Tages die Vorteile des Schreibens mit tems gehört der Computer, bestehend aus
(Blei)stift und Papier (Portabilität, direkte Prozessor, Hauptspeicher und Magnetplatte,
Sichtbarkeit und Manipulation) auch auf dem sowie der Bildschirm, die Tastatur und die
Computer haben mit den weiteren Möglich- Maus.
keiten der elektronischen Datenverarbeitung Die Tastatur dient der Texteingabe in ge-
wie Auswertung und Kommunikation. Das wohnter Weise. Die Maus ist neben der Ta-
könnte dann zu einer Renaissance der Hand- statur zum üblichen Zeigegerät für DTP ge-
schrift führen. worden und wird zur Auswahl der zu bear-
beitenden Stelle des Dokumentes verwendet.
Die aktuelle Position wird auf dem Bildschirm
4. Desktop publishing (DTP) mit einer Marke (Cursor) angezeigt, und mit
Desktop publishing (abgekürzt: DTP) bedeu- einer oder bis zu drei Tasten auf der Maus
tet soviel wie „am Schreibtisch publizieren“. werden Auswahlaktionen ausgelöst. Als neue-
Es ist auch unter der Bezeichnung Computer stes Eingabegerät gibt es den Scanner, mit
Aided Publishing (CAP) bekannt und ist dem Papiervorlagen mit Bildern, Grafiken
heute zu einer der wichtigsten Computeran- und Text in ein elektronisches Bild umgewan-
wendungen geworden. DTP ist einer der we- delt werden (vgl. Zf. 7). Bilder und Grafiken
sentlichen Fortschritte in der Geschichte des werden dabei unverändert in das Dokument
Publizierens seit Gutenberg (Trambacz 1987). als Abbildung übernommen. Textteile müssen
Mit DTP können alle Schritte von der Ma- durch anschließende Dokumentanalyse und
nuskripterstellung bis zur Endgestaltung der Schriftzeichenerkennung (vgl. Zfn. 5 und 6)
Publikation vom Schreibtisch aus am Com- in die interne Dokumentstruktur des DTP
puter schnell und kostengünstig in einem ein- umgesetzt werden.
heitlichen Datenformat durchgeführt werden. Das wichtigste Ausgabemedium zur Dar-
Das DTP orientiert sich an den Verarbei- stellung von Text, Grafik und Bild für die
tungsschritten der professionellen Verlage, die Arbeit am Computer ist der Bildschirm, der
Veröffentlichungen mit hohen Auflagen her- zur visuellen Rückkopplung der Eingabe un-
stellen, wie Zeitungen, Zeitschriften und Bü- erläßlich ist.
cher. Während die professionellen Publishing Der Drucker wird benötigt zur Ausgabe
Programme von Spezialisten benutzt werden, von Text, Grafik und Bild auf Papier (vgl.
haben die DTP eine auch für Laien verständ- Zf. 6). Wenn die Qualität des Druckers nicht
liche Benutzerführung. Die wesentlichen Ver- ausreicht, werden Belichter (Fotosatzmaschi-
135

nen) zur Ausgabe von Text, Grafik und Bild nual. Doch DTP ist mehr als reine Textver-
in hoher Auflösung eingesetzt. arbeitung oder eine elektronische Schreib-
Der entscheidende Bestandteil eines jeden maschine!
DTP- Systems ist — trotz des rasanten Fort- DTP ermöglicht die Gestaltung des Lay-
schritts der Hardware — die Software. Sie outs einer ganzen Seite eines Buches, einer
ermöglicht, verglichen mit der herkömmli- Zeitschrift oder Zeitung (siehe Abb. 9.4). Das
chen Schreib- und Satztechnik, völlig neuar- wurde möglich durch die verbesserte Darstel-
tige Gestaltungsmöglichkeiten. lungsqualität der Monitore und die grafik-
Mit Tastatur und Monitor kann der Com- orientierte Benutzeroberfläche. Damit ist
puter zunächst als elektronische Schreibma- auch die gleichzeitige Bearbeitung mehrerer
schine verwendet werden. Der Vorteil gegen- Seiten eines Dokumentes oder mehrere Do-
über der mechanischen Schreibmaschine liegt kumente in verschiedenen überlappenden
in der leichteren Art und Weise, den Text zu Fenstern auf dem Bildschirm möglich. Die
ändern, und in der Wiederverwendbarkeit Kombination von Grafik und Text erlaubt
von gespeicherten Textteilen, was bei den her- auch das Ausfüllen von Vordrucken und For-
kömmlichen Schreibverfahren nur mit Schere mularen. Diese neue Technik des DTP nennt
und Kleber gemacht werden kann. Letztere man „WYSIWYG“ ( What You See Is What
Funktion des Korrigierens eines Textes durch You Get, d. h. was auf dem Bidschirm gezeigt
Ausschneiden (engl. cut ) und Einkleben (engl. wird, erscheint nach dem Ausdrucken auch
paste ) ist eine der häufigsten Operationen in so auf dem Papier). Der Bildschirm stellt ein
Text- und Grafik- Editoren und wird auch da- maßstabsgetreues Abbild der zu druckenden
nach so (cut and paste) benannt. Diese Ope- Seite dar.
ration braucht nur noch einen Bruchteil der Die meisten DTP Programme erlauben
Zeit des entsprechenden mechanischen Vor- auch das Erstellen von Grafiken oder das
gangs. Einfügen externer Grafik- und Bilddateien.
Außerdem ist die Benutzeroberfläche der Bilder wie Photos oder Zeichnungen können
DTP- Programme grafikorientiert, d. h. der dabei mit einem Scanner (vgl. Zf. 7) digitali-
Benutzer muß nicht die Funktionen über siert und abgespeichert werden. Zusätzliche
Kommandozeilen ausführen, sondern er kann Softwareprogramme (Fonteditor) ermögli
-
über Auswahlmenues mit der Maus auf ein- chen Entwurf und Änderung der Gestalt der
fache Weise die Funktion auslösen. Die häu- verwendeten Schriftzeichen (sogenannte
figsten Funktionen sind Löschen, Kopieren, Fonts, wie z. B. Courier, Helvetica, Times).
Verschieben, Suchen nach einem Wort usw. Fertige Fonts werden auch als Dateien von
Darüber hinaus sind Hilfsinformationen in spezialisierten Firmen angeboten.
unklaren Situationen direkt über das Menue Der Laserdrucker mit seiner hohen Auf-
abrufbar, ohne mühsames Blättern im Ma- lösung (vgl. Zf. 5) erlaubt eine wesentlich bes-

Abb. 9.4: Layout einer Seite und Rückseite auf einem DTP-System.
136 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

sere Qualität der Ausgabe, als sie auf dem tung von Schecks und Belegen eine spezielle
Bildschirm möglich ist, und verhilft dem DTP Schrift geschaffen, OCR- A und OCR- B (vgl.
zu einer leistungsfähigen und kostengünstigen Abb. 9.5). Sie ist so gestaltet, daß eine beson-
Herstellung kleiner Auflagen. Die Leistungs- ders einfache und sichere Erkennung möglich
fähigkeit von DTP Systemen nimmt noch wei- ist und sie wird zur automatischen Verarbei-
ter zu, so daß die Unterschiede zu den pro- tung bei Banken und bei der Verwaltung sehr
fessionellen Systemen allmählich geringer viel eingesetzt. Leistungsfähige Erkennungs-
werden (Bieler 1987, Bove 1987, Görgens systeme sind heute aber in der Lage, über 100
1987). verschiedene Zeichen in den gängigen Schrift-
arten (ca. 25) zu erkennen. Auch Handblock-
schrift kann heute mit recht guter Sicherheit
5. Schriftzeichenerkennung verarbeitet werden. Dagegen ist die Erken-
Die Schriftzeichenerkennung, auch optical nung von fließender Handschrift ein ungelö-
character recognition (OCR) genannt, hat stes Problem und Gegenstand der Forschung.
zum Ziel, in einem Schriftstück einzelne Bei einer speziellen Anwendung, der hand-
Schriftzeichen zu erkennen. Dazu wird aus schriftlichen Direkteingabe mit einem Stift
der Vorlage ein einzelnes Zeichen separiert auf einem elektronischen Tablett (vgl. Zf. 3),
und dem entsprechenden Buchstaben des Al- werden Zusatzinformationen über die Dyna-
phabets zugeordnet. Erste Systeme für den mik des Schreibvorganges zur Erkennung
praktischen Einsatz wurden bereits in den herangezogen (vgl. Tappert 1990). Neben der
50er Jahren entwickelt, die allerdings starke Erkennung der alphanumerischen Zeichen ist
Einschränkungen aufwiesen (Nagy 1982). So die Erkennung von japanischen und chinesi-
konnten nur wenige Zeichen in einer fest vor- schen Handschriftzeichen heute ein wesent-
gegebenen Schriftart erkannt werden. Außer- liches Forschungsgebiet.
dem war eine perfekte Qualität der Vorlage Im Hinblick auf Maschinenschrift konzen-
Voraussetzung. Heutige Systeme haben einen trieren sich die Entwicklungen auf die Erken-
technisch sehr hohen Stand erreicht, der sich nung von fett gedruckten, kursiven oder spe-
in leistungsfähigen auf dem Markt verfüg- ziell ausgeprägten Schriftzeichen sowie auf die
baren Geräten zeigt. Trennung verklebter Zeichen (Bayer 1987),
Schrittmacher für den praktischen Einsatz insbesondere bei Proportionalschrift oder bei
sind die Banken mit dem automatischen Le- speziellen Satztechniken. Besonderes Gewicht
sen von Schecks und Belegen. Die weitere liegt auf der Verarbeitung von Kontext, um
Verbreitung in der Verwaltung, in Schreib- bei zweifelhaften Erkennungen aus den be-
büros, im Zeitungswesen ist in vollem Gange. nachbarten Zeichen und aus Zusatzinforma-
Der Verkauf von Scannern und Beleglesern tionen Rückschlüsse ziehen zu können. Hier-
zeigt derzeitig hohe jährliche Wachstumsra- bei werden auch Ansätze der wissensbasierten
ten. Zugleich sind aber auch Forschungsar- Verarbeitung verfolgt.
beiten im Gange. Sie konzentrieren sich auf Der größte Anwendungsbereich liegt in der
störungsunempfindliche Erkennung unter Be- Erfassung und Sortierung von Belegen und
rücksichtigung benachbarter Schriftzeichen Formularen für Banken und für Verwaltung
und des Kontextes, sowie auf die Erkennung (siehe Abb. 9.3). Die Anforderungen sind vor
von Handschrift. allem eine möglichst hohe Lesegeschwindig-
Ziel der OCR- Verfahren ist die Erkennung keit, und hohe Toleranz bezüglich der Druck-
von Schriftzeichen auf Papiervorlagen oder und Vorlagenqualität. Dagegen ist in vielen
auf Werkstücken und Teilen. Schriftzeichen Fällen die Vielfalt der zu erkennenden
sind Ziffern, Buchstaben des Alphabets sowie Zeichenklassen eingeschränkt. Bei Hochlei-
gewisse Sonderzeichen. Dabei kann jedes Zei- stungsgeräten werden bis zu 150 000 Belege
chen in unterschiedlichem Schriftfont und pro Stunde verarbeitet mit einer Erkennungs-
in verschiedenartiger Ausprägung vorliegen. rate von bis zu 3000 Zeichen pro Sekunde.
Durch die Anwendung der Computertechnik Dabei wird mit 0,001% Fehlerkennung (Sub-
wird heute die Vielfalt der Schriftgestaltung stitutionen), d. h. falsch erkannte Zeichen,
ständig erhöht (vgl. Abb. 9.5) und damit das und 0,01% Rückweisungen, d. h. vom System
Erkennungsproblem erschwert. nicht erkennbare Zeichen, eine extrem hohe
Für bestimmte Anwendungen kann aller- Erkennungssicherheit erreicht. Naturgemäß
dings die Menge der Zeichen, sowie deren ist die Erkennung auf wenige Schriftarten wie
Ausprägung eingeschränkt werden. So wurde OCR- A und OCR- B und eventuell auf eine
beispielsweise für die automatische Bearbei- reduzierte Zeichenmenge eingeschränkt. Bei
9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien 137

Abb. 9.5: Einige Beispiele der heute vorkommenden Schriftarten, die von OCR-Systemen beherrscht werden
müssen.
vielen Anwendungen wird aber der volle Außerdem gibt es eine Reihe von Spezial-
Zeichensatz mit allen verfügbaren Schriftar- anwendungen für Lesegeräte, die vorwiegend
ten einschließlich Handblockschrift verlangt. zur Prozeßautomatisierung dienen und jeweils
Hier reduziert sich dann der Durchsatz auf sehr spezielle Anforderungen stellen. Dies
ca. 500 bis 1000 Belege/Stunde bei ca. 300 sind beispielsweise die Handlesegeräte, die
Zeichen pro Sekunde je nach Anzahl der zu entweder Barcode oder einfache Schriftzei-
lesenden Zeilen. chen erfassen und beispielsweise an Regi-
Der zweite große Anwendungsbereich liegt strierkassen oder zur Lagerhaltung eingesetzt
in der Texteingabe für Schreibbüros, Zei- werden. Sie müssen sehr klein, handlich und
tungswesen, Dokumentation und ähnlichem. insbesondere sehr billig sein, können aber
Solche Geräte dienen zur Erfassung ganzer meist auf einen extrem kleinen Schriftzeichen-
Textseiten für die elektronische Weiterverar- satz beschränkt sein. Ein anderes Beispiel sind
beitung, wie Textbearbeitung, Übertragung, Adressleser zum automatischen Sortieren von
Drucken usw. Solche Ganzseitenleser sind Briefen. Bei der Post können heute ca. 80%
schon seit einiger Zeit verfügbar, können sich der einkommenden Briefe erfaßt und auto-
aber am Markt nur wesentlich langsamer matisch sortiert werden. Dabei wird eine
durchsetzen als erwartet wurde. Dies ist ver- Durchsatzrate von 30 000 Briefen pro Stunde
mutlich durch die beschränkte Zahl der er- entsprechend ca. 500 Zeichen pro Sekunde
kennbaren Schriftfonts und durch eine für erreicht. In der Regel wird sowohl die Post-
den praktischen Einsatz unbefriedigende Le- leitzahl, als auch die Adresse gelesen. Die
sequalität bedingt. Bei diesen Anwendungen Ausnutzung dieser Redundanz erhöht die Er-
kann von Vorlagen in guter Druckqualität kennungssicherheit. Dabei muß allerdings der
meist im Format A4 ausgegangen werden. volle Zeichensatz in verschiedenen Schriftar-
Die Schrift ist Maschinenschrift mit dem vol- ten erkannt werden.
len Zeichensatz. Heutige Geräte verarbeiten Die Verfahren der Schriftzeichenerkennung
ca. 30 DIN A4- Seiten pro Stunde mit ca. 100 haben inzwischen einen hohen Entwicklungs-
Zeichen pro Sekunde. stand erreicht und sind auch theoretisch gut
138 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

fundiert (Nagy 1982, Niemann 1983, Schür- termann 1989). So kann der Inhalt von frei
mann 1984, O’Gormann 1992). Die Verar- gestalteten Dokumenten nicht erschlossen
beitung beginnt mit dem Abtasten des Do- werden. Dies ist insbesondere dann schwierig,
kumentes im Raster von üblicherweise ca. wenn die Dokumente keine starr vorgegebene
100 µm, woraus später pro Einzelzeichen eine Form wie beispielsweise bei Formularen
Matrix von etwa 32 × 32 Pixeln gebildet wird. haben. Hier genügt es nicht mehr, einzelne
Daraus müssen zunächst die einzelnen Zei- Buchstaben zu erkennen. Man muß hier auf
chen separiert werden. Diese Verfahren füh- den semantischen Inhalt der Worte schließen
ren jedoch zu Schwierigkeiten, falls gewisse und zugleich aus dem Layout, d. h. Anord-
Zeichen sich berühren oder überlappen. Aus- nung der Textblöcke, auf die Art und den
gangspunkt der Einzelzeichenerkennung ist Inhalt des Dokumentes schließen. Erst so läßt
ein Raster von Bildpunkten, das als Meß- sich die Schriftlichkeit voll erfassen. Für einen
wertvektor aufgefaßt werden kann. Daraus breiten Einsatz im Bürobereich sind solche
werden geeignete Merkmale berechnet, die Verfahren unerläßlich. Sie sind heute aller-
eine eindeutige Zuordnung in eine der Zei- dings erst im Stadium der Entwicklung und
chenklassen erlauben. Im allgemeinen ent- werden in den nächsten Jahren allmählich in
spricht diese Klasse genau einem Zeichen kommerziellen Geräten verfügbar sein. Die
(Ziffer oder Buchstabe). Für gestaltgleiche wissensbasierte Analyse hat zum Ziel, auch
Zeichen, wie z. B. l, I und 1 in manchen den Bedeutungsinhalt von Dokumenten zu
Schriftfonts, bilden sie zunächst eine gemein- erschließen und einer Weiterverarbeitung zu-
same Gestaltklasse, die durch den Kontext in gänglich zu machen (Hundt 1987, Überblick-
die richtige Zeichenklasse zugeordnet werden sartikel in Baird 1992 und O’Gorman 1992).
muß. Aber auch gestaltverschiedene Darstel- Beispielsweise wird automatisch erkannt, ob
lungen ein und desselben Zeichens, wie z. B. das vorliegende Dokument ein Geschäftsbrief
a und a, können die gleiche Zeichenklasse, ist, so daß wichtige Informationen wie Ab-
hier „klein A“, bilden. sender, Datum oder Betreff extrahiert werden
Charakteristische Merkmale sind beispiels- können, um in entsprechenden Datenbank-
weise die Zahl und die Anordnung der systemen abgelegt zu werden (Kreich 1991,
Schwarzpunkte beim Matrixverfahren oder Dengel 1992).
die Zahl der Schwarz- /Weißübergänge und Die wissensbasierte Dokumentanalyse
die Zahl der Schwarzpunkte aus verschiede- macht grundsätzlich keine Einschränkungen
nen Winkelschnitten (Bernhard 1984, Kahan mehr hinsichtlich der Gestaltung gedruckter
1987). Üblicherweise werden pro Schriftzei- Vorlagen: es ist das im Buch- und Zeitschrif-
chen ca. 100 Merkmale gewonnen. Sind sie tendruck übliche Layout mit unterschied-
richtig gewählt, so bilden die Vertreter der lichen Fonts und zusätzlichen Grafiken, Lo-
gleichen Musterklasse eine scharf begrenzte gos und Halbtonbildern zugelassen. Daraus
Punktwolke in dem Merkmalsraum. Die Ei- leiten sich die drei wichtigsten Komponenten
genschaften dieser Cluster werden durch eine der Dokumentenanalyse ab, nämlich (1) die
Lernstichprobe ermittelt. Danach wird der Zerlegung (Segmentierung) in Text- , Grafik-
Klassifikator eintrainiert. Zur eigentlichen und Bildteile, (2) die Repräsentation des Wis-
Klassifikation gibt es verschiedene Ansätze, sens über Layout und Inhalt von Dokumen-
z. B. statistische auf Grund der Wahrschein- ten und (3) der Kontroll- und Inferenzmecha-
lichkeitsverteilung oder geometrische auf nismus zur Steuerung der wissensbasierten
Grund von Trenn- und Diskriminantenfunk- Analyse (vgl. Abb. 9.6).
tionen, die heute vorwiegend angewandt wer- Im Rahmen der wissensbasierten Analyse
den. wird der Typ des Dokumentes und die in-
haltliche Bedeutung einzelner Blöcke aus
einer allgemeinen Beschreibung des Layouts
6. Dokumentanalyse erschlossen. Das Wissen über die möglichen
Die in Kapitel 5 diskutierten Ansätze befaß- Vorlagen ist in einem Modell niedergelegt.
ten sich mit der Erfassung einzelner, isolierter Hier sind die möglichen Anordnungen der
Schriftzeichen. Die beschriebenen Verfahren Textblöcke, ihre Beziehungen zueinander und
sind heute in Lesegeräten implementiert, ihre möglichen Ausprägungen festgelegt.
kommerziell verfügbar und in vielen Anwen- Grundlage für die wissensbasierte Analyse ist
dungen routinemäßig im Einsatz. Diese An- eine Zuordnung zwischen Layout und logi-
sätze genügen jedoch nicht, um die Schrift- schem Inhalt. Um die Vielfalt der im Büro
lichkeit im weiteren Sinne zu erfassen (Fruch- vorkommenden Dokumente unter einem ein-
9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien 139

Abb. 9.6: Wissensbasierte Dokumentanalyse mit den drei Komponenten: Text/Grafik/Bild-Segmentierung,


Wissensbasis sowie Kontroll- und Inferenzmechanismus.

Abb. 9.7: Formularerkennung durch Analyse des Grafischen Layouts (links) und Zuordnung der logischen
Bedeutung (rechts).
heitlichen Gesichtspunkt beschreiben zu kön- noten usw.), als auch aus der Sicht des Lay-
nen, wurde eine Dokumentenarchitektur outs (z. B. Seiten, Textblöcke, Zeilen usw.)
(ODA = office document architecture) ent- beschrieben. Ein Bürodokument wird dabei
wickelt. Sie wurde von internationalen Gre- als hierarchische Struktur von Objekten und
mien wie ISO, CCITT und ECMA standar- Relationen so flexibel beschrieben, daß es
disiert (vgl. ISO 1988). Der Inhalt (content) anwendungs- und geräteunabhängig gespei-
eines Dokumentes wird dabei sowohl aus lo- chert, übertragen und bearbeitet werden
gischer Sicht (z. B. Kapitel, Überschrift, Fuß- kann. Diese Dokumentstruktur eignet sich
140 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

deshalb auch für die Modellbildung bei der


Dokumentanalyse. Die Dokumentarchitektur
reicht zur Analyse jedoch nicht aus. Die Wis-
sensbasis braucht noch geeignete Regeln über
die gegenseitigen Abhängigkeiten von Logik-
Objekten und Layout- Objekten. Diese Bezie-
hungen sind von den zu untersuchenden Do-
kumentklassen, wie z. B. Briefe oder Berichte,
abhängig.
Die Text- Grafik- Bild- Segmentierung ist eine
wesentliche Vorstufe zur wissensbasierten
Analyse (Wahl 1982, Kubota 1984, Scherl
1987, Kreich 1991, Dengel 1992). Zur Seg-
mentierung von Halbtonbildern und Grafik-
anteilen liegen schon erfolgreiche aber noch
isolierte Ansätze vor. Einen Schritt weiter
geht die Formularerkennung in Abb. 9.7, die
den Formulartyp aus dem grafischen Layout
ermittelt und damit eine logische Zuordnung
von Textteilen ermöglicht. Das auf einem
Bildgraph basierende Verfahren ist jedoch
noch anfällig gegen Linienunterbrechungen
und Verschmelzungen von Grafiken mit Text-
teilen. Eine Lösung ist in Maderlechner (1986)
beschrieben.
Ein Verfahren zur Interpretation von Ge-
schäftsbriefen ist in Abb. 9.8 zu sehen. Aus-
gangspunkt des Analyseprozesses ist die Vor-
verarbeitung, die zunächst Text/Grafik und
Bildbereiche separiert und ihr Layout be-
schreibt (Abb. 9.8 Mitte). Die dabei erkann-
ten Dokumentteile werden jedoch nicht ein-
fach bottom up oder top down zu einer ODA-
Dokumentstruktur zusammengefaßt, sondern
bis zu einer endgültigen Entscheidung mit
meist heuristischen Bewertungen als Hypo-
thesen verwaltet. Die Steuerung der Inferenz-
schritte ist bei den Produktionensystemen
durch ein schrittweises Anwenden der Regeln
und Mustervergleich mit den Fakten gekenn-
zeichnet. Falls Konflikte auftreten, können
vorwärts- oder rückwärtsverkettende Strate-
gien und Heuristiken zur Auswahl der Prio-
ritäten (Bewertungen) von Regeln eingesetzt
werden (Kreich 1991).

Abb. 9.8: Ablauf der Dokumentanalyse:


oben: Beispieldokument eines Geschäftsbriefes;
mitte: Ergebnis der Text/Grafik-Segmentierung und
Textblockfindung;
unten: Ergebnis der wissensbasierten Analyse des
Inhaltes und der Struktur des Dokumentes. Die
erkannten für einen Brief typischen logischen Be-
standteile wie Absender, Datum usw. können au-
tomatisch an ein Anwendungsprogramm übertra-
gen werden.
141

7. Scanner das A4 Format eindeutig dominiert.


Entsprechend der technischen Realisierung
Scanner zählen zu den in Zf. 4 erwähnten des Scanvorganges unterscheidet man die fol-
neuesten Eingabegeräten für Computersy - genden 4 Typen von Scannern (Abb. 9.10).
steme. Der Scanner ist auch das für die OCR Beim Durchzugs- oder Einzugsscanner wird
und Dokumentanalyse (Kap. 5 und 6) erfor- das Papier an der CCD- Zeile durch eine Rol-
derliche Eingabegerät. Dabei wird die auf lenmechanik vorbeigezogen. Diese Technik
dem Papier gedruckte, handschriftliche oder erlaubt eine schnelle und präzise Abtastung
gezeichnete Information automatisch abge - und eignet sich vor allem für die Erfassung
tastet und als elektronisches Abbild zum von größeren Mengen von Seiten. — Der
Computer übertragen, vergleichbar mit dem Flachbettscanner bewegt die Diodenzeile me-
heute weit verbreiteten Facsimile (FAX)- Ge- chanisch unter einer Glasabdeckung, so daß
rät. beliebige Vorlagen, auch gebundene Zeit-
Das Prinzip des Scanners ist in Abb. 9.9 schriften und Bücher, wie bei einem Kopierer
dargestellt. Mit einer lichtempfindlichen Dio- erfaßt werden können. Durch das notwendige
denzeile (CCD- Elemente, Charged-Coupled- manuelle Auflegen ist der Durchsatz typi-
Device ) und einer homogenen Beleuchtung scherweise geringer als beim Durchzugsscan-
wird die Helligkeitsinformation des Papiers ner. — Der Handscanner enthält ebenfalls
zeilenweise abgetastet und mit einem Analog/ eine CCD- Zeile mit Beleuchtung. Hier wird
Digitalwandler in den Computer als Zahlen- die mechanische Abtastung des Dokumen-
wert übertragen. Durch die punktweise Abta- tes jedoch manuell vorgenommen. Die Ge-
stung der Helligkeits- und eventuell auch schwindigkeit und Genauigkeit sind geringer
Farbinformation entsteht im Rechner ein als beim Flachbettscanner. Er eignet sich für
zweidimensionales Zahlenfeld, das auch Ra- gelegentliches Erfassen kleiner Ausschnitte.
sterbild genannt wird. Die Bildpunkte werden — Der Trommelscanner besteht aus einer Vi-
auch Pixel (Abk. von picture element ) genannt deokamera mit eingebauter Beleuchtung und
und haben typischerweise Werte zwischen 0 eignet sich besonders für das schnelle Erfassen
und 255 (8 Bit). Die Dimension eines Raster- von Fotos und Grafiken. — Der Trommel-
bildes für eine DIN A4 Seite ist beträchtlich: scanner (ohne Abb.) arbeitet oft sowohl im
Bei 300 dpi (Punkte pro Zoll oder 12 Punkte Auflicht- als auch im Durchlicht- Verfahren,
pro mm) ergibt sich z. B. ein Feld von wobei die Vorlage auf die Trommel gespannt
2500 × 3500 Bildpunkten. Die Zahlenwerte wird. Hier wird die Abtastung mit einer hoch-
umfassen bei Farbbildern 24 Bit, bei Grau- wertigen Photodiode rein mechanisch hori-
bildern 8 Bit und bei Schwarz- Weiß- Bildern zontal und vertikal (über Trommelrotation)
(Binärbildern) 1 Bit. Bei Standarddokumen- durchgeführt, wodurch eine hohe Präzision
ten, die schwarz auf weiß gedruckt sind, rei- erzielt wird. Diese Scanner sind teuer und
chen die Binärbilder im allgemeinen aus. Es werden hauptsächlich zur Erstellung der Farb-
gibt Scanner für die unterschiedlichsten Pa- auszüge von Photos für Druckvorlagen ein-
pierformate von DIN A6 (Belege) bis zu DIN gesetzt.
A0 (Technische Zeichnungen), wobei für DTP

Abb. 9.9: Prinzip eines Scanners. Die CCD-Zeile wird mechanisch über das Papier gescannt (oder das Papier
an der festen CCD-Zeile vorbeigezogen).
142 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

8. Drucker
Der Drucker als Ausgabegerät des Computers
unterscheidet sich von der herkömmlichen
Druckmaschine in zweierlei Hinsicht, in der
höheren Flexibilität und in der geringeren Ge-
schwindigkeit. Im Unterschied zu den her-
kömmlichen Druckmaschinen finden sie da-
her hauptsächlich ihren Einsatz im Desktop
publishing (s. o. Zf. 4), wobei sie i. a. auf
einem Schreibtisch Platz haben. Zum einen
liegt das an der kleineren Auflage und Ge-
schwindigkeit, zum anderen jedoch an der
völlig anderen Technik. Im DTP sind im we-
sentlichen zwei Drucktechniken im Einsatz,
die Matrixdrucker und die Laserdrucker.
Im Gegensatz zu den Schreibmaschinen
(Typenhebel, Kugelkopf und Typenrad) kön-
nen die Matrix- und Laserdrucker beliebige
Rastermuster auf das Papier bringen. Da-
durch ist eine ständig wachsende Vielfalt von
Schriftarten möglich und deren völlig freie
Anordnung, sowie auch die Ausgabe von
Grafik und Bildern.
Der Matrixdrucker bringt das Druckbild
durch feine Nadeln (typisch 9 bis 24 in der
Breite eines 12 Punkt Schriftzeichens) über
ein Farbband auf das Papier. Die Druckqua-
lität wird eingeteilt in Draft, Near- Letter-
Quality (NLQ) und Letter - Quality (LQ).
Letztere erreicht nicht ganz die Qualität eines
Typenraddruckers. Mit dem Matrixdrucker
kann man Durchschläge erzeugen, was mit
den Laserdruckern nicht möglich ist. In letz-
ter Zeit haben sich zwei Varianten des Ma-
trixdruckers, die Tintenstrahldrucker und die
Thermotransferdrucker, im Büro durchge -
setzt. Bei diesen Druckern wird die Druck-
farbe durch Versprühen flüssiger Tinte bzw.
durch Erhitzen eines Farbstoffes auf das Pa-
pier gebracht. In der Geschwindigkeit und
Qualität sind sie mit dem Matrixdrucker ver-
gleichbar, jedoch haben sie ein wesentlich ge-
ringeres Betriebsgeräusch.
Der Laserdrucker (Abb. 9.11) verwendet
einen feinen Laserstrahl, der zunächst ein vir-
tuelles Zwischenbild auf einer elektrisch auf-
ladbaren Trommel erzeugt. Die Ladungsver-
teilung ist ein getreues Abbild des zu druk-
kenden Dokumentes und wird nun mit Hilfe
eines flüssigen oder pulverförmigen Toners
mit Hitze auf das Papier übertragen (Prinzip
des Kopierers). Man erzielt dabei eine Auf-
lösung von 300 dpi (d. h. 300 Punkte pro Zoll
Abb. 9.10: Vier Ausprägungen von Büroscannern oder ca. 12 Punkte pro mm), was zu einem
1. Flachbettscanner; besseren Druckbild führt als beim Matrix-
2. Durchzugsscanner; drucker (vgl. Abb. 9.12). Neueste Laserdruk-
3. Handscanner;
4. Auflichtscanner (Kameras).
9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien 143

Abb. 9.11: Prinzip eines Laserdruckers: Das digitale Rasterbild der Dokumentseite wird zeilenweise mit dem
Laserstrahl über den Ablenkspiegel und auf die Trommel als virtuelles Bild übertragen und anschließend wie
bei einem Kopierer auf das Papier gebracht.

Abb. 9.12: Beispiel für die Vielfalt von Schriftarten und die Qualität der Darstellung auf Laserdruckern.

ker bieten schon eine Auflösung von 600 dpi. schwindigkeit eines Matrixdruckers wird
Damit kommt die Qualität schon nahe an die meist in Zeichen pro Sekunde (cps) angegeben
eines Belichters (1200 bis 2540 dpi) heran. und liegt zwischen 100 und 400 cps bei ein-
Die individuelle Ansteuerung eines jeden facher Druckqualität (Draft Quality), bei 50
Bildpunktes beim Matrix- und Laserdrucker bis 200 cps in höherer Qualität (Near Letter
bedeutet, daß der Computer die Punktinfor- Quality oder Letter Quality). Im Grafikmo-
mation (schwarz oder weiß, also 1 Bit) für dus, d. h. wenn die Zeichen frei vom Rechner
alle Punkte des Dokumentes berechnen und berechnet und punktweise übertragen wer-
zum Drucker übertragen muß (bei 300 dpi ca. den, sinkt die Druckgeschwindigkeit deutlich
1 Million Punkte). Das erfordert eine hohe auf ca. 30 cps. Bei Laserdruckern gibt man
Rechenleistung und schnelle Datenübertra - die Geschwindigkeit in Seiten pro Minute an.
gung vom Computer zum Drucker. Die Ge- Sie liegt zwischen 6 und 16 bei den DTP-
144 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Modellen, kann aber im Hochleistungsbe- Um die Vielfalt und den Programmierauf-


reich auf über 1000 steigen. Hier ist dann oft wand zu begrenzen, wurden Standards für die
die Datenübertragungsrate der Engpaß. Codes und Strukturen eingeführt. Für reine
Eine Möglichkeit zur Reduktion der Da- Textdokumente gibt es schon lange den sog.
tenrate ist die Verwendung einer Seitenbe- ASCII-Code (American Standard Code of In-
schreibungssprache (heute meist Postscript, s. formation interchange) und den EBCDIC
Adobe 1985), bei der das Dokument nicht Code (Extended Binary Code Data Inter-
durch einzelne Bildpunkte beschrieben wird, change). Im Zuge der Internationalisierung
sondern durch seine Bestandteile Schriftzei- des Computereinsatzes entstand das Problem,
chen und Grafikprimitive. Die Schriftzeichen die verschiedensten Alphabete und sogar
werden dabei durch ihren Konturverlauf cha- nichtalphabetische Schriften zu codieren. Da
rakterisiert und im Laserdrucker gespeichert. hierfür die 8 Bit des ASCII (256 verschiedene
In Postscript wird nun die jeweilige Schriftart, Zeichen) nicht ausreichen (ISO 1983), wurde
ihre Größe und ihre Attribute wie fett, kursiv einen neue ISO Norm auf 32 Bit Basis vor-
usw. in codierter Form beschrieben, übertra- geschlagen (ca. 24 Billionen Zeichen). Um den
gen und vom Laserdrucker interpretiert, der 4 mal größeren Speicherbedarf zu umgehen,
daraus mit einem eingebauten schnellen Pro- wurde in USA ein 16 Bit langer sog. Unicode
zessor eine saubere Rasterdarstellung berech- vorgeschlagen. Aber dadurch ist heute selbst
net und ausdruckt. Die gleichen Postscript- der Austausch reiner Textdokumente inter-
dateien können auch auf Diskette in ein Be- national noch nicht endgültig gelöst.
lichtungssystem eingespielt werden, um eine Wesentlich komplexer ist der Austausch
professionelle Druckqualität zu erzielen. von Dokumenten, die neben der reinen
ASCII- Information noch mit Layout- und
Logikstruktur sowie mit Grafik- und Bildin-
9. Elektronischer Dokumentaustausch halten ausgestattet sind (Scheller, 1987). Zur
und Standards Lösung dieses Problems wurde eine sehr all-
In elektronischer Form sind die Dokumente gemeine und flexible Norm geschaffen, die
(Text, Bild, Grafik) dem Menschen nicht di- Office Document Architecture (ODA) und das
rekt zugänglich. Auf dem Monitor eines Office Document Interchange Format (ODIF)
Computers erscheint das Dokument nur un- (vgl. ISO, 1988). Es wird jedoch noch ge-
vollkommen. Entweder ist der Text lesbar, raume Zeit vergehen, bis dieser Standard auf
aber nur ein Teil des Dokuments sichtbar, jedem Rechner implementiert sein wird. Bis
oder das ganze Dokument mit seinem Layout dahin muß man sich mit den bestehenden de
ist auf dem Bildschirm sichtbar, jedoch ohne facto Standards (z. B. verbreitete Textverar-
beitungsprogramme, und die Formate T E X,
Lesbarkeit des Textes. Abhilfe schafft heute
nur das Ausdrucken auf Papier. Der Vorteil SGML u. a.) begnügen.
der Papierform ist die gleichzeitige Darstel- Die bekannten DTP Programme (Word,
lung des Layouts, der Logik und des Inhaltes Pagemaker, Ventura Publisher, Framemaker,
auf einem langlebigen jedermann zugängli- u. a.) unterstützten meist einige Formate an-
chen Speichermedium. derer Hersteller und einige neutrale Aus-
In ihrer Papierform bereitet der Austausch tauschformate. Letztere können aber unter
von Dokumenten keine Schwierigkeiten. Er Umständen zu leichter Verfälschung gewisser
läßt sich durch Transport (Post) oder auch Layout- oder Textattribut- Informationen füh-
besonders schnell elektronisch per Facsimile ren. Die bekanntesten universellen Formate
Gerät (Fernkopierer, FAX) bewerkstelligen. für wissenschaftlich technische Texte sind
Eine Vervielfältigung ist mit dem Kopierer SGML (Standardized Generalized M arkup
leicht möglich. Language) und T E X (Knuth 1986). SGML
Der Austausch elektronischer Dokumente beschreibt die logische Struktur des Doku-
zwischen verschiedenen DTP - Programmen, mentes (z. B. Kapitel, Abschnitte, usw.) mit
Rechnern, sowie ihre Darstellung auf ver- Steuerzeichen. T E X ist eine Beschreibungs-
schiedenen Monitoren und Druckern ist kei- sprache für das typographische Erscheinungs-
neswegs so einfach. Da ein Rechner nur bild des Textes, die besonders für mathema-
Codes stets bitgenau verarbeitet, müssen die tische Typographie geeignet ist. Viele vor al-
rechnerinternen Formate von jedem Hard- lem wissenschaftliche Verlage bevorzugen
und Software - Hersteller beachtet werden, heute Manuskripte in Form einer T E X Datei
d. h. bekannt gemacht und verwendet werden. (Schulze, 1986).
9.  Elektronische Lese- und Schreibtechnologien 145

Für den Austausch von Grafik in Doku- 68—72.


menten gibt es die ISO Norm CGM (Com- Bernhard, L. 1984. Three Classical Character Re-
puter Graphics Metafile), bei der standardi- cognition Problems. Three New Solutions. Siemens
sierte Grafikelemente wie Linien oder Kreis- Forschungs - und Entwicklungsberichte, Vol. 13,
bögen mit normierten Koordinatentransfor - 114.
mationen übertragen werden. Bieler, Dieter. 1987. Desktop Publishing, Satz- oder
Für Bilder in Schwarz/Weiß, Grautönen Textsystem? In: Paul, Manfred (ed.). Informatik
oder Farbe gibt es verschiedene Dateiformate, Fachberichte 156.
von denen sich TIFF (Tag Image File Format) Bove, T., Rhodes C. & Thomas, W. 1987. Die Kunst
durchsetzt. Hier kann jedoch die Vielfalt der des Desktop Publishing. Bonn.
Datenkompressionsverfahren zu Schwierig -
Carr, Robert. 1991. The Power of the pen. Addison
keiten beim Austausch zwischen verschiede-
Wesley. Reading. MA.
nen DTP-Programmen führen.
Wenn Wert darauf gelegt wird, daß das Dengel, Andreas. 1992. ANASTASIL: A System
Dokument beim Empfänger ganz genau so for Low- Level and High- Level Geometric Analysis
aussieht wie beim Autor, dann kann man eine of Printed Documents. In: Baird et. al.
Seitenbeschreibungssprache wie Postscript Fruchtermann, James R. 1989. Complete Docu-
(vgl. Adobe 1985) verwenden. Wenn es nicht ment Recognition. In: Proc. SPIE, Vol. 1074, Imag-
auf die äußere Form, sondern nur auf das ing Workstations and Document Input Systems,
Weiterverarbeiten des Inhaltes ankommt, ge- 168—178.
nügen leistungsfähige Texteditoren, die aber O’Gorman, L. & Kasturi, R. (ed.). 1992. Sonder-
mit den eventuell vorhandenen Steuerzeichen heft IEEE Computer, Heft: July, 1992.
zurechtkommen müssen. Soll sowohl Inhalt Görgens, Alfred. 1987. Desktop Publishing, Setzen
als auch Layout verändert werden, ist man und Drucken auf dem Schreibtisch. Niederhausen.
heute auf die vorhandenen DTP Programme Hundt, Eckart. 1987. Wege der Dokumentinterpre-
mit ihren beschränkten Austauschmöglich - tation: Schriftzeichenerkennung, Grafikerkennung,
keiten angewiesen. In Zukunft wird nur ein wissensbasierte Analyse. In: Informatik Fachbe -
internationaler Standard für Dokumente, sei richte 149, 53—67.
es ODA/ODIF oder ein anderer, eine Lösung ISO. 1988. Office Document Architecture (ODA).
bringen. ISO 8613.
ISO. 1983. Coded character sets for text commu-
nication, ISO 6937.
10. Schlußbetrachtung
Kahan, S., Pavlidis T. & Baird H. S. 1987. On the
Schrift und Schriftlichkeit sind geprägt durch Recognition of Printed Characters of any Font and
die menschliche Wahrnehmung und Interpre- Size, IEEE Trans. PAMI, Vol. 6, 274.
tation. Erst durch die geistige Verarbeitung Knuth, Donald E. 1986. Computers and Typeset-
des Menschen erreicht die Schrift ihren Sinn. ting, Vol. A—E, Addison-Wesley, Reading, MA.
Dieser Prozeß wird durch elektronische Hils- Kreich, Joachim, Luhn, Achim & Maderlechner,
mittel und deren vielseitige Möglichkeiten in Gerd. 1991. An Experimental Environment for
immer stärkerem Maße unterstützt. Sie hel- Model Based Document Analysis, In: Proc. 1st Int.
fen, die Schriften Conf. on Document Analysis and Recognition, St.
• übersichtlich und leicht verständlich zu ge- Malo, 50—58.
stalten Kubota, K., Iwaki, & Arakawa H. 1984. Document
• rasch an alle Interessenten zu verbreiten Understanding System, Proc. 7th ICPR in Mont-
• zu archivieren und leicht wiederzufinden. real, 612.
Maderlechner, Gerd. 1990. Symbolic Subtraction
11. Literatur of Fixed Formatted Graphics and Text from Filled
Forms. In: Proc. IAPR Workshop MVA. Tokyo,
Adobe Systems. 1985. PostScript Reference Man- 457—459.
ual. Addison-Wesley. Nagy, G. 1982. Optical Character Recognition,
Baird H., Bunke H. & K. Yamamoto (ed.). 1992. Theory and Practice. In: Krishnaiah, Kanal (ed.),
Structured Document Image Analysis. Berlin Hei- Handbook of Statistics, Vol. 2.
delberg New York. Niemann, Heinrich. 1983. Klassifikation von
Bayer, Thomas. 1987. Segmentierung verklebter Mustern, Berlin et al.
Einzelzeichen mit einer heuristischen Suchstrategie. Ryan, Bob. 1991. The Paperless Office, State of the
Tagungsband 8. DAGM- Symposium in Paderborn, Art, In: BYTE, April 1991, 157—238.
146 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Schäfer, M. 1986. Die Vision vom papierlosen Taert, C. C. 1990. The State of the Art in On-
Büro, In: Funkschau 19, 45—46. Line Handwriting Recognition, IEEE Trans.
Scheller, Angela. 1987. Dokumentenstandards: PAMI, Vol. 12, (8), 787—808.
Stand und Wertung. In: Informatik Fachberichte Trambacz, Ulrich. 1987. Vom Schreibmönch zum
156, 369—381. Desktop Publishing. In: Informatik Fachberichte
Scherl, Wolfgang. 1987. Bildanalyse allgemeiner 156, 269—277.
Dokumente, Informatik Fachberichte 131. Wahl F. M., Wong K. Y. & Casey R. G. 1982.
Schulze, Bernd. 1986. Einführung in T E X. In: In- Block Segmentation and Text Extraction in Mixed
formationstechnik it, 28, Nr. 6, 322—341. Text/Image Documents, Computer Graphics and
Image Processing, Vol. 20, 375.
Schürmann, Jürgen. 1984. Schriftzeichenerkennung
und maschinelles Lesen, Handbuch der modernen Eckart Hundt/Gerd Maderlechner,
Datenverarbeitung, HMD 115/84, S. 23 ff. München (Deutschland)

10. Archivierung von Schriftgut

1. Einleitung verwaltenden Tätigkeit entstanden (vgl. Lei-


2. Keilschriftarchive im Vorderen Orient del 1992, 253; Brenneke 1988, 35; Enders
3. Griechische und römische Archive der Antike 1962; Franz 1990); daneben aber auch ande-
4. Archive im Mittelalter und der frühen Neuzeit res schriftliches und nicht- schriftliches Mate-
5. Archivordnungen rial, sofern es zur Dokumentation der politi-
6. Zugang zu und Gebrauch von Archiven schen und gesellschaftlichen Vergangenheit
7. Neuzeit und Gegenwart geeignet ist (das sog. archi-
8. Literatur vische Sammlungsgut). Je nach dem institu-
tionell, politisch oder wissenschaftlich fest-
gelegten Sammlungsauftrag (Zuständigkeit)
1. Einleitung kann es dabei, wie im Falle der Literaturar-
Archivierung ist die grundsätzlich vom Trä- chive (vgl. Dilthey 1889), zu begrifflichen
germaterial (Beschreibstoff) unabhängige Überschneidungen kommen. Im Gegensatz
zur Tätigkeit der Bibliotheken zählen zu den
Übernahme, Ordnung und dauernde Aufbe- besonderen archivischen Aufgaben ferner die
wahrung, Erhaltung (vgl. Weber 1992), Er-
schließung (Verzeichnung) und Bereitstellung Regelung des Zugangs, d. h. eine den Anfor-
von Schriftzeugnissen zu historiographischen, derungen des Datenschutzes entsprechende
juristischen, administrativen und ökonomi - Nutzung des Archivguts (Fragen des Ar-
schen Zwecken in Archiven. Archive unter- chivrechts, vgl. Polley 1991 und Archivum
scheiden sich von anderen Speichern der XXVIII, 1982) und die Bewertung, d. i. die
Schriftlichkeit (Bibliotheken, Datenbanken, Scheidung des aufzubewahrenden (archiv -
begrenzt auch Museen) durch die Entste- würdigen) von dem im Hinblick auf die Ar-
hungsursache und den kommunikativen Cha- chivierungszwecke unerheblichen (kassablen)
rakter der Masse des verwahrten Schriftguts Material. Auch wenn der Beschreibstoff nicht
und die Absicht seiner Aufbewahrung. Biblio- maßgeblich ist für die Frage, ob ein Schrift-
theken und Datenbanken sammeln ihrem kul- stück archiviert wird, so ist er doch bestim-
turellen, ökonomischen oder administrativen mend für die Weise, wie es aufgehoben wird.
Auftrag entsprechend nicht- adressiertes Ma- In dem Maße, wie der zur Verfügung stehende
terial, d. h. solches Schriftgut, das sich an eine Beschreibstoff die Art des Schreibens bedingt
(das cuneiforme Ritzen der Schrift auf Ton
nicht näher definierte Öffentlichkeit richtet. beispielsweise), so bestimmt er auch die Auf-
Archive hingegen übernehmen vorwiegend bewahrungsweise des Schriftzeugnisses. Die
die adressierten, d. h. die von der kommu- Frage nach dem Trägermaterial ist die zen-
nikativen Absicht her empfängergezielten trale Frage der materialen Schriftkultur und
Schriftprodukte bestimmter Herkunftsstellen somit auch der Archivierung (vgl. Posner
(Provenienzen), die im Zusammenhang einer 1972, 18).
146 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Schäfer, M. 1986. Die Vision vom papierlosen Taert, C. C. 1990. The State of the Art in On-
Büro, In: Funkschau 19, 45—46. Line Handwriting Recognition, IEEE Trans.
Scheller, Angela. 1987. Dokumentenstandards: PAMI, Vol. 12, (8), 787—808.
Stand und Wertung. In: Informatik Fachberichte Trambacz, Ulrich. 1987. Vom Schreibmönch zum
156, 369—381. Desktop Publishing. In: Informatik Fachberichte
Scherl, Wolfgang. 1987. Bildanalyse allgemeiner 156, 269—277.
Dokumente, Informatik Fachberichte 131. Wahl F. M., Wong K. Y. & Casey R. G. 1982.
Schulze, Bernd. 1986. Einführung in T E X. In: In- Block Segmentation and Text Extraction in Mixed
formationstechnik it, 28, Nr. 6, 322—341. Text/Image Documents, Computer Graphics and
Image Processing, Vol. 20, 375.
Schürmann, Jürgen. 1984. Schriftzeichenerkennung
und maschinelles Lesen, Handbuch der modernen Eckart Hundt/Gerd Maderlechner,
Datenverarbeitung, HMD 115/84, S. 23 ff. München (Deutschland)

10. Archivierung von Schriftgut

1. Einleitung verwaltenden Tätigkeit entstanden (vgl. Lei-


2. Keilschriftarchive im Vorderen Orient del 1992, 253; Brenneke 1988, 35; Enders
3. Griechische und römische Archive der Antike 1962; Franz 1990); daneben aber auch ande-
4. Archive im Mittelalter und der frühen Neuzeit res schriftliches und nicht- schriftliches Mate-
5. Archivordnungen rial, sofern es zur Dokumentation der politi-
6. Zugang zu und Gebrauch von Archiven schen und gesellschaftlichen Vergangenheit
7. Neuzeit und Gegenwart geeignet ist (das sog. archi-
8. Literatur vische Sammlungsgut). Je nach dem institu-
tionell, politisch oder wissenschaftlich fest-
gelegten Sammlungsauftrag (Zuständigkeit)
1. Einleitung kann es dabei, wie im Falle der Literaturar-
Archivierung ist die grundsätzlich vom Trä- chive (vgl. Dilthey 1889), zu begrifflichen
germaterial (Beschreibstoff) unabhängige Überschneidungen kommen. Im Gegensatz
zur Tätigkeit der Bibliotheken zählen zu den
Übernahme, Ordnung und dauernde Aufbe- besonderen archivischen Aufgaben ferner die
wahrung, Erhaltung (vgl. Weber 1992), Er-
schließung (Verzeichnung) und Bereitstellung Regelung des Zugangs, d. h. eine den Anfor-
von Schriftzeugnissen zu historiographischen, derungen des Datenschutzes entsprechende
juristischen, administrativen und ökonomi - Nutzung des Archivguts (Fragen des Ar-
schen Zwecken in Archiven. Archive unter- chivrechts, vgl. Polley 1991 und Archivum
scheiden sich von anderen Speichern der XXVIII, 1982) und die Bewertung, d. i. die
Schriftlichkeit (Bibliotheken, Datenbanken, Scheidung des aufzubewahrenden (archiv -
begrenzt auch Museen) durch die Entste- würdigen) von dem im Hinblick auf die Ar-
hungsursache und den kommunikativen Cha- chivierungszwecke unerheblichen (kassablen)
rakter der Masse des verwahrten Schriftguts Material. Auch wenn der Beschreibstoff nicht
und die Absicht seiner Aufbewahrung. Biblio- maßgeblich ist für die Frage, ob ein Schrift-
theken und Datenbanken sammeln ihrem kul- stück archiviert wird, so ist er doch bestim-
turellen, ökonomischen oder administrativen mend für die Weise, wie es aufgehoben wird.
Auftrag entsprechend nicht- adressiertes Ma- In dem Maße, wie der zur Verfügung stehende
terial, d. h. solches Schriftgut, das sich an eine Beschreibstoff die Art des Schreibens bedingt
(das cuneiforme Ritzen der Schrift auf Ton
nicht näher definierte Öffentlichkeit richtet. beispielsweise), so bestimmt er auch die Auf-
Archive hingegen übernehmen vorwiegend bewahrungsweise des Schriftzeugnisses. Die
die adressierten, d. h. die von der kommu- Frage nach dem Trägermaterial ist die zen-
nikativen Absicht her empfängergezielten trale Frage der materialen Schriftkultur und
Schriftprodukte bestimmter Herkunftsstellen somit auch der Archivierung (vgl. Posner
(Provenienzen), die im Zusammenhang einer 1972, 18).
10.  Archivierung von Schriftgut 147

2. Keilschriftarchive im ihrer administrativen Herkunft, nach Prove-


Vorderen Orient nienzkriterien also, ordnete.
Eine Besonderheit der Tontafel - Archive,
Die geordnete Aufbewahrung schriftlicher In- wo die Archivalien zumeist auf gemauerte
formation zu juristischen, administrativen Bänke oder in Nischen, Körbe und Kisten
und ökonomischen Zwecken ist die älteste Art gelegt, z. T. auch an Kordeln aufgehängt wur-
der Archivierung. Durch die häufig dismem- den, ist die Klimatisierung des Archivlokals
brierende Grabungstätigkeit der Zeit bis zum durch ein System kleiner Wasserrinnen, wie
Zweiten Weltkrieg wurde allerdings der Ar- man es in dem aus neo- babylonischer bzw.
chivcharakter der Fundstätten oft übersehen: achämenidischer Zeit stammenden Eanna -
Die über 400 000 Tontafeln, die bis 1972 Tempel in Uruk freigelegt hat. Ein antikes
hauptsächlich in Mesopotamien, aber auch in Beispiel für die später zu erörternde räumliche
Ägypten (el - Amarna: auswärt. Korrespon - Trennung von Kanzlei und Archiv aus der
denz Amenophes III. und IV.), Anatolien, Zeit um 750 v. Chr. fand sich in Nimrud im
Syrien, der Peloponnes, der Ägäis und Trans- nördl. Irak. Obwohl organische Beschreib-
sylvanien zu Tage gefördert wurden, sind die stoffe — Papyrus, Leder, Pergament und ge-
Zeugnisse einer archivischen Tätigkeit zu wachste Holztafeln, bisher belegt seit 700
Verwaltungszwecken, die im 3. Jahrtausend v. Chr. durch die Nimrud- Grabungen, ver-
v. Chr. begann und sich bis in die achämeni- mutlich aber wesentlich älter — häufiger ver-
dische Epoche um 500 v. Chr. erstreckte, als wendet wurden, so standen sie doch in ihrer
die Verbreitung der aramäischen Schrift den Haltbarkeit dem gebrannten Ton nach: Die
Gebrauch des Tons als Beschreibstoff unbe- Überreste der hochentwickelten Schriftkultur
quem werden ließ (vgl. Posner 1972, 23). des alten Ägypten, die sich des Papyrus be-
Schon während der Ur- III- Periode (ca. 2100 diente, sind vergleichsweise karg. Die Tonta-
v. Chr.) wurden Tontafeln in speziellen töner- felfunde geben deshalb bis heute den reichsten
nen Behältern an eigens dafür bestimmten Aufschluß über das Archivwesen der Antike,
Plätzen für künftigen Gebrauch archiviert. wobei sich allerdings die übliche Scheidung
An den Behältern angebrachte tönerne Eti- zwischen Archiv- und Bibliotheksgut (s. o.)
ketten gaben Aufschluß über den Typ und nicht immer aufrechterhalten läßt. Bestimmte
den Umfang des nach sachlichen Betreffen Arten von kultisch- religiösem Archivgut, wie
und nach seiner Entstehungszeit z. T. peinlich beispielsweise die assyrischen Omen - Texte
genau datierten Inhalts (vgl. Goossens 1952). (vgl. Posner 1972, 27), waren unter der Herr-
Unter den über 20 000 Tontafeln, die im schaft des mythischen Weltbildes ein elemen-
Königspalast von Mari am mittleren Euphrat tarer Teil der administrativen Entscheidungs-
gefunden wurden, läßt sich bereits für die Zeit findung.
um ca. 1800 v. Chr. eine Trennung zwischen
hausinterner (wirtschaftlicher) und außenpo-
litischer Dokumentation unter der Verwal- 3. Griechische und römische Archive
tung eines eigenen (Archiv- )Beamten nach- der Antike
weisen. Aus Mari stammen auch die frühesten
Zeugnisse einer archivischen Inventarisierung In Griechenland, wo die frühen Kulturen
nach der Eroberung der Stadt durch Ham- (Kreta, Mykene und Pylos) auch Tontafeln
murabbi, der mit seinem Zugriff auf die Ar- hinterlassen haben, traten in klassischer Zeit
chive, wie Posner (1972, 62) vermutet, Infor- Papyrus, Pergament und vor allem Holztafeln
mationen über Maris Kontakte mit Ägypten als bevorzugte Beschreibstoffe an deren Stelle.
und dem Hethiter- Reich zu finden hoffte. Das bedeutendste dort ergrabene Archiv ist
Neben dem gewöhnlichen administrativen das auf der Agora gelegene Metrôon, das
Gebrauch läßt sich aber auch eine Reihe von institutionell um die Mitte des 4. Jahrhunderts
Fällen nachweisen, in der die altmesopota- v. Chr. in höchster Blüte stand und das ver-
mischen Archive zu historischen Zwecken, mutlich bis zur Hälfte des 3. Jahrhunderts
insbesondere zur Anfertigung kommemora- bestand. Während es als eine Art „staatliches
tiver Inschriften genutzt wurden (Posner Hauptarchiv“ (Brenneke 1988, 108) vornehm-
1972, 65). Diversifizierter noch als in Mari lich der Aufnahme des Schriftgutes des Athe-
war das System der archivischen Zuständig- ner Rates, der Boulé, diente — wofür auch
keiten in Ugarit (Ras- Shamra/Syrien), wo seine unmittelbare Nähe zum Bouleutérion
man die Tontafeln möglicherweise schon nach spricht — erhielt es seinen Namen von der
Muttergöttin Métér, deren Heiligtum zuvor
148 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

schon in dem Gebäude untergebracht war. den allerdings noch keinen Eingang in das
Literarische Hinweise auf das griechische Ar- Aerarium, sie wurden stattdessen meist den
chivwesen finden sich in reicher Zahl; am privaten Geschäftsunterlagen der einzelnen
bekanntesten sind die Ausführungen in Ari- aus dem officium scheidenden Beamten zu-
stoteles’ Politik (1321 b, 33—40), wo das Ar- geschlagen; ein Gebrauch, der sich bis zur
chiv als fünfte Magistratur nicht nur als Er- Schaffung lokaler Archive in den Provinz-
mittlungsinstanz der städtischen Rechtspre- städten der Kaiserzeit fortsetzte. Erst durch
chung und Aufbewahrungsort der Urteile, das 79 v. Chr. erbaute Tabularium erhielt
sondern auch als Ort der Aufzeichnung pri- Rom ein zentrales Staatsarchiv (Posner 1972,
vater Rechtsakte geschildert wird. Diese Ten- 185), in dem die Akte der Volksversammlun-
denz zur Transformation von privatem zu gen (comitia), des Senats, der Censoren, Prae-
öffentlichem Schriftgut ist das Charakteristi- toren, städt. Quaestoren, der Spitzen der Pro-
kum der démosia grammata i. a., als die die vinzverwaltung und die commentarii der Con-
griechischen Archive oft bezeichnet wurden. suln anscheinend schon nach Provenienzkri-
Hervorgegangen aus der Institution des mné- terien archiviert wurden. Da die Aufsicht über
môn, eines öffentlichen Erinnerers, dienten sie das u. a. von Tacitus und Sueton benutzte
vornehmlich der Stabilisierung der innerstäd- Tabularium und sein Personal, die in sog.
tischen dinglichen Rechtsverhältnisse, wo - decuriae korporierten apparitores, den in der
durch sie schließlich auch die Funktion einer Regel nur bedingt amtserfahrenen Quaesto-
Art öffentlichen Katasters ( anagraphé, vgl. ren oblag und die apparitores überdies ein
ital. anagrafe für das Personenstandswesen) Präsentationsrecht für ihre freiwerdenden Po-
ausbildeten. Wie schon in Mesopotamien, so sten besaßen, kam es zum Ämterkauf und
finden sich auch in Griechenland Belege für damit zu dem von Cicero (De legibus III, 46)
archivische Nutzungen zu epigraphischen beklagten Mißstand, daß ‘das Gesetz war,
Zwecken: Auf Stelen aus Amorgos fanden was die apparitores wollten’. Nach der Ein-
sich Abschriften von Dokumenten mit den setzung dreier curatores tabularum publicarum
auf den Originalen aufgebrachten Kanzleiver- zur Vervollständigung des Tabulariums durch
merken. Tiberius im Jahre 16 kam es durch die ver-
Das römische Rechtsleben der republika- fassungsrechtliche Komplettierung des Prin-
nischen Zeit hat sich lange mündlich abge- zipats im Jahre 69 (Lex regia) zur Verschie-
spielt (Posner 1972, 160; vgl. die Preisung des bung des politischen Gravitationszentrums
goldenen Zeitalters bei Vergil, Georgica II vom Capitol — und damit auch vom Tabu-
502, in dem die Menschen keine ‘öffentlichen larium — zum Palast des Princeps auf dem
Archive beschauen mußten’). Dabei geschah Palatin. Bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts
die Promulgation der Ordnungsvorschriften, fungierte das Tabularium noch als Archiv des
auch in späterer Zeit noch, durch öffentliche im wesentlichen entmachteten Senats. Ein in-
Ausrufung, renuntiatio genannt. Auch nach stitutionalisiertes imperiales Zentralarchiv
der Verfügbarkeit von Papyrus blieb der rö- bildete sich während des Prinzipats noch nicht
mische Schreibgebrauch weitgehend bei der aus, die Akte blieben vielmehr bei den sie
Verwendung von Holztafeln, die — wie es erzeugenden und bearbeitenden Behörden,
auch in Griechenland schon Brauch war — wurden aber in ihrer Gesamtheit als tabula-
entweder geweißt (album, gr. leukômaton) rium Caesaris bezeichnet (Posner 1972, 191 f).
oder auf der Schreibseite gewachst (tabula Allerdings entstand mit dem secretarium eine
cerata) und oft zu Polyptychen ( caudex — > Art Geheimarchiv des Princeps (Cencetti
Codex) zusammengehängt wurden. Daneben 1953), das wohl in der Regel an den jeweiligen
gab es in der ältesten Zeit leinene Bücher (libri Nachfolger gelangte. Bezeichnend hierfür ist
lintei), die, wie Livius berichtet, im Tempel der Briefwechsel Trajans (53—117) mit Pli-
der Juno Moneta bewahrt, zur Auflistung der nius d. J., in dem der Princeps dem Gouver-
Magistrate bestimmt waren. Bis zum Bau des neur u. a. mitteilte, daß sich die von diesem
Tabularium diente dann das von den Quae- gewünschten Informationen zu einem be-
storen kontrollierte Aerarium insbesondere stimmten Sachverhalt in den commentarii sei-
als Depot des Senats, dessen Beschlüsse erst ner Vorgänger nicht fänden. Zum secretarium
durch die delatio ad aerarium genannte Re- führt Posner (1972; 193) aus: “... although it
gistrierung ihre Verbindlichkeit erhielten; die was not part of the bedchamber (cubicula-
delatio stellte somit einen notwendigen pro- rium), it was in the custody of the most trust-
zessualen Bestandteil der Rechtsetzung dar. worthy of the emperor’s secretaries or bed-
Die Journale der Beamten (commentarii) fan- chamber personnel.“ Neben dem Begriff ta-
10.  Archivierung von Schriftgut 149

bularius begegnet in der kaiserlichen Haus- stieg zugleich“. Dem vergleichsweise hohen
verwaltung aber auch der des chartularius cu- Grad der karolingischen Schriftlichkeit ent-
bicularii. Die Gewohnheit, besonders wert- spricht der in den Quellen verbreitete Ge-
volles Archivgut im Privat- und insbesondere brauch des Begriffes archivum und die Errich-
im Schlafgemach aufzubewahren, setzte sich tung eines Palastarchives bei der kaiserlichen
bis in die frühe Neuzeit fort (s. u.). Nach der Residenz in Aachen (Fichtenau 1977, 120—
Reform Diokletians († um 315) begann die 125). Allerdings sind aus dieser Zeit keine
Reiseherrschaft der Caesaren. Wenn ihre zeit- Quellen überliefert, die sich unmittelbar auf
weilig mitreisenden Behörden (scrinia) z. T. die Archive bezögen. Von Rekonstruktions-
schon archivische Findmittel benutzten, die versuchen und verstreuten Nachrichten ab-
möglicherweise den alphabetischen diastrô- gesehen setzt eine positive Geschichte der Ar-
mata der römischen Verwaltung in Ägypten chive somit erst bei den Ansätzen territorialer
ähnelten, und wenn sie auch zwischen ver- Staatsbildung und der neuerlichen Zunahme
schiedenen Serien ihres Schriftguts schon un- der Schriftlichkeit im ausgehenden Hochmit-
terschieden, so konnten doch Schäden des- telalter wieder ein (Casanova 1966, 301 ff;
selben, seiner Vollständigkeit und Ordnung Stengel & Semmelmann 1958, 120—182).
auf Dauer nicht ausbleiben. Es ist auch un- „Nur in Italien reichen vereinzelt die Archive
bekannt, inwieweit das Schriftmaterial der fürstl. Geschlechter bis ins 10. Jahrhundert
Behörden anläßlich des Umzuges des Hofes zurück“ (Bresslau 1969, 149—161: ältere Ge-
nach Konstantinopel (330) überführt wurde. schichte der päpstlichen Archive). Es handelt
War dies der Fall, so wird vieles dem 599 von sich hier jedoch um Ausnahmefälle: Gegen-
Papst Gregor I. berichteten Brand des char- über den Archiven der Collalto und der Este
tophylacium Kaiser Justinians zum Opfer ge- lassen sich die hochmittelalterlichen Wurzeln
fallen sein. Auch wenn es aufgrund ihrer man- des Archivs der Gonzaga von Mantua z. B.
gelnden Subsidiarität zu einer „Zerrüttung“ nur deduzieren (Behne 1990, 39). Bei der Er-
der Archive kam, auf die E. Stein 1928 forschung der Grundlagen der heutigen Ar-
(Gesch. d. spätröm. Reiches I, 433) die Pro- chivierungstechniken müssen wir zunächst
bleme der ersten, theodosianischen Kodifi- nach der i n st i t u t i o n e l l e n St e l l u n g der
kation (nach 435) zurückführt, so hinterließ Archive, ihrer Selbständigkeit oder ihrer Zu-
die römische Verwaltung doch eine Reihe von gehörigkeit zu anderen Einrichtungen, zum
Errungenschaften, die einerseits von der sich Schatz, zur Bibliothek, zur Kanzlei oder
entwickelnden christlichen Kirche übernom- Kammer fragen. Zu einer Verselbständigung
men wurden und damit in die Tradition des der Archive als eigene Verwaltungszweige
mittelalterlichen Europa gelangten, die an- kam es, von Einzelfällen abgesehen, frühe-
derseits aber auch in gewissen frühneuzeitli- stens im 16. Jahrhundert. Bis zum 14. Jahr-
chen Verfahrensweisen geradezu neu entdeckt hundert wurden die Archive i. a. noch zum
scheinen (Posner 1972, 205 und Behne 1990, Schatz, insbesondere bei geistlichen Körper-
38). Die vielgestaltigsten Nachwirkungen, schaften auch zur Bibliothek (vgl. Ehrle
nicht nur im Bereich der Archive, sondern 1885), seit dem 15. Jahrhundert dann zuneh-
auch auf dem Gebiet der öffentlichen Rechts- mend zur Kanzlei gerechnet. In wirtschaftlich
sicherung, des Urkunden - und Beglaubi - fortgeschritteneren Gegenden, insbesondere
gungswesens, hatte gewiß das Recht der spät- in Städten, war das Archiv — gewissermaßen
römischen Magistrate, Urkunden von öffent- als Titelsammlung zur Einforderung von
lichem Glauben (publica fides) auszustellen. Rechten in klingender Münze — auch häufig
Eng verbunden mit diesem ius actorum con- der Kammer, d. h. der Finanzverwaltung un-
ficiendorum war die oben angesprochene de- terstellt; vielerorts nimmt eine rationale Ar-
latio. In der delatio als dem Akt der rechtset- chivverwaltung überhaupt erst von der Wirt-
zenden Niederlegung einer Anordnung durch schaftsverwaltung ihren Ausgang: „Die Er-
ihre Registrierung oder Aufbewahrung in haltung der fiskalischen Rechte, die Renova-
einem Archiv dürfen wir eine Wurzel des neu- tur ( renovatio extentarum u. a.), ist ... überall
zeitlichen Ius archivii (s. u.) sehen. die Mutter der Registratur“ (Rück 1971, 101;
vgl. Goldinger (1957); Ottnad (1986, 2);
Bresslau (1969, 162): Schatzarchiv der mero-
4. Archive im Mittelalter und wing. Könige; Bock (1957, 317); Behne (1990,
der frühen Neuzeit 19 f/79—82). In Mantua Teil des kommuna-
len Schriftgutes schon im ausgehenden 13.
„Was das Archivwesen betrifft, brachte die Jahrhundert beim massarius Communis, dem
Karolingerzeit einen Aufstieg und einen Ab- städt. Schatzmeister / noch 1432 ein Teil der
150 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

markgräfl. Archivalien im Schatzgewölbe, (Behne 1988, 98). Diese Benennung mutet


1456 ein Armarium Argentariorum im Archiv- aber nur fortschrittlich an. Tatsächlich steht
lokal; v. Schönherr (1886, 95; Stengel & Sem- nämlich hinter dem Konzept der camera sec-
melmann 1958, 163; Vorrede zum Codex Ebe- reta nur die seit der röm. Kaiserzeit (s. o.)
rardi aus Fulda von ca. 1150, Bd. I: „cedulas nachweisbare Aufbewahrung von Archivtei-
accepimus a librario“; Lewinski 1893, 125: in len in camera bzw. in guardaroba, d. h. im
Brandenburg im 15. Jahrhundert Archiv Teil intimsten Privatbereich des Archiveigentü -
der Kanzlei. — Rück 1971, 101: Ordnung der mers. So wurden „in der päpstlichen Guar-
savoyischen. Archive durch die Kammer. — darobba ... noch zu Anfang des 17. Jahrhun-
Petz 1885, 160: Nürnberger Archiv im 14. derts Archivalien“ aufbewahrt (Bresslau
Jahrhundert in der Schatzkammer unter der 1969, 159). Ähnliches ist von den Urkunden
„Obhut der Losunger, d. i. der obersten des Kaisers Heinrich VII. und eines Klosters
reichsstädtischen Finanzstelle“. — Markgraf bei Le Mans bekannt (Wattenbach 1958, 636;
(1878, 118): 1438 löst in Breslau der Käm- Fichtenau 1977, 119). In Mantua stand der
merer die Schlüsselmannen in der Aufsicht sog. Cassono dali Signi seit der Mitte des 15.
über das Archiv ab). Da die Archive also auch Jahrhunderts in der Guardarobba der Fürstin,
im 15. Jahrhundert zumeist noch keine selb- und zu dieser Truhe besaß nur sie die Schlüs-
ständigen Verwaltungseinheiten waren, findet sel (vgl. Behne 1990, 147 f). Auch am fränki-
sich der Begriff archivum oft erst im 16. Jahr- schen Hof der Hohenzollern „hat man ...
hundert und später (vgl. Stolz 1934, 91: ‘Ar- Urkunden in den fürstlichen Schlafgemächern
chiv’ bei der oberösterr. Regierung erstmals aufbewahrt“. 1516 fand man dort Akten in
Ende des 17. Jahrhunderts; dagegen Ficker der Kammer der verstorbenen Markgräfin
1880, 121 f: Nachweis der Begriffe archivarius (Lewinski 1893, 127; vgl. Stolz 1934, 91: In-
und archivum im angiovinischen Neapel be- dexband eines 1540 fertiggestellten Archivre-
reits im frühen 14. Jahrhundert; Usteri 1931, pertoriums trägt den Titel: ‘Tabulatur der
227: archivum der Genfer Bischöfe 1371). Die- fünf Bücher, in denen die Briefe und Schriften
jenigen Archive, die nur aus einem einzigen des Hauses Österreich registriert sind und die
Behälter bestanden, bezeichnete man oft ein- zu Innsbruck in dem oberen Briefgewölbe
fach als Kasten (capsa), Kiste (cista), Lade hinter dem Frauenzimmer in fünf Kästen lie-
(ladula), Schrein (scrinium), Schachtel (scatel, gen’, zum Begriff der Tabulatur s. u.).
von scatula), oder Karnier (carnerius) (vgl.
Behne 1990, 75—78/146; Krausen 1972; Rück
1990, 133; Schieckel 1956, 102; Markgraf 5. Archivordnungen
1876, 114). Größere Archive hingegen, die
man zum Schutz vor Feuer bevorzugt in ge- Da die meisten europäischen Archive im
mauerten Räumen unterbrachte (Bruckner Laufe ihrer Geschichte mehrfach neu geord-
1968, 589), wurden dementsprechend oft nur net wurden, lassen sich die frühen Archivord-
Gewölbe (crota oder volta) oder auch Kam- nungen heute nur noch aus Rücknotizen und
mer genannt (Gundlach 1931, 58: 1486 „briv- Signaturen auf dem archivierten Material und
kamer uffin sloß zu Marpurg“). Dabei darf aus alten Dokumentenverzeichnissen erschlie-
man davon ausgehen, daß diese Gewölbe usw. ßen. Dabei hängt die Frage nach den ersten
in der Regel nah bei der Kanzlei und nicht Formen archivischer Ordnung unmittelbar
unbedingt unter der Erde lagen (Ulrich 1886, mit der Menge des aufbewahrungswürdigen
3/9: „gewolve zo der stede privilegien“ im Schriftguts zusammen. Aufgrund der massen-
Kölner Rathausturm 1406, 1500 „camera vul- weisen Verfügbarkeit eines neuartigen, billi-
tata“. — Wehrmann 1876, 385: in Lübeck gen Beschreibstoffes, des Papiers — seit dem
Archiv (Treserie) in einem Gewölbe der Ma- 13. Jahrhundert in Italien und Spanien (Fa-
rienkirche, Kanzlei „in einem Gebäude neben briano ca. 1270), seit dem 14. Jahrhundert
dem Rathaus“. — Behne 1990, 53 ff: Volta dann auch in Frankreich und Deutschland
Inferior und Superior in Mantua 1432—1540. (Troyes und Essonnes um 1350, Nürnberg ca.
— Meklenburg. Urkundenbuch I,VIII f: 1390) — verstärkte sich die Tendenz zur Ver-
1480—92 „Registratura der vorsigelten schriftlichung von Rechts- und Verwaltungs-
brieffe in der ... cantzeley zu Sweryn vor- geschäften, die man bis dahin mündlich ge-
wart“; vgl. weiter Krausen 1972, 29). Im Vor- regelt hatte. Sekundär stehen die frühen For-
griff auf die neuzeitliche Terminologie nannte men archivischer Ordnung aber auch im Zu-
man das Archiv der Herzöge von Mailand im sammenhang mit dem Prozeß der Residen-
15. Jahrhundert schon die camera segreta zenbildung, d. h. der Zentralisierung erster
herrschaftlicher Behörden an bestimmten Or-
10.  Archivierung von Schriftgut 151

ten (vgl. Streich 1989). Die ersten Archivord- Archivs zur Zeit Nikolaus III. [1277—1280],
nungen sind damit ein Reflex der staatsrecht- aber nicht zu archivischen Zwecken zusam-
lichen Evolution der europäischen Reiche und mengestellt, sondern ... als Mittel zu politi-
Fürstentümer als Überlieferungsträger (Ar - schen Zielen gedacht“ (Bock 1954, 320). Bei
chivbildner): Je umfassender deren Anspruch einer genaueren Betrachtung dieser frühen
auf die Ausübung der Funktionen des gesell- Archivverzeichnisse fällt auf, daß viele der-
schaftlichen Lebens wurde, desto schneller selben sich nur erst auf einen Ausschnitt des
vollzog sich der Prozeß der Verschriftlichung archivierten Materials beziehen (Ottnad 1986,
und desto dringender stellte sich damit auch 3), nämlich auf die privat veräußerten Rechte
das Problem, die Schriften geordnet zu ar- an Grund und Boden: Dies hat einerseits mit
chivieren (vgl. Behne 1991, 317—327: Wegen der juristischen Dauerhaftigkeit und der vi-
der Aneignung entsprechender Kompetenzen talen Bedeutung dieser Rechte für die sich
ab 1328 städtisches Archivgut im Archiv der entfaltenden Gebietshoheiten zu tun, ande-
Stadtherren (capitanei) von Mantua, welches rerseits damit, daß die Zahl der Privaturkun-
hierdurch zum Vorläufer eines Staatsarchives den gegenüber den vergleichsweise wenigen,
wurde, bis ins frühe 18. Jahrhundert aber ein in der Regel separat bewahrten Königs- und
Teil des patrimonialen Guts der Familie Papsturkunden (sog. Privilegia maiora ) un-
blieb). Die ersten europäischen Archivord- überschaubar wurde. Substantiell ähnlich war
nungen stammen frühestens aus dem 14. Jahr- die Verfahrensweise in den Städten: So hob
hundert (Bruckner 1968, 569 f; Schieckel man in Lucca die Dokumente über Grund-
1956, 97). Dabei sind die Vermerke, die wir stückstransaktionen auf — diejenigen Doku-
heute auf den Rückseiten alter Urkunden fin- mente, die den Handel betrafen, wurden hin-
den, die sog. Dorsualnotizen (vgl. Staerkle gegen weggeworfen, „weil sie kurzfristige All-
1966), oft nicht so sehr der Ausdruck einer tagsgeschäfte betrafen“ (Esch 1985, 534 f).
wirklichen Ordnung der Archive, als vielmehr „Während aber Königs- und Papsturkunden
ein zeitgenössischer Anhaltspunkt für ihren am natürlichsten rein chronologisch geordnet
Gebrauch in der Kanzlei und für die Zurück- wurden, war für die über riesige Räume ver-
legung des Materials ins Archiv (Reponie- streuten privaturkundlichen Rechtstitel ... die
rung). Auch die ersten Archivverzeichnisse topographische Gliederung das gegebene
lassen zumeist die materielle Ordnung der Be- Ordnungsprinzip“ (Stengel & Semmelmann
stände noch nicht erkennen (formale Ähn- 1958, 158). Derlei Ordnungen nach Orten (lo-
lichkeit zu den älteren sog. Kopiaren und kale Pertinenz), wie sie lt. Stengel & Semmel-
Urbaren). Da der Begriff des Inventars all- mann (1958, 160) in Fulda zum ersten Mal
gemein eine Systematik bzw. Ordnung des angewendet wurden, finden sich in vielen mit-
archivierten Dokumentenbestandes voraus - telalterlichen und frühneuzeitlichen Archiven
setzt, ist es ratsam, diese Verzeichnisse noch Europas. Zur Aufrechterhaltung und zur Le-
nicht als Inventare anzusprechen (vgl. Rück gitimation ihrer Vorherrschaft waren z. B. die
1969, 191; Carucci 1983, 212; Walne 1988, oberitalienischen Signorien des 14. Jahrhun-
87 f; Elsevier 1964, 39). Die frühesten Archiv- derts vordringlich auf die Sicherung und den
verzeichnisse entstehen seit der Wende vom Ausbau ihres Hausgutes angewiesen. Deswe-
13. zum 14. Jahrhundert: 1284 in Neapel; gen enthält lt. Behne (1991, 319) das erste
1318 im Pariser Trésor des Chartes, der seit Mantuaner Dokumentenverzeichnis von 1367
dem frühen 13. Jahrhundert mit den Abtei- fast nur Käufe, Verkäufe, Erbschaften und
lungen der Layettes (= Laden) und der Re- Konfiskationen von Grund und Boden —
gistres als Empfänger- und Ausstellerarchiv privilegia maiora sind demgegenüber kaum
der französischen Krone fungierte; 1323 beim erwähnt (vgl. Rück 1970, 150: „verhältnis-
Exchequer in London; in Trier nach 1344; in mäßig wenige [Dokumente des Priorates von
Mantua nach 1367; in Aquileia vor 1376; in Lutry], auch bei weitem nicht alle älteren vor
Meißen 1378; in Lutry/Westschweiz und in 1393, wurden bei der ersten Inventur erfaßt.
Würzburg vermutlich um 1395 (vgl. Sthamer Diese kann also nur einen Teil der Urkunden
1911; Güthling 1934, 30; Posner 1940, 160; betroffen haben, wahrscheinlich nur die
Lichter 1967; Behne 1991, 319; von Zahn Grundbesitztitel“; das von Lichter 1967,
1878, 63; Schmidt—Ewald 1932, 291; Rück 251—258 wiedergegebene Archivverzeichnis
1970; Frenz 1984, 142). Demgegenüber han- des Würzburger Domkapitels weist aus -
delt es sich bei den 61 Blättern des vatikani- schließlich privat veräußerte Liegenschafts-
schen Codex Ottob. 2546 zwar um die „Reste rechte auf). Dermaßen verzeichnete Urkun-
eines Inventars der Urkunden des päpstlichen dendepots des 14. Jahrhunderts sind deswe
152 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

gen also weder als Schatzarchive noch als ... domini nostri secretarium ...“) und das
Kanzleiarchive, sondern als Liegenschaftsar- älteste Repertorium des Kölner Ratsarchivs
chive zu bezeichnen. Zwei Gliederungsprin- (Ulrich 1886, 4/7: ‘Dies ist ein Register all der
zipien des archivierten Materials bestimmten Privilegien und Briefe, die die Stadt Köln in
den inneren Aufbau dieser Depots: Erstens ihrem Gewölbe verschlossen hält’). Noch vor
wurden die Dokumente nach ihrer geogra- 1440 entstanden die Archivinventare der böh-
phischen Pertinenz geordnet, zweitens nach mischen Krone, der Herzöge von Bayern-
der alphabetischen Abfolge der Ortsnamen. München und der Reichsstadt Nürnberg. Aus
Derlei alphabetische Archivverzeichnisse, in Mantua sind von 1432, 1456 und 1480/81
die jeder territoriale Neuerwerb mühelos ein- insgesamt drei Inventare überliefert, die —
gearbeitet werden konnte, nannte man bis ins mit archivischen Ordnungsarbeiten verbun-
16. Jahrhundert in Deutschland Tabulatur den — aufgrund der Dorsualnoten kompiliert
(Behne 1991, 320: Listung der Archivalien wurden (Koss & Bauer 1939, 387; Zimmer-
nach Orts- und Gemarkungsnamen von Ar- mann 1962, 53 ff; Petz 1885, 160; Behne 1990,
manorium bis Zenevrium; Schieckel 1956, 95: 122). Dabei kommt der Begriff des Inventars
„Vorgänge, die in der Verwaltung ... einheit- erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Ge-
lich behandelt wurden“, konnten beisammen brauch (vgl. Behne 1990, 103 f: Inventario de
liegen; Stengel & Semmelmann 1958, 158; le scripture in el Cassono dali Signi 1481; Ul-
Stolz 1934, 91; Goldinger 1957, 18; Meisner rich 1886, 8 f: Inventarium librorum et litte-
1969, 99). rarum in cancellaria 1500 in Köln; Petz 1962,
Indem die diplomatischen Verbindungen 167).
der Fürsten zunehmend in das Zentrum ihrer Wo die Archive neu geordnet wurden, da
Tätigkeit rückten, wurden die herrschaftli- wählte man in Ermangelung einer Kompeten-
chen Kanzleien Europas seit dem 15. Jahr- zengliederung der archivbildenden Verwal-
hundert zum politischen Instrument regio- tung in der Regel ein Mischsystem aus dem
naler und internationaler Beziehungen. Die Sachbetreff und der politisch- geographischen
vormaligen Liegenschaftsarchive wandelten Herkunft des Schriftguts. Dies ist z. B. im
sich dabei zu Kanzleiarchiven (vgl. Behne Archiv des Domkapitels von Durham in Eng-
1990, 51 f), die von nun an immer häufiger land der Fall, wo die mit dem Repertorium
dem exklusiven Zugriff einzelner Hofbeamter minus aus dem 14. Jahrhundert und dem Re-
unterstanden. In der Folge kam es in ganz pertorium maius von 1456 geschaffene Ord-
Europa zu den ersten umfassenden Archiv- nung nach päpstlichen, königlichen, erzbi-
ordnungen (vgl. Schoebel 1991, 25—32: nach schöflichen und Yorker (Eboracensia) Urkun-
1447 Inventarisierung aller Urkunden der Ab- den sich bis ins 20. Jahrhundert weitgehend
tei St. Victor in Paris, allerdings nur erst nach erhalten hat (vgl. Holtzmann 1930, 18). In
geographischen Kriterien. — Markgraf 1878, einigen Archiven wurde das Material darüber
116 ff: 1484 Kommission zur Archivordnung hinaus auch hierarchisch nach den Beziehun-
in Breslau. — Schmidt- Ewald 1932, 292: Auf- gen des jeweiligen Archiveigentümers zu Hö-
schrift auf einem sächsischen Archivinventar: herrangigen, Ebenbürtigen und Untertanen
‘Anno domini 1464 ... sind alle Privilegien, angeordnet (vgl. Rück 1971, 78—82: konse-
Handfesten und Register im Gewölbe zu Mei- quenteste Verwirklichung dieses Konzepts in
ßen gesichtet, aufgezeichnet und nacheinan- der savoyischen Clairvaux - Ordnung von
der in Laden gelegt, wie es dieses Register 1445/46. — Ulrich 1886, 1 ff: sog. Weißes
ausweist’). Die dabei entstandenen Archivin- Buch, ältestes Repertorium des Kölner Rat-
ventare, anfangs oft nur liber oder Register sarchivs), wobei man gewisse Dokumente nun
genannt, wurden zum Teil schon in Volks- auch schon als unnütz bzw. fremd bewertete
sprache verfaßt (Koss & Bauer 1939, 387 f: (sog. Inutilia und Exteriora, vgl. Behne 1990,
„Registrum vsech deseti truhlic, do nichz jsou 122 f; Schieckel 1956, 95 ff; Petz 1962, 165 f;
slozena privilegia krålovstvie Českeho“ von Mötsch 1985, 258: Bewertung zwischen dau-
1510; zum archivhistor. Begriff des Registers ernd aufbewahrungswürdigen Perpetualia
vgl. Zimmermann 1962, 49). Bereits vom und Dokumenten von vorübergehendem
Jahrhundertbeginn stammen die beiden ersten Wert (Temporalia) bereits bei der Archivord-
Inventarbände des savoyischen Archivs, die nung des Erzbischofs Balduin von Trier im
auch über ihren Autor Auskunft geben (Rück frühen 14. Jahrhundert. — Ulrich 1886, 5:
1971, 51 f: „Registrum informacionum ... Sa- summarisch angeführte Papstbriefe und
baudie comitis in sua crota Chamberiaci exi- Landfriedensurkunden, ‘die belanglos schei-
stencium factum per me Johannem de Balay nen’ in Köln. — Goldinger 1957, 19: Einstu-
10.  Archivierung von Schriftgut 153

fung von Papsturkunden der Wiener Univer- Breslau mit dem Vermerk „habent claves ad
sität als „bullae inutiles“. — Behne 1990, 135: privilegia“), Kanzler, Kämmerer oder städti-
Aufbewahrung von iura evanida ). Im Hin- sche Notare, die mit der Aufsicht über die
blick auf die Tragweite dieser ersten umfas- Archive betraut waren. Nur stellenweise ist es
senden Archivordnungen müssen wir heute dabei schon im 14. Jahrhundert zur personel-
allerdings die Feststellung von Petz (1962, len Verselbständigung einzelner Archive ge-
172) verallgemeinern: „Konsequenz war nicht kommen: So etwa durch die Bestellung von
die starke Seite der alten Archivare“. Pierre d’Étampes und Ulrich Schoff, „clericus
et familiaris Caroli IV.“, zu Aufsehern (garde
des chartes) des frz. und des böhm. Kronar-
6. Zugang zu und Gebrauch von chivs oder durch den Mantuaner Hieronymus
Archiven de Iusen, einen Notar und Angehörigen der
Der durch Benutzungsordnungen geregelte gebildeten städtischen Oberschicht, der sich
allgemeine Zugang zum Archiv und das Recht 1392 „notarius et officialis archivii sive regi-
auf Einsicht in die Archivalien ist eine Errun- stri Communis Mantue“ nannte. Dabei ist die
genschaft des 19. Jahrhunderts. Was den äl- hauptamtliche Betreuung für die „Entstehung
teren Gebrauch der Archive betrifft, so lassen eines Archivs im modernen Sinne fast ebenso
sich doch — neben der gewöhnlichen juristi- entscheidend wie die räumliche Trennung ...
schen Nutzung — schon seit dem 15. Jahr- von Kanzlei und Registratur“ (Zimmermann
hundert die Ansätze einer archivgestützten 1962, 56). In den mittleren und kleineren Ter-
Geschichtsschreibung wahrnehmen. Rück ritorien, in Hessen oder Württemberg z. B.,
(1990, 133) berichtet von einem Berner Notar, hat dieser archivgeschichtliche Entwicklungs-
der — aufgrund eines Ratsbeschlusses von schritt erst im 16. Jahrhundert oder noch spä-
1420 — als Stadtschreiber „für seine ... Chro- ter stattgefunden (vgl. Brichford 1986; Koss
nik die Urkunden ‘in der Stadt Kisten’, d. h. & Bauer 1939, 381; Behne 1990, 53; Ottnad
im Urkundentrog der Stadt“ verwendete; 1986, 4; Gundlach 1931, 118: hauptamtl. hess.
ähnliches läßt sich auch in Mantua und den Registrator seit 1506). Da für die Eigentümer
Archiven von Chambéry feststellen, wo um der juristische Nutzen ihrer Archive an ober-
das Jahr 1475 der herzogliche Sekretär Per- ster Stelle stand, die Archive im Streitfall also
rinet Dupin bei den Vorarbeiten zu seiner authentische Dokumente beizubringen hat -
Chronik des Hauses Savoyen verschiedene ten, lag es nahe, juristisch gebildetes Personal
Registerserien zu Rate zog (Chaubet 1984, 95/ und Fachleute für urkundliche Authentizität,
112: „car le registre de ... Haulte Combe n’en d. h. Notare mit der Archivaufsicht zu be-
parle point“. — Behne 1990, 131 f; Ottnad trauen. Es stimmt mit dieser Aufgabenstel-
1986, 10: Ende des 16. Jahrhunderts historio- lung überein, daß Kanzler und Sekretäre bis
graphische Arbeiten des Luzerner Stadt - ins 16. Jahrhundert hinein in der Regel öf-
schreibers und Diplomats Renward Cysat „im fentlichen Glauben als Notare besitzen muß-
Zuge von Ordnungsarbeiten“). ten (vgl. von Zahn 1878, 62: der Autor des
Diese Art des Zugriffs auf archiviertes Ma- ersten Archivverzeichnisses von Aquileia aus
terial war indes in der Regel demjenigen Per- der Zeit vor 1381 „war Notar und als solcher
sonenkreis vorbehalten, dessen Obhut die Ar- Kanzleiangehöriger des Patriarchen Mark -
chivalien auch im allgemeinen unterstanden. wart“. — Abschn. Notari cancellieri bei Ca-
Die Wurzeln des Archivars als eines moder- sanova 1966, 322 f: ‘Machiavell braucht nicht
nen Berufsstandes mit einem mehr oder min- mehr Notar zu sein, um Sekretär der Kanzlei
der fest umrissenen Horizont von Aufgaben der Stadt Florenz zu werden, dasselbe gilt in
und Qualifikationen reichen bis in die Zeit der Folgezeit von den Sekretären der Groß-
zurück, als man bei den geistlichen Institutio- herzöge der Toscana, der Herzöge von Sa-
nen und in den Fürstentümern und Städten voyen, Mantua, Modena und denen der aus-
zur meist nur beiläufigen Versorgung der Ar- ländischen Souveräne’; Behne 1990, 121).
chive besonders bestimmte „Schlüsselherren“ Über die technischen Fähigkeiten hinaus er-
hatte (Ottnad 1986, 3). Aufgrund der seit dem wartete man von den neuen Archivbeamten
15. Jahrhundert verbreitet nachweisbaren eine besondere Seriosität und Ergebenheit, die
räumlichen und funktionellen Nähe der Ar- sich oft in einer Vererbung des Amtes inner-
chive zu den Kanzleien waren es in der Regel halb derselben Familie widerspiegelte (vgl.
eigens dazu bestimmte Domherren und Rats- Behne 1990, 92 ff: Mantuaner Familie der An-
mannen (Markgraf 1878, 144: seit 1386 in dreasi im Laufe des gesamten 15. Jahrhun-
154 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

derts in wenigstens drei Generationen mit windung die archivische Entwicklung bis in
dem Archiv befaßt). das 19. Jahrhundert hinein prägen sollte. Am
Das Bewußtsein für den Wert gewisser Ar- Endpunkt der Entwicklung stand die Schaf-
chivalien hat deren Eigentümer zum Teil fung von Zentralarchiven, die sich am rei-
schon im 15. Jahrhundert zur Bildung von bungslosesten dort vollzog, wo das Urkun-
archivischen Sonderbeständen in Form von denarchiv als Summe der Rechtstitel und da-
sog. Hausarchiven und Samtarchiven veran- mit als Garant des staatlichen Besitzstandes
laßt. So zog man in Mantua aus der Befürch- fortgeführt und mit neu entstehenden Ver-
tung, wichtige dokumentarische Zusammen- waltungsakten angereichert worden war.
hänge könnten durch die Erbteilung von 1478 Im Laufe dieses Prozesses wurden die euro-
zerstreut werden, um 1480 gut 200 Urkunden päischen Archive des 16. bis 18. Jahrhunderts
als Keimzelle eines Hausarchivs zusammen zu den vielfach zitierten Arsenalen der Politik.
(Behne 1990, 151; vgl. Schmidt- Ewald 1932, Während man z. B. in Frankreich im Jahre
292: kurz nach der sächs. Teilung von 1487 1562 die Archive zur Untermauerung der
Absonderung des Urkundenarchivs im Wit- staatskirchlichen Ideologie des Gallikanismus
tenberger Gewölbe „als eine Art von Haus- gebrauchte (Kelley 1966, 347), lieferten die
archiv“. — Thiel 1914, 3: in Folge der Län- Archive im alten deutschen Reich die ur-
derteilungen im Hause Habsburg gegen Ende kundlichen Argumente in den Auseinander-
des 14. Jahrhunderts „Bildung eines ... De- setzungen „um behauptete oder bestrittene
pots für die Urkunden des Hauses und die Hoheitsrechte eines Reichsstandes über einen
nicht zum unmittelbaren Amtsgebrauche er- anderen“ (Bresslau 1969, 21). Dieser Ge-
forderlichen Kanzlei- und Rechnungsbücher brauch der Archive geschah auf der Grund-
in den innerösterr. Landen“. — Fink 1951, 2 lage des sog. Ius archivii, das 1664 maßgeblich
nennt das während des Pontifikats Sixtus IV. von dem schwarzburgischen Kanzler Ahasver
(1471—1484) in der Engelsburg angelegte Ur- Fritsch formuliert wurde (Tractatus de iure
kundendepot „ältestes päpstliches Zentralar- archivi et cancellariae). Während das aktive
chiv, das Archivalien ... nach ihrer Bedeutung Archivrecht eine größere Rechtskraft der kai-
für die Rechte und Ansprüche des Hl. Stuhles, serlichen und reichsständischen Archive im
also nur eine Auswahl, in ... Verwahrung ganzen behauptete, privilegierte das passive
nahm“. — Wagner 1885, 18 f: Bildung zweier Ius archivi die prozessuale Beweiskraft des
Samtarchive der hohenzollerschen Lande archivierten gegenüber dem vereinzelten Do-
nach der Länderteilung von 1437. — Gund- kument. In England gilt noch heute „der lük-
lach, 88: hess. Samtarchiv seit 1462). kenlose Nachweis seiner Aufbewahrung unter
verantwortlicher amtlicher Aufsicht“ (Prinzip
der unbroken custody ) als Merkmal eines voll-
7. Neuzeit gültigen Archivale (Leesch 1956, 18; Jenkin-
Wegen der Entwicklung fester Behörden mit son 1965). Die mit Hilfe dieses Ius archivi
zunehmend umrisseneren Aufgaben und Zu- ausgetragenen Bella diplomatica endeten mit
ständigkeiten nahm seit dem 16. Jahrhundert dem Reichsdeputations
- Hauptschluß von
die Menge des zu archivierenden Schriftguts 1803, der den alten Diplomen, Privilegien
weiter zu. Vielerorts entstanden deswegen nun usw. die verfassungsrechtliche Geltung entzog
die ersten schriftlich niedergelegten Kanzlei- (Brenneke 1988, 175).
und Archivanweisungen und im Gefolge der Der Durchbruch zu einem in seiner Orga-
Publikationen des Württembergers Jakob von nisation und seinen Zielen modern zu nen-
Rammingen (Heidelberg 1571) auch die er- nenden Archivwesen geschah also in der
sten archivtheoretischen Schriften (vgl. Ott- Folge der Französischen Revolution (vgl.
nad 1986, 5 f). Delmas 1992). Die Marksteine waren zwei
Der Prozeß der Separierung der Urkunden Dekrete von 1794 (7. Messidor II) und von
von den nun in großer Zahl entstehenden 1796, in denen das 1789 gegründete Natio-
Akten, der sich in vielen europäischen Terri- nalarchiv zum zentralen Staatsarchiv der Re-
torien schon im 15. Jahrhundert anbahnte, publik bestimmt wurde, dem sämtliche öf-
kam spätestens im Laufe des 16. Jahrhunderts fentliche Depots in der Provinz (als künftige
in den meisten europäischen Archiven zum Archives départementales ) unterstellt wurden.
Tragen. Damit war die grundsätzliche Unter- Zusätzlich erklärte der Staat nun durch die
scheidung zwischen neuzeitlichen Schatzar- Schaffung einer speziellen Bewertungsbehör-
chiven und Kanzleiarchiven gegeben (Goldin- de ( Bureau de triage des titres von 1796) seine
grundsätzliche Sorgfaltspflicht für die Ar-
ger 1957; Brenneke 1988, 171), deren Über-
10.  Archivierung von Schriftgut 155

chive, die als das dokumentarische Erbe der chel 1965; Franz 1990, Kap. II) bestimmend
Nation künftig für jeden Bürger frei zugäng- geworden. Inwieweit es sich auch als Bewer-
lich sein sollten (vgl. Staehelin 1968). Die tungskriterium der Archivwürdigkeit von Do-
Romantik und das Erwachen des national- kumenten eignet, wird bis heute diskutiert
staatlichen Denkens förderten in den folgen- (vgl. Booms 1972; Uhl 1990). Ob es sich auch
den Jahrzehnten das öffentliche Bewußtsein im dritten Zeitalter der (elektronischen) Ar-
für den Wert der archivierten Schriftdenkmale chive (vgl. Delmas 1992; Buchmann 1988;
als monuments historiques (1819 Begründung Menne- Haritz 1993), angesichts des damit
der bis heute fortgeführten Quelleneditionen sich erneut stellenden Problems der archivi-
der ‘Monumenta Germaniae Historica’). Da- schen Authentizität und veränderter Benut-
bei entfernten sich die Archive von der Ver- zungsanforderungen, behaupten kann, wird
waltung und gewannen zunehmend den Cha- die künftige Entwicklung zeigen; → Art. 11.
rakter historischer Forschungsstätten. Der
Archivar wandelte sich vom vornehmlich ju-
ristisch orientierten Verwalter (Registrator) 8. Literatur
zum fachhistorisch vorgebildeten Erforscher Abkürzungen: FS = Festschrift, Mitt. = Mittei-
des Archivguts. lungen, ND = Nachdruck; s. = serie, Zts. =
Überall im kontinentalen Europa zogen die Zeitschrift;
Revolution und die napoleonischen Staaten-
Periodica: Conseil International des Archives: Ar-
bildungen archivische Konzentrationen nach
chivum; (D) Archivalische Zts. (AZ); Archivmitt.
sich. Durch den territorialen Zuwachs und
(AM); Der Archivar (DA); (A) Scrinium; (CH)
die Neuschaffung europäischer Mittelstaaten
Mitt. der Vereinigung schweizerischer Archivare/
(Baden, Cisalpine Republik z. B.) standen
Bulletin de l’Association des Archivistes Suisses;
deren Archivare vor der Aufgabe, das Ar-
(NL) Nederlands Archievenblad; (B) Archives et
chivgut der säkularisierten geistlichen und der
Bibliothèques de Belgique; (F) La Gazette des Ar-
mediatisierten weltlichen Kleinstaaten in die
chives; (I) Rassegna degli Archivi di Stato (RAS);
eigenen Archive zu integrieren. Den noch
(GB): Journal of the Society of Archivists; (USA):
herrschenden enzyklopäidschen Denkge
-
The American Archivist.
wohnheiten verpflichtet ordnete man das neu
erworbene und z. T. auch das eigene Archiv- Baudot, Marcel e. a. 1970. Manuel d’archivistique:
gut nach alphabetischen Pertinenzkatalogen Théorie et pratique des archives publiques en
(vgl. Schnelling 1991; Graf 1990, 103: in France, élaboré par l’Association des Archivistes
Karlsruhe sog. Brauersche Rubriken von ‘Ab- Français, Paris.
sterben’ bis ‘Zwanganstalten’; Behne 1988: Behne, Axel. 1988. Archivordnung und Staatsord-
Sistema peroniano in Mailand). Die hierbei nung im Mailand der Sforza- Zeit. In: Nuovi annali
zwangsläufigen Zuordnungsprobleme führten della scuola speciale per archivisti e bibliotecari 2,
in Belgien und Frankreich seit 1840 zur Pro- 93—102.
pagierung des sog. Respect des fonds, d. h. —. 1990. Das Archiv der Gonzaga von Mantua im
einer Beachtung der gewachsenen inneren Spätmittelalter, Marburg [Bibliogr. zum mittelal -
Ordnung eines Archivbestandes. Vor dem terl. Archivwesen].
Hintergrund des organistischen Denkens (Ar- —. 1991. Il primo repertorio dell’archivio Gonzaga.
chivkörper) fand dieses Konzept 1898 durch In: Archivio Storico Lombardo, s. 11, 8, 355—366.
die Niederländer Muller, Feith und Fruin sei- Bock, Friedrich. 1954. Die erste urkundlich greif-
nen reifen Ausdruck: Sie formulierten maß- bare Ordnung des päpstl. Archivs. Mitt. des Insti-
geblich das sog. Provenienzprinzip, dem zu tuts für Österreichische Geschichtsforschung 62,
Folge das Archivgut seinem Entstehungszu- 317—335.
sammenhang entsprechend archiviert wird, Booms, Hans. 1972. Gesellschaftsordnung und
d. h. auf der Grundlage der Registratur oder Überlieferungsbildung. Zur Problematik archiva -
der Aufgabenorganisation der Institution, die rischer Quellenbewertung. AZ 68, 3—40.
das Schriftgut erzeugte. Bordier, Henri. 1855. Les archives de la France ou
Wenn es als solches auch nicht unumstrit- Histoire des archives de l’Empire ..., Paris.
ten war (vgl. Posner 1940, 169), so ist die
Provenienz doch für das archivische Arran- Bräuer, Helmut. 1975. Zu Problemen städtischer
gement in den staatlichen und kommunalen Archivgeschichtsschreibung. AM 25, 19—21.
und in den in unserem Jahrhundert neu ent- Brenneke, Adolf. 1988. Archivkunde. Ein Beitr. zur
standenen Archiven der Parlamente, Parteien Theorie und Geschichte des europäischen Archiv-
und Verbände, der Wissenschaft und Presse, wesens, bearb. v. W. Leesch, Leipzig 1953, ND
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158 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Staerkle, Paul. 1966. Die Rückvermerke der ältern zur Mitte des 16. Jahrhunderts. AZ 10, 18—53.
St. Galler Urkunden, St. Gallen (Mitt. zur Vater- Walne, Peter (ed.). 1988. Dictionary of Archival
länd. Gesch. 45). Terminology/Dictionnaire de terminologie archi -
Stengel, Edmund E. & Semmelmann, Oskar. 1958. vistique. English and French With Equivalents in
Fuldensia — IV. Untersuchungen zur Frühge - Dutch, German, Italian, Russian and Spanish, 2.
schichte des Fuldaer Klosterarchivs. Archiv für Di- ed. München (ICA Handbooks 7).
plomatik 4, 120—182. Wattenbach, Wilhelm. 1958. Das Schriftwesen im
Sthamer, Eduard. 1911. Die Reste des Archivs Mittelalter, 3. ed. Leipzig 1896, ND Graz.
Karls I. von Sizilien im Staatsarchive zu Neapel. Weber, Hartmut (ed.) 1992. Bestandserhaltung in
In: Quellen und Forsch. aus it. Archiven und Bibl. Archiven und Bibliotheken, Stuttgart (Werkhefte
14, 68—139. der Archivverw. Baden-Württemberg, s. A, 2).
Stolz, Otto. 1934. Archiv- und Registraturwesen Wehrmann, Carl Friedrich. 1876. Das Lübecker
der oberösterr. (tirol.- schwäbischen) Regierung im Archiv. Zts. des Vereins für Lübeck. Gesch. und
16. Jahrhundert. AZ 42/43 81—136. Altertumskunde 3, 349—406.
Streich, Brigitte. 1989. Zwischen Reiseherrschaft Weitemeyer, Mogens. 1955. Babylonske og assy-
und Residenzbildung. Der wettinische Hof im spä- riske arkiver og biblioteker, København.
ten Mittelalter, Köln/Weimar (Mitteldt. Forschun- Weitemeyer, M. 1955/56. Archive and Library
gen 101). Technique in Ancient Mesopotamia. Libri 6, 217—238.
Thiel, Viktor. 1914. Zur Geschichte des k. k. stei- Zahn, Joseph von. 1878. Zwei mittelalterliche Ar-
ermärk. Statthalterei- Archivs. Beitr. zur Erforsch. chivanlagen in Italien. AZ 3, 61—79.
steirischer Geschichte 37—40. Zechel, Artur. 1965. Probleme einer Wissenschafts-
Uhl, Bodo. 1990. Der Wandel in der archivischen theorie der Archivistik mit besonderer Berücksich-
Bewertungsdiskussion. DA 43, 529—538. tigung des Archivwesens der Wirtschaft. In: Tra-
Ulrich, Adolf. 1886. Zur älteren Geschichte des dition. Zts. für Firmengesch. und Unternehmerbio-
Kölner Stadtarchivs. Registratur der Reichsstädte. graphie 5/6, 285—300.
In: Mitt. a. d. Stadtarch. Köln 4/10, 1—14. Zimmermann, Fritz. 1962. Die strukturellen
Usteri, Emil. 1931. Aus der schweizer. Archivge- Grundlagen der bayerischen Zentralarchive bis
schichte. AZ 40, 227—234. zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. AZ 58, 44—94.
Wagner, F. 1885. Kanzlei- und Archivwesen der
fränkischen Hohenzollern von der Mitte des 15. bis Axel Behne, Otterndorf (Deutschland)

11. Datenbanken

1. Einleitung lich strukturierter Informationseinheiten mit


2. Geschichte Hilfe eines Computers. Eine Datenbank läßt
3. Struktur, Aufbau und Typen von Datenban- sich als ein modernes Medium zur (gegen-
ken wärtig noch überwiegend schriftlichen) Kom-
4. Anwendungen munikation begreifen, das zwischen einer so-
5. Künftige Entwicklungen der Datenbanktech- zialen Instanz, die Information bereitstellt,
nologie und einer sozialen Instanz, die Information
6. Datenbanken als Medien der schriftlichen benötigt, vermittelt. Die Behandlung der
Kommunikation theoretischen, technischen und praktischen
7. Literatur Fragen in Zusammenhang mit Datenbanken
erfolgt üblicherweise in der Informatik, den
Informations
- und Dokumentationswissen
-
1. Einleitung schaften sowie in denjenigen Disziplinen, in
Als Datenbank(- system) (engl. data base sy- denen, wie etwa in der Medizin, den Wirt-
stem ) bezeichnet man ein elektronisches Do- schafts
- und den Ingenieurwissenschaften,
kumentationssystem zur Erfassung, Speiche- Datenbanken bereits eine besonders große
rung, Verknüpfung, Auffindung, Sicherung Rolle spielen. Mit den zunehmend schwieriger
und Ausgabe von Daten. Es ermöglicht eine werdenden Fragen der Sicherstellung der
Verarbeitung von sehr großen Mengen ähn- Rechte und Pflichten der an der Datenbank-
kommunikation beteiligten und der von ihr
158 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Staerkle, Paul. 1966. Die Rückvermerke der ältern zur Mitte des 16. Jahrhunderts. AZ 10, 18—53.
St. Galler Urkunden, St. Gallen (Mitt. zur Vater- Walne, Peter (ed.). 1988. Dictionary of Archival
länd. Gesch. 45). Terminology/Dictionnaire de terminologie archi -
Stengel, Edmund E. & Semmelmann, Oskar. 1958. vistique. English and French With Equivalents in
Fuldensia — IV. Untersuchungen zur Frühge - Dutch, German, Italian, Russian and Spanish, 2.
schichte des Fuldaer Klosterarchivs. Archiv für Di- ed. München (ICA Handbooks 7).
plomatik 4, 120—182. Wattenbach, Wilhelm. 1958. Das Schriftwesen im
Sthamer, Eduard. 1911. Die Reste des Archivs Mittelalter, 3. ed. Leipzig 1896, ND Graz.
Karls I. von Sizilien im Staatsarchive zu Neapel. Weber, Hartmut (ed.) 1992. Bestandserhaltung in
In: Quellen und Forsch. aus it. Archiven und Bibl. Archiven und Bibliotheken, Stuttgart (Werkhefte
14, 68—139. der Archivverw. Baden-Württemberg, s. A, 2).
Stolz, Otto. 1934. Archiv- und Registraturwesen Wehrmann, Carl Friedrich. 1876. Das Lübecker
der oberösterr. (tirol.- schwäbischen) Regierung im Archiv. Zts. des Vereins für Lübeck. Gesch. und
16. Jahrhundert. AZ 42/43 81—136. Altertumskunde 3, 349—406.
Streich, Brigitte. 1989. Zwischen Reiseherrschaft Weitemeyer, Mogens. 1955. Babylonske og assy-
und Residenzbildung. Der wettinische Hof im spä- riske arkiver og biblioteker, København.
ten Mittelalter, Köln/Weimar (Mitteldt. Forschun- Weitemeyer, M. 1955/56. Archive and Library
gen 101). Technique in Ancient Mesopotamia. Libri 6, 217—238.
Thiel, Viktor. 1914. Zur Geschichte des k. k. stei- Zahn, Joseph von. 1878. Zwei mittelalterliche Ar-
ermärk. Statthalterei- Archivs. Beitr. zur Erforsch. chivanlagen in Italien. AZ 3, 61—79.
steirischer Geschichte 37—40. Zechel, Artur. 1965. Probleme einer Wissenschafts-
Uhl, Bodo. 1990. Der Wandel in der archivischen theorie der Archivistik mit besonderer Berücksich-
Bewertungsdiskussion. DA 43, 529—538. tigung des Archivwesens der Wirtschaft. In: Tra-
Ulrich, Adolf. 1886. Zur älteren Geschichte des dition. Zts. für Firmengesch. und Unternehmerbio-
Kölner Stadtarchivs. Registratur der Reichsstädte. graphie 5/6, 285—300.
In: Mitt. a. d. Stadtarch. Köln 4/10, 1—14. Zimmermann, Fritz. 1962. Die strukturellen
Usteri, Emil. 1931. Aus der schweizer. Archivge- Grundlagen der bayerischen Zentralarchive bis
schichte. AZ 40, 227—234. zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. AZ 58, 44—94.
Wagner, F. 1885. Kanzlei- und Archivwesen der
fränkischen Hohenzollern von der Mitte des 15. bis Axel Behne, Otterndorf (Deutschland)

11. Datenbanken

1. Einleitung lich strukturierter Informationseinheiten mit


2. Geschichte Hilfe eines Computers. Eine Datenbank läßt
3. Struktur, Aufbau und Typen von Datenban- sich als ein modernes Medium zur (gegen-
ken wärtig noch überwiegend schriftlichen) Kom-
4. Anwendungen munikation begreifen, das zwischen einer so-
5. Künftige Entwicklungen der Datenbanktech- zialen Instanz, die Information bereitstellt,
nologie und einer sozialen Instanz, die Information
6. Datenbanken als Medien der schriftlichen benötigt, vermittelt. Die Behandlung der
Kommunikation theoretischen, technischen und praktischen
7. Literatur Fragen in Zusammenhang mit Datenbanken
erfolgt üblicherweise in der Informatik, den
Informations
- und Dokumentationswissen
-
1. Einleitung schaften sowie in denjenigen Disziplinen, in
Als Datenbank(- system) (engl. data base sy- denen, wie etwa in der Medizin, den Wirt-
stem ) bezeichnet man ein elektronisches Do- schafts
- und den Ingenieurwissenschaften,
kumentationssystem zur Erfassung, Speiche- Datenbanken bereits eine besonders große
rung, Verknüpfung, Auffindung, Sicherung Rolle spielen. Mit den zunehmend schwieriger
und Ausgabe von Daten. Es ermöglicht eine werdenden Fragen der Sicherstellung der
Verarbeitung von sehr großen Mengen ähn- Rechte und Pflichten der an der Datenbank-
kommunikation beteiligten und der von ihr
11.  Datenbanken 159

betroffenen Personen( - gruppen) beschäftigt zeitig verknüpft sie sich mit der Vision einer
sich die Rechtsinformatik. bestimmten Gesellschaftsform, der Informa-
In diesem Kapitel wird keine rein techni- tionsgesellschaft.
sche Darstellung von Datenbanken ange -
strebt. Dazu sei auf die einschlägige infor- 2.1. Vorgeschichte
mationswissenschaftliche Fachliteratur ver -
wiesen (z. B. Henzler 1992; Buder, Rehfeld & Eine der ältesten Funktionen der Schrift bil-
det wahrscheinlich das Speichern geordneter
Seeger, 1990 3 ). Die Darstellung der techni- Daten. Von Beginn an gab es den schriftlichen
schen Aspekte von Datenbanken soll viel-
mehr in eine Analyse ihrer Eigenschaften als Text als Liste, als Aufzählung einzelner Fak-
Kommunikationsmedien eingebettet werden. ten nach einem bestimmten Ordnungssystem.
Diesem Vorgehen liegt die Annahme zu- Der lineare Text mit seiner narrativen Struk-
grunde, daß eine Technologie nur in ihren tur, seiner Beziehung zu fortlaufenden Ereig-
sozialen Zusammenhängen verstanden wer- nisfolgen und Denkprozessen, dürfte dagegen
den kann. In den folgenden Abschnitten wer- ein jüngeres Ergebnis der Schriftgeschichte
den die verschiedenen Aspekte von Daten- sein. Bereits in den protoschriftlichen Syste-
banken in vier Schritten dargestellt. Zunächst men, den Zählsteinen der Altsteinzeit und ih-
wird im zweiten Abschnitt ein historischer rer späteren Verwahrung in versiegelten Ton-
gefäßen, den bullae (vgl. Ehlich 1983; →
Überblick über die Entstehung von Daten- Art. 16), wurden die kognitiven Grundlagen
banken gegeben. Hier soll gezeigt werden, auf für ein schriftliches, listenförmiges Dokumen-
welchen Verfahren der schriftlichen Infor- tationssystem geschaffen. Die weitere Ent-
mationskodierung und technischen Informa- wicklung der Schrift ging dann einher mit der
tionsverarbeitung Datenbanken aufbauen Ausdifferenzierung schriftlicher Dokumenta-
und welchen Informationsbedürfnissen sie tionssysteme in Kalendern, Annalen, Waren-
entgegenkommen. Danach erfolgt in Ab - und Steuerlisten etc. und schuf so ein vielfäl-
schnitt drei die Darstellung der technischen tiges Inventar von Problemlösungsstrategien
Seite von Datenbanken. Im vierten Abschnitt für Dokumentationsaufgaben. In der Folge
werden verschiedene Anwendungsgebiete der der Industrialisierung, der Wissenschafts- und
Datenbanktechnologie vorgestellt. Mittler
- Technikentwicklung sowie der Entstehung des
weile ist hier ein äußerst umfangreicher und modernen Staatswesens mit seinen Teilberei-
ausdifferenzierter Markt entstanden, der die chen Recht, Verwaltung, Finanzwesen etc.
schnell wachsende Bedeutung von Datenban- entstanden Anforderungen zur Anlage von
ken in den verschiedensten gesellschaftlichen Dokumentationssystemen in historisch ein-
Bereichen verdeutlicht. Im letzten Abschnitt maligem Ausmaß. Diese Aufgaben wurden
werden Datenbanken als Kommunikations- lange Zeit mit hand- und druckschriftlichen
medien, die weitreichende Folgen für soziale Verfahren bewältigt. Bereits vor der Einfüh-
Prozesse mit sich bringen, untersucht. rung des Computers existierten daher in ho-
hem Maße ausdifferenzierte und professio-
2. Geschichte nalisierte schriftliche Datendokumentations -
systeme. Karteisysteme, Aktenablagesysteme,
Medientechnische Neuerungen bauen immer Registraturen, Archive, Bibliotheken und
in irgendeiner Weise auf bereits vorhandenen Kataloge bilden die wichtigsten schriftli -
medialen Problemlösungsmustern auf. Übli- chen Texttypen, die auf verschiedenen Ebe-
cherweise geht man davon aus, daß die neuen nen die Voraussetzungen für die Einführung
Lösungen eine Erhöhung des Wirkungsgrades eines elektronischen Dokumentationssystems
oder eine Verbesserung der Zweck- Mittel- Re- schafften (→ Art. 10).
lation erbringen. Diese Konzepte des sog. me- Bereits in den frühesten Phasen der Schrift-
dientechnischen Fortschrittes stimmen jedoch verwendung findet man auch Texte, die den
häufig nicht mit tatsächlichen Entwicklungen Charakter von Formularen, einer wichtigen
überein. Sie beschreiben vielmehr die Visio- Textform für Dokumentationsaufgaben, ha-
nen, die mit einer neuen Technologie ver- ben (z. B. zum Formularcharakter von Bo-
knüpft werden und zu ihrer sozialen Durch- denpachtverträgen in altbabylonischer Zeit
setzung beitragen sollen. Die moderne Daten- vgl. Mauer 1979; zum Texttyp Formular vgl.
banktechnologie ist nun auch nicht voraus- Grosse & Mentrup 1980). Formulare beste-
setzungslos entstanden, sondern besitzt eine hen aus einem in vielfach reproduzierter Ver-
reiche Vorgeschichte, ohne die sie sich nicht sion vorliegenden Schriftsatz mit Aufforde-
so schnell hätte durchsetzen können. Gleich- rungen zu bestimmten schriftlichen Handlun-
160 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

gen, die in Form und Inhalt eng festgelegt medium“ (McLuhan 1964, 8). Zur Entste-
sind (nach dem Muster slot and filler ). Sie hung der neuen Technologie führten insbe-
erzwingen ein uniformes Problemlöseverhal- sondere zwei Faktoren: der exponentiell ge-
ten und uniforme Darstellungsweisen. For- wachsene Informationsbedarf und die Com-
mulare haben auf verschiedenen Ebenen die putertechnologie.
Voraussetzungen für moderne Datenbanken, Die vollständige Etablierung der industri-
speziell das Datensatzformat (→ 3.1.), ge- ellen Produktionsweise in diesem Jahrhun-
schaffen, indem sie die Ersteller und die Be- dert, die Verwissenschaftlichung der Technik
nutzer auf ein fest definiertes sprachliches und und das moderne Staatswesen sprengten die
inhaltliches Inventar verpflichten. Für die Be- Grenzen eines Dokumentationssystems mit
nutzer besitzen sie insbesondere dann einen Papier als Informationsträger (umfangreiches
disziplinierenden Charakter, wenn sie die ein- statistisches Material zu diesem Punkt stellte
zige Kommunikationsform bilden, in der eine z. B. Kreibich (1976) zusammen). Nachdem
gesellschaftliche Aufgabe abgewickelt werden in vielen Bereichen der Gesellschaft die tra-
kann und individuelle Formen der Sachver- ditionsbasierten Formen der Informations -
haltsdarstellung nicht möglich sind. Histo- vermittlung schon durch ein externes Spei-
risch gesehen kommt ihnen also eine starke chermedium verdrängt worden waren, muß-
erzieherische Funktion in der Herausbildung ten nur weitere, bis dahin personengebundene
jener formatierten Verhaltensweisen und Ein- Funktionen des Dokumentationsprozesses
stellungen zu, die in der informatisierten Welt auf externe Träger und Operatoren verlagert
verlangt werden. werden. Wenn z. B. eine Menge von 300 000
Ein weiterer wichtiger Schritt bestand in Patenten (vgl. Henzler 1992) zu verwalten ist,
der Mechanisierung eines Teils der dokumen- dann kann die systematische Suche in dem
tarischen Aufgaben durch sog. Lochkarten- Datenbestand nicht mehr in einer ökonomi-
systeme (vgl. Oberliesen 1982). 1889 meldete schen und konsistenten Weise von Personen
Herman Hollerith ein erstes Patent mit dem alleine durchgeführt werden. Mit der Ent-
Titel Art of Compiling Statistics an. Die Idee wicklung der ersten Computer seit dem Ende
der Mechanisierung geistiger Arbeit hatte hier der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts be-
im Rahmen des Büros eine erste Gestalt ge- gann nun eine neue Ära in der Dokumenta-
wonnen. tionsgeschichte. Die Datenbanktechnologie
Das vorläufige Ergebnis der Geschichte verknüpft sich hier mit der Vision von Infor-
schriftlicher Dokumentationssysteme bestand mation als neuem und zentralem Wirtschafts-
in einem umfassenden Instrumentarium zur faktor.
Sammlung, Ordnung, Speicherung und Wie- Wie viele andere Entwicklungen der Com-
derauffindung von Informationen. Es führte putertechnologie sind auch Datenbanken aus
zur Entwicklung verschiedenster Systemati- militärischen Projekten hervorgegangen. Der
ken, zu ausdifferenzierten schriftlichen Ko- Begriff database, aus dem sich der deutsche
dierungsverfahren, zur weitgehenden Profes- Ausdruck Datenbank (auch Datenbasis ) her-
sionalisierung (Bibliothekare, Archivare, Do- leitet, wurde zuerst 1963 auf einer Tagung des
kumentare), zu spezialisierten Institutionen US- Militärs mit dem Titel Development and
und Organisationen. Auch die Idee, daß nicht M anagement of a Computer-centered Data
nur manuelle, sondern ebenso geistige Arbeit, Base verwendet. Hier wurde bereits folgende
z. B. Büroarbeit, zum Gegenstand von Ratio- Definition festgelegt:
nalisierung und Mechanisierung werden „(1) a database is a set of files
kann, bildete für die folgende Entwicklung (2) a file is a ordered collection of entries
eine wichtige Grundlage. Insgesamt entstand (3) an entry consists of a key or keys and
ein kognitives, ein schriftliches und ein sozia- data“
les Fundament, auf dem eine weitere schrift-
technische Innovation entstehen konnte. (Jones 1986, 33)
Die zivile Entwicklung der Datenbanktech-
2.2. Moderne Datenbanken nologie steht insbesondere in Zusammenhang
mit dem CODASYL- Committee (Conference
Datenbanken im heutigen Sinn bauen weit- On DAta SYstems Language) und der 1965
gehend auf den im vorhergehenden Abschnitt gegründeten Data Base Task Group. Anders
geschilderten Traditionen der schriftlichen In- als viele andere Modelle aus der kurzen Ge-
formationsverarbeitung auf. Hier gilt unmit- schichte der Informationstechnologie, z. B.
telbar die Formulierung McLuhans, daß „the das gesamte Gebiet der Künstlichen Intelli-
»content« of any medium is always another
11.  Datenbanken 161

genz, gelangten Datenbanken sehr schnell aus schnitt soll stärker auf Belange des Nutzers
den Entwicklungslabors heraus und haben als auf solche des Entwicklers einer Daten-
innerhalb kurzer Zeit weltweit zahlreiche An- bank ausgerichtet sein.
wendungsgebiete gefunden. Mittlerweile sind
sie zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor 3.1. Komponenten und Struktur
geworden. Dies hängt insbesondere mit ihrer
langen Vorgeschichte zusammen, wobei ältere Die interne Struktur eines Datenbanksystems
Dokumentationssysteme weitgehend nur in soll unter drei Perspektiven beschrieben wer-
quantitativer Weise (Verarbeitungsgeschwin - den: den technischen Geräten, die für Daten-
digkeit und Verarbeitungsmenge) ersetzt wur- bankoperationen erforderlich sind; der Pro-
den. Zunächst kam es nicht zu qualitativ grammarchitektur eines Systems; und den in-
neuen Arten der Datenverarbeitung. Bis jetzt haltlichen Gesichtspunkten, nach den Daten-
stimmen technische Visionen, tatsächliche banken unterschieden werden können.
Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Be- Hardware. Datenbanken im heutigen Sinn
darf noch überein. Künftige Entwicklungen entstanden zusammen mit der Computertech-
(5.) streben hier wesentlich weitreichendere nologie. Computer bilden somit die zentrale
Veränderungen an. Dort wird in gänzlich Grundlage für alle Operationen der Daten-
neuer Weise eine Funktionsverteilung zwi- erfassung, - speicherung und - wiedergewin-
schen Mensch und Maschine im Rahmen des nung. Waren zunächst die sog. Main- Frame-
Dokumentationsprozesses gefunden werden Computer (Großrechner) die Grundlage für
müssen. Datenbankanwendungen so gewinnt heute
Zur Terminologie. Der deutsche Ausdruck der Personalcomputer (PC) immer größere
„Datenbank(- system)“ geht auf das englische Bedeutung. Großanbieter von Datenbanken
Wort „data base“ bzw. „data base system“ benötigen allerdings weiterhin Rechner mit
zurück („data bank system“ wird im Engli- einer großen Speicherkapazität, insbesondere
schen nur selten gebraucht). Allerdings wird auf der Seite der Nutzer setzen sich jedoch
im Deutschen auch von „Datenbasis“ gespro- PCs durch. Eine wichtige Komponente bilden
chen. Insgesamt ist nun die Terminologie die Speichermedien, die als Magnetplatten
nicht einheitlich. Normalerweise wird „Da- oder optische Speicher auch als externe Me-
tenbank“ als Kurzform für „Datenbanksy- dien verwendet werden können. Zur Hard-
stem“ verwendet, wobei sowohl die eigentli- ware der Datenbankkommunikation gehören
chen Daten als auch die erforderlichen Pro- in vielen Fällen weiterhin Einrichtungen der
gramme für eine einzelne Anwendung ge- Datenfernübertragung. Diese bestehen zu -
meint werden. Der Ausdruck „Datenbasis“ nächst aus der Datenendeinrichtung, häufig
kann sowohl „Daten einer Datenbank“ be- ein PC, der über ein sog. MODEM (Modu-
deuten (analog zu „Wissensbasis“) als auch lation
- Demodulation; technische Anpassung
eine noch nicht recherchierfähige Sammlung zwischen Endgerät und Leitung) an die
von Daten, die für eine Datenbankanwen- eigentliche Übertragungseinrichtung ange
-
dung erst noch aufbereitet werden muß. In schlossen wird. Der PC muß mit einer Kom-
dem vorliegenden Kapitel soll der Ausdruck munikationssoftware ausgestattet sein. Die
„Datenbasis“ in dem ersten Sinn verwendet Datenübertragung erfolgt dann über Kabel
werden. oder über Satelliten, wobei gegenwärtig der
DATEX -P- Dienst der Bundespost für die
Nutzung von Datenbanken große Bedeutung
3. Struktur, Aufbau und Typen von besitzt.
Datenbanken Ein Datenbanksystem besteht neben der
Hardware aus einem Datenbankmanage -
In diesem Abschnitt werden zunächst die we- mentsystem, der eigentlichen Datenbank bzw.
sentlichen technischen Eigenschaften und Datenbasis mit dem Datenbestand und den
Funktionen von Datenbanksystemen erläu - Anwenderprogrammen.
tert. Unter einer medientheoretischen Per- Datenbankmanagementsystem (DBMS).
spektive werden hier diejenigen dokumenta- Mit diesem System (gelegentlich auch Daten-
rischen Aufgaben erläutert, die auf den Com- bankverwaltungssystem ) werden alle Opera-
puter als Informationsträger und - verarbeiter tionen innerhalb eines Datenbanksystems ge-
übertragen wurden. In Abschnitt 3.3. werden steuert. Es handelt sich hierbei also um die
dann die wichtigsten Akteure und Akteurs- Softwarekomponente eines Systems. Der Ent-
gruppen der Datenbankkommunikation vor- wickler definiert mit dem DMBS das Format
gestellt. Die Darstellung in dem gesamten Ab-
162 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

einer Datenbank und organisiert mit seiner die nach einem von dem Entwickler definier-
Hilfe die Daten in Dateien. Weiterhin steuert ten Prinzip, dem Datensatzformat, struktu-
das DBMS alle Operationen des Lesens, Än- riert sind. Die Datensätze bestehen aus Da-
derns, Einfügens und Löschens von Daten tenfeldern, in denen die eigentliche Informa-
der Datenbasis. Für die Anwender werden tion steht. Die Menge, Ordnung und Art der
häufig gesonderte Programme geschrieben Felder bestimmen das Format eines Daten-
(→ 3.2., 4. Online-Retrieval ). satzes. Datenfelder können nach ihrer Länge
Eine Datenbank kann die folgende Struk- und der Art der Zeichen (alphanumerisch,
tur besitzen (Abb. 11.1): boolesch, ordinal etc.) definiert werden.
Datenbankmodelle. In einem Datenbank-
modell werden die logischen Beziehungen
zwischen den einzelnen Datensätzen des Da-
tenbanksystems definiert. Üblicherweise wer-
den drei Datenbankmodelle unterschieden. In
einer hierarchischen Datenbank sind einzelne
Datensätze nach dem System einer Baum-
struktur miteinander verknüpft. Der Eintritt
in ein solches System erfolgt über einen sog.
Anker. Von dort aus kann der Benutzer über
Kettungen zu den gewünschten Datensätzen
weitergehen. Ein Nachteil hierarchischer Da-
tenbanken besteht darin, daß der Benutzer
die gewünschten Datensätze nur dann errei-
chen kann, wenn er sowohl den Anker als
auch das hierarchische System kennt (vgl.
Abb. 11.2).
In einer vernetzten Datenbank können un-
terschiedliche Entitäten bzw. Attribute als
Anker benutzt werden. Diese können nach
Abb. 11.1: Struktur einer Datenbank verschiedenen Modellen untereinander ver -
netzt sein; im Extremfall bilden sie ein sog.
Die Datenbank besteht zunächst aus einer vollvermaschtes Netz, worin von jeder Entität
Menge von Dateien. Die Dateien wiederum auf jede andere zugegriffen werden kann (vgl.
enthalten die Datensätze. Dies sind inhaltlich Abb. 11.3).
zusammengehörende Informationseinheiten,

Abb. 11.2: Hierarchiches Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)


11.  Datenbanken 163

Abb. 11.3: Vernetztes Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)

1. Relation Artikel in Bestellung


ANR ART BNR M
2597 Druckfarbe 10003 50 l
3115 Winkel 10002 150 St.
4911 Buchsen 10001 1000 St.
5312 Härtesalz 10004 20 kg
2. Relation Lieferanten mit Bestellungen der Artikel
LNR LFT BNR ANR ART M
50007 Alchemie 10004 5312 Härtesalz 20 kg
50218 Krüger & Sohn 10002 3115 Winkel 150 St.
50678 Meyer GmbH 10001 4911 Buchsen 1000 St.
50714 Print AG 10003 2597 Druckfarbe 50 l
3. Relation Bestellung der Artikel beim Lieferant
BNR ANR ART LNR LFT M
10001 4911 Buchsen 50678 Meyer GmbH 1000 St.
10002 3115 Winkel 50218 Krüger & Sohn 150 St.
10003 2597 Druckfarbe 50714 Print AG 50 l
10004 5312 Härtesalz 50007 Alchemie 20 kg
Relationales Datenbankmodell mit möglichen Relationen der Beispieldaten
Abb. 11.4: Relationales Datenbankmodell (aus: Computer Enzyklopädie 1989)

Das gegenwärtig wichtigste Modell ist die spielsweise werden in einer bibliographischen
sog. relationale Datenbank. In diesem Modell Datenbank dem Attribut „Autor“ als Werte
werden alle Informationen als Werte von At- alle Autorennamen zugeordnet. Entsprechend
tributen dargestellt. Die Datenbank besteht werden auch alle anderen Datensatzfelder
aus zweidimensionalen Tabellen (bzw. Listen), strukturiert, die den einzelnen Datensatz de-
wobei die Attribute den Kopf der Liste bilden finieren. Die zweidimensionalen Tabellen wer-
und die Werte die einzelnen Einträge: Bei- den Relationen genannt (vgl. Abb. 11.4).
164 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

Typen von Datenbanken. In Abhängigkeit Sprache die Ausgabeoperationen durch. Bis-


von der Struktur des Textes und dem Inhalt herige Versuche der Standardisierung von Re-
der einzelnen Datensätze werden Typen von trieval- Sprachen hatten nur zum Teil Erfolg.
Datenbanken unterschieden. Mit den einzel- Der Informationssuchende muß meistens
nen Typen gehen jeweils besondere Anforde- noch mehrere Sprachen anwenden, die aller-
rungen an die Datenaufbereitung und auch dings nicht so schwer zu erlernen sind wie
an das Retrieval (→ 3.2.) einher. In einer Programmiersprachen.
Volltextdatenbank sind die Primärinformatio- Neben den formalen Verfahren der Infor-
nen als nicht weiter segmentierte Einheiten, mationssuche muß der Rezipient für ein er-
z. B. Zeitschriftentexte, enthalten. Gelegent- folgreiches Retrieval die begrifflichen Grund-
lich sind sie mit Schlagworten bzw. Deskrip- lagen des jeweiligen Fachgebietes und seiner
toren versehen, so daß ein systematischer Zu- Dokumentation kennen. Diese werden in
griff ermöglicht wird. In Faktendatenbanken Klassifikationssystemen bzw. Thesauri zu -
werden die Primärdaten systematisch aufbe- sammengefaßt. Nach DIN 1463 wird ein The-
reitet und in ein definiertes Datensatzformat saurus wie folgt definiert: „Ein Thesaurus im
aufbereitet. Statistische Datenbanken, die Bereich der Information und Dokumentation
auch zu den Faktendatenbanken gerechnet ist eine geordnete Zusammenstellung von Be-
werden, liefern numerische Informationen griffen und ihren (vorwiegend natürlich -
(häufig in Form von Tabellen), z. B. über öko- sprachlichen) Bezeichnungen, die in einem
nomische, fiskalische oder demographische Dokumentationsgebiet zum Indexieren, Spei-
Entwicklungen. Die bibliographische Daten- chern und Wiederauffinden dient.“
bank liefert Sekundärinformationen, indem Bewertung von Datenbankrecherchen. In-
sie auf andere Informationsquellen, die je- nerhalb der Informationswissenschaften wur-
weiligen Schriften, verweist. Insbesondere in den verschiedene Verfahren entwickelt, die
der Chemie werden Formalismendatenban- sich mit der Beziehung zwischen dem Infor-
ken verwendet, die u. a. komplexe Struktur- mationsbedarf und der Qualität der Daten-
formeln enthalten. bankinformation beschäftigen. Insbesondere
zwei Parameter werden hier verwendet (vgl.
3.2. Rückgewinnung der Information aus Henzler 1992, 165/278 f). Die Wiederauffin-
einer Datenbank dungsquote/Vollständigkeitsquote (Recall)
soll die Anzahl der gefundenen relevanten
Die in Datenbanken gespeicherte Information Dokumente an der Anzahl der relevanten Do-
kommt nicht automatisch bei dem Rezipien- kumente in der Datenbank insgesamt ange-
ten an, sie „ruht“ vielmehr in der Datenbank ben. Die Genauigkeitsquote/Relevanzquote
und erfordert eine gesonderte Aktivität auf (Precision) soll die Anzahl der gefundenen
der Rezipientenseite (einen Sonderfall stellen relevanten Dokumente an der Anzahl der ge-
die sog. Profildienste dar; s. u.). Diese Akti- fundenen Dokumente angeben. Diese Verfah-
vitäten heißen Information Retrieval (IR; Wie- ren setzen eine Quantifizierbarkeit der Be-
dergewinnung der Information). Unter IR wertungshandlungen des Informationssu
-
versteht man ein computergestütztes Verfah- chenden voraus, was häufig nicht unmittelbar
ren, das auf der formalen Grundlage von Al- gegeben ist. In der praktischen Datenbankar-
gorithmen nach Informationen in einer Da- beit kann daher hieraus oft nur eine ungefähre
tenbank sucht. Bei dem sog. Offline-Retrieval Einschätzung eines Rechercheergebnisses er-
wird eine vollständige Suchoperation ohne folgen.
weitere Eingriffsmöglichkeiten des Benutzers
gestartet, während er bei dem Online-Retrie- 3.3. Institutionen, Organisationen und
val die Möglichkeit hat, im Dialogbetrieb eine Akteure des Datenbankwesens
Suchoperation schrittweise zu verfeinern. Das
wichtigste Instrument des Retrieval ist die Die Datenbankkommunikation vollzieht sich
Abfrage- oder Retrievalsprache. Über sie wer- in einem komplexen sozialen Netzwerk, das
den alle Kommandos im Rahmen des Online- über zahlreiche ausdifferenzierte Funktionen
Retrieval durchgeführt: Mit ihr kann eine Da- verfügt. Nachdem Datenbanken die For -
tenbank ausgewählt werden; man kann sich schungslabors verlassen hatten, haben sie sich
die Suchbegriffe anzeigen lassen; man führt sehr schnell in der privaten Wirtschaft eta-
die tatsächliche Suche z. B. als Verknüpfung bliert, werden zum Teil aber noch von öf-
zwischen verschiedenen Begriffen durch; ein fentlich-rechtlichen Einrichtungen getragen.
erfolgreiches Suchprofil läßt sich damit spei- Hardware-Hersteller. Alle operativen und
chern; schließlich führt man mit der Retrieval- alle Speicherfunktionen von Datenbankpro-
11.  Datenbanken 165

zessen werden von Computern übernommen. durchgeführt. Gelegentlich wird auch die Be-
Daher bildet die Computerindustrie eine rufsbezeichnung Informationsbroker verwen-
wichtige Komponente, wobei praktisch keine det.
spezifischen Computer für Datenbankpro - Informationsrezipient. Er bildet das letzte
zesse produziert werden. Sie sind in Abhän- Glied in dem durch eine Datenbank vermit-
gigkeit von der Software auf jedem System telten Kommunikationsprozeß. Ihm obliegt
durchführbar. die Übersetzung der in der Datenbank ko-
Netzwerkbetreiber. Online-Datenbanken dierten Information i n einen sozialen Sinn-
sind als Form der Telekommunikation auf zusammenhang. Er muß letztlich auch die
Datennetze angewiesen, die in Deutschland Kosten für alle vorhergehenden Instanzen
mit Ausnahme der Inhouse- Systeme von der aufbringen.
Deutschen Bundespost betrieben werden.
Software-Hersteller. Die Software- Herstel-
ler entwickeln die Computerprogramme, mit 4. Anwendungen
denen einzelne Datenbankmanagementsyste -
me, Abfragesprachen und sonstige Program- Datenbanken haben sich zu einem bedeuten-
me erstellt werden. den Wirtschaftsfaktor entwickelt. Sie werden
Buchhandel. Trotz aller Visionen von dem in einer eigenständigen Wirtschaftssparte, die
„papierlosen Büro“ nimmt der Buchhandel beachtliche Umsatzzuwächse zu verzeichnen
eine wichtige Rolle für Datenbanken ein. hat, vertrieben. Die Nutzung von durch Da-
Ohne technische Handbücher, Informationen tenbanken bereitgestellten Informationen
über Hosts und ihre Angebote wäre die Da- wird ebenfalls mehr und mehr als Bedingung
tenbankkommunikation derzeit noch nicht erfolgreichen Wirtschaftens angesehen. Hier
möglich. Vielfach erfolgt auch der Vertrieb gibt es allerdings noch große ungenutzte Res-
von CD-ROMs über den Buchhandel. sourcen. Nach einer Untersuchung des Ra-
Informationsquellen. Die Informationen in tionalisierungs
- Kuratoriums der Deutschen
einer Datenbasis greifen immer auf bereits Wirtschaft (RKW) betreiben nur 15 Prozent
vorhandene Informationsträger zurück. Dies der befragten Betriebe ein systematisches In-
können gedruckte Informationen sein oder formationsmanagement (vgl. AFI 1991, 7).
komplexe Quellen, etwa personales Wissen. Wenn Information zu einem immer bedeuten-
Datenbankproduzenten. Die Datenbasis- deren Produktionsfaktor wird, dann liegen
produzenten verfassen für ein bestimmtes hier noch große Wachstumsmöglichkeiten.
Sachgebiet aus vorhandenen Informations - Neben Inhouse- Datenbanken und allen an-
deren Anwendungen, die nicht öffentlich sind,
quellen eine Datenbasis. Mit der Übertragung tragen insbesondere zwei Anwendungen zur
auf das elektronische Medium ist in der Regel wirtschaftlichen Relevanz von Datenbanken
eine komplexe Umkodierung der Information bei: Online - Datenbanken und CD - ROMs.
erforderlich. Die hier erstellten Datenbasen Deren Anwendungssituation soll hier exem-
werden dann an Hosts zum Vertrieb weiter- plarisch dargestellt werden.
gegeben. Online-Datenbanken. Unter einer Online-
Hosts. Als Hosts bezeichnet man Organi- Datenbank versteht man heute eine aus der
sationen, die im Rahmen von Online- Recher- Perspektive einer Institution externe Daten-
chen Dialogteilnehmerdienste anbieten. Dazu bank, auf die über ein Telekommunikations-
gehört die Bereitstellung von Leitungen, Paß- netz zugegriffen werden kann. Die Struktur
wörtern, Verträgen, Retrievalsprachen und der Benutzung einer Online- Datenbank sieht
Datenbanken. Manche Hosts bieten auch sog. normalerweise so aus, daß ein Informations-
Profildienste an: Ein Interessent kann sich vermittler an einem Datenendgerät, das über
hier regelmäßig Informationen zu einem be- ein MODEM mit einem Telekommunika-
stimmten Teilgebiet oder einer bestimmten tionsnetz verbunden ist, eine Online- Recher-
Fragestellung zuschicken lassen. Unterschie- che durchführt. Dazu steuert er einen Host
den wird ein Standardprofildienst und ein bzw. Datenbankanbieter an, der normaler-
individueller Profildienst, wobei letzterer auf weise ein Sortiment von vielen verschiedenen
das spezifische Informationsbedürfnis eines Datenbanken hat. Die für die Anfrage rele-
einzelnen Kunden zugeschnitten ist. vante Datenbank wählt der Vermittler an und
Informationsvermittler. Ein Informations- führt hier mittels einer Retrieval- Sprache die
vermittler führt im Auftrag eines Endbenut- eigentliche Recherche durch. Dafür muß er
zers eine Online- Recherche durch. Häufig dann je nach Dauer der Anfrage und Menge
wird diese Aufgabe von Dokumentaren der ausgegebenen Informationen eine Gebühr
166 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

an den Host entrichten. Dieser führt davon werden CD- ROMS vertrieben, und bereits
dann einen Anteil an den Hersteller der Da- 1991 wurden weit über 2000 Titel angeboten;
tenbank ab. Für 1991 kann man von einer derzeit verdoppelt sich etwa jährlich das An-
Zahl von ca. 4500 Online- Datenbanken aus- gebot (vgl. die Kataloge: Handbuch lieferba-
gehen, die von ca. 600 verschiedenen Hosts rer CD- ROMs, CD- ROMs in print, The CD-
angeboten werden und im Gebiet der alten ROM directory). Davon waren ca. 800 Mul-
Bundesrepublik erreichbar waren (vgl. AFI timedia- CDs. Aufgrund der großen Speicher-
1991, 9 und Henzler 1992, 167). In AFI (1991) kapazität dieses Datenträgers wird in den
werden davon ca. 2100 Online- Datenbanken nächsten Jahren sicherlich der Trend weg von
aufgeführt. Der weltweite Umsatz der Anbie- rein schriftlichen Informationen und hin zu
ter betrug nach diesen Quellen 1990 ca. 10 Multimedia- Anwendungen anhalten. Nicht
Milliarden Dollar. Dabei wird der Markt ein- alle CD- ROMs enthalten Datenbanken, son-
deutig von den USA dominiert. Ca. 50 Pro- dern auch Spiele und Volltexte. Auch die in-
zent des Umsatzes entfielen auf sie, ein Drittel haltlichen Schwerpunkte sind hier anders als
auf Europa und ca. 12 Prozent auf Japan. bei den Online- Diensten. 1991 war die Rang-
Die wichtigsten Nutzer in Deutschland sind folge der wichtigsten Gebiete: Freizeit und
das produzierende Gewerbe, gefolgt von Ban- Unterhaltung, Kunst und Geisteswissenschaf-
ken und Versicherungen und schließlich den ten, Computer(programme), Biomedizin,
Dienstleistungsbetrieben. Die Rangfolge der Wissenschaft und Technik, Wirtschaft (vgl.
wichtigsten Nutzungsgebiete lautet gegenwär- The CD- ROM directory 1992, 9). Die An-
tig: Chemie, Biowissenschaften, Patentdaten- schaffungspreise für einzelne CD- ROMs lie-
banken, Wirtschaftsinformationen, wobei der gen gegenwärtig noch relativ hoch, so daß sie
stärkste Zuwachs in dem letzten Bereich zu noch kein Ersatz für z. B. gedruckte Infor-
verzeichnen ist. Derzeit verzeichnet der Markt mationen sein können. Da die Material- und
eine stabile Zuwachsrate von jährlich 23 Pro- die Produktionskosten jedoch sehr gering
zent. sind, werden CD- ROMs bei entsprechender
CD-ROMs. Eine der wichtigsten Neuerun- Verbreitung sehr schnell ein äußerst kosten-
gen in der Speichertechnologie sind die opti- günstiger Träger für Datenbanken sein.
schen (bzw. optomagnetischen) Datenträger, Rechtliche Probleme. Die massenhafte
von denen die CD- ROMs ( Compact Disk- Speicherung von Daten und ihr Angebot in
Read Only M emory ) die derzeit am weitesten Datenbanken wirft erhebliche rechtliche Pro-
verbreitete Anwendung darstellen (nach ähn- bleme auf (vgl. z. B. Goebel 1990; Weingarten
lichen Prinzipien funktionieren CD- I ( Inter- 1994 c). Sofern es sich um personenbezogene
active ), CD-V ( Video ), Mini-CD, DVI ( Digi- Fragen handelt, entstehen Probleme des Da-
tal Video Interactive ) etc.). Diese Datenträger tenschutzes. Durch die beliebige und kosten-
enthalten digitalisierte Informationen, physi- günstige Reproduzierbarkeit elektronisch ge-
kalisch als Rillen einer Platte, die von einem speicherter Daten entstehen Fragen des Ur-
Laserstrahl gelesen werden. Der Zusatz heberrechtes (→ Art. 75). Schäden, die aus
„ROM“ bringt zum Ausdruck, daß sie nur der Anwendung von in Datenbanken gespei-
gelesen werden können und der Rezipient cherten Informationen verursachen, können
keine eigenen Informationen auf den Daten- haftungsrechtlich beurteilt werden. Aus die-
träger schreiben kann. Auf die kleinen und sen Gründen und weiteren rechtlichen Aspek-
leicht transportablen Platten (12 cm Durch- ten wird die Regelung des Zuganges zu Da-
messer) lassen sich Informationen im Umfang tenbanken und die Steuerung verschiedener
von ca. 600 Megabyte speichern, so daß sie Nutzungsformen als zentraler Bedingung bei
auch sehr große Datenmengen aufnehmen der Einrichtung von Datenbanken angesehen.
können. Jeder PC mit einem CD- ROM- Lauf-
werk und der entsprechenden Treiber- Soft-
ware kann als Abspieleinrichtung genutzt 5. Künftige Entwicklungen der
werden. Damit bilden CD- ROMs eine Alter- Datenbanktechnologie
native zu Online- Datenbanken, etwa wenn Seit ihrer Einführung vollzieht die Daten-
von einer Institution regelmäßig auf eine be- banktechnologie einen unaufhörlichen Ent-
stimmte Datenbank zugegriffen werden muß wicklungsprozeß. Es werden immer effizien-
und es nicht auf eine Aktualisierung der Da- tere Verfahren der Speicherverwaltung ein-
tenbestände in sehr kurzen Zeiträumen an- geführt; die Benutzeroberflächen werden
kommt (vgl. Cox 1991; Schwerhoff & Schüler auch für den Nicht- Experten bedienbar ge-
1988). Etwa seit Mitte der achtziger Jahre
11.  Datenbanken 167

staltet; Programmodule erleichtern die Er- Diese hängen unmittelbar mit den Input- und
stellung einer Datenbank; die anfängliche Output- Verfahren zusammen. Die Daten -
Bindung an Main - Frame- Computer wurde struktur relationaler Datenbanken erlaubt
aufgehoben und Datenbanken stehen nun je- nur eine begrenzte Zahl von einfachen men-
dem PC- Besitzer zur Verfügung. Standardi- gentheoretischen Operationen im Rahmen
sierungen der verschiedenen Systeme trugen des Retrieval. Mit der Analogisierung zwi-
weiterhin zur großen Verbreitung der Daten- schen dem menschlichen Geist und dem Com-
banken bei. In ihrer Summe wurden damit puter in der Künstlichen Intelligenz entstand
große Veränderungen gegenüber den anfäng- die Idee, die Datenbasis als Folge von Regeln
lichen Konzepten erreicht. Die Basisarchitek- zu gestalten, analog zur mutmaßlichen Struk-
tur der Datenbankmodelle blieb jedoch weit- tur des menschlichen Wissens. Daraufhin
gehend unverändert. Gegenwärtig zeichnen sprach man von wissensbasierten Systemen
sich nun verschiedene Modelle ab, die bei oder Expertensystemen (vgl. Jackson 1987).
erfolgreicher Einführung zu weitreichenden Durch diese Form der Dokumentation wird
Veränderungen von Dokumentationsprozes - eine erheblich größere logische Durchdrin-
sen führen werden. Es läßt sich noch nicht gung und technische Rekonstruktion des Ge-
mit Sicherheit sagen, ob und wenn ja in wel- genstandsbereiches erforderlich. Dementspre-
cher Form sich diese technischen Visionen chend gibt es bis heute nur sehr wenige er-
realisieren lassen werden. Sie können auch folgreiche Anwendungen. In Zusammenhang
nicht auf so ausgereifte Vorläufer zurückgrei- mit dem maschinellen Lernen steht das Kon-
fen, wie es die Datenbanktechnologie bei ihrer zept der Neuronalen Netze, das am weitesten
Einführung konnte. Viele der neueren An- von der Struktur relationaler Datenbanken
sätze haben sich dem Leitbild der Künstlichen abweicht (Möglichkeiten des Einsatzes von
Intelligenz verschrieben. Sollten sie erfolg- Neuronalen Netzen für Dokumentationsauf-
reich sein, so werden Dokumentationspro- gaben diskutiert z. B. Wilbert 1991). Hiernach
zesse in allen Phasen eine gänzlich neue Qua- bauen einzelne, untereinander vernetzte Pro-
lität erhalten. zessoren ohne zentrale Steuerung selbständig
Der Input-Bereich eines Datenbanksystems eine Datenbasis auf, die letztlich in einer be-
bildet immer noch ein Nadelöhr. An dieser stimmten Netzwerkstruktur besteht. Eben -
Stelle muß eine Übersetzung von einer vor- falls auf dem Netzwerkkonzept basiert der
hergehenden Struktur einer Information in Hypertext. Hier werden einzelne Informa-
diejenige der Datenbank erfolgen. Hier stellt tionseinheiten, die auch Volltexte sein kön-
sich die Frage, ob Teilfunktion dieser Aufgabe nen, in einer von dem Entwickler definierten
aus dem Bereich des menschlichen Handelns Weise miteinander vernetzt (vgl. Kuhlen
ausgegliedert und auf einen Computer über- 1991). Der Benutzer kann sich seinen eigenen
tragen werden können. Die automatische Weg durch das Netzwerk suchen. Da bei Hy-
Schrifterkennung (OCR: Optical Character pertexten die Informationen am wenigsten
Recognition) bildet ein Verfahren, das insbe- umkonstruiert werden müssen, haben diese
sondere für Volltextdatenbanken zu einem bislang die weiteste Verbreitung gefunden.
wichtigen Hilfsmittel geworden ist (→ Art. 9). Eine weitere wichtige Entwicklung künftiger
Die Eingabe in eine höher strukturierte Da- Dokumentationssysteme werden nichtschrift-
tenbank erfordert dagegen eine weitergehende liche Datenbasen sein. Mit kostengünstigen
Umkonstruktion der Information, die nicht und äußerst dichten Speichermedien können
problemlos von einer Maschine zu leisten ist. auch Informationen, die weniger speicher-
Auch mit Verfahren der Automatischen In- ökonomisch sind als die Schrift, in Daten-
haltserschließung kann der Input- Prozeß ent- banken verwaltet werden. Unter den Etiket-
lastet werden (vgl. Buder, Rehfeld & Seeger ten Hypermedia und Multimedia werden ent-
1990 3 ). Die umfassendste Vorstellung zur Au- sprechende Systeme entwickelt.
tomatisierung des Inputs in ein Dokumenta- Ein Bereich, der vor größeren Neuerungen
tionssystem wird in dem Konzept Maschinel- steht, wenn neue Modelle der Datenbasis ent-
les Lernen zusammengefaßt. Danach baut der wickelt werden, ist das Information Retrieval.
Computer selbständig eine Datenbasis auf, Je nach Struktur der Datenbasis können un-
indem er eingehende Informationen nach terschiedliche logische Operationen der Infor-
einem definierten Algorithmus verarbeitet. mationserschließung durchgeführt werden.
Die listenförmige Datenbasis relationaler Viele Verfahren wenden heute den Begriff der
Datenbanken steht ebenfalls vor einer Her- Inferenz an. Aus einer Datenbasis sollen Fol-
ausforderung durch alternative Modelle. gerungen gezogen werden, die auch den Cha-
168 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

rakter von neuer Information besitzen kön- munikationspartner und dem Zeitpunkt der
nen. Zwei neuere Projekte seien hier genannt: Rezeption. Aus diesem Grund können sie
Wenn eine automatische semantische und nicht auf ein gemeinsames Zeigfeld der Kom-
syntaktische Analyse natürlichsprachlicher munikationspartner zurückgreifen, sondern
Texte ( Parsing ) möglich ist, könnten kom- müssen alle relevanten Informationen in
plexe Retrieval- Operationen auf Volltextda- einem systematischen „formatierten“ Sym -
tenbanken angewendet werden. Mit der Wis- bolfeld unterbringen (vgl. Weingarten 1989).
sensbasis von Expertensystemen werden Gegenüber anderen Formen schriftlicher
ebenfalls logisch und in ihrem Informations- Kommunikation besitzt der in Datenbanken
wert anspruchsvollere Retrieval - Operationen verwendete Texttyp weiterhin die Eigenschaft,
angestrebt. Ein wichtiges formales Modell bil- daß der Pfad, den der rezipierende Kommu-
det hier die Fuzzy- Logik. Gänzlich neue Pro- nikationspartner durch die Datenbasis nimmt
bleme des Information Retrieval stellen sich und der Ausschnitt, den er von ihr wahr-
bei Hypermedia Systemen, wenn z. B. auf nimmt, unbekannt sind. Damit entfallen alle
Bilddaten zugegriffen werden muß. ansonsten üblichen textdeiktischen Mittel
Schließlich bilden die Benutzeroberflächen (vgl. Ehlich 1992), aber auch makrostruktu-
eine Komponente, die vor weitreichenden relle Verfahren der Kohärenzbildung, wie z. B.
Veränderungen steht. Die Verbreitung von narrative Strukturen. Diese sind immer an
Datenbanken hängt insbesondere davon ab, eine beiden Kommunikationspartnern be -
daß sie auch für Personengruppen bedienbar kannte Abfolge der Verarbeitungsschritte ge-
sind, die über keine spezialisierte Ausbildung knüpft. Unter diesen Bedingungen haben sich
verfügen. Graphische Benutzoberflächen, die die abstrakten und gegenüber anderen Text-
mit Zeigersystemen bedient werden, haben sorten ungewöhnlich strikten Ordnungssyste-
sich schon für viele Funktionen durchgesetzt. matiken der heutigen Datenbanken wie auch
Das zweite wichtige Konzept versucht, einen bereits der älteren Dokumentationssysteme
natürlichsprachlichen Zugang zu Datenban- entwickelt. Sie verbinden gleichartig struktu-
ken zu ermöglichen. Hier sind erheblich grö- rierte, elementare Textsegmente nach Prinzi-
ßere Probleme zu bewältigen: So lange es pien, die zum Teil sachlogisch begründet wer-
nicht gelingt, einen eng umrissenen Sprach- den (z. B. Fachsystematiken), zum Teil aber
ausschnitt für die Bedienung zu definieren, arbiträr sind (wobei lediglich das alphabeti-
müßte im Prinzip ein komplettes automa- sche Prinzip allgemeiner Kulturbesitz ist; →
tisches Sprachverstehenssystem vorhanden Art. 141). Es handelt sich hier um spezielle
sein. Dies zeichnet sich derzeit aber noch nicht Formen des Weltwissens und eines metatex-
ab. Wahrscheinlich wird sich hier eine Mi- tuellen Wissens, das der Rezipient zum Text-
schung zwischen einem standardisierten und verstehen besitzen muß. Dieses Wissen ist so
einem frei wählbaren Sprachausschnitt her- spezialisiert, daß die Datenbankkommunika-
ausbilden. tion zum Teil nur mit Hilfe sprachlicher Ex-
Diese Konzepte sind nun alle noch nicht perten möglich ist. Damit besitzt sie auch
wesentlich über die Laborphase hinausge- innerhalb der Fachkommunikation einen
kommen. Sie werden sicherlich nur in einer nochmals ausgezeichneten Stellenwert.
stark modifizierten und in ihrem Anspruch Ein weiteres Merkmal des Datenbanktex-
reduzierten Form realisierbar sein. Aber auch tes besteht in dem nahezu vollständigen Ver-
dann werden sie noch zu einer fundamentalen bergen des Autors. Nur in dem Eingangs-
Änderung der Struktur und Funktion für die menü, analog der Titelseite, tritt der Autor
Kommunikation gegenüber dem ursprüngli- (in der Regel eine Institution) sprachlich in
chen Datenbankmodell führen. Erscheinung. In den einzelnen Informations-
einheiten taucht er nicht auf. Damit handelt
es sich um einen objektivierenden Texttyp,
6. Datenbanken als Medien der der in dieser Radikalität wohl nur wenige
schriftlichen Kommunikation Entsprechungen besitzt. Selbst in wissen-
schaftlichen Texten gelingt es nur selten, das
6.1. Datenbanken als Texte Ich
- Verbot durchzuhalten (vgl. Weingarten
1994 b). Zumindest in den sog. Faktendaten-
Datenbanken sind Medien der (z. Z. noch banken dominieren ausschließlich repräsen-
überwiegend schriftlichen) Kommunikation. tative Sprechakte, womit in diesem Texttyp
Sie werden im Rahmen einer komplexen kom- der sprachliche Habitus der „reinen Bereit-
munikativen Handlung verwendet, die mit haltung von Wissen“ ohne weitere kommu-
zwei Unbekannten operieren muß: dem Kom-
11.  Datenbanken 169

nikativen Zwecke besonders deutlich verkör- blemlösungskategorien vorgibt.


pert wird.
Datenbanken lassen sich am besten als 6.2. Datenbanken als soziales Gedächtnis
Textpotentiale bezeichnen. Sie werden von
den Verfassern so konzipiert, daß ihre Kom- Datenbanken besitzen wie andere schriftliche
munikationspartner daraus einen je eigenen Texte auch die Funktion eines sozialen Ge-
Text erstellen können. Dies betrifft zunächst dächtnisses. Dieses spezifische Gedächtnis ist
die Auswahl einer Teilmenge aus den vorhan- mittlerweise so groß, daß die entscheidende
denen elementaren Informationseinheiten. Frage lautet, wie sein Inhalt in sinnvolles so-
Sodann werden die ausgewählten Elemente in ziales Handeln rückübertragen werden kann.
einer bestimmten Weise verknüpft. Bis zu die- Die häufig verwendete Metapher der „Daten-
sem Punkt kann der Text des Rezipienten als friedhöfe“ bringt zum Ausdruck, daß nicht
Potential in der Datenbank angelegt werden. nur der Weg in die Datenbank hinein einen
In modernen Datenbanksystemen, die mit Engpaß durchläuft, sondern auch der Weg
Abfragesprachen und Hilfesystemen ausge- heraus. Dies hängt zum einen mit der Tatsa-
stattet sind, ändert sich der rein repräsentative che zusammen, daß Datenbanken nicht ver-
Charakter des Datenbanktextes. Bei den in- gessen, alte Informationen damit nicht auto-
teraktiven Systemen bzw. bei dem Dialogbe- matisch in den Hintergrund treten. Lediglich
trieb wird gegenüber dem Informationssu- die begrenzten Möglichkeiten der Daten-
chenden der Eindruck erweckt, die Daten- pflege insbesondere in Zusammenhang mit
bank selber sei der Kommunikationspartner dem schnellen Wechsel der Hardware- und
und nicht das Kommunikationsmedium. Be- Software- Generationen bewirken einen quasi-
zeichnungen wie Agenten- oder Assistenten- natürlichen Verfall vieler einmal gesammelter
systeme bringen diese metakommunikative Daten. Dieser in den Informationswissen-
Modellierung zum Ausdruck. Als dominantes schaften vielfach beklagte Prozeß besitzt aus
Interaktionsmuster wird die Frage- Antwort- der Perspektive der Funktion von Datenban-
Verbindung herausgestellt. Allerdings ermög- ken als soziales Gedächtnis auch durchaus
lichen die meisten Systeme auch andere einen positiven Aspekt: In begrenztem Um-
sprachliche Handlungen auf seiten des Infor- fang wird das Gedächtnis durch den unge-
mationssuchenden (Aufforderungen, Ant
- steuerten Verfall alter Informationen entla-
worten) und Quasi- Handlungen auf seiten des stet. Mit der permanenten Erneuerung der
Systems (Aufforderungen, Fragen, Erklärun- technischen Informationsträger wurde so ein
gen, Warnungen). Der Verzicht auf den rein unbeabsichtigter Filter in dieses Tradierungs-
repräsentativen Charakter des Datenbank - verfahren eingebaut.
textes und die Anthropomorphisierung des Ein erheblich größeres Problem dieses so-
Mediums geht vermutlich auf eine Tendenz zialen Gedächtnisses besteht in dem immer
der Informationssuchenden zurück, ihrer - größer werdenen Mißverhältnis zwischen der
seits schon überkomplexe Computerprozesse ständig wachsenden Menge und Ausdifferen-
zu anthropomorphisieren (vgl. Weingarten ziertheit der gespeicherten Informationen und
1988 a). Dies wurde dann von den Software- den begrenzten Möglichkeiten sozialer Sy-
entwicklern systematisch umgesetzt. steme, diese wieder in sozialen Sinn zu inte-
Aus der Sicht des Informationssuchenden grieren. Gelegentlich wird dieses Problem
stellt sich die durch eine Datenbank vermit- durch die Gegenüberstellung der Begriffe In-
telte Kommunikation so dar, daß er sein In- formation und Wissen zum Ausdruck ge-
formationsbedürfnis zunächst nach den Maß- bracht (z. B. Frühwald 1986). Die Zukunft
gaben der Systematik der Datenbank refor- der Datenbanktechnologie wird wesentlich
muliert. Bei Frage- Antwortsystemen nimmt davon abhängen, ob es gelingt, die soziale
der Rezipient eine permanente verfeinerte An- Relevanz massenhaft gespeicherter Informa-
passung seiner Problemformulierung vor (vgl. tionen zu erhalten. Die Vereinheitlichung von
Weingarten 1988 b; eine ausführliche Doku- Produkten, technischen Verfahren, Institutio-
mentation einer Datenbankabfrage zusam - nen sowie begrifflichen Systematiken jeglicher
men mit einem Dialog zwischen dem Infor- Art kann hier in einem gewissen Umfang
mationsvermittler und dem Informationssu- eine Hilfe darstellen. Letztlich setzen aber
chenden findet man z. B. in Weingarten & die nicht beliebig ausdehnbaren und formba-
Fiehler 1988). Bei diesem Anpassungsprozeß ren menschlichen Verstehensfähigkeiten einen
dürfte es sich um einen Lernprozeß handeln, Rahmen, der auch der medientechnischen
der auch längerfristig dem Benutzer die Pro- Entwicklung vorgegeben ist.
170 II. Materiale und formale Aspekte vonSchrift und Schriftlichkeit

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12. Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrer


historischen Entwicklung

1. Grundlagen diesem Handbuch verwiesen.


2. Frühgriechische Buchstabenformen (ca. 750 Im weiteren beschränken sich unsere theo-
bis 403 v. Chr.) retischen Vorüberlegungen auf Kriterien und
3. Buch- und kursivschriftliche Entwicklungen Kategorien einer kognitivistisch fundierten
des griechischen Alphabets bis in die Neuzeit Morphologie der Elemente unseres westlichen
4. Lateinische Buchstabenformen von der ar- Alphabets (diachronisch und synchronisch).
chaischen bis zur klassischen Lapidarschrift Rein geometrisch-konstruktiv gesehen ist
5. Entwicklungen der lateinischen Schrift vom es eine beinahe triviale Aufgabe, die Buchsta-
1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 8. Jahrhundert benformen der Versal- und Minuskelreihe
n. Chr. unseres Alphabets aus einer kleinen Menge
6. Von der karolingischen zur „gotischen“ Mi- von geometrischen Grundelementen aufzu-
nuskelschrift. Humanistischer Zugriff auf die konstruieren; etwas schwieriger ist es, diesel-
Karolinger Minuskel ben Formen durch algebraisch-topologische
7. Literatur Gleichungen zu erzeugen (vgl. z. B. Harary
1969).
Im folgenden wird jedoch deutlich werden,
1. Grundlagen daß solche von den Bedingungen des Schreib-
In diesem Beitrag wird versucht, die Morpho- und Leseprozesses losgelösten Rekonstruktio-
genese des griechischen und lateinischen Al- nen keine geeigneten Grundlagen für eine
phabets zu beschreiben und Erklärungsan- kognitiv-realistische Theorie der Morpholo-
sätze zu Formentwicklungen auf kognitivisti- gie der Elemente unseres Alphabets sein kön-
scher Basis zu liefern. nen. Dies gilt sowohl für dessen historische
Es wird davon ausgegangen, daß eine voll- Entwicklung über die zurückliegenden ca.
ständige Grammatiktheorie analog und par- 3500 Jahre, als auch für eine kognitivistisch
allel zur Phonetik und Phonologie auch über befriedigende Darstellung und Erklärung der
eine Komponente verfügen sollte, in der die schreibmotorischen (kinemischen) bzw. vi-
graphische Ausdruckssubstanz — in unserem suell-rezeptiven (phanemischen) Faktorenzu-
Falle Alphabetschriften — mit ihren jeweili- sammenhänge beim aktualen Vollzug von
gen Form- bzw. Gestaltregularitäten erfaßt Schreib- und Leseakten (vgl. McClelland &
wird. Dabei sollen folgende Entsprechungen Rumelhart 1981; Marshall 1987 ). Gezeigt
gelten: artikulatorische Phonetik — pro- werden soll im weiteren, wie die historischen
duktionale oder Kineto-Graphetik; auditive Veränderungen der Buchstabenformen auf
Phonetik — rezeptive oder Phano-Graphetik. der Basis von kinemisch-phanemischen Be-
Der eigentlich phonologischen Komponente dingungszusammenhängen von Mengen von
soll eine graphemische entsprechen, mit Allo- Schreib- und Leseakten plus einiger Rand-
Regeln und der üblichen funktionalen In- bedingungen wie Schreibmaterial und der
variantenbildung. Beide, Phonologie und Hierarchisierung von Schriftausformungen
Graphemik, lassen sich auf jeweils einem (monumental bis kurrent-kursiv) und Krite-
System distinktiver Merkmale aufbauen, wo- rien wie Homogenität/Heterogenität der For-
bei klar ist, daß unser westliches Alphabet menmenge des Gesamtalphabets und der
nur e i n e mögliche Lösung für ein phono- Schreibökonomie einzelner Buchstaben und
graphisches System ist. Die je nach Einzel- Buchstabensequenzen in textu zu verstehen
sprache unterschiedlichen Abbildungsbezie- sind (vgl. zur Diskussion dieser Kriterien
hungen zwischen den Einheiten der pho- Brekle erscheint). Anders gesagt soll der hier
nemischen und graphemischen Komponente verfolgte Ansatz deskriptiv und explanativ die
können in sprachspezifischen graphophone- für diachronische Veränderungen u n d die für
mischen Brückenkomponenten, etwa im Sin- aktuale Schreib- und Leseakte anzunehmen-
ne von Bierwisch (197 2), erfaßt werden (vgl. den Prinzipien und Einflußgrößen auf die Ge-
stalt von Buchstaben und deren visueller
auch Catach 1990). Für weitere Überlegungen Wahrnehmung integriert erfassen. Angestrebt
zum Verhältnis von gesprochener und ge- wird also eine Art von Prinzipien- und Pa-
schriebener Sprache wird auf Coulmas (1989, rametertheorie für die Morphologie der Ele-
Kap. 1—3) und auf einschlägige Artikel in mente unseres Alphabets. Damit unterschei-
172 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

det sich der hier verfolgte Ansatz methodo- ellen Wahrnehmungsraum steht die buchsta-
logisch und hinsichtlich seiner Erkenntnisin- benforminterne Entwicklungspräferenz der
teressen ganz wesentlich von der traditionel- vertikalen Geradlinigkeit in westlichen Al-
len, kaum theoriegeleiteten antiquarisch-phi- phabeten. Diese topologisch prominente Ei-
lologischen Epigraphik und Paläographie. genschaft kann auf piktographischer Basis
Gleichwohl basieren die folgenden Untersu- natürliche Gründe haben, sie kann jedoch
chungen ganz wesentlich auf den oft subtilen auch schreibmotorisch induziert sein, nämlich
Beschreibungen und Einzelanalysen von Ver- durch vertikale finale Abstriche einer Buch-
tretern dieser venerablen Disziplinen. stabenform (= kinemische Hasta), z. B. beim
Ein Problem, mit dem sich jeder, der ir- Übergang von protophönizisch > phö-
gendwelche Schriftzeichen auf Beschreibma- nizisch-altgiechisch (= K); von protophö-
terialien mit dem jeweils adäquaten Beschrei-
bungsinstrument zu fixieren versucht, ausein- nizisch > phönizisch > griechisch-
ander zu setzen hat, ist die Orientierung der lateinisch ; von protophönizisch > phö-
Zeichen im normalerweise zweidimensionalen nizisch > griechisch-lateinisch .
Schreib- und Leseraum. Die Entscheidung des Wie im einzelnen genauer gezeigt werden
Schreibers fällt unter normalen Bedingungen kann (Brekle erscheint), läßt sich an dieser
(z. B. keine Beschränkungen durch Umge- buchstabeninternen Vertikalität (plus buch-
bungsbedingungen, Form des Schreibmateri- stabendifferenzierende „Anhänge“ oder cau-
als u. ä.) zugunsten der vertikalen Orientie- dae ) ein wichtiges und die gesamte morpho-
rung des einzelnen Schriftzeichens, das für logische Entwicklung unseres Alphabets do-
den Schreiber ein Oben und ein Unten hat. minierendes Strukturprinzip festmachen: das
Diese schriftzeichenintrinsische Oben-Unten- Hasta + Coda-Prinzip. Spätestens auf der
Struktur kann im Falle der Ikonisierung (z. B. praktisch vollständig de-ikonisierten phöni-
altsemitisch rosch → ) aus der natürlichen zischen Entwicklungsstufe (ca. 1100 v. Chr.)
Orientierung des Vorbildes übernommen sein; unseres Alphabets treffen wir auf Buchsta-
sie kann jedoch auch konventionell oder bengestalten (bis auf zwei Ausnahmen
schreibfunktional bedingt zustande kommen. und betrifft dies alle 22 Elemente des
Definiert man Vertikalität anthropomorph als phönizischen Alphabets), deren schreibkine-
ideale körpermittige Achse, dann ergibt sich tisches Programm durch einen initialen oder
zwanglos als zweite Orientierungsdimension finalen Abstrich (= kinemische Hasta) cha-
die Links-Rechts-Erstreckung. Jeder visuell rakterisiert ist; an diesem mehr oder weniger
wahrgenommene, durch Hell-Dunkel-Diffe- vertikalen Basis„stab“ hängen die Codaele-
renzen konturierte Gegenstand hat für uns in mente (z. B. phöniz. ). Dabei kann
der Regel — natürlich oder konventionell —
seine normale Stellung in diesem Koordina- plausibel gemacht werden, daß die buchsta-
tensystem. Zieht man nun auch noch in Be- beninterne Produktionsrichtung im Phönizi-
tracht, daß diese Orientierungsachsen in neu- schen — wie auch in allen späteren westlichen
ronalen Verarbeitungs- und Repräsentations- Alphabeten und im Hebräischen (nicht im
prozessen quasi als Konstanten fest einpro- Arabischen) dextral war bzw. ist; d. h. ideali-
grammiert sind, so ist damit eine erste Ebene ter begann ein Phönizier eine Buchstabenform
für eine kognitiv-realistische Beschreibung von links und endete rechts (z. B.
und Erklärung der Situierung von Schriftzei- = /j/ oder /p/ etc.).
chen im Schreib- und Leseraum gewonnen. Die Schreibrichtung, d. h. die Sequenzie-
Es kann nun schriftvergleichend und schrift- rung der Buchstaben in der Zeile verlief im
historisch gezeigt werden, daß dieses Koor- Phönizischen (wie auch in allen späteren se-
dinatenschema grundsätzlich für alle histo- mitischen Schriften) von rechts nach links
risch bekannten Schriften gilt. Streng empi- (= sinistrograd); dies galt auch noch im Alt-
risch gesehen, ist diese Aussage natürlich cum griechischen, das erst im 6. Jahrhundert
grano salis zu nehmen; aufgrund verschiede- v. Chr. über boustrophedon-Zeilenfolgen
ner Randbedingungen (z. B. Grad der Kur-
sivität einer Schrift, extrem geformte Schreib-
materialien) können sich die historisch-kon-
kreten Manifestationen dieses Prinzips vom
Idealtypus mehr oder weniger weit entfernen.
In engem Zusammenhang mit diesem evo-
lutionär und kognitivistisch fundierten Prin- zur reinen dextrograden Schreibrichtung
zip der vertikalen Orientierungsachse im visu- fand, vgl. die etwas anders laufende Argu-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 173

mentationsrichtung in de Kerckhove (1988) strukturen geklärt werden. Wie eine solche


und die Kritik dazu in Brekle (erscheint). Aus Verteilung in „geregelter“ Weise erfaßt und
dem dabei stattfindenden gleichsinnigen dargestellt werden kann, hat Watt in seinen
Wechsel der buchstabeninternen Vektorialität Arbeiten seit 197 5 für die kinemische und
bei vertikalaxial asymmetrischen Buchstaben- phanemische Modalität der Versalreihe unse-
formen („der Buchstabe blickt in die jeweilige res Alphabets maximal detailliert gezeigt. Ob
Schreibrichtung“; d. h. dextrograd ≙ dextral jedoch den Wattschen kinemischen und pha-
bzw. sinistrograd ≙ sinistral; für den kine- nemischen Programmen in allen Einzelheiten
mischen, den Produktionsmodus galt diese auch eine kognitivistische Begründung gege-
Gleichsinnigkeit vermutlich nur partiell; dex- ben werden kann, bleibt vorläufig eine offene
trograd = dextral; sinistrograd  sinistral, Frage.
vgl. oben) läßt sich schließen, daß die altgrie- Es erscheint einleuchtend, daß für die Be-
chischen Schreiber und Leser so etwas wie schreibung und Erklärung der Verteilungen
eine Intuition über buchstabeninterne Vek- von Rekti- und Kurvilinearität auch die fol-
torialität und ihren Gleichklang mit der genden Vor- und Randbedingungen adäquat
Schreib- bzw. Leserichtung gehabt haben erfaßt werden müssen.
könnten. Diese Gleichsinnigkeit von buchsta- Es gibt jeweils verschiedene Grade der Kur-
beninterner Vektorialität und Schreib- bzw. sivität bzw. Monumentalität. Interdependent
Leserichtung könnte bei der Generalisierung müssen die schreibphysikalischen Eigenschaf-
des dextrograden Verfahrens ein entscheiden- ten der aufeinander abgestimmten Schreib-
der Faktor gewesen sein; die phönizisch-alt- materialien berücksichtigt werden. Griffel
griechische Gegensinnigkeit sinistrograd-dex- und Wachstafel lassen den Schreiber zu einer
tral wäre damit beseitigt gewesen. Im Zusam- Kursive mit vermehrt rektilinearen Zügen ten-
menhang damit könnte auch die im 6. Jahr- dieren. Die „Eckigkeit“ der Runenbuchstaben
hundert v. Chr. weitgehend vollzogene Sym- erklärt sich zwanglos aus dem vermutlich
metrisierung einiger Buchstabenformen — häufig gebrauchten Beschreibstoff (Fichten-)
zumindest in der Monumentalschrift — ge- Holzbrettchen. Schilfrohr (Kalamus) oder
sehen werden: > , > , > , Vogelfeder + Tinte „passen“ gut zu Papyrus,
> . Die vertikalaxial asymmetrische Hasta Pergament und Papier. Läßt man kostenöko-
+ Coda-Struktur eines großen Anteils — je nomische Faktoren außer acht, so eignen sich
nach Entwicklungsphase schwankend — der diese Schreibmaterialien gleichermaßen für
Elemente der altsemitisch-westlichen Alpha- litterae currentes wie für litterae formatae.
bete läßt sich im übrigen auch durch neuro- Wie zu zeigen sein wird, finden kurrentschrift-
logische und wahrnehmungspsychologische liche Entwicklungen — im Gegensatz zu
Evidenzen als phanemisch „gute Gestalt“ be- buch- und monumentalschriftlichen — ihren
gründen (vgl. Harcum 1964, Kolers 1969, Extrempunkt in der verbundenen Schrift, d. h.
197 5, 197 8, 1980, 1983, Kolers & Perkins die Feder verläßt innerhalb einer Wortform
197 5, und die Diskussion in Brekle erscheint, die Beschreibfläche nicht, der Schreiber
3.3.). macht also keine „Luftzüge“. Es ist klar, daß
Nach diesen knappen Andeutungen sollte in diesem Fall die Kurvilinearität dominieren
nachvollziehbar sein, daß das Vertikalitäts- kann, nicht muß (vgl. die sog. deutsche Kur-
und das Hasta + Coda-Prinzip kinemisch rentschrift). Stein und Meißel können zwar
und phanemisch kognitiv verankert werden grundsätzlich jede Schrift abbilden; aus poli-
können und die sich aus der Schriftproduk- tisch-hierarchischen und/oder textfunktiona-
tion und -wahrnehmung ergebenden topolo- len Gründen finden sich jedoch überwiegend
gischen Kategorien (vertikalaxiale (A)-Sym- monumentalschriftliche Ausprägungen, die in
metrie, Vektorialität) als für eine noch ausste- aller Regel vom „ordinator“ mit Feder, Kohle
hende Theorie der distinktiven graphemi- oder Pinsel auf der Steinfläche vorgezeichnet
schen Merkmale bzw. für eine theoretisch fun- wurden.
dierte Morphologie unserer Schrift wesent- Will man einen der wichtigsten Entwick-
liche Bausteine angesehen werden können. lungsschritte unseres Alphabets historisch-
Schließlich muß zur detaillierten Erfassung empirisch korrekt beschreiben und möglichst
der morphologischen Binnenstruktur der auch noch theoretisch tragfähig erklären,
Buchstaben die Verteilung solcher Qualitäten dann muß auch das Phänomen der vertikalen
wie Rektilinearität und Kurvilinearität auf die Stufung von Buchstabenformen angemessen
durch Symmetrien/Asymmetrien und Vekto- berücksichtigt werden. Es geht um die Her-
rialitäten nur abstrakt erfaßten Buchstaben- ausbildung des sog. Minuskelalphabets, um
174 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dem Übergang von einem Zweilinien- zu tenphoneme des Phönizischen abbilden (vgl.
einem konventionell geregelten Vierlinien- Abb. 12.1).
schema bzw. um den Schritt von der Einstu- Die Namen der phönizischen Buchstaben,
figkeit zur Dreistufigkeit. Unsere heutige die wenigstens teilweise semitischen Lexemen
Schrift besteht aus zwei Teilalphabeten (darin entsprechen, machen das akrophonische Prin-
unterscheidet sie sich von allen anderen zip zumindest im Ansatz plausibel (vgl. kri-
Schriften): den Versalien, die morphologisch tisch Gelb 1963, 138 ff): ’alep, bet, gimel, da-
ziemlich genau (eingeschränkt wegen J, U und let, he, waw, zayin, ḥet, ṭet, yod, kap, lamed,
W) der klassischen capitalis quadrata entspre- mem, nun, samek, ‛ayin, pe, ṣade, qop, resch,
chen (Zweilinienschema), und den Minuskeln, schin, taw. Ersehen läßt sich aus dieser Na-
die ausgehend von römischen Kursivschriften mensreihe auch die grundsätzliche Beibehal-
in einer im Detail nicht immer leicht nach- tung der kanonischen Reihenfolge der Buch-
vollziehbaren Folge von Entwicklungsschrit- staben im griechischen Alphabet und die mor-
ten in der Karolinger Minuskel kanonisiert phonologisch bedingte Angleichung der Na-
wurden (Vierlinienschema). Der „Erfolg“ des men im Griechischen.
Minuskelalphabets, das ja als unmarkierter Ein Vergleich dieser sieben kolonialphöni-
Fall recht eigentlich als unsere Schrift auf- zischen Alphabete mit den nachfolgend ge-
zufassen ist — Versalschrift bildet in mehr- zeigten sinistrograd ausgerichteten frühgrie-
facher Hinsicht den markierten Fall — dürfte chischen Alphabeten (ebenfalls nicht immer
nicht zuletzt auf der guten visuellen Diskri- vollständig) zeigt auf den ersten Blick nur
minierbarkeit dieser Buchstabenformen in se- wenige morphologische Unterschiede.
quentia beruhen. Anders gesagt, es wurde ein Eine vergleichende Diskussion der Mor-
schreib- und lesefunktional günstiger Grad an phologie der einzelnen Buchstaben nach den
Heterogenisierung erreicht. oben unter 1. vorgestellten Kriterien und Ka-
tegorien ergibt folgendes (vgl. Abb. 12.2 und
12.3):
2. Frühgriechische Buchstabenformen alpha : Die sehr frühen Alphabete 1 und 2
(ca. 750 bis 403 v. Chr.) zeigen noch „liegende“ Formen, die insoweit
dem phönizischen Vorbild entsprechen; ihre
Der Beginn dieses Zeitraums ergibt sich Spitzen zeigen jedoch nach rechts, während
zwangsläufig aus den frühesten dokumentier- alle phönizischen ’ alep- Formen, die ursprüng-
ten Inschriften; als Endpunkt wird das Datum lich einen Ochsenkopf im Halbprofil darstell-
der athenischen Entscheidung (403 v. Chr.) ten, mit ihren Spitzen nach links in Schreib-
über die Verbindlichkeit des ionischen Al- richtung weisen. Ein möglicher Grund für
phabets für den griechischen Sprachraum diese Abweichung von der phönizischen
angenommen. Das Ende des 5. Jahrhunderts Norm mag in der intuitiven vektoriellen Re-
v. Chr. rechtfertigt sich — wie zu zeigen ist — interpretation dieser Buchstabenform durch
vor allem durch die Abschlußphase der früheste griechische Schreiber zu suchen sein:
grundlegend wichtigen Entwicklungstendenz sie könnten nämlich — in Analogie zur Mehr-
der frühgriechischen Alphabetausformungen, zahl der frühgriechischen Buchstabenformen
nämlich der vertikalaxialen Symmetrisierung
und der Rektangularisierung jeweils einer — die Öffnung dieser Buchstabenform nach
Teilmenge der Buchstabenformen, der defi- links als mit dem Hasta + Coda-Prinzip besser
nitiven Festlegung der dextrograden Schreib- übereinstimmend empfunden haben als die
richtung und der Eingrenzung der Höhen- insoweit prinzipienlose phönizische Form.
entwicklung der Buchstabenformen in einem Gleichzeitig oder wenig später setzte sich da-
Zweilinienschema (letzteres gilt jedenfalls für gegen jedoch das Prinzip der vertikalen Ori-
monumentale und buchschriftliche Textma- entierung einer Buchstabenform im Schreib-
nifestationen; ausgeprägt kurrentschriftliche und Leseraum durch, mit der Folge, daß die
Belege fehlen für diesen Zeitraum). „liegende“ Form des frühesten alpha im Ge-
genuhrzeigersinn um ca. 90° gedreht wurde
Als augenfälligen Nachweis für die Über- und so auf seine „Füße“ zu stehen kam (vgl.
nahme des phönizischen Alphabets in seiner die Alphabete 10—16). Der Effekt dieser Ver-
Morphologie wie sie sich im 8. Jahrhundert tikalorientierung ist eine optimale Anpassung
v. Chr. zeigt, seien sieben — teilweise unvoll- an das Hasta + Coda-Prinzip: an die rechte
ständige — kolonialphönizische Alphabete vertikale Hasta schließt sich die Coda-Kon-
vorgestellt. Sie bestehen grundsätzlich aus 22 figuration in Form eines schräg angehängten
Buchstaben, die ihrerseits die 22 Konsonan-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 175

Abb. 12.1: Alphabete kolonialphönizischer Inschriften, 8. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1975, 132 f).
In der Referenzzeile erscheinen auch die Buchstabenformen für digamma, qoppa und san, die im griechischen
Alphabet nur zur Zahlenschreibung verwendet werden.
1. Schale aus Kition, Zypern, ca. 800 v. Chr. 5. Karatepe-Inschriften, ca. 725 v. Chr.
2. Krug, Zypern, 1. Hälfte 8. Jh. v. Chr. 6. Gold-Anhänger, Karthago, ca. 700 v. Chr.
3. Ba‛1-Inschrift. Zypern, 3. Viertel 8. Jahrhundert 7. Malta-Stele, spätes 8. Jahrhundert v. Chr.
v. Chr. * = beschädigte Form
4. Sevilla-Statuette, Spanien, 2. Hälfte 8. Jahrhun-
dert v. Chr.

T an; die interne Sinistralität der Form „paßt“ beta : Die frühgriechischen Ausprägungen die-
nun exakt zur sinistrograden Schreib- und ses Buchstabens zeigen ebenfalls — vor allem
Leserichtung. In den Alphabeten 7 bis 12 wird in ihrer geographischen Streuung (vgl. Jeffery
jedoch deutlich, daß auch diese „Lösung“ in 1961; McCarter 197 5, 91 ff) — eine gewisse
Konkurrenz mit einer anderen Tendenz steht, Variationsbreite. Die Konvention, die sich
die sich vor allem bei den im frühen 7 . Jahr- schließlich bis heute durchgesetzt hat, ent-
hundert v. Chr. auftretenden sog. Zusatz- spricht optimal dem Hasta + Coda-Prinzip:
buchstaben , aber auch schon bei senkrechte Hasta + zwei übereinander ste-
hende Coda-Bögen. Als Grund dafür könnte
heta, omikron und tau zeigt, nämlich die ver- gelten, daß die phönizische Bet -Form sich von
tikalaxiale Symmetrisierung. Mit dieser Aus- der Pe- Form nur durch den nach links ab-
prägung des alpha, der Form A, ist für das geschlossenen Codabogen unterschied; die
griechische und lateinische Alphabet in sei- frühgriechischen Schreiber entschieden sich
ner monumentalschriftlichen Dimension das deshalb für eine stärkere morphologische Dif-
Endstadium erreicht. Im Sinne der Konven- ferenzierung dieser beiden Buchstabenfor-
tionstheorie von David Lewis (197 5) können men. Als „Zwischenlösung“ kann die therä-
die drei genannten Ausformungen des Alpha ische Form im Alphabet Nr. 8 — ein am
als konkurrierende Lösungen eines Koordi- Kopfende gespiegeltes phönizisches bet — an-
nationsproblems aufgefaßt werden, wobei gesehen werden.
sich die vertikalaxial symmetrische Struktur gamma : Auch hier sind frühgriechische Vari-
als bis heute gültige Konvention (mit Aus- anten festzustellen: das der phönizischen
wirkungen auf die Entwicklung anderer spitzwinkligen Form entsprechende gamma in
Buchstabenformen wie H, M, N, Y, V und Nr. 14, das schiefwinklige in Nr. 7 und das
Z) durchgesetzt hat (vgl. Brekle 1987).
176 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.2: Alphabete der frühesten griechischen Inschriften, 8./7. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1975,
134 f)
1. Dipylon-Weinkrug, attisch, ca. 725 v. Chr. 5. Steinscheibe, athenische Akropolis, spätes 8.
2. Lacco Ameno-Scherbe, Euböa (?), Mitte 8. Jahr- Jahrhundert v. Chr.
hundert v. Chr. 6. Ägina-Dipinto, 720 bis 710 v. Chr.
3. Pithekoussai-Skyphos, Euböa, Letztes Viertel 8. 7. Mantiklos-Statuette, böotisch, 1. Viertel 7. Jahr-
Jahrhundert v. Chr. hundert v. Chr.
4. Tasse aus Rhodos, spätes 8. Jahrhundert v. Chr. 8. Graffiti aus Thera (Santorin), spätes 8. und frü-
hes 7. Jahrhundert v. Chr.

rechtwinklige gamma in Nr. 12; in dieser numentalschriftliche lateinische Alphabet


Form manifestiert sich wie in anderen Buch- übernommen wurde.
stabenformen die Präferenz für Rektangula- epsilon : Morphologisch ist dieser Buchstabe
rität. Die in Nr. 10 erscheinende Form kann in frühgriechischer Zeit mit der Form des
auf der Basis etwa des gamma in Nr. 7 als phönizischen he praktisch identisch (die Va-
kurrentschriftlich bedingte Beschleunigungs- rianten in Nr. 10 und 13 sind morphologisch-
form gedeutet werden; sie erscheint wieder in genetisch zu vernachlässigen). Sowohl die
der lateinischen Schrift und hat sich dort so- phönizische wie die griechische Form ge-
wohl im Majuskel- wie im Minuskelalphabet horcht vollständig dem Hasta + Coda-Prin-
durchgesetzt. zip. Die entscheidende Veränderung zur klas-
delta : Zwei Typen frühgriechischer Varianten sischen Form E liegt in der Rektangularisie-
sind feststellbar: 1. vertikalaxial asymmetri- rung der Coda-Anschlüsse an die vertikale
sche, die insoweit phönizischen Vorbildern Hasta (unter gleichzeitiger Vermeidung der
entsprechen und wie diese klar dem Ha- nach oben und/oder unten überschießenden
sta + Coda-Prinzip gehorchen; 2. vertikalaxial Hasta-Striche).
symmetrische Formen (gleichschenkliges digamma
Dreieck). Bei 1. gibt es wiederum zwei Un- ( fau ): Dieser Buchstabe — wie auch
terklassen: das auf einer Ecke stehende delta seine lautliche Entsprechung, ein wohl bila-
mit senkrechter Hasta (vgl. Nr. 8) und das bialer Halbvokal — hatte im griechischen Al-
fast zeitgleiche in Nr. 7, das — wie bei gamma phabet eine prekäre Existenz (vgl. Wachter
— als kurrentschriftliche Beschleunigungs- 1987 b, § 10). Der Name fau, die Form und
form zu deuten ist und als solche in das mo- Reihenfolge im Alphabet stammen zweifels-
frei aus dem Phönizischen (vgl. McCarter
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 177

Abb. 12.3: Alphabete früher griechischer Inschriften, 7. Jahrhundert v. Chr. (aus McCarter 1974, 136 f)
9. Aetos-Weinkrug, Ithaka, ca. 700 v. Chr. 14. Ankylion-Epitaph, Thera, frühes 7. Jahrhun-
10. Scherben aus dem Töpfer-Viertel, Korinth, ca. dert v. Chr.
700 v. Chr. 15. Graffiti vom Berg Hymettos, attisch. 1. Viertel
11. Argivische Tasse, kleonäisch (?), frühes 7. Jahr- 7. Jahrhundert v. Chr.
hundert v. Chr. 16. Thebanische Lebes-Inschrift, böotisch, 1. Vier-
12. Wachstäfelchen aus Marsiliana, euböisch, 1. tel 7. Jahrhundert v. Chr.
Hälfte 7. Jahrhundert v. Chr. * = beschädigte Form
13. Tonkästchen aus Syrakus, frühes 7. Jahrhun- Die Buchstabenformen der Abb. 12.2 und 12.3
dert v. Chr. wurden sinistral orientiert.

197 5, 93 f; zur Form vgl. die kretischen und darf gegenüber späten serifierten Formen des
theräischen Varianten aus dem 7 . Jahrhundert iota.
bei Larfeld 1907 , I: Tafel III). In der griechi- eta : Der strukturell signifikante Unterschied
schen Zahlenschreibung bleibt digamma für zwischen den phönizischen ḥet -Formen und
die Ziffer 6 erhalten, ebenso qoppa für 90 und den frühgriechischen ēta- bzw. hēta- Formen
san für 900 (→ Art. 141; vgl. Abb. 12.1—3 liegt in der eindeutigen Rektangualisierung
für die entsprechenden Formen). Die F-Form letzterer. Für die lautliche Zuordnung zu
überlebte jedoch im klassischen griechischen einem langen offenen /e/ bzw. zum Hauch-
Alphabet nicht; dagegen aber wohl im latei- konsonanten /h/, der später durch ein hal-
nischen Alphabet. Die Forschung ist sich dar- biertes H (= ) und heute durch das Diakri-
über einig, daß dieser Buchstabe durch seine tikum repräsentiert wurde, sind wohl früh-
Nachbarschaft zu epsilon im Alphabet dessen griechische dialektale Differenzierungen ver-
rechtwinkliger Hasta + Coda-Struktur folgte. antwortlich zu machen. Die klassische und
zeta : Die frühgriechische Form entspricht heutige Form H ist erklärbar durch Schreib-
morphologisch genau dem phönizischen Vor- erleichterung bzw. durch Redundanzbeseiti-
bild (frühe theräische und korinthische Vari- gung; damit verbunden mag die Beseitigung
anten wie konnten sich nicht durchsetzen). der einzigen rechtwinklig geschlossenen Form
im griechischen Alphabet gewesen sein (in-
Die heutige Form Z setzte sich erst in helle- soweit ein Moment der Homogenisierung!).
nistischer Zeit durch; begründet werden kann theta : Morphologisch-genetisch ist die theta-
diese Form durch Schreiberleichterung (vgl. Form nicht besonders ergiebig, die Füllung
die Entwicklung von zum kursiven und des Kreises, manchmal auch eines Quadrats
möglicherweise aus dem Differenzierungsbe-
178 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

durch Kreuz, Strich oder Punkt (erstere in läßt sich zeigen, daß bei sinistrograder Schrift,
wechselnder Orienrtierung) erschöpfen den jedoch dextraler buchstabeninterner Schreib-
frühgriechischen Variantenreichtum. In hel- richtung, die rechte Hasta aus einem mehr
lenistischer Zeit wurde die heute gültige Form oder weniger schwungvollen finalen Abstrich
verbindlich gemacht. (leicht gebogen oder vertikal), historisch-ge-
iota : Von den abgewinkelten bzw. gekrümm- netisch auf der Form basierend, entstan-
ten phönizischen Formen finden sich lediglich den sein muß. Deshalb kann hier von einer
in alten oder peripheren Alphabeten (vgl. Nr. kinemisch induzierten Hasta + Coda-Struktur
1, 8, 10 und 14) näherungsweise Entspre- gesprochen werden. Phanemisch stellt sich die
chungen. I n allen anderen frühgriechischen kinemisch finale Hasta entsprechend der si-
Alphabeten tritt die vertikale Hasta als do- nistrograden Schrift als Initial-Hasta dar. Ins-
minierende und bis heute morphologisch-ge- gesamt ist damit e i n schreibmotorisch be-
netisch erfolgreiche Form auf. Als Erklä- dingter Entstehungsgrund für das die gesamte
rungsfaktoren können gelten: Generalisie- griechisch-lateinische Schriftmorphologie (ki-
rung des Vertikalitäts- bzw. Rektilinearitäts- nemisch und phanemisch) dominierende Ha-
prinzips (damit verbunden schreibmotorische sta + Coda-Prinzip plausibel gemacht, das da-
Ökonomie) und möglicherweise stärkere Dif- durch auch erklärende Kraft gewinnt. Wie bei
ferenzierung der iota -Form von ähnlichen anderen Buchstaben gewinnt auch bei M die
sigma -Formen (vgl. Nr. 1, 3, 10 und 12). Symmetrisierungstendenz spätestens ab dem
kappa : Seine Form ist morphologisch-gene- 6. Jahrhundert v. Chr. die Oberhand.
tisch völlig unproblematisch, sowohl was ihre nu/nü : Für die Formentwicklung dieses Buch-
Übereinstimmung mit dem phönizischen Vor- stabens gilt mutatis mutandis das bei mü Aus-
bild (vgl. z. B. phöniz. Alphabet Nr. 4) an- geführte. Das Ergebnis des Symmetrisie-
langt, als auch hinsichtlich ihrer späteren Ge- rungsprozesses konnte bei der gegebenen
schichte; kappa zeigte immer dieselbe Mor- morphologischen Ausgangslage (vgl. die For-
phologie: vertikale Hasta plus die in jeweiliger men in den vorgestellten phönizischen und
Schreibrichtung angesetzten Codawinkel. frühgriechischen Alphabeten) topologisch
lambda : In frühgriechischer Zeit wurde zwar nur eine punktsymmetrische Form N sein,
die prinzipverletzende phönizische Form (un- deren visueller Effekt jedoch mit dem einer
tere Coda entgegen der sinistrograden Schrei- vertikalaxial symmetrischen Form identisch
brichtung) in die „richtige“ Richtung ge- sein dürfte.
bracht, jedoch bestand zunächst freie Varia- samek : Die Formen dieses Buchstabens er-
tion innerhalb und zwischen den Lokalalpha- scheinen in den Abbildungen 12.1 Nr. 3 und
beten zwischen dem oben bzw. unten ange- Nr. 5, 12.2 Nr. 8 und in 12.3 Nr. 12 (Vari-
setzten Codahäkchen. Wohl ausgelöst durch ante!). In klassischer Zeit wurden die erstge-
die mit diesen Varianten konkurrierenden nannten Formen zu Ξ (Xi) vereinfacht und
gamma -Formen wurde im Sinne einer not- zur Repräsentation des Lautkomplexes /ks/
wendigen Heterogenisierung der Buchstaben- verwendet (für Details vgl. Wachter 1987 b,
formen innerhalb des Alphabets bzw. der 31, 49 ff).
morphologischen Eindeutigkeit einer Buch- omikron : Morphologisch-genetisch hat sich
stabenform eine Lösung des Problems durch diese Kreisform — sieht man einmal von
vertikalaxiale Symmetrisierung (wie auch wechselnden Größenverhältnissen zu anderen
letztlich bei A, , M, (N: pseudo-vertikal- Buchstaben und einigen frühen Innenpunk-
axialsymmetrisch), T und den sog. Zusatz- tierungen (vgl. Nr. 8) ab — über ca. 3000
buchstaben) gefunden. Spätestens ab Ende Jahre bis heute als konstant erwiesen. Da
des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde die Form zentralsymmetrisch, genügt sie a fortiori auch
kanonisiert. der topologischen Qualität der vertikalaxialen
mu/mü : Die schreibkinemische Genese dieses Symmetrie.
Buchstabens ist — wie auch jene von kappa pi : Die Form dieses Buchstabens entspricht
( < ) und nu ( < ) — hinsichtlich der in frühgriechischer und klassischer Zeit klar
dem Hasta + Coda-Prinzip (besonders bei den
Entstehung von Hasta + Coda-Strukturen be- eckig angesetzten Codae in Nr. 1, 6 und 16).
sonders instruktiv. Aus der morphologischen In ihrer weiteren Entwicklung folgt die Form
Entwicklung der (proto)phönizischen und der Rektangularisierungstendenz, was er-
frühgriechischen Formen dieses Buchstabens gibt; erst in hellenistischer Zeit wird — so-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 179

zusagen systematisch verspätet — die verti- erreicht.


kalaxiale Symmetrisierung vollzogen: . tau : Dieser Buchstabe nimmt die letzte Posi-
san und qoppa werden hier nicht weiter dis- tion im 22-buchstabigen phönizischen Kon-
kutiert (für Details vgl. Wachter 1987 a, 31 ff sonantenalphabet ein. Gegenüber den phö-
und 49 ff). Es handelt sich hier um klare Fälle nizischen Formen, unter denen sich noch häu-
von „Reduktionsreform“ (Wachter 1987 a, fig X-Formen finden, zeigen schon die frü-
25), überdies ergaben sich in einigen Lokal- hesten griechischen Ausprägungen die bis
alphabeten Homomorphieprobleme mit mü- heute gültige T-Gestalt. Dies entspricht genau
und phi -Formen (vgl. Larfeld 1907 , I: Tafel der auch sonst im Alphabet festzustellenden
III). Tendenz der vertikalen Orientierung der Ha-
rho : Anders als bei z. B. kappa und mü findet sta und dem dazu rechtwinkligen Ansatz der
die schon im Phönizischen voll ausgeprägte Coda (vgl. die späteren Entwicklungen von
Hasta + Coda-Struktur dieser Buchstaben- gamma, epsilon, digamma und eta ). Topolo-
form eine ikonische, naturalistische Erklä- gisch markiert tau so schon von frühester Zeit
rung: die Hasta ergibt sich aus der rektiline- an die Tendenz zur vertikalaxialen Symmetrie.
arisierten Profillinie des Hinterkopfes und
Halses, die Coda aus dem Gesichtsprofil der upsilon, phi, chi, psi, omega
proto-phönizischen rosch (= „Kopf“)-Form. : die lokale Vertei-
In frühgriechischer Zeit bildeten sich auf der lung, die Reihenfolge, der jeweilige Lautwert
morphologischen Basis der phönizischen und die gesamte Genealogie dieser sog. Zu-
Form innerhalb und zwischen den Lokalal- satzbuchstaben ist einigermaßen verzwickt
phabeten folgende Varianten des Prototyps (vgl. Wachter 1987 b, 31 ff für eine sehr klare
und überzeugende Darstellung). Heute kann
aus: und . Es ist offensichtlich, daß davon ausgegangen werden, daß die Schaf-
die lateinische Schrift nicht die rektangulari- fung dieser Buchstabenformen ab dem 8./7 .
sierte Form des pi, sondern die frühere mit Jahrhundert v. Chr. autochthon vor sich ge-
der Bogencoda übernahm und diesen Bogen gangen ist. Zur Morphologie dieser Zusatz-
mehr oder weniger an die Hasta anschloß. buchstaben ist bemerkenswert, daß sie grund-
Damit war ein Homomorphieproblem mit der sätzlich von Anfang an dem Kriterium der
prototypischen Form des rho gegeben; die vertikalaxialen Symmetrie genügen; lediglich
Lösung bestand in der Übernahme der dia- upsilon variiert in frühgriechischer Zeit zwi-
kritisierten Variante R. Ein funktional wün- schen der Hasta + Coda-Struktur und verti-
schenswerter Grad an Heterogenität der kalaxial symmetrischen Formen (vgl. Nr. 10
Buchstabenformen untereinander war so er- und 12). Letztere Form wird in klassischer
reicht. Zeit als die fürderhin allein gültige kanoni-
sigma : Das phönizische schin erscheint in siert.
Dieser Überblick über die Morphologie
den frühgriechischen Alphabeten um 90° im frühgriechischer Alphabete und ihre Entwick-
Gegenuhrzeigersinn (vgl. jedoch Nr. 16) ge- lung bis zum klassischen Kanon (siehe Abb.
dreht. Bemerkenswert ist, daß die frühesten 12.4) sollte die entscheidende Phase des west-
Formen dreistrichig sind, sich insoweit also lichen Basisalphabets hinsichtlich der unter
vom vierstrichigen phönizischen Vorbild un- 1.1 vorgestellten Kategorien und Kriterien
terscheiden. Ein möglicher Grund für das deskriptiv und partiell auch explanativ der-
„Aufrichten“ der liegenden phönizischen art erfassen, daß grundlegende Strukturen
Form kann in der generellen griechischen Prä- und Veränderungsparameter deutlich werden.
ferenz der vertikalen Orientierung, die ja auch Festzustellen bleibt noch, daß die dextrograde
eine Voraussetzung für die Generalisierung Schreibrichtung sich im wesentlichen im 5.
des Hasta + Coda-Prinzips ist, gesehen wer- Jahrhundert als allgemein gültig verfestigt
den. Im 7 . Jahrhundert v. Chr. kehrte die grie- hatte. Im Übergang von der alten sinistrogra-
chische Schrift wieder zum vierstrichigen Pro- den Schreibrichtung findet sich die boustro-
totyp zurück und horizontalisierte später den phedon -Schreibweise; dem zeilenweisen Wech-
initialen oberen und finalen unteren Strich. sel der Schreibrichtung folgt die buchstaben-
Das sigma ist dann auch systematisch richtig interne Orientierung der Buchstaben mit Ha-
vektorialisiert; es „blickt“ (vergleichbar dem sta + Coda-Struktur (vgl. die Monumentalin-
E, aber ohne eigentliche Hasta + Coda-Struk- schrift von Gortyn (Kreta), Abb 12.5). Als
tur) in die jeweilige Schreibrichtung. Die end- ein möglicher Grund für die Präferenz der
gültige Form ist im 5. Jahrhundert v. Chr.
180 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.4: Bruchstück eines Pfeilers aus dem Tempel von Ägina, ca. 410 v. Chr., Ende der Aufzeichnung
eines Inventars des Heiligtums. München Glyptothek (eigene Aufnahme).
dextrograden Schreibrichtung könnte die Ge- wegen der entsprechenden Datenlage (vgl. un-
neralisierung der buchstabeninternen dextra- ten) — ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. sinnvoll
len Produktionsrichtung gelten; dextral wäre faßbar.
dann zu dextral + dextrograd verallgemei- Zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. war
nert worden. Die ursprüngliche kinemische — vergleichbar der später kanonisierten rö-
Schlußhasta (z. B. bei , etc.) wäre dann mischen capitalis quadrata — ein morpholo-
zu einer kinemischen und phanemischen Ini- gischer Entwicklungsstand erreicht, auf den
tialhasta geworden, z. B. > , > — von der Serifierung einmal abgesehen —
die Drucker der beginnenden Neuzeit bei ih-
etc. Wie aus der Abbildung der Gortyn-In- rem Bedarf nach Versalienformen zurück-
schrift zu ersehen ist, hatte sich bei diesem greifen sollten.
Inschriftentyp (sicherlich nicht bei kursiven
Schreibäußerungen) das Zwei-Linien-Schema
im 5. Jahrhundert v. Chr. durchgesetzt: alle 3. Buch- und kursivschriftliche
Buchstaben weisen grundsätzlich dieselbe Entwicklungen des griechischen
Höhe auf. Alphabets bis in die Neuzeit
Wie aus den frühgriechischen Alphabeten
(Nr. 1—16) sofort ersichtlich ist, handelt es Die ersten überlieferten buchschriftlichen
sich dabei noch keineswegs um ausgeprägt Zeugnisse aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zei-
monumentale Schriftmanifestationen (vgl. gen, je nach Schreiberstil, sowohl noch starke
dazu Abb. 12.4 und 12.5); anders gesagt, in Anlehnungen an nicht ausgeprägt monumen-
der frühgriechischen Phase erscheinen sonst tale lapidare Buchstabenformen, als auch
in der Epigraphik und Paläographie weit- schon deutliche Buchstabenumformungen,
hin akzeptierte Unterscheidungen zwischen die einerseits vom Schreibinstrument (Schilf-
Funktionalstilebenen wie monumental, buch- rohr) und Beschreibmaterial (Papyrus) und
schriftlich und kursiv nicht anwendbar zu andererseits von schreibmotorisch induzierten
sein. Diese Differenzierung wird erst — auch Veränderungen bedingt sind. Diese Verände-
rungen ergeben sich klar aus schreibökono-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 181

Abb. 12.5: Ausschnitt aus einer Gesetzesinschrift in boustrophedon -Schreibung


aus Gortyn (Kreta), ca. 450 v. Chr. (eigene Aufnahme).
182 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

mischen Gründen: weniger „Luftlinien“ bzw. , das deutlich seine Ober- und Unterlänge
Verbindungen zwischen sonst voneinander
abgesetzt ausgeführten einzelnen Zügen einer zeigt; ähnliches gilt für und hinsichtlich
Buchstabenform. So zeigt der Ausschnitt aus ihrer Unterlängen.
einem Schulbuch aus der Mitte des 3. Jahr- Bis in das frühe Mittelalter hinein zeigt die
hunderts v. Chr. (Abb. 12.6) Buchstabenfor- griechische Buchschrift keine wesentlichen
men, die — von stilistischen Minimalien ein- strukturell-morphologischen Veränderungen;
mal abgesehen — in griechischen und latei- einzelne Buchstaben erleiden eine Substitu-
nischen Buch- und Kursivschriften bis heute
überlebt haben: ( alpha ), ( epsilon ), beide tionsreform, z. B. erscheint das klassische
werden in zwei Zügen geschrieben. Vom je- als (doppeltes omikron ), das erscheint als
weiligen kinemischen Schreibprogramm die- hier liegt eine Vereinfachung des kinemi-
ser beiden Buchstaben her gesehen heißt dies,
daß bei alpha die linke Hasta und der Quer- schen Programms vor: Glättung der eckigen
strich zu einer Art Coda verschmelzen, die, Züge zu einem Bogen. (Für Einzelheiten vgl.
an der rechten kinemischen Finalhasta hän- Thompson 1894, Kap. 8 und 9). Die relative
gend, sozusagen in die falsche Richtung blickt morphologische Konstanz des griechischen
(dieser Systembruch ist in der Entwicklung buchschriftlichen Alphabets zeigen die folgen-
der lateinischen Minuskelschrift vermehrt den Abbildungen 12.7 und 12.8 (siehe nächste
festzustellen, vor allem bei d, g und q). Im Seite).
Falle des epsilon entsteht der Halbkreisbo- Traditionell wurde die griechische Kursiv-
gen ganz natürlich aus einem schreibökono- schrift in drei Epochen unterteilt: die ptole-
mischen kursivschriftlichen Programm: die mäische (bis Ende 1. Jahrhundert v. Chr.), die
obere und untere Coda verbinden sich in römische (bis zum Ende des 3. Jahrhunderts
einem Zug mit der Vertikalhasta zu einem n. Chr. und die byzantinische (ab dem 4. Jahr-
Halbkreis (so auch bei lat. kursivschriftlichen hundert n. Chr.). Nach den hier angenom-
Entwicklungen). Ablesbar an dieser Hand- menen relativ abstrakten schriftmorphologi-
schrift ist auch eine Tendenz zum Verlassen schen Kriterien muß die Tragfähigkeit der
des strengen Zweilinienschemas, vgl. z. B. das traditionellen politisch-kulturellen Epochen-
unterteilung bezweifelt werden. Jedenfalls las-

Abb. 12.6: Griechisches Schulbuch, ca. 250/27 5 v. Chr. (aus Guéraud & Jouguet 1938, Tafel III, Z. 118—124;
eigene Aufnahme).
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 183

grundsätzlich; speziell die Form des alpha


(z. B. im ersten Wort der Urkunde von 233
n. Chr. „strategos“) hat sich jedoch von der
zweizügigen Form in der Handschrift von
237 v. Chr. zur einzügigen Form weiterent-
wickelt. Damit ist jegliche phanemisch noch
Abb. 12.7: Bankes Homer, 2. Jahrhundert n. Chr. wahrnehmbare Hasta + Coda-Struktur auf-
(aus Thompson 1894, 127) gelöst; die spätere, moderne kursivschriftliche
Form ist damit vorbereitet. Morpholo-
gisch-strukturell ist diese Entwicklung folgen-
dermaßen zu verstehen: der erste untere
Rechtsbogen von entspricht der früheren
linken Initialhasta von , der Aufwärtsbo-
gen dem alten Querstrich und der aus der
oberen Schleife nach rechts unten führende
kinemische Finalbogen der alten rechten Ha-
Abb. 12.8: Dioscorides, frühes 6. Jahrhundert sta. Das kinemische Programm der modernen
n. Chr., eine sorgfältig ausgeführte sog. Unzial- Form verläuft dagegen so: der obere Ansatz
schrift (aus Thompson 1894, 153) geht in dem alten Querstrich über, der Bogen
sen sich bis in die frühe byzantinische Zeit nach links oben entspricht der alten Links-
eher morphologische Kontinuitäten als ein- hasta und der finale Bogen nach rechts unten
deutige Brüche feststellen. Unterscheidungen der alten Rechtshasta. (Die in byzantinischer
lassen sich jedoch treffen nach Graden der Zeit bis in die Neuzeit verbreitete „lateini-
Kursivität, der Buchstabenligaturenhäufig- sche“ Form wird bei der Beschreibung der
keit, bzw. Buchstabenamalgamierung und der lateinischen Minuskelschrift diskutiert.) Diese
Funktionalstilebene (z. B. Offizialschrift). Die knappe Analyse griechischer alpha -Formen
folgenden Beispiele (Abb. 12.9 und 12.10) sol- möge beispielhaft für andere kursivschriftlich
len diese Unterscheidungen verdeutlichen. bzw. schreibökonomisch bedingte Formver-
änderungen, die hier aus Raumgründen nicht
einzeln diskutiert werden können, stehen; me-
thodisch wichtig ist dabei zu erkennen und
nachzuweisen, daß und wie historisch-mor-
phologisch zugrundeliegende Strukturen (vor
allem die sich aus dem Hasta + Coda-Prinzip
ergebenden) durch schreibmotorisch-ökono-
mische Parameter zwar überformt, jedoch
grundsätzlich nicht ausgelöscht werden. (Für
Abb. 12.9: Testament des Demetrius, 237 v. Chr. Einzelheiten byzantinischer Entwicklungen
(aus Thompson 1894, 133) vgl. Thompson 1894, Kap. X und XI).
Die weitere Entwicklung der griechischen
Kursivschrift — sei es in kurrenten oder sorg-
fältiger ausgeführten buchschriftlichen Funk-
tionalstilen — verlief nicht einheitlich; neben
weiteren schreibmotorisch-ökonomisch indu-
zierten Vereinfachungen und Buchstaben-
amalgamierungen bzw. -ligaturen, wurden
auch immer wieder ältere „Versalienformen“
in die Kursivschrift aufgenommen (z. B. zu
Abb. 12.10: Urkunde, 233 n. Chr. (aus Thompson Beginn der Neuzeit die Form des heutigen
1894, 141)
). Im Vergleich zu der spätestens in karolin-
Obwohl diese beiden Urkundenhandschrif-
ten ca. 500 Jahre auseinanderliegen, unter- gischer Zeit erfolgten Festlegung der Ober-
scheidet sich die Morphologie der Buchsta- und Unterlängen in der lateinischen Entwick-
ben der zugrundeliegenden Alphabete nicht lungslinie war in der griechischen Linie zwar
184 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

im Mittelalter ein Dreilinienschema grund- hier seien nur die bis heute „erfolgreichen“
sätzlich gegeben, jedoch bei einzelnen Buch- genannt; für andere Versuche, die sich nicht
stabenformen (z. B. später ) war die Ober- durchsetzen konnten vgl. Jensen 1969, 514 ff.
bzw. Unterlängencharakteristik noch nicht Die wesentlichste Veränderung fand an Platz
definitiv entschieden. 7 statt; hier wurde durch Substitutionsreform,
Die folgende Abbildung 12.11 — ein von und zwar wohl durch den Zensor Appius
dem kretischen Kalligraphen Johannes Rho- Claudius Caecus im Jahre 317 v. Chr., der
sos 147 9 in Italien geschriebener Homer — Buchstabe ( zeta ) durch G, das sich aus C
zeigt vom Gesamtduktus der Schrift her zwar unter Zusatz eines diakritischen Striches dif-
schon eine gute Annäherung an die moderne ferenzierte, ersetzt. In seiner hellenistischen
griechische Minuskel, bei einzelnen Formen Form Z wurde dieser Buchstabe, wie auch
(z. B. dem nü und gamma zu Beginn der zwei- das Y im 1. Jahrhundert v. Chr. wieder aus
ten Zeile oder dem hochgezogenen Abstrich dem griechischen Alphabet importiert, dann
des alpha in der vierten Zeile und der H-Form jedoch konsequent ans Ende des Alphabets
des eta in der zweiten Zeile) schlagen jedoch gestellt. Weitere Veränderungen wie die Dif-
noch ältere Formen durch. ferenzierung von V in V und U und die Bil-
dung von W aus VV fallen in spätere, mittel-
alterliche Zeiten.
Im folgenden werden zunächst nur wenige
Steininschriften aus dem Zeitraum von ca.
600 v. Chr. bis ca. 200 n. Chr. diskutiert,
um dann ausführlicher auf buch- und kur-
sivschriftliche Entwicklungen einzugehen.
Als älteste erhaltene lateinische Inschrift
(ca. 600 v. Chr. oder später) darf der frag-
Abb. 12.11: Homer 1479 (aus Thompson 1894, mentarische Text auf dem lapis niger (1899
177) auf dem Forum Romanum entdeckt) gelten
(vgl. Wachter 1987 a, § 25 zu Literaturanga-
Die endgültige kanonische Festlegung der ben und einer linguistischen Analyse). Der
Morphologie des griechischen Minuskelal- Text wurde vermutlich ohne Vorzeichnung
phabets erfolgte erst successive in den folgen- durch einen ordinator furchenwendig in den
den Jahrhunderten. Stein gemeißelt; für diese Annahme sprechen
die unregelmäßigen archaischen Buchstaben-
formen, die in der Zeile nicht „Linie halten“
4. Lateinische Buchstabenformen von und die von Wachter (1987 a, 68 f) sehr ein-
der archaischen bis zur klassischen leuchtend erklärten Fehler des Steinmetzen
Lapidarschrift bei der Orientierung einiger Zeilen (Verlet-
Die heutige Forschungslage läßt keinen Zwei- zung der boustrophedon- Regel, kopfstehende
fel daran, daß die frühen Römer (Latiner) ihr Zeilen).
Alphabet von den Etruskern, die ihrerseits Aus dem in Abb. 12.12 gezeigten Aus-
um ca. 7 00 v. Chr. ein im wesentlichen west- schnitt des Textes (Zeilen 12—15) lassen sich
griechisches Alphabet adaptiert hatten, über-
nommen haben (vgl. das Abcedarium von
Marsiliana, Abb. 12.3, Nr. 12). Von den 26
Buchstaben des Marsiliana-Alphabets enthält
das altlateinische Alphabet zunächst nur 21.
Etwas typisiert und entsprechend der archa-
ischen Schriftrichtung sinistrograd/sinistral
ausgerichtet, bietet es folgende Formen:

Für graphophonemische Entsprechungen


wird auf Wächter 1987 a, §§ 10.—13. verwie-
sen. In seiner Buchstabenabfolge erfuhr das Abb. 12.12: Ausschnitt aus der lapis niger-
lateinische Alphabet nur wenige Änderungen; Inschrift, ca. 600 v. Chr. (aus Lange 1945, 17)
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 185

folgende morphologische Eigenschaften der gehen, daß die weitere Entwicklung der la-
verwendeten Schrift ablesen: Wie bei den un- teinischen Lapidarschrift, vor allem hinsicht-
gefähr zeitgleichen archaisch-griechischen In- lich der Symmetrisierung und Rektangu-
schriften (vgl. Abb. 12.2 und 12.3) zeigt auch larisierung einzelner Buchstabenformen, den
die älteste lateinische Inschrift, daß der Pro- entsprechenden griechischen Entwicklungen
zeß der Rektangularisierung (etwa bei E und folgte.
L) und der vertikalaxialen Symmetrisierung Im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte die latei-
(z. B. bei A, M und V) noch nicht begonnen nische Schrift — zur griechischen Entwick-
hatte. Zwar zeigt der erste Buchstabe der er- lung wohl leicht zeitversetzt — das Stadium
sten sinistrograden Zeile (M) insoweit eine der Rechtsläufigkeit, der Symmetrisierung
Tendenz zur Symmetrisierung, als die Coda- und Rektangularisierung der entsprechenden
figuration, eine vierlinige Zackenbildung, auf Buchstabenformen grundsätzlich erreicht.
die Basislinie der Zeile heruntergezogen ist; Parallel zur griechischen Entwicklung zeigt
„störend“ ist jedoch noch der letzte Aufstrich die Juno Lucina-Inschrift (Abb. 12.13) noch
der Coda, d. h. die Fünflinigkeit der archai- keine Serifierung; als kleinen archaischen Rest
schen phönizisch-griechischen Form — In- zeigt sie jedoch — wie andere lateinische In-
itialhasta plus vier Codazackenlinien — schriften aus dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. —
wurde noch beibehalten. In der zweiten Zeile eine schwach spitzwinklige Form des L (erste
(dextrograd) ist ein vertikalaxial symmetri- und zweite Zeile); vgl. im übrigen Wachter
sches Y zu erkennen; diese Form des /u/ (1987 , §§ 40 ff) zu paläographischen und
scheint um 600 v. Chr. noch in freier Variation sprachlichen Besonderheiten von Bronzein-
zur V-Form gestanden zu haben. Das pha- schriften der nacharchaischen Zeit (4. bis 2.
nemische Hasta + Coda-Prinzip ist im letzten Jahrhundert v. Chr.). Der nicht-monumentale
Buchstaben der zweiten Zeile (A) und im er- und nicht-lapidare Charakter dieser Inschrif-
sten der dritten Zeile (V) noch sehr deutlich ten läßt einige Rückschlüsse auf zeitlich pa-
realisiert; d. h. die vertikalaxiale Symmetrisie- rallele gebrauchsschriftliche Entwicklungen
rung war noch nicht bindend vollzogen. Wie zu. Als Beispiel für eine Bronzeinschrift kann
zu erwarten ist, findet sich die westgriechische die folgende Abbildung 12.14 dienen.
Variante des delta (D) in den Zeilen 3 und 4. Auffällig sind die Formen des A; hier deu-
Ebenfalls erscheint in Zeile 4 das S als gebo- tet sich eine Ablösung von alten kanonischen
gener und nicht mehr als geknickter Linien- Formen an: der Querstrich ist zu einem An-
zug. Für eine vollständige Abbildung mit di- hängsel der rechten Finalhasta verkümmert,
plomatischer Umschrift, Transkription und damit ist die vertikalaxiale Symmetrie der
älteren Literaturangaben vgl. Steffens Form zerstört. Spätere — oder nur später
(1903—1906, 1). belegte — Kapitalisformen des A (z. B.
Aufgrund der kulturellen Überlegenheit
der Griechen und ihres fortwährenden Ein- oder scheinen damit vorbereitet (vgl. Mal-
flusses in Süditalien darf man davon aus-

Abb. 12.13: Weihinschrift für die Juno Lucina in Norba, 4. Jahrhundert v. Chr., (aus Földes-Papp 1987, 178)
186 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

und der damit implizierten Vektorialität in


Schreibrichtung (dextral + dextrograd) bei
B, D, E, F, L, P, R; bei C und G wurde schon
früh die rektangulare Form zugunsten des
großen Linksbogens aufgegeben (gleichwohl
„blicken“ diese Buchstaben nach rechts);
3. bis auf Q, das seine vertikalaxiale Sym-
metrie früh verloren hat, herrscht das
Zweilinienschema, das als ein definitorisches
Kennzeichen der sog. Majuskelschrift gelten
kann; die maximale vertikale Erstreckung al-
ler Buchstabenformen ist gleich;
4. die Strichstärken der Buchstaben sind,
Abb. 12.14: Ausschnitt aus Ciste CIL 568, ca. abhängig vom Ansatzwinkel der Feder oder
3. Jahrhundert v. Chr. (aus Wächter 1987, 161). des Pinsels des ordinator, verschieden, d. h.
bei einem Schreibwinkel von 40—60° erschei-
lon 1952, 32 und 84). Weiter bemerkenswert nen die nach rechts unten gerichteten Dia-
sind die Formen des P und R; diese Buchsta- gonalzüge als die stärksten und die Linksdia-
ben dürften sich in noch archaisch-lateini- gonalen am schwächsten;
scher Zeit ausdifferenziert haben. Der Coda- 5. die Schrift weist an den Ansatz- und/
bogen des P ist — getreu seiner Herkunft aus oder Endpunkten der Hasten oder geraden
dem klassisch-griechischen — nicht ge- Codastrichen Serifen auf (wohl aus helleni-
schlossen, was sich auch noch an sorgfältig stischer Zeit stammend). Diese Serifen kön-
ausgeführten späteren monumentalen Lapi- nen schreibfunktional erklärt werden (vgl.
darinschriften (z. B. der Inschrift der Trajans- ähnliche Phänomene bei Duktustypen der
säule 113 n. Chr.) zeigt; der Codabogen des chinesischen Schrift, z. B. der sog. Knochen-
R ist — entgegen seiner Herkunft aus ge- strich; → Art. 26), auch dienten sie den Stein-
schlossenen griechischen rho -Formen — nicht metzen zu einem meißeltechnisch befriedigen-
geschlossen (hier liegt die prekäre Quasi-Ho- den Abschluß der entsprechenden Linienzüge
mographie der offenen P-Form und der (vgl. dazu ausführlich Catich 1968).
eigentlich geschlossenen P (= R)-Form noch Festzuhalten bleibt, daß — entgegen man-
zutage). Der finale Abstrich des Codabogens, chen meist älteren paläographischen Auffas-
der auch schon in altgriechischer Zeit er- sungen — die römische capitalis quadrata als
scheint, darf — wie beim Verhältnis von C zu ein End- und Höhepunkt in der Entwicklung
G — als graphisches Diakritikum interpre- unseres Alphabets aufzufassen ist, d. h., daß
tiert werden. In ihren offenen Codaführungen diese Schriftausprägung in ihrer Grundstruk-
bereiteten diese R-Formen kursivschriftliche tur nicht Ausgangspunkt für die Entwicklung
späterer Schriftvarietäten gewesen ist (vgl. die
Formen wie z. B. vor (vgl. Mallon 1952, überzeugende Argumentation in Mallon
1952, §§ 88 f, §§ 228 ff). Vielmehr diente sie in
67). späteren Jahrhunderten bis heute als sog.
Den Höhepunkt in formaler und ästheti- Auszeichnungsschrift, sei es als sog. Versa-
scher Hinsicht, und damit — wie zu zeigen lienschrift, als initialer Großbuchstabe oder
sein wird — auch ihren Endpunkt, erreicht im hierarchischen Zusammenhang mit ande-
die lateinische Lapidarschrift als capitalis qua- ren kanonischen Schriftausprägungen (z. B.
drata in der mittleren Kaiserzeit. Gemeinhin sog. Rustica, Unziale) als die an oberster
wird die Schriftausprägung, wie sie sich auf Stelle rangierende. Basis für spätere Ent-
der Trajanssäule (113 n. Chr.) findet, als wicklungen bzw. Ausdifferenzierungen des
die Repräsentantin dieser Schrift angesehen lateinischen Alphabets insbesondere in Rich-
(Abb. 12.15). Ihre morphologischen Charak- tung der sog. Minuskelschrift waren dagegen
teristika sind die folgenden: grundsätzlich kursiv- und/oder buchschrift-
1. Deutliche Ausprägung des Symmetrie- liche Ausprägungen (siehe folgenden Ab-
prinzips (meist vertikalaxial) bei A, M, O, T, schnitt). Die klassische römische capitalis qua-
V, X; drata war zwar die monumentale lapidare
2. definitive Festlegung des Hasta + Coda- Schrift, sozusagen die offizielle Staatsschrift
Prinzips in Verbindung mit Rektangularität für entsprechend wichtige Anlässe. Unterhalb
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 187

Abb. 12.15: Die klassische römische capitalis der Trajanssäule, 114 n. Chr. (aus Morison 1972, 33)
dieser Ebene finden sich aber eigentlich zu
allen Zeiten Steininschriften oder Inschriften
auf anderen harten oder weichen Materialien
(„à pointe sèche“), die je nach amtlicher oder
ökonomischer Position des Auftragsgebers
fast die ganze jeweils übliche Bandbreite
buch- und kursivschriftlicher Ausprägungen
widerspiegeln. Als ein Beispiel dafür mag die
in Abb. 12.16 wiedergegebene, paläogra-
phisch wichtige Grabinschrift aus dem aus-
gehenden 1. Jahrhundert n. Chr. stehen (vgl.
die epochemachende Diskussion in Mallon
1945).
In seinem 2. Kapitel (§§ 99—122) macht
Mallon (1952) überdeutlich, welch große Be-
deutung solche „Inschriften“ für paläogra-
phische Fragestellungen haben. Als logische
Schlußfolgerung ergibt sich daraus eigentlich,
daß eine Trennung zwischen Epigraphik und
Paläographie nur forschungshistorisch be-
dingt, sachlich jedoch ungerechtfertigt ist.

5. Entwicklungen der lateinischen


Schrift vom 1. Jahrhundert v. Chr.
bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.
Abb. 12.16: Grabinschrift aus Morón (Spanien),
In der folgenden Darstellung besteht das Da-
CIL II, 5411, 1. Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon
tenmaterial grundsätzlich aus auf Papyrus
1945, Pl. I).
oder Pergament ge s ch r i e b e n e n Texten,
188 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

d. h. außer Betracht bleiben Luxuscodices wie nannt werden soll. Sie entspricht in der Ter-
z. B. Vergils Georgica (Ende 4. Jahrhundert minologie der traditionellen Paläographie
n. Chr.); die Buchstaben dieser berühmten, grundsätzlich der sog. älteren römischen Kur-
und spätestens seit Mallons Kritik paläogra- sive. Diese beiden Schriftarten sind jedoch
phisch berüchtigten Schrift sind nicht ge- morphologisch (und auch in ihrer textsorten-
schrieben, sondern einzeln ge m a l t . Ihr Vor- funktionalen Verwendung) keinesfalls als völ-
bild war zweifellos eine lapidare capitalis qua- lig disjunkt voneinander zu sehen. Dasselbe
drata ; ihr kann jedoch im Rahmen einer se- gilt für die neue Kommunschrift („écriture
riösen Darstellung der Entwicklungen der la- commune nouvelle“), traditionell „jüngere rö-
teinischen Schrift kein Platz eingeräumt wer- mische Kursive“, die in einem deutlichen
den (vgl. die detaillierte Kritik in Mallon Bruch in der Morphologie einiger Buchstaben
1952, §§ 228—240). Damit wird eine poin- zur klassischen Kommunschrift im 3. Jahr-
tierte Kontraposition zur traditionellen latei- hundert n. Chr. erscheint. Beide Kommun-
nischen Paläographie eingenommen, in deren schriften (von Tjäder (197 4) auch „Bedarfs-
Tafelwerken und Gesamtdarstellungen der ge- schriften“ genannt) liegen mit Kapitalisent-
nannten Vergilkalligraphie schriftevolutionär wicklungen in einem skalierten Kontinuum,
fälschlicherweise der Vorrang eingeräumt beide zeigen in einzelnen Manifestationen
wurde (so noch bei Stiennon 1973, 61). stärkere oder geringe Grade an Kursivität
Damit im Zusammenhang stehen weiter- bzw. kurrentschriftliche Charakteristika. Mal-
reichende Probleme der Terminologie, die hier lon (1952, § 17 2) motiviert seine Terminologie
nur knapp angesprochen werden können. Die übrigens historisch: in einem kaiserlichen
weiteren Ausführungen folgen grundsätzlich Edikt von 367 n. Chr., erlassen in Trier, wurde
nicht der traditionellen paläographischen dia- die Differenz zwischen den litterae coelestes
chronischen Terminologiesequenz capitalis (= Schrift der kaiserlichen Kanzlei und Fort-
rustica / actuaria, Unziale, Halbunziale, Vier- entwicklung der klassischen Kommunschrift)
telunziale, Praecarolina und ähnlichen weite- und den litterae communes, mit denen alle
ren Benennungen. Statt dessen werden im we- anderen Dokumente geschrieben werden soll-
sentlichen die von Mallon (1952, § 86 et pas- ten, terminologisch und funktionalstilistisch
sim) geprägten Termini mit ihren jeweiligen festgeschrieben. Die traditionelle Paläogra-
definitorischen Kriterien übernommen und phie hat zwischen der klassischen Kommun-
teilweise weiter entwickelt. Mallons empirisch schrift, die auch Majuskel- oder Kapitalkur-
gewonnene Kriterien stammen wesentlich aus sive genannt wurde (Mallon 1952, § 158) und
den Ausführungsbedingungen des Schreibak- der neuen Kommunschrift, auch Minuskel-
tes, sind also insoweit graphisch-kinemischer kursive genannt, eine kontinuierliche Ent-
Natur. Er nimmt an, daß auf der Basis von wicklung — der Übergang wäre etwa im 3.
7 Faktoren (Buchstabenform, Schreibwinkel, und 4. Jahrhundert n. Chr. gewesen — ange-
Duktus, Breiten- und Höhenverhältnissen, nommen. Mallon (1952, §§ 162 ff) zeigt, daß
„Gewicht“, Beschreibmaterial und Textbe- diese Annahme falsch ist. Die veränderten, ja
zug) die von einem Schreiber jeweils verwen- teilweise entgegengesetzten Duktusverläufe
dete Schrift klassifiziert werden kann. machen es offenkundig, daß es von der klas-
Bezüglich der Terminologie der Schriftar- sischen Kommunschrift („ältere römische
ten der römischen Epoche wird Mallons Vor- Kursive“) zur neuen Kommunschrift keine
schlägen hier insoweit gefolgt, als der tradi- durchgängige kontinuierliche Entwicklung
tionelle Terminus capitalis rustica (besser wäre gegeben haben kann. Zumindest einzelne
eigentlich c. urbana gewesen) ersetzt wird Buchstabenformen wurden in der neuen
durch Kapitalis (vgl. Abb. 12.17 ). Funktional Kommunschrift nach gänzlich anderen kine-
ist diese Schrift, deren morphologische Cha- mischen Programmen (Duktus) ausgeführt,
rakteristika anschließend diskutiert werden, vgl. die folgenden Beispiele:
im wesentlichen an die Textsorten Dokument
oder sonstige amtliche Texte und an literari-
sche Texte gebunden. Auf das Problem der
Abgrenzung späterer Entwicklungen von Ka-
pitalisschriften untereinander (sog. Unzial-
schriften) wird unten genauer eingegangen. In einem Gesuch des Flavius Abinneus von
Von der Kapitalis unterscheidet Mallon 345 n. Chr. (vgl. Abb. 12.19), dessen Schrift
(1952, Kap. IV) die „écriture commune clas- zweifelsfrei der neuen Kommunschrift zuzu-
sique“, die hier klassische Kommunschrift ge- rechnen ist, erscheint das A wie in (1) (Liga-
turvarianten werden nicht berücksichtigt).
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 189

Das kinemische Programm besteht aus einem Kommunschrift seine ursprüngliche Hasta
Zug (2). Das typische A der klassischen Kom- + Coda-Struktur zumindest in der phanemi-
munform sah dagegen aus wie (3). schen Dimension verloren.
Ihr kinemisches Programm bestand er- Die neue Kommunschrift (aus dem Papy-
sichtlich aus zwei Zügen (und einem „Luft- rusfragment von 345 n. Chr. vgl. Abb. 12.19
zug“, punktiert angedeutet). Es ist klar, daß zeigt dagegen folgende Form
die vektorielle Orientierung der Programme
für das alte und das neue A nicht miteinander
verträglich sind; das eine konnte nicht irgend-
wie graduell in das andere übergehen.
Gleichwohl zeigen beide Formen — wenn
auch verdeckt — ihre Herkunft aus einer ar- Die Duktusverschiedenheit zum B der klas-
chaischen Kapitalis; das A der klassischen sischen Kommunschrift ist offensichtlich; die
Kommunschrift zeigt den alten Duktus: die neue Form kehrt partiell zum kinemischen
abwärts geführte Initialhasta und die aller- Programm der Kapitalis zurück, insofern sie
dings vertikalaxial leicht asymmetrisch ge- deren Hasta + Coda-Struktur übernimmt
führte Finalhasta (der Querstrich fehlt wie bei (Hasta = 1, Coda = 2 in der neuen Form).
fast allen geschriebenen Kapitalisschriften). Die alte Doppel-Coda (Bogen 3 und 4 des
Im A der neuen Kommunschrift wird die In- Kapitalis-B) „degeneriert“ zu einer einfachen
itialhasta nach einem Anlaufbogen aufwärts Bogen-Coda, die den neuen „Körper“ des b
geführt, die Finalhasta erscheint als abwärts bildet. Ein wahrscheinlicher Grund für dieses
führender Rechtsbogen (beide Bögen sind na- Zurückgehen auf den Kapitalis-Duktus kann
türlich für eine luftlinienfreie, verbundene in der Quasi-Homomorphie der -Form mit
Kurrentschrift wichtig). Damit ist auch gleich
die Entstehung und Struktur der heute zen- der klassisch-kommunschriftlichen Form des
tralen Schreibschriftvariante des Minuskel- D (= ) gesehen werden; die phanemisch
geklärt: sie ist in ihrem Duktus jene der neuen
Kommunschrift, phanemisch verändert durch wünschenswerte Heterogenität zwischen den
Anschluß des linken Ansatzbogens an an den Buchstabenformen einer Schrift wäre bzw.
finalen Abstrich in frühmittelalterlicher Zeit. war gefährdet. Mit dem Duktus der neuen
(Die heutige Antiqua-Druckschriftform geht Form ist das Minuskel-b bis heute festgelegt.
über „unziale“ Zwischenstationen auf die ar- Im übrigen verlief die Entwicklung der frü-
hen D-Form strukturell ähnlich wie beim B:
chaische griechisch-lateinische Basisform
zurück).
Noch komplizierter liegt der Fall des B
(vgl. die schier endlosen Diskussionen in Mal-
lon 1945, 1952; Tjäder 197 3, 197 4 und die
dort angegebene weitere Literatur). Mallon Die Züge 1 und 2 vereinigten sich in der
(1952 § 17 passim) zeigt als Duktus für das klassischen Kommunschrift zu einem Initial-
Kapitalis-B folgende Schreibzugsequenz bogen (alte Hasta plus unterer Codaansatz)
der Zug 3, Teil der alten Coda, erscheint —
bedingt durch die Verkürzung der alten In-
itialhasta zu einem Bogen, dem neuen „Kör-
per“ der -Form — als Oberlänge:

Die klassische Kommunschrift zeigt typi-


scherweise folgende Form

Damit war die ursprüngliche Hasta +


Coda-Struktur zerstört. Durch Vergrößerung
des Schreibwinkels (vgl. Mallon 1952 §§ 131),
wie er sich z. B. in der berühmten Epitome
Das kinemische Programm gegenüber je- Livii -Handschrift (2./3. Jahrhundert n. Chr.;
nem des Kapitalis-B hat sich nur insofern s. u. Abb. 12.23) im Vergleich zu der womög-
geändert, als die Züge 1 und 2 zu einem nach lich noch berühmteren de bellis macedonicis-
links unten hängenden Bogen („Hänge- Handschrift (Ende 1. Jahrhundert n. Chr.;
bauch“) zusammengeflossen sind und die s. u. Abb. 12.22) deutlich manifestiert, trat
Züge 3 und 4 in den neuen Zug 2 übergingen. eine Vertikalisierung des schrägen Zuges 2
Damit hat der Buchstabe B in der klassischen ein:
190 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Damit war auch in der neuen Kommun-


schrift die bis heute gültige Minuskelform d
erreicht, die eine neue „verkehrte“ Hasta +
Coda-Struktur aufweist (die Coda „blickt“
nach links!).
Mallon (1952, § 162) zeigt noch an den
Formen von E, N und P der klassischen und
neuen Kommunschrift, daß erstere nicht die
Ableitungsbasis für Formen der letzteren sein
kann. Generell stellt er fest, daß die neue
Kommunschrift in wesentlichen Teilen keine
Kontinuität mit der klassischen Kommun-
schrift aufweist, daß erstere vielmehr als eine
kurrentschriftliche Umsetzung einer Schrift Abb. 12.17: Kopie eines Briefs, 1. Jahrhundert
vom Typus Epitome Livii anzusehen ist. An- v. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. III, 2)
ders gesagt, die Verjüngung der lateinischen
Kommunschrift erfolgte im 3. Jahrhundert
n. Chr. über eine weiterentwickelte Form der
Kapitalis, die ihrerseits schon wesentliche Mi-
nuskelformenanteile enthielt. Die neue Kom-
munschrift erscheint im 4. und 5. Jahrhundert
n. Chr. im gesamten weströmischen Bereich
als Schrift der Akten und Dokumente, sei es
auf Papyrus/Pergament geschrieben oder in
Bleitafeln geritzt; sie erscheint auch als Schrift
von Schultexten (Grammatiken, Klassiker)
und als Glossenschrift (vgl. Mallon 1952,
§ 184). Zu Recht stellt Mallon (1952, §§ 185 ff)
fest, daß es im wesentlichen die neue Kom-
munschrift und ihre „mütterliche“ Ver-
wandte, die Buchschrift des Epitome Livii ,
waren, die — mit minimalen Besonderheiten
— die morphologische Basis für praktisch alle
westeuropäischen Schriftvarianten der folgen-
den Jahrhunderte bis hin zur sogenannten
karolingischen Minuskel bildeten. Bei all den
sogenannten Nationalschriften des 7 . bis 9.
Jahrhunderts n. Chr. (westgotisch, irisch-bri-
tisch (insular), italienisch, rhätisch etc.) han-
delt es sich letztlich nur um Variationen über
die morphologischen Themakonstanten, wie Abb. 12.18: Kopie einer Bestandsaufnahme, Mitte
sie in der Epitome -Schrift und der neuen 1. Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. V, 2)
Kommunschrift vorgegeben waren. Auf das In beiden Fällen liegt jeweils eine Varietät
weitere Schicksal der klassischen Kommun- der Kapitalis vor. Das Fragment eines Briefs
schrift — ihre Verwendung als kaiserliche aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. macht zwar
Kanzleischrift ( litterae coelestes ) und später im Vergleich zu der „Bestandsaufnahme“
als merowingische Urkundenschrift mit ihren (Mitte 1. Jahrhundert n. Chr.) insgesamt einen
jeweils paläographisch berüchtigten Ligatu- flüchtigeren Eindruck, es wurde zweifellos
ren — wird hier nicht eingegangen (vgl. Mal- auch mit einem stumpfen calamus geschrie-
lon 1952 §§ 67—183). ben, jedoch handelt es sich vor allem wegen
Im weiteren sollen zunächst zwei Beispiele der praktisch identischen Duktuseigenschaf-
für die Kapitalis aus dem 1. Jahrhundert ten der Buchstabenformen und auch wegen
v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. be- der ligaturfreien Schreibart in beiden Fällen
trachtet werden (Abb. 12.17 und 12.18).
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 191

um eine Manifestation der Kapitalis. Die Un- oben im Falle der nicht von einander ableit-
terschiede in der Ausführung einzelner Buch-
stabenformen sind minimal: in Abb. 12.16
zeigen die R-Formen im letzten Wort der
zweiten Zeile ( pervenero ) eine über die Basis-
linie hinunter reichende Hasta, der Codabo-
gen ist mit seinem Fuß in einem Zug ver-
schmolzen; das S zeigt die langgestreckte
Form der Kommunschrift (z. B. in esto, 4.
Zeile); das B in der Wortform benevolentiam
(5. Zeile) zeigt in seinem Aufbau ebenfalls
eine Verwandtschaft mit dem kommunschrift-
lichen B, bildet jedoch eine geschlossene Ge-
stalt mit demselben Duktus des B in der „Be-
standsaufnahme“ (drittletzte Zeile); das A in
benevolentiam unterscheidet sich vom A in
donatos (1. Zeile der „Bestandsaufnahme“)
durch seine abgeknickte Finalhasta und die
fehlende Serife an der Initialhasta und nähert
sich insoweit dem A der klassischen Kom-
munschrift; das F in filio (4. Zeile) zeigt eine
deutliche Unterlänge. Die Schriften beider
Beispiele sind jedoch — trotz des Überschie-
ßens einiger Hastastriche (vgl. die I, A und L
mit „Oberlängen“ in der 1. Zeile der „Be- Abb. 12.19: Petition aus dem Jahr 247 n. Chr. (aus
standsaufnahme“) — als Zweilinienschema- Mallon 1952, Pl. XV, 1)
Kapitalisschriften zu klassifizieren.
Die kinemischen Charakteristika der baren Formen des A und des B schon hin-
Schrift der „Bestandsaufnahme“ sind von gewiesen wurde.
Mallon (1952, §§ 12—39) sehr detailliert dar- Bei der Petition von 247 n. Chr. (Abb.
gestellt und diskutiert worden. Hervorzuhe- 12.19) handelt es sich zweifelsfrei um eine
ben sind folgende Punkte: der Federansatz- Manifestation der klassischen Kommun-
winkel beträgt ca. 30°, daraus ergibt sich schrift. Bei einigen Formen erscheint das
zwangsläufig die folgende Verteilung von Zweilinienschema — in vergleichbarem Aus-
Haar- und Schattenstrichen: die senkrechten maß zur früheren und zeitgleichen Kapitalis
und die von links unten nach rechts oben — konsequent durchbrochen (z. B. bei allen
verlaufenden Züge sind schwach ausgeprägt, -Formen (3. Zeile domine des ...), bei der An-
die waagrechten und von links oben nach fangshasta des A (2. Zeile in ...aureliae ... et
rechts unten verlaufenden Züge sind stärker passim). Die Form des E wird in einem Zug
ausgeprägt, insgesamt erscheinen die Buch-
staben dieser Schriftart im Vergleich zu jenen realisiert: (z. B. 1. Zeile ... v alerio ...); die
gleichaltriger monumentaler Lapidarinschrif- Formen von R und P sind kaum unterscheid-
ten lateral komprimiert (man könnte darin bar (vgl. 1. Zeile ... valerio ... mit 6. Zeile ...
einen Faktor sehen, der zum ökonomischen philippo ...), auffällig ist auch die gewaltige
Umgang mit dem jeweiligen Beschreibstoff Ober- und Unterlänge des H, das schon eine
führt bzw. durch letzteren induziert wurde); minuskuläre Form zeigt, im zuletzt zitierten
im Unterschied zu den Buchstabenformen der Wort. Beide Arten der Kommunschrift weisen
Schrift des „Briefes“ (1. Jahrhundert v. Chr.) zahlreiche Buchstabenligaturen auf, die hier
sind die „freien“, an der Basislinie nicht weiter aus Raumgründen jedoch nicht diskutiert
verbundenen Initialhastastriche mit Serifen werden können (vgl. Mallon 1952, §§ 162 ff).
(„Füßchen“) versehen (z. B. Die Schrift der Petition von 345 n. Chr.
(Abb. 12.20) wird in der paläographischen
Literatur einhellig als Beispiel für die „jüngere
). römische Kursive“ bzw. für die neue Kom-
munschrift angesehen (vgl. Mallon 1952,
Es folgt nun jeweils ein Beispiel für die § 161). Es wurde oben schon kurz dargelegt,
klassische bzw. neue Kommunschrift, auf de- daß die neue Kommunschrift nicht in toto als
ren Unterschied bzw. partielle Diskontinuität einfache Weiterentwicklung der klassischen
192 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.20: Petition des Flavius Abbinneus aus dem Jahr 345 n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. XXII, 3)
Kommunschrift angesehen werden kann. Bei den Buchstabenformen n, p, d, m der
Mallon (1952, §§ 162 f) zeigt an einigen wei- Petition von 345 n. Chr. sieht es nun so aus,
teren Beispielen phanemische und/oder kine- als ob die neue Kommunschrift definitiv das
mische Differenzen zwischen den beiden Zweilinienschema der Kapitalis in Richtung
Kommunschriften, die gegen die hergebrachte auf ein Vierlinienschema durchbrochen hätte;
These von einer inneren Entwicklungskonti- dies sowohl was die von ihrer phanemischen
nuität zwischen beiden sprechen: Form her „minuskulären“ Mittellängenbuch-
staben n und m, als auch was die mit Unter-
E: (z. B. in pietatis, 2. Zeile) bzw. Oberlänge versehenen Formen von p
N: N oder (letztere Form z. B. in constan- und d anlangt.
Um diese Frage zu klären, scheint es an-
tinopolim , 2. Zeile) gebracht, eine grundsätzliche Diskussion der
P: (z. B. in constantinopolim, 2. Zeile) traditionellen Termini Majuskel- vs. Minus-
D: d (z. B. in producere, 4. Zeile) kelschrift, deren wörtliche Bedeutung fach-
M: (z. B. in comitatum, 5. Zeile) sprachlich längst obsolet geworden ist, zu füh-
R: (z. B. in uestrum, 5. Zeile)
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 193

ren — und dies auch im Zusammenhang mit Hier müssen weitere Kriterien zur Er-
weiteren Entwicklungen der Kapitalis in klärung von Veränderungen gefunden wer-
Richtung auf die sog. Unzialschrift. Von be- den, z. B. Rekti- vs. Kurvilinearität; die Mani-
sonderer Bedeutung erscheint eine solche Dis- festation des letzteren Kriteriums ergibt
kussion im Hinblick auf die Tatsache, daß sich schreibmotorisch fast zwangsläufig aus
spätestens ab dem Ende des weströmischen schnellerem kurrenterem Schreiben. Damit
Reichs die europäische Normalschrift, ihre einhergehen kann die Vermeidung von „Luft-
unmarkierte Form, jene des sog. Minuskelal- zügen“, d. h. die Feder wird beim Herstellen
phabets ist; markierte Formen in ihrer Funk- einer Buchstabenform, aber auch bei deren
tion als sog. Auszeichnungsschriften erschei- Verbindung mit anderen, nicht mehr von der
nen gemeinhin als Varietäten der sog. Majus- Schreibfläche abgehoben (dies läßt sich an der
kelschrift. neuen Kommunschrift deutlich ablesen, vgl.
Mallon (1952, § 155 f) betrachtet das von Abb. 12.20). Aus den beiden genannten Kri-
Reusens (1899) und nach diesem von Prou & terien kann — selbst bei gleichbleibendem
Boüard (1924, 29) vorgeschlagene Kriterium oder nur schwach verändertem kinemischem
der Unterscheidung zwischen Majuskel- und Programm (= Duktus) der Verlust der ur-
Minuskelschrift, ob nämlich eine Schrift dem sprünglichen phanemischen Hasta + Coda-
Zweilinien- oder dem Vierlinienschema ge- Struktur resultieren (deutlichstes Beispiel
horcht, als ganz unzureichend („caractéristi- D > , das Ergebnis dieser Veränderung
ques calligraphiques tout à fait extérieures et
accessoires“). Dem muß entgegengehalten zeigt sich sowohl in Kapitalisschriften des
werden, daß schon in frühesten belegten Bei- ausgehenden 1. Jahrhunderts n. Chr. (z. B. in
spielen für die klassische Kommunschrift (vgl. de bellis, Abb. 12.23) als auch in der klassi-
z. B. Abb. 12.19) eine durchgängige Differen- schen Kommunschrift (vgl. Abb. 12.19).
zierung der vertikalen Erstreckung einiger Um der Unterscheidung zwischen einer
sog. Majuskelschrift und einer sog. Minus-
Formen feststellbar ist (z. B. kelschrift die notwendige definitorische Prä-
). zision geben zu können, sei zunächst einmal
In dem Entwicklungsstadium einer Schrift, die Kapitalisschrift (vgl. Abb. 12.18) hinsicht-
in dem eine regelmäßige, gar kanonisierte lich eines globalen phanemischen Kriteriums,
Überschreitung des Zweilinienschemas vor- nämlich der vertikalen und horizontalen Aus-
liegt, sollte dieses Faktum auch für deren bildung der Gestalt eines Buchstabens be-
Beschreibung und Klassifikation herangezo- trachtet. Dabei zeigt sich, daß bis auf eine
gen werden. Dies um so mehr, als das Vor- Ausnahme (das I besteht aus einer bloßen
handensein einer Ober- und/oder Unterlänge Hasta), alle Kapitalisbuchstaben eine ge-
einer Buchstabenform sich im Einzelfall (z. B. dachte rechteckige Fläche in einem Zweili-
) ganz deutlich auf ihre interne morpho- nienschema „bestreichen“. Gemeint ist damit,
daß manche Kapitalisformen eine rechteckige
logische Charakteristik auswirkt, ja auswir- Fläche tatsächlich optisch ausfüllen; es sind
ken muß. Man sollte also eher von einer In- dies B, C, D, E, G, H, K, M, N, O, Q, R, S,
teraktion zwischen den Faktoren Form, Duk- X, Z; oder eine solche rechteckige Fläche in
tus und Vertikalerstreckung eines Buchsta- einer vertikalen Projektion ihrer maximalen
bens ausgehen. Mallon kann jedoch insoweit horizontalen Erstreckung virtuell abdecken;
Recht gegeben werden, als bestimmte Formen es sind dies A, F, L, P, T, V, Y. Im letzteren
schon von ihrem Duktus her als majuskulär Fall sähe dies dann so aus:
oder minuskulär interpretiert werden können;
z. B. N vs. M: > (hier liegt eine Duk-
tusänderung vor!) > (hier liegt keine Das Kriterium der virtuellen Projektions-
Duktusänderung vor). fläche (gestrichelt) liefert auf der Basis der
N ist ja der Kapitalbuchstabe, der sich bis Kapitalisformen einen ersten Anhaltspunkt
in die karolingische Minuskel hin am hart- für weitere Entwicklungen dieser Buchstaben
näckigsten einer Minuskulisierung widersetzt in Richtung ihrer späteren Minuskelformen.
hat. Bei anderen Formen liegt das Problem Wie zu zeigen ist, reicht dieses Kriterium je-
jedoch nicht so einfach: doch nicht aus, um die Entstehung aller Mi-
nuskelformen restfrei zu erklären; im Falle
von F, L, P und Y erscheint es genügend, in
194 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

den Fällen A, T und V jedoch nicht. Das Minuskelschrift in deren Vierlinienschema


entscheidende Kriterium, das dieses „schwa- anders als im Zweilinienschema der Kapitalis
che“ Kriterium einschließt, ist die Existenz variiert:
einer primär vorhandenen — wie bei F, L, P
und Y — oder einer sekundär entwickelten
— wie bei b, d, g, h, k, q (r) — phanemisch
initialen oder finalen „freien“ Hasta, wie sie Nach lesepsychologischen Erkenntnissen
sich in der weiteren Entwicklung der Kapi- (z. B. Broadbent 197 7 ) ist eine solche Ver-
talisformen über die de bellis -Schrift (Abb. teilung von Buchstabenformen in sequentia
12.23) und die klassische Kommunschrift offenbar für die schnelle Verarbeitung pha-
(Abb. 12.19) hin zur Epitome -Schrift (Abb. nemischer Information positiv einzuschät-
12.24) zeigt. zen. Eine detaillierte Überprüfung der hier
Unter „freier Hasta“ ist derjenige Bestand- vorgeschlagenen Minuskulisierungshypothese
teil einer Buchstabenform zu verstehen, der folgt unten im Zusammenhang mit den Abb.
nicht in seiner ganzen Längenerstreckung von 12.22—12.25.
Codateilen umschlossen bzw. begrenzt ist; Wie schon gezeigt wurde (vgl. Abb. 12.19),
z. B. F, L, P. Diese Formen mit einer histo- weisen Buchstabengestalten in Varietäten der
risch primären freien Hasta bilden ihre jewei- klassischen Kommunschrift einigermaßen re-
lige Hasta im Mittellängen- und Ober- bzw. gellos „Überlängen“ auf, ohne den Kriterien
Unterlängenbereich einer per definitionem der hier formulierten Hypothese zu genügen.
vierlinigen Minuskelschrift ab. Die Entschei- Diese nach oben und unten „ausschweifen-
dung, ob die freie Hasta im Ober- oder im den“ Schreibzüge erklären sich aus mehr oder
Unterlängenbereich erscheint, hängt von der weniger idiosynkratischen, stark dynamisier-
Position der Coda an der Hasta ab: liegt sie ten Schreibbewegungen, die keiner genauen
oben, ergibt sich eine Hasta mit Unterlänge, Norm folgen. Einer Beseitigung dieser Regel-
liegt sie unten, führt dies zu einer Hasta mit losigkeit im Interesse einer besseren Lesbar-
Oberlänge. So bekommt z. B. P als Minuskel keit standen — angesichts des auch in Kapi-
eine Unterlänge: p; L eine Oberlänge: 1. Die- talisvarietäten schon im 1. Jahrhundert v. Chr.
selben Kriterien gelten für Buchstabenfor- (vgl. Abb. 12.17 ) in Auflösung begriffenen
men, die erst sekundär eine freie vertikale Zweilinienschemas — eigentlich nur zwei Al-
ternativen offen: 1. Rückkehr zu einer Art
Hasta entwickeln: B > b, D > d, G > , Zweilinienschema in dem die mittlerweile in
H > h, Q > q. ihrer Höhenentwicklung differenzierten Buch-
Die Verteilung der Ober- bzw. Unterlängen stabenformen (z. B. die de bellis -Formen
der Hasten hängt ihrerseits an dem Kriterium,
daß der Ober- und Unterlängenbereich ) zwischen zwei Begrenzungslinien
grundsätzlich von Codaelementen frei gehal- „eingezwängt“ werden. Fiktives Beispiel:
ten wird, d. h. die Codaelemente der Minus-
kelformen müssen den Mittellängenbereich
ausfüllen; sie bilden sozusagen ihren „Kör-
per“. Diese Codaelemente sind also in ihrer oder 2. den Wildwuchs der Vertikalentwick-
Minuskelerstreckung den Buchstabenformen, lung normieren, d. h. die „Überlängen“ in
die nicht vom Kriterium der „freien Vertikal- einem Vierlinienschema als Ober- und Unter-
hasta“ erfaßt sind (z. B. A > ,E> etc.), längen zu kanonisieren.
Die erste Alternative findet sich näherungs-
gleichgestellt. Dies impliziert, daß der Körper weise in der sog. Unzialschrift, verwirklicht,
der zuletzt genannten Buchstabenformen sich die — wie Mallon 1939/1982, [41] gezeigt hat
ausschließlich im Mittellängenfeld abbildet. — keine Weiterentwicklung der Kapitalis,
Die optische Informationsdichte einer Buch- sondern eine artifiziell-kalligraphische Ent-
stabenform konzentriert sich also im Mittel- wicklung auf der Basis der de bellis -Schrift
längenfeld (vgl. Coueignoux 1981), das inso- darstellt. In der sogenannten Unzialis zeigen
weit dem alten Zweilinienfeld der Kapitalis sich zwar — ähnlich wie in der de bellis -Schrift
entspricht; dabei ist der optische Diskriminie- — prekäre, sozusagen halbherzige Ober- und
rungswert der Ober- und Unterlängen gleich- Unterlängen, jedoch erscheint die Tendenz zu
wohl nicht zu vernachlässigen (vgl. etwa d vs. einem Zweilinienschema vorherrschend (vgl.
q). Abb. 12.21, die eine sehr späte Prachtunziale
Daraus folgt auch trivialerweise, daß die zeigt).
vertikale Erstreckung der Buchstaben einer
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 195

Abb. 12.21: Unziale, Markusevangelium, Kap. 9,


8. Jahrhundert n. Chr. (Ö. N. B., Cod. 15216, f. 2)
(aus Hunger et al. 1961, Abb. 29)
Die zweite, „siegreiche“ Alternative ist in
der Epitome -Schrift verwirklicht: Hier er-
scheinen die „geschlossenen“ Buchstabenfor-
men bzw. die neuen minuskulären Codafigu-
ren als Buchstaben„körper“ im Mittellängen-
bereich, der insoweit dem klassischen Zwei-
linienfeld entspricht; die Ober- und Unterlän-
gen bekommen nach den genannten Kriterien
jeweils eigene, im Verlaufe der Entwicklung
kanonisierte Bereiche zugewiesen.
Die vorgeschlagene Hypothese soll zeigen,
daß dieser Prozeß nicht von zufälligen Fest-
legungen, sondern von Kriterien gesteuert
war. Es bedürfte allerdings weiterer detaillier-
ter Untersuchungen darüber, ob es sich um Abb. 12.23: Papyrusfragment de bellis macedonicis,
eine Kette von den Schreibern bewußten, 1./2. Jahrhundert n. Chr. (aus Carlo 1983, Abb. 20)
sozusagen schreib- und schrift-theoretisch
reflektierten Entscheidungen gehandelt hat,
oder ob ein Konventionalisierungsprozeß an-
zunehmen ist. Intuitiv gesehen dürfte letzteres
wahrscheinlicher sein.
Die folgenden Beispiele (Abb. 12.22—
12.25), die in zeitlich aufsteigender Reihen-
folge Schriftvarietäten vom 1. bis zum frühen
6. Jahrhundert n. Chr. repräsentieren und da-
mit gleichzeitig einen Überblick über Ent-
wicklungen von majuskulären bis zu minus-
kulären Schriften geben, dienen im folgenden
als Belegmaterial, an dem die obige Hypo-
these über die Entstehungsbedingungen der
Minuskelschrift überprüft werden kann.

Abb. 12.24: Papyrusfragment Epitome Livii, 2./3.


Jahrhundert n. Chr. (aus Mallon 1952, Pl. XVII,
Abb. 12.22: Kapitalis, 1. Jahrhundert n. Chr.
1 + 3)
(nachgeschrieben) (aus Delitsch 1928, Abb. 6)
196 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 12.25: Alphabete aus Briefe des Hl. Cyprian , ca. 350 n. Chr. (Malilon 1952, Pl. XXX, 5) und aus einem
Hilarius -MS, ca. 530 n. Chr. (CLA 1 b) (beide aus Mallon 1952, 93)
A: Das Kapitalis- und das de bellis- Alphabet schrift in der Hierarchie der Auszeichnungs-
zeigen die klassische offene Form, im Epi- schriften in karolingischen Codices nach der
tome- Alphabet hat sich die Form durch Rea- capitalis quadrata und der Kapitalis („Ru-
lisierung eines „Luftzugs“ zwischen den bei- stica“) an dritter Stelle der Rangfolge er-
den Schenkeln geschlossen; damit ist grosso scheint.
modo wieder die archaische Form (vgl. Abb. C: Nach den genannten Kriterien mußte
12.11) erreicht. Diese Form kann nach den diese Form, die in ihrer Morphologie genau
Kriterien unserer Hypothese keine Oberlänge der majuskulären Kapitalis entspricht, als mi-
entwickeln (keine freie vertikale Hasta!), sie nuskulärer Mittellängenbuchstabe in einem
bleibt die kanonische minuskuläre Form über Vierlinienschema erscheinen; sie blieb in der
die Carolina bis heute. In der Kurrentschrift Folge bis heute unverändert.
hat sie die aus der neuen Kommunschrift D: Durch die oben beschriebenen und er-
stammende Form , die in vorkarolingischer klärten Strukturveränderungen entwickelte
und karolingischer Zeit als cc-Form erscheint, sich die -Form des de bellis- Alphabets, die
als Parallele. auch für alle „unzialen“ Ausprägungen der
B: Die Form mit der Doppelbogen-Coda Kapitalis kennzeichnend ist; sie weist schon
muß auch in der de bellis -Schrift existiert in de bellis eine Oberlänge auf. Regelrecht,
haben. Das B wurde erst minuskelfähig, als d. h. nach den oben genannten Kriterien, er-
es über das b der neuen Kommunschrift und scheint das d als minuskuläre Form in der
der Epitome- Schrift die heute noch gültige Epitome -Schrift, nachdem die neue rechte Ha-
Form mit der einfachen Bogencoda an der
Hastabasis erreicht hatte: die initiale Verti- sta d vertikalisiert worden war.
kalhasta war „frei“ und konnte sich deshalb E: Diese Form kann sich, nach den Kriterien
als Oberlänge entwickeln, die Bogencoda nur zu einem minuskulären Mittellängen-
füllte als Körper den Mittellängenbereich aus. buchstaben entwickeln.
Die später belegten B-Formen des Cyprian- F: Erscheint schon in de bellis, einer Kapi-
und Hilariusalphabets zeigen die klassische talisvarietät, die sich evolutionär noch zwi-
Kapitalisform (die erste mit einer Quasi-Ober- schen einem Zwei- und Vierlinienschema be-
länge, die zweite wurde auf Mittellänge re- findet, „wegen“ ihrer freien Hasta als Buch-
duziert). Diese beiden Alphabete, die traditio- stabe mit Unterlänge, behält diese Unterlänge
nell zu den sog. (Halb)Unzialschriften gerech- auch noch in der Carolina-Schrift (vgl. Abb.
net werden, stellen, wie die capitalis quadrata 12.26) und verliert sie definitiv erst in der
bzw. elegans, Endpunkte von Schriftenent- littera antiqua formata -Schrift der italieni-
wicklungsphasen dar (vgl. zur ausgedehnten schen Humanisten (14./15. Jahrhundert
Unzialis-Diskussion Mallon 1952, §§ 151 ff n. Chr.), die damit von dem — auch theore-
und Tjäder 197 4). Aus der „Unzialis“ ergeben tisch begründbaren — Kanon der karolingi-
sich keine weiteren Entwicklungslinien; ein schen Minuskel abweichen; F behält die Un-
indirekter Beweis dafür kann auch in der Tat- terlänge jedoch — zusammen mit einer Ober-
sache gesehen werden, daß die sog. Unzial- länge — bis heute in kursiven Druckantiqua-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 197

und Kurrentschriften. Die humanistische Ver- Schriften manifestieren mußte; die unten of-
tikalentwicklung dieses Buchstabens stellt je- fene Bogencoda bildete sich als Mittellänge
doch — ob mit oder ohne Unterlänge — im ab.
Vergleich zu anderen Oberlängenbuchstaben I: Zwar kommen kapitalis- und kommun-
eine Ausnahme dar: die Oberlänge weist ih- schriftlich „lange“ I-Formen vor (so noch in
rerseits einen Codastrich auf; d. h. die Codae de bellis ), wegen seiner Basisstruktur (bloße
fügen sich nicht entsprechend den Kriterien Hasta) konnte diese Form keinen Kö rper ent-
in das Mittellängenfeld ein, sondern bilden wickeln. Die Hasta wurde sozusagen hilfs-
sich teilweise im Oberlängenfeld ab. Der weise auf Mittellängenmaß gestutzt. Der i-
Grund dafür mag darin liegen, daß die Co- Punkt bzw. -strich erscheint aus Gründen der
dafigur — anders als z. B. bei p und q — leichteren phanemischen Unterscheidbarkeit
offen ist und daß durch den kurzen, meist erst im 14./15. Jahrhundert n. Chr.
nach rechts umgebogenen oberen Codastrich K: Ist dem lateinischen Alphabet eigentlich
das Oberlängenfeld phanemisch wenig bela- fremd; morphologisch paßt er jedoch sowohl
stet erscheint. Im übrigen ist die „regelrechte“ in ein Zweilinien- als auch in ein Vierlinien-
Unterbringung des F-Körpers im Mittel- und schema. Entsprechend den Kriterien weist er
Unterlängenfeld in irischen (Hand)Schriften eine freie Hasta auf, die winklig angeordneten
des 7 ./8. Jahrhunderts n. Chr. bis heute durch- Codastriche bilden sich minuskelschriftlich
aus die Norm. regelgerecht im Mittellängenfeld ab.
G: Nach den Kriterien ist, ausgehend von der L: War sowohl kapitalis- wie auch kommun-
Form dieses Buchstabens in der Kapitalis, schriftlich schon früh als „langer“ Buchstabe
eine Unterlängenentwicklung eigentlich nicht ausgeprägt; seine Coda erscheint regelgerecht
zu erwarten; wie C — von dem es abgeleitet als Basisstrich im Mittellängenfeld.
ist — hätte sich G zu einer Mittellängenform M: Die vertikalaxial symmetrische Form ist
entwickeln müssen. Dagegen spricht jedoch nach der archaischen Phase des griechisch-
die mangelnde phanemische Unterscheidbar- lateinischen Alphabets zu keiner Zeit „be-
keit der C-G-Mittellängenformen. In Kapi- droht“ gewesen; sie wurde deshalb als Ganzes
talisschriften des 3. Jahrhunderts n. Chr. und — wenn auch mit einer kleinen initialen Duk-
in der neuen Kommunschrift entwickelte sich tusveränderung — in den minuskulären Mit-
das Diakritikum des Kapitalis-G zu einem tellängenbereich übernommen. Grundsätzlich
abwärts gerichteten Hastaansatz (vgl. das hätte sich initial (wegen der freien Hasta) eine
Epitome- Alphabet und Abb. 12.24). Die wei- Oberlänge entwickeln können: oder wie in
tere Entwicklung hin zur Carolina, die im der späten griechischen Minuskel eine Unter-
Detail noch zu klären wäre, wurde von kom- länge: . Im lateinischen Alphabet ist dies
munschriftlichen Formen diktiert: von offe-
nen Formen wie entwickelte sich die Caro- wohl deshalb nicht geschehen, weil sonst
zweideutige Buchstaben bzw. Buchstabenver-
lina-Form mit einer geschlossenen Coda und bindungen — oder — entstanden wären.
einer geschwungenen Finalhasta. Damit er-
weist sich das g bis heute als der einzige Mi- N: Diese Form verhielt sich in ihrer Entwick-
nuskelbuchstabe mit einer nach links einge- lung analog zum M, nur daß — wohl beein-
bogenen Unterlänge und verletzt damit — wie flußt vom Duktus des m — die Kapitalisform
f — das Kriterium geradlinig endender Ha- N erst in der Carolina aufgegeben wurde.
stastriche. Erklärbar ist diese Entwicklung je- Ansätze zu einer Unterlängeninitialhasta las-
doch durch die notwendige Vermeidung der sen sich in der Kapitalis (vgl. Epitome- Schrift)
Homographie von g und q (Heterogenisie- wie auch kommunschriftlich gleichwohl nach-
rung!). weisen.
H: Seine vertikalaxial symmetrische Kapita- O: Diese Form war schriftgeschichtlich im-
lisform verlor dieser Buchstabe, wohl aus mer der geschlossene Körper par excellence
Gründen der Duktusvereinfachung, schon in und konnte minuskulär nur als Mittellängen-
der klassischen Kommunschrift ( > > ); form erscheinen.
P: Hat wegen seiner freien Hasta und seiner
die Kapitalis von de bellis zeigt eine im Ge- oben angesetzten Bogencoda folgerichtig eine
gensatz zu ihren anderen eleganten Formen Unterlänge entwickelt; der Codabogen er-
eine seltsam ungelenke h-Form. Damit hatte scheint als Körper im minuskulären Mittel-
sich eine freie Initialhasta ergeben, die sich längenbereich.
als Mittel- plus Oberlänge in allen späteren
198 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Q: Der rechte Bogen der O-Form wurde in einer freien Vertikalhasta — verantwortlich
der de bellis- Schrift mit der Mini-Coda zu gemacht werden, die sich sowohl in der v- als
einer Finalhasta verbunden; daraus mußte
sich — vor allem nach der Vertikalisierung
dieses Zugs in der Epitome -Schrift — eine
minuskuläre Unterlängenfinalhasta entwick-
len.
R: Diese Form zeigt sowohl in der Kapitalis
(vgl. de bellis- Alphabet) als auch kommun-
schriftlich in Übereinstimmung mit dem Kri-
terium der freien Vertikalhasta eine Unter-
länge. Nach dem Zusammenfließen der Bo-
gencoda (vgl. Epitome- Alphabet) mit dem
zweiten geraden Codaelement zu einem offe-
nen Rechtsschwung blieb die Unterlänge bis
in späte Carolinavarietäten erhalten. Defini-
tiv wurde die Unterlänge — wohl wegen der Abb. 12.26: Evangeliar aus dem Kloster Weißen-
schwächer werdenden morphologischen Aus- burg (heute Wissembourg), 1. Hälfte des 9. Jahr-
prägung der Coda ( ) — in späten Carolina- hunderts n. Chr. (aus Hartmann & Scheffler 1986)
Phasen beseitigt (jedoch nicht in insularen
Schriften, die — wie im Falle des — kon-
sequent und konservativ bleiben).
S: Die kapitalisschriftliche Variante dieses
Buchstabens verblieb als hinreichend ge-
schlossene Form im minuskulären Mittellän-
genbereich. Die kommunschriftliche langge-
zogene Variante erscheint als „langes s“ in der
Carolina als Mittel- plus halber Oberlängen-
buchstabe; in späteren kommun- bzw. kur-
sivschriftlichen Varietäten erstreckt sich die
Form — wie auch das f — über die ganze
Höhe des Vierlinienschemas. Die orthogra-
phische Differenzierung in rundes Schluß-
und Fugen-s und sonst langes s erfolgte erst Abb. 12.27: Sacramentarium aus dem Kloster
in der Humanistenzeit. Lorsch, zwischen 978 und 993 n. Chr. (aus Ehrle &
T: Wohl wegen seiner leicht gestörten verti- Liebaert 1912, 33)
kalaxialen Symmetrie (vgl. Abb. 12.23) ver- auch in der u-Variante durchgesetzt hat (vgl.
blieb diese Form zunächst im Mittellängen- oben das zur Entwicklung von M Gesagte).
bereich; erst in „gotischen“ Entwicklungspha- X: Diese Form „mußte“ mangels einer freien
sen verlor der Buchstabe seine Begrenzung im vertikalen Hasta zu einer minuskulären Mit-
Mittellängenfeld, die Hasta „übertrat“ den tellängenform werden.
Querstrich (zuerst sicher zufällig) und bekam Y: Dieser unlateinische Buchstabe konnte
dadurch eine prekäre halbe Oberlänge (dies aufgrund seiner halben vertikalen Hasta und
gilt auch noch für viele Antiqua-Druckschrif- dem nach oben offenen winkligen Körper eine
ten). In der irischen Minuskel wurde die Ca- Unterlänge entwickeln, die allerdings aus
rolinaform als Mittellänge bis heute beibe- Gründen der Duktusvereinfachung mit dem
halten. zweiten Zug zu einer schrägen Unterlänge (y)
U/V: Diese Formvarianten schwanken zwi- zusammenfloß.
schen vertikalaxialer Symmetrie und vertikal- Z: Diese an sich unlateinische Form konnte
axialer Asymmetrie (mit vertikaler Finalha- nach den Kriterien nur als Mittellängenbuch-
sta). Für das Verbleiben im minuskulären stabe weiterexistieren (vgl. jedoch die völlig
Mittellängenbereich muß letztlich die Sym- aus dem Rahmen fallende Form in Abb.
metrieeigenschaft — und damit das Fehlen 12.27 ; für den Schreiber gehörte sie offen-
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 199

sichtlich nicht zu den kanonisierten Formen sind; vgl. Stiennon (197 3, 94 ff) zu weiteren
der Carolina). Details, insbesondere auch zu Fragen des re-
Die vorhergehende Überprüfung der gionalen Ursprungs und der Ausbreitung der
Hypothese, derzufolge die in dem definierten Carolina.
Sinne „geschlossenen“ Formen der Kapitalis- Die Schrift des Evangeliars aus Weißen-
buchstaben sich in einer Minuskelschrift als burg (Abb. 12.26, vgl. auch Abb. 14.5) reprä-
Mittellängenbuchstaben abbilden, es sei denn, sentiert die Carolina in ihrer formalen und
daß sie eine primäre oder sekundär erworbene ästhetischen Vollendung (dies gilt generell für
„freie“ Vertikalhasta aufweisen, ergab insge- die Erzeugnisse der ostfränkischen Skripto-
samt eine gute Bestätigung. Die Ausnahmen rien). Die Verteilung der Ober- und Unterlän-
— etwa f, g und r — lassen sich jedoch eben- gen ist bei b, d, h, l und bei g, p, q eindeutig
falls durch plausible Zusatzbedingungen er- geregelt; bei f und , die ja keine nach oben
klären. gerade auslaufenden Hasten aufweisen (vgl.
Damit ist der für die Entwicklungsge- die obige Diskussion zu f) hat sich der Schrei-
schichte des lateinischen Alphabets entschei- ber für eine „halbe“ Oberlänge entschieden.
dend wichtige Übergang von der Kapitalis- Dies heißt, daß für frühe kanonische Caro-
bzw. Majuskelschrift zur Minuskelschrift em- lina-Varietäten die oben aufgestellten Krite-
pirisch fundiert beschrieben und auch theo- rien für die Verteilung von Mittel-, Ober- und
retisch erklärt. Der Übergang von einer frü- Unterlängen in strengerer Form gültig sind
hen Minuskelschrift, wie sie sich im Epitome- als bei späteren minuskelschriftlichen Ausprä-
Fragment dokumentiert, zur „modernen“ ka- gungen, in denen f und ihre volle Oberlänge
rolingischen Minuskel beinhaltet keine we- zugewiesen bekamen (vgl. Abb. 12.27 , Sac-
sentlichen morphologischen Veränderungen ramentarium aus dem späten 10. Jahrhundert
mehr; die Tatsache, daß z. B. im 4. und 5. n. Chr.). Anders sieht es bei den Ligaturen
Jahrhundert n. Chr. kalligraphische Pracht- und aus; hier wurde der Ligaturbogen über
codices in einer nachempfundenen capitalis die ganze Oberlänge gezogen (diese Ligatu-
elegans oder in einer sog. Unzialschrift ge- ren, wie auch ft und ff, haben sich übrigens
schaffen wurden, ist schriftentwicklungsge- in Druckantiquaschriften bis in die Moderne
schichtlich irrelevant. Dasselbe gilt — aus an- erhalten). Das t beschränkt sich ansonsten
deren Gründen — für die vielerlei Varietäten eindeutig auf die Mittellänge (vgl. obige Dis-
von sog. Nationalschriften und kommun- kussion); das x übernimmt die eigentlich ir-
schriftlichen Fortsetzungen. Ziel dieser Dar- reguläre Unterlänge des zweiten Zuges aus
legungen ist es, auf einem theoretisch defi- früheren kommunschriftlichen Vorbildern.
nierten Beschreibungs- und Erklärungsniveau Die Carolina war bis zum ausgehenden 12.
die schriftentwicklungsgeschichtlich relevan- Jahrhundert n. Chr. in kalligraphischer Voll-
ten kategorial-morphologischen Zustände endung die Schrift der Codices, in etwas kur-
und ihre Veränderungsparameter großflächig renterer Form — oft mit zusätzlichen Liga-
zu erfassen. turen und Abkürzungen versehen — auch die
Schrift für Dokumente und Randglossen von
Texten (vgl. Stiennons (197 3, 98 f) Diskussion
6. Von der karolingischen zur abweichender Meinungen). Ihre Renaissance
„gotischen“ Minuskelschrift. erlebte die Carolina im frühesten 15. Jahr-
Humanistischer Rückgriff auf die hundert n. Chr. in den litterae antiquae (for-
Karolinger Minuskel matae) italienischer Schreiberhumanisten,
Den unbestrittenen Höhepunkt — auch in vor allem durch Salutati und Poggio.
ästhetischer Hinsicht — der minuskelschrift- Spätestens während des 12. Jahrhunderts
lichen Entwicklung bildet die karolingische n. Chr. begannen Varietäten der sog. goti-
Minuskelschrift (Carolina; → Art. 14). Die schen Schrift zu erscheinen. Die hier vorge-
Forschung geht heute davon aus, daß diese schlagene Generalthese ist: gegenüber der Ca-
Schrift zwar auf der Basis vorgängiger Mi- rolina handelt es sich bei dieser hochmittelal-
nuskelschriften steht, daß sie jedoch ihre letzte terlichen Schrift hinsichtlich des Duktus
Vollendung kalligraphischen Intentionen ver- eigentlich um keine neue Schrift; es fand in-
dankt, die im Zusammenhang mit den unter soweit kein Bruch statt. Boussard (1951) hat
Pippin dem Kurzen (7 51—7 68 n. Chr.) begon- sehr deutlich zu machen gewußt, daß der ent-
nenen und unter Karl dem Großen 7 89 n. Chr. scheidende Unterschied zwischen diesen bei-
zu Ende geführten Liturgiereformen zu sehen den Schriftvarietäten in der Verwendung ver-
200 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

schieden geschnittener Gänsefedern bestand; Gutenbergs Textura in seiner 42zeiligen Bibel


die Carolina wurde mit einer am Ende gerade (1450—1455) vorbereitet → Tafel XVI).
geschnittenen Feder, die „gotische“ Schrift
mit einer nach links abgeschrägten Feder ge-
schrieben. An der folgenden Abbildung
(12.28) kann dieser Wechsel im Schreibinstru-
ment an den haarfeinen diagonalen Aufstri-
chen deutlich abgelesen werden.
Boussard macht plausibel, daß dieser von
der kontinentalen Gewohnheit abweichende
Federschnitt aus Skriptorien der britischen
Inseln nach 1066 n. Chr. in französischen
Skriptorien eindrang und sich rasch auf dem
Kontinent ausbreitete (vgl. etwa als Beispiel
für den irisch-insularen Federschnitt die um
850 n. Chr. in irischer Minuskel geschriebene
Priscian-Grammatik (Stiftsbibliothek St. Gal-
len); Abbildungen in Bieler 1961, 51). Weiter-
Abb. 12.28: Pergamentkodex mit der Vorrede des
reichende Vermutungen, daß die „gotische“
Rufinus zu seiner Bibelübersetzung (Dombiblio-
Schrift in einer quasi-synästhetischen Bezie-
thek Trier, Codex 133), aus dem Jahr 1191 n. Chr.
hung zur Spitzbogenarchitektur stehe, lassen
(aus Coellen 1922, Abb. 16)
sich weder empirisch noch theoretisch hinrei-
chend stützen.
Das vielfach als schriftmorphologisches
Kriterium für die „gotische“ Schrift ange-
führte Merkmal der „Brechung“ von Linien-
zügen innerhalb eines Buchstabens (wie sie in
der nichtgotischen beneventanischen Schrift
des 10. Jahrhunderts n. Chr. tatsächlich vor-
liegt, vgl. Lowe 1914) beruht letztlich auf
einer Art optischer Täuschung; der schräge Abb. 12.29: „Gotische“ Textura des 15. Jahrhun-
Federschnitt führt bei Buchstabenformen mit derts n. Chr. (aus Stiennon 1973, 112)
Ober- und Mittellängenhasten zu einem
Haarlinienansatz, der nicht kurvilinear, son- Über den Wechsel zu den neuen litterae
dern spitzwinklig endet bzw. so in die Hasta antiquae gibt es als Information aus erster
übergeht (vgl. Abb. 12.28); dies gilt grund- Hand den berühmten Brief Petrarcas an sei-
sätzlich für alle „gotischen“ Schriften, ob ge- nen Freund Boccaccio aus dem Jahre 1366;
radestehend oder kursiv, bis zum Erscheinen er beklagt sich über die augenschädigende
der sog. Textura im 13./14. Jahrhundert schlechte Lesbarkeit der „gotischen“ Schrift
n. Chr. (vgl. Stiennon 197 3, 112 ff zu „goti- seiner Zeit:
schen“ Varianten im hohen und späten Mit- Non vaga quidem ac luxurianti litera — qualis est
telalter und die methodologischen Diskussio- scriptorum — seu verius pictorum nostri temporis,
nen und detaillierten schriftmorphologischen longe oculos mulcens, prope autem afficiens et fa-
Analysen in Gumbert 1974). tigans, quasi ad aliud quam ad legendum sit inventa
Dieser Typ „gotischer“ Buchschrift ist sed alia quadam castigata et clara seque ultro oculis
durch folgende Merkmale gekennzeichnet: ingerente, in qua nichil orthographum, nichil om-
nino grammatice artis omissum dicas. (Zitiert nach
„Brechungen“ im Übergang vom schrägen
Hastaansatz zur Vertikalen und im Abstrich; Stiennon 1973, 121).
die Mittellängenformen erscheinen „hochbei- Petrarca könnte dabei etwa die 1353 in litterae
nig“, d. h. die Mittellängenhöhe (modern: x- bononienses (Bologna) geschriebene Novella
Höhe) dominiert gegenüber der Ober- und super decretalibus des Johannes Andrea vor
Unterlängenhöhe beträchtlich; Buchstaben- Augen gehabt haben (Abb. 12.30).
formen können unter entsprechenden Bedin- Die scriptura castigata et clara, die sich
gungen untereinander verschmelzen (vgl. z. B. Petrarca zum Vorbild nahm, war keine an-
in Abb. 12.29 oben do in dominus ). Damit ist dere als die karolingische Minuskel. Es war
Petrarcas Zeitgenosse Coluccio Salutati, der
12.  Die Buchstabenformen westlicher Alphabetschriften in ihrerhistorischen Entwicklung 201

fensperiode. Für ihn lag es nahe, die für Her-


vorhebungszwecke zu verwendenden Majus-
keln aus kaiserlich-römischen Inschriften sei-
ner römischen Umgebung zu nehmen (vgl.
Ullman 1960, 54 ff).
Unter den zahlreichen Humanistenschrei-
bern des 15. Jahrhunderts verdient Niccolò
Niccoli deshalb besonders hervorgehoben zu
werden, weil er es war, der eine mit jener
Abb. 12.30: Novella super decretalibus , 1353 (aus
seines Freundes Poggio rivalisierende huma-
Ehrle & Liebaert 1927, Abb. 43)
nistische Schrift zur Blüte gebracht hat; wohl
ihr den Namen antiqua littera gab und es auf der Basis von kurrenteren karolingischen
war Giovanni Francesco Poggio Bracciolini Glossenvarietäten entwickelte er die littera
(1380—1459), der in den Handschriften antiqua cursiva (Abb. 12.32 und 12.33), die in
(9.—12. Jh.) aus Salutatis Bibliothek die Vor- ihrer Vollendung durch Antonio Sinibaldi
bilder für die von ihm kultivierte und ver- zum Vorbild für die von Aldus Manutius 1499
breitete humanistische Schrift erblickte (vgl. verwendete kursive Druckantiqua werden
Stiennon 197 3, 122 ff für weitere Details und sollte (→ Art. 13).
im allgemeinen Ullman 1960). Zur Darstellung späterer humanisten-
Für die littera antiqua formata , die wenige schriftlicher Entwicklungen vgl. Wardrop
Jahrzehnte später das Vorbild für die ersten (1963); zur neuesten terminologischen Dis-
Druckantiquaschriften (vgl. dazu Brekle, kussion zur Klassifikation von Humanisten-
1993 b) werden sollte, liefert die folgende Ab- schriften vgl. Gumbert (1988); einen knappen
bildung ein Beispiel aus Poggios reifer Schaf- Überblick über kurrentschriftliche Entwick-
lungen vom 16.—19. Jahrhundert, auf die hier

Abb. 12.31: Poggio, Livius, 1425—26 (aus Ullman 1960, Nr. 25)
202 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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204 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Pfohl, Gerhard (ed.). 1968. Das Alphabet. Entste- tertumskunde 74, 9—40.
hung und Entwicklung der griechischen Schrift. Ullman, Berthold L. 1960. The Origin and Deve-
Darmstadt. lopment of Humanistic Script. Rom.
Prou, Maurice & Boüard, Alain de. 1924. Manuel Van Hoesen, Henry B. 1915. Roman Cursive Wri-
de paléographie latine et française. Paris. ting. Princeton.
Röllig, Wolfgang. 1985. Über die Anfänge unseres Wachter, Rudolf. 1987 a. Altlateinische Inschriften.
Alphabets. Das Altertum 31, 83—91. Sprachliche und epigraphische Untersuchungen zu
Sampson, Geoffrey. 1985. Writing Systems. Lon- den Dokumenten bis etwa 150 v. Chr. Bern etc.
don. —. 1987 b. Zur Vorgeschichte des griechischen Al-
Senner, Wayne M. (ed.). 1989. The Origins of Wri- phabets. Kadmos 26, 19—78.
ting. Lincoln/London. Wardrop, James. 1963. The Script of Humanism.
Sirat, Colette. 1988. The material conditions of the Some Aspects of Humanistic Script 1460—1560.
lateralization of the ductus. In: de Kerckhove & Oxford.
Lumsden, 173—201. Watt, William C. 1983. Grade der Systemhaftigkeit.
Steffens, Franz. 1903—1906. Lateinische Paläogra- Zur Homogenität der Alphabetschrift. Zeitschrift
phie. Freiburg (Schweiz). für Semiotik 5, 371—399.
Stiennon, Jacques. 197 3. Paléographie du Moyen —. 1988 a. What is the proper characterization of
Age. Paris. the alphabet; IV: Union. Semiotica 70, 199—241.
Sturm, Heribert. 1961. Unsere Schrift. Einführung —. 1988 b. Canons of alphabetic change. In: de
in die Entwicklung ihrer Stilformen. Neustadt an Kerckhove & Lumsden, 122—152.
der Aisch. Wuttke, Heinrich. 18 77 . Die Entstehung der
Thompson, Edward M. 1894. Handbook of Greek Schrift, die verschiedenen Schriftsysteme und das
and Latin paleography. London. Schrifttum der nicht alfabetarisch schreibenden
Tjäder, Jan-Olof. 197 4. Der Ursprung der Unzial- Völker. Leipzig.
schrift. Basler Zeitschrift für Geschichte und Al-
Herbert E. Brekle, Regensburg (Deutschland)

13. Typographie

1. Begriffsklärung z. B. unten 1.1.1.) — beliebig viele Instantiie-


2. Materiell-technische Voraussetzungen und rungen („Abdrucke“) auf einem Druckträger
Entwicklungen der Typographie: vom Bleisatz zu ermöglichen.
zum digital-elektronischen Satz Des weiteren ist unter Typographie jedoch
3. Typographische Maßsysteme auch das jeweilige Techniksystem zu verste-
4. Historisch-systematische Darstellung der hen, das solche Instantiierungen von Schrift-
Druckschriften seit Gutenberg zeichentypen im Prozeß der Satzherstellung
5. Typographie als Gestaltungsprozeß und des Druckens zu realisieren imstande ist
6. Literatur (siehe z. B. unten 2.1.1.—2.1.3.). Schließlich
wird der Terminus Typographie in einem ein-
geschränkten Sinne auch verwendet, um den
1. Begriffsklärung Gestaltungsprozeß und dessen Ergebnis zu
Beim Terminus Typographie gilt es zunächst, bezeichnen, das sich aus Anwendungen des
einige Begriffsklärungen herbeizuführen. Im Techniksystems ergibt; m. a. W. es geht hier
Bereich der Schriftrepräsentation ist Typogra- um die Auswahl von Schriftarten und -größen
phie zunächst als physikalisch bestimmbares und der Anordnung damit gesetzter Zeilen in
Abbildungsprinzip zu verstehen. Innerhalb des einem bestimmten Papierformat (Umbruch/
Variationsraums, der das Bild eines Schrift- Layout) (siehe Kapitel 3 und 4).
zeichens konstituierenden Linien- und/oder Grundsätzlich nicht berücksichtigt wird
Flächenkonfigurationen wird ein bestimmter hier — wenn auch in der Realität graphischen
Typus als angemessen oder korrekt definiert. Schaffens sich manchmal mit der lesefunktio-
Dieser Typus wird materiell realisiert, um — nal bestimmten Typographie überschneidend
ggfs. über verschiedene Zwischenstufen (siehe — die graphisch-ästhetische Verwendung von
Buchstabenformen als Typo-Kunst.
204 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Pfohl, Gerhard (ed.). 1968. Das Alphabet. Entste- tertumskunde 74, 9—40.
hung und Entwicklung der griechischen Schrift. Ullman, Berthold L. 1960. The Origin and Deve-
Darmstadt. lopment of Humanistic Script. Rom.
Prou, Maurice & Boüard, Alain de. 1924. Manuel Van Hoesen, Henry B. 1915. Roman Cursive Wri-
de paléographie latine et française. Paris. ting. Princeton.
Röllig, Wolfgang. 1985. Über die Anfänge unseres Wachter, Rudolf. 1987 a. Altlateinische Inschriften.
Alphabets. Das Altertum 31, 83—91. Sprachliche und epigraphische Untersuchungen zu
Sampson, Geoffrey. 1985. Writing Systems. Lon- den Dokumenten bis etwa 150 v. Chr. Bern etc.
don. —. 1987 b. Zur Vorgeschichte des griechischen Al-
Senner, Wayne M. (ed.). 1989. The Origins of Wri- phabets. Kadmos 26, 19—78.
ting. Lincoln/London. Wardrop, James. 1963. The Script of Humanism.
Sirat, Colette. 1988. The material conditions of the Some Aspects of Humanistic Script 1460—1560.
lateralization of the ductus. In: de Kerckhove & Oxford.
Lumsden, 173—201. Watt, William C. 1983. Grade der Systemhaftigkeit.
Steffens, Franz. 1903—1906. Lateinische Paläogra- Zur Homogenität der Alphabetschrift. Zeitschrift
phie. Freiburg (Schweiz). für Semiotik 5, 371—399.
Stiennon, Jacques. 197 3. Paléographie du Moyen —. 1988 a. What is the proper characterization of
Age. Paris. the alphabet; IV: Union. Semiotica 70, 199—241.
Sturm, Heribert. 1961. Unsere Schrift. Einführung —. 1988 b. Canons of alphabetic change. In: de
in die Entwicklung ihrer Stilformen. Neustadt an Kerckhove & Lumsden, 122—152.
der Aisch. Wuttke, Heinrich. 18 77 . Die Entstehung der
Thompson, Edward M. 1894. Handbook of Greek Schrift, die verschiedenen Schriftsysteme und das
and Latin paleography. London. Schrifttum der nicht alfabetarisch schreibenden
Tjäder, Jan-Olof. 197 4. Der Ursprung der Unzial- Völker. Leipzig.
schrift. Basler Zeitschrift für Geschichte und Al-
Herbert E. Brekle, Regensburg (Deutschland)

13. Typographie

1. Begriffsklärung z. B. unten 1.1.1.) — beliebig viele Instantiie-


2. Materiell-technische Voraussetzungen und rungen („Abdrucke“) auf einem Druckträger
Entwicklungen der Typographie: vom Bleisatz zu ermöglichen.
zum digital-elektronischen Satz Des weiteren ist unter Typographie jedoch
3. Typographische Maßsysteme auch das jeweilige Techniksystem zu verste-
4. Historisch-systematische Darstellung der hen, das solche Instantiierungen von Schrift-
Druckschriften seit Gutenberg zeichentypen im Prozeß der Satzherstellung
5. Typographie als Gestaltungsprozeß und des Druckens zu realisieren imstande ist
6. Literatur (siehe z. B. unten 2.1.1.—2.1.3.). Schließlich
wird der Terminus Typographie in einem ein-
geschränkten Sinne auch verwendet, um den
1. Begriffsklärung Gestaltungsprozeß und dessen Ergebnis zu
Beim Terminus Typographie gilt es zunächst, bezeichnen, das sich aus Anwendungen des
einige Begriffsklärungen herbeizuführen. Im Techniksystems ergibt; m. a. W. es geht hier
Bereich der Schriftrepräsentation ist Typogra- um die Auswahl von Schriftarten und -größen
phie zunächst als physikalisch bestimmbares und der Anordnung damit gesetzter Zeilen in
Abbildungsprinzip zu verstehen. Innerhalb des einem bestimmten Papierformat (Umbruch/
Variationsraums, der das Bild eines Schrift- Layout) (siehe Kapitel 3 und 4).
zeichens konstituierenden Linien- und/oder Grundsätzlich nicht berücksichtigt wird
Flächenkonfigurationen wird ein bestimmter hier — wenn auch in der Realität graphischen
Typus als angemessen oder korrekt definiert. Schaffens sich manchmal mit der lesefunktio-
Dieser Typus wird materiell realisiert, um — nal bestimmten Typographie überschneidend
ggfs. über verschiedene Zwischenstufen (siehe — die graphisch-ästhetische Verwendung von
Buchstabenformen als Typo-Kunst.
13.  Typographie 205

2. Materiell-technische raliger Anordnung in den weichen Ton ge-


Voraussetzungen und drückt. Nach Haarmann (1990, 168) finden
Entwicklungen der Typographie: sich auf den beiden Seiten des Diskos 241
vom Bleisatz zum logographische „tokens“, die Instantiierun-
digital-elektronischen Satz gen von 45 verschiedenen „types“ darstellen.
Die ungefähr gleichzeitig oder früher zu
Ziel dieses Abschnitts ist es, die jeweiligen datierenden keilschriftlichen Tontäfelchen aus
technologischen Voraussetzungen für die Her- dem Zweistromland (mit Ausstrahlungen
stellung druckschriftlicher Texte zu beschrei- nach Norden und Westen) zeigen einen Son-
ben; dabei liegt der Schwerpunkt hier auf den derfall der Anwendung des typographischen
verschiedenen Arten der Herstellung „typo- Prinzips: Syllabogramme wurden nicht mit-
graphischer“ Druckvorlagen und weniger auf tels materiell kompakter Typen in den wei-
einer detaillierten Darstellung der verschie- chen Ton gedrückt, sie wurden vielmehr im
denen Druckverfahren. Verlaufe des „Schreibens“ durch das Eindrük-
Das jedem typographischen Prozeß zu- ken eines keilförmigen Stempels erst zusam-
grundeliegende Prinzip ist, von jedem Ele- men„gesetzt“. Die graphische Minimalfigur
ment eines Schriftzeicheninventars einer be- des (oder der) Keil(e) findet in der lautsprach-
stimmten Ausprägung einen „Typus“ — in lichen Repräsentation eines Syllabogramms
welcher materiellen Manifestation auch im- keine Entsprechung; der „Keil“ ist also eine
mer — samt evtl. Hilfszeichen herzustellen, autarke minimale Einheit des Schriftsystems.
der es, je nach angewandter Technik, gestat- Um die Mitte des 11. Jahrhunderts stellte
tet, (ggfs. über verschiedene Zwischenstufen) der chinesische Schmied Pi Sheng aus Ton
zu physikalisch notwendig immer gleichen Typen einzelner Schriftzeichen her; nach dem
Instantiierungen dieses Typus auf einem Brennen konnten sie so zusammengesetzt
Druckträger (z. B. Papier) zu gelangen. Aus werden, daß eine druckfähige „Form“ ent-
einer Serialisierung (nach den orthographi- stand. Um eine präzise Positionierung der
schen und morphosyntaktischen Regeln einer einzelnen Tonlettern in der Druckform zu ge-
Sprache) von so instantiierten verschiedenen währleisten, wurde die Unterseite des Satzes
Buchstaben- (oder Silben- oder Logogramm-) mit einer Mischung aus Wachs, Harz und
typen ergeben sich Zeilen, Zeilenmengen bzw. Kalk bestrichen, die den Satz zu einer stabilen
Textrepräsentationen. Druckplatte verfestigte. Die Oberseite wurde
Die jeweils verwendete Drucktechnik ist eingefärbt, ein Blatt Papier darauf gelegt und
grundsätzlich abhängig von der Art der Ma- dieses mit geeigneten Werkzeugen (Bürste
terialisierung der Buchstabentypen; z. B. sind o. ä.) auf die Lettern gedrückt oder gerieben.
Bleilettersequenzen als direkter Input für ein Im Gegensatz zur späteren Druckpressentech-
Laserdruckverfahren notwendigerweise un- nik stellte das Abreibeverfahren hinsichtlich
geeignet. Umgekehrt gilt dasselbe für den Ein- einer völlig planen Letterdruckfläche wesent-
satz digital-elektronischer Impulsmengen in lich geringere Ansprüche. Das Ergebnis war
traditionellen Druckverfahren (Hoch-, Flach- ein „Reiberdruck“ oder Bürstenabzug; diese
und Tiefdruck). Kompatibilität zwischen ver- primitive Hochdrucktechnik war auch in
schiedenen — zunächst miteinander unver- Europa für die Erstellung von Probe- oder
träglichen — Satz- und Druckverfahren läßt Korrekturabzügen bis weit ins 20. Jahrhun-
sich jedoch über fotochemische bzw. opto- dert noch üblich. Technisch problematisch
elektronische zwischengeschaltete Schnittstel- dürften an Shengs Satz- und Drucktechnik
len erreichen (z. B. fotochemische Übertra- folgende Punkte gewesen sein: 1. die drucken-
gung von Bleisatzabdrucken oder Laseraus- den Linienzüge der Tonlettern brachen an
drucken auf Offsetdruckplatten). ihren Enden beim Druckvorgang wohl leicht
ab; 2. wegen ihrer festen Einbettung in die
2.1. Zur historischen Entwicklung der Kittmasse erscheint die häufige Wiederver-
typographischen Technik wendung für neue Satzformen eher fraglich,
Der berühmte altkretische Diskos von Phai- d. h. das Prinzip der sogenannten „bewegli-
stos (18./17 . Jh. v. Chr.), der — bisher unent- chen Lettern“, die immer wieder zu neuen
ziffert — eine vermutlich logographische Druckformen zusammengesetzt werden kön-
Schrift zeigt, darf als eine sehr frühe Anwen- nen, war noch nicht voll verwirklicht; 3. die
dung des typographischen Prinzips verstan- relativ rauhe Oberfläche der Lettern aus ge-
den werden: Zeichen„typen“ wurden in spi- branntem Ton dürfte — im Vergleich zur voll-
endet kalligraphischen Pinselhandschrift —
206 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

nur zu ziemlich unscharfen, mit Quetschrän- der Nachfolger des Generals, der König Thai
dern versehenen Abdrucken geführt haben. Tzong, nennt explizit die Vorzüge des Zusam-
Gleichwohl handelt es sich bei diesem ersten mensetzens wiederverwendbarer Metalltypen
bisher bekannt gewordenen Versuch um ein gegenüber massiven Holzplatten, auf denen
Letternherstellungs- und Satzverfahren, das Schriftzeichen in Sequenz eingeschnitzt sind
den minimalen definitorischen Merkmalen (dieses Verfahren entspricht den sog. Block-
des Begriffs Typographie genügt (vgl. zum büchern im europäischen Hochmittelalter):
frühen Buchdruck in China und Korea, Gie- Holzplattendruckformen würden sich bei wie-
secke 1991, 76 f, 127 ff und Sohn 1993). derholten Druckvorgängen schnell abnützen
Aus dem Jahre 1119 datiert die Weihe- und es sei schwer, die Mengen von Schrift-
inschrift der Klosterkirche von Prüfening, zeichen aller Bücher in Holzplatten zu schnei-
einem westlichen Stadtteil von Regensburg den. Der koreanische Herrscher hatte die
(Abb. 13.1). Ihre Besonderheit besteht darin, technischen und ökonomischen Vorzüge der
daß ihre 17 Versal-Zeilen gleicher Breite typographischen Technologie genau erkannt.
(Blocksatz!) durch das Eindrücken von ein- (Cf. die Angaben in der Zeittafel von Wolf
zelnen, also „beweglichen“ Holzlettern in eine 1981, 386 f). Die typographische Technik muß
Tontafel „gesetzt“ wurden. Damit war das übrigens in Korea schon im 13. Jahrhundert
typographische Prinzip auf der Basis einer bekannt und eingesetzt worden sein: die Bi-
Alphabetschrift, d. h. im Sinne Gutenbergs, bliothèque Nationale in Paris besitzt Drucke
vollständig realisiert. Die Druckauflage des von zu Seiten zusammengesetzten chinesi-
Textes belief sich auf genau ein Exemplar (für schen Metallettern aus den Jahren 127 4—
Details vgl. Brekle, 1993 b). 1366, cf. Hong (1963, 193). Aus dem Jahre
Im Jahre 1392 soll ein General Pi den Me- 1465 wird berichtet, daß in Korea 300 000
talltypendruck in Korea eingeführt haben; da- metallische Einzellettern hergestellt wurden
mit wären die Nachteile des Shengschen Satz- (Wolf 1981, 389); 1544 soll ein koreanischer
und Druckverfahrens beseitigt gewesen. Einer Herrscher den Guß von Kupferlettern befoh-
len haben (ob für die ca. 100 Jahre zuvor

Abb. 13.1: Weiheinschrift des Klosters Prüfening von 1119 (Ausschnitt, eigene Aufnahme)
13.  Typographie 207

erfundene koreanische Alphabetschrift ist


nicht bekannt).
In Europa war es Johann Gensfleisch zum
Gutenberg, der in den 30er und 40er Jahren
des 15. Jahrhunderts in Straßburg und Mainz
ein komplettes System der typographischen
Technik entwickelt, erprobt und mit dem
Druck seiner 42zeiligen Bibel (ca. 1455) auch
auf einen satz- und drucktechnischen Höhe-
punkt geführt hatte. Gutenbergs typographi-
sches System setzte sich aus folgenden Kom-
ponenten zusammen:
Abb. 13.2: (aus Aicher 2 1989, 240) Patrize — Ma-
trize — Letter
2.1.1. Herstellung von sogenannten
„beweglichen“, d. h. einzelnen Lettern grad auf exakt dieselbe vertikale Höhe ge-
bracht werden, nur so ließ sich eine völlig
Um eine möglichst große Menge jeweils typ- plane Druckoberfläche einer aus einzelnen
identischer Lettern, die alle Buchstaben des Lettern zusammengesetzten Druckform einer
Alphabets (plus Ligaturen und Hilfszeichen) Buchseite erreichen. Dieser typographietech-
repräsentieren, zu erhalten, wendete Guten- nisch zentrale Bereich der Letternherstellung
berg das Abgußprinzip an. Die einzelnen Her- war der erste Schritt zur Realisierung des
stellungsschritte sind folgende: Prinzips der modernen Massenproduktion.
a) Herstellung von Stahlstempeln (Patrizen), Erst im 19. Jahrhundert wurden im Zuge
auf denen erhaben seitenverkehrte Formen der allgemeinen Industrialisierung Lettern-
der Buchstaben eingraviert sind; gießmaschinen konstruiert, um dem gewaltig
b) diese Stahlstempel werden gehärtet und in wachsenden Bedarf an Letternsatzmaterial
Kupferblöcke eingeschlagen, so daß ein sei- nachkommen zu können.
tenrichtiges, vertieftes Buchstabenbild ent-
steht; die Oberfläche der so entstandenen Ma-
trizen wird plan justiert; 2.1.2. Die Satzherstellung
c) eine solche Matrize wird in das sogenannte Die in einen Setzkasten sortierten (s. Abb.
Handgießinstrument eingepaßt und ergibt 13.3) Lettern einer Schriftart und Schrift-
durch Ausgießen mit einer Bleilegierung eine größe werden vom Setzer je einzeln ergriffen
Bleiletter, die wiederum ein seitenverkehrtes, und in einem sogenannten Winkelhaken (s.
erhabenes Abbild des betreffenden Buchsta- Abb. 13.4 a) zu Wörtern zusammengefügt;
bens darstellt. Durch Abdruck auf Papier er- unter Verwendung von nichtdruckendem
hält man ein seitenrichtiges Abbild des Buch- Blindmaterial variabler Breite werden Wör-
stabens (s. Abb. 13.2.). tersequenzen auf eine bestimmte Zeilenbreite
Die Entwicklung des Handgießinstruments gebracht (Blocksatz). Ein guter Setzer er-
stellt den Dreh- und Angelpunkt einer pra- reichte bei einem fortlaufenden Text („glatter
xisfähigen und ökonomisch erfolgreichen ty- Satz“) eine Stundenleistung von 1500 bis 1600
pographischen Technik dar; es erlaubt die Buchstaben. Nach Füllung des Winkelhakens
Herstellung beliebig vieler typidentischer Blei- werden die in sich instabilen Letternzeilen
lettern — in der handwerklichen Phase dieses unter Zuhilfenahme einer „Setzlatte“ ausge-
Instruments waren es ca. 1500 Lettern pro hoben und auf das Setzschiff (s. Abb. 13.4 b)
Tag, Instrument und Mann. Damit konnte gebracht. Dort wird der Letterntext weiter
ein genügend großer Fundus an Bleilettern verarbeitet: mittels Blindmaterial („Reglet-
zur Satzherstellung auch für umfangreiche ten“) werden geeignete Zeilenzwischenräume
Werke gewonnen werden. Voraussetzung war erzeugt und ggfs. Überschriften, Seitenzahlen,
allerdings eine hohe feinmechanische Präzi- Kolumnentitel, Randtexte (Marginalien),
sion; um proportionalschriftliche Lettern (sol- Fußnoten etc. eingefügt. Die fertige Lettern-
che mit wechselnder „Dickte“ (s. u. Abb. 13.5) seite wird zunächst „ausgebunden“ (mit einer
zu gewinnen, mußte eine Justierung der Guß- Schnur fest umlegt), um mit weiteren „Seiten“
form über der Matrize mit einer Toleranz von zu einer Druckform (bzw. zwei Druckformen
ca. 0,1 bis 0,05 mm möglich sein (abhängig je für „Schön- und Widerdruck“ (Vorder- und
von der Schriftgröße); die Letternrohlinge Rückseiten)) mit je zwei (Folio), vier (Quart),
mußten außerdem mit demselben Präzisions- acht (Oktav) etc. Seiten in geeigneter Anord-
208 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.3: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 13) Setzkastenschema für manuellen Bleisatz. Gezeigt wird die Anordnung und
Belegung der 125 Fächer eines Setzkastens nach DIN 16 502.

Abb. 13.4 a: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 15) Win-


kelhaken (die Zeilenbreite ist variabel einstellbar).
nung („Ausschießen“) vereinigt zu werden.
Nach Beendigung des Druckvorgangs werden
die einzelnen Lettern wieder in die jeweiligen
Fächer des oder der Setzkästen verteilt, das
nichtdruckende Blindmaterial wandert zu-
rück in die Reglettenregale. Dieser Prozeß des
„Ablegens“ schließt den Kreis der Satzvor-
gänge.

2.1.3. Der Druckvorgang
Die frühesten Druckpressen waren nach dem
Vorbild der Ölfrucht- und Traubenpressen ge-
baut: die Druckplatte wird mittels einer Ge-
windespindel auf die mit Druckfarbe verse-
hene und mit einem Papierbogen exakt be- Abb. 13.4 b: (aus Dußler & Kolling 2 1971, 15) Setz-
legte Druckform heruntergedreht. Natürlich schiff (links Bleisatzzeilen; darüber „Setzlatte“,
waren schon bei dieser frühesten Pressenkon- Schnur zum Ausbinden der fertigen Seite; rechts
Pinzette und Ahle zum Herausnehmen einzelner
Lettern aus der Bleiseite).
13.  Typographie 209

struktion hohe Präzisionsanforderungen hin- 187 2 dem Amerikaner James Paige. Damit
sichtlich gleichmäßiger Druckverteilung zu war die Automatisierung sämtlicher primärer
erfüllen. Zur Erzielung eines randscharfen Handsatzvorgänge im System einer Typen-
Abdrucks war die richtige Konsistenz der setzmaschine erreicht.
Druckfarbe ein entscheidendes Kriterium; sie Einen anderen Weg schlug der Schwabe
bestand vorwiegend aus einem aus Leinöl ge- Ottmar Mergenthaler ein. Nach vielen Ver-
sottenen und mit Kienruß vermischten zähen suchen gelang ihm die Konstruktion einer
Firnis. Buntfarben wurden auf der Basis von Setzmaschine, bei der nicht einzelne Lettern,
Erd- und Pflanzenfarben — z. B. Ocker, Zin- sondern Matrizen zu Zeilen zusammenge-
nober und Krapprot — hergestellt. (Für hi- setzt, mittels in ihrer Breite variablen Aus-
storische und weitere technische Details zur schlußkeilen automatisch auf eine bestimmte
Herstellung und zum Auftragen von Druck- Breite ausgeschlossen und dann ebenfalls ma-
farben auf die Druckform cf. Wolf 1981, schinell zu starren Bleizeilen ( lines of types =
121—135). Linotype, der Name des Systems) gegossen
Die weitere technische Entwicklung der wurden. Sofort nach dem Gußvorgang wur-
Druckpresse über sogenannte Kniehebelpres- den die mit gezähnten Signaturen versehenen
sen, Zylinderdruckpressen bis hin zu moder- Matrizen automatisch wieder in die jeweiligen
nen Rotationsdruckmaschinenkomplexen so- Kanäle des Matrizenmagazins einsortiert. Die
wie die Entwicklung und genaue Wirkungs- Vorzüge dieses Setzmaschinentyps liegen auf
weise verschiedener Druckverfahren — der Hand; jede Zeile wird neu gegossen und
Hoch-, Tief- und Flachdruck — kann hier die starren Bleizeilen lassen sich im Umbruch
nicht im einzelnen beschrieben werden (cf. leicht weiterverarbeiten (für technische Ein-
dazu insgesamt Wolf 1981). zelheiten cf. Dußler & Kolling 197 1, 100—
108).
2.2. Maschineller Bleisatz Mergenthalers „Linotype“-Matrizensetz-
und Gießmaschine war ein voller Erfolg; sie
Über 400 Jahre lang blieb Gutenbergs hand- breitete sich vor allem im Zeitungs- und
werkliche Technik der Lettern- und manuellen Werkdruck (= Druck von Büchern) rasch
Satzherstellung in ihren Grundzügen erhal- aus. Dieses System ermöglichte eine beträcht-
ten. 1862 erfanden Johnson und Stains in liche Produktivitätssteigerung: durchschnitt-
England die sogenannte Komplettgießma- lich 6000 Buchstaben/Stunde.
schine; sie erlaubte es, Bleilettern im indu- Ein etwas anderes Setzmaschinensystem
striellen Maßstab herzustellen. Die so gegos- wurde 1897 von dem Amerikaner Tolbert
senen Lettern mußten jedoch nach wie vor Lanston entwickelt: die Monotype-Einzel-
von Hand gesetzt werden. buchstaben-Setz- und Gießmaschine. Sie er-
Im Zuge der beginnenden Industrialisie- brachte eine weitere Steigerung der Satzlei-
rung, die insgesamt eine Beschleunigung der stung auf 8000—12 000 Buchstaben/Stunde.
Satz- und Druckvorgänge verlangte, wurde Die Monotype-Maschine bestand aus zwei
zunächst versucht, den Handsatzprozeß ma- Aggregaten: dem Taster und der Gießma-
schinell zu imitieren; das Ergebnis war die schine. Auf dem Taster wird ein Lochband
Typensetzmaschine, bei der die üblichen erzeugt, das sowohl Lochkombinationen für
Handsatzlettern verarbeitet wurden: sie wur- die getippten Buchstaben als auch Informa-
den durch Tastenanschlag auf einer Klaviatur tionen über die automatisch „ausgerechne-
aus ihren Vorratskanälen in einer Rinne ge- ten“ Wortzwischenräme für eine bestimmte
sammelt, mußten jedoch von einer zweiten Zeilenlänge speichert. Das Lochband wird in
Bedienungsperson entnommen und von Hand die Gießmaschine eingeführt, die Einzellet-
auf gleiche Zeilenlänge „ausgeschlossen“ wer- tern in sequentia mit den richtigen Wortzwi-
den. Eine Verbesserung dieses Systems gelang schenräumen gießt. Der so entstandene Satz
dem dänischen Schriftsetzer Christian Sören- kann wie Handsatz weiterverarbeitet werden.
sen 1855 mit einer Tacheotypmaschine; die Das Monotype-System eignet sich besonders
einzelnen Lettern besaßen jeweils verschie- für kompliziertere wissenschaftliche Texte.
dene „Signaturen“ (Einkerbungen am Schaft Sowohl die Linotype- wie die Monotype-
der Letter) und konnten deshalb von einer maschinen beherrschten bis in die 7 0er Jahre
automatisch arbeitenden Ablegevorrichtung unseres Jahrhunderts die Satzherstellung; mit
wieder in die richtigen Kanäle einsortiert wer- ihnen war in mehr als 500 Jahren der Bleisatz
den. Die Zeilen mußten jedoch immer noch zur Perfektion entwickelt worden; gleichzeitig
von Hand ausgeschlossen werden. Die Au- waren aber auch die Grenzen der Leistungs-
tomatisierung dieses Arbeitsschritts gelang
210 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

fähigkeit des hardware- Satzes erreicht: es speichert, dann mit einer vom Speicher an-
mußten große und schwere Materialmengen gesteuerten Kathodenstrahlröhre in vertika-
verarbeitet und gelagert werden, die mecha- len Linien aufgebaut und schließlich über ein
nischen Prozesse ließen sich nicht mehr weiter optisches System auf fotografisches Material
beschleunigen. projiziert.
Eine Weiterentwicklung der elektronisch-
2.3. Opto-mechanische und optischen Technologie stellt der Laserbelich-
opto-elektronische Setzverfahren ter dar; er setzt sich zusammen aus einem
Rasterbildprozessor (RIP), der auf der Basis
Ein weiterer Grund für das Abgehen vom der eingegebenen Informationen jeweils ein
Bleisatz lag in der raschen qualitativen Ent- vollständiges Bild einer Seite berechnet, und
wicklung der Offset-Drucktechnik, die Blei- einer Aufzeichnungseinheit, die durch den
satz nur indirekt über hochwertige Papier- RIP gesteuert und gefüttert wird. Der Laser-
und/oder Filmkopien verarbeiten konnte. belichter arbeitet mit einem Laserstrahl, der
Diese Drucktechnik gehört in die Familie der mittels eines vom RIP gesteuerten Modula-
Flachdruckverfahren (Lithographie, Licht- tors in geeigneter Weise unterbrochen wird
druck); hier liegen — im Gegensatz zur Hoch- und der über einen Polygonspiegel das jewei-
druck- und Tiefdrucktechnik — die drucken- lige Zeichen positioniert und schließlich das
den und nichtdruckenden Flächen auf einer Bild auf fotografischem Material erzeugt.
Ebene. Aufgrund seiner Rechenkapazität ist der
Ihre Trennung wird durch feuchte (nicht- RIP befähigt, eine Druckseite als Mosaik
druckende) bzw. farbtragende Teile einer von Schwarz-Weiß-Informationen mit einer
Kunststoff-Folie erreicht. Zur Schonung vor
mechanischem Abrieb werden die Druckfarbe Dichte von ca. 1000 × 1000 Punkten/cm 2
aufzubauen; damit ist auch bei kleinen Schrif-
tragenden Flächen dieser Folie auf einen mit ten oder feinstufigen Hell-Dunkel-Verteilun-
Gummihaut bezogenen Zylinder übertragen gen eine genügende Randschärfe bzw. gra-
und von diesem auf das zu bedruckende Pa- duelle Hell-Dunkel-Differenzierung gewähr-
pier abgegeben („set off“). Es lag nahe, den leistet. Dies heißt auch, daß im RIP nicht nur
komplizierten und kostenaufwendigen Weg die dort gespeicherten Textinformationen in
der Herstellung von primär für die Hoch- einem bestimmten Schrifttyp, -grad und
drucktechnik geeigneten Druckformen (Blei- -stärke aufgerufen werden können, sondern
satz, Strichätzungen, Halbtonklischees) ein- auch alle Elemente einer Text- und Bilddar-
zusparen. Dieses Ziel wurde dadurch erreicht, stellung (Graphik und gerasterte Halbtonbil-
daß man den Prozeß der Satzherstellung in der). Damit ist auch der Schritt der Umbruch-
einen photographischen Apparat verlegte. In bzw. Layouterstellung in e i n e n Verfahrens-
einer opto-mechanischen Fotosetzmaschine schritt integriert.
werden auf einer Scheibe angeordnete nega- Im Prinzip kann damit auch im PC-Bereich
tive Buchstabenbilder über eine Tastatur an- eine hohe technische und typographische
gesteuert; Buchstabe für Buchstabe wird auf Qualität bei der Satzherstellung erreicht wer-
einen Film belichtet, der nach seiner Entwick- den (→ Art. 9); dies allerdings unter der Vor-
lung als Positivfilm und nach seiner weiteren aussetzung, daß die Auflösungsqualität der
Verarbeitung im Umbruch (Layout) auf eine Laserdrucker ausreichend hoch ist und — was
Offsetfolie kopiert wird. angesichts der vielen miserablen Produkte aus
Die weitere Entwicklung der Fotosetztech- dem Desktop-Publishing-Bereich (DTP) noch
nik wurde wesentlich durch die raschen Fort- viel wichtiger ist — daß die Hersteller solcher
schritte der Mikroelektronik bestimmt. Im- Produkte sich an die lesefunktional begrün-
mer leistungsfähigere und preisgünstigere Mi- deten, altetablierten Regeln der gestaltenden
kroprozessoren brachten enorm vergrößerte Typographie (s. u. 4.) halten.
Speicherkapazitäten und höhere Verarbei-
tungsgeschwindigkeiten auf kleinstem Raum
mit sich. Nach kurzer Zeit war die opto- 3. Typographische Maßsysteme
mechanische Fotosetztechnik überholt.
Die Digitalisierung von Druckschriften Das von Gutenberg entwickelte Handgießin-
wurde zum ersten Mal 1964 durch Rudolf strument garantierte bei der Letternherstel-
Hell mit einer Prototypversion seiner Digiset- lung die nötige Präzision, brachte es aber
Maschine verwirklicht. Buchstabenformen auch mit sich, daß für verschiedene Schrift-
werden zunächst elektronisch in Rasterlinien grade die Maße entsprechender Kegelstärken
oder Rasterpunkten codiert und digital ge- (s. Abb. 13.5) festzulegen waren. Bis ins 18.
13.  Typographie 211

Jahrhundert hinein gab es weder national und


schon gar nicht international gültige typogra-
phische Maßeinheiten; die Frühdrucker ent-
warfen und gossen jeweils ihre eigenen Schrif-
ten, wobei berühmte Druckwerkstätten (z. B.
Aldus Manutius in Venedig um 1500) und
Schriftschneider (z. B. Claude Garamond in
Frankreich um 1540) sicherlich Vorbilder lie-
ferten (cf. Steinberg 1961, 185—197 für einen
historischen Abriß der Schriftgießereien in
Europa). Während des 17 . Jahrhunderts be-
gann sich vor allem der Bereich der Lettern-
herstellung handwerklich zu verselbständi-
gen; daraus ergab sich die Notwendigkeit, die
bis dahin noch druckereibezogenen verschie-
denen Maßsysteme zu vereinheitlichen. 17 37
gelang es dem Pariser Schriftgießer Fournier
ein typographisches Maßsystem zu entwik-
keln, das später von Firmin Didot auf der
Basis des französischen Fußes verbessert
wurde. Mit der Ausnahme Englands und sei-
ner Kolonien fand das Didotsche System
weithin Anerkennung. Es handelte sich um
ein Duodezimal-System:
1 frz. Fuß = 12 Zoll
1 Zoll = 12 Linien
1 Linie = 12 Punkte
2 Punkte = 1 typographischer Punkt.
Nach der Einführung des metrischen Sy-
stems im Zuge der französischen Revolution
hatte Didot noch selbst vorgeschlagen, das
Punktesystem zugunsten des Millimetersy-
stems aufzugeben. Die beträchtlichen Kosten
verhinderten jedoch eine abrupte Umstellung.
Erst 187 9 konnte Hermann Berthold, der Be-
gründer einer deutschen Schriftgießerdyna-
stie, eine Angleichung des alten typographi-
schen Systems an das metrische System vor-
nehmen. Dabei gelten folgende Festlegungen
(vgl. Abb. 13.6):
1 m = 2660 Punkte (bei 20° C)
1 frz. Fuß = 30 cm = 1 Typometer = 798
Punkte = 66 1 / 2 Cicero = 133 Nonpareille
1 mm = 2,66 Punkte
1 Punkt = 0,376065 mm
1 Cicero = 4,513 mm
Dieses Bertholdsche System ist heute noch
Bestandteil der DIN 16507 „Typographische
Maße“. Allerdings ist dieses System mit dem
auf dem angelsächsischen Zollsystem beru-
henden inkompatibel; dort ist der Pica-
Schriftgrad, der ungefähr dem kontinentalen
Cicerograd entspricht, durch 1 / 6 Inch (=
4,217 mm) definiert.

Abb. 13.5: (nach Dußler & Kolling 1971, 12) Letter


212 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.6: (aus Aicher 2 1989, 231) Die gängigen Schriftgrade


Nach der Ablösung des Bleisatzes durch 8 p = 3,00 mm
den Fotosatz erschien eine international gül- 6 p = 2,25 mm
tige Vereinheitlichung des typographischen 4 p = 1,50 mm
Maßsystems auf metrischer Basis noch dring- 2 p = 0,75 mm
licher. Definiert man die Einheit Cicero/ 1 p = 0,375 mm
Pica = 4,50 mm, dann ergibt sich folgende Es liegt nun nahe, die 3 / 4 mm-Schritte der
übersichtliche, leichter handhabbare Eintei- obigen Skala von Schriftgraden im Interesse
lung: einer feineren Differenzierung weiter zu un-
12 p = 4,50 mm terteilen, z. B. auf Viertelmillimeterschritte
10 p = 3,75 mm (= 1 quart = q). Dieser Schritt wurde in der
13.  Typographie 213

Abb. 13.7: (aus Aicher 2 1989, 232) Demonstration der Schriftgröße in p und q
neuen, elektronisch-optisch basierten Typo- genbuchstaben in zwei vertikal benachbarten
graphie vollzogen; das alte Punktsystem ist Zeilen (= kompresser Satz) zu vermeiden.
damit zugunsten des q-Systems aufgegeben. In der klassischen Bleisatztechnik war ge-
In der Gegenüberstellung sieht das Ergebnis nau letzteres gemeint: Schriftgrad = Kegel-
wie in Abb. 13.7 aus. stärke. Damit waren jedoch sowohl die je-
Gleichwohl ist es richtig (wie Aicher 2 1989, weiligen vertikalen Abmessungen der Mittel-,
332 vorschlägt), für die häufig verwendeten Ober- und Unterlängen als auch die oberen
Schriftgrade der Lese- oder sog. Brotschriften und unteren „Achselflächen“ (= „eingebau-
(mit denen der frühere Setzer sein täglich Brot ter“ Durchschuß, Abb. 13.5) unbestimmt ge-
verdiente), die herkömmlichen, bzw. funktio- lassen. Besonders hinsichtlich der Verteilung
nal angemessenen Namen zu verwenden. der Buchstabenbilder auf das Mittel-, Ober-
Nach Aicher hieße dies und Unterlängenfeld zeigen unsere historisch
gewachsenen Schriftarten eine beträchtliche
7 qPerlschrift Variationsbreite. Eine genauere Betrachtung
9 qNonpareille (Fußnotenschrift) verschiedener Schriftarten zeigt, daß — statt
10 qTabellenschrift eines herkömmlich für ausreichend gehalte-
11 qLegendenschrift nen Vierliniensystems — von einem Sechsli-
12 qPetit (Zeitungsschrift) niensystem auszugehen ist (Abb. 13.8). Inner-
13 qkleine Buchschrift halb eines solchen Sechsliniensystems können
14 qgroße Buchschrift die Kenngrößen einer Schrift nach ihrem ver-
15 qKorpus (Foliantenschrift) tikalen Aufbau exakt bestimmt werden (Abb.
18 qCicero (Titelschrift) 13.9).
Im Zusammenhang mit einer feineren Dif- Ähnliches gilt für die horizontale Erstrek-
ferenzierung der Schriftgrade erhebt sich kon- kung von Buchstabenformen, deren Kenngrö-
sequenterweise auch die Frage, was denn ge- ßen die jeweilige maximale Bildbreite und die
nau mit einer Angabe wie 12 q (= 8 p) ge- eingebauten Abstände zum vorhergehenden
meint sein kann. Bezieht sich eine solche An- bzw. nachfolgenden Buchstaben sind. Daraus
gabe auf die Höhe des gesamten Schriftbilds lassen sich Charakteristika wie „breit“ oder
(also Unter- + Mittel- + Oberlänge) oder ist „schmal“ laufende Schrift oder „lichte“ bzw.
dabei auch noch ein minimaler Durchschuß komprimierte Schrift auf einer Skala festle-
gemeint? Er wird benötigt, um das direkte gen.
Zusammenstoßen von Ober- und Unterlän- Mit diesen Kriterien lassen sich in der
zeitgenössischen Typographie digitalisierte
214 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.8: (aus Aicher 2 1989, 237) Sechslinienschema

Abb. 13.9: (Dair 1967, 9) Kenngrößen einer Schrift nach ihrem vertikalen Aufbau
Schriften präziser entwerfen und realisieren druckten Seite. Neben diesem Schrifttyp ver-
und für den Setz- und weiteren Verarbeitungs- wendete Gutenberg auch die in wesentlich
prozeß genau kalkulierbar machen. kleinerem Schriftgrad gehaltene sogenannte
Catholicon- Type (s. Abb. 13.12), die in ihrem
Schnitt eine weniger sorgfältige Ausführung
4. Historisch-systematische zeigt und textsortenfunktional eher als säku-
Darstellung der Druckschriften seit lare Gebrauchsschrift zu werten ist (das Ca-
Gutenberg tholicon ist eine volkstümliche Enzyklopädie
des Johannes Balbus aus dem 13. Jahrhun-
4.1. Gotische und Frakturschriften dert). Die Buchstabenformen zeigen Rundun-
gen, die Schrift nähert sich dadurch der so-
Gutenbergs Vorbild für den Schrifttyp seiner genannten Rundgotisch an. Dieser Schrifttyp
42zeiligen Bibel (s. Abb. 13.10 sowie Abb. findet sich in stilistisch ausgeprägter Form
14.7 auf Tafel XVI) war zweifellos die Schrift- etwa in den Erzeugnissen des Augsburger
sorte, wie sie in hoch- und spätmittelalterli- Frühdruckers Günther Zainer (s. Abb. 13.13).
chen, meist religiös inspirierten Handschriften Während diese Schriftarten in der zweiten
(z. B. in Missalen, Stundenbüchern u. ä.) be- Hälfte des 15. Jahrhunderts in praktisch allen
vorzugt verwendet wurde (s. Abb. 13.11 sowie europäischen Druckorten zu finden waren,
Abb. 14.8 auf Tafel XVII). Diese klerikale zeigten sich im 16. Jahrhundert im deutsch-
Monumentalschrift zeichnet sich aus durch sprachigen Bereich Sonderentwicklungen: aus
überbetonte Mittellängen, kräftige vertikale einer Mischung zwischen rundgotischen und
Strichstärken und die quasi „gebrochenen“ Texturamerkmalen entstand die sogenannte
Übergänge der schrägen in vertikale Züge; Schwabacher Schrift (s. Abb. 13.14) und aus
daraus ergibt sich das gitterartige Aussehen dieser wiederum die typisch deutsche Frak-
einer mit dieser Schrift, Textura genannt, ge-
13.  Typographie 215
216 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.12: (aus Steinberg 1965, 21) Catholicon.


Mainz 1460, Gutenberg
turschrift (s. Abb. 13.15), die bis 1941 die für
den Druck deutschsprachiger Texte meist of-
fiziell geförderte und kennzeichnende Schrift-
art war, cf. Johnson (197 0, 1—17 ) für eine
kritische Diskussion verschiedener Klassifi-
kationsversuche „gotischer“ bzw. von Frak-
turschriften.

4.2. Antiquaschriften
Neben der Textura — der „Mönchsfraktur“
— und ihrer eher säkularen Schwester der
Rundgotisch nahmen sich die Frühdrucker
die litterae antiquae der Humanistenschreiber
(die von diesen wiederum der karolingischen
Minuskelschrift des frühen Mittelalters ent-
nommen wurden, (→ Art. 12) des späten 14.
und frühen 15. Jahrhunderts (z. B. Poggio,
Sinibaldi u. a.) zum Vorbild für ihre ersten
Versuche Antiqua-Druckschriften zu schaf-
fen. Die erste Antiqua-Druckschrift findet
sich bei dem Straßburger Drucker Adolf
Rusch (spätestens 1467 ), nach ihm haben Jo- Abb. 13.13: (aus Steinberg 1965, Tafel I) Jacobus
hann von Speyer (de Spira) 1469, Christo- de Voragine. Legenda aurea. Augsburg 1472, Gün-
ther Zainer
13.  Typographie 217

Abb. 13.14: (aus Steinberg 1965, 115) Gebetbuch


Kaiser Maximilian. Augsburg 1514, Schönsperger Abb. 13.15: (aus Steinberg 1965, 130) Rüxner, Tur-
nierbuch. Frankfurt am Main 1566, Feyerabend

pherus Valdarfer 147 0 und vor allem Nicolas leicht veränderten Schnitt der Bembo-Type in
Jenson ab 147 0 in Venedig (die von ihm ge- Hypnerotomachia Poliphili (1499); beide
schaffene Schrift wurde zum Vorbild für viele Schriften dienten späteren Typographen bis
spätere Antiquaschnitte) Marksteine gesetzt ins 20. Jahrhundert (z. B. Stanley Morison)
(s. Abb. 13.16—13.17 ). (Zur neuesten Dis- immer wieder als Quelle der Inspiration.
kussion der Klassifikations- und Prioritäts- Eine weitere epochemachende Leistung
problematik frühester Druck-Antiquaschrif- Griffos bestand in der Adaptation kursiver
ten cf. Brekle 1993 a). Prototypisch war der Handschriften der italienischen Humanisten-
Antiquaschrift die Textsorte antike Klassiker schreiber an die technischen Erfordernisse
und dann die Werke der Humanisten zuge- einer kursiven Antiqua-Druckschrift (s. Abb.
ordnet. Letzteres zeigt sich besonders deutlich 13.19). Der ökonomische Vorteil dieser
bei dem venezianischen Drucker und Verleger Schrift bestand in ihrem gedrängten Duktus
Aldus Manutius, der in Francesco Griffo aus („schmallaufend“), der es erlaubte, den Satz-
Bologna einen erstklassigen Schriftentwerfer spiegel besonders wirtschaftlich auszunutzen.
und Patrizenschneider zur Verfügung hatte. Zunächst wurde die Kursiv-Antiqua als Buch-
Griffos herausragende und auch später nicht schrift für kostengünstige Klassikerausgaben
mehr überholte Leistung zeigt sich am schön- verwendet; ihre Funktion als Auszeichnungs-
sten im Druck von Pietro Bembos De Aetna schrift übernahm sie konsequent erst ab dem
(1495) (s. Abb. 13.18 u. 13.18 a) oder in einem 17 . Jahrhundert. (Zur Geschichte der Ent-
218 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.16: (aus Brekle 1993 b) Adolf Rusch (Type 103, spätestens 1467). Petrarca. De vita solitaria. Bl. 2.
v., Straßburg (nicht nach 1473)

Abb. 13.17: (aus Brekle 1993 b) Nicolaus Jenson (Type 115 R). Eusebius, De praeparatione evangelica, Venedig
1470
13.  Typographie 219

Abb. 13.18: (aus Mazal 1984, Abb. 123) Aldus Manutius. Petrus Bembus, De Aetna dialogus. Venedig 1495
vorzuheben ist jedoch die Entscheidung, die
Bodoni und Didot um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts getroffen haben, indem sie nach dem
Vorbild der mit besonders feinen Haarstri-
chen versehenen Antiquavarianten der Kup-
ferstecher — diese Tiefdrucktechnik machte
ganz feine Linienführungen möglich — die
sogenannte jüngere oder klassizistische Anti-
qua-Druckschrift schufen. Diese Antiquaart
zeichnet sich durch betonte Unterschiede zwi-
schen Haar- und Schattenstrichen und durch
die haarfeinen horizontal angesetzten Serifen
aus (s. Abb. 13.20). Otl Aichers engagiert
geschriebenes Typographie-Handbuch bietet
eine knappe Übersicht über die wichtigsten
Abb. 13.18 a: Nachdruck Verona 1970 Spielarten der Antiqua-Druckschriften der
wicklung der kursiven Druck-Antiquaschrift letzten vier Jahrhunderte (s. Abb. 13.21).
cf. z. B. Osley 1965 und Balsamo & Tinto Im Zuge der beginnenden Industrialisie-
1967). rung entstanden in England in der ersten
Mit Aldus Manutius’ Erfolgen als Drucker Hälfte des 19. Jahrhunderts serifenlose Anti-
und Verleger war die Verbreitung von Anti- quaschriften (im weiteren Sinne), die den bis-
qua-Druckschriften — mit der Ausnahme herigen Kanon der klassischen und klassizi-
deutschsprachiger Länder — in den folgenden stischen Antiquaschriften verlassen. Diese
Jahrhunderten gesichert. Für das Auge des neue — oft nur Sans (serif), oder merkwür-
Nichtfachmannes zeigen die Antiquaschriften digerweise auch Grotesk genannte — Schrift
(im engeren Sinne) der zurückliegenden vier nimmt hinsichtlich ihrer Merkmale Serifen-
Jahrhunderte nur wenige Veränderungen; her- losigkeit und gleiche Strichstärken die Merk-
male der archaischen und klassischen griechi-
220 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Chr.) wieder auf (→ Art. 12).


Für England charakteristisch sind die Ent-
würfe von Eric Gill und Edward Johnston.
Unter den kontinentalen Schöpfern von so-
genannten Groteskschriften verdienen Paul
Renner (1928) und Adrian Frutiger (1957 )
besondere Beachtung. Die Auswahl von Gro-
teskschriften auf Abb. 13.22 stammt aus Ai-
cher 2 1989, 169.
Hervorhebenswert ist Aichers eigener Ver-
such, mit seiner Rotis, die er selbst als Semi-
Antiqua klassifiziert, eine Verschmelzung von
klassischer Antiqua und Groteskschrift hin-
sichtlich des Merkmals wechselnder Strich-
stärken zu erreichen.
Auf einen weiteren Schriftmischungstyp
zwischen Antiqua und Grotesk sei noch hin-
gewiesen: die sogenannte Egyptienne. Ihr
Kennzeichen in reiner Ausprägung ist grund-
sätzlich gleiche Strichstärken plus Serifen
(Abb. 13.23).
Daneben gibt es unterschiedliche Mi-
schungsverhältnisse zwischen klassischen,
klassizistischen und Groteskschriften, ihr
Zweck liegt hauptsächlich in der guten Les-
barkeit und guten drucktechnischen Verar-
beitbarkeit. Prototyp ist z. B. die Clarendon-
Schrift aus der Mitte des 19. Jahrhunderts
(Abb. 13.24).
Ein Beispiel für eine Dekorationsschrift auf
Egyptiennebasis sei hier vorgestellt; diese Ita-
lienne genannte Schrift ist „gekennzeichnet
durch eine Überbetonung sekundärer, orna-
Abb. 13.19: (aus Steinberg 1961, 109) Aldus Ma-
mentaler Merkmale“ (Nerdinger 1954, 112),
nutius. Vergil, Aeneis, Venedig 1521
d. h. die rechteckig angesetzten fetten Serifen
und die überschlanken Buchstabenkörper zei-
gen rein dekorative Absichten (Abb. 13.25;
man assoziiert sofort US-amerikanische Eta-
blissements).
Es kann nicht Aufgabe dieses Übersichts-
artikels sein, die fast nicht mehr übersehbare,
geschweige denn vernünftig klassifizierbare
Vielfalt von mehr oder weniger künstlerischen
Auszeichnungs-, Titel- oder Dekorations-
schriften, die meist in kurzlebige Zeitstile ein-
gebunden sind, einigermaßen detailliert dar-
zustellen bzw. zu diskutieren. Statt dessen
wird auf einschlägige Schriftmusterbücher
verwiesen (z. B. Nerdinger 1954, Tschichold
2 1965, Gottschall 1989 und — was neueste
Schriftentwicklungen anlangt — auf den ty-
Abb. 13.20: (aus Steinberg 1961, Tafel IX) Pierre pographischen Jahreskalender, der seit eini-
Didot. Horaz, Paris 1799 gen Jahren von SchumacherGebler, München
schen Monumentalschrift (6. bis 4. Jh. v. herausgebracht wird).
13.  Typographie 221

Abb. 13.21: (aus Aicher 2 1989, 177) Repräsentative Druckantiqua-Schnitte der letzten vier Jahrhunderte
Schrift und dessen Ergebnis] ist ein optimie-
rungsvorgang, sowohl was die schriftqualität
5. Typographie als Gestaltungsprozeß an sich als auch was die anordnung von
Ziel dieses Abschnitts ist es, zuerst einige all- schriften, ihre darbietung, betrifft.“ (Aicher
2 1989, 133) Aicher betont hier, wie an vielen
gemeine Bedingungen und Kriterien für ty-
pographische Gestaltungsprozesse und der anderen Stellen seines opus magnum , die For-
kognitiven Verarbeitung deren Ergebnisse derung, daß Schriftqualität und die Anord-
vorzustellen. Im weiteren werden daraus Mi- nung von Schriftzeilen auf einer Seite funk-
nimalstandards für die Typographie des Bu- tional von der Aufnahme- und Verarbeitungs-
ches als dem kulturgeschichtlich wichtigsten kapazität des gesamten visuellen Wahrneh-
Typus der Repräsentation von Texten abge- mungssystems des Menschen — und das heißt
leitet. Auf die Darstellung der typographi- auch dessen Ökonomie — abhängig zu sehen
schen und werbepsychologischen Bedingun- ist. Bei der Schriftqualität kommt es nicht so
gen und Möglichkeiten von sogenannten Ak- sehr auf die formale Schönheit einzelner
zidenzdrucksachen (Anzeigen, Prospekte etc.) Buchstabenformen an (z. B. die Versalformen
wird hier bewußt verzichtet. einer klassischen Antiqua) als vielmehr auf
„typographie [als Verarbeitungsprozeß von die Lesequalität einer Schrift, die sich in der
222 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 13.22: (aus Aicher 2 1989, 169) Repräsentative Grotesk-Schnitte des 20. Jahrhunderts

Abb. 13.23: (aus Gottschall 1989, 98) 1974/ITC


Lubalin Graph von Herb Lubalin, USA/ITC
Abb. 13.24: Moderner Schnitt einer Schrift vom
Clarendon-Typ

anstrengungsfreien Wahrnehmung und wei-


teren kognitiven Verarbeitung von Buchsta-
ben- und Wortfolgen zeigt. Ihre Gebrauchs- macht es bekanntlich Mühe, in kleineren
qualität müssen Druckschriften vor allem in Schriftgraden gedruckte Texte (6 Punkt oder
den „Brotschriftgraden“ (7 Punkt bis max. 12 noch kleiner) zu lesen — das berüchtigte
Punkt) beweisen. Dem menschlichen Auge Kleingedruckte wird ungern gelesen (soll es
ja eigentlich auch nicht); Texte in größeren
Schriftgraden (12—14 Punkt und darüber)
13.  Typographie 223

natürlicherweise frei aus (wie auf der klassi-


schen Schreibmaschine). Für den sich daraus
ergebenden gezackten rechten Rand eines
Textes hat sich der Terminus Flattersatz ein-
gebürgert. Neuerdings spricht man auch von
Rauhsatz, wenn durch geschickte Wahl von
Worttrennungen der gezackte rechte Auslauf
von Zeilen minimiert wird.
Schon die Frühdrucker — inklusive Gu-
tenberg — strebten jedoch links- u n d rechts-
bündig abgeschlossene Zeilen an; dies war
erreichbar durch die Verwendung von Ab-
kürzungsformen von Wörtern, durch variable
„Orthographien“ von Wörtern (wie im 16.
Abb. 13.25: (aus Nerdinger 1954, 112) Italienne Jahrhundert, cf. Brekle 1964) und/oder durch
variable Wortzwischenräume; letzteres ist
verhindern den schnellen Lesefluß. Dasselbe heute die Regel.
gilt auch für Schriften, die keine hinreichend Die Kunst des Handsetzers bestand früher
differenzierte Textur, d. h. günstige Verteilung darin, das Verfahren der variablen Wortzwi-
von Mittel-, Ober- und Unterlängen und schenräume quasi unmerklich anzuwenden,
Dicktenproportionen aufweisen; eine in dieser d. h. optisch sollten die Wortzwischenräume
Hinsicht zu homogene Schrift (z. B. Versalien- auf einer Druckseite als gleich erscheinen. Es
zeilen) wird nur mühselig gelesen, eigentlich durften keine störenden weißen Flecken oder
muß sie Buchstabe für Buchstabe entziffert gar vertikal über Zeilen hinweg weiße „Gieß-
werden. bächlein“ auftreten. Das Ideal war Homoge-
Seit der Spätantike haben sich folgende nität; dem lesenden Auge sollte ein gleich-
lesefunktional begründete orthographische mäßiger Informationsfluß — von ihm aller-
bzw. typographische Konventionen bzw. dings in Sakkaden verarbeitet (→ Art. 81) —
Funktionseinheiten herausgebildet, die seit dargeboten werden (cf. Aicher 2 1989, 140 ff).
der Erfindung Gutenbergs auch gedruckte
Texte lesefreundlich gliedern: 5.1. Schriftart, Schriftgröße, Durchschuß,
— Einzelbuchstabe als minimale differente Zeilenlänge, Satzspiegel
Funktionseinheit
— Wortform, von den umgebenden Wortfor- Für die gute Lesbarkeit eines Textes grundle-
men durch Zwischenräume („blanks“) ge- gend wichtig ist es, diese fünf interdependen-
trennt, dadurch optisch isoliert ten Faktoren in ein optisch richtiges Gleich-
— Satzteil, je nach orthographischer Kon- gewicht zueinander zu bringen.
vention durch Interpunktionszeichen Am einfachsten erscheint heute die Wahl
(Komma, Semicolon, Colon) markiert der Schriftart; dies deshalb, weil wir die Ver-
— Satz, durch Punkt vom nächsten Satz ge- suche und Erfahrungen einer gut 400jährigen
trennt Geschichte der Entwicklung von Druckschrif-
— Absatz/Paragraph, inhaltlich geschlosse- ten vor Augen haben. Für die Schrift eines
ner Textteil; durch auslaufende Zeile und Buches kommt heute eigentlich nur eine klas-
eingezogene erste Zeile des nächsten Ab- sische oder klassizistische Antiqua oder eine
satzes markiert der vielen — mehr oder weniger geglückten
— Kapitel, größere Texteinheit; durch eigene — Mischungen aus beiden infrage (s. o. unter
Überschrift gekennzeichnet. 4.).
Die Wahl der Schriftgröße ist abhängig
Aus der im westlichen Kulturraum gelten- vom Seitenformat und Satzspiegel; bei nor-
den Lese- und Schreibrichtung (von links malen Formaten (ca. DIN A 5) wird der
nach rechts = dextrograd) ergibt sich als Schriftgrad zwischen 8 p und 10 p liegen. Die
typographische Minimalregel: Entscheidung darüber hängt meist von öko-
— die Zeilen eines Textes sollen grundsätzlich nomischen Kriterien ab, d. h. auf einem gro-
linksbündig angeordnet sein; das lesende ßen Satzspiegel (= schmale weiße Ränder auf
Auge braucht je Zeile denselben Anfangs- dem Seitenformat) und mit einer 8 p-Schrift
punkt. läßt sich mehr Text unterbringen (Typus Ta-
Nach rechts laufen handschriftliche Zeilen schenbuch) als im gegenteiligen Fall. Schon
224 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die spätgotischen Schreiber beschäftigte das (dadurch definiert sich die A-Reihe der DIN-
Problem des „Formatmachens“; sie wollten Formate) oder wird — wie häufig im Falle
ideale, ästhetisch befriedigende Proportionen von Zeitschriften — ein großes Format ge-
für Seitenformat und Satzspiegel ermitteln (cf. wählt (ca. DIN A 4 oder größer), dann tritt
Dußler & Kolling 197 1, 45 f). Einer der be- grundsätzlich das Problem der zu langen Zei-
kannteren Typographen aus der ersten Hälfte len auf. „Zu lang“ heißt, daß der Leser Gefahr
unseres Jahrhunderts, Jan Tschichold, der der läuft, den Anschluß an die nächste Zeile zu
Bauhaus-Bewegung angehörte, rekonstruierte verpassen. Die Lösung besteht seit alters her
einen Kanon der spätgotischen Buchseiten- (cf. z. B. die zweispaltig gesetzte 42zeilige Bi-
einteilung. Bei einer Seitenproportion von 2:3 bel Gutenbergs) darin, daß der massive Text-
ist die Höhe des Schriftfeldes gleich der Sei- block einer Seite in zwei oder mehr Spalten
tenbreite; daraus ergibt sich eine Proportions- aufgeteilt wird. Konkret heißt dies, daß die
gleichheit von Papierseite und Satzspiegel und lesefreundliche Zeilenlänge 8—10 cm nicht
ein Randverhältnis von 2:3:4:6 (s. Abb. überschreiten sollte; die Spaltenbreite wie-
13.26). derum sollte 4—5 cm nicht unterschreiten.
Für den heutigen Verleger erscheint ein sol- (Cf. die feinsinnigen Ausführungen über „Zei-
ches Verhältnis von Papierformat und Satz- len und Spalten“ in Aicher 2 1989, 149—151).
spiegel als (zu) großzügig; meist bewegen sich Die Frage der Durchschußhöhe (Zeilen-
in anspruchsvolleren Büchern die Randver- zwischenraum) regelt sich wiederum nach
hältnisse im Bereich von 2:3:4:5 (von innen Kriterien der Lesefreundlichkeit. Die einzelne
im (Gegen)Uhrzeigersinn nach unten) oder Zeile muß in ihrem Verlauf ohne störende
darunter (cf. auch Renner 1948, 45 ff). Interferenzen nach oben oder unten im Fokus
Entspricht das Seitenformat eines Buches des Sehstrahls liegen. Ist der Durchschuß zu
nicht der Proportion des Goldenen Schnittes gering (oder gleich Null) drängen die obere

Abb. 13.26: (Dußler & Kolling 1971, 45) Spätmittelalterlicher Buchseitenkanon (rekonstruiert von Jan
Tschichold)
13.  Typographie 225

und untere Zeile ins Blickfeld; ist er zu groß, z. B. Renner (1948, 45—97 ) oder auf Luidl
hat das Auge Schwierigkeiten, die nächste (1984), Siemoneit (1989) verwiesen. Bei Ren-
Zeile schnell und sicher zu erkennen. Als Re- ner findet sich auch ein reichhaltiges Verzeich-
gel kann gelten: bei 8p sollte 1—2p Durch- nis der typographischen Fachterminologie
schuß gegeben werden, bei 9 oder 10p sollten (221—274).
es 2—3p sein. Ein optisches Kriterium ist,
daß bei unscharfem Hinsehen eine Druckseite 5.2. Typographie des Buchtitels
einen homogenen mittelgrauen Eindruck ma-
chen sollte; weiße Flecken oder horizontale Wie früher bei Manuskriptcodices übernahm
weiße Streifen zwischen den Zeilen sollten anfänglich mit wenigen Ausnahmen (cf. Stein-
nicht auftreten. berg ( 2 1961, 165 ff), wo auch die Geschichte
Damit ist auch die Frage angeschnitten, ob der Paginierung von Büchern skizziert wird)
Absätze in einem Text durch eine oder eine das Kolophon (letzte Druckseite eines frühen
halbe Leerzeile voneinander getrennt werden Buches) oder teilweise auch das Incipit (An-
sollten. Die Antwort der klassischen und mo- fang des Buchtexts) die Funktion der heutigen
dernen Typographie ist: Nein! Die Gründe Titelseite. Neben einer Angabe zum Inhalt
dafür liegen in dem gestörten optischen Er- und Autor des Werkes (nicht immer) finden
scheinungsbild einer Seite bzw. in dem ge- sich im Kolophon normalerweise Angaben
störten Lesefluß; dazu kommt bei der Wahl über den Drucker, der Druckort und das Da-
einer halben Leerzeile, daß dadurch der tum der Vollendung des Drucks. Wie Stein-
Grundraster einer Seite zerstört würde. An- berg ( 2 1961, 169) vermutet, hatten die frühen
ders gesagt, die Zeilen auf der Vorder- und Titelseiten wohl eher die Funktion des heu-
Rückseite würden nicht mehr „Register hal- tigen sogenannten Schmutztitels; d. h. der
ten“ (sich nicht mehr genau decken); ein Feh- eigentliche Textbeginn eines Buches sollte —
ler, der heute mehr und mehr um sich greift. bevor die bedruckten Bogen eines Buches zum
Die typographisch korrekte Art, Absätze im Buchbinder gelangten — so vor dem Ver-
Text zu kennzeichnen, besteht darin, daß man schmutzen bewahrt werden. (Cf. Giesecke
die erste Zeile eines neuen Absatzes mit einem 1991, 323 ff und 420 ff zur weiteren Funktion
„Einzug“ (1—2 Gevierte) beginnen läßt. der Titelei).
Eine andere Sachlage ist beim Beginn eines Ab ca. 1500 erscheinen regelmäßig echte
neuen Kapitels bzw. Unterkapitels mit eigener Titelseiten — oft mit Bordüren, Bildschmuck
Überschrift gegeben. Hier wählt man zur und Drucker-/Verlegersignet — die manch-
Kennzeichnung normalerweise im Falle eines mal den Titeltext in abnehmenden Schriftgrö-
Kapitelbeginns eine neue Seite, im Falle eines ßen und in verschiedenen geometrischen Um-
Unterkapitels eine oder zwei Leerzeilen. Das rissen (Kegel, Rhombus, Kreis etc.) anordnen.
Auge bzw. der Leser kann sich so auf die Im 17 . Jahrhundert erscheinen häufiger in
jeweils neue Materie einstellen bzw. die Lek- Kupfer gestochene Titelseiten, bei denen der
türe unterbrechen. Text hinter oft reichen, neoklassischen oder
Für ein inhaltlich stärker strukturiertes barocken Darstellungen zurücktritt.
Werk erscheint ein weiteres Gliederungsmittel Im 18. Jahrhundert werden Titelseiten wie-
oft angebracht: der Seiten- oder Kolumnen- der mehr und mehr mit rein typographischen
titel. Seine Aufgabe besteht darin, den Leser Mitteln eher zurückhaltend gestaltet; Vorbil-
auf jeder Seite darüber zu informieren, in der sind hier Didot und Bodoni. Im 19. Jahr-
welchen Kapitel oder Unterkapitel er sich ge- hundert sind die Titelseiten oft mit Text über-
rade befindet. Damit ist auch schon gesagt, laden (Motto, Inhaltsangaben etc.). Im aus-
daß eigentlich nur sogenannte „lebende“ Ko- gehenden 19. und weit ins 20. Jahrhundert
lumnentitel lesefunktional sinnvoll sind; hinein bilden sich vor allem epigonale (z. B.
„tote“ Kolumnentitel würden nur die Seiten- William Morris in England) oder neue Stil-
zahlen zeigen. Satztechnisch gesehen werden richtungen (vor allem Jugendstil, art deco und
Kolumnentitel am zweckmäßigsten am Kopf Bauhaus) im Erscheinungsbild von Titelseiten
der Seite mittig oder im Wechsel, je nach ab. (Für Details zur typographischen Ge-
linker oder rechter Seite, links- oder rechts- schichte der Titelseite cf. de Vinne 197 2, John-
bündig neben der Seitenzahl, durch eine Leer- son 197 0, 288—297 ; Steinberg 2 1961, 165—
zeile vom Text getrennt, untergebracht. 175.)
Für weitere satztechnische Feinheiten bei Für die Typographie der Titelseite heute
der typographischen Gestaltung eines Buches stellen sich folgende Fragen: (a) Anordnung
wird auf eines der klassischen Handbücher, der wenigen Titelzeilen auf Mittelachse oder
asymmetrische Anordnung (links- oder
226 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

rechtsbündig)? (b) Welche Schriftart bzw. wel- jede Seite der Titelei als rechte Seite.
che Schriftgröße und Auszeichnungsqualität Früher noch mehr als heute war die Titel-
einer Schrift soll gewählt werden? seite eines Buches — von der Gestaltung des
Die klassische Antwort auf die erste Frage Einbandes oder Schutzumschlages, die meist
lautete vom 16. bis weit ins 20. Jahrhundert aus werbepsychologischen Gesichtspunkten
hinein: Mittelachse, d. h. ein Buch wurde als erfolgt, einmal ganz abgesehen — der Tum-
Monument verstanden, deshalb konnte die melplatz für typographische Spielereien oder
Architektur der Titelseite nur monumental- aber auch der Raum für ernsthafte künstle-
geometrisch sein. Die Monumentalitätsauf- rische Bemühungen. Heute unterscheidet man
fassung bildete sich oft auch noch in der Ant- jedoch mehr und mehr Typographie als einen
wort auf die zweite Frage ab: man wählte für lesefunktional gesteuerten Optimierungspro-
die Haupttitelzeile einen möglichst großen zeß des Umgehens mit Textzeilen im weißen
Schriftgrad, und zwar in Versalien. Ein be- Raum einer Seite von der sogenannten Ty-
deutender Typograph unserer Zeit kritisiert pokunst, in der Buchstabenformen nur noch
dieses Streben nach Monumentalität mit har- „als graphisches material, als formaler stein-
schen Worten: bruch für zeichen und strukturen in schwarz
wer nach der römischen kapitalis, wer nach mit- und weiß“ (Aicher 2 1989, 118) verwendet wer-
telachse und versalien greift, enthüllt, daß er ein den. Typographisches und künstlerisches Be-
demonstrationsbedürfnis zu befriedigen hat, um ein streben im strengen Sinne schließen sich ge-
inneres vakuum zu verdecken ... symmetrie ist zur genseitig eigentlich aus. Kunst dient der ästhe-
struktur der macht geworden [z. B. in der Archi- tischen Sinnvermittlung; Typographie soll
tektur, in der Schlachtordnung, im Altaraufbau Texte gut lesbar und verständlich erscheinen
etc.] (Aicher 2 1989, 91). lassen.
Die alternative Antwort auf beide Fragen
lautet heute bei einflußreichen Verlagen zu-
nehmend: linksbündige, also vertikalaxial 6. Literatur
asymmetrische, Verteilung der Zeilen einer Ti-
telseite. Bis auf den Haupttitel des Werkes, Aicher, Otl. 2 1989. typographie. Lüdenscheid.
der normalerweise in einem größeren Schrift- Baumann, Hans D. & Klein, Manfred. 1990. Desk-
grad (jedoch nicht in Versalien) erscheint, top Publishing — Typografie und Layout. Nie-
wird der Brotschriftgrad des Buchtextes ver- dernhausen.
wendet (am stärksten nimmt sich die Titel- Balsamo, Luigi & Tinto, Alberto. 1967 . Origini del
seitentypographie (eine „tipografia povera“) Corsivo nella Tipografia Italiana del Cinquecento.
der dtv-Taschenbücher zurück). Milano. Edizioni il Polifilo. 29—139.
Die Titelseite eines benutzerfreundlichen Bembo, Pietro. 1970. De aetna. Verona.
Buches sollte folgende Informationen in die- Biggs, John R. 197 7 . Letter-forms and Lettering.
ser Reihenfolge enthalten: Towards an understanding of the shapes of letters.
— vollständiger Name des Autors/Autoren Blandford.
— Titel des Werks (gegebenenfalls Untertitel) Brekle, Herbert E. 1964. Statistical Correlation
— gegebenenfalls Verlagssignet Between Typographical Data and Spelling-Variants
— Publikationsjahr in 16th and 17 th Century English Books. Lingui-
— Verlag und Publikationsort stics 9, 14—29.
Die gesamte Titelei (= „front matter“ im —. 1993 a. Anmerkungen zur Klassifikations- und
Gegensatz zu „back matter“ (Bibliographie, Prioritätsdiskussion um die frühesten Druck-Anti-
Register)) besteht aus folgenden Teilen: quaschriften in Deutschland und Italien. Vortrag
im Rahmen des Convegno internazionale „Italia ed
— Schmutztitel (abgekürzte Fassung des
Europa nella Linguistica del Rinascimento. Con-
Haupttitels
fronti e Relazioni.“ Ferrara, 20.—24. März 1991.
— Haupttitel
Gutenberg-Jahrbuch 1993, 30—43.
— Copyrightangaben (im Falle einer Über-
setzung mit Originaltitel und Name des —. 1993 b. Typographie Anno Domini MCXVIIII
im Kloster Prüfening. Regensburg.
Übersetzers, Impressum; auf Rückseite
des Haupttitels) Casamassima, Emanuele. 1966. Trattati di Scrittura
— Widmung del Cinquecento. Milano.
— Inhaltsverzeichnis Dair, Carl. 1967. Design with Type. Toronto.
— Vorwort DeFrancis, John. 1989. Visible Speech. The diverse
oneness of writing systems. Honolulu.
Bis auf die Copyrightangaben erscheint
13.  Typographie 227

De Vinne, Theodore Low. 197 2. The Practice of Schriftsammlung. München.


Typography. A Treatise on Title-pages. New York. Osley, A. S. 1965. The Origins of Italic Type. In:
Dußler, Sepp & Kolling, Fritz. 197 1. Moderne Set- Calligraphy and palaeography. Essays presented to
zerei. München. Alfred Fairbank (ed. A. S. Osley). London, 107 —
Frutiger, Adrian. 197 9. Die Zeichen der Sprachfi- 120.
xierung. Echzell, 27—103. Ovink, G. W. 1980. Revivals of fifteenth-century
Giesecke, Michael. 1991. Der Buchdruck in der typefaces. Hellinga-Festschrift. Amsterdam, 37 9—
frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie. Frank- 402.
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Caratteri di Francesco Griffo da Bologna. Studi di A. S. Osley). London, 179—191.
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Mazal, Otto. 1984. Paläographie und Paläotypie. —. 1992. Schriften 1925—1974. 2 Bde. Berlin.
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Morison, Stanley. 1967 . First Principles of Typo- illustrierte Geschichte der Druckverfahren. Frank-
graphy. Cambridge Authors’ and Printers’ Guides. furt a. M.
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entwicklung. Formbedingungen. Schrifttechnik.
Herbert E. Brekle, Regensburg (Deutschland)
228 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

14. Kalligraphie

1. Einleitung Der große Schriftkenner Jan Tschichold be-


2. Europäische Kalligraphie dauert zu Recht: „Eine Weltgeschichte der
3. Arabische Kalligraphie Kunst der letzten beiden Jahrtausende, die der
4. Fernöstliche Kalligraphie schönen Schrift den Rang einer Kunst ein-
5. Literatur räumt, ist noch ungeschrieben.“ (Tschichold
1949, 5). Die Paläographie, die Lehre von den
Schriftarten der Antike und des Mittelalters,
1. Einleitung gilt lediglich als Hilfswissenschaft der Ge-
Die Schrift ist eine der großartigsten Erfin- schichtsforschung. Für die Paläographen sind
dungen des Menschen. Sie ist kein Geschenk die alten Schriften nur historische Doku-
der Götter, keine geheimnisvolle, mystische mente, die zu entziffern, zu datieren und zu
Schöpfung, auch keine Erfindung des Men- lokalisieren sind. Bernhard Bischoff, der fein-
schen im Bereich des Sakralen oder Kulti- sinnige und kluge Vertreter seiner Zunft, ge-
schen, sondern eine ganz praktische Erfin- steht: „Wie der Trieb zur Kalligraphie, das
dung im Alltag der Wirtschaft und Verwal- schöpferische Prinzip, harmonische Schrift
tung. hervorzubringen, tätig wurde, wenn das Ziel
Mit der Schrift hat sich der Mensch ein erkannt war, davon wissen wir noch sehr we-
visuelles Hilfsmittel geschaffen, um Gedan- nig; aber wir können die Ergebnisse, die gro-
ken und Sprache zu fixieren und um diese ßen Stilformen, eine Luxeuil-Minuskel oder
später an einem anderen Ort für andere Per- eine northumbrische Halbunziale nur bewun-
sonen verfügbar zu machen. Schrift ist ein dern.“ (Bischoff 1981, 9). Bischoff war auf
Kommunikationsmittel, das über Raum und der Spur, in das Wesen der Schreibkunst ein-
Zeit wirksam ist. zudringen.
Aber Schrift wird nicht nur gelesen; kein In der Schriftkunde unterscheidet man
Buchstabe, kein Wort, keine Zeile wird neu- schon sehr früh zwischen einer bewußt schön
tral gestaltet. Jede Form bewirkt im Leser geschriebenen Buchschrift, einer stilisierten
auch Emotionen. Jede Mitteilung des Men- Urkundenschrift und einer schnell und flüch-
schen mit Hilfe der Schrift, ob mit der Hand tig hingesetzten Geschäftsschrift. In sehr vie-
geschrieben oder von der Maschine gedruckt, len Schriftkulturen bemühten sich die Men-
vermittelt an den Leser auch einen ästheti- schen seit langer Zeit schon um eine künst-
schen Eindruck. Albert Kapr konstatiert: lerische Gestaltung der Schrift. Bereits in
Keilschrift gibt es Steininschriften aus dem 3.
„Gegenstand einer Ästhetik der Schriftkunst Jahrtausend, die eine sorgfältige Gestaltung
sind diejenigen Prozesse, Erscheinungen und aufweisen und eines ästhetischen Reizes nicht
Wirkungsweisen, unter denen das kommu- entbehren (→ Art. 18, 35). Die Schrift der
nikative Medium Schrift in Einheit mit sei-
ner semantischen Aufgabe auch eine ästhe- alten Ägypter fasziniert die Menschen bis
tische Funktion übernimmt. Schrift wird zur heute (→ Art. 19, 34).
Schriftkunst, wenn sie in meisterlicher Form Seit Jahrtausenden ist der Mensch bemüht,
Lesbarkeit, Schönheit und Ausdruckskraft mit Hilfe einer ausgesuchten Schriftform dem
Inhalt des Geschriebenen ein besonderes Ge-
vereint. Ästhetisches Interesse verdienen dar- sicht zu verleihen. Inmitten unseres techni-
über hinaus alle Ausdrucksformen der schen Zeitalters läßt doch noch manche Stadt
Schrift, da sie sämtliche — auch wenn vom bei außergewöhnlichen Anlässen Urkunden
Schreiber oder Schriftenhersteller nicht ge- von einem Kalligraphen schreiben, und die
plant — ästhetische Gefühle evozieren. Es ist Bundesregierung in Bonn beschäftigt einen
die Hauptaufgabe der Ästhetik, die grundle- Bundeskalligraphen. „Schrift ist also nicht
genden Methoden einer Aneignung der Welt nur eine Hülle für das Bedeutete, für den Text,
nach den Gesetzen der Schönheit zu unter- den man schreibt oder liest. Sie ist ebenso
suchen, zu definieren und für die weitere äs- Form und Zeichen mit einer eigenen ästheti-
thetische Veränderung der Wirklichkeit zu schen Aussage, und diese bildhafte Aussage
nutzen. Dies gilt ebenso für die Schriftkunst“ ästhetisch zu organisieren, dies ist das Wesen
(Kapr 1977, 9). der Kalligraphie“ (Kapr 1988, 7 f).
Dem ästhetischen Aspekt der Schrift ist Dem Begriff Kalligraphie zugrunde liegt
von seiten der Wissenschaften bisher wenig das Griechische kallos graphein „schön schrei-
Aufmerksamkeit entgegengebracht worden.
14.  Kalligraphie 229

ben“. „Die Schönheit der Schrift ist kein ab- schaffen hat. Wenn daher in diesem Beitrag
soluter Wert, sondern subjektiv und verän- der Schwerpunkt auf eine historisch orien-
derlich. Nicht jede Schriftform gilt allgemein tierte Kennzeichnung der Entwicklung in
und dauernd als schön. Das ist ganz natürlich, Europa gelegt wird (Zf. 2.), so soll aber kei-
denn auch die Kriterien sind subjektiv und neswegs der Eindruck entstehen, daß die
von den Wandlungen des Stilgefühls oder europäische Kalligraphie höherwertiger ein-
Zeitgeschmacks abhängig. Nichtsdestoweni- geschätzt wird als die arabische und fernöst-
ger gibt es viele Schriftarten, deren überper- liche.
sönliche und überzeitliche Schönheit nicht an-
gezweifelt werden kann, auch wenn es sich
um Formen handelt, deren Ursprung zeitlich 2. Europäische Kalligraphie
oder geographisch in weiter Ferne liegt. Einen
hohen ästhetischen Genuß vermitteln uns bei- 2.1. Griechische und lateinische Kalligraphie
spielsweise nach wie vor gewisse altrömische der Antike
Schriften, aber wir können von der Schönheit
der Schriften so mancher uns völlig fremder Das griechische Alphabet ist die Mutter aller
Kulturbereiche ebenso stark beeindruckt sein. europäischen Schriften. Die Griechen hatten
Wir zögern nicht, verschiedene orientalische im 9., vielleicht schon im 10. Jahrhundert
Schriften, die die meisten von uns gar nicht v. Chr. von den Phöniziern das nordwestse-
lesen können, als schön zu bezeichnen. Das mitische Konsonantenalphabet übernommen
ist eine sehr bedeutsame Tatsache, denn aus (→ Art. 12, 25). Aus diesen fremden Schrift-
ihr geht hervor, daß eigentlich nur die Form zeichen entwickelten sie das erste europäische
und kein anderer Aspekt der Schrift von die- Alphabet mit 24 Lautzeichen (Konsonanten
sem Blickpunkt her für uns entscheidend ist. und Vokale).
Und da es sich hierbei um einen visuellen, Die Kunst des Schreibens wurde von den
sinnlichen Genuß handelt, ist es demnach das Griechen sicherlich schon in der ersten Hälfte
Künstlerische dieser Form, sind es ihre spe- des 8. Jahrhunderts gepflegt. Papyrus- und
zifischen bildkünstlerischen Werte, die wir an Lederrollen mit griechischer Schrift sind uns
der Schrift so schätzen. Daß eine Wertung der aus den frühen Jahrhunderten leider nicht
Schrift nach solchen künstlerischen Maßstä- überliefert. Wie gern wüßten wir, wie die
ben durchaus berechtigt ist, kann auch mit Handschrift mit Homers Odyssee aussah,
der engen Beziehung der Schrift und Schrift- oder in welcher Schriftform die athenische
kunst zu den bildenden Künsten begründet Staatshandschrift mit den Tragödien von Ai-
werden.“ (Muzika 1965, Bd. 1, S. 19). Eine schylos und Sophokles geschrieben war? Die
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kal- ästhetische Entwicklung der griechischen
ligraphie richtet sich also auf die künstlerische Schrift können wir in der Frühzeit nur an-
Qualität der Schriftzeichen. hand von Schriftspuren auf Ton und in Stein
Hervorragende Beispiele schöner und verfolgen. Die Inschrift auf der Dipylonkanne
künstlerisch guter Schriftwerke können in vie- aus Athen des 8. Jahrhunderts v. Chr. ist in
len Schriftkulturen beobachtet werden. Es rohen Formen in den gebrannten Ton geritzt.
gibt aber drei große Kulturkreise, in denen Die Schrift läuft noch von rechts nach links
die Schrift außergewöhnliche Formen der und mancher Buchstabe erinnert an das Phö-
künstlerischen Gestaltung erfahren hat. Da nizische. Im alten Töpferviertel von Korinth
ist an erster Stelle China zu nennen; noch wurde die Scherbe eines großen Tongefäßes
heute muß jedes japanische Schulkind bis zur aus dem späten 8. Jahrhundert gefunden, de-
9. Klasse 2000 chinesische Schriftzeichen ler- ren Inschrift ein herausragendes Dokument
nen und ebenso das künstlerische Schreiben für die griechische Schriftgeschichte darstellt.
mit dem Pinsel. In Ostasien gilt heute noch Die großen Buchstaben stehen sorgfältig ein-
die Schriftkunst als die Königin der Künste. geritzt einer nach dem anderen zwischen zwei
Dann ist da die arabische Schrift, die in dem Linien. Diese fast gleichmäßig aufgereihten
weiten Raum von Spanien und Marokko bis hellen Buchstaben auf dunklem Grund bil-
nach Indien in eine islamische Schriftkunst deten sicherlich ein reizvolles Schriftdekor auf
von märchenhafter Schönheit verwandelt dem Gefäß. Seider spricht geradezu von einer
wurde. Der dritte Kreis ist der unserer west- „Schönschrift“, von „Scherben mit der schö-
lichen, europäischen Schreibkunst, die von nen Buchschrift“ (Seider 1990, Bd. III, 1,
der griechischen Antike bis heute ein phan- S. 38). In Korinth hatte die griechische
tastisches Szenarium der Kalligraphie ge- Schreibkunst bereits äußerst früh eine er-
staunliche Höhe erreicht. Man kann nur ver-
230 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

muten, daß auch korinthische Bücher des frü- habe aus Winkeln, geraden und runden Li-
hen 7 . Jahrhunderts, also Leder- oder Papy- nien (Dionysios Thrax, 1901, 183 f). Jenes sy-
rusrollen, zuweilen in bewußt kalligraphischer stematisch mathematische Denken der Grie-
Form geschrieben wurden. In den schönen, chen, das die erste reine Lautschrift entwik-
buchschriftartigen Nameninschriften auf den kelte, freute sich an der sichtbaren Mathe-
Tonscherben sieht Seider (1990, Bd. III, 1, matik der Ausformung der einzelnen Buch-
S. 108) schon „die Anfänge einer eigenstän- staben des Alphabets wie an der Gestaltung
digen, typisch korinthischen Schreiber- von Schriftkunstwerken auf Ton, in Stein, auf
schule“. Für die archaische Frühzeit Grie- Leder und Papyrus.
chenlands ist das ein herausragend ästheti- Bei Betrachtung der Schriftgeschichte sieht
sches Phänomen. man einen Bogen gespannt vom griechischen
Auch als Steininschriften sind uns einige Formenprinzip der Schriftgestaltung bis zu
schöne frühe Arbeiten griechischer Schrift- den Schöpfungen von Druckschriften im 20.
kunst überliefert. Aus dem späten 6. Jahrhun- Jahrhundert: Das konstruktive Prinzip do-
dert v. Chr. stammt ein Steinblock mit dem miniert in Schriften wie Futura, Kabel, Uni-
Opferkalender aus dem Delphinion von Mi- vers.
let. Mit Hilfe waagrecht eingeritzter Zeilenli- Erst aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhun-
nien wurde eine gleichmäßige Buchstaben- derts v. Chr. sind uns die ältesten griechischen
höhe erreicht. In gut abgewogenen Abständen Handschriften auf Papyrus überliefert. Die
stehen die streng geometrisch gezeichneten handgeschriebenen Buchrollen früherer Jahr-
Buchstabenbilder des griechischen Alphabets hunderte zeigten wahrscheinlich ähnliche äs-
(Seider, 1990, Bd. III, 1, S. 59). Die unbe- thetische Formen wie die zeitgleichen Schrift-
herrschten, wild überzeichneten Schriftfor- denkmäler des Inschriftenstils auf Ton und
men des archaischen 8. Jahrhunderts sind jetzt auf Stein. Die griechische Schrift war eine
gebändigt, von einem Bestreben nach Gleich- reine Majuskelschrift. In den literarischen Pa-
mäßigkeit der Buchstaben und Ausgewogen- pyrusrollen waren sicherlich Qualitätsunter-
heit der Zeile geprägt. Ein Höchstmaß an schiede zu erkennen. Die sorgfältig geschrie-
Schönheit griechischer Schriftdenkmäler ziert bene Prachtschrift war bestimmt selten neben
in Athen die Marmorplatte mit dem Volks- der gängigen Buchschrift. Auch die schnell
beschluß für Oiniades aus Palaiskiathos vom und ohne Sorgfalt geschriebene Geschäfts-
Jahre 408/7 v. Chr. (Seider 1990, Bd. III, 1, oder Urkundenschrift bestand bis ins 4. Jahr-
S. 61). Eine so regelmäßige Anordnung aller hundert aus Majuskeln.
Buchstaben auf der Marmorfläche erzielte Im Laufe der ptolemäischen Jahrhunderte
man damit, daß zuerst ein Schachbrettmuster entwickelten sich immer größere Unter-
aufgezeichnet wurde. Damit erhielten die schiede zwischen der Buchschrift und der kur-
Buchstaben in absolut gleichem Abstand ho- siven Geschäftsschrift. Erstere kennt grund-
rizontal und vertikal ihren Raum zugewie- sätzlich keine Ligaturen, jeder Buchstabe
sen. Ein doppelliniges Schachbrettmuster war steht einzeln für sich, die Majuskeln stehen
die Hilfskonstruktion für eine gleichmäßige zwischen zwei Zeilen. Dagegen werden in der
Buchstabenhöhe und für die gleichen Zwi- Alltagsschrift Kürzungen verwendet, mehrere
schenräume zwischen den Buchstaben. Waag- Buchstaben werden miteinander verbunden,
recht und senkrecht stehen die Buchstaben das Zweizeilensystem wird durch Ober- und
streng auf Linie ausgerichtet und bilden ein Unterlängen gesprengt und in byzantischer
Schriftbild von geometrischer Brillanz. Diese Zeit dann kalligraphisch bis ins Phantastische
Ästhetik ist Ausdruck griechischen Denkens gesteigert. Mit der byzantischen Kursive
von mathematischer Klarheit und technischer haben wir in Europa die erste reine Vierzei-
Prägnanz. In Attika wurden Buchstabenfor- lenschrift und damit die Ausgangslage für
men nach geometrischen Gesetzen geschaffen, eine Kalligraphie, in der durch die Dynamik
ihre Elemente sind senkrechte, waagrechte der Linie ein Schriftkunstwerk von hohem
und diagonale Linien, rechtwinkelig im Auf- graphischen Reiz entstehen kann. In der
bau, weiterhin reine Kreisbögen und die Kanzlei der byzantischen Kaiser wurden spä-
Gleichseitigkeit des Dreiecks (→ Art. 12). ter Urkunden geschrieben, in denen einzelne
Apollonius aus Messeme berichtet über die Buchstaben besonders überhöht und andere
alten Buchstaben, daß er gehört habe, Pytha- mit weit ausholenden Linien geschmückt sind.
goras habe sich um die Schönheit der Schrift Die griechische Kursive verwilderte im 13.
bemüht, indem er die Buchstaben gemäß den Jahrhundert mit zunehmender Unregelmäßig-
Figuren der Geometrie zusammengesetzt keit der Buchstabengrößen, ausgefallenen Li-
14.  Kalligraphie 231

gaturen und unbeherrschten Schnörkeln, die alter Tradition alle gleich groß und in ihrer
den Schriftspiegel sprengen. Form nach von möglichst gleichem Gewicht.
Ein strenger Schriftstil feierte in der Spät- Jeder Buchstabe ist ein Individium, dem ein
antike noch einmal Triumphe. In Konstanti- fast quadratischer Raum zugeteilt ist. Der
nopel oder zumindest im byzantinischen aufgeschlagene Codex Sinaiticus mit seinen
Reich wurden im 6. Jahrhundert einige Pur- acht sorgfältig geschriebenen Buchstabenko-
purhandschriften geschaffen; diese Bibeln lumnen auf der Doppelseite ist durch seine
sind auf den neuen Beschreibstoff Pergament, geometrisch geprägte Einzelform der Buch-
das mit Purpur gefärbt ist, mit Silbertinte staben und die ausgewogene Regelmäßigkeit
geschrieben, die Namen Gottes und Christi der Zeilen und Kolumnen von kristallinischer
in Gold. Die Farbe Purpur war dem Kaiser Strenge und Klarheit. Diese frühen Bibel-
vorbehalten. Die ausgesuchte Qualität des handschriften in griechischer Majuskelschrift
Pergamentes, die Farbe des Kaisers und die waren ganz auf Repräsentation und sakrale
hohe kalligraphische Kunstfertigkeit der Würde hin angelegt; sie waren ein wichtiger
Schreiber standen im Dienste der heiligen Bü- Bestandteil des christlichen Kultes und ge-
cher der Christen. Es sind reine Majuskel- hörten zum Kirchenschatz. Die Schreiber die-
handschriften im strengen Zweizeilensystem, ser Bibeln dienten mit dem bewußt gewählten
in dem die einzelnen Buchstaben Stück für traditionsreichen kalligraphischen Stil dem
Stück mehr gemalt als geschrieben sind. Am ewig gültigen Wort Gottes.
bekanntesten ist der Codex Purpureus Petro- Diesen kostbaren Bibelhandschriften des
politanus , der im Mittelalter auseinanderge- christlichen Ostens wurden im Westen in heid-
nommen wurde; heute befinden sich 182 Blät- nischen, konservativ römischen Kreisen einige
ter in Leningrad, 33 in Patmos, 6 in der Bi- literarische Prachthandschriften entgegenge-
bliothek des Vatikans, 4 im British Museum, setzt, die zum Schönsten antiker Kalligraphie
2 in Wien und eins in Genua. Aber schon im Italiens zählen. An erster Stelle ist da eine
4. und 5. Jahrhundert entstanden einige Bi- Vergilhandschrift aus dem 4. Jahrhundert zu
belhandschriften, die in ihrer Monumental- nennen: Der Codex Vergilius Augusteus . Von
schrift zum Schönsten und Großartigsten dem Pergamentfolianten (42 × 34,5 cm), der
spätantiker, frühchristlicher Schreibkunst ge- einst aus mindestens 657 Seiten bestand, exi-
hören. Im Schriftbild der Großbuchstaben stieren heute noch sieben Blätter in der Staats-
dominierten bisher Senkrechte, Waagrechte bibliothek Berlin (Codex Lat. fol. 416) und
und Diagonale, jetzt kam der Rundbogen in Rom (Codex Vaticanus lat. 3256). Die
dazu. Diese neue Buchschrift der Spätantike, Pergamenthandschrift ist in einer außerge-
bevorzugt benutzt von den christlichen wöhnlich monumentalen Capitalis Quadrata
Schreibern, ist die Unziale. Dieser Name für geschrieben (s. Abb. 14.2). Die geometrisch
den Bibelstil dieser frühen Prachtbibeln streng geschriebene Majuskelschrift im Zwei-
stammt jedoch aus neuerer Zeit. zeilensystem hat die Paläographen des 19.
Neu war auch die Kodexform, in der die Jahrhunderts anfangs so beeindruckt, daß
Bibeln geschrieben wurden. Die berühmtesten man glaubte, hier eine Originalhandschrift
Bibelkodizes in griechischer Unziale sind der aus der Zeit des Kaisers Augustus vor sich zu
Codex Sinaiticus , der Codex Vaticanus graecus haben. Heute datiert man sie dagegen jünger
und der Codex Alexandrinus . Vom Codex Si- bis in den Anfang des 6. Jahrhunderts. Die
naiticus sind noch 347 Blätter erhalten, die Klarheit und Eleganz der großen Buchstaben
im 19. Jahrhundert im Katherinenkloster auf verleihen dieser Handschrift ihren majestäti-
der Halbinsel Sinai entdeckt wurden und schen Glanz. Jede Seite beginnt mit einer In-
heute in London in einer Vitrine des British itiale, die sechsmal größer ist als eine Schrift-
Museum betrachtet werden können; ein klei- zeile. So erhielt jede Seite einen besonderen
ner Teil liegt in der Universitätsbibliothek künstlerischen Akzent, mit dem die Vielzahl
Leipzig. Vermutlich wurde er im 4. Jahrhun- der einzelnen Buchstaben, eingebunden in das
dert n. Chr. in Ägypten geschrieben (s. Abb. System von streng parallel laufenden Zeilen,
14.1). Vier Kolumnen Text stehen auf einer noch einmal ausdrucksvoll überhöht wird.
Pergamentseite des Codex Sinaiticus. Nach Die ornamentlosen Zierbuchstaben am An-
absolut regelmäßigem Zeilenanfang stehen in fang der Seite betonen den geometrischen
ausgewogenen Abständen die Majuskeln auf Duktus der Handschrift. Die Capitalis Qua-
Linie, und keine Worttrennung unterbricht drata in dieser Form erscheint nur selten als
das in sich geschlossene Buchstabengefüge Buchschrift. Ihr nahe sind die Schriftformen,
einer Kolumne. Die Buchstaben sind nach die in Stein gehauen wurden; so vermutet man
232 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 14.1: Codex Sinaiticus. Griechische Bibelhandschrift geschrieben um die Mitte des 4. Jahrhunderts.
Schrift: Griechische Unziale
in dem Schreiber der Vergilhandschrift einen dem Codex Augusteus recht nahe steht. Noch
Kalligraphen, der es nicht nur verstand mit ein dritter Vergilkodex in dieser selten ge-
der Rohrfeder, sondern auch mit dem Meißel schriebenen Capitalis quadrata ist überliefert,
zu arbeiten. Ein solcher Künstler war in Rom heute im Museum altägyptischer Altertümer
in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Fu- in Kairo. Seider (197 8, 84) vermutet, daß der
rius Dionysius Philocalus. Vielleicht entstand Kalligraph Furius Dionysius Philocalus diese
die Vergilhandschrift in seiner Werkstatt. majestätische Form der Capitalis quadrata als
Die Stiftsbibliothek von St. Gallen besitzt Buchschrift einführte: „Unter dem heidnisch
eine andere Vergilhandschrift, Codex Sangal- gebliebenen römischen Adel begannen sich
lensis (Cod. 1394), dessen Capitalis Quadrata seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bis
14.  Kalligraphie 233

Abb. 14.2: Codex Augusteus. Spätrömische Vergilhandschrift aus dem 4. Jahrhundert (Ausschnitt).
Schrift: Capitalis Quadrata.
in die Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich „Die römische Kapitale ist vor allem
(† 526) Kräfte zu regen, die dem Christentum Staatsschrift,“ konstatiert Fichtenau (1946,
und der aufblühenden christlichen Literatur 87 ), „so wie die großen Bauten Staatsbauten
das alte römische Geisteserbe entgegenzustel- sind. Der geometrische Gehalt ist nicht mehr
len suchten.“ Und hier waren es besonders reines Maß und absolute Form wie in Grie-
die Werke Vergils, die eine wichtige Rolle in chenland, sondern zweckhaft und gewinnt da-
der Pflege römischen Geistes spielten. So ist durch eine neuartige imposante Größe.“ So
es verständlich, daß für diese Handschriften, belebt die römische Capitalis ein anderer
die vom konservativen, wohlhabenden Stadt- Geist als die griechische Monumentalis. Die
adel in Auftrag gegeben wurden, in einer prachtvollen Großbuchstaben verwendeten
Schriftform aufgezeichnet wurden, die an den die Römer an öffentlichen Gebäuden, an
Glanz der frühen Kaiserzeit erinnert, als in Triumphbögen, Siegessäulen und Grabdenk-
Rom die schönsten Inschriften in Stein ge- mälern, also für besondere Zwecke im Bereich
hauen wurden. Die römische Capitalis Qua- des Staates und des Kultus. Fichtenau (1946,
drata entwickelte sich als Lapidarschrift unter 87 ) meint ja, „auch die Kapitale, wie wir sie
dem Einfluß des griechischen Formenkanons. zu sehen gewöhnt sind, muß damals sakralen
Ihre klassische Form erreichte sie in der Re- Wert und Charakter besessen haben.“ Für
gierungszeit von Kaiser Augustus, Nerva und viele gilt die Inschrift auf dem Sockel der
Trajan. Nach einer Entwicklungszeit von gut Trajanssäule in Rom aus dem Jahre 113
siebenhundert Jahren hatten die Römer für n. Chr. als das schönste römische Schrift-
ihr Majuskelalphabet Formen und Proportio- kunstwerk (→ Abb. 12.14). Seit der Renais-
nen gefunden, die bis heute für Europa Vor- sance faszinierten diese römischen Steinin-
bild und Maßstab sind. Der Formenkanon schriften immer wieder Künstler, Architekten,
des römischen Alphabets der frühen Kaiser- Ingenieure und Mathematiker, und es reizte
zeit ist die Grundlage unserer Schrift (→ sie, mit Hilfe der Geometrie und Proportions-
Art. 12). lehre die Gesetze der Schönheit dieser Buch-
staben aufzuspüren. Im Jahre 1463 entstand
234 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die erste bekannte Schriftkonstruktion in Ve- tes Würde und Feierlichkeit zu verleihen. Na-
rona von der Hand des dreißigjährigen Kal- türlich gab es daneben eine römische Kursive,
ligraphen und Humanisten Felice Feliciano. wobei die flott mit dem Pinsel geschriebenen
Die reizvolle Handschrift, heute in der Biblio- Geschäftsanzeigen, Bekanntmachungen und
thek des Vatikans, erschien jetzt in einer guten Wahlparolen auf Wänden und Mauern leben-
Faksimileausgabe (Feliciano, 1985). Auch Al- dige Zeugnisse des römischen Alltags sind
brecht Dürer (1525) und der berühmte Kal- und auch hier noch das sichere Formempfin-
ligraph Wolfgang Fugger (1553) veröffent- den dieser Schreiber vorführen. Seit dem 4.
lichten ihre Konstruktionen der römischen Jahrhundert n. Chr. beobachtet man auch
Capitalis (s. u. Abb. 14.10). Noch im 20. Jahr- eine jüngere römische Kursive mit Kleinbuch-
hundert erschienen solche Konstruktionen in staben (= Minuskelkursive) (→ Art. 12). Die
Deutschland, in der Schweiz, in England und Kanzlei der römischen Kaiser pflegte die äl-
Bulgarien (s. u. Abb. 14.11). In einer kriti- tere Majuskelkursive. Im 3., noch mehr im 4.
schen Studie über das römische Alphabet Jahrhundert bevorzugten die Schreiber in den
setzt sich der Offenbacher Ingenieur Johannes Pergamentkodizes eine neue Buchschrift: die
Muess (1989) mit all diesen Publikationen Unziale. Diese neue Schriftform der Spät-
vom 15. Jahrhundert bis heute auseinander. antike hatte im griechischsprachigen Ostteil
Der römische Kalligraph als Buchschreiber des römischen Reiches ihre schönste Ausfor-
schrieb die Capitalis, um dem Gehalt des Tex- mung in den großen Bibelhandschriften er-

Abb. 14.3: Codex Vindobonensis. Karolingisches Sakramentar. Um 860 in Nordfrankreich geschrieben.


Schrift: Unziale, in Goldtinte geschrieben
14.  Kalligraphie 235

lebt. Auch im Westen scheinen es die christ- die großen Pergamenthandschriften mit den
lichen Kalligraphen gewesen sein, die mit Vor- heiligen Worten der Evangelisten zu pracht-
liebe ihre heiligen Schriften auf Pergament in vollen Büchern gestaltet wurden. Im angel-
der Unzialis schrieben. Bis zum Ende des 8. sächsisch-irischen Raum wurde die insulare
Jahrhunderts war die Unziale die bevorzugte Halbunziale geschrieben, die sich die Mönche
Schrift für die Evangelien (Abb. 14.3). Noch in kräftiger, gedrungener Form von der rö-
in karolingischer Zeit wurde sie nicht nur als mischen Halbunziale angeeignet hatten. Die
Auszeichnungsschrift herangezogen, sondern Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l werden
auch noch als Textschrift für liturgische niedrig gehalten und nach oben hin spachtel-
Handschriften benutzt. Die Tendenz zur Run- förmig ausgebreitet. Wie breite, starke Glie-
dung in den unzialen Leitbuchstaben A, D, der einer Kette reihen sich die Buchstaben bei
E, G, H, M, Q und U harmoniert bestens mit strenger Zeilenführung auf. Mit Flechtwerk
der karolingischen Minuskel. Viel ist gerätselt und Spiralen werden Initialen oder ganze
und geschrieben worden über die Ursprünge Schmuckseiten in einem betörenden Farben-
dieser neuen Schrift, die in der Spätantike in und Formenreichtum gestaltet. Das British
die Bücher einzieht. Fichtenau (1946, 91) Museum zeigt in einer Vitrine als eine große
meint, daß die Unziale „die Schöpfung eines Kostbarkeit früher europäischer Buchkunst
neuen Kunstwollens“ sei, dieser neuen Schrift das „Evangeliar von Lindisfarne“ aus dem
liegt „eine neue geistige Haltung“ zu Grunde späten 8. Jahrhundert. Noch kostbarer, noch
und charakterisiert sie so: „Die Unziale war prachtvoller ist das „Book of Kells“ aus der
neu, traditionslos, provinziell im Gegensatz Zeit um 800 n. Chr. Das Hauptwerk der iri-
zur Schrift des ewigen Rom mit seinem ver- schen Buch- und Schriftkunst wird heute im
ehrungswürdigen Gehalt an altem Erbgut. „Trinity College“ von Dublin als Irlands
Das Neue mußte schon eine tiefe Wandlung Staatsschatz aufbewahrt. Diese Handschrift
des Menschen in dieser Zeit bedeuten, wenn irischer Mönche ist ein Buch von magischer
man das ehrwürdige Alte ihm zuliebe so kur- Schönheit. Der strenge Formenkanon der in-
zerhand verließ“. Mehrere hundert umfang- sularen Halbunziale und aller ornamentaler
reiche Pergamentkodizes aus der Zeit der Buchschmuck stehen hier im Dienste des Kul-
Spätantike und des frühen Mittelalters sind tus des frühen Christentums, das Buch und
uns bekannt, die alle in der zur christlichen Schrift aufs höchste gesteigert hatte (s.
Kultschrift avancierten Unziale geschrieben Abb. 14.4 auf Tafel XIV).
sind. Der praktische Zerfall Roms hatte Sonder-
entwicklungen in den Provinzen zur Folge.
2.2. Das Mittelalter Franken, Westgoten, Ostgoten, Vandalen
gründeten ihre eigenen Reiche. In dem poli-
2.2.1. Die karolingische Minuskel tischen Wirrwarr verwilderte vollends das
Schreiben der römischen Schrift. In den
Mit dem Untergang des Imperium Romanum Schreibstuben der Klöster und in den Kanz-
zog sich die Kunst des Schreibens in die Stille leien der staatlichen und kirchlichen Verwal-
der christlichen Klöster zurück. Inmitten des tung wurden die unterschiedlichsten Buchsta-
Chaos der Auflösung des Römischen Welt- benformen geschrieben. Nicht nur im Mero-
reiches und der Völkerwanderung hatte der wingerreich wurden Königsurkunden ge-
feinsinnige und gebildete Römer Cassiodor schrieben, die wohl schwer zu lesen waren,
das Kloster Vivarium in Kalabrien gegründet. aber in ihrem hohen kalligraphischen Reiz
Für seine Mönche war das Abschreiben der eine imponierende Wirkung auf den Betrach-
Bibel, theologischer und profaner Autoren ter hatten. Schon der spätantike Herrscher-
eine wichtige Aufgabe. Schreiben war dem kult hatte seine kalligraphische Ausdrucks-
Gebet und dem Gottesdienst gleichgestellt. form in einer außergewöhnlichen Kaiserkur-
Schreiben im Dienste des religiösen Wortes sive gefunden. Es sind also keineswegs nur
wurde später vom Benediktinerorden weiter- Arbeiten in einer kultivierten Buchschrift nen-
gepflegt. Die schönsten Handschriften des nenswerte Werke der Kalligraphie, sondern
frühchristlichen Abendlandes wurden in Ir- manch ein Schreiber in der Kanzlei eines
land und England geschrieben. Im 4. Jahr- Herrschers hat aus dem Bestreben nach Re-
hundert bereits kam das Christentum auf die präsentation Meisterwerke der Schreibkunst
keltische Inselwelt im Nordmeer, wo die Men- auf Pergament oder Papier gebracht. König-
schen schon von alters her ein starkes Be- liche Diplome der Merowingerzeit sind mit
dürfnis hatten, Gebrauchsgegenstände zu ver- großem Temperament der Kalligraphen ge-
zieren. So ist es nicht verwunderlich, daß nun
236 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

schrieben, um das Gewicht des Dokumentes zusammengezogen, die als Theologen aber
zu versinnbildlichen. gleichzeitig gute Kenner der Antike waren.
Wie beherrscht mußten dagegen die Mön- Die Regierungszeit Karls des Großen war für
che ihre Bücher schreiben. Mönchische Le- die Entwicklung der lateinischen Schrift von
benszucht mit dem Ideal der Askese regle- entscheidender Bedeutung. Der Kaiser soll im
mentierte auch die Hände der Kalligraphen hohen Alter noch selbst schreiben gelernt
in den Skriptorien der Klöster. Die Disziplin haben. Mit der karolingischen Minuskel
nach der Klosterregel formte die Haltung des wurde in dieser Zeit eine Schrift geformt, die
ganzen Menschen und zeitigte eine straffe nicht nur gut dreihundert Jahre ihre Gültig-
Durchformung der sakralen Buchschrift. Als keit hatte, sondern noch heute in unseren
zu Weihnachten im Jahre 800 Karl, König der Kleinbuchstaben zur Anwendung kommt.
Franken aus dem Geschlecht der Karolinger, Die karolingische Minuskel war eine gut les-
in Rom vom Papst zum Römischen Kaiser bare, ganz diszipliniert geschriebene Klein-
gekrönt wurde, war nördlich der Alpen ein buchstabenschrift im Vierzeilensystem mit
neues politisches Kraftzentrum entstanden, Ober- und Unterlängen. Großbuchstaben
das in der Residenzstadt Aachen auch einen kennzeichnen den Anfang eines Satzes (Abb.
kulturellen Mittelpunkt hatte. Zahlreiche Ge- 14.5). Mit klaren Abständen zwischen den
lehrte wurden am Hofe Karls des Großen Worten, frei von Abbreviaturen und Ligatu-

Abb. 14.5: Benedictionale des hl. Athelwold aus dem 10. Jahrhundert.
Schrift: Karolingische Minuskel. Als Auszeichnungsschrift: 1. Zeile: Unziale, 2. Zeile: Capitalis Quadrata
14.  Kalligraphie 237

ren lassen sich die Texte angenehm und 14.6 auf Tafel XV). Ausgesuchte Stellen der
schnell lesen, leichter als die abstandslosen Handschrift erhielten damit ein festliches Ge-
Buchstabenreihen in den großen Handschrif- präge. Hans Jantzen (1947 , 109 f), Kenner der
ten früherer Jahrhunderte. Ein recht einheit- ottonischen Kunst, schreibt: „Das „Wort“ als
liches Schriftbild hatte die karolingische Mi- Mitteilung hatte im frühen Mittelalter ein an-
nuskel im ganzen Frankenreich bekommen. deres Gewicht als in unserer wortreichen Zeit.
Die kirchlich-lateinischsprachige Kultur des Es besaß volleren Klang, war inhaltsgesättigt
Mittelalters gründete fest in der mönchischen und fähig, letzte Wahrheiten in sich zu bergen.
Disziplin der Klöster. Vom 9. bis zum 12. Dieses spezifische Gewicht des Wortes gelangt
Jahrundert war die karolingische Minuskel im Schriftbild zum Ausdruck, das nicht allein
die Schrift des christlichen Mittelalters. „Erst- von der bloßen Lesbarkeit und übersichtli-
mals seit dem Ende der Antike wurde mit der chen Gliederung des Textes her geformt wird,
karolingischen Minuskel eine Schrift politisch sondern das etwas von der Bedeutung der
als Mittel zur Vereinheitlichung des Lebens Mitteilung veranschaulichen soll.“
in allen Reichsteilen eingesetzt. Hatten bis Mayr-Harting (1991, 67 ) sieht die Kalligra-
dahin die Klöster und Kanzleien die Schrift phie in ottonischer Zeit geradezu im Banne
eigenständig entwickelt, so wurde unter Pip- der Buchstabenmagie und verweist auf Hra-
pin, Karl dem Großen und Ludwig dem banus Maurus, Abt des Klosters in Fulda,
Frommen die Frage der Schriftkultur ebenso der sich schon in der ersten Hälfte des
mit der Politik verknüpft, wie die Religion als 9. Jahrhunderts für die Überlegenheit der
staatstragende und vom Staat getragene Ideo- Schrift gegenüber dem figürlichen Bild ein-
logie wiederentdeckt wurde. Die schnörkel- setzte.
lose Klarheit der karolingischen Minuskel, Kalligraphie in unserem Sinne von heute
der jede folkloristische Verspieltheit abgeht, als ästhetische Kategorie des schönen Schrei-
machte sie zu einem universalen Kommuni- bens kannte man im Mittelalter nicht. Denn
kationsmittel im fränkischen „Vielvölker- „im Mittelalter war die Kategorie des Kunst-
staat“. Ihr schlichter und dabei reiner Duktus schönen nicht von der Kategorie des Nützli-
verkörpert den imperialen Geist der karolin- chen unterschieden, sie war vielmehr durch
gischen Renaissance: die Wiedergeburt des diese bedingt. ... Man versuchte, eine An-
römischen Reichsgedankens.“ (R. Kunze, schaubarkeit zu verwirklichen, die nicht
1992, 80 f). Im 9. und 10. Jahrhundert wurde Selbstzweck, sondern integrierender Bestand-
die karolingische Minuskel in ihrer reinsten teil der Funktion ist, welcher der Gegenstand
Form geschrieben. Wenn wir heute die klaren zu dienen hat. ... Die Kunst des Schreibens
und regelmäßig geschriebenen Handschriften bestand im Herstellen von Gegenständen, die
sehen, bedenken wir meistens nicht, unter wie zu gleicher Zeit funktionell und anschaubar
strenger Klosterzucht diese Bücher entstan- waren. Ihre Anschaubarkeit mußte auch ihre
den. Askese bestimmte die innere und äußere Funktion sichtbar und den Sinn des Textes
Haltung der Klostergemeinde, so auch die unabhängig von seiner Lektüre wahrnehmbar
Hand der Schreiber. Kalligraphischer Indivi- machen. Die materielle Darstellung der Buch-
dualität wurde hier kein Freiraum gewährt. staben, Worte und Seiten reihte sich als ob-
Manch einem künstlerisch begabten Mönch jektive Anschaubarkeit des Geschriebenen an
wird es nicht immer leicht gefallen sein, sich die Schönheit der anderen materiellen Dinge
der Norm zu fügen. In der lex christiana grün- der Welt an. ... Diese objektiv-materialisti-
dete alles Denken und Tun des mittelalterli- sche Auffassung der Schönheit erstreckte sich
chen Menschen. im Mittelalter in einem Ausmaß, das uns pa-
Glanzvoller Höhepunkt mittelalterlicher radox erscheinen kann, auch auf das Gebiet
Buchkunst sind die Prachthandschriften aus der Schreibkunst. In gleicher Weise, wie die
der Zeit der ottonischen Kaiser; neben den Anschaubarkeit von Werken der Malerei und
Arbeiten aus Fulda, Köln, Corvey, Trier, St. Plastik Anschaubarkeit einer Materie war, die
Gallen sind hier besonders die Bücher von ein Abbild enthielt, das nicht unabhängig von
der Reichenau zu nennen, die ein reicher or- ihr bestehen konnte, waren auch die geschrie-
namentaler Buchschmuck auszeichnet. Ini- benen Worte ein materieller und als solcher
tialornamentik schmückte Buchanfänge oder anschaubarer Gegenstand. In seiner An-
die erste Seite der einzelnen Evangelien. schaubarkeit war ein Gedanke enthalten, der
Einige wenige Seiten werden nur mit Schrift ohne ihn nicht denkbar war.“ Mit diesen Sät-
und einer künstlerisch ausgestalteten Initiale zen aus der „Theorie des Schönen im Mittel-
in bildmäßiger Form hervorgehoben (s. Abb. alter“ von Rosario Assunto (1963, 28 f) wird
238 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

deutlich, wie gefährlich ist es, den Begriff der kanon angenäherten Kunstwollens ist die
Kalligraphie auf Schriftkunstwerke des Mit- Textura. „Alle Folgeerscheinungen der tech-
telalters anzuwenden. Erst Hugo von St. Vik- nisch-konstruktiven Durchbildung, vor allem
tor, 1141 in Paris gestorben, unterscheidet Brechung, Regelmäßigkeit und strenge Son-
zwischen der Farbe und Darstellung der derung der Schriftelemente, werden hier zur
Schriftfiguren und ihrem Sinn und ihrer Be- letzten Konsequenz gesteigert“ (Fichtenau
deutung. Eruditiones didascalicae VII, IV: ... 1946, 195 f). Noch in der Mitte des 15. Jahr-
velut si in una eademque Scriptura alter co- hunderts hat die Textura ihre volle Wertschät-
lorem seu formationem figurarum commen- zung genossen, denn als Gutenberg in Mainz
det; alter vero laudet sensum et significatio- die erste Bibel mit Metallbuchstaben und
nem [... in ein und derselben Handschrift einer Buchdruckpresse herstellte, formte er
achtet einer auf die Farben oder auf die Dar- seine Lettern nach dieser Schrift. Ästhetisch
stellung der Figuren, während ein anderer den betrachtet ist die von Gutenberg gedruckte
Sinn und die Bedeutung lobt]. (Assunto 1963, Bibel das Faksimile einer Handschrift. Auf
158). den Abb. 14.7 und 14.8 auf Tafel XVI und
XVII wird eine Seite aus Gutenbergs
2.2.2. Die gotische Schrift 42zeiliger Bibel und einer Textura-Hand-
schrift gegenübergestellt. Seit Gutenberg gibt
Im 12. Jahrhundert verändert sich die Schrift- es nun das sich gegenseitig befruchtende Phä-
form. Schon im 11. Jahrhundert kann man nomen der geschriebenen und der gedruckten
beobachten, daß die Buchstaben nicht mehr Schrift. Viele Druckschriften der Inkunabel-
so breit geschrieben wurden, sondern schma- zeit zeichnet noch ein kalligraphischer Zug
ler und höher. Die Buchstaben rücken näher aus. Und so stand im 15. und auch im 16.
zusammen. Im 12. Jahrhundert werden die Jahrhundert das kalligraphische Buch neben
runden Formen mehr und mehr eckig ge- dem typographischen. Nur langsam fand die
schrieben. Das Prinzip der Schriftkunst hieß Typographie zu ihrer eigenen Gesetzmäßig-
jetzt im 12. und 13. Jahrhundert Brechung. keit und zu der ihr gemäßen Schrift und Ge-
Aus der Bogenarkade wurde die Winkelar- staltungsform (→ Art. 13). Noch im 20. Jahr-
kade. Viel ist über den Grund der Brechung hundert sind zahlreiche Bleisatzschriften aus
nachgedacht worden. Ähnliche spitze Formen dem Duktus der Handschrift entwickelt wor-
sah man vergleichend in der Baukunst der den.
Gotik; beide Kunstbereiche haben aber nichts Geistige und soziale Umwälzungen beweg-
miteinander zu tun. Das mathematische Wun- ten das 13. Jahrhundert; neben den geistlichen
der gotischer Baukunst und „die vergitterte Schriften für den sakral liturgischen Bereich
Fläche einer gotischen Buchseite“ (Fichtenau entwickelt sich eine gotische Kursive für den
1946, 193) haben sicherlich eine gemeinsame Alltag, besonders für die Rechtssphäre. Hier
geistige Voraussetzung, aus der diese völlige beginnt wieder ganz vorsichtig eine Quelle der
Umwertung der romanischen Formen zu er- individuellen Schrift zu sprudeln, ohne aber
klären ist. Die in vielen kleinen Winkeln ge- so formlos zu werden wie die private Kursive
schriebene Schrift löste sich praktisch in Ein- der Spätantike. „Auch in der weltlich-bür-
zelstriche auf, der fließend geschriebene Bo- gerlichen rein privaten Sphäre bleibt die
gen spaltet sich in zwei Teile, kurzer, dünner Schrift Kunst, wenn schon handwerkliche Ge-
Aufstrich und kräftiger, mit Druck geschrie- brauchskunst“ (Fichtenau 1946, 199). Zwi-
bener Abstrich. Zwei lineare Grundelemente schen der rein sakralen Anmutung der Tex-
bestimmen das Wesen der gotischen Minuskel tura und der gotischen Kursive der Notare
und Textura. Zu einem konstruktiv techni- und Kaufleute erreichte im 15. Jahrhundert
schem Lineament hatte sich die Schrift ge- die Bastarda höfisches Ansehen. Kunze (1992,
wandelt: „Der Buchstabe selbst ist ‘zerlegbar’ 7 8) spricht von „einer Kalligraphisierung hö-
und in strengste Maße und Normen gefaßt“ fischer, kursiver (Kanzlei-) Gebrauchsschrif-
(Fichtenau 1946, 191). Die Schrift hatte ihre ten, die unter der Bezeichnung (gotische) Ba-
kalligraphische Einheit verloren, ein additiver starda zusammengefaßt werden. Dieser Name
Geist beherrschte den Duktus. Die Schönheit deutet schon daraufhin, daß diese Schrift zu-
eines gotischen Schriftkunstwerkes liegt im nächst als illegitimer Ableger der vorwiegend
filigranartigen Gesamtgefüge einer Schrift- sakralen gotischen Buchschrift verstanden
seite, nicht in einer phantastischen oder ele- wurde. Jedoch ist auch in diesem Fall aus
ganten Form des Einzelbuchstaben. einer Kursiven eine durchaus eigenständige
Die große feierliche Schrift der Gotik als kalligraphische Gattung erwachsen.“ Be-
Ausdruck des monumentalisierten, dem Bau-
14.  Kalligraphie 239

rühmt wurden die schönen Stundenbücher seine dynastischen und bibliophilen Interes-
aus Burgund und Flandern für den europä- sen einsetzte. Auf seine Initiative hin entstan-
ischen Hochadel, deren Texte im 15. Jahrhun- den am Anfang des 16. Jahrhunderts einige
dert in der Bastarda geschrieben wurden (s. Werke der Buchkunst erlesenster Art. Johann
Abb. 14.9 auf Tafel XVIII). Schönsperger d. Ältere in Augsburg wurde
Zwischen den Jahren 1504 und 1516 wurde 1508 zum kaiserlichen Hofbuchdrucker er-
von Hans Ried, Zöllner am Eisack in Tirol, nannt. Im Jahre 1512/13 druckte er im Auf-
für Kaiser Maximilian das „Ambraser Hel- trag des Kaisers ein Gebetbuch, — einige
denbuch“ geschrieben. Diese große Perga- Exemplare auf Pergament. 1517 kam der
menthandschrift von 486 Seiten ist gleich- „Teuerdank“ aus der Buchdruckpresse, in
mäßig vom Anfang bis zum Ende in einer dem der Kaiser in der Form eines mittelalter-
eleganten Kanzleikursiven geschrieben, die lichen Abenteuerromans seine Brautwerbung
nicht so schräg liegt, wie es bei der Bastarda zu Maria von Burgund verherrlicht hatte.
üblich war und die auch nicht die auffallend Beide Bücher wurden in einer neuen, beson-
dicken, langen Buchstaben f und s hat, die ders schönen Schrift gedruckt, die die Früh-
für die Bastarda charakteristisch sind. Hat form der Fraktur ist. Im Kreise der kaiserli-
Hans Ried für seinen kaiserlichen Auftrag- chen Kalligraphen ist diese Schrift entstan-
geber wahrscheinlich bewußt feiner, leichter, den. Viel ist gerätselt worden über den Schöp-
disziplinierter die Kursive geschrieben, die er fer der Fraktur; sogar Albrecht Dürer ist in
von der Kanzlei her kannte? Weit ausholende diesem Zusammenhang genannt worden. H.
Schwünge bei den Großbuchstaben der Satz- Fichtenau (1961) widmet dieser Schrift, die in
anfänge verraten das Temperament des Deutschland bis ins 20. Jahrhundert wirksam
Schreibers und die Freude an seiner kalligra- bleibt, seine monographische Abhandlung:
phischen Arbeit. Bei der ersten Zeile einer „Die Lehrbücher Maximilians I. und die An-
Kolumne tanzt die Feder in großem Bogen in fänge der Frakturschrift“, und fragt nach
den freien Raum hinaus und schmückt die „der Persönlichkeit, die den entscheidenden
Kopfleiste einer Seite mit heiterem Linien- Beitrag zur Ausbildung der Fraktur lieferte,
spiel. Die Kursivschriften eines deutschen ... Wichtiger ist es, über den Schreibmeister
Zollbeamten war ebenso hoffähig wie die Ba- Bescheid zu wissen, dem wir die Übersetzung
starda an den Höfen Frankreichs. der Kanzleibräuche zur Zeit Friedrichs III.
Die Kunst des Schreibens hatte sich eman- aus den Urkunden in eine Prunkschrift habs-
zipiert. Sie war herausgetreten aus der klei- burgischer Bücher verdanken.“ Der Schreiber
nen, streng behüteten Welt der Klöster, in ist der Wiener Neustädter Bürger Wolfgang
denen allein jahrhundertelang, von der Spä- Spitzweg, der seit 1442 in der Reichkanzlei
tantike bis ins Hochmittelalter, das künstle- tätig war. Fichtenau (1961, 39) kann nach
rische Schreiben gepflegt wurde. Seit dem eingehenden Analysen Wiener Handschriften
Spätmittelalter wurde mehr und schneller ge- verkünden: „Wolfgang Spitzwegs Leistung ist
schrieben; dies veränderte den Duktus der und bleibt die Anwendung strengster kalli-
Schrift. Dem größeren Schreibbedürfnis kam graphischer Maßstäbe auf die Auszeichnungs-
nun auch noch ein neuer Beschreibstoff ent- schriften und ihre Überführung in den Be-
gegen, das Papier. Die vielen großen Hand- reich einer monumentalen Buchschrift.“ So
schriften des Mittelalters hatten die Mönche können wir an der Wiege einer der lebens-
alle auf das teure Pergament geschrieben. kräftigsten und geschichtsträchtigsten Schrif-
Auch Gutenberg druckte einen Teil seiner Bi- ten Deutschlands erkennen, wie ihre Wurzeln
beln auf den kostbaren, traditionsreichen in die Kalligraphie eines Kanzleibeamten rei-
Schriftträger Pergament. Lange nach Erfin- chen. In der Schriftgeschichte ist es immer
dung des Buchdrucks durch Gutenberg gab wieder die Dynamik der Kursivschriften, die
es noch im 16. Jahrhundert Büchersammler, den Nährboden von etwas Neuem bilden.
die kein gedrucktes Buch in ihre Bibliothek Kunst im Dienste der Politik hatte Kaiser
stellten, sondern nur handgeschriebene. Denn Maximilian zu immer neuen Vorhaben ange-
einem Buch, von dem es viele, völlig gleiche spornt. Seine bibliophilen Interessen für Buch
Exemplare gibt, konnte manch ein Bibliophile und Schrift prägten ein erstaunliches Pro-
keinen Wert beimessen. gramm. „Dem Leser sollte, sobald er die
Unter den Fürsten Europas war es Kaiser Werke aufschlug und in ihnen las, schon
Maximilian I. (1459—1519), der nicht nur durch die Schriftzeichen sinnfällig werden,
Auftraggeber vieler Handschriften war, son- daß er kaiserliche Bücher vor sich hatte. Ihre
dern der auch den Buchdruck ganz gezielt für Typen waren gleichsam Programmschriften,
240 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die mit der Person des Herrschers, mit seiner tigkeitsfeld auf. Eine entscheidende Macht
politischen Ideenwelt, seinen literarischen und der Bürger in den Städten gegen den Feudal-
bibliophilen Ambitionen und Aufträgen und adel war die steigende Verbreitung der Kunst
mit den Schriftformen seiner Kanzlei und der des Lesens und Schreibens. Aufgrund der
von ihm beschäftigten Hofkalligraphen auf Entwicklung von Handel und Gewerbe ent-
engste verknüpft waren“ (Wehmer 1963, 12). standen zuerst in italienischen Städten bür-
Hier hatte wieder ein Kaiser Sinn für die gerliche Schreibschulen. Im Italien des 14.
Gestalt und Aussagekraft von Schriftzeichen; und 15. Jahrhunderts waren es die Humani-
ihm war klar, daß Schrift nicht nur durch sten, die sich wieder auf die Werke antiker
ihren Inhalt etwas mitteilt, sondern auch Kunst und Philosophie zurückbesannen. Rö-
schon durch ihre Form. mische Steininschriften hatte man an vielen
Diesem kunstsinnigen Kaiser ist von einem Orten noch vor Augen. Die Schönheit der
Augsburger Mönch am Anfang des 16. Jahr- Capitalis Monumentalis aus augusteischer
hunderts ein bemerkenswertes Buch der Kal- Zeit wurde wieder gesehen und den krausen
ligraphie gewidmet worden. Wahrscheinlich Formen der nordischen Gotik entgegenge-
1517 beendete der Benediktiner Leonhard setzt. In ihrer Begeisterung für die klassischen
Wirstlin, auch Wagner genannt, im Augsbur- Autoren der römischen Antike suchte man
ger Kloster Sankt Ulrich und Afra seine nach ihren Handschriften; was man fand,
Handschrift mit dem Titel: Proba Centum waren die Abschriften aus karolingischer Zeit
scripturarum diversarum / una manu exarata- in den Klosterbibliotheken. Da man die alten
rum/fratris Leonhardi ·W· Darunter in Pergamenthandschriften für römisch hielt,
Deutsch: „Hundert schriften von ainer hand glaubte man auch in der karolingischen Mi-
/ der kaine ist wie die ander, etcetera.“ Mit nuskel die römische Schrift vor sich zu haben.
dieser Handschrift hat Leonhard Wagner in Text und Schrift wurden in Verehrung des
der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Alten fein säuberlich kopiert. Lettera antiqua
Neuzeit ein reichhaltiges Musterbuch mit nannten die Humanisten ihre Schrift, die sie
hundert Schriften angelegt. Jeder Schrift ist nun schrieben; das heißt ganz einfach „die
eine Seite gewidmet, in der ein kurzer Text alte Schrift“ (kurz: Antiqua). Mit den Klein-
geschrieben ist. Am Fuße der Seite wird der buchstaben der karolingischen Schrift und
Name der Schrift aufgeführt. Mit Sammelei- den Großbuchstaben der römischen Kaiser-
fer, historischer Kennerschaft und großem zeit wurde in Italien die Schrift der Neuzeit
kalligraphischen Können hat Wagner ein geschaffen, die bis heute in Europa in der
Sammelwerk der Schriftkunst erarbeitet, das Antiqua die vorherrschende Form ist (→
alte und neue, deutsche und italienische Art. 12). In Deutschland entwickelte man aus
Schriften, Buchschriften, Urkundenschriften dem Erbe der Gotik die Fraktur, mit der bis
und Buchkursiven in meisterhaft geschriebe- weit ins 20. Jahrhundert hinein der größte
nen Beispielen vorführt. Ein kalligraphisches Teil der deutschsprachigen Bücher gedruckt
Sammelalbum von hohem künstlerischen wurde. Erst ein Erlaß Adolf Hitlers im Januar
Wert, zur Freude des kaiserlichen Betrachters 1941 verkündete als Normalschrift die Anti-
bestimmt. Mehrere Generationen nach Gu- qua und zwang die Druckereien, von Fraktur
tenbergs Erfindung des Buchdrucks noch ein- auf Antiqua umzustellen (vgl. Rück 1993).
mal ein Hymnus der Kalligraphie, aus der Für den Schrifthistoriker Albert Kapr ist die
Stille der klösterlichen Schreibstube an den Renaissance die interessanteste und frucht-
Kaiser gerichtet. Vielleicht schrieb der Mönch barste Epoche in der Entwicklung unserer
Leonhard Wagner dieses, sein letztes Buch Schrift und „in der Renaissance wurzelt die
mit der Melancholie des Schwanengesanges Schriftspaltung, die dem deutschen Schrift-
auf eine Kunst, die sich von einer neuen Tech- schaffen der folgenden Jahrhunderte das Ge-
nik der Vervielfältigung von Schrift bedroht präge gibt“.
sah. Wagner zeigte jedenfalls noch einmal, Im Schnittpunkt der großen Handelsstra-
was die Kunst der Feder vermag. ßen Deutschlands lag Nürnberg, das eine der
reichsten Städte wurde. Hier wurde 1497 Jo-
2.3. Schriftkultur in den Städten hann Neudörffer geboren, der als Schreib-
und Rechenmeister seine Vaterstadt zum Zen-
Die Erfindung des Buchdrucks hatte keines- trum einer neuen Schreibkunst machte. Er
wegs gleich das Ende des Schreibens zur unterhielt eine Schreibschule in Nürnberg,
Folge. In den aufstrebenden Städten der frü- aus der zahlreiche Schüler später als Lehrer
hen Neuzeit mit einem wohlhabenden Bür- in anderen Städten wirkten; drei Schüler Neu-
gertum tat sich Schreiblehrern ein neues Tä-
14.  Kalligraphie 241

dörffers wurden kaiserliche Sekretäre. Bereits nalen Gesetzen unterliegen. Hier begegnen
1519 ließ er im Holzschnittverfahren ein klei- sich in einem Kopf neue, wissenschaftliche
nes Musterbuch seiner Schriftformen druk- Ideen des humanistischen Süden mit von vi-
ken. „Fundament“ nannte er es im Titel, „sei- taler Phantasie inspirierter Kunst linearer Be-
nen schülern zu einer unterweysung ge- wegungsdynamik des Nordländers, der noch
macht.“ Grundlage war nicht die Antiqua der aus der Welt der Gotik seine Kräfte holte.
italienischen Humanisten, sondern die Frak- Man darf nicht vergessen, daß es auch von
tur, die mit Neudörffers Hilfe in Nürnberg der Hand Neudörffers ein Manuskript von
ihre klassische Form als Druckschrift er- 46 Pergamentseiten gibt, auf denen er seine
reichte. In dieser Schrift erschien 1525 in Antiquakonstruktionen angefertigt und be-
Nürnberg Albrecht Dürers theoretisches gründet hat. In der ersten Hälfte des 16. Jahr-
Werk: „Unterweisung der Messung mit dem hunderts war er aber Deutschlands einfluß-
Zirkel und Richtscheit“. Dürer widmet im reichster Lehrer einer neuen, bürgerlichen
dritten Teil 28 Seiten der geometrischen Kon- Schreibkultur, die dann in der zweiten Hälfte
struktion der Antiqua-Majuskel mittels Li- dieses Jahrhunderts sich zur kalligraphischen
neal und Zirkel; ein geometrisches Schema Virtuosität steigerte. Die Schreibmeister des
legte er auch der Textur zugrunde (Abb. 16. und 17 . Jahrhunderts drängten förmlich
14.10). Solche Buchstabenkonstruktionen nach immer komplizierteren Formen ihrer
waren in Italien seit der Renaissance sehr Kunst, die Jahrhunderte lang ein Privileg des
beliebt; auch in moderner Kalligraphie finden geistlichen Standes war. Ihr ganzes Können
wir Beispiele (Abb. 14.11). Luca Paciolis Me- mit der Feder breitete sich in einer abstrakten
thode hatte Dürer wahrscheinlich in Venedig Linienkunst der Großbuchstaben und Initia-
kennengelernt. Man versuchte, die Schönheit len aus (Abb. 14.12). Der Bibliograph und
der römischen Schrift wissenschaftlich, ratio- Kenner der deutschen Schreibmeisterbücher,
nal zu erfassen. Werner Doede, schreibt (1958, 8): „Die Ur-
Es ist nun nicht leicht verständlich, daß der sache für Neudörffers im ganzen deutschen
Rechenmeister und Mathemathiker Johann Sprachgebiet unwidersprochene Wirkung be-
Neudörffer, Vertreter der geometrischen Kon- ruht außer auf der Ordnung eines überkom-
struktionskunst, auch der Begründer eines menen Reichtums von Formen, die er kano-
neuen kalligraphischen Schreibstiles wird, nisiert hat, ganz wesentlich auf der künstle-
dessen Formen in steigendem Maße irratio- rischen Disposition, die er dem Schreibunter-

Abb. 14.10: Albrecht Dürer. Konstruktion des Buchstaben „K“. Aus: „Unterweisung der Messung mit dem
Zirkel und Richtscheit“. Nürnberg 1525. Buch im Klingspor-Museum, Offenbach
242 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 14.11: Werner Bunz. Konstruktion des Buchstabens „U“. Hamburg, 1965. Klingspor-Museum, Offen-
bach
richt gegeben hat. Daß der deutsche Schrei- Schreibenmüssen. Die Devise der neuesten
bunterricht als bildnerische Werklehre einge- Zeit heißt: Schnell schreiben ist wichtiger als
führt wurde — das Schönschreiben vor dem schön schreiben. Mit dem Kugelschreiber ver-
richtigen Schreiben rangierte — als Selbst- wildert heute die Handschrift ganzer Schü-
zweck, nicht wie in den Lateinschulen als lergenerationen. Wie wichtig war es früher,
Mittel zu dem Zweck des Erwerbens klassi- die Vogelfeder richtig und gut schneiden zu
scher Bildung, dafür hat Neudörffer alle Vor- können. 1544 gab Johann Neudörffer eine
aussetzungen geschaffen.“ „Anweisung und eigentlichen Bericht, wie
Der Begriff „Kalligraphie“ als ästhetische man einen jeden Kiel zum Schreiben erwäh-
Form des Schönschreibens taucht zum ersten- len, bereiten, teilen, schneiden und temperie-
mal in einer Schulordnung von Braunschweig ren soll.“ Das richtige Schreibwerkzeug und
im Jahre 1621 auf: „... die orthographia et die korrekte Armhaltung waren grundlegend
kalligraphia oder Zierligkeit im schreiben“ für das Feuerwerk einer abstrakten Linien-
(Koldewey 1896, 17 7 ). In der Schulsprache kunst des Barockzeitalters. Aus der Sicht des
des 17 . Jahrhunderts unterschied man also Klassizismus Winckelmanns verurteilte man
zwischen richtig und schön schreiben. Die die Arbeiten dieser Schreibmeister des 16., 17 .
Kalligraphen des 16. bis 18. Jahrhunderts stei- und 18. Jahrhunderts als sinnlose, barocke
gerten das Schreibenkönnen zu einer virtuo- Schnörkelei. Erst die tiefgreifenden Studien
sen Kunst des Schönschreibens. Mit zwei Un- und ausgewählt gut illustrierten Publikatio-
terrichtsstunden „Schönschreiben“ rettete nen von Werner Doede deckten wieder den
sich ein Rest dieser alten Kunst bis weit ins künstlerischen Wert dieser irrationalen For-
20. Jahrhundert. Mit der staatlich verordne- men barocker Schriftkunst auf. Ihm war klar
ten Schulpflicht im 18. und 19. Jahrhundert geworden, die Buchstaben der barocken
wandelte sich das Schreibenkönnen in ein Schreibmeister sollten nicht nur etwas „be-
14.  Kalligraphie 243

Abb. 14.12: Initiale S in dem Namen „Sebaldt“ aus dem Geschlechterbuch der Familie Tucher, Nürnberg
1589. (Aus Doede 1988)
244 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

deuten“, sie sollten auch etwas „sein“. Doede seiner virtuosen Linienführung unterscheidet
machte uns wieder aufmerksam darauf, daß er bei den Strichen zwischen Haupt-, Kontra-,
die kunstvollen Formen der Initialen nicht Zier-Zügen und Superficies. „Michael Bau-
nur ihre Funktion als lesbares Lautzeichen renfeind, Zeitgenosse Johann Sebastian
haben, sondern auch einen visuellen Selbst- Bachs, gibt bei der Analyse der Bestandteile
wert mit eigener formaler Aussagekraft. „Die der Initialkomposition Funktionsbezeichnun-
Funktion der Mitteilung ist bedenkenlos ge- gen, welche an die des musikalischen Kontra-
opfert derjenigen, ein Kraftfeld mit kompri- punktes erinnern.“ (Doede 1988, 7 ). Aber wie
mierten Linienströmen zu überfüllen, ...“ die Musik J. S. Bachs lange Zeit ungehört
(Doede 1958, 15). bleibt, so war man fast zwei Jahrhunderte
Am Anfang des 17 . Jahrhunderts verwik- blind für die Polyphonie der Linien in der
kelten sich die Schreibmeister und Kunstpä- Kalligraphie des Barock. Am Ende des 18.
dagogen Anton Neudörffer, Paul Franck und Jahrhunderts hatte die Kalligraphie als Kunst
Christoph Fabius Brechtel in ein handfestes unter dem Diktat rationalistischer Formkritik
Streitgespräch, das in ihren Publikationen völlig ihr Ansehen verloren. Am Anfang des
ausgetragen wurde. Im Kern dieses Disputes 19. Jahrhunderts verdrängte die englische
wirkte immer noch die Sehnsucht nach dem Schreibfeder aus Metall die elastische Vogel-
Renaissanceprinzip geometrischer Maßver- feder; der seelenlose Strich des neuen Mas-
hältnisse auch in der Schriftkunst. Alle drei senproduktes Metallfeder ließ die Handschrift
Schreiber waren sich eigentlich einig, daß es erstarren. Die neue ästhetische Maxime lau-
kein rational faßbares, erlernbares System der tete: Schreiben wie gedruckt. Die gedruckte
geometrischen Messung für die deutschen Buchschrift wurde zum Vorbild für die Schrei-
Buchstaben (Fraktur) gibt, wie es überall in bübungen der Schüler und zum Regulativ der
Europa auch in Deutschland, für die lateini- individuellen Handschrift der Erwachsenen.
schen Buchstaben (Antiqua) durchexerziert Die preußische Schulmeisterschrift Sütterlins
wurde — so auch von Albrecht Dürer in tötete im Kasernenhofexerzierstil eines mo-
seinem Buch von 1525. Schon Neudörffer notonen „Auf — ab!“, „auf — ab!“ jeglichen
d. Ä. empfiehlt ein gutes Augenmaß, und im Sinn für ästhetisch angenehme Formen des
17 . Jahrhundert häufen sich die Warnungen Schreibens.
vor dem geometrischen Messen. Entscheidend
war jetzt die Dynamik der abstrakten Linien- 2.4. Neuzeit
führung. Lag der Antiqua eine anthropomor-
phe Form zu Grunde, so verfremdet sich diese Im November 1814 wurde die Tageszeitung
in der Fraktur zu einem „Kraftfeld von in- „Times“ in London zum erstenmal mit einer
kommensurablen Bewegungskurven, die sich Schnellpresse gedruckt. Damit begann der re-
den Gesetzen der klassischen Geometrie ent- volutionäre Siegeszug der mechanischen Ver-
ziehen; ... der frische und originelle, der wag- vielfältigung von Schrift und Bild. Mit Tele-
nisfreudige Wurf, in dem die Erfindung des phon und Schreibmaschine waren die ersten
Verstandes und die Geschicklichkeit der ge- großen Widersacher der Handschrift erfun-
übten Hand zur Ehre der Kunst vereinigt sein den. In dieser Euphorie des modernen Indu-
müssen“, war im Barock gefragt (Doede 1958, striezeitalters gerieten die ästhetischen Fragen
16). Bemerkenswert ist Brechtels Theorie der von Schrift und Buchgestaltung unter die Rä-
Hauptstriche und Beistriche; der Hauptstrich der. Da setzte am Ende des 19. Jahrhunderts
markiert die Grundstruktur des Buchstabens, in England eine Gegenbewegung ein, deren
„bekleidet“ wird er dann von den Beistrichen. Anstoßkraft bis heute wirksam ist. Der Eng-
Brechtl läßt aber jedem Schreiber seine indi- länder William Morris war besessen von der
viduelle Freiheit bei der Gestaltung der deut- Idee des schönen Buches. Im Jahre 1891 grün-
schen Großbuchstaben und appelliert nur an dete er in Hammersmith bei London seine
sein Augenmaß. Privatpresse, die Kelmscott Press; auf dieser
Hundert Jahre später betritt der Schreib- seiner Handpresse druckte er nun mit neuen,
meister Michael Baurenfeind mit zwei Publi- von ihm entworfenen Schriften Bücher, alle
kationen (17 16 und 17 36) die Kalligraphie- mit der Hand gesetzt. In den Bibliotheken
szene Nürnbergs. Auch er hat grundlegend von London und Oxford hatte er die alten
über das Verfertigen der deutschen Buchsta- Handschriften studiert, und mit der Kiel- und
ben nachgedacht und vertritt seine neue Pra- Rohrfeder schrieb er illuminierte Handschrif-
xis, wie man auf sicherem Wege eine Har- ten. Der englische Pressendrucker Thomas Ja-
monie der Linien erreicht. In der „Grazie“ mes Cobden-Sanderson publizierte im Jahre
1900 seinen grundlegenden Essay The Ideal
14.  Kalligraphie 245

Book or Book Beautiful und wies darauf hin, muß. Man besann sich wieder der alten, ur-
daß die Wurzeln des schönen Buches in der sprünglichen Schreibwerkzeuge, die einen le-
Kalligraphie liegen. In der Kalligraphie frü- bendigen, ausdrucksstärkeren Strich ermög-
herer Jahrhunderte entdeckte er den Aus- lichen. Im Jahre 1911 veröffentlichte der junge
druck einer elementaren Freude an Ordnung Eugen Diderichs Verlag Ehmckes Buch:
und Schönheit. In diesen Kreis um William „Ziele des Schriftunterrichts. Ein Beitrag zur
Morris kam der Medizinstudent Edward modernen Schriftbewegung.“ Ehmcke nutzte
Johnston, für den die Begegnung mit der mit- die Schrift als dekoratives Element, ohne
telalterlichen Handschrift eine Lebenswende aber ihre Lesbarkeit einschränken zu wollen.
brachte. Mit Rohr- und Vogelfedern begann Überall im Alltag sah er die Forderung nach
er zu schreiben. Sein Wunsch war, die alten einer besseren Schriftgestaltung, so die Schrift
Buchstaben in ihrer Schönheit wieder aufle- am Bau, Schrift auf dem Friedhof, Schrift auf
ben zu lassen. Mit der Pflege der Handschrift dem Plakat usw. Ehmcke betonte auch den
wollte er die Kreativität der Menschen wek- erzieherischen Wert des Schriftgedankens; im
ken, um ihnen inmitten des Maschinenzeital- Schriftunterricht sah er die Grundprobleme
ters eine neue Quelle der Lebensfreude zu allen künstlerischen Schaffens angesprochen.
erschließen. Im September 1899 begann Ed- Ehmcke schreibt (1911, 6): „Es ist nun meine
ward Johnston mit Schriftkursen an der Lon- Überzeugung, daß gerade mit einer durch-
doner Central School for Arts and Crafts. greifenden Reform des elementaren Schreib-
1902 wurde er Schriftlehrer am Royal College unterrichts bis hinunter in die Volksschule
of Arts. 1906 erschien sein grundlegendes eine ganz vorzügliche Handhabe für die Her-
Lehrbuch Writing and Illuminating and Let- anbildung der Jugend zu höherem Verständ-
tering , das in vielen Auflagen bis heute seine nis künstlerischer Bestrebungen geboten ist.“
Wirkung hat. Im Schriftunterricht von Anna Simons
Eine der besten Schülerinnen von John- wurde die Methode Johnstons auch in Düs-
ston, die Deutsche Anna Simons, übersetzte seldorf praktiziert, die auf einem sehr einge-
das Buch ins Deutsche, das 1910 unter dem henden Studium der historischen Entwick-
Titel: „Schreibschrift, Zierschrift und ange- lung künstlerischen Schreibens beruhte. Ab
wandte Schrift“ erschien; bis heute ist es ein 1908 holte Henry van de Velde alljährlich
Standardwerk für den Schriftunterricht. Zum Anna Simons zu Schriftkursen an die Kunst-
Schluß des 15. Kapitels, das „Das römische gewerbeschule in Weimar. Ganz im Stil von
Alphabet und seine Abzweige“ vorstellt, wer- Johnston unterrichtete sie auch in Hamburg,
den nur wenige Sätze der „Gotik oder Frak- Halle, Frankfurt, Nürnberg und Zürich. Ab
tur“ gewidmet. Für den praktischen Verkehr 1914 lebte Anna Simons in München, wo sie
hält er sie für ungeeignet wegen ihrer ver- die Bücher der Bremer Presse mit kalligra-
hältnismäßig starken Unlesbarkeit. Welche phisch gestalteten Titelblättern und Initialen
Bedeutung hat dagegen die Fraktur in schmückte. Anna Simons wurde zum Ehren-
Deutschland noch im 20. Jahrhundert! mitglied der Londoner „Society of Scribes
Anna Simons hatte, nach erfolgreichem and Illuminators“ ernannt. Diese 1921 ge-
Studium bei Johnston in London, 1905 einen gründete Gesellschaft versammelte ehemalige
Ruf nach Düsseldorf erhalten. An der dorti- Schüler von Johnston; heute hat sie über 2000
gen Kunstgewerbeschule sollte sie Schriftun- Mitglieder, gibt eine Zeitschrift zur Kalligra-
terricht erteilen. Der damalige Direktor in phie heraus, veranstaltet große Jahrestreffen
Düsseldorf war der junge, engagierte Archi- in London, organisiert Schriftkurse und Aus-
tekt Peter Behrens. Er hatte seit 1901 einige stellungen.
neue, zeitgemäße Schriften für den Buchdruck Im gleichen Jahr, 1902, als in London Ed-
entworfen, die alle von der aufstrebenden ward Johnston an die Königliche Hochschule
Schriftgießerei der Brüder Karl und Wilhelm für den Schriftunterricht berufen wurde, er-
Klingspor in Offenbach gegossen wurden. hielt in Wien der kaiserliche Kanzleibeamte
Behrens hatte auch den 25jährigen Fritz Hel- Rudolf von Larisch seine Dozentur an der
mut Ehmcke von der Steglitzer Werkstatt in dortigen Kunstgewerbeschule. 1905 veröf-
Berlin nach Düsseldorf geholt. Mit Behrens, fentlichte er bereits seinen „Unterricht in or-
Ehmcke und Simons waren zu Beginn des 20. namentaler Schrift“. Der Engländer und der
Jahrhunderts drei formbewußte Schriftkünst- Österreicher hatten verschiedene Lehrmetho-
ler in Düsseldorf tätig. Man hatte erkannt, den. Johnston ging von historischen Schrift-
daß eine Wiederbelebung des Schriftwesens in formen aus und ließ erst einmal einzelne
einer Rückkehr zum Schreiben selbst gründen Buchstaben üben. Erst wer die Buchstaben
246 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

verschiedener Alphabete beherrschte, durfte cyclopaedia Britannica (Bd. 4, 1964) rühmt in


sich an das Schreiben kleiner Bücher wagen. ihrem Kalligraphie-Artikel Rudolf Koch als
Bei Larisch in Wien war das Schreiben ein- den begabtesten Kalligraphen Deutschlands
zelner Buchstaben und Alphabete verpönt. im 20. Jahrhundert und stellt ihn, eine Schule
Für Larisch war die rhythmische Folge der bildend, gleich neben Edward Johnston in
Buchstaben und Worte in einem zusammen- London. 1921 hatte R. Koch sein Unterrichts-
hängenden Text von Wichtigkeit. In der La- werk „Das Schreiben als Kunstfertigkeit. Eine
risch-Schule war der dekorative Gesamtein- ausführliche Anleitung zur Erlernung der
druck des kalligraphischen Kunstwerkes ent- für den Beruf des Schreibers notwendigen
scheidend, weniger die gute Lesbarkeit des Schriftarten“ publiziert. Koch beginnt seinen
einzelnen Wortes. Unterricht mit der Schwabacher; dann folgt
Aus dem Unterricht von Ehmcke in Düs- die gotische Schrift, die Frakturschrift (Abb.
seldorf ging der fast schon legendäre Schrift- 14.14). Den lateinischen Schriften widmet er
künstler Ernst Schneidler (1882—1956) her- eine (!) Seite.
vor, der seit 1920 an der Kunstgewerbeschule In England dagegen wird die Humanisten-
Stuttgart unterrichtete. Schneidler war das Kursive so intensiv gepflegt, daß man 1954
Herz der „Stuttgarter Schule“. Mit hoher Sen- in London eine „Society for Italic Handwri-
sibilität für Farben und Formen entstand in ting“ gründet. Der amerikanische Kalligraph
mühsamer Nachtarbeit ein umfangreiches, und Schriftfachmann Paul Standard be-
fast unbekanntes Lebenswerk der modernen schrieb 1947 Auf- und Niedergang der Kal-
Kalligraphie. In verschiedenen Farben stehen ligraphie mit einem besonderen Blick auf die
da Verse auf dem Papier, oft nur einzelne Wiederbelebung der Kalligraphie in England
Worte in immer wieder neuen Varianten der und USA in der Neuzeit. Zur Bibel der Kalli-
Buchstabenformen, nicht zum Lesen sondern graphen kürte er das frühe italienische
zum Betrachten (s. Abb. 14.13 auf Tafel XIX). Schreibmeisterbuch Operina von Ludovico de
Auch Schneidlers Schüler Rudo Spemann Henricis Degli Arrighi, genannt Vicentino,
(1905—1947 ) war ein Kalligraph, der die das 1522 in Rom erschienen war und in Stan-
Feder in höchster Meisterschaft zu führen dards Augen das beste Handbuch für die Hu-
wußte. Obwohl er bereits mit 42 Jahren in manistenkursive ist. 197 9 veröffentlichte Paul
russischer Gefangenschaft starb, hinterließ er Standard dieses Schreibmeisterbuch in einer
ein kalligraphisches Lebenswerk von etwa 500 umfangreich kommentierten Faksimileaus-
Handschriften und Schriftblättern. gabe.
Ganz anders sind die Arbeiten von Eva All dieses Schönschreiben im 20. Jahrhun-
Aschoff (1900—1969), die nach ihrem Stu- dert reizte progressive Denker und Künstler
dium bei Schneidler als Buchbinderin ihr Brot zu heftiger Kritik an der Kalligraphie. Paul
verdiente. In ihren letzten Lebensjahren kal- Renner (1931, 7 ), Schöpfer einer der markan-
ligraphierte sie in ihre wunderschönen farbi- testen Schriften unseres Jahrhunderts, der Fu-
gen Papiere. Zwischen 1960 und 1969 hat sie tura, meint: „Der Kunstschreiber fristet in
so ein Stück moderner Kalligraphie unseres seiner Pseudomittelalterlichkeit ein künstli-
Jahrhunderts geschaffen, das in seiner Tech- ches Dasein wie der letzte Elch im Natur-
nik und feinen, poetischen Aussagekraft ein- schutzpark.“ Renner verurteilt nicht das
zigartig ist. Handschreiben als veraltet, sondern „die ro-
In Offenbach in der Schriftgießerei der mantische Vorliebe für die geschichtlichen
Brüder Klingspor wirkte seit 1906 Rudolf Formen“ (Renner 1931, 52). Im konservati-
Koch (187 6—1934); 28 verschiedene Schriften ven England meldete sich 197 1 eine engagierte
hat er für die Firma entworfen, die heute noch Stimme; Nicolete Gray rechnete kompromiß-
zum Teil als Photosatzschriften genutzt wer- los mit der historisierenden Johnston-Schule
den. Ab 1908 war er auch gleichzeitig Lehrer ab in ihrem Buch „Lettering as Drawing“.
für Schriftschreiben an der Offenbacher Als Versäumnis der Johnston-Tradition pran-
Werkkunstschule. Über hundert Handschrif- gert sie an, daß die Kalligraphen des 20. Jahr-
ten hat er geschrieben, Schrift in Holz ge- hunderts nicht auf die Veränderungen und
schnitten, Schrift in Stahl geschnitten und Entwicklungen in den anderen zeitgenössi-
Schrift für große Wandteppiche entworfen. schen Künsten reagiert haben und sich wei-
Sein ganzes Schaffen in Offenbach war der terhin an die Formen einer geborgten Schön-
Schrift gewidmet. Rudolf Koch war ein lei- heit längst vergangener Jahrhunderte klam-
denschaftlicher Schreiber, der fast ein mysti- merten. Die Schriftkunst seit Rudolf Koch
sches Verhältnis zum Schreiben hatte. Die En- steckt in einem Dilemma, meint N. Gray
14.  Kalligraphie 247

Abb. 14.14.: Matthäus-Evangelium. Handschrift von Rudolf Koch, geschrieben 1921 in Offenbach/Main
(Ausschnitt)
(197 1, 7 8). Aus der Johnston-Schule seien neare Anordnung von Schrift. Die Schrift ver-
wohl eine Reihe geschickter und guter Schrei- wendet man unter dem Aspekt der Form,
ber hervorgegangen, die sehenswerte Arbeit entgegen der Forderung nach Funktionalität
leisteten, „yet it seems dead, it does not con- der Schrift in der heutigen Typographie. Ja,
nect up with life and consciousness today, it es geht soweit, daß Schrift von ihrer Funk-
is somehow completely on the surface, tion, sprachliche Inhalte zu transportieren,
smooth, protected from live, disconcerting völlig befreit wird, der Künstler verfremdet
contacts; in fact a tradition which is no longer die Schrift in abstrakte, skripturale Formen.
a vehicle of expression.“ Imre Reiner nennt viele seiner Bilder „Stille-
Bei der Eröffnung der epochemachenden ben in Schriftnähe“ und meint, Schrift ist
Ausstellung „Schrift und Bild“, 1963 in Am- nicht nur zum Lesen da, sondern auch zum
sterdam und Baden-Baden gezeigt, sagte bei Anschauen. Schon Ernst Schneidler kompo-
der Eröffnung Werner Doede (1980, 13): nierte in den 20er Jahren mit Buchstaben und
„Das Schönschreiben, die Kalligraphie rettete Worten Schriftbilder. Paul Klee malte Schrift-
sich in eine unzeitgemäße Festtagswürde, er- bilder und schrieb Zeilen in einer imaginären
starrte in historisierender Ornamentik, wurde Schrift, die nicht lesbar ist. Max Ernst druckte
mühsam erdachte und befolgte Vorschrift und in seinem Buch „Maximiliana“ (1964) ganze
geriet damit in jenen schlechten Ruf, der bis Seiten in einer unlesbaren Schrift. Die Sur-
heute andauert.“ Dietrich Mahlow erarbeitete realisten in Paris um André Breton prägten
zu dieser Ausstellung ein gewichtiges Kata- 1925 das Schlagwort „écriture automatique“.
logbuch „Schrift und Bild“ (1963). Mit Bei- Der Rhythmus der Linie als Ausdruck innerer
trägen verschiedener Autoren wurde hier zum Impulse war geschätzt. Bereits 1918 hat die
erstenmal in aller Breite aufgezeigt, wie russische Künstlerin Varvara Stepanova in
Künstler in Europa, Amerika und Ostasien Moskau mit Pinsel und Farben Gedichte als
im 20. Jahrhundert mit den Bildwerten der visuelle Poesie auf Zeitungspapier geschrie-
Schrift experimentieren. Bei der Schrift inter- ben, bewußt anti-klassisch, anti-akademisch,
essiert sich der moderne Künstler für ihre anti-bürgerlich, Ausdruck ihrer revolutionä-
graphischen Strukturen, für die Rhythmen ren Haltung im neuen Russland (Lavrentiev
der Linien und Striche; man sprengt die li- 1988, 18 f). Werner Doede (1980, 19) würde
248 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dazu sagen: „Das ist die Verachtung der Grenzen zwischen Bild und Sprache verwi-
Schulregel, das Unakademische, die indivi- schen“ (Faust 197 7 , 29). Diese Bewegung der
duelle Selbstbehauptung, mit einem Wort: der Literatur zum Visuellen hin bezeichnet Faust
Mut ins sozusagen Unreine zu schreiben und (1977, 10) als „Ikonisierung der Sprache.“
in der scheinbaren Gestaltungslosigkeit eine So gibt es im 20. Jahrhundert sowohl die
neue Gestaltung zu suchen. ... ledig standes- Pflege der Kalligraphie mit dem klassischen
gebundener Konventionen sind sie von ak- Formenkanon der Capitalis Quadrata, der
tuellen Energien getragen, stillos, aber stil- Unziale, der Fraktur und Humanistenschrift
trächtig.“ Das Individium rebelliert mit allen als auch das informelle, aber ausdrucksstarke
Mitteln gegen Normierung und Mechanisie- Experimentierfeld einer avantgardistischen
rung des Maschinenzeitalters. Im individuel- Schriftkunst. Die einen halten an schönen,
len Rhythmus der Schrift, im abstrakten Duk- alten Formen fest, während die anderen den
tus des Schreibvorganges suchen Künstler die schöpferischen Mut aufbringen, zu neuen, un-
ihr gemäße Ausdrucksweise. Georges Ma- bekannten Ufern aufzubrechen. Paul Klees
thieu in Paris sieht in der Malerei einen Zweig „Pädagogisches Skizzenbuch“ (1925, Bau-
der Schreibkunst. Jean Dubuffets im Juni hausbücher 2) und Wassily Kandinskys Buch
1944 auf Zeitungspapier geschriebene „Mes- „Punkt und Linie zu Fläche“ (1926, Bauhaus-
sages“ stehen in Kontrast zur Kunst der Kal- bücher 9) sind die grundlegenden Schreib-
ligraphie (Messer 1990, 31). Ein ganz großer meisterbücher unseres Jahrhunderts.
Meister avandgardistischer Schreibkunst ist
Picasso. Die Manuskripte seiner Gedichte,
Tagebücher, Prosa und Theaterstücke gestal- 3. Arabische Kalligraphie
tete er zu graphischen Kunstwerken von Die arabische Schrift ist der jüngste Zweig
hohem ästhetischen Reiz (1989). Ein lei- der semitischen Buchstabenschriften, die, wie
denschaftlicher Schreiber ist der Hamburger das Griechische, im Phönizischen ihre Wur-
Künstler Horst Janssen; in seinen Zeichnun- zeln haben (→ Art. 20). Die arabische Schrift
gen, Radierungen, Plakaten, Postkarten ist entwickelte sich in den ersten nachchristlichen
die Handschrift ein voll ins Bild integrierter Jahrhunderten. Das Schönschreiben in ara-
Bestandteil seiner künstlerischen Gestaltungs- bischer Schrift ist dann eine hoch angesehene
mittel. Der schöpferische Gedanke und die Kunst des Islam. Die arabische Sprache
bewegte Hand vereinigen sich in einem Im- wurde die Sprache des Koran und mit ihr die
puls, hier bei Janssen wie auch bei Picasso. Schrift, in der das Arabische geschrieben wird
Der Berliner Kalligraph Hans-Joachim Bur- (→ Art. 39). Sprache und Schrift sind für den
gert (1989, 106 A) schreibt: „Eine neue Kal- Mohammedaner untrennbar mit der göttli-
ligraphie hat die Freiheit, ganz und gar in chen Offenbarung verbunden. Die Kreativität
Form denken zu dürfen. Sie hat Formen dar- der Kalligraphie im Islam wurzelt in dem
zustellen, die an ihre «Inhalte», an ihre Bedeu- Bestreben, das verborgene Antlitz Allahs zu
tungen nur erinnern: Erinnerungsformen ... verherrlichen. Die Stimme Allahs hat durch
Das Denken in Schrift-Form versetzt den Ge- die Stimme des Propheten Mohammed ge-
staltenden in die Lage, die Freiheit der gra- sprochen, und der Koran hat diese heilige
phischen Form für die Kalligraphie zu nutzen. Botschaft in arabischer Schrift offenbart.
Damit könnte es geschichtlich einen neuen „Das Wort Allahs ist eine artikulierte Stimme,
Weg für die Kalligraphie eröffnen. ... Die und das menschliche Bestreben besteht darin,
Emotion, der persönliche Rhythmus und das es in Schrift umzusetzen und zu lesen“ (Kha-
Temperament des Schreibenden müssen eine tibi & Sijelmassi 197 7 , 47 ). Die beiden ma-
eigene Kursivschrift Gestalt werden lassen.“ rokkanischen Wissenschaftler haben in ihrem
Christine Hartmann in Offenbach ging den Buch die ganze Formen- und Farbenpracht
harten Weg von der formvollendeten Antiqua der islamischen Kalligraphie vor unseren
zu einer individuell geprägten Expressivität Augen ausgebreitet. Als Mohammedaner ver-
der Linie, mit der sie um 1990 Texte von wenden sie das Wort „Kalligraphie“, um eine
Lorca, Camus, Kafka, Heine zu einzigartigen allumfassende kulturelle Manifestation zu be-
Schriftbildern gestaltete (Abb. 14.15 auf Tafel zeichnen, die an ihren äußersten und zuweilen
XX). „Im Kubismus, Futurismus, Dadais- ekstatischen Grenzen der Metaphysik einer
mus, in der abstrakten Kunst und dem Werk bestimmten Sprache Gestalt verleiht.
Marcel Duchamps werden im zweiten Jahr- Kalligraphie, ursprünglich nur für Koran-
zehnt die Grundlagen dafür geschaffen, daß abschriften angewendet, kam unter dem Mä-
sich Literatur und bildende Kunst nähern, die zenat der abbassidischen Kalife auch bei Ab-
14.  Kalligraphie 249

schriften beliebter wissenschaftlicher und sel- schräg abgeschnittene Kante der Rohrfeder
tener literarischer Werke zum Einsatz, je als ein kleiner Rombus geschrieben; die Größe
nachdem, wie das Interesse des Auftraggebers des Punktes ergibt sich aus der Breite der
war. Kalligraphen fertigten dann auch Vor- Schnittfläche der Rohrfeder (der Kalligraph
lageblätter für Handwerker in allen Berei- besitzt immer eine Vielzahl unterschiedlich
chen; so findet man Schrift in künstlerischer großer Rohrfedern). Sieben Punkte, die Höhe
Gestaltung nicht nur in Handschriften, son- des Alif, ist der Durchmesser des Kreises, in
dern auch auf Bucheinbänden, in Holz ge- dem alle anderen Buchstaben mit Rundfor-
schnitzt an Türen, Lesepulten und Sarko- men eingepaßt sind. Der grundlegende Modul
phagen, auf Bronzekesseln, Eisenhelmen, aller Buchstabengrößen und Abstände zwi-
Schwertklingen, in Seide gewebt und in Tep- schen ihnen und den Worten ist also der
pichen geknüpft, auf Keramik und Fayencen, Punkt, den die Breite des Schreibrohrs be-
in Elfenbein geschnitzt, in Stein und Marmor stimmt. Um die ideale Form eines jeden Buch-
gehauen und in farbige Relieffliesen gebrannt, stabens aufzuführen, nimmt Ibn Muqla die
womit ganze Wände von Moscheen ge- geometrischen Figuren Linie, Kreis, recht-
schmückt sind. Die Bildhaftigkeit der islami- winkliges und gleichschenkliges Dreieck zu
schen Kalligraphie gab dem Kunsthandwerk Hilfe, die bei den einzelnen Buchstaben dann
ein schier unerschöpfliches Formenarsenal eine festgelegte Größe durch die Anzahl der
zur Verzierung an die Hand; hier aber liegt Punkte erhalten (→ Art. 39, Abb. 39.7 ). Die
mit ein Grund, daß die Schriftkunst zum Kursivschrift soll natürlich zügig geschrieben
sinnentleerten, dekorativen Ornament ver- werden, denn der lebendige Duktus bestimmt
flachte; dies besonders in unserer säkulari- die Qualität einer Kalligraphie: Für den gläu-
sierten Moderne. bigen Mohammedaner ist Kalligraphie der
Das abbassidische Kalifat war eine Epoche fließende Gesang des Göttlichen. So versteht
der kulturellen und wissenschaftlichen Blüte es sich, daß die Proportionslehre Ibn Muqlas
des Islam. Kalif al Ma’mun (813—833) hatte wohl von allen studiert wurde, beim Schrei-
die neue Reichshauptstadt Bagdad gegründet; ben verließ man sich aber auf das eigene Ge-
in den wichtigsten Städten des Reiches, Kufa, fühl und das Augenmaß für Proportionen.
Damaskus, Samarqand, Kairo, Kairuan, Als allgemeine Prinzipien für den Kalligra-
Cordoba entstanden kulturelle Zentren mit phen fordert Ibn Muqla: „man führe das
Hochschulen, die Künstler und Wissenschaft- Schriftzeichen in seiner Gesamtgestalt wohl-
ler anzogen, prachtvolle Paläste und Mo- geformt aus; man beachte genau die Gesetze
scheen wurden gebaut. Fürsten und wohlha- der Proportion; man unterscheide sorgfältig
bende Bürger gaben kostbare Koranhand- die geometrischen Formen nach ihrer waag-
schriften bei Kalligraphen in Auftrag, die sie rechten, senkrechten, schrägen und gekrümm-
den Moscheen stifteten. Von 886 bis 940 lebte ten Bewegung; man beachte sorgfältig die
der legendäre Kalligraph Ibn Muqla, der Pro- Stärke und Feinheit der Linie; man halte die
phet im Felde des Schreibens, wie man ihn Feder entspannt, doch zugleich fest in der
einst nannte. Er war der erste, der sich wis- Hand, so daß sie nicht zittern und die Schrift
senschaftlich mit den ästhetischen Problemen unregelmäßig machen kann.“ (Khatibi & Si-
der Schrift auseinandersetzte. Er hat für die jelmassi 197 7 , 134). Harmonie war die For-
Kursivschriften einen Formenkanon aufge- derung an die Kalligraphen und ihre Kunst
stellt, der für die islamische Kalligraphie bin- mit dem Schreibrohr. Mohammed soll schon
dend wurde für alle Zukunft. Die Hand von gesagt haben, eine schöne Schrift verleiht der
Ibn Muqla hat für die Kursivschrift Nasḫī Wahrheit Nachdruck.
einen Schönheitskodex erarbeitet, so daß jetzt Bereits im 7 . Jahrhundert kommt der Islam
auch in dieser Schrift prachtvolle Koranab- nach Persien und damit auch die arabische
schriften entstanden. Die eckige Monumen- Schrift. Berühmt sollten später die persischen
talschrift Kufi hatte nun eine in eleganten Kalligraphen werden, die den arabischen Kur-
Linien schwingende Schwester erhalten. siven durch Zierlichkeit ein eigenes Gepräge
Grundlage von Ibn Muqlas Überlegungen gaben. Es gibt persische Handschriften, bei
war Euklids Geometrie und dessen Definitio- denen die feinen, schrägen Schriftzeilen förm-
nen von Punkt und Linie. Ibn Muqlas Pro- lich in der Luft schweben. In dem weiten, die
portionslehre der Buchstaben liegt die Größe halbe Erde umspannenden Reich des Islams
des ersten Buchstabens im Alphabet, dem von Marokko und Spanien bis Ostasien, in
Alif, zugrunde. Das Alif hat die Höhe von den Moghuldynastien Indiens und im osma-
sieben Punkten. Der Punkt wird durch die nischen Großreich der Türken entwickelten
250 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

sich zahlreiche regionale Formen von Kursiv- Jahrhundert) pflegten in diesem Stil eine
schriften. Neben der archaischen, eckigen hochwertige Kunstschrift. Später verflachte
Kufi gibt es sechs klassische Kursivschriften dieser Stil zur gewöhnlichen Handschrift der
(Abb. 14.16): arabisch schreibenden Bevölkerung.
Nasḫī Tawqi’
Nasḫī ist eine der frühesten Kursivstile der Tawqi’ (= Unterschrift) ist ein Stil, der sich
arabischen Schrift und wurde in der gesamten von den Unterschriften der Abbassidenkalife
islamischen Welt geschrieben. Diese Kursive herleitet. Die Hasten sind kräftig und wirken
wurde ohne feste Regeln sehr individuell ge- schwer. Im Gegensatz zum Riqa’ werden die
schrieben, bis im 9. Jahrhundert Ibn Muqla Wörter klar auseinandergehalten, die Run-
sie mit einem strengen Formenkanon nor- dungen nicht so betont geschrieben. Merk-
mierte und sie zu einem kalligraphischen male des Tulut sind in den Tawqi’-Stil inte-
Schreibstil erhöhte. Der Kalligraph Ibn al- griert.
Bawwab in Bagdad schrieb diesen Stil in so Rihani (oder Rayhani)
großer ästhetischer Vollkommenheit, daß Dieser Schreibstil entstand im 9. Jahrhundert.
auch seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. in die- Die Bogen der Unterlinien sind stark ausge-
ser Form der Koran geschrieben werden prägt und reichen oft weit nach links zum
durfte. Zwei Kalligraphen hatten somit im 9. nächsten Wort. Die Kennzeichnung der Vo-
Jahrhundert eine alltägliche Verkehrsschrift kale ist meistens in anderer Tintenfarbe aus-
reif gemacht für sakrale Handschriften. geführt. Mit dem Tulut gemeinsam hat dieser
Tulut Stil die hohen, gerade stehenden Vertikalen.
Der außergewöhnlichen Größe der Buchsta- In diesem oft zierlich und elegant wirkenden
ben wegen hat diese Kursive den Charakter Schreibstil sind schöne, dekorative Koran-
einer Monumentalschrift; man bevorzugt sie handschriften entstanden.
für Überschriften in Büchern und zur Deko- Im Westen des Islam, d. h. im Norden Afri-
ration von Gegenständen. Ähnlich dem Kufi kas von Tripolis bis Marokko und im isla-
hat Tulut die Aufgabe einer hieratischen mischen Spanien hat sich aus dem schlanken
Schrift. Alle Hasten im Tulut werden mit Zierkufi ein besonderer Schreibduktus her-
einem rechts ansetzenden Häkchen geschrie- ausgebildet, den man „Maghribi“ bezeichnet.
ben (s. a. Abb. 39.9). Das älteste Kulturzentrum des Westens war
Muhaqqaq das heutige tunesische Kairuan; arabische
Dies ist ein feiner, eleganter Schreibstil der Wissenschaftler bezeichnen den westlichen
arabischen Schrift. In der Abbassidenzeit Schreibstil auch mit „Qairuâni“. Auch in Se-
wird dieser Schriftstil merklich runder ge- villa und Valencia fand dieser Stil seine Pfle-
schrieben, was ein flüssiges Schreiben ermög- gestätten und sogar in Sizilien, wo die Nor-
licht. Die vertikalen Hasten sind betont hoch, mannen die arabische Kunsttätigkeit weiter-
die nach links ausholenden Bogen reichen tief hin förderten (s. Abb. 39.10). Maurische Mis-
in die Unterlinie. Bei den Kalligraphen in der sionare brachten das Maghribi bis ins innere
staatlichen Verwaltung war diese Schrift sehr Afrikas nach Timbuktu, wo es aber in einer
beliebt. Durch die Schriftreform Ibn Muqlas gröberen sudanesischen Abart geschrieben
erhielt auch die Kursivschrift ihre für die Zu- wurde. In Sizilien war es besonders der Stau-
kunft gültige, repräsentative Form. Die Mu- ferkaiser Friedrich II., der sich intensiv für
haqqaq-Schrift erlebte unter den Ilhaniden in die arabische Kultur interessierte. Im 14. und
Persien und unter den Mamluken in Ägypten 15. Jahrhundert wetteiferten die Kalligraphen
eine Hochblüte; hier wurden in diesem Stil in Nordafrika mit denen in Granada und
große Prunkkorane geschrieben, die man in Cordoba, die schönsten und prachtvollsten
Moscheen aufstellte (s. a. Abb. 39.8 auf Tafel Korane zu schreiben, geschmückt mit Ara-
VII). besken, Blütenmotiven, Medaillons und Kar-
Riqa’ tuschen.
Der Riqa’-Stil wird recht eng geschrieben, die Kühnel (1986) unterscheidet in seinem
einzelnen Wörter werden durch geschwun- Buch Islamische Schriftkunst vier unterschied-
gene Linien miteinander verbunden. Es ent- liche Schreibstile: Neben den westlichen Duk-
steht somit ein geschlossenes, lückenloses tus Maghribi stellt er den steifen Duktus Kufi,
Schriftbild. Besonders die Hofkalligraphen den runden Duktus Naskhi und den schrägen
unter den Osmanen in der Türkei (14. bis 18. Duktus Talik, der im 12. Jahrhundert in
14.  Kalligraphie 251

Abb. 14.16: Der erste Satz der Charta der Menschenrechte: Alle Menschen sind von Geburt her frei und
gleich. Geschrieben in verschiedenen Stilen der islamischen Kalligraphie:
1. Naskhi 2. Tulut 3. Naskhi (modern) 4. Riqa 5. Diwani 6. Talik (persischer Stil) 7. Kufi (alt) 8. Ijaza
9. Maghrebinische Schrift (Magribi) 10. Jeli Diwani 11. Kufi (Aus: Massoudy 1981)
252

Persien von den Kalligraphen durch eine einem künstlerischen Werk werden zu lassen.
veränderte Schreibrohrführung entwickelt Damit deutet der Künstler das Universum
wurde (s. Abb. 39.11). Dieser kalligraphische an ...“. Seit der griechischen Antike schreibt
Schreibstil wurde sowohl von den Türken wie der Europäer völlig abstrakte Lautzeichen;
von den Schönschreibern der Moghulkaiser mit nur sechsundzwanzig Buchstaben schrei-
im mohammedanischen Indien übernommen. ben wir die tiefsinnigsten Gedankengänge auf.
Islamische Kalligraphie stand hier in Indien Durch Synthese der Buchstaben bilden wir
bei Hofe in hohem Ansehen. Worte, die nichts mehr sind als graphische
Khatibi (197 7 , 242) sagt: „Ihrem eigentli- Zeichen für die gesprochene Sprache. Das
chen Wesen nach ist die kalligraphische Kunst traditionelle Schriftzeichen in Ostasien deutet
aristokratisch: sie erhebt sich über den Ge- nichts über seine Lautung an; hierfür hat man
meinen und über das Gemeine, über den all- in Japan zusätzlich verschiedene Silben-
täglichen Lauf der Dinge; sie steht zwischen schriftsysteme entwickelt (→ Art. 27).
Himmel und Erde, im Anblick Allahs.“ Da man in Ostasien für jeden Gegenstand
und für jede abstrakte Sache, also für jedes
Wort, ein Schriftzeichen hat, stehen dem
4. Fernöstliche Kalligraphie Schriftkünstler dort viele tausend Zeichen zur
In China und Japan ist die Schriftkunst die Verfügung, die in der alten Bilderschrift
Königin der Künste. Noch heute lernen die wurzeln. Der tiefe Sinngehalt der Pikto-
japanischen Schulkinder ab der dritten Klasse gramme lebt wieder auf durch die Kreativität
das künstlerische Schreiben mit dem Pinsel; des Künstlers. Die komplexe Bedeutung der
fast 2000 Kanji (= chinesische Schriftzeichen) Schriftzeichen auszuloten und dieses innere
müssen sie bis zur 9. Klasse lernen. Der Erlebnis mit Pinsel und schwarzer Tusche auf
Schreibunterricht beginnt immer mit einer der weißen Fläche des Papiers zum Ausdruck
Konzentrationsübung; mehrere Minuten sit- zu bringen, ist ein wesentliches Anliegen der
zen die Schüler in absoluter Stille an ihrem Schreibmeister in Ostasien (s. Abb. 14.7 auf
Platz. Schon hier erkennt man als europä- Tafel XIII). Gu Gan (1987 , 90) bekennt: „Die
ischer Besucher: Das Schreiben in Ostasien Kunst der Kalligraphie ist die Resonanz der
ist eine besondere Kunst. Liegt in Japan ein Seele des Menschen auf die Natur.“ Hier
Gästebuch aus bei Veranstaltungen, so ist es merkt man, das ist etwas anderes als die Kal-
ein Zeichen der inneren Kultur, sich mit dem ligraphie in Europa. Es wird von Fachleuten
Pinsel dort einzuschreiben. In China gehörte auch immer wieder davor gewarnt, das japa-
es bis ins 20. Jahrundert zur Staatsprüfung nische Wort Sho (= Schrift, schreiben; Shodo
von Beamten, ein schönes Schriftstück mit = Weg der Schrift) mit „Kalligraphie“ zu
dem Pinsel anzufertigen. übersetzen. Durch die völlig unterschied-
Mit den chinesischen Schriftzeichen wer- lichen Schriftsysteme in Ostasien und Europa
den heute in China und Japan die ältesten haben die Künstler in Ost und West einen
Schriftzeichen auf unserer Erde geschrieben. grundverschiedenen Formenvorrat als Aus-
Zugrunde liegt ihnen die uralte Bilderschrift drucksträger und Gestaltungselement.
Chinas, deren älteste Formen, in Knochen Entscheidend für die Entwicklung des
und Schildkrötenpanzern geritzt, ins 2. Jahr- Schreibens zur höchsten Kunst in Ostasien
tausend v. Chr. datiert werden (→ Art. 26; war die Erfindung des Pinsels. Wahrscheinlich
Abb. 26.1 auf Tafel XI). Und wie lebendig gab es Pinsel schon in der Shang-Dynastie (2.
die Bild- und Symbolkraft dieser alten Schrift- Jahrtausend v. Chr.). Der älteste überlieferte
zeichen für den Künstler von heute sind, er- Pinsel stammt aus dem 5. oder 4. Jahrhundert
kennt man, wenn man von dem heute in v. Chr. Die archaischen, linearen Schriftzei-
China wirkenden Schreibkünstler Gu Gan chen, einst in Knochen geritzt, erhielten durch
(1987 , 89) liest: „Die chinesischen Schriftzei- den Pinselduktus Dynamik, die Linie wurde
chen haben sich aus einer bildlichen Wieder- lebendig. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten
gabe von Gegenständen, aus den Erkenntnis- sich die klassischen Schreibstile heraus (→
sen unserer Vorfahren über die Natur und die ausführlich Art. 26, Zf. 2):
frühe menschliche Gesellschaft entwickelt. Sie Chinesisch Japanisch
sind Verbildlichungen der Urkraft des Men- Siegelschrift Zhuanshu Tensho
schen. Die Piktographie hat die wesentliche Kanzleischrift Lishu Reisho
Struktur der heutigen Kalligraphie festgelegt. Regelschrift Kaishu Kaisho
Sie bildet den Rahmen, den der Künstler mit Halbkursive Xingshu Gyôsho
seinem Gefühl erkennen muß, um sie zu Konzeptschrift Caoshu Sôsho
14.  Kalligraphie 253

Abb. 14.18: Ausschnitt aus einem japanischen Vorlagenbuch für die Schreibausbildung. Jeweils das gleiche
Schriftzeichen wird in drei verschiedenen Stilen nebeneinander vorgeführt.
Reihe 1: Regelschrift (Kaisho), Reihe 2: Halbkursive (Gyosho), Reihe 3: Kursivschrift (Sosho)
Wang Hsi-Chih, der im 4. Jahrhundert n. Chr. liers“ gehören in China und Japan seit alters:
lebte, gilt als der Ahnherr der chinesischen Pinsel : Jeder Schreibmeister besitzt eine Viel-
Kalligraphie. Vermutlich ist kein Original sei- zahl von Pinseln verschiedenster Größe. Die
ner Schreibkunst erhalten, sondern nur Ko- Qualität des Pinsels wird von der Feinheit
pien. Seine Werke setzten Maßstäbe und sind und Geschmeidigkeit des Pinselhaares be-
Vorbild bis heute. Mit sicherer Hand führte stimmt.
er den Pinsel und schrieb die unterschiedlich- Tusche : Die Tusche wird in Ostasien als
sten Stile bis hin zur flüssigen Eleganz der schmaler, rechteckiger Tuscheriegel gehan-
Kursivschrift Caoshu, bei der mehrere delt. Der Künstler stellt sich seine flüssige
Schriftzeichen in kunstvoller Linienführung Schreibtusche selbst her, indem er den Tu-
miteinander verbunden werden, während bei scheriegel auf einem Reibstein in kreisender
der Kanzlei- und Regelschrift jedes Schrift- Bewegung abreibt und mit etwas Wasser ver-
zeichen streng für sich steht, gut ausbalanciert mischt. Das Mischungsverhältnis von Tusche
im Raum eines unsichtbaren Quadrates. „Auf und Wasser bestimmt die Farbintensität der
jeden Fall setzte diese Schrift den absoluten Schreibtusche vom hellen Grau bis zum tief-
Standard für Schönheit und Eleganz in der sten Schwarz. Der schwarze Farbstoff der
gesamten weiteren Entwicklung der chinesi- Tusche ist Ruß verbrannter, harzhaltiger Kie-
schen Schriftkunst. In vielleicht etwas grober fernhölzer, mit tierischem Leim dann ver-
Verallgemeinerung kann man den geschicht- mischt, geformt und getrocknet.
lichen Ablauf der chinesischen Kalligraphie Reibstein : Die besten Reibsteine kommen
seit dem 4. Jahrhundert als wellenförmigen heute noch aus China; in der Regel ist es
Wechsel zwischen traditionellem Festhalten schwarzer Schiefer mit einer Reibfläche, die
an der von Wang Hsi-Chih geprägten ortho- an einem Ende vertieft ist für das Wasser.
doxen Eleganz einerseits und der mehr oder Reibsteine gibt es in unterschiedlichsten For-
minder heftigen Reaktion dagegen anderer- men; gute Reibsteine sind teuer und begehrte
seits sehen“ (Goepper 1972, 606 f). Sammlungsstücke.
Zu den „Vier Schätzen eines Künstlerate- Papier : Papier ist eine chinesische Erfindung.
Der Rohstoff sind Pflanzenfasern. Die chi-
254 II. Materiale und formale Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

nesischen und japanischen Papiere sind sehr Doede, Werner. 1957 . Schön schreiben, eine Kunst.
saugfähig. Die schwarze Tusche dringt beim Johann Neudörffer und seine Schule im 16. und
Schreiben sofort tief ins Papier; ein Korrigie- 17. Jahrhundert. Köln.
ren des Striches ist nicht möglich. Jede noch —. 1958. Bibliographie deutscher Schreibmeister-
so feine Regung des Schreibens macht der mit bücher von Neudörffer bis 1800. Hamburg.
Tusche getränkte Pinsel auf dem weißen Pa- —. 1980. Drei Reden zu Ausstellungseröffnungen.
pier sichtbar. Akademie für das Grafische Gewerbe München
„Der Pinsel ist für uns, die wir Sho schreiben, 1980.
keineswegs darauf beschränkt, nur ein Gerät —. 1988. Schön schreiben, eine Kunst. Johann
zu sein. Wir sind mit dem Pinsel beschenkt Neudörffer und die Kalligraphie des Barock. Mün-
als dem Ort, wo wir die Freiheit finden, den chen.
wahren Menschen, das eigentliche Selbst ver-
Dürer, Albrecht. 1525. Underweysung der messung
wirklichen zu können. ... Die durch den Pin-
mit dem zirckel u richtscheyt/ in Linien ebnen
sel sichtbar werdende Form, das Sho, kann
unnd gantzen corporen durch Albrecht Dürer zu-
folglich nichts anderes sein als die Form der
samen getzogen. Nürnberg.
Lebensweise des Menschen im Pinsel.“ (Shi-
ryu Morita 197 0, 10). Diese Sätze des japa- Faust, Wolfgang Max. 197 7 . Bilder werden Worte.
nischen Schreibmeisters Morita, 1912 geboren Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur
und heute in Kyoto tätig, stammen aus seinem im 20. Jahrhundert oder vom Anfang der Kunst
Essay „Was ist der Pinsel. — Ein Instrument im Ende der Künste. München.
als Ort zur Freiheit“ (Morita 197 0, 5 ff). Hier Feliciano, Felice. 1985. Alphabetum Romanum.
kommt zum Ausdruck, wie in Ostasien die (Vat. Lat. 6852) Aus der Bibliotheca Apostolica
Kunst des Schreibens vom Ästhetischen hin- Vaticana. Stuttgart.
überwechselt zum Philosophischen, mit tiefen Fichtenau, Heinrich. 1946. Mensch und Schrift im
Wurzeln im Zen-Buddhismus. Der Künstler, Mittelalter. Wien.
der ein Schriftkunstwerk (Sho) schreibt, ent- —. 1961. Die Lehrbücher Maximilians I. und die
scheidet den Schriftstil, er bestimmt den Anfänge der Frakturschrift. 1961.
Schwärzegrad der Tusche, wählt den richtigen Gaur, Albertine. 1984. A History of Writing. Lon-
Pinsel, sucht das Papier aus und schreibt in don.
höchster Konzentration. Jede Bewegung, jede Gray, Nicolete. 1982. Lettering as Drawing. New
Veränderung des Druckes auf den Pinsel wird York. (1. Auflage 1971 Oxford.)
sichtbar in der Tuschespur auf dem Papier. Hartmann, Christine. 1986. Kalligraphie. Die
Das Herz, der Charakter, das Temperament, Kunst des schönen Schreibens. Niedernhausen.
das innerste Wesen des Künstlers bestimmt
Haupt, Georg. 1936. Rudolf Koch der Schreiber.
das Leben, die Bewegung, die Spannung, den
Weimar.
Rhythmus, die Eleganz, die Qualität der
schwarzen Linie im weißen Raum des Papiers. Jackson, Donald. 1981. Alphabet. Die Geschichte
Sho ist die Kunst der schwarzen Linie im vom Schreiben. Frankfurt am Main.
weißen Raum. Das Prinzip, das dieser Kunst Jantzen, Hans. 1940. Das Wort als Bild in der
zugrunde liegt, heißt: Mit einfachsten Mitteln frühmittelalterlichen Buchmalerei. Historisches
etwas Komplexes ausdrücken. Jahrbuch Band 60. Köln.
—. 1947. Ottonische Kunst. München.
Johnston, Edward. 1910. Schreibschrift, Zierschrift
5. Literatur und angewandte Schrift. Leipzig.
Kapr, Albert. 197 6. Schriftkunst. Geschichte, Ana-
5.1. Europäische Kalligraphie tomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben.
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im Mittelalter. Köln. —. 197 7 . Ästhetik der Schriftkunst. Thesen und
Baurenfeind, Michael. 71 16/17 36. Vollkommene Marginalien. Leipzig.
Wiederherstellung der Schreibkunst. Zwei Teile. —. (ed.). 1988. Kalligraphische Expressionen. Leip-
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14.  Kalligraphie 255

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Christian Scheffler, Offenbach (Deutschland)
256

III. Schriftgeschichte
History of Writing

15. Theorie der Schriftgeschichte

1. Einleitung reits dem vollausgebildeten Schriftsystem an-


2. Ursprung der Schrift gehören (Boltz 1986; → Art. 26). Ob emble-
3. Abgrenzung der Schrift von anderen visuellen matische Zeichen auf Tongefäßen der Ta wen
Zeichen k’ou -Kultur einer wesentlich früheren Periode
4. Sprachbezug (etwa 4800—2000) mit den Zeichen der
5. Entwicklung Shang -Bronzen in Beziehung stehen, ist un-
6. Rückblick und Ausblick geklärt. Nur weitere archäologische Funde
7. Literatur können diese Lücke schließen. Ähnlich wer-
den Hypothesen über das Verhältnis der Zei-
chen der alteuropäischen Vinča -Kultur des
1. Einleitung Donautals (5. und 4. Jahrtausend) zu anderen
Die Geschichte der Schrift wird von den mei- Schriften des östlichen Mittelmeerraums nur
sten Autoren, die solche umfassenden Versu- mit Hilfe weiterer Funde überprüft werden
che unternommen haben, als Abfolge zivili- können (→ Art. 17).
satorischer Innovationen und systematischer Aber auch da, wo scheinbar lückenlose ar-
Stufen bzw. Abstraktionsniveaus präsentiert. chäologische Evidenz gegeben ist, sprechen
Derartige Darstellungen beruhen gewöhnlich die Dokumente nicht für sich. Sie bedürfen
auf evolutionistischen Annahmen, die jedoch einer theoretisch fundierten Interpretation im
nicht immer explizit gemacht oder gerechtfer- Rahmen einer systematischen Geschichte der
tigt werden. Die Detailfragen, um die es dabei Schrift. Nur eine solche ermöglicht auch die
geht, werden in anderen Artikeln dieses Ka- Bewertung neuer Funde, indem sie von einer
pitels zum Teil ausführlich behandelt. Dieser explizierten Definition von Schrift ausgeht.
Artikel dient dazu, die wichtigsten Punkte Rein deskriptive Darstellungen erwecken
aufzuzeigen, an denen Schriftgeschichte theo- leicht den Anschein, als ginge es lediglich um
rieabhängig ist, und auf theoretisch kontro- die richtige Chronologie der Fakten; aber
verse Positionen hinzuweisen. Sie betreffen auch die beruhen gewöhnlich auf weitreichen-
vier Grundprobleme: das des U rsprungs, das den theoretischen Annahmen. Diringer etwa,
der Abgrenzung, das des Sprachbezugs und der keine theoretischen Ambitionen hat, er-
das der Entwicklung von Schrift. klärt: „Zu schreiben begann der Mensch mit
einer Bilderschrift“ (1968, 5). Gelb hingegen,
dessen Buch A Study of Writing das bisher
2. Ursprung der Schrift theoretisch anspruchsvollste und einfluß-
reichste ist, machte das Bild zum einzigen und
Der U rsprung der Schrift bzw. einzelner notwendigen Vorläufer der Schrift in einer
Schriftsysteme ist auf der empirischen Ebene evolutionistischen Hierarchie (Gelb 1963, 11).
ein Problem archäologischer Evidenz. Die Diese Festlegung auf den bildhaften U r-
Aufgabe der empirischen Geschichtsschrei- sprung aller Schrift ließ Gelb die Verwendung
bung besteht darin, eine historische Schrift zu von Gegenständen zum Zwecke visueller
ihren frühesten Formen und Vorläufern zu- Kommunikation — manchmal Sachschrift
rückzuverfolgen. Für manche, im übrigen gut genannt — nicht als Schrift oder deren Vor-
erforschten Schriften ist diese Aufgabe noch läufer anerkennen. Die wichtigen, vor allem
nicht gelöst. Der U rsprung der chinesischen von Schmandt-Besserat (1979, 1981) interpre-
Schrift etwa liegt im Dunkeln, da die frühe- tierten Funde von Zähl-Steinen, die mehrere
sten Inschriften auf den Bronzen der Shang- Jahrtausende vor den ersten sumerischen
Zeit (1200—1050 v. u. Z.) ihrem Typ nach be-
15.  Theorie der Schriftgeschichte 257

Schriftdokumenten datiert werden (→ Art. sprechung zu den gezählten Objekten die frag-
16), zwangen Gelb zur Aufgabe seiner Posi- liche Menge repräsentiert, zu einem Zahlen-
tion; denn einige der frühesten sumerischen system, in dem verschiedene Zeichen verschie-
Zeichen konnten zweifelsfrei mit den nicht- dene Zahlbedeutungen haben. Andererseits
bildhaften Abdrücken dieser Zählsteine iden- bedürfen die Zahlzeichen auf den frühesten
tifiziert werden. In einer späteren Arbeit hat Inschriften der Deutung. In einer detaillierten
Gelb dem durch eine revidierte Definition von Analyse aller U ruk-Texte haben Nissen et al.
Schrift Rechnung getragen, die Formen und (1990, 61 ff) die grundlegende Bedeutung der
Farben von Gegenständen einschließt (Gelb Zahlendarstellung für die Schriftgeschichte
1980, 21 f). Die Annahme, das sumerische erneut erhärtet, indem sie den Übergang von
Schriftsystem als solches sei von den Zähl- der einfachen protoarithmetischen Summie-
steinen abgeleitet, verwirft er dennoch. Sie rung durch Zeichenwiederholung über kom-
muß als weiterhin kontrovers gelten, da nur plexe protoarithmetische Summierung mit Er-
einige Keilschriftzeichen auf Zählsteine zu- setzungsoperationen zu arithmetischen Re-
rückgeführt werden können. chenoperationen dokumentierten. Sie konn-
Neben der Form der frühesten Zeichen ten außerdem die seit langem bekannte, aber
wird in der äußeren Motivation der Verwen- wenig beachtete arithmetische Mehrdeutig-
dung visueller Kommunikationsmittel eine keit der archaischen Zahlzeichen dadurch er-
Erklärung des U rsprungs der Schrift gesucht. klären, daß sie verschiedenen Zahlensyste-
Zweck und Leistung der Schrift werden dar- men, u. a. dem Sexagesimalsystem und dem
auf befragt, weshalb sie entstand. Die inhalt- Bisexagesimalsystem angehören, die an strikt
liche Deutung der Schriftdokumente und die voneinander abgegrenzte Verwendungsberei-
Erklärung ihrer gesellschaftlichen Funktio- che gebunden sind, z. B. Viehhaltung, Hohl-
nen greifen dabei ineinander. Im mesopota- maße, Stückgut, Kalender.
mischen Kontext, aber auch in Ägypten und Aus rein theoretischen Gründen kommt
China verweisen die frühesten Inschriften auf Harris (1986) zu der Auffassung, daß der
den Bereich der Wirtschaft. In verschiedenen U rsprung der Schrift in der Darstellung von
Arbeiten haben Nissen, Damerow & Englund Zahlen zu suchen ist, und zwar in ihrer nicht-
(1990) eine umfassende theoretische Einschät- iterativen Darstellung. Eine wesentliche Be-
zung der archäologischen Funde vorgelegt, dingung ist die in vielen Frühkulturen anzu-
nach der die Frühformen der Schriftlichkeit treffende Beziehung zwischen Zählen und
in Vorderasien von den Zählsteinen über die schriftlicher Aufzeichnung. Sie setzt ein utili-
Rollsiegel bis zu den Tontafeln aus U ruk ein- taristisches d. h. nicht-magisches Verhältnis
heitlich als Kontrollmittel der Wirtschaft er- zu Zahlen voraus. Die entscheidende Ab-
klärt werden. Die Tatsache, daß sich keine straktion ist der Sprung von iterativen Zähl-
schlüssige konsekutive Entwicklung von er- symbolen (fünf Zählsteine für fünf Kühe und
steren zu letzteren nachzeichnen läßt, das su- fünf andersgeformte Zählsteine für fünf
merische Schriftsystem (ebenso wie das ägyp- Schafe) zu einer emblematischen Stellennotie-
tische und chinesische) vielmehr relativ plötz- rung (ein Zeichen für „Kuh“ gefolgt von
lich auftritt, findet damit ebenfalls eine theo- einem Zeichen für 5). Diese auch von Ehlich
retische Erklärung: Die Notwendigkeit eines (1983) betonte begriffliche Leistung kann
visuellen Aufzeichnungsmittels zur Steuerung nicht als allmählicher Übergang von ikoni-
wirtschaftlicher Prozesse war lange bekannt. schen Bildern zu konventionellen Schriftzei-
Die Bedeutung der Idee, aus sprachunabhän- chen erklärt werden. Harris (1986, 122 ff)
gigen Zeichen zum Festhalten von Mengen sieht deshalb eine gewisse Berechtigung darin,
ein sprachbezogenes System visueller Infor- die Schrift als Erfindung zu betrachten, eine
mationsaufzeichnung zu machen, wurde des- Auffassung, die von Gelb kategorisch abge-
halb unmittelbar erkannt, so daß der Ausbau lehnt wurde. Die Frage nach dem U rsprung
der Schrift zu einem allgemein anwendbaren der Schrift betrifft für Harris weniger das
System in kurzer Zeit erfolgte (Nissen et al. historische Auftreten des einen oder anderen
1990, 55). Schriftsystems, sondern ist vielmehr ein kon-
Damit rückt der Zahlbegriff ins Zentrum zeptuelles Problem, dessen Lösung deshalb
des theoretischen Interesses. Einerseits geht es nicht primär dem Archäologen oder Philolo-
dabei um den Übergang von der einfachen gen obliegt. Ein Zahlensystem und rudimen-
Aufzählung mittels Zählsymbolen („tokens“), täre Rechenfähigkeit gehen nach seiner Auf-
deren Gesamtheit in einer Eins-zu-eins-Ent- fassung der Schrift notwendig voraus.
258 III. Schriftgeschichte

3. Abgrenzung der Schrift von die Abgrenzungsproblematik begrifflich zu


anderen visuellen Zeichen präzisieren. Der jukagirische „Liebesbrief“
kann weder als Semasiographie noch als ru-
Wo beginnt dann Schrift? Auch das ist eine dimentäre oder Vorstufe der Schrift gelten,
theoretische Frage, auf die verschiedene Ant- weil er nicht lesbar ist, es niemals war oder
worten gegeben wurden. Auf die eine oder sein wird. Demgegenüber weisen andere Zei-
andere Weise unterscheiden die meisten Auto- chen Eigenschaften auf, die die Vermutung
ren zwischen Vorformen der Schrift und nahelegen, daß sie lesbar waren und es wieder
Schrift im eigentlichen Sinne. Mnemotechni- sein könnten. Ob solche Zeichen Schrift oder
sche Hilfsmittel diverser Art, und zwar so- ein vorschriftliches Notationssystem darstel-
wohl solche, die numerische Information fest- len, liegt dann auch im Auge des Betrachters.
halten — Kerbhölzer, Knotenschnüre, be- Der Diskos von Phaistos wird gemeinhin
malte Kieselsteine — als auch solche, die pro- für ein Schriftzeugnis gehalten, obwohl er
positionale Inhalte darstellen — Petrogly- nicht gelesen werden kann und bisher trotz
phen, Piktogramme, Zeichnungen — werden zahlreicher „Lösungen“ kein überzeugender
zu den Vorläufern der Schrift gezählt, wobei Nachweis vorliegt, daß er entzifferbar ist. Die
sie freilich meist nur negativ als „nicht mittelamerikanischen Schriften, insbesondere
Schrift“ identifiziert werden, ohne daß un- die der Mayas und Azteken (→ Art. 28),
bedingt deutlich wird, was sie zu deren Vor- wurden lange als unvollständige Systeme und
läufern macht. in diesem Sinne Vorläufer der Schrift betrach-
Als Vorläufer der Schrift können im wei- tet, weil man sie nicht lesen konnte. Auf der
teren Sinne alle Arten von Zeichen der vi- Basis unterschiedlicher theoretischer Positio-
suellen Informationsaufzeichnung betrachtet nen bezüglich der Definition und Abgrenzung
werden. Im engeren Sinne sind dazu jedoch von Schrift werden die alteuropäischen Zei-
nur solche Mittel zu rechnen, die zu Schrift chen aus dem Donautal von Masson (1984)
führten. Hierzu gehören vor allem die vor- als Vorläufer der Schrift, von Haarmann
derasiatischen Zählsteine, deren Form und (1989) aber als Schrift klassifiziert, obwohl
Funktion im sumerischen Schriftsystem eine beide Autoren von derselben Beleglage aus-
Fortsetzung erfuhr. Im Falle anderer Tech- gehen (→ Art. 17). U m solche U nsicherheiten
niken der Aufzeichnung von Mengen oder zu minimieren, muß das funktionale Krite-
kalendarischen Einheiten wie z. B. den perua- rium der Lesbarkeit um ein systematisches
nischen Knotenschnüren ( Quippu ) besteht Kriterium ergänzt werden, das unter den Ei-
kein erkennbarer Zusammenhang mit einem genschaften graphischer Zeichen diejenigen
Schriftsystem, so daß es eine terminologische identifiziert, die Lesbarkeit gewährleisten.
Frage ist, ob sie sinnvollerweise als Vorläufer Jede gelungene Entzifferung hat zum Ver-
von Schrift zu klassifizieren sind. Ein in der ständnis dieser Eigenschaften beigetragen und
Literatur häufig angeführtes Beispiel ist die damit zugleich den Begriff von Schrift ge-
sog. „Ideenschrift“ der nordsibirischen Juka- schärft (→ Art. 29).
giren, von der wiederholt behauptet wurde, Freilich wird das Problem der Abgrenzung
sie tauge dazu, gedankliche Inhalte graphisch durch das Kriterium der Lesbarkeit auf eine
darzustellen. Aufgrund einer detaillierten Re- andere theoretische Frage verschoben, näm-
konstruktion der Forschungsgeschichte, in lich: Was ist Lesen? Daß Zeichen lesbar sind,
deren Verlauf eine im 19. Jahrhundert gege- impliziert, darüber herrscht Einvernehmen,
bene Erklärung des vermeintlich rein sema- daß sie einen Sprachbezug haben. Diese all-
siographischen Systems unkritisch von einer gemeine Bestimmung läßt allerdings durchaus
Darstellung der Schriftgeschichte in die näch- Raum für theoretische Kontroverse. Die Ge-
ste übernommen wurde, wird diese Auffas- fahr, die der Ausnutzung dieses Kriteriums
sung von DeFrancis (1989, 24—35) verwor- für eine Wesensbestimmung von Schrift und
fen. Sein Hauptargument weist in die Rich- ihre Abgrenzung von vor-schriftlichen Syste-
tung begründeter Abgrenzungskriterien: Der men birgt, ist, daß es inhaltlich von unserem
vielzitierte jukagirische „Liebesbrief“ kann heutigen Verständnis des Leseprozesses spe-
nicht ge l e s e n werden. Vielmehr stellt er ziell alphabetisch geschriebener Texte geprägt
das Produkt eines semiritualisierten Gesell- ist. Was Lesen in archaischer Zeit beinhaltete,
schaftsspiels dar, dessen Regeln es in einem ist uns jedoch ebenso wenig bekannt, wie wir
thematisch eng begrenzten Bereich erlauben, wissen, ob die Lesbarkeit schriftlicher Zeichen
ihm eine Deutung zu geben. ihren frühen Benutzern schlagartig klar
DeFrancis Kriterium der Lesbarkeit hilft,
15.  Theorie der Schriftgeschichte 259

wurde oder sich langsam herausstellte. Beson- nicht nur allgemein mit dem gewonnenen
dere Bedeutung kommt in diesem Zusam- Lautbezug der Zeichen, sondern mit dem Re-
menhang der Bewertung von Piktogrammen busprinzip, nach dem das piktographische
zu. Viele Zeichen der sumerischen, ägypti- Zeichen für ein Wort auch für die Darstellung
schen, chinesischen und mittelamerikanischen eines anderen, gleich oder ähnlich lautenden
Systeme haben Bildcharakter. Können sie sich verwendet wird. Dieses Prinzip der lautlichen
aus sprachlich polyvalenten Zeichen für Ge- Abstraktion hat in drei Schriftsystemen, de-
genstände und Ideen im Laufe eines lang- ren Entstehung für unabhängig gehalten wird,
wierigen Prozesses, an dessen Ende ein kom- eine wichtige Rolle gespielt: im sumerischen
plettes Schriftsystem stand, allmählich zu Zei- (um 3000 v. u. Z.), dann im chinesischen (um
chen mit eindeutigem Sprachbezug entwickelt 1500 v. u. Z.) und schließlich in dem der
haben, so daß sie u. U . über lange Zeit für Mayas (um die Zeitenwende), → Art. 18, 26,
einige Benutzer Bildsymbole und für andere 28. Die daraus von Cohen abgeleitete theo-
bereits Schriftzeichen, d. h. Zeichen mit retische Bewertung der Bedeutung des Re-
sprachlichen Denotaten waren? So lautet die busprinzips für die Schriftgeschichte blieb al-
gängigste Erklärung der Herausbildung von lerdings nicht unwidersprochen. Harris (1986,
Schriftsystemen, obgleich der Übergang von 68) erkennt in ihm „nicht den Beginn der
Proto-Schrift zu Schrift unterschiedlich lo- Phonographie, sondern die Sackgasse der Lo-
kalisiert wird. gographie.“
Sprachbezug allein ist ein zu breites Defi- Aus der Perspektive voll ausgebildeter
nitionskriterium, um alle theoretischen Kon- Schriftsysteme erscheint der konventionelle
troversen über die Abgrenzung von anderen Sprachbezug als das kritische Kriterium für
Zeichensystemen auszuräumen. Manchen, die Abgrenzung proto-schriftlicher Notatio-
z. B. ikonographischen, Zeichensystemen läßt nen von Schrift. Darüber, wie dieser Sprach-
sich insofern ein Sprachbezug zuschreiben, als bezug erreicht wurde und ob aus seinem Ge-
es konventionalisierte Instruktionen für die gebensein in allen vollentwickelten Schriftsy-
Verbalisierung des bildlich dargestellten In- stemen folgt, daß Schrift als Mittel zur Ab-
halts gibt. Diese Art von Sprachbezug ist es bildung von Sprache entstand, herrscht je-
jedoch nicht, was Theoretiker der Schriftge- doch keine Einigkeit. Manche Autoren, ins-
schichte gewöhnlich vor Augen haben. Viel- besondere Gelb (1963), betonen die Not-
mehr geht es um einen Bezug, der identifi- wendigkeit des Sprachlautbezugs, während
zierbare sprachliche Struktureinheiten be- andere ihn für kontingent halten und die
trifft. Aspekte der Schriftgeschichte hervorheben,
Für Gelb liegt dementsprechend die Was- die auf die U nabhängigkeit des Mediums der
serscheide zwischen Semasiographie, Proto- Schrift von Sprache hinweisen. Diese Position
Schrift und Phonographie, Schrift im eigent- wird am dezidiertesten von Harris (1986) ver-
lichen Sinne. Das Entstehen von Schrift ist treten und auch von Feldbusch (1985).
für ihn identisch mit dem, was er Phonetisie-
rung nennt. Die Piktogramme protoschriftli-
cher Systeme können nur zu Schrift werden, 4. Sprachbezug
wenn dem einzelnen Zeichen ein phonetischer Nach einer groben Scheidung fallen die Theo-
Wert zugeordnet wird, der unabhängig von retiker, die sich grundsätzlich zur Bedeutung
der Bedeutung ist, die es als Wort(zeichen) des Sprachbezugs von Schrift für deren Ent-
hat (Gelb 1963, 193 f). Die Assoziation der wicklung geäußert haben, in zwei Gruppen:
Zeichen mit Lautwerten stellt auch DeFrancis Surrogationalisten und Autonomisten. Er-
(1989) als wesentlichen Schritt dar, was des- stere vertreten die verbreitete Meinung, daß
halb von besonderem Interesse ist, weil seine Schrift ein notwendigerweise an Sprache
Expertise als Sinologe vor allem auf dem Ge- gebundenes sekundäres Zeichensystem ist.
biet einer Schrift liegt, die gewöhnlich als Bloomfields (1933, 21) Feststellung, die
ideographisch bezeichnet wird und deren Schrift sei nichts weiter als ein Mittel zur
Lautbezug in vielen Arbeiten als sekundär Aufzeichnung der Rede mit sichtbaren Zei-
dargestellt worden ist. In einer älteren, aber chen, repräsentiert diesen Standpunkt. Die
sehr einflußreichen Studie hat auch Cohen Annahme einer relativ autonomen, von Spra-
(1958) die Position vertreten, daß Phonetisie- che unabhängigen Entwicklung der Schrift
rung den entscheidenden Punkt in der Schrift- stellt die Minderheitenposition dar. Innerhalb
geschichte markiert. Er identifiziert den Be- der Sprachwissenschaft wurde sie am deut-
ginn der Schrift jedoch noch enger als Gelb lichsten von Vertretern der Prager Schule ar-
260 III. Schriftgeschichte

tikuliert, insbesondere von Vachek (1973), Der auch heute gebräuchliche Begriff Ideo-
dessen theoretisches Konzept zwei Normen, graphie zeugt noch immer von den theoreti-
die der gesprochenen und die der geschrie- schen Schwierigkeiten, die es bereitete, die
benen Sprache, beinhaltet, die wegen der Denotate der Einheiten verschiedener Schrift-
unterschiedlichen funktionalen Bedingungen systeme zu bestimmen. In der Verwendung
mündlicher und schriftlicher Kommunikation vieler Orientalisten ist dieser Terminus gleich-
relativ unabhängig voneinander sind. Das bedeutend mit Logographie. Von den Zeichen
Maß der Abhängigkeit der Schrift von der so klassifizierter Schriftsysteme wird gemäß
Lautsprache ist Gegenstand unüberbrückba- der Aristotelischen Vorstellung, nach der
rer Differenzen. Aus theoretischen Gründen Schriftzeichen für gesprochene Wörter stehen,
wird völlige Autonomie auf der einen Seite die ihrerseits für Ideen stehen, angenommen,
behauptet und völlige Abhängigkeit auf der daß sie Wörter abbildeten. Ideographie wird
anderen, während die Beurteilung einzelner jedoch auch in dem Sinne verwendet, den der
historischer Schriftsysteme meist zu abgestuf- Terminus nahelegt. So beschreibt Jensen die
teren Positionen führt. chinesische Schrift in seinem einflußreichen
Auch Autonomisten bestreiten nicht, daß Buch (1969, 158) als eine „Begriffsschrift“,
Schriftdokumente lautsprachlich interpretiert womit er dem Sinologen Creel folgt, der ar-
werden können. Sie sehen jedoch die Abbil- gumentierte, daß die relative phonetische Ar-
dungsrelation nicht als unidirektional an. We- mut des Chinesischen die chinesische Schrift
der hinsichtlich ihres U rsprungs, noch hin- zu einem im Kern piktographisch-symboli-
sichtlich ihrer Geschichte von den Anfängen schen und ideographischen System werden
bis in die Gegenwart sollte Schrift nach dieser ließ, das Bedeutungen ohne Lautvermittlung
Auffassung konzeptuell auf ein Surrogat der darstellen kann. Andere Autoren haben da-
Rede reduziert werden. Ohne den Sprachbe- gegen behauptet, daß der Lautbezug in der
zug schriftlichen Ausdrucks zu leugnen, be- chinesischen Schrift schon früh dominant
trachten Autonomisten Schrift als eigenstän- war. DeFrancis (1984) resümiert diese Kon-
digen Faktor der Sprachgeschichte. troverse und schlägt sich auf die Seite derer,
Daß Sprachbezug für Schrift konstitutiv die die chinesische Schrift für eine Lautschrift
ist, impliziert noch kein klares Verständnis halten, wenn auch eine sehr unvollkommene.
davon, was Schriftsysteme abbilden (→ Der Bedeutungsgehalt chinesischer Zeichen
Art. 3). Begründete Antworten auf diese ist aus seiner Sicht sekundären Charakters:
Frage sind vielmehr in starkem Maße theo- Er kompensiert die U nvollkommenheit der
rieabhängig. Die Geschichte der Entzifferung Lautdarstellung. Diese Auffassung steht im
archaischer Schriften (→ Art. 29) ist auch die Gegensatz zu herkömmlichen Darstellungen,
Geschichte der Überwindung konzeptueller nach denen chinesische Schriftzeichen primär
Mißverständnisse. Die Beschäftigung euro- Mittel der Bedeutungsrepräsentation sind, die
päischer Gelehrter im 17. Jahrhundert mit den durch den Lautgehalt der Zeichen sprachlich
ägyptischen Hieroglyphen etwa beruhte zum vereindeutigt wird.
Teil auf der Faszination, die diese Schrift als Wie im Fall der chinesischen Schrift beste-
ein vermeintlich universelles, d. h. einzel- hen auch bei anderen Systemen Probleme bei
sprachunabhängiges Medium visueller Kom- der Klassifikation der dargestellten bzw. ab-
munikation ausübte. Hieroglypen, die sich gebildeten Einheiten. Die ägyptischen Hiero-
später als Zeichen einzelner Laute erwiesen, glyphen etwa werden gewöhnlich in drei Klas-
betrachtete Athanasius Kirchner noch als Ab- sen eingeteilt (Lurker 1980, 62 f). (1) Ideo-
bildungen ganzer Sinnzusammenhänge, was gramme sind Zeichen, die durch nicht lautlich
ihn und seine Zeitgenossen daran hinderte, vermittelten Bedeutungsbezug Wörter dar-
zu erkennen, wie die ägyptische Schrift funk- stellen. (2) Phonogramme bezeichnen einzelne
tioniert. Konsonanten oder Folgen von zwei oder drei
Auch die westliche Vorstellung von der chi- Konsonanten. Daß Vokale nicht dargestellt
nesischen Schrift wurde nachhaltig durch die werden, erlaubt die mehrfache Verwendung
Beschäftigung mit dem Problem einer univer- eines Phonogramms. Mit dem Phonogramm
sellen Notation geprägt, obwohl hier nicht wr , das für „Schwalbe“ steht, kann somit
die Notwendigkeit der Entzifferung bestand. auch das Wort für „groß“ wr , geschrieben
Leibniz glaubte in den lexikographischen werden. (3) Determinative haben keinen
Ordnungsprinzipien der chinesischen Schrift- Lautwert, sondern werden ans Wortende ge-
zeichen Eigenschaften einer solchen charac- setzt, um dessen semantische Kategorie an-
teristica universalis entdecken zu können. zugeben. So beinhalten Städtenamen das
15.  Theorie der Schriftgeschichte 261

Ideogramm für „Stadt“. Die Schwäche dieser heiten, die von Alphabetschriften bezeichnet
scheinbar klaren Einteilung ist, daß sie werden, bereitet große Schwierigkeiten. Das
zur Mehrfachklassifizierung vieler Zeichen allgemeine Problem ist, einen U nterschied
zwingt. zwischen intrinsischen Eigenschaften sprach-
Schwierigkeiten bereitet weiterhin die De- licher Äußerungen und solchen ihrer gram-
tailinterpretation des Rebusprinzips, wie es in matischen Darstellung zu machen. Die als
dem Beispiel zur Anwendung kommt. Ist wr Kritik linguistischer Analyse formulierte Be-
ein polyvalentes Ideogramm, das zwei (oder hauptung, das wissenschaftliche Verständnis
mehr) Wörter bezeichnet, oder ist es ein mo- von Sprache sei in starkem Maße durch den
novalentes Phonogramm? Nur die zweite Filter der Schrift gerastert (Linell 1988), ver-
Möglichkeit macht es verständlich, daß von dient, ernst genommen zu werden. Bezüglich
der ägyptischen Schrift behauptet wird, sie des Alphabets geht es um das vieldiskutierte
habe an der Schwelle zur Alphabetschrift ge- Problem des Phonem-Graphem-Bezugs. Ge-
standen. genüber der vortheoretischen Annahme, die
Diese Frage betrifft auch die Beurteilung Buchstaben des Alphabets stellten lautliche
der Leistung des Rebusprinzips. Stellt die Ver- Grundeinheiten der (griechischen) Sprache
wendung eines Wortzeichens für die Darstel- dar, die lediglich in theoretischer Präzisierung
lung eines Homonyms schon den Schritt zur als Phoneme bezeichnet werden, ist die Auf-
Lautschrift dar, oder erwirbt das Zeichen da- fassung vertreten worden, daß die Segmentie-
durch lediglich ein weiteres Wort als Denotat? rung des sprachlichen Lautkontinuums in
Daß der Lautbezug an die Stelle des Bedeu- Phoneme ein Epiphänomen der Alphabet-
tungsbezugs tritt, kann mit Sicherheit nur be- schrift sei (Lüdtke 1969; Faber 1990). Wenn
hauptet werden, wo Wortzeichen für die Dar- das Phonem, wie diese Auffassung nahelegt,
stellung homonymer, an sich bedeutungsloser aber keine vor der Alphabetschrift und un-
Wortteile verwendet werden. Das ägyptische abhängig von ihr gegebene Einheit der Spra-
Wort msdr „Ohr“ wurde als Zusammenset- che ist, was waren dann die Denotate alpha-
zung der Ideogramme ms „Fächer“ und dr betischer Buchstaben, als die Alphabetschrift
„Korb“ dargestellt. Nur dieser analytische entstand? Es ist ersichtlich die surrogationa-
Gebrauch zeigt, daß mit den Hieroglyphen listische Position, die zur Beantwortung dieser
Laute geschrieben wurden. Frage zwingt, wohingegen Autonomisten
U m was für Lauteinheiten aber handelte durch sie nicht in Verlegenheit gebracht wer-
es sich? Wie ist die ägyptische Schrift genau den. Wer davon ausgeht, daß Schrift Sprache
zu klassifizieren? Von Ägyptologen wird sie abbildet, muß zeigen können, wie sprachliche
als Konsonantenschrift mit Ideogrammen Einheiten mit solchen einzelner Schriftsy-
und Determinativen beschrieben. Gelb hat sie steme korrelieren und wie sich die Werte von
demgegenüber als eine Wort-Silben-Schrift Schriftzeichen verändern, wenn Schriftsy-
gekennzeichnet und bestritten, daß sie ein steme über lange Zeit in Gebrauch sind.
Konsonantenalphabet beinhaltet. Die nicht-
semantischen Zeichen bzeichnen nach seiner
Auffassung nicht Konsonanten, sondern Sil- 5. Entwicklung
ben. Seine Begründung ist, daß „eine Ent- Das führt zu der Frage, ob oder in welchem
wicklung von einer logographischen zu einer Sinne die Alphabetschrift den Endpunkt einer
Konsonantenschrift [...] in der Geschichte der Entwicklung darstellt. Dieser weitverbreiteten
Schrift undenkbar ist“ (Gelb 1963, 78). Die
synchronische Analyse der ägyptischen Überzeugung hat wiederum am explizitesten
Schriftzeugnisse erlaubt beide Deutungen. Gelb (1963) auf der Grundlage einer von ihm
Die von Gelb vertretene Position ist in seiner „Grammatologie“ genannten Theorie Aus-
Theorie der Schriftentwicklung begründet. druck gegeben. Obwohl zwischen dem Auf-
Wo die Grundzeichen eines Schriftsystems treten von Schrift im fruchtbaren Halbmond,
keinen Bedeutungsbezug aufweisen, wie es in China und in Mittelamerika kein Zusam-
beim griechischen Alphabet der Fall ist, das menhang nachgewiesen ist, konzipiert er eine
alle in der phönizischen Schrift vielleicht noch umfassende Geschichte der Schrift, die von
vorhandenen symbolischen Qualitäten der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist.
einzelnen Zeichen abgestreift hat, läßt sich die Diese teleologische Sicht ist für ihn vor allem
Frage, was die Zeichen abbilden, scheinbar in der Ähnlichkeit begründet, die er beim
leichter beantworten. Aber auch die begriff- Wirksamwerden des Rebusprinzips für die
lich klare Identifikation der sprachlichen Ein- Phonetisierung der sumerischen, ägyptischen
und chinesischen Schrift konstatiert.
262 III. Schriftgeschichte

Die der Schriftgeschichte zugrunde lie- lich kann die Klassifikation von Alphabet-
gende treibende Kraft ist nach Gelb (1963, schriften nicht nur auf der Grundlage der
69) das Prinzip der Ökonomie, das darauf Größe des Inventars der Grundzeichen erfol-
zielt, sprachliche Formen mit der kleinstmög- gen. „Tiefe“ alphabetische Schriftsysteme wie
lichen Zahl von Schriftzeichen darzustellen. das englische machen extensiv von etymolo-
Das einzige Kriterium für die Beurteilung der gischen Schreibungen Gebrauch; d. h. sie ope-
relativen Ökonomie eines Schriftsystems ist rieren auch auf der morphologischen oder
somit das Inventar der Grundzeichen, das in lexikalischen Ebene der Sprachrepräsenta-
der Evolution der Schrift nach Reduktion tion. Auch das läuft der von Gelb angenom-
strebt. Da Wörter in allen Sprachen zahlrei- menen U nidirektionalität der Entwicklung
cher sind als Silben und letztere wiederum zuwider, wenn nicht nur ein unterstellter ka-
zahlreicher als Phoneme, geht die Entwick- nonischer Wert der Schriftzeichen außerhalb
lung zwangsläufig und unumkehrbar von der jedes Verwendungskontexts in Betracht ge-
Wortschrift über die Silbenschrift zur Alpha- zogen wird.
betschrift: „Schrift entwickelte sich in einer Auch wenn Gelbs Grammatologie einige
bestimmten Richtung“ (Gelb 1963, 201). allgemeine Entwicklungstendenzen deutlich
Ideographische bzw. logographische Systeme werden läßt, ist sein Vorhaben, alle wichtigen
erfordern mehrere hundert Zeichen, Silben- Erscheinungen in der Geschichte der Schrift
schriften zwischen 50 und 120 und Alphabet- auf die Neigung zur Vereinfachung und Öko-
schriften zwischen 20 und 40. Aufgrund die- nomisierung zurückzuführen, zu ehrgeizig.
ser rein numerischen Eigenschaften können Eine theoretische Begründung dafür, daß die
Schriftsysteme Systemtypen zugeordnet wer- Speicherung und Verarbeitung einer so gro-
den. ßen Anzahl von Zeichen, wie sie für ein lo-
Diese Typen müßten folgerichtig als Evo- gographisches System notwendig sind, für
lutionsstufen dargestellt werden. Dies wird den menschlichen Organismus ein prinzipiell
von Gelb emphatisch bejaht, von anderen anderes Problem darstellt als die Speicherung
Theoretikern jedoch in Frage gestellt. Ein be- und Verarbeitung lautsprachlicher Wörter,
sonderes Problem in diesem Zusammenhang bleibt er schuldig. Dies ist eine Schwäche sei-
stellen die westsemitischen Schriften mit ihrer ner Theorie, da die unterstellte quasi-natür-
Betonung von Konsonanten dar (→ Art. 20) liche Neigung zur Verringerung des Zeichen-
und, wie schon erwähnt, die ägyptische inventars auf dieser Annahme beruht.
Schrift (→ Art. 19). Nach Anzahl und Ab- Ein weiterer Kritikpunkt, der sich gegen
straktheitsniveau gehören Konsonantenzei- Gelbs Theorie richtet, ist der von Harris
chen Alphabetschriften an. Diese sind je- (1986) erhobene Vorwurf, sie reflektiere in zu
doch nach Gelbs Auffassung von der ägyp- starkem Maß die durch die Alphabetschrift
tischen Schrift abgeleitet. Seine evolutionisti- vorgegebene Perspektive, die es verhindere,
sche Theorie zwingt ihn dazu, die ägyptische die geschichtliche Entwicklung graphischer
Schrift als Wort-Silben-Schrift und die Zei- Kommunikation sui generis zu sehen, da
chen der westsemitischen Schriften als sylla- durch sie die Aufmerksamkeit allein auf den
bisch mit unbestimmter Vokalqualität zu Lautbezug schriftlicher Zeichen gelenkt wer-
klassifizieren. Dies steht im Widerspruch zu de. Harris treibt seine Forderung nach einer
der Behauptung, die ägyptische Schrift habe nicht durch die alphabetische Brille gefärbten
schon auf der frühesten Stufe Monokonso- Geschichte der Schrift freilich für die meisten
nantenzeichen enthalten (Ray 1986, 314). Theoretiker unakzeptabel weit, wenn er, sei-
Gelbs Theorie wird nicht allgemein akzep- nerseits teleologisch argumentierend, andeu-
tiert. Problematisch ist insbesondere, daß sie tet, daß die Entwicklung auf die Befreiung
der Anzahl der Grundzeichen und den sprach- vom Bezug zur Lautsprache ziele.
lichen Einheiten, mit denen sie gemäß ihres Auf andere Weise als in Gelbs Theorie wird
Typs korrelieren, zu viel Gewicht beimißt und der Sprachbezug schriftlicher Zeichen als we-
deren Funktionsweise innerhalb des Systems, sentlicher Faktor der Schriftgeschichte dar-
zu dem sie gehören, zu wenig. DeFrancis gestellt, wo die Bedeutung der Übertragung
(1989) Beschreibung der chinesischen Schrift von Schriftsystemen auf andere Sprachen her-
als eines tendenziell syllabischen Systems, vorgehoben wird (z. B. Coulmas 1989). Trotz
dessen schwache Laut-Zeichen-Korrelation mehrtausendjähriger Verwendung änderten
durch semantische Determinative ausgegli- das ägyptische und das chinesische Schrift-
chen werden muß, läßt sich mit Gelbs evo- system ihren Typ nicht. Mit ihnen wurde stets
lutionistischer Sicht nicht vereinbaren. Ähn- dieselbe Sprache dargestellt. Anders das su-
15.  Theorie der Schriftgeschichte 263

merische System, von dem angenommen 6. Rückblick und Ausblick


wird, daß es die Stufe umfassender Phoneti-
sierung erst erreichte, als es zur Wiedergabe Angesichts der Vielfalt der im Laufe der Ge-
einer anders strukturierten Sprache herange- schichte entstandenen Schriftsysteme fällt es
zogen wurde, nämlich dem im Gegensatz zum schwer, ihre komplexen Entwicklungen auf
agglutinierenden Sumerisch flektierenden Ak- ein einziges Prinzip, das der Ökonomisierung
kadisch (Damerow, Englund & Nissen 1988). des Zeichenbestands, zu reduzieren und Gelbs
Nichts deutet daraufhin, daß Vereinfachungs- Auffassung zu folgen, nach der die Entwick-
tendenzen die Entwicklung der inneren Syste- lung zwangsläufig auf das einfachste und zu-
matik der ägyptischen und chinesischen gleich universelle Schriftsystem zustrebte. Wie
Schrift beeinflußten. Im Gegenteil, im Laufe alle Schriftsysteme weist auch das Alphabet
der Zeit nahm die Komplexität dieser Systeme Spuren der Anpassung an die Sprachen auf,
durch die Proliferation von Determinativen für deren Wiedergabe es entstand, und seine
und die Ausdehnung des Zeichenbestands zu. Verwendung für die Darstellung mancher
Eine reine Silbenschrift entstand aus der chi- Sprachen hat zu höchst komplexen Systemen
nesischen Schrift erst, als sie für die Darstel- geführt. Aus diesem Grund ist Harris For-
lung einer typologisch und strukturell sehr derung nach einer Geschichte der Schrift, die
andersartigen Sprache verwendet wurde: die gänzlich vom Lautsprachbezug absieht, nicht
japanischen Kana. Chinesisch gehört dem iso- weniger schwer zu akzeptieren. Der Sprach-
lierenden Typ an, Japanisch dem agglutinie- bezug muß ein zentraler Aspekt jeder Dar-
renden. Auch der Schritt zur vollen Alpha- stellung der Schriftgeschichte sein. Statt völ-
betschrift zeugt nicht von Gelbs Ökonomie- lige Autonomie oder völlige U nabhängigkeit
prinzip. Die Wiedergabe des Griechischen zu unterstellen und alle Phänomene in den
mittels der phönizischen Schrift resultierte in vorgegebenen Rahmen einer unidirektionalen
einer Schrift mit systematischerer Vokaldar- Entwicklung zu integrieren, muß die Ge-
stellung, nicht, wie oft zu lesen ist, in Vo- schichte der Schrift die Art des Sprachbezugs
kalschreibung überhaupt. Die semitischen analytisch präsizieren, um die unterschiedlich
Schriften hatten verschiedene Möglichkeiten großen Anteile von Laut- und Bedeutungs-
der Vokaldarstellung, die freilich oft nicht bezug am Funktionieren der verschiedenen
angewandt wurden. Da im Griechischen, an- Schriftsysteme zu erklären sowie Verschie-
ders als in den semitischen Sprachen, nicht bungen zwischen beiden im Laufe ihrer Ent-
allein Konsonanten semantische Wurzeln ver- wicklung.
körpern, war die systematische Wiedergabe
von Vokalen dringlicher. Dieser Prozeß ist
7. Literatur
jedoch kaum als Vereinfachung oder Öko-
nomisierung zu charakterisieren, da sich der Bloomfield, Leonard. 1933. Language. New York.
Zeichenbestand dadurch nicht verringert, Boltz, W. G. 1986. Early Chinese writing. World
sondern geringfügig vergrößert hat. Was sich Archeology 17, 420—436.
hier zeigt, ist vielmehr die Abhängigkeit der Cohen, Marcel. 1958. La grande invention de
Schriftentwicklung von einzelsprachlichen l’écriture et son évolution. Paris.
Struktureigenschaften. Coulmas, Florian. 1989. The writing systems of the
Vereinfachungstendenzen sind in der world. Oxford.
Schriftgeschichte gewiß vielfach zu beobach-
Damerow, Peter, Englund, Robert K. & Nissen,
ten; aber Gelbs evolutionistische Theorie mißt
Hans J. 1988. Die Entstehung der Schrift. Spek-
der Größe des Zeichenbestands der Schrift-
trum der Wissenschaft (Februar), 74—85.
systeme zu viel Bedeutung bei. Die Funktio-
nen, denen die Systeme dienen, ignoriert er DeFrancis, John. 1984. The Chinese language —
demgegenüber weitgehend. Wenn die Ge- Fact and fantasy. Honolulu.
schichte der Schriften in ihren jeweiligen —. 1989. Visible speech. The divers oneness of
Funktionszusammenhängen untersucht wird, writing systems. Honolulu.
treten Tendenzen in den Vordergrund, die der Diringer, David. 1968. The alphabet: A key to the
von Gelb unterstellten U nidirektionalität der history of mankind. Third edition. New York.
Entwicklung widersprechen. Durch das Öko- Ehlich, Konrad. 1983. Development of writing as
nomieprinzip können allenfalls partielle Ent- social problem solving. In: Coulmas, Florian &
wicklungen einzelner Schriftsysteme erklärt Ehlich, Konrad (ed.), Writing in focus. Berlin et
werden, nicht aber die Geschichte der Schrift al., 99—129.
als solche.
264 III. Schriftgeschichte

Faber, A. 1990. Phonemic segmentation as epiphe- thought and action. Berlin, 41—58.
nomenon: Evidence from the history of alphabetic Lüdtke, H. 1969. Die Alphabetschrift und das Pro-
writing. Haskins Laboratories Status Report on blem der Lautsegmentierung. Phonetica 20, 147—
Speech Research SR 101/102, 28—40. 176.
Feldbusch, Elisabeth. 1985. Geschriebene Sprache Lurker, M. 1980. The gods and symbols of ancient
— U ntersuchungen zu ihrer Herausbildung und Egypt. London.
Grundlegung ihrer Theorie. Berlin. Masson, E. 1984. L’écriture dans les civilizations
Gelb, Ignaz J. 1963. A study of writing. Second danubiennes néolithiques. Kadmos 23, 89—123.
edition, Chicago/London. Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro-
—. 1980. Principles of writing systems within the bert P. 1990. Frühe Schriften und Techniken der
frame of visual communication. In: Kolers, Paul Wirtschaftsverwaltung im alten Orient: Informa-
A. et al. (ed.), Processing of visible language vol. tionsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jah-
2. New York, 7—24. ren. (Ausstellungskatalog). Berlin.
Haarmann, Harald. 1989. Writing from Old Eu- Ray, J. D. 1986. The emergence of writing in Egypt.
rope to Ancient Crete — A case for cultural con- World Archeology 17, 307—316.
tinuity. The Journal of Indo-European Studies 17, Schmandt-Besserat, Denise. 1979. An archaic re-
251—275. cording system in the U ruk-Jedmet Nasr period.
Harris, Roy. 1986. The origin of writing. London. American Journal of Archeology 83, 19—48.
Jensen, Hans. 1969. Die Schrift in Vergangenheit —. 1981. From token to tablets: a re-evaluation of
und Gegenwart. 3. Auflage, Berlin. the so called ‘numerical tablets’. Visible language
Linell, Per. 1988. The impact of literacy on the 15, 321—344.
conception of language: The case of linguistics. In: Vachek, Josef. 1973. Written language. Den Haag.
Säljö, R. (ed.), The written world: Studies in literate
Florian Coulmas, Tokio (Japan)

16. Forerunners of Writing

1. Tallies numbers were invented and recorded on clay


2. Tokens tablets with pictographic writing (about 3,100
3. Sumerian Pictographic Tablets to 3,000 B. C.).
4. Conclusion
5. References
1. Tallies
In prehistory, as now, the economy deter- The earliest artifacts considered as possibly
mined the development of systems of data related to counting in the Middle East are
storage and communication. That observa- bone awls, engraved with a series of strokes
tion becomes clear in tracing the forerunners (cf. fig. 16.1 on plate I). The earliest notched
of writing. Archaeological evidence recovered bones of that kind were discovered in two
in the Middle East suggests that, in that re- Lebanese Paleolithic sites (Tixier 1976, Cope-
gion, from approximately 15,000 to 3,000 land & Hours 1977) dated ca. 15,000—12,000.
B. C., record-keeping devices developed in Those objects continued to be used in the
three major stages, which correspond to three Fertile Crescent through the Mesolithic pe-
different forms of economy and three distinct riod and beyond. It is possible that such bone
modes of counting. Hunters-gatherers used artifacts are tallies, counting devices with each
tallies for counting in one-to-one correspon- stroke standing for one unit of whatever was
dence (about 15,000 to 8,000 B. C.); as the being counted.
agricultural economy developed, farmers in- As the simplest mnemonic device, one
vented a system of clay counters for account- stroke on a bone probably represented one
ing (about 8,000 to 3,100 B. C.). These coun- unit of an item, two strokes stood for two
ters suited an archaic system of computing, units, three strokes for three units, etc. Which
tying numbers of the commodities counted. is to say that accounting was handled in a
As cities and states began to appear, abstract
264 III. Schriftgeschichte

Faber, A. 1990. Phonemic segmentation as epiphe- thought and action. Berlin, 41—58.
nomenon: Evidence from the history of alphabetic Lüdtke, H. 1969. Die Alphabetschrift und das Pro-
writing. Haskins Laboratories Status Report on blem der Lautsegmentierung. Phonetica 20, 147—
Speech Research SR 101/102, 28—40. 176.
Feldbusch, Elisabeth. 1985. Geschriebene Sprache Lurker, M. 1980. The gods and symbols of ancient
— U ntersuchungen zu ihrer Herausbildung und Egypt. London.
Grundlegung ihrer Theorie. Berlin. Masson, E. 1984. L’écriture dans les civilizations
Gelb, Ignaz J. 1963. A study of writing. Second danubiennes néolithiques. Kadmos 23, 89—123.
edition, Chicago/London. Nissen, Hans J., Damerow, Peter & Englund, Ro-
—. 1980. Principles of writing systems within the bert P. 1990. Frühe Schriften und Techniken der
frame of visual communication. In: Kolers, Paul Wirtschaftsverwaltung im alten Orient: Informa-
A. et al. (ed.), Processing of visible language vol. tionsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jah-
2. New York, 7—24. ren. (Ausstellungskatalog). Berlin.
Haarmann, Harald. 1989. Writing from Old Eu- Ray, J. D. 1986. The emergence of writing in Egypt.
rope to Ancient Crete — A case for cultural con- World Archeology 17, 307—316.
tinuity. The Journal of Indo-European Studies 17, Schmandt-Besserat, Denise. 1979. An archaic re-
251—275. cording system in the U ruk-Jedmet Nasr period.
Harris, Roy. 1986. The origin of writing. London. American Journal of Archeology 83, 19—48.
Jensen, Hans. 1969. Die Schrift in Vergangenheit —. 1981. From token to tablets: a re-evaluation of
und Gegenwart. 3. Auflage, Berlin. the so called ‘numerical tablets’. Visible language
Linell, Per. 1988. The impact of literacy on the 15, 321—344.
conception of language: The case of linguistics. In: Vachek, Josef. 1973. Written language. Den Haag.
Säljö, R. (ed.), The written world: Studies in literate
Florian Coulmas, Tokio (Japan)

16. Forerunners of Writing

1. Tallies numbers were invented and recorded on clay


2. Tokens tablets with pictographic writing (about 3,100
3. Sumerian Pictographic Tablets to 3,000 B. C.).
4. Conclusion
5. References
1. Tallies
In prehistory, as now, the economy deter- The earliest artifacts considered as possibly
mined the development of systems of data related to counting in the Middle East are
storage and communication. That observa- bone awls, engraved with a series of strokes
tion becomes clear in tracing the forerunners (cf. fig. 16.1 on plate I). The earliest notched
of writing. Archaeological evidence recovered bones of that kind were discovered in two
in the Middle East suggests that, in that re- Lebanese Paleolithic sites (Tixier 1976, Cope-
gion, from approximately 15,000 to 3,000 land & Hours 1977) dated ca. 15,000—12,000.
B. C., record-keeping devices developed in Those objects continued to be used in the
three major stages, which correspond to three Fertile Crescent through the Mesolithic pe-
different forms of economy and three distinct riod and beyond. It is possible that such bone
modes of counting. Hunters-gatherers used artifacts are tallies, counting devices with each
tallies for counting in one-to-one correspon- stroke standing for one unit of whatever was
dence (about 15,000 to 8,000 B. C.); as the being counted.
agricultural economy developed, farmers in- As the simplest mnemonic device, one
vented a system of clay counters for account- stroke on a bone probably represented one
ing (about 8,000 to 3,100 B. C.). These coun- unit of an item, two strokes stood for two
ters suited an archaic system of computing, units, three strokes for three units, etc. Which
tying numbers of the commodities counted. is to say that accounting was handled in a
As cities and states began to appear, abstract
16.  Forerunners of Writing 265

manner of one-to-one correspondence. This ulated, those objects shared the same unspe-
in turn may suggest that at that time, as seems cificity as the bone tallies.
common in simple societies, people probably These rudimentary techniques of counting
did not have a concept for numbers, but un- and record-keeping demonstrate the limited
derstood collections as a series of discon- need that these early societies had for data
nected entities (“one” and “one” and “one”) processing because they did not accumulate
instead of as coherent sets (cardinal numbers large numbers of goods and, perhaps more
“1”, “2”, “3”) (Schmandt-Besserat 1987). The importantly, individuals of egalitarian socie-
Vedda of Sri Lanka is a modern example of ties have equal access to the common re-
a culture that “counted,” but without any sources.
idea of cumulative amounts and had no
words to express numbers. For example, they
counted coconuts by matching each coconut 2. Tokens
with a twig. As they added each twig to the A system of clay counters — tokens — re-
pile, they would say “and one more” until presents the first unequivocal archaeological
their collection of coconuts was exhausted. evidence for accounting in the prehistoric
Then they would point to the pile of twigs Middle East (Schmandt-Besserat 1990). To-
and say “that many.” (Menninger 1977, 33). kens were small clay artifacts, about 1—3 cm
The function of the Paleolithic notched across, modeled into various geometric or
bones will never be known. Alexander Mar- naturalistic shapes, such as cones, spheres,
shack (1972) theorized that the incised mark- disks, tetrahedrons, cylinders, triangles, ves-
ings represented lunar notations. Although sels, animals, etc. Some of the counters were
his theory has been met by criticism (D’Errico marked with incised lines or punctations (cf.
1989), it is a reasonable supposition because fig. 16.2 on plate I).
calendrical data would have made it possible Tokens, dated from about 8,000 B. C. to
for groups of hunters and gatherers to meet about 3,000 B. C., have been found at ar-
at certain times and places for ritual and chaeological sites from Syria to Iran, and
exchange of women and goods. Thus, the from Turkey to Palestine. The earliest ap-
bone artifacts may suggest that some of the pearance of these objects coincided with the
earliest record-keeping was related to time beginning of the domestication of cereals in
reckoning. the Middle East, two developments which
If indeed these are tallies, the incised bones seem directly related (Schmandt-Besserat
represent a first landmark in the evolution of 1991). It is logical to assume that agriculture
data processing for they demonstrate that marks the time when accounting became a
during the Paleolithic period, humans knew matter of survival, as livelihood came to rely
how to abstract data in three ways in order on the hoarding of large amounts of foods,
to store, manipulate and communicate infor- and of putting aside quantities of seeds for
mation. The tallies translated concrete infor- the next crops. The first farmers had to de-
mation into abstract marks (one sighting of velop a system of record-keeping to determine
the moon was shown by one incision); re- how much they could use to make their pro-
moved the data from its context (the same duce last until the next harvest and how many
incisions were used to show one sighting of seeds needed to be put aside for the next
the moon whether the night was clear or planting. More significantly, agriculturalists
rainy); and the tallies separated, for the first are held to have initiated an economy of
time, the knowledge from the knower (instead redistribution. It can be hypothesized, there-
of the spoken word, data was presented in a fore, that the role of the tokens was control-
static, visual form with unprecedented objec- ling the communal goods. On the one hand,
tivity). they were used to keep track of the input of
The tallies had major inadequacies. The individuals into the common granaries, and
incisions on the bones did not indicate which on the other hand, to record the redistribution
item was being counted and did not allow for of these goods by the leadership of the com-
counting more than one item at a time. Each munity.
account called for a new tally. During that The tokens introduced an entirely new con-
same period, humans probably also used such cept of data storage and communication, for
objects as pebbles, twigs or shells to keep each token shape (cone, sphere, etc.) was en-
count of things they considered important. dowed with a particular meaning. For ex-
And although they were more easily manip- ample, a cone stood for a small measure of
266 III. Schriftgeschichte

grain; a sphere stood for a large measure of entity required citizens to contribute to the
grain; and a cylinder represented an animal. temple, where the goods were stored and later
Even more importantly, the new accounting redistributed. The volume of accounting in-
device was a system , an extensive organiza- volved in keeping track of the income and
tion of related counters. Then it became pos- outgo of the temple warehouses became so
sible to manipulate different categories of great that the archaic token system collapsed
items simultaneously. This development al- and was replaced by writing. And the clay
lowed for a high degree of complexity in data tablets, the writing vehicle, also showed the
processing and permitted the system to grow first sign of abstract counting.
by adding new token shapes as needed The transition from the three-dimensional
(Schmandt-Besserat 1988). The token system token system to two-dimensional writing on
was the first code, the first system of signs tablets can be documented step by step
used to convey information. (Schmandt-Besserat 1980). Starting about
The token system accomodated an archaic 3,300 B. C., envelopes (hollow clay balls, 5 to
way of computing, which we call “concrete 10 cm in diameter) were invented and used
counting”, that predated the invention of ab- to contain the small clay tokens of a partic-
stract numbers. At this stage, the idea of the ular transaction (cf. fig. 16.3 on plate I). Some
number is combined with that of the item of the envelopes had signs impressed on the
being counted, using specific numerations to outside which corresponded to the shapes of
count different items. This method of reck- the tokens within (cf. fig. 16.4 on plate I).
oning is known in both the New and Old These markings made it possible to check at
Worlds in such societies as the Tzeltals of all times the number and types of tokens held
Mexico (Berlin 1968, 20) or the Gilyaks on in the envelopes. Once the system of signs
the River Amur. The Gilyaks used as many was generally understood, it made the pres-
as 24 classes of numbers. They expressed ence of the tokens in the envelopes unneces-
“two” by different numerical codes in each sary.
of the following examples: 2 spears = “mex”; Thus, the invention of the envelopes ush-
2 arrows = “mik”; 2 houses = “meqr”; 2 ered in a totally new system: the envelopes
hands = “merax”; 2 boards = “met”; 2 boots were flattened into clay tablets and the token
= “min”; 2 sledges = “mir”; etc. (Diakonoff symbols were impressed, w r i t t e n , on them
1983, 88). (cf. fig. 16.5 on plate I). Styluses were sub-
Thus, concrete counting explains the to- sequently used to trace the signs with more
kens of many different shapes. And, in turn, precision (cf. fig. 16.6 on plate I).
the token system illustrates that before the The first signs of writing on the tablets
invention of abstract numbers, record-keep- were in the shapes of the tokens. Other im-
ing required a multiplicity of special counters portant features that the pictographic tablets
corresponding to a multiplicity of numera- inherited from the tokens were: (1) Semantic-
tions to count goods. ity: Each pictograph was meaningful and
The token system, which coincided with communicated information; (2) Discreteness:
agriculture, the storage of goods and an econ- the information conveyed was specific and
omy of redistribution, suggests that such in- each pictograph, as well as each token, con-
novations brought pressure on accounting. veyed a unique meaning. For example, the
The counters of many shapes point out that incised oval, like the former ovoid token,
the first farmers mastered the notion of car- represented a unit of oil; (3) Systematization:
dinality, but counted concretely. In other each token and each pictograph were re-
words, they had no conception of numbers peated systematically so that they carried the
existing independently of grain and animals same meaning each time they were used (as
that could be applied to either without ref- incised oval always meant the same measure
erence to the other. This invention of clay of oil); (4) Codification: The token system
symbols was the first means of supplementing and the first repertory of written signs had
language by a code and was the direct pre- many interrelated elements. While the im-
cursor of writing. pression of a cone stood for a small measure
of grain, the impression of spheres repre-
sented a larger measure of grain, and the
3. Sumerian Pictographic Tablets incised sketch of an ovoid stood for a jar of
The first state emerged in Sumer (present-day oil, etc. Thus, writing could also deal simul-
Iraq) in about 3,300 B. C. That new political taneously with information about different
items; (5) Openness: the system of written
16.  Forerunners of Writing 267

signs, like that of tokens, could be expanded 4. Conclusion


as needed by creating new shapes. The signs
could also be combined to form sets, which Before the invention of agriculture, hunters-
made it possible to store unlimited amounts gatherers had little use for reckoning. Record-
of information about any number of items; keeping was probably limited to keeping track
(6) Independence of phonetics: just as tokens of time by tallying bones and was done by
were word signs representing units of goods, the method of one-to-one correspondence.
written signs were also independent of spoken Data processing became important with the
language and phonetics. Thus, they could be first domestication of cereals and the estab-
understood by many people speaking differ- lishment of an economy of redistribution.
ent languages; (7) Syntax: written signs were Thus, the neolithic farmers invented a token
arranged in lines of the same kind with the system to keep track of staple goods, suitable
largest units at the right. It is presumable that to the mode of concrete counting.
tokens were manipulated according to the With the rise of cities, industrial develop-
same rules; (8) Economic contents: tokens, ments increased the need for data storage and
like the earliest written texts, dealt only with accounting, and stretched the capacity of the
information about real goods. It was not until token system. As states developed, pressure
about 2,900 B. C. that writing began being on the accounting systems rose and the token
used to record historical events and religious system collapsed with the invention of ab-
hymns. stract numbers. Pictographic writing evolved
Writing eliminated most of the inadequa- then from the previous system.
cies of the token system by bringing about The forerunners of writing: tallies and es-
accounting innovations. First, writing ended pecially tokens, give a new perspective on the
the one-to-one correspondence by introduc- evolution of communication in prehistory.
ing special signs to express abstract numbers They point out that, when writing began in
for “one, two, three ...” As a result, 60 jars Mesapotamia, it was not a sudden, sponta-
of oil was no longer represented by 60 sym- neous invention, as previously thought, but
bols, but by a sign for “60”, and a sign for the outgrowth of many thousands of years’
“jar of oil.” The sign for “1” came from the worth of experience at manipulating signs.
cone, and was indicated by short wedge. The The earliest script inherited from tallies a
sign for “10” was a circular sign depicting a method of abstracting data and from tokens
sphere. The sign for a “60” was a large wedge fundamental aspects in form, content and
deriving from a large cone. U nlike the units structure. Furthermore, the forerunners of
of concrete counting, which were different for writing give new insights into the nature of
each product, the abstract numerals were used writing. They establish that, in the Near East,
to count any item. writing emerged from a counting device and
Secondly, pictography consisted of se- that, in fact, writing was the by-product of
quences of signs fixed permanently on the abstract counting. When the concepts of
face of the tablet instead of loose counters, numbers and that of items counted were ab-
more cumbersome to store and transport. stracted, the pictographs were no longer con-
Typically, the pictographic texts indicated the fined to indicating numbers of units of goods
kinds of goods transacted, the number of in one-to-one correspondence. With the in-
units, and the name of the sponsor/recipient. vention of numerals, pictography was no
So, information was recorded as “10 sheep longer restricted to accounting, but could
(received from/delivered to) X” The names of open to other fields of human endeavor. From
individuals were recorded phonetically, lead- then on, writing could become phonetic and
ing to the development of a syllabary (→ develop into the versatile tool that it is today,
art. 18). able to store and convey any possible idea.
The third stage in the evolution of record- The invention of abstract numerals was the
keeping was ushered in with the formation of beginning of mathematics, it was also the
states. Especially, the economy of redistribu- beginning of writing. Lastly, tallies and to-
tion, which required the Sumerians to deliver kens also raise new questions concerning the
surplus produce to the temple, caused the end essence of writing. Was the first script of the
of the token system. The pictographic tablets Near East unique in deriving from a counting
indicate the emergence of modern accounting device? Or is literacy universally tied to nu-
with abstract numbers and phonetic writing. meracy? Is numeracy a prerequisite for liter-
acy?
268 III. Schriftgeschichte

5. References ber Symbols. Cambridge, Mass.


Schmandt-Besserat, Denise. 1980. The Envelopes
Berlin, Brent. 1968. Tzeltal Numéral Classifiers.
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Paris 1968.
ture 21, 357—385.
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—. 1982. The Emergence of Recording. American
graved and Plain Bone Tools from Jiita (Lebanon)
Anthropologist 84, 871—878.
and Their Early Kebaran Context. Proceedings of
the Prehistoric Society 43, 295—301. —. 1987. Oneness, Twoness, Threeness. The
Sciences 27, 44—45.
Diakonoff, Igor. M. 1983. Some Reflections on
Numerals in Sumerian Towards a History of Math- —. 1988. Tokens at U ruk. Baghdader Mitteilungen
ematical Speculations. Journal of the American 19, 1—175.
Oriental Society 103, 83—93. —. 1990. Accounting in the Prehistoric Middle
D’Errico, F. 1980. Paleolithic Lunar Calendars: A East. Archeomaterials 4, 15—23.
Case of Wishful Thinking. Current Anthropology —. 1992. Before Writing. Austin.
30, 117. Texier, J. 1974. Poinçon décoré du Paléolithique
Flegg, Graham. 1983. Numbers, Their History and Supérieur à Ksar’/Aqil (Liban). Paleorient 2, 187—
Meaning. New York. 192.
Marshack, Alexander. 1972. The Roots of Civili- Denise Schmandt-Besserat, Austin,
zation. New York. Texas (USA)
Menninger, Karl. 1977. Number Words and Num-

17. Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis

1. Alteuropäische Zivilisation und Schrift kalen Gesellschaft mit fortgeschrittener Ar-


2. Das Problem alteuropäischer Kontinuität in beitsteilung, urbaner Siedlungsweise und re-
der ägäischen Schriftkultur ligiösen Zentren organisiert war. Die Alteu-
3. Die Anfänge der griechischen Schriftkultur ropäer waren nichtindogermanischer Her-
(Linear B) kunft. Im Mittelpunkt ihres religiösen Lebens
4. Die Linearschriften Altzyperns stand die Verehrung der ‘Großen Göttin’,
5. Einflüsse ägäischer Schriftsysteme auf den einer Naturgöttin mit vielfältigen Funktio-
Entstehungsprozeß des Alphabets nen. In Alteuropa wurden Regenkulte, Ve-
6. Literatur getationsriten und ein ausgeprägter Ahnen-
kult praktiziert.
Die Chronologie alteuropäischer Fund-
1. Alteuropäische Zivilisation schichten war lange unsicher, und das Ab-
und Schrift stecken eines zeitlichen Rahmens gelang erst
Die Begriffe ‘Alteuropa’ und ‘alteuropäisch’ durch die Kalibrierung älterer, unzuverlässi-
stammen aus der Archäologie, wo sie von M. ger Radiokarbondaten durch Kontrollwerte
Gimbutas (1974) eingeführt worden sind. Da- der Dendrochronologie (Baumringaltersbe-
mit werden die neolithischen und chalkolithi- stimmung) in den siebziger Jahren. Die erste
schen Kulturen im Donauraum bezeichnet, vollständige Chronologie Alteuropas wurde
die bereits im 6. Jahrtausend v. Chr. einen von Gimbutas (1989, 332 mit einer Detail-
zivilisatorischen Entwicklungsstand erreich- übersicht) erarbeitet. Zu den Errungenschaf-
ten, wie er für Mesopotamien erst im 4. Jahr- ten des Chalkolithikums (Stein-Kupfer-Zeit)
tausend v. Chr. typisch ist. Aus einer gemein- in Südosteuropa gehört der Gebrauch einer
samen europäisch-anatolischen Kulturschicht Linearschrift, deren Anfänge auf die Zeit um
des Neolithikums vollzog sich in Alteuropa 5300 v. Chr. zurückgehen. Beschriftete Ob-
— schneller als in Kleinasien — der Wandel jekte, von denen die meisten im zentralen
zu einer frühen Zivilisation. Die Zivilisation Kulturareal des Vinča-Komplexes (benannt
Alteuropas wurde von einer seßhaften, Ak- nach dem Hauptfundort südlich von Belgrad)
kerbau treibenden und Metall verarbeitenden gefunden worden sind, sind bereits seit dem
Bevölkerung getragen, die in einer matrifo- vergangenen Jahrhundert bekannt. Ihre histo-
rische Einordnung war aber solange nicht
268 III. Schriftgeschichte

5. References ber Symbols. Cambridge, Mass.


Schmandt-Besserat, Denise. 1980. The Envelopes
Berlin, Brent. 1968. Tzeltal Numéral Classifiers.
that Bear the First Writing. Technology and Cul-
Paris 1968.
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17. Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis

1. Alteuropäische Zivilisation und Schrift kalen Gesellschaft mit fortgeschrittener Ar-


2. Das Problem alteuropäischer Kontinuität in beitsteilung, urbaner Siedlungsweise und re-
der ägäischen Schriftkultur ligiösen Zentren organisiert war. Die Alteu-
3. Die Anfänge der griechischen Schriftkultur ropäer waren nichtindogermanischer Her-
(Linear B) kunft. Im Mittelpunkt ihres religiösen Lebens
4. Die Linearschriften Altzyperns stand die Verehrung der ‘Großen Göttin’,
5. Einflüsse ägäischer Schriftsysteme auf den einer Naturgöttin mit vielfältigen Funktio-
Entstehungsprozeß des Alphabets nen. In Alteuropa wurden Regenkulte, Ve-
6. Literatur getationsriten und ein ausgeprägter Ahnen-
kult praktiziert.
Die Chronologie alteuropäischer Fund-
1. Alteuropäische Zivilisation schichten war lange unsicher, und das Ab-
und Schrift stecken eines zeitlichen Rahmens gelang erst
Die Begriffe ‘Alteuropa’ und ‘alteuropäisch’ durch die Kalibrierung älterer, unzuverlässi-
stammen aus der Archäologie, wo sie von M. ger Radiokarbondaten durch Kontrollwerte
Gimbutas (1974) eingeführt worden sind. Da- der Dendrochronologie (Baumringaltersbe-
mit werden die neolithischen und chalkolithi- stimmung) in den siebziger Jahren. Die erste
schen Kulturen im Donauraum bezeichnet, vollständige Chronologie Alteuropas wurde
die bereits im 6. Jahrtausend v. Chr. einen von Gimbutas (1989, 332 mit einer Detail-
zivilisatorischen Entwicklungsstand erreich- übersicht) erarbeitet. Zu den Errungenschaf-
ten, wie er für Mesopotamien erst im 4. Jahr- ten des Chalkolithikums (Stein-Kupfer-Zeit)
tausend v. Chr. typisch ist. Aus einer gemein- in Südosteuropa gehört der Gebrauch einer
samen europäisch-anatolischen Kulturschicht Linearschrift, deren Anfänge auf die Zeit um
des Neolithikums vollzog sich in Alteuropa 5300 v. Chr. zurückgehen. Beschriftete Ob-
— schneller als in Kleinasien — der Wandel jekte, von denen die meisten im zentralen
zu einer frühen Zivilisation. Die Zivilisation Kulturareal des Vinča-Komplexes (benannt
Alteuropas wurde von einer seßhaften, Ak- nach dem Hauptfundort südlich von Belgrad)
kerbau treibenden und Metall verarbeitenden gefunden worden sind, sind bereits seit dem
Bevölkerung getragen, die in einer matrifo- vergangenen Jahrhundert bekannt. Ihre histo-
rische Einordnung war aber solange nicht
17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis 269

möglich, wie eine gesicherte Datierung ihres von der altsumerischen Piktographie zur su-
Kulturmilieus fehlte. merischen Silbenschrift.
Das sensationell hohe Alter der alteuro- Ein Vergleich der Schriften des Altertums
päischen Schriftdokumente ist unabhängig offenbart nur ein System, das nach der äu-
voneinander von Winn (1981), Masson (1984) ßeren Struktur seiner Zeichen, nach den Pro-
und Haarmann (1989) bestätigt worden. Vom portionen von motivierten und abstrakten
ausgehenden 6. Jahrtausend bis zur Mitte des Symbolen sowie nach der Kürze der Inschrif-
4. Jahrtausends v. Chr. wurde die alteuropäi- ten den alteuropäischen Verhältnissen ähnelt.
sche Linearschrift verwendet (s. eine allge- Dies ist die Indus-Schrift des 3. Jahrtausends
meine Einführung in Haarmann 1990 a, 70 ff). v. Chr. (Parpola 1986). Es sind dies typolo-
Die meisten der bisher bekannten Dokumente gische Ähnlichkeiten, ohne daß von einer hi-
sind aus der Zeit vor und nach 4000 v. Chr. storischen Abhängigkeit der einen von der
überliefert. Es handelt sich dabei insbeson- anderen Schriftkultur auszugehen wäre. Ein
dere um beschriftete weibliche Tonfiguren Charakteristikum sowohl der alteuropäischen
(Idole), Figuren von Opfertieren (z. B. Wid- als auch der Indus-Schrift ist die Anwendung
der), Tonware (Kultschalen, Libationsgefäße, der „diakritischen“ Technik zur Variation von
Votivgaben), Spinnwirtel, Webgewichte und Grundzeichen (und zwar mittels Punkten oder
Siegel (s. Abb. 17.1; weitere Illustrationen bei Strichen). Diese Technik ist ein wichtiges
Haarmann 1990 a, 74 ff, Typologie bei Haar- organisatorisches Instrumentarium für die
mann 1994, Kap. 1). Strukturierung des alteuropäischen Schrift-
Die meisten Inschriften sind kurz und be- systems. Es lassen sich zahlreiche Zeichen-
stehen nur aus ein, zwei oder drei Zeichen. gruppen klassifizieren, die aus einem Grund-
Es gibt allerdings auch längere Sequenzen mit zeichen, dessen einfachen oder komplexen Va-
mehr als zehn Einzelzeichen (Beispiele bei riationen sowie Zusammensetzungen beste-
Winn 1981, 139 ff). Es besteht kein Zweifel, hen.
daß es sich hierbei um Schriftzeichen handelt, Die Art der beschrifteten Objekte, die kul-
denn das relativ beschränkte Symbolinventar turelle Einbettung der Fundstücke sowie de-
der alteuropäischen dekorativen Kunst unter- ren vorwiegende Verbreitung an Kultstätten
scheidet sich von der Schrift deutlich durch lassen auf einen sakral-rituellen Charakter
die rigide Stilisierung seiner Grundmotive und der alteuropäischen Schrift schließen. Der
eine klare Tendenz zu ornamentaler Symme- archäologische Befund weist dieser Schrift
trie. Bisher sind knapp über 230 Einzelzeichen keine nennenswerten praktisch-wirtschaftli-
der alteuropäischen Schrift identifiziert wor- chen Funktionen zu. Eine Ausnahme sind
den (Gesamtinventar bei Haarmann 1994, Ta- Gewichte, in deren Beschriftung Ansätze
belle 32). Rund ein Drittel des Symbolreper- einer praktischen Verwendung zu erkennen
toires besteht aus Zeichen mit piktographisch- sind. Die Anbringung der Zeichensequenzen
ideographischem Charakter, in anderen Zei- auf Kultgegenständen lassen Weihinschriften
chen kann man eine hochgradige Stilisierung oder Beschwörungsformeln vermuten. In en-
ursprünglich wohl naturalistischer Symbole gem Zusammenhang damit sind Inschriften
erkennen. Bei der Mehrzahl der Schriftzei- auf Tongefäßen zu sehen, die man an Sied-
chen handelt es sich um abstrakte Symbole lungsplätzen gefunden hat. Deren Inhalt
(z. B. V- und Winkelzeichen, Kreuz, Dreieck, dürfte dem magischer Formeln zur erhofften
Kreis und Halbkreis, Quadrat). Langlebigkeit des Gefäßes sowie zur Segnung
Nach der Chronologie der Inschriften ist seines Gebrauchs entsprechen (Winn 1981,
der Gebrauch piktographisch-ideographi- 237). Magische Formeln finden sich wohl
scher Zeichen typisch für die älteste Periode, auch auf Webgewichten und durchbohrten
obwohl auch in der Spätphase motivierte Anhängern, die sich in ihrer Größe von den
Symbole vorkommen. Dagegen werden arbi- beschrifteten Gewichten unterscheiden und
träre Symbole, die bereits von Anbeginn ver- die man unschwer als Amulette deuten kann.
treten sind, in der Spätphase häufiger (Winn Die Schrifttradition in Alteuropa hat keine
1981, 101 ff). Der archäologische Befund er- erkennbaren Vorläufer gehabt. Dies bedeutet
laubt allerdings nicht die Annahme einer in- einerseits, daß in den Donaukulturen keine
ternen U mstrukturierung der alteuropäischen Spuren eines vorschriftlichen Gebrauchs von
Schrift von einer Variante der Logographie Symbolen festzustellen ist, ähnlich etwa dem
mit überwiegend piktographischen Symbolen System der Zählsteine ( calculi ) in Mesopota-
zu einer Variante der Phonographie mit ab- mien, die das Vorstadium zum Schriftbesitz
strakten Symbolen wie im Fall des Wandels markieren (→ Art. 16). Zum anderen muß
270 III. Schriftgeschichte

Abb. 17.1: Beschriftete Objekte der Vinča-Kultur (aus Haarmann 1990: 73—76)
17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis 271

man wegen des hohen Alters der beschrifteten in mehreren Wellen immer weiter nach Westen
Objekte davon ausgehen, daß die alteuropäi- und Südwesten vor und eroberten die Zentren
sche Schrift eine autochthone Entwicklung der alteuropäischen Zivilisation. Die vorin-
ist, also kein Kulturimport von außerhalb dogermanische Bevölkerung wurde vertrieben
Europas sein kann. Ein Vergleich mit den oder paßte sich den neuen Machtverhältnis-
zeitlich späteren Schrifttraditionen des Alten sen an. Für die Zeit um 3500 v. Chr. zeigt der
Orients und Ägyptens zeigt außerdem weder archäologische Befund den endgültigen Ab-
hinsichtlich des ikonischen Materials noch be- bruch der alteuropäischen Kulturtraditonen
züglich der Organisationsprinzipien nennens- im einstigen Kernland. Auch die Schrift wird
werte Parallelismen. danach nicht mehr verwendet.
In Alteuropa waren auch vor der Schrift-
verwendung keine Töpferzeichen in Ge-
brauch. Diese Verhältnisse ähneln denen in 2. Das Problem
Mesopotamien, wo auch keine Töpferzeichen alteuropäischer Kontinuität
aus der Zeit vor U ruk IV bekannt sind. Es in der ägäischen Schriftkultur
kann vermutet werden, daß einige der alteu- Das unvermittelte Aufblühen der Kykladen-
ropäischen Zeichen, die sich auf dem Boden kultur um 3200 v. Chr., deren Kulturmuster
von Tongefäßen finden, Töpfermarken sind. direkt an die alteuropäischen Traditionen an-
Dies aber war mit Sicherheit eine Nebenfunk- knüpfen, läßt nur einen Schluß zu, daß näm-
tion, denn die meisten Schriftzeichen sind am lich die indogermanische Invasion des Fest-
oberen Rand und auf dem Bauch der Ton- landes eine Flüchtlingsbewegung beachtli-
gefäße eingeritzt, also an Stellen, die für
Töpfermarken nicht in Betracht kommen. chen Ausmaßes an die Küsten der Ägäis und
Töpferzeichen werden in Europa erst in der in den Inselarchipel ausgelöst hat. Im 3. Jahr-
frühen Bronzezeit (3. Jahrtausend v. Chr.) tausend v. Chr. setzt auch der Schriftgebrauch
häufiger (s. u.). wieder ein, und zwar mit den Siegeln aus
Lerna (Peloponnes) und der beschrifteten
Sucht man nach Ähnlichkeiten für diese Tonware aus Phylakopi (Melos; Renfrew
sakral-rituellen Funktionen der alteuropäi- 1972, 183 ff). Die Zeichen stammen aus dem
schen Schriftkultur, so findet man sie im alteuropäischen Repertoire, darunter ist auch
Schriftgebrauch Altchinas. Dort diente die das Hakenkreuz (Haarmann 1994, Kap. 3).
Schrift ebenfalls rituellen Zwecken. Sämtliche Töpferzeichen aus der frühen Bronzezeit sind
Inschriften der späten Shang-Zeit, deren äl- ebenfalls an verschiedenen Siedlungsplätzen
teste aus der Zeit vom Ende des 13. Jahrhun- in Südgriechenland und auf den Kykladenin-
derts v. Chr. stammen (Keightley 1978), fin- seln gefunden worden.
den sich auf Gegenständen, die im Dienst Am stärksten war der Einfluß der alteu-
divinatorischer Praktiken standen (auf ropäischen Migranten auf die Entwicklung
Hirschknochen und Schildkrötenpanzern). der minoischen Zivilisation Altkretas. Der
Die Schrift diente der Kommunikation zwi- Zustrom von Siedlern vom griechischen Fest-
schen Menschen und göttlichen Wesen, wozu land im Verlauf der ersten Hälfte des 3. Jahr-
in Altchina Gottheiten wie auch gottgleiche tausends v. Chr. läßt sich archäologisch nach-
Ahnen gerechnet wurden. Als deren Vermitt- weisen. In jene Zeit, d. h. in die Vorpalastpe-
ler fungierte in China wie in den Donaukul- riode, fällt auch der Gebrauch der ältesten
turen eine mächtige Priesterkaste. Der sakrale linearen Zeichen auf Kreta, unter anderem
Charakter der Schriftverwendung erklärt des Doppelaxtzeichens (Rutkowski 1986). Die
auch, weshalb sich der Zeichenbestand über kretische Hieroglyphenschrift ist etwas später,
lange Zeiträume hinweg stabil und wenig ver- nämlich mit den Siegelinschriften vom Ende
ändert erhalten hat. Dies gilt für das Zeichen- des 3. Jahrtausends v. Chr., dokumentiert;
repertoire der Shang-Zeit ebenso wie für die also reicht die Entwicklung des linearen
Linear-Schrift in Alteuropa. Schriftsystem weiter zurück. Dies entspricht
In den östlichen Randzonen des alteuro- auch den Bedingungen der kulturellen Kon-
päischen Kulturareals (Moldawien und West- tinuität von Alteuropa bis Altkreta. Erst vor
ukraine) war es schon vor 4000 v. Chr. zu kurzem hat eine Gesamtinventarisierung der
Kontakten mit den indogermanischen Vieh- Parallelismen im Zeichenbestand der alteu-
züchternomaden, den Trägern der Kurgan- ropäischen Schrift und von Linear A die en-
Kultur, gekommen. Im 4. Jahrtausend v. Chr. gen historischen Bindungen zwischen beiden
drangen indogermanische Reiterhorden aus Systemen offenbart (Haarmann 1989, figure
den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres
272 III. Schriftgeschichte

2, mit Ergänzungen in Haarmann 1994, Tab. 3. Die Anfänge der griechischen


99). Schriftkultur (Linear B)
In über 60 Einzelzeichen (entsprechend
etwa 50%) des Inventars von Linear A ma- Griechische Siedler gelangten erst um 2000
nifestiert sich deutlich deren alteuropäische v. Chr. in ihre bronzezeitlichen Wohnsitze auf
Herkunft. Diese Proportionen ähneln denen dem Festland. Als ein äußeres Zeichen dafür,
im Vergleich zwischen Linear A und Linear daß sie Nachzügler der frühen Völkerwan-
B (s. u.). Die Parallelen erschöpfen sich nicht derung in Südosteuropa waren, kann der U m-
im graphischen Repertoire, sondern betreffen stand interpretiert werden, daß das Wort für
auch die Organisationsprinzipien der Schrift- ‘Meer’ im Griechischen ( thalassa ) sowie an-
systeme. Hierzu gehört der lineare Charakter dere nautische Termini aus der Sprache der
der Zeichen, die Anwendung der diakritischen vorgriechischen (= nichtindogermanischen)
Technik zur Variation von Basiszeichen sowie Bevölkerung entlehnt wurden. Hunderte von
die Gewohnheit, Schriftzeichen in Ligaturen vorgriechischen Lehnwörtern im Griechi-
zu schreiben, eine Tradition, die für Linear B schen sowie zahlreiche nichtgriechische Orts-
nicht mehr typisch ist. Der lineare Schriftge- und Gewässernamen legen Zeugnis von den
brauch Altkretas folgt der Tradition Alteu- Spuren der vorindogermanischen Besiedlung
ropas auch darin, daß Linear A überwiegend Griechenlands und der Ägäis ab (Katičić
sakral-rituelle Funktionen übernimmt. Die 1976, 55 ff). Von Anbeginn stand die Kultur-
Beschriftung von weiblichen Tonfiguren und entwicklung der frühen Griechen unter kre-
Nachbildungen von Opfertieren auf Kreta tisch-minoischem Einfluß. Als Ergebnis des
zählt ebenfalls zum alteuropäischen Kultu- Fusionsprozesses von einheimischem und mi-
rerbe. Zu den kretischen Innovationen der noischem Kulturerbe entfaltete sich die Hoch-
Schriftkultur gehören praktische Verwendun- kultur der mykenischen Griechen im 16. Jahr-
gen, wie sie etwa im Fall beschrifteter Ton- hundert v. Chr.
plomben zur Versiegelung von Gefäßen nach- Zwar war den Mykenern die kretische Li-
gewiesen sind (Haarmann 1994, Kap. 4). nearschrift bereits auf dem Festland bekannt,
Die Hieroglyphen sind ebenfalls eine kre- für ihre Muttersprache adaptierten sie Linear
tische Innovation. Entgegen früheren Annah- A aber erst nach der Besetzung des nördlichen
men, wonach die Linearschrift eine Ableitung Kreta. Bald nach 1500 v. Chr. war Linear B
aus diesem System sei (Raison & Pope 1971), vollständig ausgebildet (Hooker 1979). Die
sprechen die chronologischen Verhältnisse der ältesten griechischen Texte in dieser Schrift-
Kulturkontinuität dagegen (s. o.). Vielmehr variante stammen aus der Zeit um 1450
ist davon auszugehen, daß die Hieroglyphen- v. Chr., und zwar aus den Palastarchiven von
schrift eine Parallelentwicklung zur Linear- Knossos. Linear B mit seinen etwas mehr als
schrift ist, wobei der ältere lineare Zeichen- achtzig Silbenzeichen und seinem Bestand an
schatz selektiv integriert wurde. Die kreti- Ideogrammzeichen ist eine vereinfachte Ver-
schen Hieroglyphen fungierten vorrangig als sion des älteren Systems Linear A, das mehr
Zeremonialschrift, ähnlich den ägyptischen als 120 Einzelzeichen umfaßte. Ob es sich
Hieroglyphen. Exemplarisch kann man dies auch bei letzterem um eine Silbenschrift han-
am Schriftgebrauch des Diskos von Phaistos delt, ist trotz der Studien von Best (1972,
erkennen, dessen ritueller Spiraltext im Zu- 1988) unsicher.
sammenhang mit dem Ahnenkult stand (s. Die meisten Dokumente in Linear B sind
Haarmann 1990 b, 216 ff). Die Hieroglyphen- Tontafeln, die ursprünglich ungebrannt
schrift und Linear A stehen zwar entwick- waren, und ihr Inhalt war daher nicht dazu
lungsmäßig in einer chronologischen Abhän- bestimmt, für eine längere Zeit aufbewahrt zu
gigkeit zueinander, nicht aber hinsichtlich ih- werden. Deshalb enthalten die Tafeln, die
rer regionalen Verwendung (Brice 1990). Viel- man in den Archiven von Knossos, Khania,
mehr ist für verschiedene Orte (z. B. für Phai- Mykene, Tiryns, Pylos und in anderen my-
stos oder Hagia Triada) eine literarische Di- kenischen Zentren gefunden hat, auch größ-
glossie anzunehmen, wobei die Hieroglyphen- tenteils Texte (Inventarlisten der Palastbüro-
schrift als H-Variante zeremonielle Funktio- kratie), die historisch belanglos sind (Hooker
nen erfüllte, während Linear A als L-Variante 1980, Appendix). Die Tafeln sind durch einen
anderen Zwecken diente (z. B. der Inventari- günstigen Zufall erhalten: sie wurden im
sierung von Opfergaben für religiöse Feste). Feuer der zerstörten Paläste gebrannt. Inter-
essanter sind Weihinschriften und Eigentums-
17.  Der alteuropäisch-altmediterrane Schriftenkreis 273

vermerke in Linear B, die auf mykenische bet in Zypern zur Schreibung des Griechi-
Vasen gemalt wurden. Hier kommt der ei- schen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. schließlich
gentlich kursive Charakter dieses Schriftsy- kommt die kyprisch-syllabische Schrift außer
stems zum Tragen. Gebrauch. Damit endet die jahrtausendealte
Tradition autochthoner linearer Schriftsy-
steme in Europa.
4. Die Linearschriften Altzyperns
Kretische Kulturgüter fanden ihren Weg auch 5. Einflüsse ägäischer Schriftsysteme
ins östliche Mittelmeer, nach Zypern und in
die Küstenstädte Syriens. U garit (das heutige auf den Entstehungsprozeß
Ras Schamra) war der wichtigste west-östli- des Alphabets
che U mschlagplatz. Die kulturelle Institution Angesichts der Variationsbreite linearer
Schrift war den Bewohnern Zyperns bereits Schriftsysteme in der Ägäis und auf Zypern
im ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. be- während der Bronzezeit kann es nicht ver-
kannt, ein einheimisches Schriftsystem war wundern, daß sich Nachklänge dieser Schrift-
aber erst nach 1600 v. Chr. voll ausgebildet. kultur sowohl im ägäischen Raum als auch
Die kypro-minoische Schrift reflektiert in er- außerhalb, nämlich in Kleinasien und im Na-
ster Linie den Einfluß von Linear A, zusätz- hen Osten finden. Beschriftete Objekte aus
lich auch der kretischen Hieroglyphen. Da- dem ägäischen Raum gelangten schon um die
neben gibt es auch einige alteuropäisch-zy- Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr. in
prische Parallelismen ohne Beteiligung von den Nahen Osten (Buchholz 1969). Der li-
Linear A. Die ältesten Dokumente in Kypro- neare Zeichenbestand der Byblos-Schrift wie
Minoisch stammen aus Enkomi. Diese Texte auch diejenigen Buchstaben des phönizischen
sind in einer nicht näher bekannten Sprache Alphabets, für die keine semitischen Namen
(Eteokyprisch) aufgezeichnet, die weder in- überliefert sind, weisen auf Parallelen zum
dogermanischer noch semitischer Herkunft alteuropäisch-ägäischen Zeichenschatz (→
war. Es werden zwei Varianten des Kypro- Art. 25). Die Entstehung des semitischen „U r-
Minoischen unterschieden, eine ältere (Ky- alphabets“ ist insofern das Ergebnis eines Fu-
pro-Minoisch I) und eine jüngere (Kypro- sionsprozesses, in dem sich ägyptischer, sy-
Minoisch II) mit reduziertem Zeichenbestand risch-palestinischer und ägäischer Kulturein-
(Masson 1987). Eine regionale Variante des fluß spiegeln.
Kypro-Minoischen ist das in Texten aus U ga- Fusionsprozesse ähnlicher Art sind auch
rit dokumentierte Levanto-Minoisch. später bei der Adaption des phönizischen Al-
Das Kypro-Minoische repräsentiert eine phabets für das Griechische zu beobachten.
fortgeschrittenere Stufe der Schriftentwick- Die nichtphönizischen Zusatzzeichen des grie-
lung als Linear A oder Linear B, weil es chischen Alphabets (phi, khi, psi), das im
ausschließlich aus Silbenzeichen besteht, d. h. Milieu der griechisch-minoischen Kultursym-
keine Ideogrammzeichen verwendet. Dies biose auf Kreta entstanden ist, rekrutieren
trifft auch auf das jüngste zyprische Schrift- sich aus dem ägäischen linearen Zeichenbe-
system zu: Kyprisch-Syllabisch. Dieses Sy- stand. Mehr als ein Drittel der Buchstaben
stem ist seit Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr. des karischen Alphabets des 6. Jahrhunderts
dokumentiert. Damit wurden Eteokyprisch v. Chr. sind phonetisch umgedeutete zypri-
und Griechisch, die Sprache der aus Arkadien sche Silbenzeichen (Haarmann 1990 a, 430).
eingewanderten Siedler, geschrieben. Diese Adaptionen von ägäisch-zyprischen Linear-
Schriftart lehnt sich an das Kypro-Minoische zeichen zur Ergänzung von Buchstaben für
und an die ältere kretische Linearschrift an. im Griechischen fehlende Laute ist auch für
Es gibt auch bemerkenswerte Reminiszenzen andere regionale Schriftarten in Kleinasien
in der Organisationsstruktur zum alteuropäi- charakteristisch (z. B. Lydisch, Lykisch).
schen Zeichensatz (Haarmann 1994, Kap. 5). Zum ägäischen Kulturerbe der Proto-
Linear B spielte keine dominierende Rolle für Etrusker gehören auch Anklänge an die äl-
die Entwicklung des Kyprisch-Syllabischen, teren Linearschriften. Zwar wurde das Al-
wie früher angenommen wurde. Texte in ky- phabet in einer westgriechischen Variante
prisch-syllabischer Schrift werden erst im 6. übernommen, ein Sonderzeichen (für [f]) und
Jahrhundert v. Chr. häufiger. Im Verlauf des die Zahlzeichen aber sind ein Relikt aus den
4. Jahrhundert v. Chr. rivalisieren das einhei- Zeiten ägäischer Schriftkultur (Haarmann
mische Kyprisch-Syllabische und das Alpha- 1994, Kap. 8). Über etruskische Vermittlung
274 III. Schriftgeschichte

sind die meisten dieser Zahlzeichen in den System. Berlin/New York.


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18. Die sumerisch-akkadische Keilschrift

1. Allgemeines Südmesopotamien beheimatetes Schriftsy-


2. Keilschriftsprachen stem, das von der späten U ruk-Zeit (ca.
3. System und Umschrift 3200 v. Chr.) bis zum Beginn der christlichen
4. Schriftträger, Schreibtechnik, Textgestaltung Ära in Gebrauch war. Die modernen Bezeich-
5. Aspekte antiker Keilschriftphilologie nungen (Edzard 1976—80, § 1) beziehen sich
6. Ursprung und Geschichte auf die charakteristischen, „keil“- oder „na-
7. Schriften im Umkreis der Keilschrift gel“-förmigen Zeichenelemente, die schon
8. Literatur früh ältere Ritzlinien ersetzten. Vorausset-
zung für die Entzifferung (Friedrich 1966,
44—57) der sum.-akk. KS war die auf der
1. Allgemeines Deutung von Titeln und Namen beruhende
Die Keilschrift (im folgenden KS) ist ein in 274
274 III. Schriftgeschichte

sind die meisten dieser Zahlzeichen in den System. Berlin/New York.


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18. Die sumerisch-akkadische Keilschrift

1. Allgemeines Südmesopotamien beheimatetes Schriftsy-


2. Keilschriftsprachen stem, das von der späten U ruk-Zeit (ca.
3. System und Umschrift 3200 v. Chr.) bis zum Beginn der christlichen
4. Schriftträger, Schreibtechnik, Textgestaltung Ära in Gebrauch war. Die modernen Bezeich-
5. Aspekte antiker Keilschriftphilologie nungen (Edzard 1976—80, § 1) beziehen sich
6. Ursprung und Geschichte auf die charakteristischen, „keil“- oder „na-
7. Schriften im Umkreis der Keilschrift gel“-förmigen Zeichenelemente, die schon
8. Literatur früh ältere Ritzlinien ersetzten. Vorausset-
zung für die Entzifferung (Friedrich 1966,
44—57) der sum.-akk. KS war die auf der
1. Allgemeines Deutung von Titeln und Namen beruhende
Die Keilschrift (im folgenden KS) ist ein in 274
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 275

Entzifferung der altpersischen KS (s. u. Zf. Tradition, die sich überwiegend in Bau- und
7.8.; → Art. 29)) durch G. Grotefend zu Be- Weihinschriften manifestiert.
ginn des 19. Jahrhunderts. Das daraus ge-
wonnene Textverständnis wurde auf die ela- 2.4.  Hauptsprache der an Gattungen reichen
mischen und babylonischen Versionen achä- Schriftkultur des kleinasiatischen Hethiterrei-
menidischer Inschriften angewandt. Entschei- ches (16.—13. Jh.) ist das indoeuropäische
dend für die weiteren Fortschritte (H. Raw- Hethitische (Kammenhuber 1969 a). Einge-
linson, E. Hincks, E. Botta, J. Oppert u. a.) bettet ins hethitische Schrifttum sind Texte in
war die Erkenntnis, daß das Babylonisch-As- den verwandten Sprachen Luwisch und Pa-
syrische eine semitische Sprache ist (I. Lö- laisch sowie in (Proto-)Hattisch (Kammen-
wenstern), zu deren Deutung man bekannte huber 1969 b), einer älteren Sprache unbe-
Sprachen wie Hebräisch, Aramäisch und Ara- kannter Zugehörigkeit, und in Hurritisch
bisch heranziehen konnte. Die KS diente, so- (2.5.).
weit erkennbar, zunächst zur Wiedergabe des
Sumerischen, erfuhr ihre systematische Ver- 2.5.  Das mit dem U rartäischen (2.6.) ver-
vollkommnung in der Anpassung an das ty- wandte und weiter vielleicht zum Nordost-
pologisch wie phonologisch sehr verschiedene kaukasischen gehörige Hurritische (Friedrich
Akkadische und wurde dann auf weitere 1969; Diakonoff 1971; Diakonoff & Starostin
Sprachen übertragen. Das vollständig ausge- 1986; Wilhelm 1989) ist seit dem Beginn des
prägte KS-System ist eine Kombination aus 2. Jahrtausends in verschiedenen eigenstän-
Wort- und Silbenschrift. Wichtige wissen- digen Schreibtraditionen faßbar; spätere
schaftliche Darstellungen aus neuerer Zeit (15.—13. Jh.) Zentren sind das hurritische
bieten Gelb 1963 und Edzard 1976—80 (beide Mittani-Reich selbst, von dessen Archiven ein
mit ausführlicher Bibliographie). in El-Amarna (Ägypten) gefundener Königs-
brief zeugt, Emar, Ugarit und Boğazköy.
2. Keilschriftsprachen 2.6.  Die Sprache des um den Van-See gele-
genen Reiches U rartu (Friedrich 1969; Dia-
2.1.—2.  Die Hauptsprachen der KS-Kultur konoff 1971; Diakonoff & Starostin 1986;
sind das Sumerische und das Akkadische. Das Wilhelm 1986) ist in Bau- und Weihinschrif-
Sumerische (Thomsen 1991), eine genealo- ten aus dem 8.—7. Jahrhundert überliefert.
gisch nicht sicher anknüpfbare, agglutinie-
rende Ergativsprache, erlosch etwa zu Beginn 2.7.  Das U garitische, meist in einem eigenen
des 2. Jahrtausends, wurde aber als logogra- Alphabet (7.4.) geschrieben, ist keilschriftlich
phische Komponente des Schriftsystems so- durch lexikalische Texte, Glossen und ein li-
wie als Literatur- und Kultsprache bis zum terarisches Fragment dokumentiert (Hueh-
Ende der KS-Kultur weitertradiert. Das Ak- nergard 1987).
kadische ist die nach dem Reich von Akkade
(24.—22. Jh.) benannte semitische Sprache 2.8.  Das normalerweise alphabetisch ge-
Mesopotamiens (dialektübergreifende Gram- schriebene Aramäische (7.4.) ist keilschriftlich
matik: von Soden 1969); die Sprachstufe der durch eine Beschwörungstafel aus dem seleu-
mesopotamischen Schriftdenkmäler des 3. kidischen U ruk vertreten (Dupont-Sommer
Jahrtausends (Gelb 1961) wird zusammenfas- 1942—44).
send als „Altakkadisch“ bezeichnet; engstens
verwandt (und hier im Terminus „Akkadisch“
inbegriffen) ist das Semitische der etwa ins 2.9.  Innerhalb der mesopotamischen Be-
24. Jahrhundert datierenden KS-Texte aus schwörungsliteratur begegnen fremdsprachli-
dem syrischen Tell Mardīḫ — Ebla (Fronza- che — soweit erkenntlich: elamische und hur-
roli 1982). Vom Beginn des 2. Jahrtausends ritische — Passagen (van Dijk, Goetze & Hus-
an unterscheidet man die Hauptdialekte (Alt/ sey 1985, 3 f).
Mittel/Neu-)Babylonisch und (Alt/Mittel/
Neu-)Assyrisch. 2.10.  Lexikalische Texte (Cavigneaux 1980—
83) tradieren neben Sumerisch und Akkadisch
2.3.  Für das in der Gegend von Susa gespro- auch andere Sprachen: Kassitisch, Hethitisch,
chene, vielleicht mit den Drawida-Sprachen Hurritisch, Ugaritisch, Ägyptisch.
verwandte Elamische (Grillot-Susini 1987) be-
stand seit altakk. Zeit eine einheimische KS- 2.11.  Akk. Texte aus anderssprachigem Mi-
lieu (nordwestsemitisch, hurritisch, ägyptisch)
276 III. Schriftgeschichte

enthalten fremde Wörter, die oft durch „Glos- Zeichens.


senkeil“ (3.4.6.) markiert sind. Das Akkadi-
sche selbst zeigt in solchen Gebieten fremde 3.1.2.  Homophone Werte verschiedener Zei-
Einflüsse in Lexikon, Morphologie und Syn- chen werden durch Indizes unterschieden, die
tax. Zur keilschriftlichen Überlieferung nord- das jeweilige Zeichen identifizieren; der Index
westsemitischer Sprachen s. Sivan 1984; zu 1 wird nicht ausgedrückt, anstelle der Indizes
hurritischen Substratwirkungen im Akkadi- 2 und 3 werden meist Akut bzw. Gravis ge-
schen von Nuzi vgl. Wilhelm 1970; eine setzt; U 1 = U, U 2 = Ú, U 3 = Ù, U 4 , U 5 sind
neuere Zusammenfassung des keilschriftlich also 5 verschiedene Zeichen mit Lesung /U/.
überlieferten ägyptischen Materials (zuletzt
Ranke 1910) fehlt; stellvertretend für zahlrei- 3.1.3.  Transliteration in Kleinbuchstaben
che Einzelbeiträge vgl. Edel 1980 mit Lit. deutet an, daß ein Zeichenwert konkret-laut-
lich gemeint ist und gegebenenfalls der Spra-
2.12.  Die keilschriftliche Überlieferung vieler che des betreffenden Textes angehört. Anson-
Sprachen beschränkt sich auf Eigennamen; sten benutzt man Großbuchstaben: z. B. für
sie bilden z. B. die Hauptquelle für das Amur- Zeichennamen oder logographische Werte,
ritische, die Sprache(n) der im 3. und 2. Jahr- die nicht der Sprache des betreffenden Textes
tausend nach Mesopotamien eindringenden angehören. Sumerisch wird im Druck übli-
semitischen Nomaden (Knudsen 1991 mit cherweise gesperrt gesetzt, andere Sprachen
Lit.). kursiv. Kleingeschriebene, lautliche Konsti-
tuenten eines Wortes werden gewöhnlich
durch Bindestrich, Bestandteile von Logo-
3. System und Umschrift grammen durch Punkt miteinander verbun-
Charakteristisch für das voll entwickelte KS- den.
System sind Multifunktionalität und Polyva-
lenz der Zeichen: Ein Zeichen kann als Wort- 3.1.4.  Hochgestellt werden gewöhnlich De-
zeichen (Logogramm) oder Lautzeichen terminative, phonetische Komplemente und
(Phonogramm) verwendet werden; statt eines Glossen (3.4.5.).
einzigen Zeichens treten in diesen Funktionen
auch Zeichengruppen auf. Ferner können be- 3.1.5.  Zur Beschreibung der Struktur zusam-
stimmte Logogramme als semantische Klas- mengesetzter Zeichen benutzt man + und ×.
sifikatoren (Determinative) dienen. Die mei- Das Pluszeichen symbolisiert enges Zusam-
sten Zeichen haben mehrere Wort- und Sil- mentreten oder Ligatur zweier Zeichen, das
benwerte. Multiplikationszeichen besagt, daß das zweite
Zeichen in das erste eingeschrieben ist.
3.1. Umschrift
3.1.6.  Neben der Zeichen-für-Zeichen-Trans-
Die für die KS entwickelten U mschrift-Kon- literation wird — besonders für das phono-
ventionen ergeben sich aus den besonderen logisch und morphologisch am besten rekon-
Überlieferungs- und Sprachverhältnissen. Sie struierbare Akkadische — auch eine zusam-
weichen teilweise deutlich von den sonst in menhängende U mschrift verwendet (vgl. von
diesem Handbuch üblichen Auszeichnungs- Soden 1969, 8 f). Sie wird hier zur U nterschei-
verfahren ab. dung von transliterierten Zeichen zwischen
Die wissenschaftliche Transliteration der Schrägstriche gesetzt.
KS ist so konzipiert, daß sie einerseits inter-
pretiert, d. h. jedem Zeichen gemäß Kontext 3.2. Anzahl der Zeichen
Funktion und Wert zuweist, andererseits aber
die Identität des Zeichens erkennen läßt. Die Der gebräuchliche Zeichenbestand variiert
für die Transliteration verbindlichen Zeichen- nach Zeit, Region, Sprache und Textgattung.
werte sind in modernen Zeichenlisten (s. 6.4.) Die Summe aller je belegten selbständigen
zusammengestellt; Zeichen unbekannter Le- Zeichen (die Grenze zwischen aus einzelnen
sung (vorwiegend aus frühen Schriftepochen) Zeichen bestehenden Logogrammen und zu-
werden durch ihre Nummern in einschlägigen sammengesetzten Zeichen ist bisweilen un-
Zeichenlisten identifiziert. scharf) dürfte auf etwa 900 zu veranschlagen
sein. Das voll entwickelte System des 2. und
3.1.1.  Als moderne Zeichennamen benutzt 1. Jahrtausends umfaßt ca. 600 selbständige
man die gebräuchlichste(n) Lesung(en) eines Zeichen, doch kommen die meisten Texte mit
viel weniger aus: z. B. werden für die syllabi-
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 277

sche Wiedergabe des Akkadischen in altba- wie k a „Mund“ etc. ausschließt. Als sum.
bylonischer Graphie nur etwa 110 Zeichen Form ist /duga/ ein mit Morphem -/a/ gebil-
gebraucht. detes „Partizip“ von /dug/. In der ältesten
akk. Orthographie können auch syllabisch ge-
3.3. Zeichenfunktionen schriebene akk. Wörter wie Sumerogramme
behandelt und zum Ausdruck des Plurals ver-
3.3.1. Logogramme doppelt werden. Das hethitische Schriftsy-
stem verwendet als Wortzeichen neben Su-
Zeichen oder Zeichengruppen, die ein Wort merogrammen auch Akkadogramme (sylla-
repräsentieren, ohne dieses (primär) lautlich bisch dargestellte akk. Wörter).
wiederzugeben, werden Wortzeichen oder Lo-
gogramme genannt. So steht etwa G U D , das 3.3.2. Zahlzeichen
Bild eines Rinderkopfes, für sum. /gud/ oder
(mit Abfall des auslautenden Verschlußlautes) Es gibt allgemeine und spezielle Zahlzeichen;
/gu/ „Rind“, transliteriert g u d bzw. g u 4 . In letztere drücken zugleich ein bestimmtes Maß
nicht-sum. Texten steht das Zeichen für das aus. Die sprachliche Realisierung von Aus-
jeweilige Äquivalent des sum. Wortes, also drücken aus Zahl, Maß und Gemessenem
z. B. für akk. /alpum/ und dessen Flexions- bleibt wegen der formelhaft-logographischen
formen. Sum. Wortwerte in nicht-sum. Kon- Notation oft unsicher.
text werden als „Sumerogramme“ bezeichnet;
sie werden meist ergänzt durch die tatsächli- 3.3.3. Determinative
che Lesung (in gebundener U mschrift), also Ein Determinativ ist ein lautsprachlich nicht
z. B. alpum ( G U 4 ) oder G U 4 ( alpum ) im realisiertes Logogramm, das ein logogra-
Nominativ Singular, alpim ( G U 4 ) oder G U 4 phisch oder syllabisch dargestelltes Wort einer
( alpim ) im Genitiv. Sehr viele Zeichen haben semantischen Klasse zuweist. Die Deter-
mehrere Wortwerte: z. B. steht das Zeichen minativsetzung wurde wohl zur U nterschei-
K A für k a „Mund“, z ú „Zahn“, g ù „Stim- dung verschiedener Bedeutungen eines Lo-
me“ i n i m „Wort“ d u g 4 / d u 11 „sprechen“ und gogramms konzipiert. Determinative beste-
deren Äquivalente. Neben einfachen gibt es hen aus einem einzigen Zeichen und reprä-
verschiedene Typen zusammengesetzter Lo- sentieren substantivische Begriffe: Personen
gogramme. So steht eine Kombination aus (Gott, Mann, Frau); Tiere (Vogel, Fisch,
U D „Tag“, „Sonne“ und D U „gehen“ für Boviden, Equiden); Pflanzen (Baum, Rohr,
è „herauskommen“ (akk. /waṣûm/); solche Kraut, Gras); unbelebte Materie (Stein, Me-
Kombinationen heißen nach dem Beginn tall); geographische Begriffe (Ort, Land,
einer einschlägigen lexikalischen Liste ( S I . A Fluß). Determiniert werden untergeordnete
= d i r i ) „Diri-Komposita“. Einige Kompo- Begriffe der einzelnen Gattungen und — ge-
sita enthalten ursprüngliche Lautindikatoren, gebenenfalls — aus dem entsprechenden Ma-
d. h. Elemente, die die Lesung andeuteten, wie terial verfertigte Gegenstände: so steht ĝ i š
G I Š und T Ú G in G I Š . P I . T Ú G = G È - „Baum/Holz“ vor Baumnamen und vor Be-
ŠT U G „Ohr“. Andere sind sogar gänzlich zeichnungen aus Holz verfertigter Gegen-
phonetisch strukturiert: meist handelt es sich stände.
um alte Rebus-Schreibungen ins Sumerische
entlehnter akk. Wörter: M A . NA = akk. / 3.3.4. Syllabogramme
manûm/ „Mine“; M A Š . E N. GAG = akk. Als Phonogramme verwendete KS-Zeichen
/muškênum/ (älter /muška' 'inum/) „Angehö- heißen „Syllabogramme“, da die so darge-
riger einer Gesellschaftsklasse“, das auf eine stellten Sprachsegmente Silben sind. Das
Rebus-Schreibung m a š - ga g - e n zurückgeht. Akkadische als semitische Sprache mit einem
Sumerogramme sind oft grammatisch struk- gut rekonstruierbaren Phonembestand spielte
turiert. So besteht E 2 . GA L , das Logo- eine entscheidende Rolle für den Ansatz der
gramm für akk. /ēkallum/ „Palast“ (sum. Lautwerte. Laut- und Silbenstrukturen an-
Lehnwort), aus E 2 „Haus“ und GA L „groß“, derer KS-Sprachen sind zunächst nur „durch
die auch als selbständige Logogramme ge- die Brille“ des Akkadischen erkenntlich. Die
braucht werden. Wenn das Zeichen K A als meisten syllabisch verwendeten Zeichen ha-
Logogramm D U G 4 für akk. /qabûm/ „spre- ben verschiedene Lautwerte, doch sind nicht
chen“ (sum. d u g 4 / d u 11 ) intendiert ist, wird alle gleichzeitig und am selben Ort gebräuch-
dies oft durch Zusatz von GA ( D U G 4 . GA lich. Die Silbenwerte eines Zeichens sind ent-
oder D U 11 .GA; phonetisches Komplement, weder phonetisch unabhängig ( U D = ud;
s. 3.4.5.) verdeutlicht, was andere Wortwerte tam ), oder phonetisch verwandt ( GA = ga,
278 III. Schriftgeschichte

kà, qá ; I G = ig, ik, iq, eg, ek, eq ; B I = bi, kadischen kein primäres Phonem) unterschie-
pi, bé, pé ; P I = wa, wi, we, wu ; N I M = nim, den. Die altsum. Lagaš-Texte differenzieren
num ). Primäre Quelle für Silbenwerte sind z. B. zwischen ì ( N I ) und e, b í ( N E ) und b é
sum. Lexeme: ga < sum. ga „Milch“, ig < ( B I ). Im akk. Syllabar existiert für /Ci(C)/
sum. i g „Tür“. Seit altakk. Zeit werden auch und /Ce(C)/ meist nur ein Zeichen (RI = ri,
Silbenwerte aus akk. Lexemen abstrahiert: re ; I R = ir, er ; Š I M = šim, šem); verschie-
sum. a 2 = akk. /idum/ „Arm“ > id ; sum. dene Zeichen haben i und e, bi und be, m i
s i k i l = akk. /ellum/ „rein“ > el ; sum. k u r und m e, ni und ne, ši und še, ti und te . Für
= akk. /mātum/ „Land“ > mat ; sum. n í ĝ /o/, dessen Rolle im Sumerischen und Akka-
„Sache“ = akk. /ša/ (Determinativ-, Relativ- dischen noch weiterer Klärung bedarf, gab es
pronomen) > šá . Die meisten Syllabogramme keine allgemeingültige Ausdrucksmöglich-
wurden von Anfang an für Gruppen phone- keit. Einige altbabylonische Texte aus Nippur
tisch verwendeter Silben gebraucht, deren dif- zeigen differenzierende Plene-Schreibungen:
ferenzierende Transliteration meist auf mo- Cu- u/u 4 = /Cō/, Cu-ú = /Cū/) (Westenholz
derner linguistischer Interpretation, nicht 1991). Differenzierung von /i/ und /e/, /u/ und
aber auf der Existenz kontrastierender Sylla- /o/ findet sich ferner in hurritischem Milieu,
bogramme beruht, s. unten (4) und (5). Später wo z. T. K I = /ki/ und G I = /ke/, Ḫ I =
wurden neue Silbenwerte auch durch stärkere /ḫi/ und Ḫ E = /ḫe/, G U = /ku/ und K U
lautliche Differenzierung aus bestehenden ge- = /ko/, Ú = /u/ und U = /o/ unterschieden
wonnen, wie z. B. lat, nat aus mat . Die wich- werden.
tigsten Eigenschaften der Syllabogramme (8) Vokalquantitäten wurden nicht durch
sind folgende: verschiedene Syllabogramme differenziert.
(1) Strukturtypen sind (C = Konsonant, v
= Vokal): v, Cv, vC, CvC, spät (besonders 3.3.5. Zur Unterscheidung von
neuassyrisch) auch (C)vCv. Logogrammen und Syllabogrammen
(2) v(C)-Syllabogramme vertreten altakk.
und in Ebla noch bestimmte Anlautkonso- Die Grenzen zwischen logographischer und
nanten: z. B. i = /yi/, /hi/, /ḥi/; ì = /’i/, /‛i/; syllabischer Funktion sind bisweilen, beson-
il = /’il/; il 2 = /yil/. Im späteren Akkadisch ders in der sum. Graphie, fließend. U m spo-
fallen ’, ‛, ḥ, h, ġ, z. T. auch w und y, in ’ radische auf Homophonie beruhende Rebus-
zusammen, das seinerseits nur bedingten Pho- Schreibungen von systematischer Lautschrift
nemcharakter hat und z. T. schwindet; die ge- zu unterscheiden, sollte der Begriff „Sylla-
bundene U mschrift berücksichtigt ’ im Wort- bogramm“ die Existenz eines frei verwend-
laut nicht. baren Syllabars voraussetzen. Z. B. wird sum.
(3) Im Sumerischen werden z. T. die dem Ak- t i (l) „leben“ regelmäßig mit dem Zeichen für
kadischen fremden Phoneme ĝ (etwa ŋ ) und t i „Pfeil“ geschrieben. Im Kontext der sum.
„dr“ (Affinitäten zu d und r, meist bloß r Normalgraphie wird man t i (l) „leben“ je-
transliteriert) von g bzw. r unterschieden: z. B. doch als Logogramm zu bewerten haben, da
ĝ á versus ga ; r á ( D U ) versus r a . dort Wortbasen primär logographisch dar-
(4) Ältere akk. Syllabare unterscheiden noch gestellt werden und t i (l) in der älteren sum.
ṯ und (Ebla) ḏ, die später mit š bzw. z zusam- Graphie nicht Teil eines frei verwendeten Syl-
menfallen: z. B. ŠA = /ṯa/, /ḏa/; SA = /ša/. labars ist.
(5) Ältere Syllabare (Ebla, altakk., altassy-
risch) unterscheiden bei Verschluß- und Zisch- 3.3.6. Interpunktionszeichen
lauten nicht zwischen stimmhaftem, stimm- Ein allgemeingültiges Interpunktionssystem
losem und emphatischem Vertreter einer hat die KS nicht ausgebildet. Frühe lexikali-
Reihe: z. B. GA = /ga/, /ka/, /qa/; Z A = / sche Texte beginnen die einzelnen Fächer mit
za/, /sa/, /ṣa/. Später werden Differenzierun- einem dem Zahlzeichen 1 entsprechenden
gen für fast alle Cv(C)-Werte geschaffen ( GA Griffeleindruck. Dasselbe Phänomen ist auch
= /ga/, K A = /ka/, Q A = /qa/), jedoch in einigen frühen literarischen Texten zu be-
nicht konsequent genutzt; undifferenzierbar obachten. Ein Worttrenner kommt altassy-
blieben z. B. /da/ und /ṭa/, /za/ und /ṣa/. risch in Gestalt eines kleinen, senkrechten
(6) Für silbenauslautende Konsonanten gab Keils vor. In späterer Zeit werden verschie-
es nie entsprechende Differenzierungen: I G dene Markierungszeichen (meist einfache
= /ig/, /ik/, /iq/, A Z = /az/, /as/, /aṣ/ etc. oder doppelte, kleine, schräge Keile) verwen-
(7) An Vokalqualitäten werden durchgehend det: z. B. um Glossen zu markieren („Glos-
/a/, /i/ und /u/ (manche CvC-Werte schwan- senkeil“), sich wiederholende Passagen abzu-
ken auch hier), bedingt /i/ und /e/ (im Ak-
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 279

kürzen, die Versionen zweisprachiger Texte zu Sachen — wird oft nicht eingehalten. M E /
trennen. Das Zahlzeichen 2 dient allein M E Š , gehen auf sum. -/meš/ „sie (Personen)
( M I N ) oder in Ligatur mit KI „Ort“ sind“ zurück; ḪI.A bedeutet eigentlich „ver-
( K I M I N ) als Wiederholungszeichen (auch mischte“, D I D L I „einzelne“. Der Gebrauch
unseren „Gänsefüßchen“ entsprechend). von M E Š wurde auch auf Verben ausge-
dehnt. (3) Logogramme können phonetisch
3.4. Zeichen im Kontext komplementiert werden: s. 3.4.4.
Die konkrete Anwendung der Möglichkeiten
des KS-Systems variiert nach Sprache, Zeit, 3.4.2. Schreibung von Zahlen und Maßen
Ort, und Textgattung. Innerhalb so definierter Zahl- und Maßausdrücke werden seit Ende
Bereiche herrscht jedoch weitgehende Regel- des 3. Jahrtausends nach einem Stellenwert-
mäßigkeit. system gebildet, das allerdings keine Null
kennt. Gewöhnliche Zahlen werden durch
3.4.1. Logographische Schreibweise Kombination dezimaler und hexagesimaler
Ausschließlich oder vorwiegend logogra- „Ziffern“ dargestellt, z. B. 83 = (1 × 60) +
phisch ist das Schriftsystem der ältesten (2 × 10) + (3 × 1). Sie können mit - À M , - B I
Schriftzeugnisse. Logogramme können hier (Kardinalzahlen; sum. „... sind es“ bzw. „...
alle möglichen grammatischen Formen eines von diesen“) und - K A M (Ordinalzahlen;
Lexems repräsentieren. Die sum. Normalgra- sum. Genitivmorphem + Kopula) erweitert
phie basiert auf dem logographischen Prinzip; werden (Verteilung oft unkorrekt). Zur Dar-
indem hier aber syllabisch ausgedrückte stellung von Zahlen und mathematischen
grammatische Elemente obligatorisch zu den Operationen s. Friberg 1987—90; zu den
Logogrammen treten, wird deren Funktion Maßsystemen und ihrer Notierung s. Powell
auf den Ausdruck der Wortbasis eingeengt. 1987—90 und, für die ältesten Systeme, Da-
Logographische Schreibweise dominiert auch merow & Englund in Green & Nissen 1987,
in den ältesten akk. Sprachdenkmälern. In 117—166.
der späteren, vorwiegend syllabischen Gra-
phie des Akkadischen spielen Logogramme 3.4.3. Determinativgebrauch
eine wechselnde Rolle. Ihr Gebrauch nimmt Anzahl und Gebrauch von Determinativen
in späterer Zeit wieder zu, insbesondere nehmen im großen und ganzen zu. Ihre Stel-
in wissenschaftlichen Texten (Mathematik, lung — vor oder nach dem determinierten
Astronomie, Mantik, Medizin), aber auch Wort — ist fest. Die häufigsten voranstehende
bei der Schreibung mehrgliedriger einheimi- Determinative sind: d i ĝ i r „Gott(heit)“ (meist
scher Personennamen. Zuweilen bringen Ab- als ‚d‘ transliteriert), der „Personenkeil“ (ent-
straktion und Analogie künstliche „Sumero- spricht dem Zahlzeichen 1; vor männlichen
gramme“ hervor, die keine genuinen sum. Personennamen; meist als ‚m‘ transliteriert),
Wörter oder Formen mehr darstellen. Logo- g i „(Schilf-)Rohr“, ĝ i š „Baum“, „Holz“, í d
gramme können modifiziert werden: (1) Re- „Fluß“, „Kanal“, k u r „Land“, l ú „Mensch“
duplikation einer Wortbasis ist im Sumeri- (vor männlichen Personenbezeichnungen)
schen ein grammatisches Mittel der Pluralbil- m u n u s „Frau“ (vor Frauennamen und weib-
dung. In frühen akk. Texten deutet Redupli- lichen Personenbezeichnungen; oft als m í
kation (selten Dreifachsetzung) den (durch oder s a l transliteriert), na 4 „Stein“, ú „Gras/
Flexionsendungen gebildeten) nominalen Plu- Pflanze“, u r u d u „Kupfer/Metall“. Nachge-
ral an. Durch Reduplikation verbaler Logo- stellt werden: k i „Ort“ (nach Ortsnamen), ku 6
gramme werden im Sumerischen teils eigene
„Pluralverben“ dargestellt, teils tatsächlich re- „Fisch“, m u š e n „Vogel“, s a r „Kraut“. De-
duplizierte Verbformen, die — je nach Ver- terminative können Pluralisatoren (3.4.1.) an-
bum — eine Art Verlaufsform („marû“) oder nehmen.
aber verbale Pluralität ausdrücken. Im Ak-
kadischen können auf diese Weise Stammes- 3.4.4. Syllabische Graphie
modifikationen des Verbums (D-Stamm, der Die syllabische Schreibweise wurde erst zur
u. a. Pluralität des Objekts anzeigt; reziproke Wiedergabe des Akkadischen voll ausgebil-
Stämme) logographisch dargestellt werden. det. In der akk. Graphie und den Graphien
(2) Zu Sumerogrammen nominaler Bedeu- späterer KS-Sprachen ist das syllabische Prin-
tung können die Pluralisatoren M E / M E Š , zip nicht mehr, wie in der sum. Normalgra-
Ḫ I . A und D I D L I treten; die korrekte Ver- phie, komplementär zum logographischen,
teilung — M E Š für Personen und Ḫ I . A für sondern uneingeschränkt anwendbar. Die
wichtigsten Charakteristika syllabischer Gra-
280 III. Schriftgeschichte

phie sind folgende: (1) Die Wörter werden ausgedrückten Präfixen und Endungen ver-
den Syllabogrammtypen (3.4.2.) entsprechend sehen. In der Transliteration werden diese
segmentiert und durch entsprechende Sylla- Elemente als gleichrangig mit den Logogram-
bogramme (so vorhanden) dargestellt: akk. men behandelt, also nicht hochgestellt: m u -
mu-tum /mutum/ „Mann“. (2) /CvC/ kann n a - a n - s u m - m u - u š „sie haben (-/n/-...-/uš/
durch Cv-vC ausgedrückt werden: akk. ip-ru- [< /eš/]) ihm (-/na/-) gegeben“ von s u m „ge-
us /iprus/ „er entschied“. Dies ist bereits in ben“. Vokalisch anlautende Endungen wer-
Ebla und altakk. üblich; als zweites Glied den meist — wie hier — durch Syllabo-
stehen dort vC-Werte, die auch für /’vC/ be- gramme dargestellt, die mit dem Auslautkon-
nutzt werden (vgl. 3.3.4.). (3) In Ebla wird sonanten der Basis anlauten. Daneben gibt es
für /CvC/ auch Cv (vor allem Diphtonge, „gebrochene“ Schreibungen wie l u ga l -e
/Cvm/, /Cvn/) und Cv-Cv geschrieben: (Agentiv von l u ga l „König“). Bei den mei-
a-(wa-)mu /yawmū/ „Tage“, sa-ma-nu / sten Wörtern ist entweder die eine oder die
šamnu(m)/ „Öl“. (4) Der Ausdruck geminier- andere Schreibung üblich; welche phonetische
ter Konsonanten ist nicht obligatorisch: akk. Realität ihnen zugrundeliegt, bedarf noch
da-(an-)na-tum , dan-na-tum /dannatum/ weiterer Klärung. (3) In der akk. Graphie ist
„Not“. Im Hethitischen und Hurritischen die phonetische Komplementierung von Lo-
drückt graphische Konsonantengemination gogrammen nicht obligatorisch. Gegebenfalls
wohl (auch) andere phonologische Merkmale wird meist das Wortende, entweder die letzte
(Stimmlosigkeit, Aspiration?) aus. (4) Die Silbe oder der letzte Konsonant mit voran-
dem Akkadischen entsprechende Lautstruk- gehendem Vokal, syllabisch dargestellt: LU -
tur der Syllabogramme läßt die Wiedergabe GA L rum für /šarrum/ „König“, D Ù uš für
von Mehrfachkonsonanz im Silbenan- und - /īpuš/ „er machte“. (4) Neben diesen ortho-
auslaut nicht zu. Im Hethitischen, wo sie vor- graphisch systematisierten Komplementie-
kommt, behalf man sich mit „gebrochenen“ rungen kommen meta-orthographische Ganz-
Schreibungen oder vokallos benutzten CvC- oder Teilglossen zu (mehrdeutigen oder sel-
Werten: li-in-ik-ta, li-in-kat-ta /linkta/ „er tenen) Logogrammen und Syllabogrammen
schwor“. (5) Langvokale können (nach-alt- vor, die sich oft äußerlich (Plazierung, klei-
akk.) durch Zusatz eines entsprechenden Vo- nere Schrift, Glossenkeil) abheben.
kalzeichens („Plene-Schreibung“) angedeutet
werden: akk. ša-(a-)rum /šārum/ „Wind“. 3.5. U D . GA L . N U N -Orthographie
Plene-Schreibung dient aber auch anderen
Zwecken. Wo sie im Akk. für morphologisch Manche sum. literarischen Texte des 3. Jahr-
kurze Vokale auftritt, weist sie (neben mög- tausends aus Fāra und Tell Abū Ṣalābīḫ wei-
licher sekundärer Dehnung) auf besondere sen ein allographisches System auf, das nach
Intonation oder Akzentuierung der entspre- einer häufigen Zeichengruppe (sie entspricht
chenden Silbe hin. Ferner kann sie den Vokal dem Götternamen d En- l íl) als „UD. GA L .
des vorausgehenden Syllabogramms präzisie- N U N -Orthographie“ bezeichnet wird: Be-
ren, wenn dieses in Hinblick auf /i/ oder /e/, stimmte Zeichen in beliebiger Funktion wer-
/u/ oder /o/ ambivalent ist (vgl. 3.3.4.). (6) den dort durch andere ersetzt; z. B. tritt U D
Das verwendete Syllabar variiert nach Spra- für A N ein, ob dieses nun a n „Himmel“ oder
che, Zeit, und Region (vgl. von Soden & Röl- d i ĝ i r „Gott“ meint oder als Gottesdetermi-
lig 1991 und die in 6.4. genannten Zeichenli- nativ fungiert. Normal- und U D . GA L .
sten). Innerhalb eines gegebenen graphischen NU N-Schreibungen wechseln innerhalb eines
Systems können Lautwerte auch an be- Textes, oft auch innerhalb eines Wortes. Die
stimmte Kontexte gebunden sein. So sind z. B. Beziehungen zwischen Normalzeichen und
die altakk. Silbenwerte ì und lí des Zeichens U D . GA L . N U N -Äquivalenten sind, soweit
N I später auf wenige Wörter beschränkt durchschaubar, verschiedener (graphischer,
(z. B. ì-lí /ilī/ „mein Gott“). inhaltlicher und lautlicher) Art. U rsprung
und Zweck des Systems sind unklar. Eine
3.4.5. Phonetische Komplementierung Liste identifizierbarer U D . GA L . N U N-Zei-
chen findet sich bei Krebernik 1984, 267—
Logogramme und Syllabogramme können 286.
verschiedentlich syllabisch ergänzt oder er-
klärt werden (Krecher/Souček 1957—71): (1) 3.6. Abkürzungen
Manche zusammengesetzten Zeichen und Lo-
gogramme enthalten Lautindikatoren (3.1.1. Abkürzungen durch Anlautschreibung sind
und 6.2.). (2) In der sum. Normalgraphie wer- sehr selten: me für akk. me-at „100“, li für
den Logogramme regelmäßig mit syllabisch akk. li-im „1000“; d GIŠ für d G I Š . B I L - ga -
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 281

spektive ist gegenüber der ursprünglichen um


mes, d G I Š - à ga - m a š „Gilgameš“. Die „Lo- 90° nach links gedreht. In älteren Texten ist
gogramme“ der häufigsten akk. Präpositio- die Zeichenfolge innerhalb eines Faches zu-
nen, syllabisch i-na bzw. a-na geschrieben, nächst frei, dann vertikal, die Fächerfolge
sind wohl Kurzformen der Anfangszeichen I linksläufig; den Kolumnen entsprechen hori-
bzw. A. zontale Bänder. Die ursprüngliche Perspek-
tive galt länger für das Lesen (1. Hälfte des
2. Jahrtausends) als für das Schreiben (etwa
4. Schriftträger, Schreibtechnik, altakk. Zeit). Voraussetzung für den Wandel
Textgestaltung war die Schräglage der Tafel in der Hand des
Schreibenden (vgl. die photographisch do-
4.1.  Primärer Schriftträger ist die Tontafel, kumentierten Rekonstruktionsversuche bei
die in verschiedenen, für Zeit, Ort und Text- Powell 1981).
gattung typischen Formen auftritt; aus Ton
sind auch weitere primäre Schriftträger wie
Etiketten, Zylinder, Prismen, Kegel, Tonnä- 5. Aspekte antiker
gel. Der Ton wurde in feuchtem, weichem Keilschriftphilologie
Zustand beschrieben; für gewöhnliche Ton- Für die Schrift zuständige Gottheiten waren
tafeln wurde der durch Trocknen an der Luft Nisaba (Getreidegöttin) und später Nabium/
sich einstellende Härtegrad als ausreichend Nabû, dessen Emblem der Griffel ist. Nach
empfunden; kostbare Dokumente wurden ge- dem sum. Epos „Enmerkar und der Herr von
brannt. Selten und nur für wichtige Zwecke Aratta“ erfand Enmerkar, ein mythischer Kö-
wurden als primäre Schriftträger auch Stein- nig von U ruk, die Schrift (um eine Botschaft
und Metalltafeln verwendet. Spätestens seit auf eine Tontafel zu schreiben). Zur Vermitt-
Ende des 2. Jahrtausends gab es auch wachs- lung der KS dienten lexikalische Texte: Zei-
beschichtete Tafeln aus Holz und Elfenbein. chen-, Silben-, Wort- und Namenslisten. Eine
Als sekundäre Schriftträger kommen Objekte verbindliche Reihenfolge der Zeichen gab es
verschiedenster Art und Bestimmung vor: nicht. Bestimmte Listen bilden Gruppen
Statuen, Tierfiguren, Weihplatten, Reliefs, gleichanlautender Syllabogramme und ord-
Wandgemälde, Ziegel, Gefäße, Waffen, nen diese nach ihren Vokalen in der Folge Cu
Grenzsteine, Schmuck, Tür- und Krugver- — Ca — Ci („Tu-ta-ti-Listen“). Die Zeichen
schlüsse, Tobullen, Siegel. hatten Namen, die in lexikalischen Texten
überliefert sind; sie sind gewöhnlich von den
4.2.  Grundlegend für die Schreibtechnik und sum. Werten einfacherer Zeichen abgeleitet
vorbildhaft für die Beschriftung anderer Ma- und haben beschreibend-differenzierende Zu-
terialien war das Schreiben auf weichen Ton sätze. Aus späterer Zeit sind akrostichische
(zu Tafelhaltung und Schriftrichtung s. 4.3.). Verwendung von KS-Zeichen (Lambert 1960,
Die Zeichen wurden anfangs durch Eindrük- 63; 67) und „Kreuzworträtsel“ (Cavigneaux
ken des Griffels (auch stumpfer Griffelenden 1979, 124 f) belegt. Aus der Polyvalenz der
verschiedener Stärke) und durch Ziehen von Zeichen resultierte eine zur Etymologie auf
Linien gestaltet, Ritzlinien und runde bzw. sprachlicher Ebene analoge, spekulative
halbkreisförmige Eindrücke jedoch bis zum „Zeichenetymologie“, nach der z. B. Götter-
Ende des 3. Jahrtausends durch gerade, namen gedeutet wurden (Bottéro 1977).
„keil“-förmige Eindrücke eines einzigen, kan-
tigen Griffels ersetzt (vgl. Abb. 18.1—3 auf
Tafel II—III). Zur Beschriftung von Ziegeln 6. Ursprung und Geschichte
wurden auch Stempel verwendet.
6.1. Zeit, Ort und Kontext der Entstehung
4.3.  KS-Texte sind anfangs in Fächer, später
in Zeilen gegliedert. Darüber hinaus kann der Bereits lange vor dem Auftreten der KS gab
Text in Kolumnen eingeteilt sein. Zeichen- es im Alten Orient verschiedene Systeme der
folge sowie gegebenenfalls Kolumnenfolge Informationsspeicherung. Vom Neolithikum
(auf der Tafelvorderseite) sind rechtsläufig. an wurde ein System benutzt, das tönerne
Beim Übergang zur Rückseite wird die Tafel Zählmarken zum Festhalten von Zahlen
nach oben umgewendet. Bei mehrkolumnigen (Mengen) bestimmter Objekte verwendete.
Tafeln befindet sich somit die erste Kolumne Das Abdrücken von Siegeln gestattete die Fi-
der Rückseite ganz rechts, weitere Kolumnen xierung von Informationen über Personen,
schließen nach links an. Die geschilderte Per- Symbolsysteme in Wand- Gefäß- (und sicher
282 III. Schriftgeschichte

auch Körper-)Bemalung sind noch nicht ent- 6.3. Zeichen und Bedeutung


schlüsselt. In der 2. Hälfte des 4. Jahrtausends
kamen Systeme auf, die gestatteten, jeweils Von der Analyse des Bildinhalts der Zeichen
mehr als nur eine Informationsart zu spei- zu trennen ist die Analyse der Beziehungen
chern: eine um eine bestimmte Anzahl von zwischen Bildinhalt und repräsentierten Be-
Tonmarken geformte und mit Siegelabdrük- griffen. Die meisten Zeichen vereinen ver-
ken versehene Kugel erlaubte das Festhalten schiedene Darstellungsweisen. Im einzelnen
von Informationen über Zahlen und Personen lassen sich folgende unterscheiden (vgl. Abb.
(→ Art. 16; Tafel I). Gleiches leisteten sicher- 18.4): (1) Das Zeichen stellt den gemeinten
lich den späteren Schriftträgern ähnliche Ton- Begriff konkret dar: so stehen die Bilder eines
tafeln, die zusätzlich zu Zahleindrücken Sie- Pfluges, eines Fisches, der Geschlechtsteile für
die entsprechenden Termini ( a p i n , k u 6 ,
gelabdrücke aufweisen. Solche Erweiterungen
waren vermutlich die Antwort auf gestiegene ĝèš ,
Anforderungen des Wirtschaftsgeschehens ga l 4 ). (2) Der Begriff ist in einem charakte-
nach umfassenderen Kontrollmitteln. In die- ristischen Ensemble abgebildet: ein in den Bo-
ser Entwicklungslinie gesehen ist die gegen gen gespannter Pfeil steht für t i „Pfeil“; drei
Ende des 4. Jahrtausends auftretende Proto- Sterne für m u l „Stern“. (3) Der Begriff wird
KS nichts anderes als ein universell anwend- durch das Bild eines Teiles oder Ausschnittes
bares System der Informationsspeicherung: desselben dargestellt: ein Rinderkopf steht für
Alles der Speicherung für wert Befundene g u d „Rind“, ein Kanalabschnitt für a „Was-
konnte nun festgehalten werden. Anregungen ser“, drei Berge für k u r „Gebirge“, die
für die Ausformung der KS wurden sicher aus Geschlechtsteile für n i t a „Mann“ bzw. m u -
allen genannten Systemen bezogen. Nach n u s „Frau“. (4) Der Begriff wird abstrakt
einer von D. Schmandt-Besserat in zahlrei- dargestellt: zwei parallele Linien stehen für
chen Arbeiten (zuletzt Schmandt-Besserat tab „aneinanderlegen“, „verdoppeln“; ein
1992) vertretenen These spielten die Zähl- „Kreuz“ (durch Querstrich halbierte Linie)
marken („tokens“) eine entscheidende Rolle; für m a š „Hälfte“; ein Kreis für n í ĝ i n „um-
einige KS-Zeichen sind vielleicht Abbilder kreisen“. (5) Der Begriff wird durch das Bild
von Zählmarken. Daß die ältesten Proto- eines assoziierten Begriffes dargestellt (hier
KStexte vom Ende der sog. Späturuk-Zeit könnten verschiedene Assoziationstypen un-
(„Schriftstufe IV“) nur aus U ruk bekannt terschieden werden): ein Stern steht für a n
sind, stimmt zwar mit dem Mythos überein „Himmel(sgott)“ und d i ĝ i r „Gott“; ein Pflug
(s. 5.), mag aber Zufall sein, da sich Tontafeln für e n ga r „Bauer“ und u r u 4 „pflügen“; ein
der anschließenden Entwicklungsstufe III be- Fuß für d u / ĝ e n „gehen“, spezifische Gefäße
reits an verschiedenen Orten ganz Babylo- für ga „Milch“, k a š „Bier“ und wohl auch
niens finden. n i n d a „Brot“ (Gefäß für Gersterationen), ein
kultisches Emblem („Schilfringbündel“) für
6.2. Struktur und Bildinhalt der die Göttin Inanna. In diese Kategorie gehören
Keilschriftzeichen auch Abbildungen von Tonmarken, die eini-
gen Zeichen wie U D U „Schaf“ oder N I „Öl“
Nur für einen Teil der Zeichen ist der Bildin- zugrundeliegen dürften. (6) Der Begriff wird
halt erkennbar. Schon in der ältesten Schrift- durch das Zeichen eines (annähernd) homo-
phase ist die Darstellungsweise ziemlich ab- phonen Begriffs dargestellt: a „Wasser“ steht
strakt. An einfachen Zeichen lassen sich un- auch für „Vater“; s a r „Kraut“ auch für
terscheiden: (1) Bilder natürlicher Objekte; (2) „schreiben“; t i „Pfeil“ auch für „leben“. (7)
evt. Bilder von Tonmarken (vgl. 6.1.); (3) ab- Der Begriff wird durch ein zusammengesetz-
strakte Symbole wie Zahlzeichen, zwei paral- tes Zeichen dargestellt, dessen Komponenten
lele Striche, Kreuz, Kreis. Abgeleitete Zeichen ihn semantisch definieren: „Kopf/Mund“ +
entstehen durch Modifikation und Zusam- „Brot“ steht für k ú „essen“, „Kopf/Mund“
mensetzung. Häufig werden Teile einfacher + „Wasser“ für n a g „trinken“, ein Vogel mit
Zeichen durch kleine Striche/Keile (antiker Ei für m u d „hervorbringen“. (8) Der Begriff
Fachterminus: gunû, zu sum. /guna/ „bunt“) wird durch ein zusammengesetztes Zeichen
hervorgehoben: durch Markierung der dargestellt, das eine semantische und eine
Mundpartie in SAG „Kopf“ entsteht K A lautliche Komponente enthält. Mögliche Bei-
„Mund“, durch Markierung der Armpartie spiele aus dem ältesten Zeichenbestand sind
wird Á „Arm“ von DA „Arm, Seite“ diffe- (vgl. Abb., Nr. 11—12) M E N „Tiara“, beste-
renziert (Abb., Nr. 6—9). Zu verschiedenen hend aus GÁ (Bildinhalt unklar) * E N (später
Typen zusammengesetzter Zeichen s. 6.3. M E . E N ), und A M A „Mutter“, bestehend
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 283

aus einem später mit GÁ zusammenfallenden (Green 1981; Nissen et al. 1990) repräsentie-
Zeichen * A N (= am 6 ). (9) Das Zusammen- ren Texte aus U ruk und Ǧemdet Naṣr. 80
wachsen der Zeichen LÚ „Mensch“ und GAL Prozent von fast 5000 bekannten Tontafeln
„groß“ zu einem Zeichen LU GA L „König“ und Fragmenten aus U ruk und fast alle Ǧem-
spiegelt den sprachlichen Prozeß der U niver- det Naṣr-Texte (ca. 250) sind Aufzeichnungen
bierung (/lu/ /gal/ „Großer“ > /lugal/ „Kö- der Wirtschaftsverwaltung.
nig“) wider. Dabei geht es wohl vor allem um die Kon-
trolle der Warenbewegungen innerhalb großer
6.4. Paläographie Speicher-, Verwertungs- und Veredelungsan-
lagen, weniger um Warenverkehr zwischen
Die Formen der KS-Zeichen waren im Laufe diesen Anlagen und einliefernden oder emp-
der Zeit starken Veränderungen unterwor- fangenden Individuen. Der Rest der Tafeln
fen. Entscheidend für die paläographische gehört der Gattung der „lexikalischen Listen“
Entwicklung und exemplarisch für andere an: In ihnen werden Begriffe aufgezählt, die
Schriftträger, deren Material paläographische jeweils einer Bedeutungsklasse angehören, wie
Eigenheiten bedingen kann, ist das Schreiben Rinder-, Vogel-, Fisch- oder Baumnamen,
auf Ton(tafeln). Die Entwicklung im 3. Jahr- Gefäß- oder Metallnamen, Städte- oder son-
tausend ist einerseits durch schreibtechnische stige geographische Namen. Die für die Er-
Vereinfachungen (s. 4.2.), andererseits durch forschung der gesellschaftlichen Verhältnisse
eine Verringerung des Zeichenbestandes ge- dieser Zeit wichtigste Liste besteht in einer
kennzeichnet: viele, namentlich komplizier- hierarchisch geordneten Aufzählung von
tere Zeichen kommen außer Gebrauch, ähn- Funktionärstiteln und Berufsbezeichnungen.
liche fallen zusammen (Abb. 18.4, Nr. 2—3). Diese bereits in der ältesten Stufe vorhande-
Am Ende des 3. Jahrtausends bieten die Zei- nen Listen sind vielleicht ein Versuch, die
chen noch ein ziemlich differenziertes Bild gesamte Lebenswelt zu erfassen. Ihr prakti-
(Abb., Spalte 2): die Elemente sind oft von scher Nutzen lag vermutlich darin, daß sie
unterschiedlicher Größenordnung und Aus- eine Rolle bei der Ausbildung von Schreibern
richtung sowie variabler Anzahl. Die Zei- spielten. Dafür spricht, daß die meisten dieser
chenformen dieser Zeit bleiben Vorbild für Listen über 600 Jahre hinweg unverändert
den archaisierenden Duktus späterer offiziel- abgeschrieben wurden. Die Struktur beider
ler Inschriften, der nun erreichte Zeichenbe- Textgattungen ist listenartig, d. h. eine geord-
stand unterliegt keinen großen Veränderun- nete Folge von Stichworten, die auch in den
gen mehr. Die weitere Entwicklung ist cha- Verwaltungstexten weder durch Verben noch
rakterisiert durch die Herausbildung kursiver durch sonstige Glieder miteinander verbun-
Schriften und stärkere regionale Differenzie- den sind. Es ist davon auszugehen, daß nur
rung (in Mesopotamien selbst zwischen ba- geschrieben wurde, was nicht allgemein be-
bylonischer und assyrischer Schrift; ausge- kannt war, was also zusammen mit dem all-
prägte Sonderentwicklungen zeigt auch die gemeinen Hintergrundwissen nötig war, um
elamische KS). Generell werden die Zeichen einen Vorgang zu rekonstruieren. Die tabel-
weiter vereinfacht, komplizierte gern als Ad- lenartige Schriftebene eines frühen Verwal-
dition einfacherer gestaltet, mit denen sie ge- tungstextes ist noch keine umkehrbar eindeu-
netisch nichts zu tun haben. Am konsequen- tige Abbildung eines zusammenhängenden
testen hat sich die assyrische KS in diese Rich- Textes einer bestimmten Sprache; sie ist viel-
tung entwickelt: ihre Zeichenformen bestehen mehr weitgehend sprachunabhängig deutbar,
aus nur wenigen, normierten und abgezählten wobei das Formular selbst als eine Art me-
Elementen, weshalb man sie auch der Zei- tasprachlicher Syntax fungiert (vgl. Green
chenanordnung moderner Listen zugrunde- 1981). Indizien, die auf eine Sprache schließen
legte. Eine umfassende KS-Paläographie ist lassen, sind schwer zu finden. Es kommen in
ein Desiderat. Wichtige Zeichenlisten sind La- erster Linie Homophonschreibungen und
bat 1976 und Borger 1978, 1981 (allgemein); (darauf beruhende) Lautindikatoren (mögli-
Green & Nissen 1987, Deimel 1922, Schneider che Beispiele sind die Zeichen AMA und
1935 (frühe Schriftphasen); Rüster & Neu MEN, s. 6.3.) in Betracht. Eine besondere
1989 (hethitische KS); Stève 1992 (elamische Rolle dürfte die Analyse der bislang noch
KS). unzugänglichen Personennamen spielen.
Schwierigkeiten bereitet nicht zuletzt die Tat-
6.5. Hauptstadien des Keilschriftsystems sache, daß die Zeichenanordnung innerhalb
einzelner Fächer nicht fest ist. Die Annahme,
6.5.1. Frühstadium daß hinter den ältesten Texten das Sumerische
Die früheste Entwicklungsstufe der KS steht, ist bislang nicht bewiesen.
284 III. Schriftgeschichte

Abb. 18.4: Entwicklung einiger Keilschriftzeichen (vgl. 6.2—4)


18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 285

ten Syllabogramminventars. Dieses System


6.5.2. Die Herausbildung des stimmt zur Struktur des Sumerischen als einer
syllabischen Prinzips agglutinierende Sprache mit im wesentlichen
unveränderlichen, gewöhnlich ein- oder zwei-
Die bedeutendsten Textfunde der folgenden silbigen lexikalischen Morphemen, die mit
Entwicklungsphase stammen aus dem archai- einer beschränkten Anzahl oft silbischer,
schen U r, aus Fāra (Šuruppak), Tell Abū Ṣa- grammatischer Morpheme modifiziert wer-
labīḫ und dem Stadtstaat Lagaš. Sie sind ge- den; da zahlreiche homophone (durch Ton
kennzeichnet durch die fortschreitende Kon- unterschiedene?) Lexeme existieren, die laut-
kretisierung und Präzisierung der Beziehun- schriftlich nicht oder kaum unterscheidbar
gen zwischen Sprach- und Schriftebene. Diese wären, kommt der logographischen Schreib-
Entwicklung manifestiert sich in der Heraus- weise besondere praktische Bedeutung zu.
bildung der syllabischen Komponente des Diese stand indes der Ausbildung eines struk-
Schriftsystems. Konsequenterweise stellt sich turell vollständigen, den phonologischen Ge-
am Ende dieser Periode eine feste, den dar- gebenheiten des Sumerischen angemessenen
gestellten Sprachsegmenten analoge Zeichen- Syllabars im Wege.
folge ein. Der erste, wohl schon in der ältesten
Schriftphase vollzogene Schritt auf dem Wege 6.5.3. Die Emanzipation des syllabischen
von der Wort- zur Lautschrift ist die Dar- Prinzips
stellung homophoner oder ähnlich klingender
Wörter durch dasselbe Logogramm. Diese Seine Vollendung erfuhr das KS-System
Methode wurde in der Folge auf nicht-bedeu- durch die volle Entfaltung der syllabischen
tungstragende Silben (silbische Bestandteile Graphie. Sie resultierte aus der Übertragung
eines Lexems, morphemübergreifende Silben) der KS auf das Akkadische, eine semitische
ausgedehnt. Einen entscheidenden Impuls Sprache, deren Lexeme im Gegensatz zum
gab wohl das Bedürfnis, fremde Namen und Sumerischen durch innere Flexion extrem ver-
Fremdwörter sowie syntaktisch zusammen- änderlich sind: zu /parāsum/ „entscheiden“
hängende Texte aufzuzeichnen, was eine Prä- gehören z. B. Formen wie /iprus/, /purus/,
zisierung logographischer Schreibungen er- /taparras/, /aptaras/, /naprusum/ etc. Diese
fordert. Die frühesten (ca. 2600) sum. litera- Entwicklung wirkte auch auf die sum. Gra-
rischen Texte größeren U mfangs stammen aus phie zurück: deren syllabische Komponente
Fāra. Die Fāra-Texte enthalten auch schon wurde verfeinert, hauptsächlich zu didakti-
zahlreiche Rebus-Schreibungen akk. Fremd- schen Zwecken wurden sum. Wörter und
wörter (z. B. d a m - g à r „Händler“, n a - ga d a Texte auch völlig syllabisch wiedergegeben.
„Hirt“) und Personennamen. U nter den nicht Marksteine der Entwicklung bilden die alt-
sehr viel späteren Texten aus Tell Abū Ṣalābīḫ akk. Texte aus Mesopotamien selbst und die
ist der früheste, fast gänzlich logographisch Archive von Ebla. Beide Textkorpora zeigen
notierte, literarische Text in akk. Sprache. ein (bis auf die in 3.3.4. erwähnten phonolo-
Bereits in den Fāra-Texten hebt sich ein be- gische U nschärfen) voll ausgeprägtes Syllabar
schränktes Inventar syllabisch verwendeter an Cv-Werten. In beiden Systemen kann
Zeichen ab. Z. B. wird ga , das logographisch /CvC/ durch Cv-vC ausgedrückt werden; al-
für „Milch“ steht, benutzt, um den Auslaut lerdings sind in Ebla nicht alle vC-Werte vor-
einer Form /duga/ von /du(g)/ „sagen“ dar- handen, und für /CvC/ wird dort auch noch
zustellen: d u g 4 - ga ; ähnlich verwendet man Cv und Cv-Cv geschrieben (3.4.4.). Das Sy-
m u , das logographisch „Name“ bedeutet, um stem der vC-Werte wurde offenbar durch sar-
ein gleichlautendes, häufig in Verbalformen gonische Schreiber vervollständigt: u. a. er-
auftretendes Morphem mit der ungefähren scheint in sargonischen Inschriften zum ersten
Bedeutung „her“ (z. B. m u - ĝ e n „er kam“) Mal das in Ebla unbekannte, von akk. /idum/
zu schreiben. Später häufige Syllabogramme abgeleitete Syllabogramm id . Die Zweispra-
wie z. B. k a fehlen jedoch noch: é- d i ĝ i r kann chigkeit ist nicht nur für die Herausbildung
z. B. für é - d i ĝ i r - r a - k a „im (Lokativ -/a/) dieser Entwicklungsstufe entscheidend, son-
Haus (é) des (Genitiv -/ak/) Gottes ( d i ĝ i r )“ dern prägt auch immanent das so entstandene
stehen; letztere Schreibweise veranschaulicht System aus Logogrammen sumerischen U r-
die am Ende dieser Periode herausgebildete sprungs, deren Gebrauch nun kanonisiert
sum. Normalgraphie: Wortbasen werden ge- wird, und aus Syllabogrammen, deren Werte
wöhnlich logographisch dargestellt, gram- aus sum. und zunehmend auch aus akkadi-
matische Elemente und logographisch nicht schen Wörtern abstrahiert werden. Das nun
darstellbare Wörter mittels eines beschränk- entstandene System bleibt bis zum Erlöschen
286 III. Schriftgeschichte

der KS gültig, ungeachtet paläographischer


Veränderungen oder variierender Syllabare Wohl ebenfalls wenig später als die KS in
(die jedoch alle einen gemeinsamen Bestand Mesopotamien, und wahrscheinlich von dort
besitzen). angeregt, tritt in Elam die proto-elamische
Schrift auf (Meriggi 1971—74; Damerow &
Englund 1989). Es handelt sich wohl um ein
6.5.4. Ausdehnung auf andere Sprachen logographisches System. Einzelne Zeichen
Als vierte Phase in der Geschichte der KS weisen Ähnlichkeit mit KS-Zeichen auf. Die
kann man die schon in altakk. Zeit begin- in wenigen Zeugnissen aus altakk. Zeit über-
nende Ausdehnung des sum.-akk. Systems auf lieferte elamische Strichschrift ist wohl eine
weitere Sprachen ansehen. Die verschiedenen aus der protoelamischen Schrift entwickelte
Adaptationen führen jedoch nicht zu tiefgrei- Silbenschrift (Hinz 1962).
fenden Veränderungen. Eine systematische
Erweiterung stellt die immanente Dreispra- 7.3. Die Indus-Schrift
chigkeit der hethitischen Graphie dar: Neben
syllabischem Hethitisch gibt es sum. und akk. Für das 3. und 2. Jahrtausend nachweisbare
Logogramme. Die Beziehungen zwischen Handelsbeziehungen zwischen Mesopotamien
logographischer Schrift- und hethitischer und dem Industal lassen mesopotamische Im-
Sprachebene erreichen zuweilen die Komple- pulse bei der Schöpfung der bisher nicht über-
xität zweisprachiger Textversionen, wenn zeugend gedeuteten, auf zahlreichen Siegeln
etwa dem Akkadogramm A-NA , einer Prä- erhaltenen Indusschrift als möglich erschei-
position, im Hethitischen der durch Dekli- nen.
nationsendung gekennzeichnete Dativ ent-
spricht. Syllabare und syllabische Orthogra- 7.4. Semitische Alphabete
phie werden nur in beschränktem U mfang Die Erfindung des Alphabets dürfte vom
den fremden Lautsystemen angepaßt. So ägyptischen Schriftsystem angeregt worden
schufen hethitische Schreiber, um der Viel- sein.
deutigkeit von P I = wa, we, wi, wu abzuhel-
fen, durch Kombination von P I mit Vokal- 7.4.1.  Eine Sonderform, das im 14. und 13.
zeichen eindeutige Syllabogramme für diese Jahrhundert hauptsächlich in U garit und für
Silben. Zur U nterscheidung von /e/ und /i/, das U garitische verwendete „Keilalphabet“
/u/ und /o/ in hurritischem Milieu s. 3.3.4., (Dietrich & Loretz 1988; → Art. 20), verdankt
zur Darstellung von silbenan- und auslauten- der mesopotamischem KS die Ausgestaltung
der Mehrfachkonsonanz im Hethitischen der gewöhnlich auf Ton geschriebenen Zei-
s. 3.4.4. chen. Die Zeichenformen selbst fußen meist
auf alphabetischen Vorbildern, zumindest 
7. Schriften im Umkreis der und  jedoch auf keilschriftlichen (I bzw. Ú).
Die Schrift umfaßt in ihrer gewöhnlichen
Keilschrift Form („Langalphabet“) 30 Zeichen und einen
Abschließend seien — im Hinblick auf mög- Worttrenner. Die meisten Zeichen drücken
liche genetische Zusammenhänge und auf In- einen Konsonanten aus, syllabisch sind:  =
terferenzen mit der KS (Bilinguen, Translite- /’a/;  = /’i/, /’e/;  = /’u/, /’o/; und vielleicht
rationen) — die wichtigsten Schriften in ihrem  = /su/.
Umkreis aufgezählt:
7.4.2. Im 1. Jahrtausend gewinnt in Meso-
7.1. Die ägyptische Hieroglyphenschrift potamien das alphabetisch geschriebene Ara-
mäische an Bedeutung, wird parallel zum Ak-
Frühgeschichtliche Beziehungen zwischen kadischen gebraucht und löst dieses schließ-
Mesopotamien und Ägypten sind archäolo- lich ab. Häufig tragen in der Spätzeit KS-
gisch bezeugt. Falls die frühesten mesopota- Tafeln aramäische Beischriften.
mischen Schriftzeugnisse — wie gemeinhin
angenommen — etwas früher zu datieren sind 7.5. Ägäische Schriften
als die ägyptischen, könnten Anregungen aus
Mesopotamien bei der Schöpfung der ägyp- Die in Kreta, Zypern und Griechenland ver-
tischen Schrift eine Rolle gespielt haben (so breiteten ägäischen Schriften (kretische
z. B. Gelb 1963, 214 f). Die Frage bedarf noch Hieroglyphen, Linear A, Linear B, kypromi-
weiterer Untersuchung. noische Schriften) sind im wesentlichen Sil-
benschriften und ähneln darin der akk. KS;
7.2. Die proto-elamische Schrift sie kennen nur Syllabogramme der Typen Cv
18.  Die sumerisch-akkadische Keilschrift 287

und v. Geographische Berührungen mit der und Altes Testament 33 + 33 a). Neukir-
KS sind z. B. durch Funde kyprominoischer chen — Vluyn.
Schriftzeugnisse in U garit dokumentiert. Für Bottéro, Jean. 1977. Les noms de Marduk. In: de
die ägäischen Schriften wurden ägyptische, Jong Ellis, Maria (ed.). Essays on the Ancient Near
aber auch keilschriftliche Vorbilder geltend East in Memoriam of Jacob Joel Finkelstein (=
gemacht (Best & Woudhuizen 1989, 4 ff). Memoirs of the Connecticut Academy of Arts and
Sciences 19), 5—28.
7.6. Die luwische Hieroglyphenschrift Cavigneaux, Antoine. 1979. Texte und Fragmente
Die um die Mitte des 2. Jahrtausends im aus Warka. Baghdader Mitteilungen 10, 111—142.
hethitischen Reich aufkommende, zur Wie- —. 1980—83. Lexikalische Listen. In: Edzard.
dergabe des Luwischen (vgl. 2.4.) dienende Bd. 6, 609—641.
Hieroglyphenschrift (zuletzt Marazzi 1990 Damerow, Peter & Englund, Robert K. 1989. The
mit Lit.; eine Gesamtedition bereitet Hawkins Proto-Elamite Texts from Tepe Yahya (= The
vor) ist wie die KS eine Kombination aus American School of Prehistoric Research, Bulletin
Wort- und Silbenschrift und dürfte Anregun- 39). Cambridge, Mass.
gen von der KS empfangen haben. Best (Best Deimel, Anton. 1922. Die Inschriften von Fara, 1:
& Wouldhuizen 1989, 30 ff) versucht Zuge- Liste der archaischen Keilschriftzeichen (= Wis-
hörigkeit zum ägäischen Schriftenkreis (Dis- senschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen
kos von Phaistos) nachzuweisen. Orientgesellschaft, 40). Leipzig.
Diakonoff, Igor M. 1971. Hurrisch und U rartäisch
7.7. Die Altbyblische Schrift (= Münchner Studien zur Sprachwissenschaft, Bei-
Die Schrift einiger in Byblos gefundener heft 6, Neue Folge). München.
Schriftdenkmäler (Dunand 1945) ist bislang Diakonoff, I. M. & Starostin, S. A. 1986. Hurro-
nicht überzeugend gedeutet. Es handelt sich U rartian as an Eastern Caucasian Language (=
wohl um eine Silbenschrift. Duktus und For- Münchner Studien zur Sprachwissenschaft, Beiheft
men gemahnen eher an ägyptische und ägäi- 12, Neue Folge). München.
sche als an keilschriftliche Vorbilder. Dietrich, Manfried & Loretz, Oswald. 1988. Die
Keilalphabete. Münster.
7.8. Die altpersische Keilschrift Dunand, Maurice. 1945. Byblia Grammata. Beirut.
Dupont-Sommer, André. 1942—44. La tablette cu-
Wahrscheinlich unter Dareios I. (521—486) néiforme araméenne de Warka. Revue d’Assyrio-
wurde für das Altpersische (Kent 1953; logie 39, 35—62.
Schmitt 1989) eine Schrift geschaffen, deren
Zeichen äußerlich nach Art der KS-Zeichen Edel, Elmar. 1980. Neue Deutungen keilschriftli-
gestaltet sind. Obwohl typologisch der sum.- cher U mschreibungen ägyptischer Wörter und Per-
akk. KS verwandt und sicherlich auch von sonennamen (= Österreichische Akademie der
ihr angeregt, weist das syllabische System Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitzungsbe-
doch Eigenheiten auf, die sich aus diesem richte, 375). Wien.
Vorbild allein nicht erklären lassen (zur Ent- Edzard, Dietz O. 1976—80. Keilschrift. In: Edzard
stehung: Mayrhofer 1989 mit Lit.). Die Bd. 5, 544—568.
Schrift umfaßt 33 Syllabogramme des Typs —. (ed.). 1976 ff. Reallexikon der Assyriologie. Ber-
Cv, 3 Vokalzeichen, 7 Logogramme sowie lin. (Bd. 6 ff).
einen Worttrenner; die Cv-Werten repräsen- Friberg, Jöran. 1987—90. Mathematik. In: Edzard
tieren Ca (22), Cu (7) und Ci (4); Ca-Werte Bd. 7, 531—585.
stehen auch für vokallose Konsonanten; für Friedrich, Johannes. 2 1966. Entzifferung verschol-
nicht vorhandene Cv-Werte tritt Ca-v ein. lener Schriften und Sprachen. Berlin, Heidelberg,
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7.9. Das griechische Alphabet —. 1969 a. Churritisch. In: Spuler, 1—30.
Aus seleukidischer Zeit stammen einige —. 1969 b. Urartäisch. In: Spuler, 31—53.
griechische Transliterationen keilschriftlicher Fronzaroli, Pelio. 1982. Per una valutazione della
Texte (Maul 1991 mit Lit.). morfologia Eblaita. Studi Eblaiti 4, 93—120.
Gelb, Ignace J. 2 1961. Old Akkadian Writing and
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Best, Jan & Woudhuizen, Fred. 1989. Ancient —. 2 1963. A Study of Writing. Chicago—London.
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Borger, Rykle. 1978, 1981. Assyrisch-babylonische Implementation of the Cuneiform Writing System.
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288 III. Schriftgeschichte

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19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen 289

19. Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen

1. Übersicht 6.); die Frage eines möglichen Einflusses auf


2. Innere Form, dargestellt an der klassischen die Entwicklung von Silbenschriften vom Typ
Bilderschrift des Devanagari kann nicht abschließend ent-
3. Äußere Form: Bilderschrift und daraus ab- schieden werden, ist aber eher zu verneinen
geleitete Kursivschriften (siehe unter 5.3.).
4. Entstehung
5. Einzelentwicklungen: Zeichenvorrat, Verhält-
nis Notation zu Kennzeichnung, Silbenschrift 2. Innere Form, dargestellt an der
6. Abhängigkeit anderer Schriften von der ägyp- klassischen Bilderschrift
tischen
7. Aussterben 2.1. Grundprinzipien
8. Literatur
Ihrer Funktion nach sind die hieroglyphi-
schen Schriftzeichen(gruppen) in der Haupt-
1. sache entweder (1) Phonogramme oder (2)
Übersicht
Semogramme. Beispiele: (1) Die Eule dient
Die ägyptische Hieroglyphenschrift ist die
Schrift des pharaonischen, vorchristlichen zur Notation des konsonantischen Phonems
m, z. B. in der Schreibung der Präposition m
Ägyptens (zum Belegzeitraum siehe unter 4. „in“; der Korb zur Notation der Konso-
und 7.). Als Zeichensystem ist sie vor allem
durch zweierlei charakterisiert: Sie ist erstens nantenfolge nb (ohne Berücksichtigung eines
eine teils semographische, teils phonogra- etwa zwischen n und b stehenden Vokals),
phische Schrift. Sie zeigt zweitens ein kom- z. B. in der Schreibung des Quantors nb „je-
plexes Zusammenspiel zwischen der Notation der“ (Genaueres unter 2.2.1.). (2) Der Haus-
sprachlicher Einheiten und der zusätzlichen Grundriß dient zur Notation des Wortes
Kennzeichnung dieser Notation (siehe unter pr.w „Haus“ oder zur zusätzlichen Kennzeich-
2.). Was die äußere Form angeht, bewegt sie nung der Notation von Bezeichnungen von
sich zwischen den Polen einer — vorzugsweise Gebäuden und ihrer Teile, z. B. des Wortes
monumentalen — Bilderschrift und Kursiv- ‛ .(w)t „Kammer“, geschrieben etwa
schriften, denen in mehr oder minder hohem (Phonogramm ‛ + Phonogramm t + Semo-
Grad die Bildhaftigkeit abgeht und in denen gramm „Haus“ (Genaueres unter 2.2.2.).
die Bedeutung der Einzelzeichen weit mehr Neben Phonogrammen und Semogrammen
als in der Bilderschrift hinter die der gesamt- gibt es (3) Schriftzeichen, denen innerhalb von
haften Zeichengruppen zurücktritt (siehe un- Zeichengruppen nicht die Bedeutung zu-
ter 3.). — Bei der Schrift-Entstehung sind kommt, die sie als Einzelzeichen etwa hätten,
Anstöße aus Sumer (Keilschrift) und/oder oder die als Einzelzeichen keine Bedeutung
Elam nicht auszuschließen, die Schriftansätze haben, und (4) einzelne Schriftzeichen(grup-
entwickeln sich jedoch in Ägypten bereits sehr pen), die der kalligraphischen Gestaltung der
früh in anderer Weise als im zeitgleichen Vor- Hieroglyphenzeichen-Folgen oder als Inter-
derasien (siehe unter 4.). Die weitere Ent- punktion dienen. — Da Phonogramme — im
wicklung des Schriftsystems ist gekennzeich- allgemeinen nach dem Rebusprinzip — aus
net durch Reduktion bzw. Ausbau des Zei- Semogrammen gewonnen sind, kann ein und
chenvorrats, durch Neuordnung des Verhält- dasselbe Hieroglyphenzeichen in beiderlei
nisses von Notation zu Kennzeichnung, eine Funktion auftreten. Beispiel: ist Semo-
Tendenz — namentlich in den Kursiven —
zur „Gruppenschreibung“ und durch Ansätze gramm „Haus“ und Phonogramm pr (aus
zur Schreibung der ursprünglich (und auch pr.w „Haus“).
später im allgemeinen) nicht geschriebenen Grundsätzlich können sprachliche Einhei-
Vokale (siehe unter 5., zur Gruppenschrei- ten wie Morpheme, Wörter, Wortformen mit
bung unter 3.). — Die Hieroglyphenschrift Semogramm oder mit Phonogramm(folgen)
stand Pate bei der Entwicklung der westse- notiert werden. Beispiele: die Präposition m
mitischen Konsonantenschrift (proto-sinaiti- „in“, geschrieben mit dem Phonogramm
sche bzw. proto-kanaanäische Schrift), sie lie- m; das Wort rn „Name“, geschrieben mit der
ferte die äußere Form der meroitischen Hiero- Phonogrammfolge r + n; das Wort r‛w
glyphen- und Kursivschrift und einzelne Al-
phabetzeichen des griechisch-koptischen Al- „Sonne, Tag“, geschrieben mit dem Semo-
phabets der christlichen Ägypter (siehe unter gramm „Sonne“. Solche Schreibungen sind
290 III. Schriftgeschichte

jedoch nur bei bestimmten Morphemen und 2.2.2.  Semogramme sind in der Hauptsache
Wörtern oder in bestimmten Wortverwendun- Darstellungen eines semantisch mehr oder
gen üblich. Im allgemeinen werden einem Teil minder eng mit dem sprachlich Bezeichneten
oder allen der Notation dienenden Hierogly- zusammenhängenden Objekts. Die Skala
phenzeichen andere Hieroglyphenzeichen der reicht von — nach den Darstellungsprinzipien
genannten Arten als Kennzeichnungen zuge- der ägyptischen Kunst — einigermaßen voll-
fügt: (1) Hieroglyphenzeichen(gruppen), die ständigen Darstellungen des sprachlich Be-
für eine Konsonantenfolge stehen, können zeichneten (Piktogramme, Champollions fi-
durch Zufügung von Phonogrammen für eine gurative Zeichen) über die Darstellung von
initiale und/oder finale Teilkonsonantenfolge dem sprachlich Bezeichneten nahestehenden
gekennzeichnet werden; Beispiele: pr + r Objekten bis hin zu rein konventionellen
Symbolen (Champollions tropische Zeichen).
für die Phonogrammfolge pr, „śḫm -Szep- Beispiele: Es stehen das Einzelobjekt Sonne,
ter“ + m für das Wort śḫm „mächtig sein“. (Sonnenscheibe mit distingierendem Punkt),
(2) Hieroglyphenzeichen(folgen), die für eine für r‛w „Sonne, Sonnengott Re“, der (zur Zeit
bedeutungstragende sprachliche Einheit, ein der Erfindung dieses Schriftzeichens typische)
Morphem, ein Wort, eine Wortform stehen, Hausgrundriß (Einraumhaus), , für pr.w
können durch Zufügung von Semogrammen, „Haus“, das (in ältester Zeit übliche) Schreib-
die für alle oder einen Teil der semantischen gerät, , für sẖ . w „Schreiber“, die Beine,
Merkmale stehen, gekennzeichnet werden; ,
Beispiele: r + ‛ + „Sonne“ + „Ver- für ἰ w „kommen“; die hockende (männliche)
ehrungswürdiger“ für das Wort r‛(w) „(Son- Person, , für die grammatische Kategorie
nengott) Re“, „Sonne“ + „Verehrungs- 1. Person, die (grammatische) Person par ex-
würdiger“ für das Wort r‛(w) „(Sonnengott) cellence; zwei Striche, , für śnw.wἰ „zwei“
Re“. — Hieroglyphenzeichen(gruppen), die oder die grammatische Kategorie Dual, drei
Phoneme notieren, werden üblicherweise Striche, , für ḫmt.w „drei“ oder die Plura-
schlicht als „Phonogramme“ bezeichnet, lität (grammatische Pluralität, Kollektivbe-
Hieroglyphenzeichen(gruppen), die bedeu- griffe, nicht Abzählbares). — Bei der Zuord-
tungstragende Einheiten notieren, als „Lo- nung zwischen Sprache und Schrift kommt
gogramme“ oder „Ideogramme“. Hierogly- dem Bedeutungsumfang der sprachlichen Ele-
phenzeichen(gruppen), die phonographisch mente und dem paradigmatischen (meist auch
kennzeichnen, werden üblicherweise als pho- etymologischen) Zusammenhang eine bedeu-
netische (besser wäre: phonographische) tende Rolle zu. Z. B. steht das Einzelobjekt
Komplemente oder kurz als Komplemente be- Sonne, , nicht nur für das Wort r‛w im Sinne
zeichnet, Kennzeichnungen nach (2) als De- von „Sonne, Sonnengott Re“, sondern auch
terminative. für eben dieses Wort im Sinne von „Tag“,
2.2. Funktionen der Hieroglyphenzeichen oder es steht das Paarhuferbein, , nicht nur
im einzelnen in der Schreibung des Wortes wḥm(.t) „Paar-
hufer“, sondern — weitaus häufiger — in der
2.2.1.  Phonogramme gibt es für alle konso- Schreibung des diesem als Etymon zugrun-
nantischen Phoneme der ägyptischen Sprache deliegenden Verbums wḥm „wiederholen“.
(Einkonsonantenzeichen) und für eine grö-
ßere Anzahl von Folgen von zwei konsonan- 2.2.3.  Es gibt Hieroglyphenzeichen, die im
tischen Phonemen (Zweikonsonantenzei- Einzelfall oder generell in einer Grauzone zwi-
schen Semogramm und Phonogramm stehen.
chen). Beispiele: die Eule für m; der Korb Beispiele: Der Neumond *pśn o. ä., mit
für nb. Inwieweit es Phonogramme für län- dem man außer einer Ableitung von diesem
gere Folgen konsonantischer Phoneme gibt, Wort kaum mehr etwas anderes als das Wort
ist nicht leicht zu entscheiden (es gibt zu we- pś(.t) „(Götter-)Neunheit“ notiert; die No-
nige Anwendungsfälle; zu derartigen Pro- tation des Adjektivs (der sog. Nisba) n’.t „zur
blemfällen siehe unter 2.2.3.). — Ob man die Stadt gehörig“ mit zwei Stadtzeichen, , d. h.
Phonogramme als Konsonantenzeichen ver- als der gleich oder ähnlich klingende Dual
steht oder — mit Gelb 1963 — als Silbenzei- n’.t „beide Städte“. In solchen Fällen ist das
chen, ist eine Frage der Theoriebildung. Folgt Prinzip am Werk, dem Phonogramme in der
man Gelb, so ist zu beachten, daß es sich bei Regel ihre Entstehung verdanken, das Rebus-
den Schreibsilben nur teilweise um Sprachsil- prinzip: die Verwendung des mit einem Se-
ben handelt, generell also um eine Art Buch- mogramm gekoppelten Lautwerts für die No-
stabiersilben. tation der gleichen oder ähnlichen Konsonan-
19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen 291

tenfolge in beliebigen Zusammenhängen. „Pyramide“ für das Wort mr „Pyramide“ (da-


Während echte Phonogramme viele solche neben die logographische Schreibweise wie
Anwendungen gefunden haben, blieben sol- z. B. „Pyramide“ für das Wort mr „Pyra-
che wie die genannten auf einzelne Anwen- mide“); (2) für allgemeines Determinativ:
dungsfälle beschränkt, stellen also eine Art
Quasi-Semogramme dar. — Solche Quasi-Se- „Gebäude“ in ‛ + t + „Gebäude“ für
mogramme sind ferner Abkürzungen wie ś ‛ .(w)t „Kammer“,  ḫ(.t) „Lichtland, Ho-
für śnb.w „er sei gesund“ im formelhaften rizont“ + t + „Gebäude“ für  ḫ.t „Lichtland,
Ausdruck ‛nḫ.w w . w śnb.w „er lebe, sei heil Horizont“ und viele andere Gebäude-
und gesund“ und traditionelle Schreibungen, (teil)bezeichnungen. — Die allgemeinen De-
die aus dem zeitgenössischen orthographi- terminative bilden eine Art semantisches
schen System nicht mehr (voll) verstanden Klassifikationssystem. Es gibt „(männliche)
werden können, wie die Schreibung des Wor- Personen“ (hockender Mann ), „Frauen“
tes für „König (von Oberägypten)“, , was (hockende Frau ), „Gebäude“ (Haus ),
zeitgemäß kaum anders denn als św(.)t ge- „Fremdländer“ (Bergland ), „schlechte
lesen werden kann, in Wirklichkeit aber —
als orthographische Lösung aus der Frühzeit Dinge“ (Sperling ), „Abstraktes“ (Buch-
der Schriftentwicklung — für nsw steht. rolle ) und vieles mehr.

2.2.4.  Komplemente bzw. Komplementfolgen, 2.2.6.  Die Graphie ist nicht genormt, aber
die bis zur Mitte der Konsonantenfolge des auch wiederum keineswegs beliebig. Es
zu komplementierenden Phonogramms bzw. herrscht eine Vorliebe für phonographische
Semogramms stehen, werden im Standardfall Notation plus semographische Kennzeich-
vor das betreffende Phonogramm bzw. Se- nung (Determinierung). Die semographische
mogramm gesetzt. Komplemente bzw. Kom- Notation (Logogramm, Ideogramm) ist nur
plementfolgen, die ab der Mitte der Konso- eingeschränkt möglich, es gibt nur für eine
nantenfolge des zu komplementierenden Pho- beschränkte Anzahl von Wörtern (schät-
nogramms bzw. Semogramms stehen, werden zungsweise um die tausend, in ständigem Ge-
hinter das betreffende Phonogramm bzw. Se- brauch davon mehrere hundert) entspre-
mogramm gesetzt. Beispiele mit zweikonso- chende Hieroglyphenzeichen, und auch in die-
sen Fällen wird die phonographische Nota-
nantiger Phonemfolge: t + tm , tion vielfach alternativ angewandt. Semogra-
phische Kennzeichnung ist üblich, sie unter-
p + ,  + n + n. Die Wahl des Komple- bleibt bei einigen kurzen, häufig gebrauchten
mentierungstyps ist in Grenzen frei, sie hängt Wörtern, so z. B. bei der Präposition m „in“
von kalligraphischen Erwägungen, von der (aber auch merkwürdigerweise bei dem Wort
unter 3. behandelten Schriftart oder von zeit- rn „Name“), und nach Morphemen wie z. B.
spezifischen Vorlieben ab (Weiteres hierzu un- den Personalsuffixen der 2. und 3. Person
ter 5.2.). Singular. Die Schreibkonventionen folgen bei
unterschiedlichen Teilwortschätzen unter-
2.2.5.  Determinative stehen hinter der Nota- schiedlichen (unterschiedlich alten) Regeln.
tion der zu kennzeichnenden Einheit. Beispiel: So werden z. B. Beamtentitel gerne „archa-
[ ḫ(.t) „Horizont“ + t für das Wort isch“-knapp geschrieben. — Die Wahl unter
alternativen Schreibweisen ist von diversen
 ḫ.t „Lichtland, Horizont“] + „Gebäude“ + Faktoren abhängig, so vom Ko-Text, vom
tw + „Verehrungswürdiger“ + „Plural“ für Beschreibmaterial, von kalligraphischen
die Wortform ḫ.tw „Horizontische (Götter)“. Rücksichten. Beispiel: w‛,w „einer“ kann ko-
Es gibt spezielle Determinative, die die Be- text-abhängig evtl. mit dem „hockenden
deutung bestimmter Morpheme, Wörter oder Mann“, , als gewöhnlicher Sterblicher oder
Wortformen (und der davon abgeleiteten) an-
geben, und allgemeine (generelle, generische) mit dem „hockenden Mann mit Bart“, , als
Determinative, die ein semantisches Merkmal „Verehrungswürdiger“ (Gott, König oder
angeben, das mehr als einem Morphem, dgl.) gekennzeichnet werden.
einem Wort oder einer Wortform (und der
davon abgeleiteten) zukommt. Zeichen erste-
rer Art sind in der Regel auch als semogra- 3. Äußere Form: Bilderschrift und
phische Notationen (Logogramme/Ideo- daraus abgeleitete Kursivschriften
gramme) in Gebrauch. Beispiele: (1) für spe-
zielles Determinativ: „Pyramide“ in 3.1.  Die Hieroglyphenschrift, ursprünglich
eine „Bilderschrift“, hat auf Dauer ihre Bild-
m r + m + r (nach Inversion aus kalligraphi- haftigkeit bewahrt (→ Abb. 34.1 auf Tafel
schem Grund statt * m + mr + r ) +
292 III. Schriftgeschichte

IV). Daneben entwickelte sich früh eine Zeichenfunktion hinaus Bildfunktion haben.
Kursivschrift, das sog. Hieratische. Auch Das äußert sich vor allem in der Ausgestal-
wenn dessen Zeichenformen oft nicht mehr tung der Bildzeichen selbst (Variation und
die ursprünglichen Bilder erkennen lassen, Neuschaffung von Zeichenformen) und in der
blieben den Ägyptern die Entsprechungen auf Ko- und Kontext-Sensibilität (Wahl und
Dauer weitgehend geläufig. Eine Etappe in Kombination der Schriftrichtungen und der
der Auseinandersetzung der Bilderschrift und Blickrichtung der einzelnen Hieroglyphen;
der Kursivschrift wird im 7. Jahrhundert siehe Fischer (1977 a; 1986).
v. Chr. mit der sog. Demotischen Schrift und
der ephemeren sog. Abnormal-Hieratischen 3.4.  In den Kursiven verlieren die Zeichen-
Schrift erreicht, Schriften, bei denen es nicht formen an Selbständigkeit. Zeichenfolgen
mehr ohne weiteres und oft gar nicht mehr werden zu Ligaturen verbunden (→ Abb.
möglich ist, kursive Schreibungen in Bilder- 34.3). Der fallweise eintretenden Verunklä-
schriftzeichen zurückzuübersetzen. — Eine rung der Einzelzeichen wird entgegengewirkt
Rückentwicklung des Hieratischen in Rich- durch eine reichere und stärker standardi-
tung auf die Bilderschrift stellen die sog. Kur- sierte Orthographie. Wichtiger als das Ein-
siv-Hieroglyphen dar, eine Kursive, deren Zei- zelzeichen wird die Zeichengruppe („Sche-
chenformen den hieroglyphischen wieder stär- matogramm“: Morphem-, Wort-, Wortform-
ker angenähert sind (diese Schriftart wird Schreibung), zumal in den spätesten Kursiven
auch, da in Totenbuchhandschriften ange- des Demotischen und des ephemeren Abnor-
wandt, als Totenbuch-Hieroglyphen bezeich- mal-Hieratischen. Dabei verlieren auch die
net; → Abb. 34.2). Determinative an Individual-Wert. Auf der
anderen Seite hilft man sich im Demotischen
3.2.  Die Grund-Schreibrichtung der Bilder- dort, wo Wortschreibungen nicht tradiert
schrift ist diejenige von rechts nach links (an- sind, mit der Notation des zeitgenössischen
gewandt hier in Abb. 19.1). Die entgegenge- Lautstands, ohne sich mit den älteren Kom-
setzte Schreibrichtung, von links nach rechts, plementierungsusancen zu belasten, unter
ist sehr gebräuchlich, bedarf aber in aller Re- vorzugsweiser Verwendung von Einkonso-
gel einer besonderen Motivierung (hier, wie nantenzeichen. Es vermehren sich auch re-
in modernen Druckwerken üblich, im laufen- busartige Ersatzschreibungen vom Typ n’.t
den Text angewandt). Die Kursivschriften (siehe unter 2.2.3.).
(ausgenommen die Kursiv-Hieroglyphen) be-
sitzen nur die Standard-Schreibrichtung der 3.5.  In Einzelfällen werden Kursivzeichen (in
Bilderschrift, diejenige also von rechts nach stilisierter Form) in die Bilderschrift über-
links. — Bilderschrift-Texte werden zu allen nommen. Beispiel: w (die kursive Form des
Zeiten entweder in (vertikalen) Kolumnen
oder in (horizontalen) Zeilen geschrieben, wo- Bilderschriftzeichens w ).
bei in älterer Zeit die Kolumnenschreibweise
vorherrscht, in jüngerer Zeit — archaisierende
Tendenzen außer acht gelassen — die Zeilen- 4. Entstehung
schreibweise. Hieratisch wird früh in Kolum- Die frühesten Schriftzeugnisse, die sich rela-
nen, später und zunehmend in Zeilen ge- tiv-chronologisch sicher datieren lassen und
schrieben, Demotisch und Abnormal-Hiera- deren Charakter als Schriftzeichen sich mit
tisch standardmäßig nur noch in Zeilen. Bestimmtheit behaupten läßt, stammen aus
der abydenischen Königsnekropole. Sie sind
mit Königen der „prädynastischen“ 0. Dy-
Abb. 19.1: Schreibung des Götternamens Amun in nastie verbunden, und zwar bis zur fünften
(2) hieratischer Schrift und (1) Re-Transkription in Generation vor die sog. Reichseinigung zu-
Bilderschrift (von rechts nach links bzw. von oben rück, mit der die traditionelle Dynastiezäh-
nach unten:  + mn + n + „Gott“; in echter Bil- lung einsetzt (Kaiser 1990). Absolut-chrono-
derschrift würde man nicht das angegebene Deter- logisch ist dieser Zeitpunkt nur approximativ
minativ gebrauchen) sowie (3) in demotischer Ver- festzulegen. Da die „Reichseinigung“ grob
kürzung. geschätzt um 3000 v. Chr. anzusetzen ist,
reichen die Schriftzeugen sicher in das aus-
3.3.  In der Bilderschrift können die Schrift- gehende 4. Jahrtausend zurück. Ob damit be-
zeichen infolge ihrer Bildhaftigkeit über ihre reits die ersten Anfänge der Schrift in Ägyp-
19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen 293

ten gefaßt sind, läßt sich nicht mit Bestimmt- men keine ägyptischen wären). Schließlich
heit sagen. Grundsätzlich ist damit zu rech- werden Topfmarken, vor allem aus der frühen
nen, daß damals — wie später — auf ver- dynastischen Zeit, angeführt (Helck 1990), die
gängliche, nicht erhalten gebliebene Materia- auf Beigabegefäßen sowohl in Oberägypten
lien geschrieben wurde, nicht gerade auf als auch in U nterägypten bezeugt sind, die
Papyrus (der seit der 1. Dynastie — un- nach der Art ihrer Kombinierbarkeit den Ein-
beschriftet — belegt ist), sondern etwa auf druck von Schrift erwecken, deren Zeichen-
Baumblätter, die in späteren Ritualszenen als formen aber so wenig mit der späteren Hiero-
Schriftträger eine Rolle spielen. — Die frü- glyphenschrift zu tun haben, daß diese, wenn
hesten Schriftzeugen sind schrift-systematisch es sich in der Tat um Schrift handelt, eine
meist schwer zu beurteilen, weil ihre Lesung andere als die spätere Hieroglyphenschrift
unsicher oder unmöglich ist. Erst im Laufe sein muß. Da diese Art von Topfmarken je-
der 1. Dynastie werden die Zusammenhänge doch erst zu einer Zeit geläufig ist, als es die
mit der uns hier beschäftigenden Hierogly- Hieroglyphenschrift bereits gab, könnte es
phenschrift deutlicher: Es nehmen die Schrift- sich um Schrift-Imitate handeln, mit denen
zeichen zu, die man mit späteren Hierogly- unterägyptische Töpfer ihren Produkten
phenzeichen identifizieren, d. h. lesen, kann, einen höheren Prestige- und damit Verkaufs-
und im Gegenzug die Schriftzeichen ab, die wert zu geben suchten. Für diese Interpreta-
im späteren Schriftzeicheninventar nicht mehr tion spricht nicht zuletzt die Diskrepanz zwi-
vorkommen, für uns daher im allgemeinen schen der hohen keramischen Qualität und
bislang unlesbar geblieben sind. Es lassen sich der unsicheren Formgebung bei den Topf-
ferner, je später desto besser, die unter 2. marken.
behandelten Schriftprinzipien erkennen, die Die vielberufenen Querverbindungen nach
der späteren Hieroglyphenschrift zugrunde- Sumer (oder Elam) lassen sich unter derzei-
liegen (neben der — elementaren — semogra- tigen Gegebenheiten schwer beurteilen. Es ist
phischen (logographischen) Komponente die durchaus wahrscheinlich, daß die Schriftent-
phonographische; neben der — elementaren wicklung hier und dort nicht unabhängig von-
— Notation auch die Kennzeichnung). Eine einander geschah. Die genaueren Zusammen-
genauere schriftgeschichtliche Analyse der hänge lassen sich jedoch noch kaum definitiv
frühen Schriftzeugnisse findet sich bei Kahl bestimmen. Sicher ist, daß sich die sumerische
1994. Keilschrift und die ägyptische Hieroglyphen-
Wolfgang Helck hat neuerdings die Frage schrift asynchron entwickelt haben. Wenn
aufgeworfen, ob es neben und vor der hier in etwa die sumerische Keilschrift tatsächlich,
Rede stehenden Hieroglyphenschrift in Ägyp- wie die jeweils ältesten überlieferten Anfänge
ten noch bzw. schon eine andere Schrift ge- bzw. Vorgänger anzunehmen gestatten, der
geben habe, deren Heimatgebiet U nterägyp- ägyptischen Hieroglyphenschrift voranging,
ten sei, eine Schrift, die er nach dem prä- so wurde sie in der frühen dynastischen Zeit
dynastischen Zentralort Buto als „butische in der Entwicklung der zukunftsträchtigen
Schrift“ bezeichnet (Helck 1985; 1987). Er phonographischen Komponente überholt, die
führt hier vor allem die zahlreichen Schrift- in Ägypten früher systematisch ausgebaut
zeichen der ältesten — oberägyptischen — wurde als in Sumer (Schenkel 1983, 54—57).
Schrift ins Feld, die auf der Basis der späteren
Hieroglyphenschrift nicht gelesen werden
können. Da jedoch auch eine „butische“ Le- 5. Einzelentwicklungen:
sung nach einem „butischen“ Schriftsystem Zeichenvorrat, Verhältnis Notation
(evtl. als Verschriftlichung einer anderen als zu Kennzeichnung, Silbenschrift
der ägyptischen Sprache) kaum über die eine
oder andere Vermutung hinaus kommt, muß 5.1.  Der Zeichenvorrat der Hieroglyphen-
die Frage unentschieden bleiben. Ein anderes schrift ist in ständiger Veränderung begriffen.
Indiz liegt möglicherweise in den durch die Dramatisch zu nennen sind diese Verände-
Annalen überlieferten Namen prädynasti- rungen jedoch nur in der Frühzeit und in
scher unterägyptischer Könige vor, die zwar den späten, ptolemäisch-römischen Tempel-
mit Zeichen geschrieben sind, die der Form inschriften. In der frühen Zeit kommen viele
nach solche der späteren Hieroglyphenschrift Schriftzeichen außer Gebrauch, andere wer-
sein könnten, die aber samt und sonders nicht den neu eingeführt. Der U mschichtungspro-
ägyptisch gelesen werden können (was aller- zeß führt zu einem Zeichenvorrat, der seit
dings allein daran liegen könnte, daß die Na- dem Mittleren Reich (Anfang 2. Jahrtausend
294 III. Schriftgeschichte

v. Chr.) einen Maximal-U mfang von mehr als ägyptischer Wörter eine rudimentäre Silben-
1000, aber weniger als 2000 Zeichen hat, von schrift in Gebrauch, die aus der Standard-
denen deutlich weniger als 1000 im allgemei- Hieroglyphenschrift hervorgegangen ist und
nen Gebrauch stehen (die Standardzeichenli- mit dieser zusammen benutzt wird (zuletzt
ste bei Gardiner 1927 enthält weniger als 800). Schenkel 1986, Helck 1989, Schneider 1992,
In den späten Tempelinschriften wächst die Zeidler 1993). Der U nterschied zur Standard-
Zahl auf viele Tausende an. — Bei der Er- Hieroglyphenschrift besteht darin, daß die
weiterung des Inventars spielt die Bildhaftig- Silbenschrift — bis zu einem gewissen Grade
keit der Schrift eine entscheidende Rolle: Die — explizit die Vokale schreibt, die in der
Möglichkeit, neue Semogramme zu schaffen, Standard-Hieroglyphenschrift ungeschrieben
steht von daher stets offen. Aus Semogram- bleiben. Rudimentär ist diese Silbenschrift in-
men können generell — nach dem Rebusprin- sofern, als nicht alle Vokale der ägyptischen
zip — Phonogramme abgeleitet werden. Ex- (oder auch der alt-kanaanäischen) Sprache
tensiv nutzen diese Möglichkeit die Tempelin- eindeutig geschrieben werden. U nterschieden
schriften der griechisch-römischen Zeit. Da- werden i/e (fallweise auch Sonderschreibung
neben wird gelegentlich, besonders im späte- für e ) u/o (fallweise auch Sonderschreibung
sten der großen Tempel, dem von Isnā, das für o) und die restlichen Vokale, worunter a,
Prinzip der Akrophonie (maßgebend ist der Schwa mobile (ǝ) und Schwa quiescens (∅)
wortanlautende Konsonant) zur Gewinnung fallen. — Die Silbenschreibung folgt — über
von Phonogrammen herangezogen (Sauneron das Standard-Hieroglyphenschrift-Prinzip
1982), ein Prinzip, das in älterer Zeit bereits hinaus, das nach Gelb (1963) ebenfalls als
für kryptographische Zwecke genutzt wurde. Silbenschrift zu interpretieren ist — zwei Prin-
zipien, dem „Keilschrift-Prinzip“ und dem
5.2.  Im Verhältnis Notation — Kennzeich- „Devanagari-Prinzip“. Silbenzeichen nach
nung sind Verschiebungen zu beobachten. dem Keilschrift-Prinzip stellen eine Silbe en
Während man in der frühen Zeit des Schrift- bloc dar. Vielfach handelt es sich um Schrei-
gebrauchs oft die Notation als das Zentrum bungen für ägyptische Wörter mit entspre-
betrachtet, um das herum Kennzeichnungen chender Lautform, die nach dem Rebus-Prin-
angeordnet werden können (Reihenfolge: zip für beliebige gleich oder ähnlich lautende
Kennzeichnung(en) — Notation — Kenn- Silben eingesetzt werden. Beispiele: ḫu (eine
zeichnung(en)), bevorzugt man später eine Schreibung für das Wort *ḫǒ < *ḫǎ  „tau-
unidirektionale Abfolge der beiden Arten von
Zeichen (Reihenfolge: Notation — Kenn- send“), bi (eine Schreibung für *bi < *bi
zeichnung(en)). Seit der Schriftreform des „Ba (eine Personenkonstituente)“). Silbenzei-
Mittleren Reiches (ca. 2000 v. Chr.) kann als chen nach dem Devanagari-Prinzip bestehen
Standard-Verfahren der Morphem-, Wort- aus einer oder zwei Komponenten, entweder
und Wortformschreibung die Reihenfolge einer Komponente, die den silbenanlautenden
Phonographische Notation(en) — allgemein- Konsonanten bezeichnet, gefolgt von einer
semographische Kennzeichnung(en) gelten. zweiten Komponente, die einen der Vokale i/
Es werden jedoch — aus diversen Gründen e (evtl. e ), u/o (evtl. o) bezeichnet, oder aus
— viele ältere orthographische Einzellösun- der den silbenanlautenden Konsonanten be-
gen nach anderen Prinzipien weiter benutzt. zeichnenden Komponente allein, in welchem
Bei den Semogrammen tritt jetzt eine Kon- Falle der folgende Vokal als a, ǝ oder ∅ an-
zentration auf allgemeine Determinative ein, zunehmen ist. Beispiele: h + ∅ für ha,
es wird eine Art semantisches Klassifikations-
system (siehe 2.2.5.) entwickelt. — Verwässert h + i (ursprünglich  ) für hi, h + u (ur-
wird nach und nach das Prinzip Notation und sprünglich w ) für hu . — Die Silbenzeichen
Kennzeichnung in den Kursiven, so besonders nach dem Devanagari-Prinzip bezeichnen
ausgeprägt im Demotischen, wo die Funktion stets offene Silben, stellen mithin — nach der
der Einzelzeichen hinter den gesamthaften Silbenstruktur des Ägyptischen — Buchsta-
Morphem- oder Wortbildern zurücktritt. biersilben dar. Die Anfänge dieser Schreib-
weise gehen mindestens bis ins Mittlere Reich
5.3. Silbenschrift (Anfang 2. Jahrtausend v. Chr.) zurück. Sie
basiert — ähnlich wie die Plene-Schreibungen
Im Neuen Reich (18.—20. Dynastie, ca. 15.— semitischer Schriften — auf Neuinterpreta-
12. Jahrhundert v. Chr.) steht, vorzugsweise tion von Schreibungen im Anschluß an laut-
für die Schreibung vorderasiatischer (semi- liche Veränderungen des damit Geschriebe-
tischer, genauer: alt-kanaanäischer) Fremd- nen. So ist fallweise deutlich, daß Schreibun-
wörter, aber auch fallweise für die Schreibung
19.  Die ägyptische Hieroglyphenschrift und ihre Weiterentwicklungen 295

gen für Silben mit u auf Schreibungen für Jahrhunderten das Devanagari-Prinzip an-
geschlossene Silben mit schließendem Kon- wenden. Einzubeziehen wären hier nament-
sonanten w zurückgehen. Versteht man die lich die persische Keilschrift und die meroi-
Schreibung der Konsonanten nach dem Stan- tische Schrift mit ihren besonderen Beziehun-
dard-Hieroglyphenschrift-Prinzip als Silben- gen zur ägyptischen Hieroglyphenschrift (zu
schreibung, so handelt es sich im übrigen bei letzterer Weiteres unter 6.).
der Silbenschrift nach dem Devanagari-Prin-
zip um eine Variante des Standard-Prinzips 5.4. Versuche in phonographischer
Notation + Kennzeichnung — Notation Alphabetschrift
einer Silbe unter fallweise expliziter Kenn-
zeichnung bezüglich der vokalischen Kom- In der Saitenzeit (6./7. Jahrhundert v. Chr.),
ponente. — Bei der Ausgestaltung der Silben- zu einer Zeit, in der sich die Kontakte zwi-
schrift im Neuen Reich dürfte wohl die zeit- schen Ägyptern und Griechen auf ägypti-
genössische Keilschrift Pate gestanden haben, schem Boden intensivierten, finden sich Texte,
in der die internationale Korrespondenz ge- die zu Notationen mit Einkonsonantenzei-
führt wurde, selbst in Ägypten. — Im Laufe chen und ohne Determinative tendieren. Auch
der 20. Dynastie (12. Jahrhundert v. Chr.) be- wenn man ähnliche Schreibweisen in Texten
ginnt die Silbenschrift zu verwildern, mögli- aus dem Alten Reich anführen kann und ob-
cherweise als Folge gravierender Lautent- wohl gerade die Saitenzeit ein Faible für alte
wicklungen bei den Vokalen, die die Verbin- Texte hat, sprechen die auf diesem Wege er-
dung zu den geltenden Schreibungen zerstör- zielten Orthographien bei genauerer Betrach-
ten. tung eher für Beeinflussung durch die grie-
Eine ähnliche Silbenschreibung läßt sich in chische Alphabetschrift als für innerägypti-
der späten Zeit, namentlich in der Ptolemäer- schen Archaismus (siehe Gunn 1943, 55—56).
und Römerzeit, beobachten, vor allem in den
Transkriptionen griechischer Namen. Hier
werden sehr häufig explizit die Vokale u/o und 6. Abhängigkeit anderer Schriften von
i/e geschrieben, oft, aber deutlich weniger der ägyptischen
häufig, der Vokal a. Für das ptolemäische Bei der Entwicklung der westsemitischen Al-
Demotisch liegt eine eingehende U ntersu- phabetschrift(en) (proto-sinaitisch, proto-ka-
chung von Willy Clarysse vor (Clarysse & naanäisch) hat offensichtlich, was das Prinzip
Van der Veken 1983). Ihre Resultate lassen angeht, die ägyptische Hieroglyphenschrift
sich — nach Einschätzung Heinz-Josef This- (Standard-Prinzip) Pate gestanden. Hier wie
sens — auf das Demotische insgesamt verall- dort gibt die Schrift über Konsonanten Aus-
gemeinern und darüber hinaus — nach eige- kunft, nicht aber über Vokale, wogegen die
ner Einschätzung — auch auf das Hierogly- andere Schrift, die als Vorbild in Betracht
phisch-Ägyptische übertragen. (Die Beobach- gekommen wäre, die Keilschrift, von den Vo-
tung findet sich bereits bei Schwartze (1843), kalen nicht absieht. Dagegen ist die Herlei-
der die Hälfte seines verschrobenen 2000-Sei- tung der Zeichenformen aus ägyptischen Kur-
ten-Werkes der Frage widmet, ob die Hiero- siv-Zeichen, die bereits im 19. Jahrhundert
glyphenschrift eine Silbenschrift sei und dabei beliebt war und durch die Entdeckung der
richtig bemerkt, daß unter den Vokalen, die proto-sinaitischen Inschriften — das geogra-
im Prinzip alle geschrieben werden können, i, phische m issing link — im 20. Jahrhundert
o und u bevorzugt geschrieben werden, siehe noch einmal Oberwasser erhielt, problema-
etwa 489.) Auch wenn die Vokalschreibung tisch (→ Art. 20, 29). Die früheren Versuche
Ähnlichkeit mit der Silbenschreibung des leiden darunter, daß sie ihre Vergleichsobjekte
Neuen Reiches hat, fragt es sich dennoch, ob aus viel zu späten Zeiten wählen (Sass 1988,
hier überhaupt ein Zusammenhang besteht, 135—168; 1991, 4—27). Die Zeichenformen
ob nicht vielmehr — ein Vorschlag Klaus könnten auch originale Erfindungen nach
Beyers — die zeitgenössische aramäische dem Rebusprinzip darstellen (hierzu auch
Schrift Pate stand, deren Vokalschreibung, Beyer 1984, 72—76).
über die hier nicht im einzelnen referiert wer- U mgekehrt liegen die Dinge bei der me-
den kann, mit der späteren ägyptischen roitischen Schrift, die spätestens im ausgehen-
durchaus vergleichbar ist (→ Art. 20). Die den 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist.
Frage muß im übrigen im weiteren Rahmen Dieser, die in einer Kursivschrift und in einer
gesehen werden, im Rahmen nämlich der „Hieroglyphenschrift“ vorliegt, liegen ägyp-
Schriften, die in den letzten vorchristlichen tische Zeichenformen zugrunde, die sich im
296 III. Schriftgeschichte

Falle der Kursive in der Hauptsache auf den Lists of the Priests of Alexandria and Ptolemais
frühdemotischen Schriftduktus (ca. 2. Hälfte with a Study of the Demotic Transcriptions of their
des 6. Jahrhunderts v. Chr.) zurückführen las- Names. Leiden [hierzu ergänzend Heinz-Josef This-
sen (Priese 1973). Dagegen ist sie ihrem Prin- sen in Enchoria 13, 1985, 179].
zip nach eine Silbenschrift des Devanagari- Fischer, Henry G. 1977 a., The Orientation of
Typs, die anders als die ägyptische Silben- Hieroglyphs. Part I. Reversals. New York.
schrift des Neuen Reiches nur a durch Nicht- —. 1977 b. Hieroglyphen. In: Helck, Wolfgang &
schreibung wiedergibt, dagegen Schwa mobile Westendorf, Wolfhart (ed.), Lexikon der Ägypto-
(in meroitistischer Transkription e ) und logie. Wiesbaden, II, 1189—1199.
Schwa quiescens (∅), wenn auch — wie etwa —. 1986. L’écriture et l’art de l’Egypte ancienne.
die äthiopische Schrift — mit dem gleichen Quatre leçons sur la paléographie et l’épigraphie
Zeichen, explizit schreibt (Hintze 1973, 1987). pharaoniques. Paris.
Ein genetischer Zusammenhang mit der ägyp-
Gardiner, Alan H. 1927. Egyptian Grammar. Ox-
tischen Silbenschrift ist derzeit zwar nicht
ford [3. Aufl. London 1952].
definitiv auszuschließen, jedoch nicht sehr
wahrscheinlich. Plausibler ist ein Zusammen- Gelb, Ignaz J. 1963. A Study of Writing. 2 Chicago
hang mit anderen zeitgenössischen Schriften, [1. Aufl. 1952].
zumal der aramäischen oder der keilschrift- Gunn, Battiscombe. 1943. Notes on the Naukratis
lich-persischen, zu denen dann auch die späte Stela. Journal of Egyptian Archaeology 29, 55—59.
Silbenschrift in Ägypten in Beziehung zu set- Helck, Wolfgang. 1985. Gedanken zum U rsprung
zen wäre (vgl. unter 5.4.). der ägyptischen Schrift. In: Posener-Kriéger, Paule
Ägyptische Zeichenformen wurden im (ed.), Mélanges Gamal Eddin Mokhtar. Kairo, I,
Rahmen der Wiedergabe des Ägyptischen in 395—408.
griechischer Alphabetschrift (für die Wieder- —. 1987. U ntersuchungen zur Thinitenzeit. Wies-
gabe vor allem solcher Laute, für die das baden.
Griechische kein geeignetes Äquivalent be- —. 1989. Grundsätzliches zur sog. „Syllabischen
sitzt) benutzt (siehe etwa Osing 1976, 6—7), Schreibung“. Studien zur altägyptischen Kultur 16,
auf Dauer in Gestalt der sog. Zusatzbuchsta- 121—143.
ben des koptischen — im Kern griechischen —. 1990. Thinitische Topfmarken. Wiesbaden.
— Alphabets (siehe etwa Gardiner 1927, Hintze, Fritz. 1973. Some Problems of Meroitic
5—6). Philology. Meroitica 1, 321—336.
—. 1987. Zur Interpretation des meroitischen
7. Aussterben Schriftsystems. Beiträge zur Sudanforschung 2,
41—50.
Die Fähigkeit, Texte in Hieroglyphenschrift Kahl, Jochem. 1994. Das System der ägyptischen
zu schreiben, läßt im 2. Jahrhundert n. Chr. Hieroglyphenschrift in der 0.—3. Dynastie. Wies-
deutlich nach, zu einer Zeit, als die demoti- baden.
sche Kursive noch beherrscht wird. Die letzte Kaiser, Werner. 1990. Zur Entstehung des gesamt-
datierbare hieroglyphische Inschrift stammt ägyptischen Staates. Mitteilungen des Deutschen
von 394 n. Chr., die letzte datierbare demo- Archäologischen Instituts Abteilung Kairo 46,
tische von 452 n. Chr. Beide befinden sich in 287—299.
Philae, dem südlichen Rückzugsgebiet des Kees, Hermann (ed.). 1959. Ägyptische Schrift und
ägyptischen Kultes, wo dieser noch bis 535 Sprache. In: Handbuch der Orientalistik, Leiden.
n. Chr. vom Verbot paganer Kulte praktisch
ausgenommen war. Im nördlichen Alexandria Osing, Jürgen. 1976. Der spätägyptische Papyrus
könnte es zum mindesten bis 391 n. Chr. noch BM 10808. Wiesbaden.
Personen gegeben haben, die Hieroglyphen Priese, Karl-Heinz. 1973. Zur Entstehung der me-
lesen konnten. roitischen Schrift. Meroitica 1, 273—306.
Sauneron, Serge. 1982. Esna VIII. Kairo.
Sass, Benjamin. 1988. The Genesis of the Alphabet
8. Literatur and its Development in the Second Millenium B. C.
Wiesbaden.
Anonymus (ed.). [1973]. Textes et langages de
l’Egypte pharaonique. Kairo, I, 1—77. —. 1991. Studia alphabetica. Freiburg (Schweiz)/
Göttingen.
Beyer, Klaus. 1984. Die aramäischen Texte vom
Toten Meer. Göttingen. Schenkel, Wolfgang. 1981. Rebus-, Buchstabiersil-
ben- und Konsonantenschrift. Göttinger Miszellen
Clarysse, W. & Van der Veken, G. 1983. The Epon-
52, 83—95.
ymous Priests of Ptolemaic Egypt. Chronological
20.  Die nordwestsemitischen Schriften 297

—. 1983. Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten. Schwartze, Moritz G. 1843. Das alte Aegypten ...
In: Assmann, Aleida, Assmann, Jan & Hardmeier, Erster Theil. Darstellung und Beurtheilung der
Christof (ed.), Schrift und Gedächtnis. München, vornehmsten Entzifferungs-Systeme der drei alt-
45—63. ägyptischen Schrift-Arten. Erster Theil. Leipzig
—. 1984. Schrift. In: Helck, Wolfgang & Westen- [XLVIII, 2183 S.; mehr nicht erschienen].
dorf, Wolfhart (ed.), Lexikon der Ägyptologie. Winter, Erich. 1989. Hieroglyphen. In: Reallexikon
Wiesbaden, V, 713—735. für Antike und Christentum. Stuttgart, Lief. 113,
—. 1986. Syllabische Schreibung. In: Helck, Wolf- 83—103.
gang & Westendorf, Wolfhart (ed.), Lexikon der Zeidler, Jürgen. 1993. A New Approach to the Late
Ägyptologie. Wiesbaden, VI, 114—122. Egyptian „Syllabic Orthography“. In: Sesto Con-
Schneider, Thomas. 1992. Asiatische Personenna- gresso Internazionale di Egittologia. Turin. III,
men in ägyptischen Quellen des Neuen Reiches. 579—590.
Freiburg (Schweiz)/Göttingen.
Wolfgang Schenkel, Tübingen (Deutschland)

20. Die nordwestsemitischen Schriften

1. Einführung tischen Raum zu lokalisieren. Während die


2. Frühe semitische Alphabete genannten Silbenschriften bald aufgegeben
3. Die klassische Periode wurden, hat die semitische Konsonanten-
4. Die jüngeren Ausformungen der aramäischen schrift im Laufe der Geschichte weit über den
Schrift semitischen Kulturkreis hinaus eine äußerst
5. Zusammenfassung reiche Entfaltung erfahren.
6. Literatur Die einzelnen Zeichen der semitischen
Konsonantenschrift haben sich typologisch
nicht aus Silbenzeichen, sondern aus bildhaf-
1. Einführung ten Wortzeichen entwickelt. Dabei wurde die
Die Erfindung der westsemitischen Konso- bildhafte Form der Wortzeichen anfangs bei-
nantenschrift fällt in das frühe 2. Jahrtausend behalten und erst allmählich abstrahiert. Der
v. Chr. Zu jener Zeit waren in Mesopotamien Lautwert der einzelnen Zeichen wurde bei
diesem Verfahren unter Anwendung des akro-
und in Ägypten etablierte komplexe Schrift- phonischen Prinzips vom Anfangslaut der
systeme in Gebrauch, die aus einer Vielzahl entsprechenden Wortzeichen hergeleitet. Da
von Wort- und Silbenzeichen bestanden. An- alle hamitosemitischen Wörter konsonantisch
sätze zu einfacheren Schriftsystemen stammen anlauten, war das Ergebnis dieses Verfahrens
aus anderen Kulturräumen und dürften dort notgedrungen eine reine Konsonantenschrift,
von Anfang an von merkantilen Motiven ge- wobei die Zeichenzahl der Zahl der konso-
tragen worden sein. Sie wurden ermöglicht nantischen Phoneme der Sprache des/r
durch eine Konzentration auf die lautliche Schrifterfinder(s) entsprach. Die vokalischen
Seite der Sprache. Zwei verschiedene Ansätze Phoneme blieben folglich in der Graphie un-
sind nachweisbar: berücksichtigt. Dieses vokallose Schriftsystem
1. Die Entwicklung von einfachen Silben- ist noch heute in den meisten semitischen Kul-
schriften, bestehend aus einer überschau- turen in Gebrauch. Das auch im semitischen
baren Zahl von Zeichen für ausschließlich Bereich vorhandene Bedürfnis nach Notie-
offene Silben (Konsonant + Vokal). rung der Vokale (vornehmlich der Langvo-
2. Die Entwicklung einer Konsonanten- kale) führte hier im wesentlichen lediglich zur
schrift. Entwicklung von Hilfslösungen, indem be-
Einfache Silbenschriften (1.), die teilweise stimmte Konsonantenzeichen gleichzeitig
noch nicht entziffert werden konnten, sind im auch als Vokalzeichen verwendet wurden
ägäischen (Kreta, Zypern) und im syrisch- („Plene-Schreibungen“). Erst die Griechen
jordanischen Raum (Byblos, Balu‛ah und entwickelten nach ihrer Übernahme der se-
Deir ‛Alla) bezeugt. Die Erfindung der Kon- mitischen Konsonantenschrift ein Schriftsy-
sonantenschrift (2.) ist im palästinisch-sinai- stem, in dem Konsonanten und Vokale glei-
chermaßen notiert werden konnten. Dabei
20.  Die nordwestsemitischen Schriften 297

—. 1983. Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten. Schwartze, Moritz G. 1843. Das alte Aegypten ...
In: Assmann, Aleida, Assmann, Jan & Hardmeier, Erster Theil. Darstellung und Beurtheilung der
Christof (ed.), Schrift und Gedächtnis. München, vornehmsten Entzifferungs-Systeme der drei alt-
45—63. ägyptischen Schrift-Arten. Erster Theil. Leipzig
—. 1984. Schrift. In: Helck, Wolfgang & Westen- [XLVIII, 2183 S.; mehr nicht erschienen].
dorf, Wolfhart (ed.), Lexikon der Ägyptologie. Winter, Erich. 1989. Hieroglyphen. In: Reallexikon
Wiesbaden, V, 713—735. für Antike und Christentum. Stuttgart, Lief. 113,
—. 1986. Syllabische Schreibung. In: Helck, Wolf- 83—103.
gang & Westendorf, Wolfhart (ed.), Lexikon der Zeidler, Jürgen. 1993. A New Approach to the Late
Ägyptologie. Wiesbaden, VI, 114—122. Egyptian „Syllabic Orthography“. In: Sesto Con-
Schneider, Thomas. 1992. Asiatische Personenna- gresso Internazionale di Egittologia. Turin. III,
men in ägyptischen Quellen des Neuen Reiches. 579—590.
Freiburg (Schweiz)/Göttingen.
Wolfgang Schenkel, Tübingen (Deutschland)

20. Die nordwestsemitischen Schriften

1. Einführung tischen Raum zu lokalisieren. Während die


2. Frühe semitische Alphabete genannten Silbenschriften bald aufgegeben
3. Die klassische Periode wurden, hat die semitische Konsonanten-
4. Die jüngeren Ausformungen der aramäischen schrift im Laufe der Geschichte weit über den
Schrift semitischen Kulturkreis hinaus eine äußerst
5. Zusammenfassung reiche Entfaltung erfahren.
6. Literatur Die einzelnen Zeichen der semitischen
Konsonantenschrift haben sich typologisch
nicht aus Silbenzeichen, sondern aus bildhaf-
1. Einführung ten Wortzeichen entwickelt. Dabei wurde die
Die Erfindung der westsemitischen Konso- bildhafte Form der Wortzeichen anfangs bei-
nantenschrift fällt in das frühe 2. Jahrtausend behalten und erst allmählich abstrahiert. Der
v. Chr. Zu jener Zeit waren in Mesopotamien Lautwert der einzelnen Zeichen wurde bei
diesem Verfahren unter Anwendung des akro-
und in Ägypten etablierte komplexe Schrift- phonischen Prinzips vom Anfangslaut der
systeme in Gebrauch, die aus einer Vielzahl entsprechenden Wortzeichen hergeleitet. Da
von Wort- und Silbenzeichen bestanden. An- alle hamitosemitischen Wörter konsonantisch
sätze zu einfacheren Schriftsystemen stammen anlauten, war das Ergebnis dieses Verfahrens
aus anderen Kulturräumen und dürften dort notgedrungen eine reine Konsonantenschrift,
von Anfang an von merkantilen Motiven ge- wobei die Zeichenzahl der Zahl der konso-
tragen worden sein. Sie wurden ermöglicht nantischen Phoneme der Sprache des/r
durch eine Konzentration auf die lautliche Schrifterfinder(s) entsprach. Die vokalischen
Seite der Sprache. Zwei verschiedene Ansätze Phoneme blieben folglich in der Graphie un-
sind nachweisbar: berücksichtigt. Dieses vokallose Schriftsystem
1. Die Entwicklung von einfachen Silben- ist noch heute in den meisten semitischen Kul-
schriften, bestehend aus einer überschau- turen in Gebrauch. Das auch im semitischen
baren Zahl von Zeichen für ausschließlich Bereich vorhandene Bedürfnis nach Notie-
offene Silben (Konsonant + Vokal). rung der Vokale (vornehmlich der Langvo-
2. Die Entwicklung einer Konsonanten- kale) führte hier im wesentlichen lediglich zur
schrift. Entwicklung von Hilfslösungen, indem be-
Einfache Silbenschriften (1.), die teilweise stimmte Konsonantenzeichen gleichzeitig
noch nicht entziffert werden konnten, sind im auch als Vokalzeichen verwendet wurden
ägäischen (Kreta, Zypern) und im syrisch- („Plene-Schreibungen“). Erst die Griechen
jordanischen Raum (Byblos, Balu‛ah und entwickelten nach ihrer Übernahme der se-
Deir ‛Alla) bezeugt. Die Erfindung der Kon- mitischen Konsonantenschrift ein Schriftsy-
sonantenschrift (2.) ist im palästinisch-sinai- stem, in dem Konsonanten und Vokale glei-
chermaßen notiert werden konnten. Dabei
298 III. Schriftgeschichte

gingen sie schlicht so vor, daß sie jene semi- einer eigenen Alphabetschrift gegeben hat
tischen Schriftzeichen, für die sie keine konso- (siehe Sass 1991, 4—27). Zum gegenwärtigen
nantische Verwendung hatten, zu Vokalzei- Zeitpunkt können trotz der Versuche Al-
chen umfunktionierten (→ Art. 25). brights (1966) weder die protosinaitischen
noch die frühen protokanaanäischen Inschrif-
ten als entziffert gelten. Nach Sass (1988, 161)
2. Frühe semitische Alphabete sind nur 13 protosinaitische Zeichen mit Si-
Das Vorbild für die Entwicklung des semiti- cherheit zu identifizieren (siehe Abb. 20.1).
schen Alphabetes stellt mit großer Wahr- Bezüglich der Gesamtzahl der protosinaiti-
scheinlichkeit die ägyptische Monumental- schen Schriftzeichen ist nur soviel sicher, daß
schrift (Hieroglyphen) dar (siehe Sass 1988, sie höher als 22 gewesen sein muß, da für die
161; → Art. 19). Dafür spricht a) die geogra- Phoneme /ḥ/ und /ḫ/ und möglicherweise auch
phische Verteilung der ältesten Alphabetin- für /š/ und /ṯ/ , die im späteren Kurzalphabet
schriften, b) die Bildhaftigkeit der Zeichen in nur durch jeweils e i n Zeichen realisiert wur-
beiden Schriftsystemen und c) die Tatsache, den, unterschiedliche Zeichen zur Verfügung
daß in beiden Schriftsystemen Vokale unbe- standen. Traditionell wird im Anschluß an
rücksichtigt bleiben. Die sumero-akkadische Albright (bes. Albright 1966) und mit Hinweis
Keilschrift, die im wesentlichen syllabischer auf den Zeichenbestand des ugaritischen
Natur ist, hat dagegen keinen unmittelbaren Langalphabetes (→ 2.2.) angenommen, daß
Einfluß auf die Alphabetentwicklung ausge- das semitische Proto-Alphabet ein Inventar
übt. von 27 Zeichen besaß. Sicher ist, daß die
Die ersten alphabetischen Zeichen wurden linearen Alphabete ab dem 13./12. Jahrhun-
entweder auf Schreibmaterialien mit fester dert v. Chr. in Übereinstimmung mit dem
Oberfläche wie Papyrus, Ostraka, Stein oder phönizischen Alphabet (→ 3.1.) nur noch 22
Metall gepinselt bzw. geritzt oder aber mittels Zeichen umfaßten.
eines Griffels in weichen Ton eingedrückt. Die Abfolge der Konsonanten in den frü-
Das Produkt des ersteren Verfahrens nennt hen linearen Alphabeten läßt sich nur mittel-
man lineare Alphabetschrift, das des letzteren bar gemäß den Befunden der keilalphabeti-
Keilalphabetschrift. Die beiden Verfahren schen Tradition einerseits (→ 2.2.1. und
führten zu unterschiedlichen Entwicklungen 2.2.3.) und gemäß den von der protokanaa-
der Zeichenformen. näischen Schrift abgeleiteten jüngeren Schrif-
ten andererseits rekonstruieren. Demnach exi-
2.1. Lineare Alphabetschriften stierten bereits in der 2. Hälfte des 2. Jahr-
tausends v. Chr. nebeneinander a) die soge-
Die ältesten Inschriften in linearer Alphabet- nannte nordwestsemitische Tradition mit der
schrift stammen aus Sinai und Syrien-Palä- Konsonantenfolge ’ -b-g etc. (= Aleph-Bēt-
stina und werden deshalb protosinaitisch und Tradition; von daher der Begriff „Alphabet“)
protokanaanäisch genannt. Die betreffende und b) die sogenannte südsemitische Tradi-
U nterscheidung hat rein geographische, nicht tion mit der Konsonantenfolge h-l-ḥ etc. Nach
aber schriftgeschichtliche oder gar linguisti- welchen Kriterien diese beiden Konsonanten-
sche Gründe. Die ältesten protokanaanäi- folgen festgelegt wurden, entzieht sich unserer
schen Inschriften werden übereinstimmend Kenntnis. Man darf vermuten, daß entweder
ins 17.—18. Jahrhundert v. Chr., die frühesten memnotechnische Kriterien (einprägsame
protosinaitischen Inschriften traditionell etwa lautliche Abfolge von Zeichennamen) oder
zeitgleich bzw. etwas später, neuerdings von formale Ähnlichkeiten von Zeichen eine Rolle
Sass (1988, 135—144; 1991, 26—27) jedoch bei der Festlegung der Konsonantenfolge ge-
bereits ins 19.—18. Jahrhundert v. Chr. da- spielt haben. Einmal etabliert, wurden die ge-
tiert. Auf jeden Fall sind lineare Alphabet- nannten Konsonantenfolgen jedenfalls über
schriften damit früher nachweisbar als Keil- die Jahrhunderte hinweg im wesentlichen un-
alphabetschriften. Sollte sich die Frühdatie- verändert beibehalten. Die Schreibrichtung ist
rung der protosinaitischen Inschriften durch- in der protokanaanäischen Epoche noch nicht
setzen, dann liegt die Vermutung nahe, daß endgültig festgelegt: sie kann horizontal
das bereits weitgehend alphabetische Schrift- (linksläufig, rechtsläufig oder boustrophedon,
system, das die Ägypter im Mittleren Reich d. h. abwechselnd rechts-links und links-
zum Zwecke der Transkription semitischer Ei- rechts) oder vertikal (von oben nach unten)
gennamen herausgebildet hatten, den Semiten verlaufen.
den unmittelbaren Anstoß zur Entwicklung Es ist aufgrund neuerer Erkenntnisse wahr-
scheinlich, daß bereits diese frühen linearen
20.  Die nordwestsemitischen Schriften 299

Alphabetsysteme die Grundlage für die Ent-


wicklung a) der altsüdarabischen Schrift (→
2.2.3.; → Art. 21), b) der archaischen ara-
mäischen Schrift von Tell Fecherije (→ 3.3)
und c) der griechischen Schrift (→ 3.1.) dar-
stellen. Während die altsüdarabische Schrift
auf einem (wohl älteren) linearen Langalpha-
bet beruht, basieren die archaisch-aramäische
und die griechische Schrift auf einem (wohl
jüngeren) linearen Kurzalphabet (22 Zei-
chen). Die altsüdarabische Tradition über-
nahm ein Alphabet mit der Konsonantenfolge
h-l-ḥ, die griechische (und wohl auch die ar-
chaisch-aramäische) Tradition dagegen ein
Alphabet mit der Konsonantenfolge ’ -b-g.

2.2. Keilalphabetschriften
U nter dem Einfluß der mesopotamischen
Schreibtradition kam es im syrisch-palästi-
nischen Raum auch zu Versuchen, die se-
mitische Alphabetschrift auf Ton zu realisie-
ren (dazu Dietrich & Loretz 1988). Es sind
drei unterschiedliche Keilalphabetsysteme be-
kannt:

2.2.1.  In der antiken nordsyrischen Hafen-


stadt U garit und in der unmittelbaren U m-
gebung war vom 14. bis zum 12. Jahrhundert
v. Chr. eine Alphabetschrift von 30 Zeichen
in Gebrauch, bestehend aus 27 Stamm- und
3 Zusatzzeichen (siehe Abb. 20.2). Das auf-
fälligste Merkmal dieses Alphabetes besteht
darin, daß es drei unterschiedliche Zeichen
für die Schreibung des glottalen Verschluß-
lautes /’/ enthält, deren Wahl im wesentlichen
von der Qualität des folgenden Vokals ab-
hängig ist (U mschrift: , ,  ). Dieses Phä-
nomen wird von einigen Autoren als früher
Ansatz zu einer allgemeinen Vokalnotierung
gedeutet, dürfte jedoch eher ein Hinweis auf
die Verhaftung des betreffenden Systems in
der damals dominierenden syllabischen
Schrifttradition sein. Die Schreibrichtung ist
durchgehend rechtsläufig. Aufgrund gefun-
dener Abecedarien läßt sich mit Sicherheit
feststellen, daß die Reihenfolge des betreffen-
den (Lang-)Alphabetes der Reihenfolge des
nordwestsemitischen Kurzalphabetes ( ’-b-g
etc.) entspricht, ungeachtet der unterschied-
lich großen Zeichenzahl der beiden Systeme
(vgl. Abb. 20.2 und 20.3). Dieser Befund kann
entweder so gedeutet werden, daß das Kurz-
alphabet (22 Zeichen) eine reduzierte Form
eines älteren Langalphabetes von 27 Zeichen
darstellt (= Reduktionstheorie), oder daß
Abb. 20.1: Das protosinaitische Alphabet (Zei-
chenauswahl) nach Sass (1988, Taf. 5)
300 III. Schriftgeschichte

umgekehrt das ugaritische Langalphabet eine Es läßt sich im übrigen nicht immer sicher
erweiterte Fassung eines älteren 22 Zeichen entscheiden, ob eine Inschrift die lange oder
umfassenden Kurzalphabetes ist (so Dietrich die kurze Keilalphabettradition repräsentiert:
& Loretz 1988, bes. 141—43 [= Aufstok- U mstritten bezüglich der Zuordnung sind
kungstheorie]). Da das semitische Protoal- etwa die linksläufigen Inschriften von Hala
phabet mit Sicherheit mehr als 22 Zeichen Sultan Tekke (Zypern) und Tell Nebī Mend
umfaßte, hat die erstere These mehr Wahr- am Orontes (dazu Dietrich & Loretz 1988,
scheinlichkeit für sich. 273 f).

2.2.2.  In mehreren Orten Syrien-Palästinas 2.2.3.  Aus Bēt Šemeš (westlich von Jerusa-
einschließlich U garits wurden Inschriften ge- lem) stammt eine Tontafel, die nach neueren
funden, die in einem keilschriftlichen Kurz- Erkenntnissen (Loundine 1987) ein Abecedar
alphabet abgefaßt sind (siehe dazu Dietrich enthält, dessen Zeichenfolge mit jener der
& Loretz 1988, 145—275). Die Schreibrich- südsemitischen Tradition übereinstimmt ( h-l-
tung der betreffenden Texte ist in U garit ḥ etc.). Da die Tafel erheblich beschädigt ist,
linksläufig, anderswo entweder links- oder bleibt jedoch umstritten, wie viele Konsonan-
rechtsläufig. Der Zeichenbestand dieses Al- ten das betreffende Alphabet umfaßt: Loun-
phabets ist umstritten: Nach herkömmlicher dine (1987) geht von 23, Sass (1991) von 21—
Auffassung umfaßt es in Übereinstimmung 24, Dietrich & Loretz (1988, 285—96) gehen
mit dem linearen Kurzalphabet 22 Zeichen, dagegen von 28 Konsonanten aus. U mstritten
laut Dietrich & Loretz (1988, 271) jedoch nur sind ferner die Schreibrichtung und die ge-
21 Zeichen (nur ein Zeichen für /s/ und /ṣ/ ). naue Datierung der Tafel (zwischen 14. und
Das Nebeneinander von Lang- und Kurz- 12. Jahrhundert). Trotz vieler offener Fragen
alphabet in der keilschriftlichen Tradition dürfte soviel sicher sein: 1) Die für die süd-
kann nur im Zusammenhang mit dem ver- semitischen Alphabete charakteristische Rei-
gleichbaren Phänomen in der linearen Tradi- henfolge ist keine südsemitische Erfindung,
tion verstanden und erklärt werden: Das keil- sondern war bereits im 2. Jahrtausend v. Chr.
schriftliche Langalphabet dürfte auf einem in Syrien-Palästina bekannt, wo sie Seite an
(alten) linearen Langalphabet von mutmaß- Seite mit der nordwestsemitischen Reihen-
lich 27 Zeichen, das keilschriftliche Kurz- folge existierte. 2) Das Alphabet von Bēt Še-
alphabet hingegen auf dem (erst ab dem 13. meš umfaßt entgegen dem altsüdarabischen
Jahrhundert bezeugten, in seinem Zeichen- Alphabet mit Sicherheit nicht 29 Konsonan-
bestand reduzierten) linearen Kurzalphabet ten, sondern ist (deutlich) kürzer als dieses.
von 22 Zeichen beruhen. Die keilschriftliche
Tradition spiegelt somit unmittelbar die Ent-
wicklungen der linearen Tradition wider und 3. Die klassische Periode
ist von dieser beeinflußt (siehe Puech 1986,
211—13). Im 1. Jahrtausend v. Chr. waren in Syrien-
Palästina drei alphabetische Schriften in Ge-

Abb. 20.2: Das ugaritische Langalphabet in der bezeugten Konsonantenfolge (Positionen, die im nordwest-
semitischen Kurzalphabet nicht besetzt sind, sind durch Fettdruck markiert):
-b-g- ḫ -d-h-w-z-ḥ-ṭ-y-k-š-l
m- ḏ -n-ẓ-s-‛-p-ṣ-q-r-ṯ
ġ -t — -  -ś
20.  Die nordwestsemitischen Schriften 301

brauch, deren gemeinsamer Vorläufer die pro-


tokanaanäische Linearschrift darstellt: die
phönizische, die hebräische und die aramäi-
sche Schrift. Abb. 20.3 bietet eine verglei-
chende Liste der Schriftzeichen.

3.1. Die phönizische Schrift


Die phönizische Schrift entwickelte sich etwa
in der Mitte des 11. Jahrhundert v. Chr. direkt
aus der protokanaanäischen Schrift. Ihre
wichtigsten Charakteristika sind a) die Auf-
gabe der piktographischen Form der Zeichen,
b) eine deutliche Konsolidierung der Zeichen-
formen und c) die Fixierung der Schreibrich-
tung als linksläufig (Abb. 20.4 auf Tafel V).
Die älteste Periode der phönizischen Schrift
wird repräsentiert durch die Monumentalin-
schriften der Könige von Byblos (etwa 1000—
900 v. Chr.). Mit der Ausbreitung der phö-
nizischen Sprache außerhalb des phönizischen
Kernlandes infolge von Handel und Koloni-
sierung wurde auch die phönizische Schrift
nach Nordsyrien/Kilikien, Zypern, Nord-
afrika (Karthago) und mehr oder weniger in
die gesamte Mittelmeerwelt exportiert und
dort weiter gepflegt. Die Schrift, die als Mo-
numental- und Kursivschrift tradiert wurde,
erfuhr dabei im Laufe der Zeit Veränderungen
mit gewissen lokalen U nterschieden. Im we-
sentlichen verlief diese Entwicklung kontinu-
ierlich, ohne besondere Zäsuren (siehe Naveh
1982, 57). Die letzten Denkmäler der phöni-
zischen Schrift stammen aus dem 3. Jahrhun-
dert n. Chr.
Nach traditioneller Auffassung übernah-
men die Griechen im 8. Jahrhundert v. Chr.
von den Phöniziern deren Alphabet (so etwa
Driver 1976, 176). Neuere epigraphische Stu-
dien (Naveh 1973; Cross 1980, 17 u. a.) spre-
chen jedoch zugunsten einer früheren Über-
nahme um etwa 1100. Vorbild des griechi-
schen Alphabetes wäre dann nicht das phö-
nizische, sondern das protokanaanäische Al-
phabet gewesen.

3.2. Die hebräische Schrift


Die ersten Inschriften aus Palästina (10. Jahr-
hundert) weisen einen Schriftduktus auf, der
mit dem phönizischen praktisch identisch ist.
Beginnend mit der 2. Hälfte des 9. Jahrhun-
derts nimmt die in Palästina bezeugte Schrift
eine eigene Entwicklung, so daß man fortan
von einer „hebräischen“ Schrift sprechen
kann. Sie ist bereits sehr früh geprägt durch
betont kursive Stilelemente, die sich beson-
ders in Form stark gekrümmter Zeichen- Abb. 20.3: Die klassischen nordwestsemitischen
schäfte niederschlagen. Die frühesten Ansätze Schriften
302 III. Schriftgeschichte

des betreffenden Schriftduktus sind Naveh im Zuge der Avancierung der aramäischen
(1982, 65 f) zufolge in den moabitischen Sprache zur internationalen Verkehrssprache
Königsinschriften (um 850) zu finden. Diese des Alten Orients ab dem 7. Jahrhundert
und weitere Zeugnisse aus dem antiken Moab v. Chr. äußerst weite Verbreitung fand, rapide
und Edom weisen darauf hin, daß die „he- weiter und beeinflußte zunehmend die (eher
bräische“ Schrift im 9. und 8. Jahrhundert spärlich bezeugte) Monumentalschrift. Dank
v. Chr. auch in Transjordanien in Gebrauch der politischen Bedeutung des Aramäischen
war. Sie wurde dort jedoch bereits ab dem 8. als internationaler Verkehrssprache verlief
Jahrhundert von spezifisch aramäischen diese Entwicklung im gesamten Alten Orient
Merkmalen beeinflußt und etwa ab dem 6. bis zum Beginn der hellenistischen Zeit im
Jahrhundert weitgehend von der aramäischen wesentlichen einheitlich.
Schrift verdrängt (siehe Naveh 1982, 100— In den vorangegangenen Abschnitten wur-
12). In Palästina konnte sich die hebräische den die unterschiedlichen Entwicklungen der
Schrift bis in die erste Hälfte des 6. Jahrhun- Zeichenformen in der phönizischen, hebräi-
derts v. Chr. als alleinige Schrift behaupten schen und aramäischen Schrifttradition er-
und entwickelte sich bis dahin nur langsam örtert. Es bestehen jedoch darüber hinaus
und unwesentlich weiter. Beginnend mit dem auch hinsichtlich der Graphie erhebliche U n-
ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. setzte sich terschiede zwischen den betreffenden Schrift-
in Judäa mehr und mehr die sogenannte jü- systemen: Die klassische phönizische Graphie
dische Schrift (→ 4.1.2.) durch. Die letzten ist rein defektiv, d. h. sie verwendet keine
Zeugnisse der hebräischen Schrift in Judäa Konsonantenzeichen zur Notierung von Vo-
stammen aus 132—135 n. Chr. Demgegen- kalen (zum Phänomen siehe Zf. 1). Demge-
über setzten die Samaritaner die hebräische genüber werden in der hebräischen und ara-
Schrifttradition bis heute fort. mäischen Schrift Langvokale im Auslaut
praktisch von Anfang an und im Laufe der
3.3. Die aramäische Schrift Zeit auch zunehmend Langvokale im Inlaut
konsonantisch mittels sogenannter m atres lec-
Die altaramäischen Inschriften Syriens des tionis notiert. Als m atres lecitionis fungieren
10.—8. Jahrhunderts v. Chr. verwenden die die Konsonantenzeichen für w, y und h (später
phönizische Schrift. Dieser Befund hat zur auch ’).
Annahme geführt, daß die Aramäer etwa um
1050—1000 v. Chr. von den Phöniziern deren
Schrift übernommen hätten und vor dieser 4. Die jüngeren Ausformungen der
Zeit schriftlos gewesen wären. Die letztere aramäischen Schrift
Behauptung wurde jedoch durch einen neuen
Textfund eindeutig widerlegt: In Tell Fecherije Mit dem Beginn der Hellenisierung des Ori-
(nördl. Mesopotamien) wurde 1979 eine ara- ents (ab ca. 300 v. Chr.) wurde das Aramäi-
mäisch-assyrische Bilingue gefunden (Datie- sche als internationale Verkehrs- und Verwal-
rung umstritten), deren aramäischer Part in tungssprache vom Griechischen verdrängt.
einer archaischen Alphabetschrift (22 Zei- Als Folge davon entwickelten sich die ara-
chen) abgefaßt ist, die nicht von der phöni- mäischen Dialekte mit zunehmender Ge-
zischen, sondern vielmehr bereits von der pro- schwindigkeit auseinander, und die bis dahin
tokanaanäischen Schrift abgeleitet ist (Naveh im wesentlichen einheitliche aramäische
1982, 108—110). Die betreffende Schrift Schrift verzweigte sich in unterschiedliche
wurde jedoch weder in Mesopotamien noch Richtungen. Während sich im Westen mit
in Syrien weitertradiert. Stattdessen übernah- dem Nabatäischen und Jüdischen nur zwei
men die in Syrien beheimateten Aramäer Schriftzweige etablierten, entwickelten sich im
— wie erwähnt — direkt von den Phöniziern Osten eine ganze Reihe von Schriften, die sich
deren Schrift, so daß die gesamte spätere ara- in drei Gruppen zusammenfassen lassen: a)
mäische Schrifttradition auf dieser beruht. die südmesopotamische, b) die nordmeso-
Auf die Übernahme der phönizischen potamische und c) die palmyrenisch-syrische
Schrift folgte eine Periode, in der sich die Gruppe. Die betreffenden Entwicklungen
Schrift im aramäischen Kulturraum nur un- könnten im Anschluß an Naveh (1982, 151—
wesentlich weiterentwickelte. Erst ab etwa 750 53) historisch wie folgt zu erklären sein: Die
lassen sich die ersten spezifisch aramäischen genannten westlichen Schriftzweige sind als
Merkmale feststellen. Fortan entwickelte sich direkte Fortsetzung der bis dahin einheitli-
vor allem die aramäische Kursivschrift, die chen reichsaramäischen Schrift zu betrachten.
Die östlichen Schriftzweige gehen — da sie
20.  Die nordwestsemitischen Schriften 303

gewisse markante Merkmale gemeinsam etwa 100 v. Chr. beobachten. Es existierten


haben — dagegen auf eine proto-ostaramäi- nebeneinander ein formaler und — vornehm-
sche Schrift (ca. 3. Jahrhundert v. Chr.) zu- lich ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. — ein
rück, die in zwei Stilrichtungen vorlag, näm- ausgeprägt kursiver Schrifttyp mit unter-
lich einem formalen und einem kursiven schiedlichen Mittel- und Endformen bei einer
Schrifttyp. Während die mesopotamischen Reihe von Zeichen.
Schriften dem formalen Stil gefolgt sind, hat Ausgehend von der nabatäischen Kursiv-
der palmyrenisch-syrische Schriftzweig den schrift (und nicht etwa von der syrischen Kur-
kursiven Stil weiterentwickelt. Nur im letzte- sivschrift [damit gegen Starcky 1964]) wurde
ren Schriftzweig bildeten sich bei gewissen ab dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. die arabi-
Zeichen unterschiedliche Mittel- und Endfor- sche Schrift entwickelt (→ Art. 22).
men heraus. Abb. 20.5 bietet eine verglei-
chende Tabelle der verschiedenen Schriftzei- 4.1.2. Die jüdische Schrift
chen.
Daß die aramäische Schrift nach dem Zu- Während des achämenidischen Reiches war
sammenbruch des achämenidischen Perser- die aramäische Sprache und Schrift auch in
reiches nicht nur in Syrien und Mesopota- Judäa weit verbreitet. Ausgehend von der
mien, sondern auch in der gesamten ehema- reichsaramäischen Formalschrift entwickel-
ligen Osthälfte des Perserreiches (Iran, Af- ten die Juden in der hellenistischen Zeit eine
ghanistan, Nordwestindien, Armenien, Kau- eigene jüdische Schrift, die ihrer Gestalt nach
kasus) weitertradiert wurde — sei es, daß sie auch „Quadratschrift“, ihrer Herkunft nach
damit eine Form des Reichsaramäischen oder als „assyrische Schrift“ bezeichnet wird. Die
ihre eigenen (nichtsemitischen) Sprachen ver- ältesten Zeugnisse dieser Schrift stellen die
schrifteten — kann hier nur am Rande er- Schriftrollen von Qumran dar, deren älteste
wähnt werden. Die Perser verwendeten die um 250 v. Chr. anzusetzen sind (→ Abb. 36.1
aramäische Schrift sogar bis in die islamische auf Tafel V). Die frühe jüdische Schriftperiode
Zeit (7. Jh. n. Chr.). läßt sich nach Cross (1955) im einzelnen in
drei Phasen unterteilen: a) Protojüdisch
4.1. Die westlichen Schriftzweige (250—150 v. Chr.), b) Hasmonäisch (150—30
v. Chr.) und c) Herodianisch (30 v.—70
n. Chr.). Die jüdische Schrift wurde (in ihrer
4.1.1. Die nabatäische Schrift formalen Ausprägung) auch nach Ende des
Die Nabatäer sind ein arabischer Stamm, der judäischen Staatsgebildes weiter bewahrt und
am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. südlich stellt heute die offizielle Schrift des Staates
des Toten Meeres seßhaft geworden war und Israel dar. In der jüdischen Schrift existierten
seit der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ein von Anfang an nebeneinander eine formale
selbständiges Königreich mit Zentrum Petra und eine kursive Tradition. In beiden Tradi-
errichtete, das 106 n. Chr. von den Römern tionen weisen fünf Zeichen (k, m , n, p, s)
zerstört wurde. Die Nabatäer übernahmen unterschiedliche Mittel- und Endformen auf.
das Aramäische als Schriftsprache sowie die Während sich der formale Schriftduktus über
reichsaramäische Schrift, und zwar im we- die Jahrtausende hinweg kaum verändert hat,
sentlichen deren kursive Ausformung. Die na- weist die Kursivschrift keine kontinuierliche
batäischen Inschriften (siehe dazu Cantineau Tradition auf: Es kam im Laufe der Zeit und
1930/32) lassen sich zwei Perioden zuordnen: an unterschiedlichen Orten vielmehr immer
Die erste Periode umfaßt den Zeitraum zwi- wieder zu neuen Ansätzen einer Kursivschrift.
schen der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v.
und 106 n. Chr., die zweite Periode den Zeit- 4.2. Die östlichen Schriftzweige
raum nach 106 bis ins 4. Jahrhundert n. Chr.
Die Inschriften der ersten Periode stammen 4.2.1. Der palmyrenisch-syrische Zweig
aus dem Gebiet des nabatäischen Reiches so-
wie aus Nordarabien, Syrien, Ägypten und Der palmyrenisch-syrische Schriftzweig ist
sogar Italien, die der zweiten Periode nur engstens verbunden mit zwei wichtigen anti-
noch aus Sinai (in Form von tausenden von ken Zentren, der Handelsstadt Palmyra, einer
Felsengraffiti, den sogenannten sinaitischen Oase in der syrischen Wüste, sowie Edessa
Inschriften) und aus Nordarabien. Die letzte (dem heutigen U rfa in der Südtürkei, nahe
nabatäische Inschrift ist in das Jahr 356 der syrischen Grenze), dem alten Zentrum der
n. Chr. zu datieren. Ansätze eines spezifisch syrischen Christen. Das antike Palmyra ge-
nabatäischen Schriftduktus lassen sich ab hörte zum römischen Reich, das antike
Edessa zum Partherreich. Palmyrenische In-
304 III. Schriftgeschichte

Abb. 20.5: Die jüngeren Ausformungen der aramäischen Schrift


20.  Die nordwestsemitischen Schriften 305

schriften stammen aus der Zeit zwischen 44 4.2.3. Der südmesopotamische Zweig


v. Chr. und ca. 272 n. Chr., dem Datum der
Zerstörung Palmyras. Sie sind nicht nur in Der südmesopotamische Schriftzweig ist im
Palmyra selbst, sondern in beinahe allen Pro- Gebiet des heutigen Khuzistan beheimatet,
vinzen des römischen Reiches bezeugt. Die einer Provinz an der iraqisch-iranischen
palmyrenische Schrift existierte in zwei Vari- Grenze, nahe dem persischen Golf. Er wird
anten, einer (gut bezeugten) Monumental- repräsentiert durch elymäische Inschriften (2.
und einer (weniger gut bezeugten) Kursiv- Jh. n. Chr.), durch beschriftete Münzen der
schrift. Könige von Characene (3. Jh. n. Chr.) und
Die frühesten syrischen Inschriften stam- vor allem durch die reiche Schrifttradition der
men aus den Jahren 6 v. Chr. und 73 n. Chr. Mandäer (Inschriften ab 5./6. Jh. n. Chr.;
(dazu Drijvers 1972). Die Blütezeit der syri- Handschriften ab dem Mittelalter), einer gno-
schen Literatur begann im 3. und reichte bis stischen Sekte, die (in Resten) bis heute über-
ins 7. Jahrhundert n. Chr. Durch die arabi- lebt hat. Nach älterer Auffassung sind die
sche Eroberung im 8. Jahrhundert wurde das Mandäer zu einem frühen Zeitpunkt von Pa-
Syrische als Volkssprache erheblich zurück- lästina aus nach Khuzistan eingewandert und
gedrängt. Eine Reihe von Dialekten hat sich haben von dort eine von der nabatäischen
aber in gewissen Gebieten bis heute gehalten. Schrift abgeleitete Schrift mitgebracht, die
Infolge christologischer Streitigkeiten im 5. dann von den dort ansässigen Elymäern über-
Jahrhundert kam es zu einer dauerhaften nommen worden wäre (so Macuch 1965, 146).
Trennung zwischen Westsyrern (Jakobiten) Da jedoch die elymäische Schrift typologisch
und Ostsyrern (Nestorianern), die eine je un- eindeutig älter ist als die mandäische (siehe
terschiedliche Sprach- und Schriftentwick- Naveh 1982, 136), ist diese Auffassung nicht
lung nach sich zog. Die bekanntesten syri- mehr zu halten. Es ist vielmehr davon aus-
schen Schriftarten sind: a) Esṭrangelo („runde zugehen, daß die mandäische Schrift ihrerseits
Schrift“), eine altertümliche, betont formale auf der (älteren) elymäisch-characenischen
Schrift, b) Serṭo („lineare Schrift“), eine aus- Schrifttradition basiert.
geprägte Kursivschrift, c) Nestorianisch, eine
halbformale Schrift. 5. Zusammenfassung
Die palmyrenische und die syrische Schrift
weisen markante Gemeinsamkeiten auf. Sie Eine schematische Übersicht über die Ent-
gehen wahrscheinlich auf eine gemeinsame wicklungslinien der nordwestsemitischen
Vorstufe zurück, die man in den sogenannten Schriften bietet Abb. 20.6.
archaisch-palmyrenischen Inschriften von
Dura Europos sowie in einigen anderen frü-
hen Inschriften mit scheinbarer Mischung von 6. Literatur
palmyrenischen und syrischen Zeichenformen
Albright, William F. 1966. The Proto-Sinaitic in-
noch fassen kann (siehe Pirenne 1963, 101—
scriptions and their decipherment. Cambridge
105 und Naveh 1982, 149).
(Mass.).
Cantineau, Jean. 1930/32. Le Nabatéen, I—II. Pa-
4.2.2. Der nordmesopotamische Zweig
ris.
Der nordmesopotamische Zweig ist haupt- Cross, Frank M. 1955. The oldest manuscript from
sächlich durch Inschriften aus der antiken Qumran. Journal of Biblical literature 74, 147—172.
Handelsstadt Hatra bezeugt, die aus der Zeit —. 1980. Newly found inscriptions in Old Canaa-
zwischen 97—8 und ca. 240 n. Chr. stammen. nite and early Phoenician script. Bulletin of the
Inschriften eines vergleichbaren Schrifttyps American schools of oriental research 238, 1—20.
wurden auch in Dura Europos, Assur, im Dietrich, Manfried & Loretz, Oswald. 1988. Die
Ṭur-‛Abdin-Gebiet (Sari und Hassan-Kef) Keilalphabete. Die phönizischkanaanäischen und
und sogar in Armenien (Garni) und Georgien altarabischen Alphabete in Ugarit. Münster.
(Armazi) gefunden. Auch sie stammen aus
Drijvers, Hendrik J. W. 1972. Old Syriac (Edessean)
dem 2. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Der
inscriptions. Leiden.
nordmesopotamische Schriftzweig starb bald
nach der Zerstörung von Hatra durch die Driver, Godfrey R. 1976. Semitic writing from pic-
Sassaniden (Mitte des 3. Jahrhunderts tograph to alphabet. London [newly revised edi-
n. Chr.) endgültig aus. tion; edited by S. A. Hopkins].
Loundine, A. G. 1987. L’abécédaire de Beth She-
mesh. Le Muséon 100, 243—250.
306 III. Schriftgeschichte

Abb. 20.6: Stammbaumdiagramm zur Verdeutlichung der wichtigsten Entwicklungslinien der nordwestsemi-
tischen Schriften
Macuch, Rudolf. 1965. Anfänge der Mandäer. In: Sass, Benjamin. 1988. The genesis of the alphabet
Altheim, Franz & Stiehl, Ruth (ed.), Die Araber in and its development in the second millenium B. C.
der Alten Welt, II. Berlin, 76—190. Wiesbaden.
Naveh, Joseph. 1973. Some Semitic epigraphical —. 1991. Studia alphabetica. On the origin and
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phabet. American Journal of Antiquity 77, 1—8. mitic and Greek alphabets. Freiburg (Schweiz)/
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phie syriaque. Syria 40, 101—137. 315—26.
Puech, Emile. 1986. Origine de l’alphabet. Docu- Starcky, Jean. 1964. Pétra et le Nabatène. In: Dic-
ments en alphabet linéaire et cunéiforme du II e tionnaire de la Bible, Supplément 7, Sp. 886—1017.
millénaire. Revue Biblique 93, 161—213.
Josef Tropper, Berlin (Deutschland)
21.  Die altsüdarabische Schrift 307

21. Die altsüdarabische Schrift

1. Die altsüdarabische Monumentalschrift frühen paläographischen Stufen zuzuordnen-


2. Verbreitung, Entzifferung, Chronologie den Buchstabenformen die sich auch in alten
3. Minuskelschrift
4. Literatur

1. Die altsüdarabische
Monumentalschrift
Die Schrift, in welcher die epigraphischen
Denkmäler des antiken Südarabien abgefaßt
wurden, wird herkömmlich als altsüdarabi-
sche Monumentalschrift bezeichnet. Das Alt-
südarabische bildet einen eigenen Zweig des
Südsemitischen und zerfällt seinerseits wie-
derum in vier Hauptsprachen, nämlich in das Abb. 21.1: Die Buchstaben der altsüdarabischen
Sabäische, Minäische, Qatabanische und Ha- Monumentalschrift in ihrer frühesten paläographi-
dramitische, die nach den vier wichtigsten schen Stufe (nach H. von Wissmann)
Reichen des antiken Südarabien benannt wur-
den. Inschriftenträger sind vorwiegend gut griechischen Sprachdenkmälern findende
zugehauene Steinplatten und Quadersteine Boustrophedon-Schreibweise (Abb. 21.2),
verschiedener Größen, andere steinerne Ob- welche durch die bisweilen mehrere Meter
jekte oder geglättete Felswände, aber auch messende Länge der einzelnen Schriftzeilen
Bronzetafeln, ikonographische Dokumente, bedingt wurde; später hat sich die einheitliche
wie Reliefs, Statuen, Statuetten und derglei- linksläufige Schreibrichtung durchgesetzt.
chen, sowie Amulette, Siegel und Münzen. Ornamentale Schönheit zeigt sich auch in der
Ihrem Inhalt nach handelt es sich im wesent- etwa die Zeit vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis
lichen um Votivschriften, welche bisweilen zum 4. Jahrhundert n. Chr. umfassenden mit-
Berichte über Feldzüge oder andere Ereignis- telsabäischen Periode, als die Enden der
se enthalten, Bauinschriften, Bewässerungs- Buchstaben verbreitert, gerade Linien einge-
regelungen, Grenzbestimmungen, Gesetzes- bogen, Kreise zu Ellipsen gestreckt, spitze
texte, Verträge, U rkunden, Arbeitsprotokolle, Winkel vorherrschend wurden und sich noch
Sühne-, Grab- und Gedenkinschriften. Die andere Veränderungen an den Schriftzeichen
meisten der mittlerweile etwa zehntausend beobachten lassen, die ihnen eine weniger
Nummern umfassenden Inschriften, von de- wuchtiger wirkende Gestalt verliehen. Vor al-
nen freilich sehr viele nur fragmentarisch auf lem durch die große Zahl der aus dem 2. und
uns gekommen sind, stammen von den Sa- 3. Jahrhundert n. Chr. erhaltenen, zum Teil
bäern. Die Schriftzeichen der altsabäischen langen Votivinschriften ist das Mittelsabäi-
Periode, die wahrscheinlich im 8. Jahrhundert sche die epigraphisch am besten bezeugte Pe-
v. Chr. einsetzt, sind sorgfältig ausgeführte riode. Die Buchstaben wurden in den geglät-
Buchstaben, deren Höhe zur Breite in genau teten Stein eingemeißelt; in der späteren Zeit
festgelegten Proportionen steht. In der frühen allerdings, als sich eine mehr barocke, zu Ver-
Zeit weisen von den das konsonantische Pho- zierungen neigende Schreibweise durchsetzte,
neminventar des Altsüdarabischen wiederge- wurden die Inschriften in versenkten Relief-
benden 29 Buchstaben 21 symmetrische For- buchstaben aus dem Stein herausgehauen.
men auf, von denen wiederum 11 doppelt Eine Besonderheit des Spätsabäischen ist die
symmetrisch sind (Abb. 21.1). Diese Monu- Vorliebe für Monogramme, d. h. das Zusam-
mentalschrift mit ihrem konstanten und an menfügen der einen Namen bildenden Buch-
Architektur erinnernden Formentypus gehört staben zu einer nach Möglichkeit symmetri-
mit zum Schönsten und Elegantesten, was in schen Gruppierung, deren unterer Teil ein auf
der semitischen Epigraphik hervorgebracht zwei senkrechten Schenkeln stehendes Schrift-
wurde. Ein besonderes Charakteristikum der zeichen bildete, so daß der Eindruck eines
altsabäischen Inschriften ist neben den den von Säulen getragenen Gerüstes entstand.
308 III. Schriftgeschichte

Abb. 21.2: Ausschnitt aus der altsabäischen Boustrophedon-Inschrift RES 3945 des Königs Karib’il Watar
aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. (Photo Deutsches Archäologisches Institut)
Diese spätsabäische Periode umfaßt die Zeit 2. Verbreitung, Entzifferung,
vom 4. bis zum 6. Jahrhundert, als das geeinte Chronologie
sabäo-himjarische Reich seine größte Ausdeh-
nung erreichte und mithin auch die epigra- Die altsüdarabische Schrift ist nicht nur im
phischen Denkmäler sich bis weit nach Zen- Jemen und in kolonialen Niederlassungen der
tralarabien hinein erstreckten. Die Entwick- Südaraber verwendet worden, wie etwa in der
lung der altsüdarabischen Monumental- nordwestarabischen Oase von Dedan, dem
schrift, deren früheste und späteste sabäische heutigen al-‛U lā, an der alten Weihrauch-
Inschriften weit über ein Jahrtausend ausein- straße, woher zahlreiche als nordminäisch
anderliegen, ermöglicht es immerhin, die klassifizierte Inschriften stammen. Für den
Texte innerhalb der einzelnen Perioden in ih- frühnordarabischen Dialekt des Qahtani-
ren paläographischen Stufen ungefähr zeitlich schen, der durch Texte aus dem zentral-
einzuordnen, auch wenn in den Inschriften arabischen Qaryat al-Faw, der Hauptstadt
kein Herrscher genannt wird oder in der spä- des vorislamischen Kindareiches bezeugt ist,
teren Zeit keine Datierung nach der himjari- wurde sie ebenfalls benutzt, desgleichen mit
einigen wenigen paläographischen Eigentüm-
schen Ära angegeben ist.
21.  Die altsüdarabische Schrift 309

lichkeiten für die hasaitischen Grabinschriften frühen arabisch-islamischen Überlieferung als


aus der nordostarabischen Region am Persi- Bezeichnung für die vorislamische südarabi-
schen Golf. Auch in Oman sind bei Ausgra- sche Schrift verwendet. Im Altsüdarabischen
bungen Gefäße mit altsüdarabischen Schrift- findet sich das Nomen mśnd in der Bedeutung
zeichen und Monogrammen zum Vorschein von einer im Tempel aufgestellten, meist auf
gekommen. Schließlich sind einige Alphabete, einer Bronzetafel angebrachten Widmungs-
in denen auf der Arabischen Halbinsel In- inschrift, später auch von einer Felsinschrift.
schriften geschrieben und Tausende von Graf- Das Wort mśnd, Musnad, hat M. Lidzbarski
fiti in Stein eingeritzt wurden, entweder aus auf die Form der Charaktere mit ihren Säulen
der altsüdarabischen Schrift oder aus einer und Stützen zurückführen und nach dem ara-
früheren Stufe dieses Alphabets abgeleitet. Es bischen Verb sanada „stützen“ als „Stützung,
sind dies das einen großen Formenreichtum Stützenwerk, Stützschrift“ erklären wollen.
aufweisende Thamudische im westlichen und Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten
zentralen Nordarabien bis in den südlichen des 20. Jahrhunderts hatten Gelehrte die von
Hidschaz, das Lihjanische und Dedanische in ihnen für die frühest gehaltenen altsüdarabi-
der gleichnamigen Oase, das die offenkundig- schen Inschriften bis in das 13. Jahrhundert
sten Gemeinsamkeiten mit der altsüdarabi- v. Chr. zurückdatiert und somit für das antike
schen Schrift erkennen läßt, und schließlich Südarabien eine „lange Chronologie“ kreiert.
als nördlichster Ausläufer das Safaitische im Man muß ihnen freilich zugute halten, daß
Ostjordanland und in den angrenzenden Wü- sie sich oft nur auf zum Teil mangelhafte
stenzonen Arabiens. Die im heutigen Nord- Kopien epigraphischer Denkmäler stützen
ostäthiopien gefundenen äthiosabäischen In- konnten und daß damals schriftgeschichtliche
schriften der voraksumitischen Periode legen Erwägungen kaum eine Rolle spielten. In das
Zeugnis davon ab, daß seit der Mitte des andere Extrem verfiel Jacqueline Pirenne, die
ersten vorchristlichen Jahrtausends Abessi- in den fünfziger Jahren den verdienstvollen
nien den Einflüssen des an der gegenüberlie- Versuch unternahm, die altsüdarabischen In-
genden Küste des Roten Meeres angrenzen- schriften in paläographische Perioden zu
den Saba ausgesetzt war. So ist auch die in gruppieren und dabei im Rahmen ihrer U n-
Äthiopien bis zum heutigen Tag für die dor- tersuchungen eine „kurze Chronologie“ auf-
tigen semitischen Literatursprachen verwen- stellte, nach welcher die frühesten monumen-
dete Schrift ein Abkömmling des sabäischen talen sabäischen Schriftdenkmäler vom klas-
Alphabets (→ Art. 23). Die an den meisten sischen griechischen Schrifttyp beeinflußt
Buchstaben sich noch zeigende offenkundige worden seien und somit nicht vor dem 5.
Verwandtschaft hatte schließlich entscheidend Jahrhundert v. Chr. entstanden sein könnten.
dazu beigetragen, daß, nachdem die ersten Diese kaum überzeugende Ansicht hat sich
sabäischen Inschriften in Europa bekanntge- jedoch mittlerweile als unhaltbar erwiesen.
worden waren, ihre Schrift durch die Bemü- Durch einige Funde in Südarabien, aber auch
hungen zweier Professoren aus Halle, nämlich in Nordarabien und Nordostäthiopien, weiß
des Hebraisten Wilhelm Gesenius und seines man inzwischen, daß das südsemitische Al-
Schülers Emil Rödiger, 1841 und 1842, von phabet eine vom nordsemitischen verschie-
wenigen U nsicherheiten und falschen Zuord- dene Buchstabenanordnung hatte. Während
nungen abgesehen, im wesentlichen richtig das nördliche Alphabet die ’BGD-Reihen-
entziffert werden konnte. Auch die in jeme- folge der Schriftzeichen hat (z. B. im Hebräi-
nitisch-arabischen Handschriften überliefer- schen, griechisch Alphabet, arabisch Abǧad
ten Zeichen der altsüdarabischen Schrift mit noch bei der Verwendung der Zahlzeichen als
ihren arabischen Entsprechungen konnten Buchstaben, unser ABC), beginnt das südli-
trotz mancher Entstellungen durch Kopisten che mit der Reihenfolge HLHM (woraus viel-
noch einige hilfreiche Fingerzeige geben. Der leicht das bisher unerklärte lateinische ele-
in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts menta „Buchstaben, Alphabet“ abzuleiten
schreibende jemenitische Gelehrte al-Ham- ist). Diese Buchstabenanordnung HLHM fin-
dānī bringt im achten Band seines Werkes Al- det sich auch auf einer, in einer spätbronze-
Iklīl ein Kapitel über die Musnad-Schrift mit zeitlichen Schicht des 14./13. Jahrhunderts im
Bemerkungen und Beobachtungen zur (Or- biblischen Beth Schemesch, westlich von Je-
tho)graphie, aus denen man schließen kann, rusalem entdeckten keilalphabetischen Ton-
daß er die Inschriften noch zu lesen, wenn tafel (KTBŠ 5.1). Der Fund von Beth Sche-
auch weitgehend nicht mehr zu verstehen ver- mesch zeigt, daß die Reihenfolge der Schrift-
mochte. Der Terminus Musnad wird in der zeichen des südsemitischen Alphabets bereits
310 III. Schriftgeschichte

zur damaligen Zeit im syrisch-palästinischen chen um zwei Briefe handelt, womit zum er-
Raum bekannt war (→ Art. 20). Der südliche sten Mal aus dem antiken Südarabien jene
Zweig der semitischen Schrift hat sich etwa bis dahin unbezeugte literarische Gattung mit
im 13./12. Jahrhundert von der sogenannten dem im Alten Orient üblichen Briefformular
protokanaanäischen Schrift abgespalten und belegt ist. Seit den achtziger Jahren kamen im
dürfte nicht viel später auf die Arabische Jemen zahlreiche weitere beschriebene Holz-
Halbinsel gelangt sein. Dadurch wird die stäbchen zum Vorschein, so daß die U nter-
These ausgeschlossen, daß wie das griechische suchungen dieser neugefundenen Schriftdo-
Alphabet auch die südsemitischen Schriften kumente auf eine breitere Basis gestellt wer-
erst aus dem phönizischen Alphabet entstan- den konnten. J. Ryckmans (1986) hat vorge-
den seien, was graphisch kaum zu erklären schlagen, die neuentdeckte Schrift als Minus-
ist, oder daß gar die altsüdarabische Monu- kelschrift zu bezeichnen und nicht als Kursiv-
mentalschrift von der griechischen Schrift be- schrift, da dieser Terminus gelegentlich schon
einflußt worden sei. Die südsemitischen für Graffiti aus der späteren sabäischen Zeit
Schriften sind vielmehr aus einer der frühen verwendet wurde, deren Duktus noch deutlich
Stufen der protokanaanäischen Schrift ab- an die Monumentalbuchstaben erinnert. Die-
zuleiten, was an einigen Buchstabenformen se Minuskelschrift wurde mit spitzen Schreib-
noch deutlich zu erkennen ist; das Alphabet, griffeln in das noch frische und weiche Holz
aus dem die südsemitischen Schriften entstan- oder in Palmblattrippen eingraviert. Bedingt
den sind, dürfte jedenfalls dem der protosi- durch die starke, zum Verwechseln führende
naitischen Inschriften sehr ähnlich gewesen Ähnlichkeit mancher Buchstaben unterein-
sein. Es herrscht heute weitgehend Überein- ander, durch individuelle Schreibgewohnhei-
stimmung darüber, daß trotz des Mangels an ten und nicht zuletzt durch den mitunter
Querverbindungen zu datierbaren Ereignissen schlechten Erhaltungszustand der Hölzer und
außerhalb Südarabiens die frühesten altsüd- der eingravierten Schrift ist es oft schwierig,
arabischen Schriftdenkmäler in Monumen- auf Grund einer gesicherten Lesung einen
talschrift, die somit bereits eine schriftge- einigermaßen zuverlässigen Text herzustellen.
schichtliche Entwicklung durchlaufen hatte, Das Verständnis der neugefundenen Schrift-
im 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzen. Dieser dokumente wird zusätzlich erschwert durch
chronologische Ansatz wird inzwischen auch darin vorkommende bisher unbekannte Wör-
durch C 14-Analysen epigraphischer Funde in ter und noch nicht belegte Wortformen sowie
einer frühen sabäischen Siedlung im östlichen durch den Stil bislang unbezeugter Textgat-
Khaulān bestätigt. tungen. In den Inschriften mehrfach bezeug-
te Eponymatsdatierungen erlauben es, den
Großteil der neuen Dokumente, die vorwie-
3. Minuskelschrift gend aus der antiken Stadt Našān, der heu-
Im Jahre 1972 wurden aus dem Jemen zwei tigen Ruinenstätte as-Saudā’ im jemenitischen
mit jeweils 14 Zeilen beschriebene Holzstäb- Dschauf stammen, ungefähr in die Zeit zwi-
chen bekannt (Abb. 21.3), deren Schrift mit schen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 3.
keiner der bisher aus dem Vorderen Orient Jahrhundert n. Chr. zu datieren; auch aus den
bekannten Schriften in Verbindung gebracht Texten gewonnene Kriterien bestätigen, daß
werden konnte. Bei dem Bemühen, die ein- sie ihrer Sprache nach der mittelsabäischen
zelnen Schriftzeichen zu isolieren, fand Mah- Periode zuzuordnen sind. Die Minuskelschrift
mud al-Ghul, daß die Texte etwa dreißig ver- ist jedenfalls zeitlich erheblich später als die
schiedene Buchstaben enthielten, was schließ- ältere Monumentalschrift anzusetzen, aus
lich das Ergebnis erbrachte, daß hier zum welcher sie sich als Schreibschrift erst entwik-
ersten Mal altsüdarabische Texte in einer bis- kelt hat. Dies ist an einigen beschrifteten
lang unbekannten Schreibschrift vorlagen. Stäbchen, die wohl als die frühesten gelten
Die Berücksichtigung der Häufigkeit der Gra- dürfen, noch klar erkennbar. Soweit es der
pheme sowie die unverkennbare Ähnlichkeit bisher gewonnene Überblick gestattet, han-
mancher Buchstaben mit denen der Monu- delt es sich bei dem neuentdeckten epigraphi-
mentalschrift führte schließlich zu einer Ent- schen Material um persönliche Korrespon-
zifferung, die nicht zuletzt dadurch erleichtert denz oder sonstige, durch Boten überbrachte
wurde, daß auch bei dieser Schrift die einzel- Mitteilungen sowie um Personenverzeich-
nen Wörter durch einen senkrechten Strich nisse, in der Mehrzahl jedoch um Texte, die
voneinander getrennt sind. Es stellte sich her- man unter die Bezeichnung Dokumente zum
aus, daß es sich bei den beschrifteten Stäb- Rechts- und Wirtschaftsleben zusammenfas-
21.  Die altsüdarabische Schrift 311

Abb. 21.3: Nachzeichnung eines 14-zeiligen Briefes in sabäischer Minuskelschrift auf einem Holzstäbchen
(nach J. Ryckmans)
sen kann, wie sie uns von Papyri aus Ägypten als erwiesen gelten, daß mit der in arabi-
und von Tontafeln aus dem übrigen Alten schen Werken aus dem Jemen erwähnten
Orient bekannt sind. Zabūr-Schrift die neuentdeckte altsüdarabi-
In den erhaltenen Werken des jemeniti- sche Schreibschrift gemeint ist.
schen Gelehrten al-Hamdānī begegnet einige Wenn vereinzelt ein altarabischer Dichter,
Male ein Verbum zabara und davon abgelei- wie etwa Imra’alqais in seinem Diwan,
tete Formen in der Bedeutung „schreiben“ schreibt, daß ihm die verwehten Spuren eines
sowie ein Nomen zabūr mit dem Plural zubur verlassenen Lagerplatzes, auf die er beim Ritt
„Schrift, Geschriebenes“, die immer im Zu- durch die Wüste stieß, an Striche der jeme-
sammenhang mit den Himjaren der vorisla- nitischen Zabūr-Schrift auf einem Palmsten-
mischen Zeit verwendet werden. So wird z. B. gel erinnern, so darf man auch dabei einen
berichtet, daß in den Schatzkammern der Vergleich mit der von uns Minuskelschrift
Himjaren Dokumente aufbewahrt wurden, genannten sabäischen Schrift sehen, mit wel-
aus denen man sich über ihre Genealogien cher in der Antike auf Holzstäbchen geschrie-
informieren konnte, daß Schriftstücke in U r- ben wurde.
kundenbehältern gefunden wurden, daß die
Inschrift eines Grabsteins auf einen Palm-
zweig geschrieben wurde, oder es ist von 4. Literatur
Männern die Rede, die neben den antiken Beeston, Alfred F. L. 1989. Mahmoud ‛Ali Ghul
Musnad-Inschriften auch die Zabūr-Schrift and the Sabaean Cursive Script. In: Arabian Stu-
der Himjaren lesen konnten. dies in Honour of Mahmoud Ghul. Symposium at
Zu den aus den beschrifteten Stäbchen ge- Yarmouk U niversity December 8—11, 1984 (Yar-
wonnenen neuen, bisher nicht bezeugten sa- mouk U niversity Publications. Institute of Archae-
bäischen Wörtern gehört auch das Verbum ology and Anthropology Series Vol. 2) Wiesbaden
zbr, mit dem gelegentlich am Ende einer 15—19.
Vertragsurkunde der namentlich genannte
Gesenius, Wilhelm. 1841. Himjaritische Sprache
Schreiber durch seine U nterschrift bekundet,
und Schrift, und Entzifferung der letzteren. Allge-
daß er dies geschrieben hat. Damit kann
312 III. Schriftgeschichte

meine Literatur-Zeitung. Nr. 123—126. Halle und schriften. In: J. R. Wellsted’s Reisen in Arabien.
Leipzig, 369—399. Deutsche Bearbeitung. Zweiter Band. Halle, 352—411.
Irvine, Arthur K. & Beeston, Alfred F. L. 1988. Ryckmans, Jacques. 1985. L’ordre alphabetique
New evidence on the Qatabanian letter order. Pro- sud-sémitique et ses origines. In: Mélanges lingui-
ceedings of the Seminar for Arabian Studies 18, stiques offerts à Maxime Rodinson par ses élèves,
35—38. ses collègues et ses amis. Édités par Christian Robin
Knauf, Ernst Axel. 1989. The Migration of the (Comptes rendus du Groupe Linguistique d’études
Script, and the Formation of the State in South chamito-sémitiques. Supplément 12). Paris.
Arabia. Proceedings of the Seminar for Arabian —. 1986. U ne écriture minuscule sud-arabe antique
Studies 19, 79—91. récemment découverte. In: Scripta signa vocis. Stu-
Lidzbarski, Mark. 1902. Der U rsprung der nord- dies about Scripts, Scriptures and Languages in the
und südsemitischen Schrift. In: Ephemeris für se- Near East presented to J. H. Hospers, by his pupils,
mitische Epigraphik. Erster Band. Giessen, 109—136. colleagues and friends. Ed. by H. L. J. Vanstiphout
Loundine, Abram G. 1987. L’abécédaire de Beth u. a. Groningen, 185—199.
Shemesh. Le Muséon 100, 243—250. —. 1988. Données nouvelles sur l’histoire ancienne
Macdonald, Michael C. A. 1986. ABCs and letter de l’alphabet. Bulletin des Séances de l’Académie
order in Ancient North Arabian. Proceedings of royale des Sciences d’Outre-Mer 34, 219—231.
the Seminar for Arabian Studies 16, 101—168. —, Müller, Walter W. & Abdallah, Yusuf M. 1994.
Pirenne, Jacqueline. 1956. Paléographie des inscrip- Textes du Yémen de l’Institut Orientaliste de Lou-
tions sud-arabes. Contribution à la chronologie et vain, 43). Louvain-la-Neuve.
à l’histoire de l’Arabie du Sud antique. Tome I. Des Wissmann, Hermann von. 1982. Die Geschichte
origines jusqu’à l’époque himyarite (Verhandelin- von Saba’ II. Das Großreich der Sabäer bis zu
gen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor seinem Ende im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Hrsg.
Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van von Walter W. Müller (Österreichische Akademie
België, Klasse der Letteren, Nr. 26). Brussel. der Wissenschaften. Philosophisch-historische
Rödiger, Emil. 1842. Excurs über die von Lieut. Klasse. Sitzungsberichte, 402. Band). Wien.
Wellsted bekannt gemachten himjaritischen In-
Walter W. Müller, Marburg (Deutschland)

22. Die arabische Schrift

1. Allgemeines Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von


2. Herkunft der arabischen Schrift Zentralasien bis Zentralafrika und vom Fer-
3. Die arabische Schrift in frühislamischer Zeit nen Osten bis an den Atlantik. Auch heute
4. Der Kūfī-Duktus noch gehört die arabische Schrift zu den am
5. Der Nasḫī-Duktus weitesten verbreiteten Schriften der Erde.
6. Die diakritischen Zeichen Die arabische Schrift ist eine linksläufige
7. Die orthographischen Hilfszeichen Alphabetschrift mit einem Grundbestand von
8. Literatur 18 Graphen. 13 Graphe sind durch jeweils
ein, zwei oder drei diakritische Zeichen (vgl.
5.) differenziert, so daß die 28 konsonanti-
1. Allgemeines schen Phoneme des Arabischen durch je ein
Der Schrift kommt im Islam als Trägerin der Schriftzeichen repräsentiert sind. Die Zeichen
göttlichen Offenbarung zentrale Bedeutung 〈’〉, 〈y〉 und 〈w〉 sind mehrdeutig. 〈y〉 und
zu. Die arabische Schrift, in der der Koran 〈w〉 korrespondieren mit den entsprechenden
aufgezeichnet wurde, wurde bald zum gehei- konsonantischen Phonemen; ferner sind 〈’〉,
ligten Symbol des Islam. Mit seiner Ausbrei- 〈y〉 und 〈w〉 Repräsentanten der Langvokale
tung wurde die arabische Schrift auch zur ā, ī, ū und des Glottisverschlußlauts /’/
Schreibung anderer Sprachen wie Persisch, (hamza) . Die Kurzvokale a, i, u, die Vokal-
U rdu, der Berbersprachen, Malaisch, Hausa, losigkeit und die Verdopplung eines Konso-
Swahili und Türkisch (bis zu den türkischen nanten werden nicht im Schriftzug ausge-
Schriftreformen der 20er Jahre) übernommen. drückt (außer bei hamza vor Langvokalen,
dann dient ein Kurzvokal als „ hamza -Trä-
312 III. Schriftgeschichte

meine Literatur-Zeitung. Nr. 123—126. Halle und schriften. In: J. R. Wellsted’s Reisen in Arabien.
Leipzig, 369—399. Deutsche Bearbeitung. Zweiter Band. Halle, 352—411.
Irvine, Arthur K. & Beeston, Alfred F. L. 1988. Ryckmans, Jacques. 1985. L’ordre alphabetique
New evidence on the Qatabanian letter order. Pro- sud-sémitique et ses origines. In: Mélanges lingui-
ceedings of the Seminar for Arabian Studies 18, stiques offerts à Maxime Rodinson par ses élèves,
35—38. ses collègues et ses amis. Édités par Christian Robin
Knauf, Ernst Axel. 1989. The Migration of the (Comptes rendus du Groupe Linguistique d’études
Script, and the Formation of the State in South chamito-sémitiques. Supplément 12). Paris.
Arabia. Proceedings of the Seminar for Arabian —. 1986. U ne écriture minuscule sud-arabe antique
Studies 19, 79—91. récemment découverte. In: Scripta signa vocis. Stu-
Lidzbarski, Mark. 1902. Der U rsprung der nord- dies about Scripts, Scriptures and Languages in the
und südsemitischen Schrift. In: Ephemeris für se- Near East presented to J. H. Hospers, by his pupils,
mitische Epigraphik. Erster Band. Giessen, 109—136. colleagues and friends. Ed. by H. L. J. Vanstiphout
Loundine, Abram G. 1987. L’abécédaire de Beth u. a. Groningen, 185—199.
Shemesh. Le Muséon 100, 243—250. —. 1988. Données nouvelles sur l’histoire ancienne
Macdonald, Michael C. A. 1986. ABCs and letter de l’alphabet. Bulletin des Séances de l’Académie
order in Ancient North Arabian. Proceedings of royale des Sciences d’Outre-Mer 34, 219—231.
the Seminar for Arabian Studies 16, 101—168. —, Müller, Walter W. & Abdallah, Yusuf M. 1994.
Pirenne, Jacqueline. 1956. Paléographie des inscrip- Textes du Yémen de l’Institut Orientaliste de Lou-
tions sud-arabes. Contribution à la chronologie et vain, 43). Louvain-la-Neuve.
à l’histoire de l’Arabie du Sud antique. Tome I. Des Wissmann, Hermann von. 1982. Die Geschichte
origines jusqu’à l’époque himyarite (Verhandelin- von Saba’ II. Das Großreich der Sabäer bis zu
gen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor seinem Ende im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Hrsg.
Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van von Walter W. Müller (Österreichische Akademie
België, Klasse der Letteren, Nr. 26). Brussel. der Wissenschaften. Philosophisch-historische
Rödiger, Emil. 1842. Excurs über die von Lieut. Klasse. Sitzungsberichte, 402. Band). Wien.
Wellsted bekannt gemachten himjaritischen In-
Walter W. Müller, Marburg (Deutschland)

22. Die arabische Schrift

1. Allgemeines Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich von


2. Herkunft der arabischen Schrift Zentralasien bis Zentralafrika und vom Fer-
3. Die arabische Schrift in frühislamischer Zeit nen Osten bis an den Atlantik. Auch heute
4. Der Kūfī-Duktus noch gehört die arabische Schrift zu den am
5. Der Nasḫī-Duktus weitesten verbreiteten Schriften der Erde.
6. Die diakritischen Zeichen Die arabische Schrift ist eine linksläufige
7. Die orthographischen Hilfszeichen Alphabetschrift mit einem Grundbestand von
8. Literatur 18 Graphen. 13 Graphe sind durch jeweils
ein, zwei oder drei diakritische Zeichen (vgl.
5.) differenziert, so daß die 28 konsonanti-
1. Allgemeines schen Phoneme des Arabischen durch je ein
Der Schrift kommt im Islam als Trägerin der Schriftzeichen repräsentiert sind. Die Zeichen
göttlichen Offenbarung zentrale Bedeutung 〈’〉, 〈y〉 und 〈w〉 sind mehrdeutig. 〈y〉 und
zu. Die arabische Schrift, in der der Koran 〈w〉 korrespondieren mit den entsprechenden
aufgezeichnet wurde, wurde bald zum gehei- konsonantischen Phonemen; ferner sind 〈’〉,
ligten Symbol des Islam. Mit seiner Ausbrei- 〈y〉 und 〈w〉 Repräsentanten der Langvokale
tung wurde die arabische Schrift auch zur ā, ī, ū und des Glottisverschlußlauts /’/
Schreibung anderer Sprachen wie Persisch, (hamza) . Die Kurzvokale a, i, u, die Vokal-
U rdu, der Berbersprachen, Malaisch, Hausa, losigkeit und die Verdopplung eines Konso-
Swahili und Türkisch (bis zu den türkischen nanten werden nicht im Schriftzug ausge-
Schriftreformen der 20er Jahre) übernommen. drückt (außer bei hamza vor Langvokalen,
dann dient ein Kurzvokal als „ hamza -Trä-
22.  Die arabische Schrift 313

ger“), können jedoch durch orthographische (bei Akaba), die Grohmann (1971, 15) auf die
Hilfszeichen (vgl. 6.) bezeichnet werden.
Das arabische Schriftsystem wurde zwi-
schen dem 5. und 7. Jahrhundert entwickelt,
danach blieb es im wesentlichen unverändert.
Kalligraphisch wurden verschiedene Schrift-
typen ausgebildet, von denen Kūfī (vgl. 3.)
und Nasḫī (vgl. 4.) die wichtigsten sind. Die
Tabelle zeigt die isolierten Formen der Gra-
pheme:

Abb. 22.1: Vorislamische Inschriften von Harrān


(568 n. Chr.) und Umm iǧ-Ǧimāl II (6. Jh. n. Chr.)
(aus Grohmann 1971)
Zeit 328—350 n. Chr. datiert. Erst zwei Jahr-
hunderte später findet sich in der griechisch-
syrisch-arabischen Trilinguis von Zebed (bei
Aleppo) die erste arabische Inschrift, die auf
512 n. Chr. datiert ist. Weitere Zeugnisse der
arabischen Schrift in vorislamischer Zeit sind
die Inschrift vom Ǧabal U says (bei Damas-
kus) des Jahres 528 n. Chr., die Bilinguis von
Harrān (568 n. Chr.) und eine undatierte In-
2. Herkunft der arabischen Schrift schrift des 6. Jahrhunderts aus U mm al-Ǧimāl
(bei Bosra) (Abb. 22.1). Der graphische Cha-
Nach dem Fall des persischen Reiches (330 rakter dieser Schriftzeugnisse ist nicht ein-
v. Chr.) zerfiel die einheitlich normierte heitlich, letztere Inschrift zeigt gegenüber den
Schrift des Reichsaramäischen in verschie- vier übrigen ein runderes Schriftbild. Trotz-
dene lokale Varianten. Im nabatäischen Kö- dem ist der enge Zusammenhang zwischen
nigreich von Petra (169 v.—106 n. Chr.) im beiden Schrifttypen aus einigen Buchstaben-
südlichen Syrien und nördlichen Arabien be- formen ersichtlich, so daß die U nterschiede
dienten sich die Araber des Nabatäisch-Ara- nicht getrennten Schriftformen zugerechnet
mäischen als Schriftsprache. Diese blieb auch werden können, aus denen sich eventuell so-
nach der Eroberung durch die Römer noch gar die Schriftstile islamischer Zeit ableiten
bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch. ließen. Alle erhaltenen Inschriften stammen
Aus ihrer jüngeren kursiven Form, die durch aus dem südlichen Syrien, wo sich die arabi-
häufigere Buchstabenverbindungen und un- sche Schrift in dem Zeitraum zwischen 328
terschiedliche Final- und Initialformen ein- und 512 n. Chr. ausgebildet haben muß, ohne
zelner Buchstaben gekennzeichnet ist, entwik- daß Zeugnisse überliefert sind. Deshalb muß
kelte sich später die arabische Schrift. Da der Weg der nabatäisch-arabischen Schrift
Zeugnisse aus vorislamischer Zeit spärlich in den Ḥiǧāz nach Mekka offen bleiben.
sind, kann die Entwicklung von der nabatäi- Wahrscheinlich breitete sich die Kenntnis der
schen zur arabischen Schrift nur bruchstück- arabischen Schrift auf den Handelsstraßen
haft nachgezeichnet werden. Als späteste na- nach Südarabien in Mekka und Yaṯrib (heute
batäische Zeugnisse gelten die Inschrift von Medina) aus, wo sie ab ca. 610 n. Chr. zur
an-Namāra (bei Damaskus) aus dem Jahr 328 Aufzeichnung der islamischen Offenbarung
n. Chr., Papyri in Kursivschrift aus Engeddi verwendet wurde. Gleichzeitig wurde die ara-
und drei arabische Graffiti aus der Phase des bische Schrift auch in Al-Anbār und al-Ḥīra
Übergangs von der nabatäischen zur voris- im Irak bekannt und dort von christlichen
lamisch arabischen Schrift vom Ǧabal Ramm
314 III. Schriftgeschichte

Arabern gepflegt. Die in der muslimischen aus der Kanzlei des ägyptischen Statthalters
Tradition vertretene Auffassung, die arabi- Qurra ibn Šarīk der Jahre 708—714/90—96
sche Schrift habe sich dort aus dem syrischen, erhaltenen Schriftstücke weisen reife, elegant
nicht dem nabatäischen Zweig der aramäi- gestaltete Vorformen zu den späteren Schrift-
schen Schrift entwickelt, ist nicht haltbar. Da- stilen auf, wie sie in den folgenden Jahrhun-
gegen sprechen die finalen Varianten von 〈q〉, derten von islamischen Gelehrten registriert
〈1〉, 〈n〉 und die nur der nabatäischen und und beschrieben wurden. Die Länge und Nei-
arabischen Schrift gemeinsame Ligatur 〈l’〉. gung der vertikalen Grundstriche in 〈’〉, 〈l〉,
Im Zuge fortschreitender Buchstabenver- 〈ṭ〉, die Horizontalen in 〈d〉, 〈t〉, 〈k〉, die
bindungen sind die Graphe 〈g〉, 〈ḥ〉 und 〈ḫ〉 Schleifen in 〈ṣ〉, 〈ṭ〉 und die finalen Bögen
sowie 〈b〉 mit 〈t〉 und 〈r〉 mit 〈z〉 zusam- in 〈r〉, 〈k〉, 〈n〉, 〈y〉 werden stärker aufein-
mengefallen. In Initital- und Medialstellung ander abgestimmt. Ziel der Schriftentwick-
haben 〈b〉, 〈t〉, 〈n〉 und 〈y〉 sowie 〈f〉 und lung ist die Balance zwischen den Linien,
〈q〉 dieselbe Form erhalten. Außerdem ist das innerhalb der Linie und innerhalb eines Wor-
aramäische 〈s〉 (semkat) fortgefallen, die ent- tes. — Die arabischen Legenden auf Münzen
sprechenden arabischen Wörter werden mit sowie einigen Glasgewichten und Eichungs-
〈s〉 (sīn) geschrieben. Das Inventar von 22 stempeln ab 640/20 sind zunächst recht knapp
Graphemen der aramäischen Schrift ist auf gehalten, gewähren jedoch aufgrund ihrer
18 der frühen arabischen Schrift reduziert; verschiedenartigen graphischen Ausführun-
damit liegen die Basisgrapheme der arabi- gen Einblicke in die Variationsbreite der frü-
schen Schrift vollständig vor. In der Folgezeit hen Schrift des 7./1. Jahrhunderts (Abb. 22.2).
werden sie kalligraphisch weiterentwickelt — Aus dem Jahr 643/22 stammen auch die
und durch diakritische Zeichen differenziert, ersten Belege der Lapidarschrift, deren 45
aber nicht mehr grundlegend verändert. frühe Belege Grohmann (1971, 71 ff) einge-
hend untersucht hat. Dazu gehören eine
Grabstele aus Ägypten von 652/31, eine Bau-
3. Die arabische Schrift in inschrift am Damm bei aṭ-Ṭā’if von 677/58,
frühislamischer Zeit eine Inschrift im Wadi l-Abyaḍ von 684/64
Da die Fragmente der ältesten Korancodices und die Bauinschrift Abdalmaliks als Mo-
nicht datiert sind, können nur wenige Papyri, saikschriftband in der Kuppel des Felsendoms
Münzen und Inschriften, die ab 642/22 datiert von 691/72. Die zugrundeliegende Kursive ist
sind, Anhaltspunkte über die Entwicklung der in den monumentalen Formen der Lapidar-
arabischen Schrift im 7./1. Jahrhundert bis schrift stark stilisiert; die geometrischen
zur Arabisierung des Münz- und Kanzleiwe- Grundformen, die Horizontalen und die Ver-
sens unter Abdalmalik 697/78 geben. Die bei- tikalen werden betont. Einzelne Zeichen, die
den ersten erhaltenen Papyri stammen aus durch Schreibwinkel und Größenverhältnisse
dem Jahr 642/22, weitere aus den Jahren 645/ voneinander unterschieden waren, verlieren
25, 650/30, 677/57 und den folgenden Jahr- dadurch ihre spezifischen Differenzen, so daß
zehnten. Sie belegen die älteste Entwicklung z. B. 〈ṣ〉/〈ḍ〉 von 〈ṭ〉/〈ẓ〉 und finales 〈d〉
der Kursivschrift, die auf der Basis des über- von 〈k〉 kaum noch zu unterscheiden sind.
lieferten Grapheminventars noch recht unein-
heitliche und unausgeglichene Formen zeigt.
Aber schon in der zweiten Hälfte des 7./ 4. Der Kūfī-Duktus
1. Jahrhunderts zeigen sich differenzierte In einem aus der Lapidarschrift abgeleiteten
Schriftstile für Protokolle und U rkunden. Die Duktus begann man gegen Ende des 7./1.
der ersteren ist größer und schwerer, jene der Jahrhunderts Korancodices zu verfassen. Ibn
U rkunden feiner und kursiver. Bereits die

Abb. 22.2: Siegel und Münzen aus der Umayyadenzeit (aus Grohmann 1971)
22.  Die arabische Schrift 315

an-Nadīm (gest. 990/380) hat eine Beschrei- 5. Der Nasḫī-Duktus


bung der frühen Schrifttypen gegeben, die
sich in zwei Gruppen gliedern. Der „mek- Der Nasḫī-Duktus ist die kalligraphische
kanisch-medinensische“ Typ ist durch die Ausbildung der Kursivschrift, wie sie sich ab
Rechtskrümmung des 〈’〉, die hohen Verti- 78/697 unter Abdalmalik als Kanzleischrift
kalstriche von 〈’〉, 〈l〉, 〈ṭ〉, 〈k〉 und eine entwickelte. Durch die Kenntnis der Papier-
leichte Rechtsneigung gekennzeichnet. Einige herstellung im 9./3. Jahrhundert, das den fa-
frühe Koranfragmente weisen diesen Schrift- serigen und rauhen Papyrus ersetzte, wurde
stil auf, der auch im administrativen und die Verfeinerung der Kursive vorangetrieben.
kommerziellen Bereich Anwendung fand. Korankopien werden nun immer häufiger im
Sehr bald setzte sich jedoch ein gedrungener, Nasḫī-Duktus geschrieben. Auf Münzen hat
die geometrischen Formelemente und die Ho- sich das Nasḫī im Osten bereits zum Ende des
rizontale stark betonender Duktus durch, der 9./3. Jahrhunderts durchgesetzt. Im 11./5.
als der Stil von Kūfa bekannt wurde, so daß Jahrhundert beginnt es auch in der Epigra-
Kūfī die hieratische Schrift schlechthin phik das Kūfī zu verdrängen. Besonders
wurde. Später wurde Kūfī zur allgemeinen schöne Beispiele dieses Nasḫī begegnen in
Bezeichnung aller geometrisch gestalteten einer 1706 erbauten Seminar-Moschee in Is-
Monumentalformen der älteren Schrift. — fahan und auf den Keramikfliesen der Türbe
Die Korane der ersten Jahrhunderte sind auf- Šah-Zadas in Istanbul aus der ersten Hälfte
grund des gleichbleibend stereotypen Charak- des 16./10. Jahrhunderts. Im Laufe der Ent-
ters der Schrift kaum zu datieren. Erst im 9./ wicklung wurde das Nasḫī ebenfalls durch
3. Jahrhundert ermöglicht eine freiere kalli- florale Ranken verziert, verschiedene Stilrich-
graphische Gestaltung der Schrift eine chro- tungen prägten sich aus. Neben dem Nasḫī
nologische Zuordnung. U nter den verschie- waren über 20 verschiedene Kursivstile ent-
denen Dynastien prägen sich unterschiedliche wickelt worden, für deren Buchstabenpropor-
Stilformen aus, z. B. das maghrebinische Kūfī tionierung Ibn Muqla (gest. 939/328) ein
und das Kūfī der Aghlabiden oder Ghazna- Punktsystem einführte. Dieses System wurde
widen. Bisher fehlt jedoch eine umfassende von Ibn al-Bawwāb (gest. 1032/423) verfei-
Beschreibung und Analyse der unterschied- nert. Von ihm sind einige Blätter, darunter
lichen Ausprägungen. Die allgemeine Ent- ein Dubliner Koran in sehr eleganter Schrift
wicklung verläuft dahingehend, daß der U n- mit weit ausschwingenden Endbögen erhal-
ausgeglichenheit des Schriftbildes durch die ten. Der Schule Ibn al-Bawwābs entstammt
langen Hasten entgegengewirkt wird, indem der berühmteste Kalligraph der islamischen
zunächst die Hastenköpfe von 〈’〉, 〈l〉, 〈ṭ〉, Welt, Yāqūt al-Musta‛ṣimī (gest. 1298/698).
〈k〉 durch Palmetten verziert werden. Später Bis heute ist Nasḫī die normale Buchschrift
breiten sich zwei- bis dreimal geteilte Blätter, geblieben (→ Art. 39).
die aus den Buchstaben sprießen, immer wei-
ter aus. Im 10./4. Jahrhundert läßt sich der
Übergang vom Blattkūfī über lilienförmige 6. Die diakritischen Zeichen
Dreiblattverzierung zum Blumenkūfī beob- Die im Nabatäischen nicht vorhandenen kon-
achten, bei dem der gesamte Schriftraum sonantischen Phoneme des Arabischen waren
durch florale Ranken oder Arabesken gefüllt auch im ältesten, aus der nabatäischen Schrift
wird. Bis zum Ende des 13./7. Jahrhunderts entwickelten Grapheminventar nicht reprä-
entwickelt sich das Kūfī zu immer kompli- sentiert. So blieben die Phoneme /ḏ/, /ṯ/, /ḍ/,
zierteren blätter- und blütenreichen, verkno- /ẓ/, /ġ/ und /ḫ/ bzw. die Opposition /ḥ/:/ḫ/
teten Formen. Das Schriftbild wird zum Teil sowie die Opposition /s/:/š/ unausgedrückt.
in zoomorphe und anthropomorphe Gestalt Im Laufe der Schriftentwicklung hatten einige
gefaßt. Es zeigt sich ein immer stärkeres Be- Grapheme dieselbe Form erhalten, z. B.
streben, die Schrift ihrer eigentlichen Bestim- 〈b〉—〈t〉, 〈ǧ〉—〈ḥ〉. Diese Homographen
mung zu entziehen und rein dekorativ ein- mußten deshalb schon früh durch diakritische
zusetzen. Schließlich werden völlig sinnlose Zeichen differenziert werden. In den frühis-
Inschriften in Flechtband-Kūfī auf Denkmä- lamischen Papyri und Bauinschriften finden
lern angebracht oder kurze Wortteile als sich sich zum Teil Diakritika, die eventuell von
ständig wiederholendes Ornament verwendet. der syrischen Schrift angeregt waren. U nter
Solche Ornamentformen werden dann auch dem Kalifat Abdalmaliks wurden diese unter-
auf europäischen kunstgewerblichen Gegen- schiedlichen Zeichen zu einem bis heute ge-
ständen der Zeit nachgeahmt (→ Art. 39). bräuchlichen System erweitert, so daß die 28
316 III. Schriftgeschichte

konsonantischen Phoneme des Arabischen minierten Nomens werden durch doppelte


durch 28 Grapheme repräsentiert sind. Zu- Punkte an denselben Positionen bezeichnet.
nächst variierte die Markierung noch hin- Diese Punkte sind in einer anderen Farbe —
sichtlich der Form; sie erfolgte durch Striche meist rot — gehalten als der Schriftzug, um
oder Punkte, und die aus zwei oder drei Ele- den Eindruck zu vermeiden, die hinzugefüg-
menten bestehenden Marken waren unter- ten, arbiträren Hilfszeichen veränderten den
schiedlich angeordnet. Für die graphemische geheiligten, nach der Offenbarung nieder-
Opposition 〈f〉 : 〈q〉 wurde zunächst 〈q〉 geschriebenen Schriftzug des Korantextes.
durch einen Punkt infra oder supra bezeich- Gelbe oder grüne Punkte bezeichnen das Pho-
net, seit dem 6./2. Jahrhundert und im Magh- nem /’/ (hamza), das im klassischen Arabisch,
reb bis in jüngste Zeit wurden beide durch je nicht aber im higāzenischen Dialekt erhalten
einen Punkt supra 〈q〉 bzw. infra 〈f〉 diffe- ist und kein eigenes Schriftzeichen hat. In der
renziert, während sich im Osten in der Kursive frühen Abbasidenzeit bürgerte sich, zunächst
des 9./3. Jahrhunderts die bis heute übliche in der Kursive der Papyri, die noch heute
Markierung mit einem Punkt supra 〈f〉, zwei übliche Bezeichnung ein: kurze schräge Stri-
Punkte supra 〈q〉 durchsetzte. In der Nasḫī- che für a über, für i unter dem Konsonanten-
Kursive mußte finales 〈k〉 von 〈1〉 durch ein zeichen, ein kleines 〈w〉 supra für u. Gemi-
kleines, beigesetztes 〈k〉 unterschieden wer- nation und Vokallosigkeit werden durch
den. Seit dem Ende des 8./2. Jahrhunderts kleine supralineare Abbreviaturen angezeigt:
wurde die mit 〈h〉 geschriebene Feminin-Sin- 〈š〉 ohne diakritische Punkte für šadd ‘Ver-
gular-Endung -ah mit zwei von 〈t〉 entliehe- stärkung’, 〈m〉 für ǧazm ‘Abgeschnittenheit’.
nen Punkten versehen. Die Schreibung mit Zur Bezeichnung von /’/ wird ein kleines 〈’〉
〈h〉 spiegelt die Pausalform -ah wider, wäh- zum Vokal- oder Gleitlaut gesetzt und zeigt
rend die Kontextform at-un lautet. Im Bereich an, daß dieser wie 〈‛〉 gesprochen werden soll.
der religiös-juristischen Wissenschaften wer- Am Wortende kann das Zeichen auf die
den seit dem 9./3. Jahrhundert, in der Lapi- Schreiblinie gesetzt werden. — In älterer Zeit
darschrift erst seit dem 12./6. Jahrhundert, werden diese orthographischen Hilfszeichen
die normalerweise unpunktierten Grapheme sparsam verwendet. Vom 10./4. Jahrhundert
durch zusätzliche Zeichen, z. B. das Beisetzen an findet man jedoch voll vokalisierte Koran-
einer Miniaturform desselben Buchstabens, und Ḥadīṯ-Handschriften. In säkularen Tex-
markiert. Dagegen sind Papyri und Hand- ten werden orthographische Hilfszeichen nur
schriften aus dem nicht-religiösen Bereich nur für schwierige Wörter, z. B. in der Poesie ver-
teilweise mit diakritischen Zeichen versehen. wendet, während Sachprosa meist ganz un-
Mit der Übernahme der arabischen Schrift vokalisiert ist.
auch zur Schreibung anderer Sprachen wur-
den zur Bezeichnung der dem Arabischen
fremden Phoneme weitere diakritische Zei- 8. Literatur
chen entwickelt. Abbott, Nabia. 1939. The Rise of the North Arabic
Script and its Kur’anic Developement. Chicago.
7. Die orthographischen Hilfszeichen Diem, Werner. 1979 ff. U ntersuchungen zur frühen
Geschichte der arabischen Orthographie I—IV. In:
Weder in den Vorläufern noch im arabischen Orientalia 48, 1979, 207—257; 49, 1980, 67—106;
Alphabet selbst werden Kurzvokale, vokal- 50, 1981, 332—383; 52, 1983, 357—404.
loser Silbenschluß und Konsonantenverdopp- Endress, Gerhard. 1982. Die arabische Schrift. In:
lung angezeigt. Auch wenn die morphologi- Fischer, W. (ed.), 165—183.
sche Struktur des Arabischen mit einiger Si- Fischer, Wolfdietrich (ed.) 1982. Grundriß der ara-
cherheit vom graphischen Bild auf den Mor- bischen Philologie. Wiesbaden.
phemtyp schließen läßt, so ergab sich doch Grohmann, Adolf. 1971. Arabische Paläographie,
schon früh, vor allem für den Koran als re- Teil 2. Wien.
ligiöser und gesetzlicher Grundlage der isla-
mischen Gemeinde, das Bedürfnis, bedeut- Schimmel, Annemarie. 1982. Die Schriftarten und
same Wörter eindeutig zu kennzeichnen. Des- ihr kalligraphischer Gebrauch. In: Fischer, W. (ed.),
halb sind seit der Mitte des 8./2. Jahrhunderts 198—209.
Punkte zur Bezeichnung der Kurzvokale a, i, Veronika Wilbertz, Köln (Deutschland)
u verbreitet, die Kasusendungen des indeter-
23.  Die äthiopische Schrift 317

23. Die äthiopische Schrift

1. Standort und Genesis rabisch g. Andererseits weist die äthiopische


2. Vokalisierung und Schriftrichtung Schrift ein Mehr von zwei Zeichen auf: das
3. Bestand emphatische  und das einfache orale p (letz-
4. Entwicklungsstadien teres nur in Fremdwörtern).
5. Verbreitung
6. Reformversuche
7. Literatur 2. Vokalisierung und Schriftrichtung
2.1.  Wie die altsüdarabische Schrift war die
1. Standort und Genesis äthiopische — dem semitischen Prinzip ent-
sprechend — eine Konsonantenschrift, d. h.,
1.1.  Die äthiopische Schrift ist der graphische man schrieb nur die Konsonanten und ließ
Ausdruck jener Sprache, deren erste über- die Vokale weitgehend unbezeichnet; lediglich
lieferten Denkmäler aus der 1. Hälfte des in einigen wenigen Fällen wurden die Halb-
4. Jahrhunderts stammen: des zum Süd- vokale w und y als m atres lectionis zur Be-
Westsemitischen gehörenden Äthiopisch oder zeichnung der ihnen zugeordneten Vokale
Ge‛ez. verwandt. Ab dem 3. Jahrhundert ging man
dazu über, auch die Vokale in das Schriftbild
1.2.  Die Quellenlage erlaubt über die Her- einzufügen (vgl. 3.2.). Über den Zeitpunkt
kunft dieser Schrift nur die Aussage, daß sie dieser Innovation lassen sich keine gesicher-
ein Abkömmling der altsüdarabischen Kon- ten Aussagen machen. Beide Schreibweisen
sonantenschrift ist (→ Art. 21). Über weitere sind sehr wahrscheinlich schon vor der Be-
Details besteht in der Forschung keine Ein- kehrung des Königs ‛Ēzānā (1. Hälfte des 4.
mütigkeit: Während man gewöhnlich die alt- Jahrhunderts) zum Christentum üblich, so
südarabische Monumentalschrift als Aus- daß ein Zusammenhang zwischen der Ent-
gangspunkt der äthiopischen Schrift ansieht, wicklung der vokalisierten Schrift und dem
hatte Grohmann (1918, 77—79) die Anicht Erfordernis, eine solche für die Bibelüberset-
vertreten, daß der U rsprung in der Kursiv- zung zur Verfügung zu haben, sehr unwahr-
schrift der Graffiti, die auch den proto-ara- scheinlich ist. U llendorff hat die einleuch-
bischen Inschriften zugrundeliegt, zu suchen tende Vermutung geäußert, daß die reine
ist (mit „kursiv“ meinte Grohmann hier nur Konsonantenschrift als bewußte Archaisie-
eine handlichere Gestaltung der Formen). rung zu verstehen ist, zumal diese Schrift auch
Eine neuere These von Jacques Ryckmans für ornamentale Zwecke besser geeignet er-
und A. J. Drewes will die äthiopische Schrift schienen sein mag (U llendorff 1951 a, 232).
auf eine der (in ganz Arabien verbreiteten) Für die Herkunft des äthiopischen Vokalisie-
Formen der ṯamūdischen Schrift zurückfüh- rungssystems gibt es keine verläßlichen An-
ren (vgl. Rodinson 1963, 143; U llendorff haltspunkte; der früher gelegentlich behaup-
1990, 127). tete Zusammenhang mit der indischen Schrift
ist eine sehr hypothetische Möglichkeit.
1.3.  Natürlich kam es während dieser Ent- Wahrscheinlich ist die Vokalisierung eine in-
wicklung zu Veränderungen, die sich vor al- neräthiopische Leistung (vgl. Grohmann
lem durch die Tendenz zur Rundung der For- 1918, 80—84).
men (so z. B. = b für altsüdarabisch
2.2.  Gegenüber anderen semitischen Schriften
) und die Drehung einiger Schriftzei- kam es im Äthiopischen zu einer weiteren
Veränderung: Hatte das Altsüdarabische die
chen um 90 Grad (so z. B. = m für alt- Boustrophedón-Schreibung, so schrieb man
südarabisch ) ergaben; auch die ge- nun im Äthiopischen (wohl unter griechi-
schem Einfluß) von links nach rechts.
änderte Schreibrichtung mag eine Rolle ge-
spielt haben (vgl. Ullendorff 1951 a, 208).
3. Bestand
1.4.  Die äthiopische Schrift hat einige Schrift-
zeichen weniger als die altsüdarabische. Im 3.1.  Wie sie uns heute entgegentritt, umfaßt
Bereich der Dentalen fehlen Zeichen für alt- die äthiopische Schrift 30 Grundzeichen; 26
südarabisch ḏ, ẓ, ś und ṯ; außerdem gibt es davon können (entsprechend der Vokalisie-
keine äthiopische Entsprechung für altsüda-
318 III. Schriftgeschichte

rung: 3.2.) je sieben verschiedene Formen Die sieben Vokale sind: (1) a (auch mit ä
haben, vier (die sogenannten Labio-Velare: transliteriert) (2) u, (3) i, (4) ā (auch mit a
qw, ḫw, kw, gw) je fünf, so daß wir (26 × 7 transliteriert), (5) ē (auch mit e transliteriert),
und 4 × 5 =) 202 verschiedene Zeichen er- (6) e (auch mit ǝ transliteriert) oder Vokallo-
halten, vgl. Abb. 23.1. sigkeit, (7) o. Die sieben Vokale werden „Ord-
nungen“ genannt; so meint man z. B. mit
3.2.  Die Aufnahme der Vokale erfolgte in der einem b der 3. Ordnung ein „bi“. — Bei der
Form, daß man das Konsonantenzeichen je Vokalisierung entschied man sich dafür, die
nach dem ihm folgenden Vokal etwas verän- rein konsonantische Form/Grundform für
derte und damit eine Art Silbenschrift erhielt. den Vokal der 1. Ordnung (a), ge‛ez genannt,

Abb. 23.1: Tabelle der äthiopischen Schrift


23.  Die äthiopische Schrift 319

zu verwenden. Die anderen Vokalordnungen chen kennt, ist es für mathematische Opera-
werden durch für jeden Vokal möglichst glei- tionen ebenso unbrauchbar wie das römische.
che Änderungen bezeichnet (was natürlich Heute werden zunehmend die arabischen Zif-
nicht bei allen Konsonantenzeichen möglich fern benutzt.
ist; die Abweichungen werden im folgenden
nicht erwähnt). Die 2. Ordnung (u), kā‛eb 3.5.  Die hauptsächlichsten Interpunktionszei-
genannt, wird durch ein Häkchen an der rech- chen sind: naṭeb (zwei Punkte) als Worttren-
ten Seite des Zeichens (in der Mitte oder in ner (aus dem altsüdarabischen Trennungs-
der unteren Hälfte) gebildet. Die 3. Ordnung strich zwischen zwei Wörtern entstanden), sa-
(i), śāles genannt, wird durch ein Häkchen raz (in drei Formen: zwei Punkte mit einem
unten rechts oder an einem in der Mitte an- Strich darüber / mit einem Strich dazwischen /
gebrachten Verlängerungsstrich gebildet. Die mit einem Strich darüber und darunter), als
4. Ordnung (ā), rābe‛ genannt, wird grund- Komma oder Semikolon, naqweṭ oder mulu
sätzlich durch eine Verkürzung des linken naṭeb (vier Punkte, quadratisch angeordnet),
Teils des Zeichens gebildet; einfußige Zeichen als Schlußpunkt (vgl. U llendorff 1951 a, 216;
haben eine Abschrägung des Fußes nach Hartmann 1980, 458). Sowohl in den äthio-
links. Die 5. Ordnung (ē), ḫāmes genannt, pischen Handschriften wie im modernen Ge-
wird analog zur 3. Ordnung durch einen Krin- brauch ist die Interpunktion recht willkürlich,
gel rechts bezeichnet. Die 6. Ordnung (e/∅), so daß sie für das Verständnis eines Textes
sādes genannt, wird auf recht unterschiedliche oft nicht sehr hilfreich ist, mitunter sogar in
Weise gebildet: Knick einer geraden Linie; die Irre führen kann. Nur der Worttrenner
Häkchen links oben, an der linken oder an (naṭeb) wird konsequent angewandt, schon
der rechten Seite; Abbiegen eines senkrechten auf den Schlußpunkt (naqueṭ/m ulu naṭeb)
Strichleins nach links; schräger, nach links kann man sich nicht mehr in allen Fällen
geschwungener Strich; Kringel auf der linken verlassen. In Zeitungen wird heute sogar der
Seite. Die Bildung der 7. Ordnung (o), sābe‛ Worttrenner (naṭeb) weggelassen (der Zwi-
genannt, erfolgt entweder durch einen Kringel schenraum bleibt natürlich bestehen).
rechts oder in der Mitte oben, durch Verkür-
zung des rechten Teils des Zeichens oder 3.6.  Über die Reihenfolge und die Namen der
durch einen schrägen, aus der Mitte nach äthiopischen Schriftzeichen ist viel gerätselt
links geschwungenen Strich. Die Labio-Velare worden. Über die Herkunft der traditionellen
(vgl. 3.1) haben nur je fünf Ordnungen, die Reihenfolge der Schriftzeichen kann aber
2. und die 7. Ordnung existieren nicht (zum nichts Sicheres gesagt werden, und für deren
Ganzen vgl. Dillmann 1899, 19—29; Hart- Namen ( hoy, lāw, ḥawt, m āy usw.) gilt im
mann 1980, 52—59). Die 4. Ordnung der w- großen ganzen immer noch die Annahme des
haltigen Zeichen kann auch zu allen Grund- äthiopischen Gelehrten Alaqā Tāyya, der
zeichen mit Ausnahme von h, ḥ, ś, ’, w, ‛, y, Äthiopier, „der 1548 in Rom das Neue Testa-
, ḍ und p gebildet werden, also: lwā, mwā, ment habe drucken lassen, habe diese Namen
rwā usw. nach den griechisch-hebräischen Vorbildern
erfunden“ (Mittwoch 1926, 10). Das „Sylla-
3.3.  Das Amharische, das sich ebenfalls der barium“ in Johannes Potkens 1513 zu Rom
äthiopischen Schrift bedient (vgl. 5.), hat sie- erschienenen „Psalterium Chaldaicum“ kennt
ben zusätzliche Zeichen geschaffen, die den diese Namen ebenfalls nicht, sondern nennt
entsprechenden Grundzeichen zugeordnet die Zeichen einfach mit ihrem Lautwert: ha,
sind: š, č, ñ, ḵ, ž, ǧ und  (vgl. U llendorff hu, hi usw. — Nur jene Schriftzeichen, die
1951 a, 214; 1955, 66—74, 129—149). Das ḵ heute einen identischen Laut darstellen (3.7.),
(nur im Wortinnern und am Wortende) ist ein werden mit einem Zusatz bezeichnet: h = ha
positionsbedingtes, velares Allophon zum la- hallētā, ḥ = ḥa ḥam ar, ḫ = ḫa bezuḫān; ś =
ryngalen [h], das durch h, ḥ und ḫ dargestellt śa neguś, s = sa esāt; ’ = ’a alēf, ‛ = ‛a ‛ayn;
wird (vgl. Hartmann 1980, 49). Daneben gibt ṣ = ṣa ṣalot/ṣelmat/ṣedeq, ḍ = ḍa ḍaḥāy.
es noch einige sehr selten vorkommende Son-
derformen. 3.7.  Keine Darstellung eines Schriftsystems
kann vom phonologischen Aspekt absehen.
3.4.  Die Zahlzeichen hat das Äthiopische aus Für den äthiopischen Konsonantenbestand
dem Griechischen übernommen, die Formen ist zu bemerken, daß einige Zeichen heute in
jedoch der äthiopischen Schrift angeglichen. der Aussprache zusammengefallen sind. So
Da dieses System keinen Stellenwert der Zei- werden die Laryngale h, ḥ, ḫ und die velare
320 III. Schriftgeschichte

Variante ḵ wie [h] gesprochen, die Laryngale vornherein klar, welche von beiden Bedeutun-
’ und ‛ wie [’] (Stimmritzenverschlußlaut wie gen zutrifft; unter U mständen muß sie aber
in „Verein“ [vǝr’ain]), die Dentale ś und s wie auch hier aus der Wortstruktur erschlossen
[s] und die Dentale s und d wie [ṣ]. Die U n- werden.
terscheidung in der Schrift ist aber für das
etymologische Verstehen unabdingbar, und
ein gebildeter Äthiopier wird sich um die ety- 4. Entwicklungsstadien
mologisch „richtige“ Schreibung bemühen.
Im Bereich der Vokale gilt, daß der Vokal der 4.1.  Die äthiopische Schrift hat sich im Lauf
1. Ordnung heute wie [ä] gesprochen wird, ihrer Geschichte niemals so stark verändert,
nur nach h, ḥ, h, ’ und ‛ bleibt das Mittelzun- daß die Zeichen ihre Identität verloren hätten.
gen-a erhalten. Dem ē geht gewöhnlich ein Gewechselt haben die Größe der Schriftzei-
leichter Gleitlaut [y] voraus, der aber nach chen, ihre Stärke, die Achse, die Schweifun-
den Laryngalen h, ḥ und ḫ sowie den Pala- gen, die Form der Häkchen und die Art ihrer
talen č, ǧ, , š, ž, ñ und y ausfällt (Hartmann Anfügung usw. (Grohmann 1918, 85).
1980, 51). — Wenn hier die 1. Ordnung mit
a und die 4. mit ā transliteriert wird, soll 4.2.  Auf Grund eines repräsentativen Hand-
damit kein Quantitätsunterschied behauptet schriftenmaterials hat nun U hlig acht Stil-
werden. Es handelt sich nur um graphische perioden der äthiopischen Schrift herausar-
Zeichen: U llendorff hat dargelegt, daß es sich beiten können und eingehend dokumentiert
bei den äthiopischen Vokalen nicht um quan- (U hlig 1988; eine kürzere Fassung: U hlig
titative, sondern um qualitative Merkmale 1990). Dabei wurde auch berücksichtigt, daß
handelt, d. h., jeder Vokal kann lang oder sich Periodenmerkmale allmählich entwickeln
kurz sein, und der Vokal der 1. Ordnung und eine Periodenzäsur erst dann angesetzt
unterscheidet sich von dem der 4. nicht durch werden darf, wenn eine deutliche Verände-
seine Kürze, sondern durch seine Färbung rung der allgemeinen Merkmale wie zahlrei-
(Ullendorff 1955, 159—163; 1990, 128). cher Merkmale der einzelnen Schriftzeichen
nachgewiesen werden kann (Uhlig 1988, 63 f).
3.8.  Mit ihrem Vokalisierungssystem ist die
äthiopische Schrift dem Ideal einer semiti-
schen Schrift sehr nahe, es bleiben nur zwei 5. Verbreitung
Schwierigkeiten: Erstens hat diese Schrift kein Der äthiopischen Schrift bedienen sich nicht
System zur Kennzeichnung der Längung oder
Schärfung („Doppelung„/Gemination) eines nur das klassische Äthiopisch (Altäthiopisch
oder Ge‛ez ), sondern auch die neuen semiti-
Konsonanten entwickelt. Die Längung hat
aber nicht selten sowohl wort- wie formun- schen Sprachen Äthiopiens, allen voran das
terscheidende Bedeutung und muß nun im Amharische, das Tegreññā, das Tegrē und das
Einzelfall entweder aus der grammatischen Gurāgē (mit Ausnahme des Harari). Aber
Kategorie erschlossen oder aus der Empirie auch im Bereich der kuschitischen Sprachen
gefunden werden (vgl. Mittwoch 1926, wurde und wird die äthiopische Schrift ver-
17—20; U llendorff 1955, 216—222; Hart- wandt, vornehmlich für das Galla (Oromo),
dann auch für die verschiedenen Dialekte der
mann 1980, 70). Auch die Äthiopier selbst Agaw (Belin/Bogos, Falāšā, Qemānt usw.)
zeigen hier manche U nsicherheit. Eine Be- und in einigen Fällen für Sidāmāsprachen.
zeichnung der Konsonantenlängung (durch Nicht selten war die Verwendung der äthio-
ein arabisches Tašīd, ein Trema u. dgl.) findet pischen Schrift mit der Wirksamkeit von Mis-
sich fast nur in europäischen philologischen sionaren verbunden.
Arbeiten, analoge Versuche äthiopischer Ge-
lehrter sind ohne Erfolg geblieben. In äthio-
pischen Handschriften findet sich nur ganz 6. Reformversuche
selten ein über dem betreffenden Schriftzei-
chen (nachträglich) eingetragenes ṭ (= aṭbeq 6.1.  Gelegentlich hat es auch Ideen für eine
= verstärke!). — Die zweite Schwierigkeit Reform der äthiopischen Schrift gegeben,
ergibt sich aus der Doppeldeutigkeit der 6. keiner dieser Versuche hat sich aber durch-
Ordnung: Sie kann sowohl ein e (einen dem setzen können. Ein Vorschlag ging dahin, die
hebräischen Schwa mobile vergleichbaren Schriftzeichen der 1. Ordnung (also: Konso-
Mittelzungenvokal) wie die völlige Vokallo- nant + a) für die vokallose Form des Kon-
sigkeit des betreffenden Konsonanten bedeu- sonanten sowie die mit dem Mittelzungen-e
ten. In einer ganzen Reihe von Fällen ist von
23.  Die äthiopische Schrift 321

der 6. Ordnung zu verwenden, als Vokalzei- baden.


chen dann die Formen des ’ (mit Ausnahme Hartmann, Josef. 1980. Amharische Grammatik.
von dessen 6. Ordnung). Die zum Teil sowieso Äthiopische Forschungen 3. Wiesbaden.
schon langen amharischen Wörter würden Klingenheben, August. 1958. Die w- und y-haltigen
dadurch aber mitunter um bis zu 100 Prozent Konsonanten abessinischer Semitensprachen mit
länger werden; aus dem jetzigen: ḫwā-lā besonderer Berücksichtigung des Amharischen.
(= hinten, später, nachher) würde z. B.: Rassegna di studi etiopici 14, 28—47.
h-w-ā-l-ā (vgl. Leslau 1953, 100 f; Hammer- Leslau, Wolf 1953. La réforme de l’alphabet éthio-
schmidt 1967, 158). pien. Rassegna di studi etiopici 12, 96—106.
—. 1965. An Annotated Bibliography of the Se-
6.2.  Eher ein Kuriosum sind Bemühungen in mitic Languages of Ethiopia. Den Haag.
neuester Zeit, lateinische Zierschriften (wie sie
mehr in den U SA heimisch sind) nachzuah- —. 1978. Spirantization in the Ethiopian Langua-
men. Die äthiopische Schrift wird dabei mit- ges. In: Atti del Secondo Congresso Internazionale
unter in einer grotesken Weise denaturiert di Linguistica Camito-Semitica, Firenze 1974,
(vgl. U hlig 1980, 815). Die beiden folgenden 175—199 [wiederabgedruckt in: Leslau, Wolf. 1988.
Beispiele wollen jeweils die äthiopischen Fifty Years of Research. Selection of articles on
Schriftzeichen ḥ, m, ś und r wiedergeben: Semitic, Ethiopian Semitic and Cushitic, 177—201.
Wiesbaden].
Mittwoch, Eugen. 1926. Die traditionelle Ausspra-
che des Äthiopischen. Abessinische Studien I. Ber-
lin/Leipzig.
Rodinson, Maxime. 1963. Les Sémites et l’alphabet:
Les écritures sud-arabiques et éthiopiennes. In:
L’écriture et la psychologie des peuples. Centre
international de Synthèse: XXII e Semaine de Syn-
thèse, 3.—11. 5. 1960, 131—146. Paris.
U hlig, Siegbert. 1988. Äthiopische Paläographie.
Äthiopistische Forschungen 22. Stuttgart.
—. 1990. Introduction to Ethiopian Palaeography.
6.3.  Die hohe Qualität des äthiopischen Äthiopistische Forschungen 28. Stuttgart.
Schriftsystems hat es derartige Anschläge U llendorff, Edward. 1951 a. Studies in the Ethiopic
leicht überstehen lassen. Wenn der äthiopi- syllabary. In: Africa 21, 207—217. (Wieder abge-
schen Schreibpraxis heute eine Gefahr droht, druckt in Ullendorf 1977, 230—240).
dann kommt diese eher von seiten des jeder
—. 1951 b. The obelisk of Matara. Journal of the
Schreibkultur abträglichen Kugelschreibers.
Royal Asiatic Society 1951, 26—32. (Wieder ab-
gedruckt in Ullendorf 1977, 223—229).
7. Literatur —. 1955. The semitic languages of Ethiopia. A
comparative phonology. London.
Dillmann, August. 1899. Grammatik der äthiopi- —. 1977. Is biblical Hebrew a language? Wiesba-
schen Sprache. 2. Aufl. bearbeitet von Carl Bezold. den.
Leipzig [Nachdruck: Graz 1959].
—. 1990. The Ethiopians. An Introduction to
Grohmann, Adolf. 1918. Über den U rsprung und Country and People. Reprint of the 3rd Edition,
die Entwicklung der äthiopischen Schrift. Archiv Oxford, 1973. Stuttgart.
für Schriftkunde 1, 57—87.
Hammerschmidt, Ernst. 1967. Äthiopien. Christli- Ernst Hammerschmidt †, Wien (Österreich)
ches Reich zwischen Gestern und Morgen. Wies-
322 III. Schriftgeschichte

24. Evolution of the Indian Writing System

1. The Harappan script see Rao (1982).


2.
A hiatus
3. The Aśokan scripts
4. Orality and literacy in ancient India
5. Indian script descended from Brāhmī
6. Brāhmī-based scripts outside South Asia
7. Non-Indic scripts in South Asia
8. References

1. The Harappan script


One of the world’s significant early scripts is Fig. 24.1: Harappan seal with script. Reproduced
that of the Indus Valley civilization — often from The roots of Ancient India, by Walter A.
called Harappan, after one of its main ar- Fairservis Jr., 2nd ed. (Chicago: University of Chi-
chaeological sites. The known inscriptions in cago Press, 1975), p. 274.
this writing system date from around the first
half of the 3rd millennium B. C., at a period
when most scholars believe that Sanskrit 2. A hiatus
speakers had not yet entered the Indus Valley. One of the most surprising things about the
It is widely hypothesized that the language of Harappan script is that it seems to have dis-
the Harappan civilization belonged to the appeared from use along with the decline of
Dravidian family, for two reasons. First, al- the Indus Valley Civilization; thereupon South
though languages of that group are now con- Asia was left with no archaeological trace of
centrated in South India, they are known to a writing system for some 2,000 years. Finally,
have occupied a wider area in the past; and in the 3rd century B. C., two scripts, Brāhmī
one Dravidian language, Brahui, is still spo- and Kharoṣṭhī, made their appearance in the
ken in Baluchistan, just west of the Indus stone-carved edicts by which the Emperor
Valley. Second, a significant number of Dra- Aśoka Māurya propagated Buddhist princi-
vidian borrowings can be identified in the ples throughout the Indian subcontinent.
oldest Vedic texts, reflecting the earliest pe- Many scholars have found it hard to believe
riod of contact between Sanskrit speakers and that anything so valuable as a writing system
the ancient Harappan population. However, could simply be discarded, and have looked
the corpus of Harappan writing is limited for evidence that the Harappan script may
primarily to very short texts — typically of have simply gone ‘underground’. On the one
five or six characters — found almost exclu- hand, they have pointed to the so-called ‘graf-
sively on about 2,500 stone seals, and in clay fiti’ which are found on potsherds from all
impressions of those seals. Since some of the over South Asia during the post-Harappan
impressions are found still attached to bales period, and some of which bear geometrical
of trade goods, it is inferred that a major resemblances to Harappan characters. But
function of the writing was in labeling mer- since these graffiti lack the patterned nature
chandise. No bilingual inscriptions have been characteristic of writing systems, and since
found; and all attempts to decipher the Indus there is in any case no way to match them
Valley script remain speculative. However, it phonologically or semantically with Harap-
appears to have been written from right to pan characters, most scholars have regarded
left, and there are indications that it was them as mere potters’ marks (Gupta & Ra-
basically logographic, with some development machandran 1979, xxi). On the other hand,
in the direction of phonologically defined some writers have called attention to graphic
signs. For a sample of Harappan script, see similarities between Harappan signs and
Fig. 24.1. For general accounts of this script, those used in the later Brahmī script; but
and of attempts at its decipherment, see Dani again, in the absence of phonetic correspond-
(1963, 12—22), Zide & Zvelebil (1970), Bright ences, these similarities cannot be taken seri-
(1991). For a recent major effort to interpret ously as anything but accidental coincidences
the Harappan language in terms of Sanskrit, of universal geometrical patterns.
24.  Evolution of the Indian Writing System 323

Another argument is that writing must


have existed continuously in South Asia, but
that it was on perishable materials, such as
cloth or bark, which have not survived (cf.
Pandey 1957, 16). On this hypothesis, the
Aśokan texts are significant for the history of
writing in South Asia only because they were
the first of their type to be carved in stone,
and therefore to endure. But the Harappans
inscribed their characters not only in stone
and clay, but also in other durable materials,
such as ivory and copper; so it is hard to
explain why the extensive archaeological re-
search which has been carried out in South
Asia has not turned up at least a few examples Fig: 24.2: Kharoṣṭhī and Brāhmī
of pre-Aśokan writing. Such considerations
have led scholars such as U pasak (1960), nor did they write the vowels only with oc-
Dani (1963), and Verma (1971) to claim that casional diacritics to consonant symbols, as
pre-Māuryan India was essentially scriptless, is done in many Semitic writing systems.
and even to suggest that the Kharoṣṭhī and Rather, they adopted the strategy of writing
Brāhmī scripts were developed under direct each (C)V sequence — i. e. a vowel without
orders from the Emperor Aśoka himself. This preceding consonant, or more often a con-
of course accords with a traditional Hindu sonant + vowel — as a unit, called in San-
view that Sanskrit literature, throughout the skrit an akṣara. Each initial vowel has its
Vedic and Classic periods, was composed and distinctive symbol; but to write typical CV
transmitted in a purely oral medium. How- sequences, the following two devices are used:
ever, there is some non-archaeological evi- (a) The short vowel a is considered inherent
dence for pre-Aśokan writing; see sec. 4, be- in each consonant symbol; thus a consonant
low. symbol by itself stands for C + a .
(b) All other vowels are written as obliga-
tory diacritics, attached to the top, to the
3. The Aśokan scripts bottom, or to either side of the consonant.
These devices are illustrated in Fig. 24.2
The edicts of the Emperor Aśoka, dating from for initial vowels, and for sequences of k plus
around 253—250 B. C., are found over a large vowel. Note that the distinction of short vs.
part of South Asia, and in several writing long vowels is ignored in Kharoṣṭhī, but is
systems. On the northwestern frontier, some maintained in Brāhmī.
inscriptions are in Greek and Aramaic — the Additional devices are required when a
principal languages of foreign contact in that consonant is not followed by a vowel, typi-
area. Most other inscriptions are in the Pra- cally when it occurs before another conso-
krit dialect of Aśoka’s capital in Magadha nant. In that case, ‘conjunct consonants’ are
(now part of Bihar state, in eastern India); used, in which one consonant symbol takes a
but they are in two different writing systems. reduced form. Thus the aksara does not cor-
One of these, Kharoṣṭhí, was written from respond precisely to a syllable of the spoken
right to left, like Aramaic and other Semitic language: the sequence arva would be pro-
scripts; it was used only in the northwest, and nounced as ar + va , but written with the two
subsequently died out. The other script, akṣaras a + rva .
Brāhmī, was written mainly from left to right; It is therefore inaccurate to refer to the
it was used in the larger part of the subcon- Indic writing systems as syllabaries. Writing
tinent, and eventually developed into many systems of this type, which indicate CV com-
major and minor scripts used down to the binations by vowel diacritics obligatorily at-
present time in India and southeast Asia. tached to consonants, have arisen only rarely
Both systems were phonologically based, in the world; the other best-known example
and they introduced a novel method of tran- is Ethiopic, which is known to have been
scribing both consonants and vowels in a derived from South Semitic sources around
systematic way. The new Indic scripts did not A. D. 350 (→ art. 23). Such systems create a
write both consonantal and vocalic phonemes problem for typologies of writing systems,
as independent letters, as is done in Greek;
324 III. Schriftgeschichte

and for nomenclature. A system which writes riod.


consonants and vowels separately and inde- However, the question remains: was
pendently, as in the Roman system, is an Brāhmī script, or some predecessor of it, used
alphabet; a system with a unitary symbol for in India during the 2,000 years that preceded
each (C)V combination, like Japanese kana Aśoka’s reign? Or was the Sanskrit literature
or Sequoyah’s Cherokee script, is a syllabary. of these millennia in fact a purely oral tradi-
But we need a distinctive name for the Semitic tion? This has been a matter of controversy.
type of system, where vowels are largely neg-
lected; and we also need a name for the Indic
and Ethiopic type of system, where conso- 4. Orality and literacy in ancient India
nantal and vocalic elements are combined. It has been widely believed that ancient San-
The term ‘alpha-syllabic’ has been proposed skrit-speaking culture was basically oral;
for the Indic type, suggesting links with both however, the evidence is mixed. Although we
alphabetic and syllabic systems. find mention of writing in Classical Sanskrit
The origins of the Kharoṣṭhī and Brāhmī texts, it is hard to determine the exact period
scripts are disputed. As noted above, some from which a text dates, and even harder to
writers have proposed that both scripts were rule out the possibility that references to writ-
new inventions within South Asia. Other ing are late interpolations.
scholars accept the likelihood that Kharosthī We have datable evidence, however, from
was an adaptation of the Aramaic script, con- Greek writers who visited India during and
sidering the facts that they were used in the following the time of Alexander the Great (cf.
same northwestern area, that they were both Gopal 1977). Thus Nearchos, a general of
written from right to left, and that a fair Alexander’s army, is reported by Strabo as
number of Kharosthī symbols show signifi- stating (around 326 B. C.) that ‘the Hindus
cant similarities in shape and pronunciation wrote epistles on linen cloth’. However,
to the corresponding Aramaic symbols. How- Strabo also quotes Nearchos as saying of the
ever, some of these writers have denied that ancient Indians that ‘their laws ... are un-
Brāhmī can have the same Aramaic inspira- written.’ A possible interpretation is that,
tion; they point to the fact that it was written when Nearchos visited India, writing may
in the opposite direction, and that significant have been used for personal or commercial
correspondences in shape and sound are purposes, but not for religious or legal texts.
harder to find. In this view, Brāhmī must However, the Greek envoy Megasthenes, de-
represent either a survival of the Harappan scribing the Hindus some 25 years later, re-
writing system, or at any rate a separate in- ported: ‘they have no knowledge of written
vention. letters, and regulate every single thing from
Finally, many Indologists still follow memory.’
Bühler (1895, 1896) in believing that both Early Buddhist texts, handed down in the
Kharosthī and Brāhmī were derived from Se- Pali language from around 500 B. C., make
mitic writing — with Brāhmī perhaps based some reference to writing, but suggest it was
on a Semitic script like the Phoenician, rather not preferred for sacred purposes; thus it is
than on Aramaic. For comparisons of sym- prescribed that the rules of a monastic order
bols from Semitic scripts with those of the should be transmitted orally.
two Indic scripts, see Fig. 24.3. As for Sanskrit texts, it is well known that
To be sure, all scholars recognize important oral transmission of both religious and secu-
links between Kharosthī and Brāhmī. Not lar literature has been practiced in India from
only do they represent the same type of alpha- ancient times to the present. In fact, the ear-
syllabic script; they also show the same sys- liest record of written Sanskrit dates from
tematic expansion in number of consonant only the 1st century B. C. — much later than
symbols, for the purpose of conveying all the the Prakrit inscriptions, at a time when San-
phonological contrasts of aspiration, retro- skrit can no longer have been widely spoken,
flexion etc. which are characteristic of San- but was cultivated as a literary language. Yet
skrit and of other South Asian languages to some earlier writings in Sanskrit must have
the present day. It is clear that these two been on perishable material, and so vanished.
scripts were elaborated by ancient pandits The Sanskrit grammar of Pāṇini, believed to
who were well versed in the science of pho- have been composed in northwest India in
netics — which we know to have been already the 4th century B. C., contains words for
developed in India before the Māuryan pe-
24.  Evolution of the Indian Writing System 325

Fig: 24.3: Semitic scripts, Kharosthi, and Brāhmī (adapted from Jensen 1969, 365, 367).
326 III. Schriftgeschichte

‘book’ and ‘script’ — though the work itself


is traditionally studied through recitation and
memorization. Although Pāṇini knew that
writing existed, it is possible that he was illit-
erate! The consensus of scholarly opinion sug-
gests that writing was used in India for certain
practical purposes from pre-Māuryan times
onward, but that over many centuries it con-
tinued to be considered inappropriate for re-
ligious, literary, or scholarly works (see Ki-
parsky 1976, Bright 1988).
It appears then, that a society may have
knowledge of writing, and yet assign it to
restricted functions — the usage of mer-
chants, perhaps, as opposed to the purposes
of religion or of literary art. A possible par-
allel comes from Minoan Greece: the Myce- Fig. 24.4: Scripts used for Indo-Aryan languages
naean civilization used the Linear A and B
scripts for commercial records; but so far as (b) Many consonantal symbols include a
we know, they did not use them for literature. vertical line. When such a symbol occurs first
Following the collapse of Minoan civilization, in a consonant cluster, a conjunct consonant
Greece apparently did without a writing sys- can be created by omitting the vertical line;
tem for some centuries, until the Phoenician- thus p(a) + t(a) combine as pt(a) .
based alphabet was introduced. During this (c) Other consonant clusters are symbol-
period, of course, the Iliad and the Odyssey
were in the oral tradition, taking the forms ized by less predictable conjuncts, e. g. t(a)
which we now know — just as in India, + r ( a) combine as tr(a) , while h(a)
around the same time, the Hindus were ap-
parently also producing and transmitting lit- + y(a) combine as hy(a) . Conjuncts
erature without the aid of writing. of more than two consonants can be formed
by a combination of methods; e. g., s(a)
5. Indian scripts descended from + t(a) + r(a) = str(a) .
Brāhmī (d) An alternative way of writing a syllable-
Scripts descended from Brāhmī eventually final consonant, either in a cluster or in final
dominated the entire Indian subcontinent (for position, is by adding the subscript diacritic
a summary of the palaeography, see Jensen virāma, indicating ‘zero vowel’, to the basic
1969, 361—404). Brāhmī-based scripts also symbol; thus t(a) , but at .
spread to Southeast Asia; see sec. 6. below.
Some two hundred scripts of this family Related systems used for major Indo-Ar-
have been distinguished. Since the 18th cen- yan languages are the Bengali script (also
tury, ten scripts have been standardized, cast used for Assamese), the Oriya script, the Gu-
in type, and given official association with jarati script, the Gurmukhī script (used by
major Indo-Aryan and Dravidian languages. Sikhs to write Punjabi), and the Sinhalese
The most important of these is the Nāgarī or script of Ceylon. It has been claimed that the
Devanāgarī script, the one most commonly differences between the more rectilinear and
used to write Sanskrit, Hindi, Marathi, and the more curvilinear scripts reflect the use of
Nepali (see Lambert 1953; → art. 33, 122). Its different types of palm leaf as a traditional
characteristic features include the following: surface for writing; leaves with smoother sur-
(a) Symbols for independent vowels, and faces encourage a rounder line. Representa-
for most consonants, have a horizontal line tive symbols from these scripts are shown in
along their top; e. g. a, k(a), s(a). Fig. 24.4; see also Fig. 33.1.
Of the four Dravidian languages of South
Several of the diacritic vowel symbols appear India, each one has its own script; but the
partially or entirely above this line, e. g. Tamil script stands apart from the others in
two respects. First, it lacks symbols for voiced
ki, ke. or aspirated stops, which are absent as con-
trastive units in conservative Tamil pronun-
ciation; thus its inventory of symbols is much
reduced. Second, consonant symbols are
never combined in ligatures; syllable-final
24.  Evolution of the Indian Writing System 327

consonants are uniformly marked with a su- always used in their full form, but the end of
perscript dot, corresponding to the zero- each syllable is marked by a raised dot; thus
vowel symbol of Devanāgarī. For represen-
tative symbols from the Dravidian scripts, see
Fig. 24.5.
The traditional order of symbols in Deva-
nāgarī and its sister scripts is based strictly
on articulatory phonetics, as developed for
Sanskrit by the ancient pandits. First come
the simple vowels, paired as short and long:
a ā i ī u ū . Then come the historical diph-
thongs: ai (= [e]) āi au (= [o]) āu. Then
follow syllabic liquids:    (the non-occurring
 is added for the sake of symmetry). Then
come an element of nasalization (anusvāra, Fig. 24.5: Scripts used for Dravidian languages
ṃ) and one of voiceless aspiration (visarga,
ḥ ). There follow the consonants: first the oral
and nasal stops, arranged by position of ar-
ticulation, moving forward from the back of
the mouth. Within each articulatory class, the
order is voiceless unaspirated and aspirated,
voiced unaspirated and aspirated, plus nasal:
Velar: k kh g gh ṅ
Palatal: c ch J jh ñ
Retroflex: ṭ ṭh ḍ ḍh ṇ
Dental: t th d dh n
Labial: P ph b bh m
There follow, again arranged from the back Fig. 24.6: Brāhmī-based scripts outside India
of the mouth toward the front, the oral so-
norants y r l v and the voiceless sibilants ś ṣ s. 〈k(a) · y(a)〉 would correspond to kaya , but
The list ends with the voiced aspiration h . 〈k(a)y(a)〉 with no dot would correspond to
In languages which have additional con- kya . In Thai, no distinction is made between
sonant sounds, not occurring in Sanskrit, a consonant with inherent vowel and a con-
symbols tend to be added to the end of the sonant followed by no vowel; thus both kra
list — e. g., in Tamil, retroflex ṛ  and alveolar and ka ra would be written as 〈k(a)r(a)〉 (see
ṟṉ. Haas 1956).
Another innovation in some of the South-
east Asian scripts is the addition of obligatory
6. Brāhmī-based scripts outside South diacritics to represent contrastive pitch. I n
Asia Thai, for example, five tones are distinguished
by the use of symbols written above the con-
Scripts derived from those of India are widely sonant-vowel combinations.
used, outside of South Asia proper, for lan-
guages of the Tibeto-Burman, Thai, Austro-
Asiatic, and Austronesian families. Referring 7. Non-Indic scripts in South Asia
only to those which have been cast in type
and have received official recognition, we may The most important historical impact on the
list those of Tibetan, Burmese, Thai, Cam- use of Brāhmī-derived scripts in South Asia,
bodian, and Javanese; sample symbols of from A. D. 1000 onward, namely the intro-
these are found in Fig. 24.6. duction of Islam, resulted in the introduction
Some of these scripts have departed from of the Arabic script. This script was intro-
the Indic practice of writing consonant clus- duced in the form which had been previously
ters either as conjuncts or with a zero-vowel adapted to the phonology of Persian, with
symbol. In Tibetan, consonant symbols are new symbols for g, č, and p; other new inven-
328 III. Schriftgeschichte

tions were developed to represent distinctively Vennemann, Theo (ed.), On language: A Festschrift
South Asian phonemes such as the retroflex for Robert P. Stockwell, London, 22—38. Re-
and aspirated stops. In general, those South printed in Bright 1991 b, 130—147.
Asian languages which are used mainly by —. 1991 a. How not to decipher the Indus Valley
Muslim populations are written in adapta- inscriptions. In: Bright 1991 b, 118—123.
tions of Arabic script: above all U rdu (cf. —. 1991 b. Language variation in South Asia. New
Bright & Khan 1958), but also Pashto, Ba- York.
luchi, Kashmiri, and Sindhi. However, the Bright, William, & Khan, S. A. 1958. The U rdu
Muslim people of Bangla Desh write the Ben- writing system. New York.
gali language in the same script used by
Bühler, Georg. 1895. On the origin of the Indian
Hindu speakers of Bengali in India.
Brahma alphabet. (Indian studies, 3.) Wien. Re-
U rdu, as the national language of Pakistan
printed, Varanasi: Chowkhamba Sanskrit series,
as well as the language of many millions of
1963.
people in India, is in fact defined in part by
the use of U rdu script as its written medium. —. 1896. Indische Palaeographie von circa 350 a.
On the spoken colloquial level, there is little Chr. — circa 1300 p. Chr. (Grundriss der indo-
distinction between U rdu and Hindi; the term arischen Philologie und Altertumskunde, ed. by G.
Hindustani has been used to cover both. Bühler, 1:11.) Strassburg. Translated as ‘Indian pa-
However, in formal discourse, U rdu borrows laeography’, Indian Antiquary, vol. 33, Appendix,
large amounts of Arabic and Persian vocab- 1904. Reprinted, Calcutta 1959.
ulary, whereas Hindi draws on the Sanskrit Dani, Ahmad Hasan. 1963. Indian paleography.
lexicon. When written, Hindi of course uses Oxford.
the Devanāgarī script. Since the political par- Gopal, Lallanji. 1977. Early Greek writers on writ-
tition of South Asia between Pakistan and ing in India. In: Gopal, L. (ed.), In commemoration
India, differences between U rdu and Hindi of D. D. Kosambi. Varanasi, 41—54.
have been more emphasized than previously. Gupta, S. P. & Ramachandran, K. S. (ed.). 1979.
Arabic script as used for U rdu has proven The origin of Brahmi script. Delhi.
exceptionally resistant to the technology of Haas, Mary R. 1956. The Thai system of writing.
typesetting; in the 1980’s, the text of U rdu Washington, D. C.
newspapers was still created by professional Jensen, Hans. 1958. Die Schrift in Vergangenheit
scribes, practicing their calligraphic art on und Gegenwart. 3rd ed. Berlin. (Translation: Sign,
lithographic stones. symbol and script. London/New York.)
The Roman script was introduced to India Kiparsky, Paul. 1986. Oral poetry: Some linguistic
by the Portuguese and the British, and has and typological considerations. In: Stolz, Benjamin
been adapted by missionaries to the languages A. & Shannon, R. S. (ed.), Oral literature and the
of various Christian minorities. For example, formula. Ann Arbor, Center for the coordination
Roman has been used for Konkani, an Indo- of Ancient and Modern Studies, U niversity of
Aryan language spoken by Catholics in Goa, Michigan, 73—106.
as well as for Tibeto-Burman languages such
as Lushai, spoken by Protestant converts in Lambert, Hester M. 1953. Introduction to the De-
the northeast. In some other areas, scripts vanagari script for students of Sanskrit, Hindi,
based on locally used Indic systems (such as Marathi, Gujarati and Bengali. London.
Devanāgarī) have been developed by mission- Pandey, Raj Bali. 1957. Indian palaeography. 2nd
aries for the use of minority populations. edition. Varanasi.
A Romanized form of U rdu has had some Rao, Shikarpur Ranganath. 1982. The decipher-
use in the Indian army; in general, however, ment of the Indus script. Bombay.
proposals that the multiplicity of Indian U pasak, C. S. 1960. The history and palaeography
scripts should be replaced by the Roman al- of Mauryan Brahmi script. Nalanda, India: The
phabet — or indeed by Devanāgarī, or any author.
other uniform system — have met with min- Verma, Thakur Prasad. 1971. The palaeography of
imal acceptance. Diversity of scripts, like di- Brahmi script in North India from c. 236 BC to c.
versity of languages and dialects, continues 200 AD. Varanasi.
to be a conspicuous feature of the South Zide, Arlene, & Zvelebil, Kamil. 1970. Review of
Asian world. Knorozov et al. Language 46, 952—968.

William Bright, Boulder, Colorado (USA)


8. References
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guage in South Asia. In: Duncan-Rose, Caroline &
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 329

25. Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften

1. Allgemeine Voraussetzungen der Alphabet- nicht nur wegen des West-Ost- und Nord-
entwicklung Süd-Fernhandels, sondern auch wegen der
2. Die ältesten lokalen Varianten einer Alpha- Fernwirkung kultureller Trends aus dem
betschrift im Nahen Osten Osten, dem Süden und aus dem Westen. Im
3. Das phönizische Alphabet Nahen Osten waren im 2. Jahrtausend v. Chr.
4. Die europäischen Affiliationen der phönizi- die folgenden Schriftsysteme bekannt oder in
schen Schrift Gebrauch: die logiko-syllabische Variante der
5. Die nahöstlichen Affiliationen der phönizi- babylonischen Keilschrift, die logiko-segmen-
schen Schrift talen Varianten der ägyptischen Schrift
6. Zur Rolle von Kultursprachen und Basis- (hieroglyphisch, hieratisch) und die altägäi-
schriften für die Verbreitung des alphabeti- schen syllabischen Schriftvarianten (logiko-
schen Prinzips syllabisches Linear A, rein syllabisches Ky-
7. Isolierte Alphabetschöpfungen in Europa und pro-Minoisch und Levanto-Minoisch). Die
Asien erwähnten Schriftsysteme haben entweder di-
8. Die Rolle von Alphabetschriften in der mo- rekt oder indirekt auf den Entstehungsprozeß
dernen Sprachplanung der ältesten Alphabetschriften eingewirkt,
9. Literatur während das zeitgenössische Hieroglyphen-
hethitische keinen nennenswerten Anteil
daran hatte.
1. Allgemeine Voraussetzungen der Vom rein organisatorischen Standpunkt
Alphabetentwicklung betrachtet, sind die wichtigsten Prinzipien,
In der Evolution der Schrifttypen markiert durch die sich das Alphabet von anderen
das Alphabet die vergleichsweise am stärksten Schrifttypen unterscheidet, in den älteren
spezialisierte Entwicklungsstufe, nicht nur phonographischen Schreibweisen der Region
der Phonographie, d. h. der lautorientierten angelegt. Die ägyptische Segmentalschrift
Schreibweise, sondern des Schreibens über- kennt Einkonsonantenzeichen, für deren Ka-
haupt. Bezieht man die alteuropäische Schrift tegorisierung sich die etwas saloppe Termi-
(→ Art. 17) und die numerische Notation in nologie „ägyptisches Alphabet“ bis in die mo-
Mesopotamien vor der altsumerischen Pik- derne wissenschaftliche Literatur gehalten
tographie mit ein, stellt sich heraus, daß die hat. Die Einkonsonantenzeichen waren aber
Menschen ungefähr ebenso lange ohne Al- kein selbständiges System, sondern eingebun-
phabet ausgekommen sind, wie sie seit dem den in den Mechanismus der segmentalen
2. Jahrtausend v. Chr. mit diesem Schrifttyp Schreibweise, zu der außerdem die Zwei- und
geschrieben haben. Die Entwicklung der Mehrkonsonantenzeichen gehören (Davies
Schriftlichkeit seit den ersten Experimenten 1990, 103 ff).
mit alphabetischen Systemen zeigt einen deut- Das Alphabet teilt verschiedene Organisa-
lichen Trend in Richtung auf eine Bevorzu- tionsprinzipien mit den historischen Schrif-
gung des Alphabets gegenüber anderen (d. h. ten, die seine Entwicklung beeinflußt haben.
nicht-alphabetischen) Systemen, was wie- Das organisatorische Prinzip der Eins-zu-
derum nicht bedeutet, daß das Alphabet äl- Eins-Entsprechung von Laut und Schriftzei-
tere Schrifttypen überall verdrängt hätte. Be- chen, das den Einkonsonantenzeichen zu-
kanntlich schreibt rund ein Fünftel der Welt- grundeliegt und das zum entscheidenden Or-
bevölkerung seit über dreitausend Jahren in ganisationsprinzip der Alphabetschriften
einer Variante der Logographie, nämlich die wurde, ist in der ägyptischen Schreibweise
Menschen im chinesischen Schriftkulturkreis. schriftgeschichtlich zum ersten Mal systema-
Die ältesten Zeugnisse der Alphabetschrift tisch durchgeführt worden. Allerdings ist die-
finden sich nicht zufällig in einem kulturellen ses Prinzip auch aus der Keilschrift bekannt,
Areal, das sich vom schriftarchäologischen und zwar in der Verwendung von Zeichen für
Standpunkt als Kontaktzone dreier wichtiger vokalische Silbenstrukturen ohne Konsonan-
Schriftkulturkreise darstellt. Der Nahe Osten, ten. Die kypro-minoische Variante der alt-
genauer gesagt eine Region, die von Syrien ägäischen Schriften teilt mit dem Alphabet
im Norden bis zur Sinaihalbinsel im Süden die Eigenschaft, daß sie rein phonographisch
reichte und auch Westjordanien einschloß, funktioniert, d. h. ohne die für die anderen
war eine wichtige Kulturlandschaft, und zwar zeitgenössischen Schriften typische logogra-
330 III. Schriftgeschichte

phische Komponente (Verwendung von De- 2. Die ältesten lokalen Varianten einer
terminativen und Logogrammen). Alphabetschrift im Nahen Osten
In der kulturhistorischen Rückblende stellt
sich heraus, daß Alphabetschriften, d. h. In der Kulturlandschaft zwischen Syrien und
Schriftsysteme, die nach dem alphabetischen dem Sinai fanden nicht nur wichtige Schrift-
Prinzip organisiert sind, sehr flexibel sind und adaptionen (z. B. ugaritische Schrift) statt,
sich der unterschiedlichsten Zeichenrepertoi- sondern es enstanden auch neue lokale
res bedienen. Die wichtigsten der im Altertum Schriftsysteme wie die syllabische Byblos-
entstandenen Originalschriften wurden zu ir- Schrift und das Alphabet. Die byblische Sil-
gendeinem Zeitpunkt ihrer Geschichte auch benschrift ist insofern von Interesse, als in
als Alphabetschriften adaptiert. Das älteste ihrem Zeichenrepertoire Anlehnungen an die
dieser Experimente ist die Verwendung der altägäischen Syllabare wie auch an die Zei-
Keilschrift in alphabetischer Funktion in chen der lokalen Alphabete zu erkennen sind
U garit zwischen 1500 und 1400 v. Chr. (→ (Haarmann 1994, tables 148, 150). Zudem ist
Art. 20). Ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert die die in Byblos-Schrift aufgezeichnete Sprache
Entstehung des karischen Alphabets, das sich das Phönizische, dessen älteste Schreibweise
zu einem Teil aus griechischen Buchstaben, somit syllabisch war. Was die Innovation des
zu einem anderen Teil aus Zeichen des ägäi- Alphabets betrifft, hat man bis heute keine
schen Syllabars (und zwar der kyprischen Va- einheitliche Basisvariante dieses Schrifttyps
rianten) zusammensetzt. Die altkyprischen rekonstruieren können, wovon sich alle histo-
Silbenzeichen übernehmen im karischen rischen Varianten ableiten ließen. Von einem
Schriftsystem alphabetische Funktion (Ray semitischen *U ralphabet kann also nicht die
1990). Im 2. Jahrhundert v. Chr. ist eine Aus- Rede sein. Vielmehr wurde an verschiedenen
wahl ägyptischer Hieroglyphenzeichen im hi- Orten, entweder sukzessive oder gleichzeitig,
storischen Nubien, wo seit dem 8. Jahrhun- mit dem alphabetischen Prinzip experimen-
dert v. Chr. die älteste der schwarzafrikani- tiert. Von den lokalen Varianten setzten sich
schen Hochkulturen aufblühte, zur alphabe- einige durch, andere wurden aufgegeben (Sass
tischen Schreibung des einheimischen Meroi- 1988).
tisch adaptiert worden (Haarmann 1990, Wegen der Vielfalt der Varianten im Ex-
389 ff; → Art. 19). perimentalstadium ist es auch unmöglich, die
Aus der Zeit des Mittelalters stammen wei- Schöpfung der Alphabetschrift einer be-
tere Beispiele für Zeichenadaptionen, die stimmten Person zuzuschreiben. Als Schrift-
außerhalb des Haupttrends liegen. Das Zei- schöpfer ist Moses berühmt geworden. Diese
chenrepertoire der armenischen Schrift setzt auch neuerlich vertretene These ist aus ver-
sich wahrscheinlich teilweise aus Symbolen schiedenen Gründen unhaltbar (Hinz 1991).
zusammen, die bereits vor der Einführung der Erstens sind die ältesten Zeugnisse alphabe-
Schrift als Klanzeichen oder animistische tischer Inschriften (ca. 1700 v. Chr.) Hunderte
von Jahren älter als die Periode, in die man
Symbole in Gebrauch waren. Ähnliches gilt die historische Persönlichkeit des Mose da-
für den Zeichenschatz des georgischen Alpha-
bets, in dem Anklänge an kaukasische Iden- tiert (13. Jahrhundert v. Chr.), zum anderen
tifikationssymbole zu erkennen sind. Die Zei- findet sich in der Bibel keinerlei Hinweis auf
chen des koreanischen Hangul-Alphabets Moses als schriftschaffenden Kulturheros der
sind nicht von einer der im Fernen Osten Juden. Mit Sicherheit wäre eine solche Lei-
bekannten Alphabetschriften (mongolische stung gebührend hervorgehoben worden. Si-
Varianten) abgeleitet (→ Art. 27). Eine mo- cher allerdings ist, daß die Personen, die mit
derne Adaption nichtalphabetischer Schrift- der Alphabetschrift experimentierten, das
zeichen für alphabetische Zwecke ist das Ex- Ägyptische und dessen Schreibweise kannten.
periment eines Alphabets zur Schreibung des Das akrophonische Prinzip, wonach die
Chinesischen, dessen Zeichen sich von chi- Buchstaben, gleichsam als Kürzel, für den
nesischen Ideogrammen ableiten (Jensen Anfangslaut ganzer Wörter stehen, ist nur in
1969, 173). Diese in den dreißiger Jahren pro- der ägyptischen Schrift, nicht aber in der Keil-
pagierte Alphabetversion wurde von der schrift oder im ägäischen Schriftenkreis be-
kommunistischen Sprachplanung als „bour- kannt.
geois“ abgelehnt und das Prinzip des Alpha- Die ältesten Schriftfunde außerhalb Ägyp-
bets lediglich in Form der Transliteration chi- tens, in denen sich das akrophonische und
nesischer Wörter in Lateinschrift (Pinyin ge- das Einkonsonanten-Prinzip nach ägypti-
nannt) für wissenschaftliche Zwecke aufrecht-
erhalten (→ Art. 26, 32).
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 331

Tab. 25.1: Proto-sinaitisch-ägyptische Zeichenparallelen (nach Davies 1990, 131)


schem Vorbild nachweisen lassen, stammen Inschriftenfragmente mit ähnlichem Schrift-
aus dem Sinai (→ Art. 20). Die frühesten duktus wurden auch in Palästina gefunden.
dieser sogenannten proto-sinaitischen Schrift- In Sichern, Gezer und Lachisch. Auch deren
proben werden in die Zeit um 1700 v. Chr. Sprache ist eine Variante des Westsemitischen,
datiert. Es handelt sich um Inschriften auf das Proto-Kanaanäische. Der U mstand, daß
Objekten aus einem Türkisbergwerk bei Se- die frühen alphabetischen Schriften außer-
rabit al-Khadim, in denen eine begrenzte An- halb der großen damaligen Kulturzentren ent-
zahl von Zeichen verwendet wird (insgesamt standen und daß mit ihnen anfangs kulturell
23). Die Sprachform ist ein altes Westsemi- bedeutungslose Sprachvarianten aufgezeich-
tisch (Albright 1966). Das Zeichenrepertoire net wurden, deutet auf die Entstehung in einer
der proto-sinaitischen Schrift zeigt deutliche Zeit hin, als keine der traditionellen Kultur-
Parallelen zum ägyptischen Zeichenschatz sprachen mit ihren Schriftsystemen genug
(Tabelle 25.1). Andererseits sind etliche Zei- Ausstrahlungskraft mehr besaß, um den In-
chen isoliert und bleiben ohne Parallele. itialprozeß der lokalen Schriftlichkeit im Sinai
332 III. Schriftgeschichte

und in Palästina entscheidend zu überfor-


men.
Die Inschriften in alphabetischer Schreib-
weise geben lediglich die Konsonanten, nicht
die Vokale in der Schreibung wieder. Dies gilt
sowohl für die proto-sinaitischen und proto-
kanaanäischen als auch für die ugaritischen
Texte. Das Ergebnis der Adaption bereits be-
kannter Prinzipien der Schriftorganisation
und ihre selektive Anwendung zum Zweck
einer Schriftneuschöpfung war eine neue
Technologie. Denn durch die Reduktion des
Schriftsystems auf eine begrenzte Anzahl or-
ganisatorischer Prinzipien (Einzellautschrei-
bung, Selektion einer begrenzten Anzahl von
Schriftzeichen nach dem akrophonischen
Prinzip) wurde das Schreiben erheblich ver-
einfacht, wenn man die Schreibweisen mit
ägyptischen Hieroglyphen oder mit der Keil-
schrift vergleicht. Das Repertoire dieser
Schriftsysteme beinhaltet wegen der enormen
Anzahl von Logogrammen Hunderte von
Zeichen. Die alphabetische Schreibweise war
vom schriftökonomischen Standpunkt ebenso
vielversprechend wie unter dem Gesichts-
punkt ihrer praktischen Verwendung.
Im Hinblick auf den Zeichenbestand der
ältesten Alphabetversionen ist nicht geklärt,
ob das akrophonische Prinzip das allein be- Tab. 25.2: Akrophonische Zeichen der proto-sinai-
stimmende für die Zeichenselektion war. Ein- tischen Schrift (nach Kealey 1990, 212)
deutig ist dessen Wirken in einer Reihe von
Fällen. Hier ist jeweils das Abbild eines kon- rakter kamen dafür vorrangig in Frage. In
kreten Objekts durch Stilisierung vereinfacht einer alten Kulturlandschaft wie dem Nahen
worden zur späteren Buchstabenform, wobei Osten waren im 2. Jahrtausend v. Chr. etliche
dieses Zeichen den ersten Konsonanten des Systeme mit linearen Zeichen bekannt, aus
Wortes symbolisierte, das im Semitischen als deren Repertoire die Übernahme von visuel-
Bezeichnung des Objektes diente. Bei der Zei- len Strukturelementen für die neue Techno-
chenselektion nach dem akrophonischen logie des Alphabets möglich war. Die Schrift-
Prinzip verliert das Buchstabenzeichen seine innovatoren verwendeten das Potential an li-
ursprüngliche figurative Motivation. Die Re- nearen Zeichen, die in ihrer Kulturlandschaft
duktion auf den Lautwert ist gleichbedeutend bekannt waren, wie einen Steinbruch für die
mit einem Prozeß der Entmotivierung. Man Neustrukturierung des alphabetischen Zei-
kann aber nur einen Teil der Buchstaben in chenrepertoires. Die Annahme einer auch
den alten Alphabetvarianten eindeutig nach nichtakrophonischen Zeichenselektion bietet
dem akrophonischen Prinzip erklären (Ta- die einzige Erklärung für die Parallelismen im
belle 25.2). Für die meisten Zeichen ist keine Buchstabenbestand der ältesten Alphabete
eindeutige Ableitung möglich und auch kein mit linearen Zeichen der Byblos-Schrift und
Name bekannt. Dies deutet darauf hin, daß der ägäischen Syllabare (Tabelle 25.3).
das akrophonische Prinzip nicht das einzige Es ist davon auszugehen, daß bei der will-
ist, nach dem das Zeichenrepertoire organi- kürlichen Selektion nach dem „Steinbruch-
siert ist. prinzip“ nicht unbedingt die Lautbezeich-
Sehr wahrscheinlich stützte sich die Selek- nung eines Zeichens im älteren Schriftsystem
tion der Zeichen auch willkürlich auf be- entscheidend war, sondern distinktive Merk-
stimmte Symbole, die regional bekannt waren male seiner graphischen Form, wodurch es
und die den praktischen Zwecken einer ein- sich von anderen Zeichen absetzte. Auf diese
fachen Buchstabenschrift dienlich sein konn- Weise gelangten wahrscheinlich auch solche
ten. Insbesondere Symbole mit linearem Cha- Zeichen in den Bestand des Buchstabenreper-
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 333

Tab. 25.3: Parallelen zwischen altägäischen, byblischen und altphöniziscen Schriftzeichen


334 III. Schriftgeschichte

toires, die nicht motiviert waren, sich somit


nicht mit semitischen Ausdrücken assoziieren
ließen, und für die es daher auch keinen se-
mitischen Namen gibt. Andererseits ist auch
damit zu rechnen, daß bestimmte lineare Zei-
chenformen durch sekundäre Ausdeutung mit
semitischen Appellativen in Verbindung ge-
bracht wurden, was dann ihre phonetische
Festlegung nach dem Prinzip der Akrophonie
bedingte. Ein solcher Prozeß der Ausbeutung
älterer Zeichenrepertoires für ein neu zu kon-
stituierendes System entspricht auch der Zei-
chenselektion bei den Nubiern, die das System
der Hieroglyphen und des Demotischen als
Steinbruch für das meroitische Schriftsystem
verwendeten. Direkt vergleichbar ist auch die
selektive Adaption von Keilschriftzeichen zur
Schreibung des Ugaritischen.
Der U mstand, daß die Zeichenselektion für
die ältesten Versionen des Alphabets nach
verschiedenen Prinzipien organisiert war, und
zwar nach dem der Akrophonie sowie nach
dem „Steinbruchprinzip“ (bzw. von deren
Kombination), ist nicht ungewöhnlich, wenn
man bedenkt, daß das visuelle Zeichenreper-
toire in keiner der Originalschriften der Welt
nur auf einem einzigen Prinzip beruht. Im
alteuropäischen Schriftsystem gab es von An-
fang an piktographische (d. h. motivierte) und
auch rein abstrakte (d. h. graphisch arbiträre)
Zeichen. Ähnliches gilt für den Zeichenbe-
stand der altsumerischen Schrift, der nur zu
einem Teil ideographischen U rsprungs ist.
Gerade im Fall der historischen Alphabet-
schriften zeigt sich immer wieder, daß sich
das Zeichenrepertoire aus verschiedenen
Quellen rekrutiert (z. B. die koptische Schrift Tab. 25.4: Das ugaritische Keilschriftalphabet
mit griechischen und demotischen Zeichen, (nach Healey 1990, 215)
die kyrillische Schrift mit griechischen und Dokumente. Es existierten zwei Varianten des
hebräischen Zeichen sowie mit gnostisch-grie- ugaritischen Alphabets, eine ältere mit einem
chischen magischen Symbolen, das syrjäni- größeren Zeichenbestand und eine jüngere
sche Alphabet mit kyrillischen Zeichen und mit weniger Zeichen (Tabelle 25.4). Aufzeich-
einheimischen Besitzerzeichen). nungen in diesem Alphabet, und zwar in bei-
Die sozialen Funktionen des Alphabetge- den Varianten, findet man nicht nur in U garit
brauchs waren von Anbeginn vielfältig. Die selbst, sondern auch in Syrien (Tell Nebi
ältesten proto-sinaitischen Inschriften finden Mend), im Libanon (Sarepta), in Palästina
sich auf Kultobjekten (z. B. Sandsteinsphinx). (Ta‛anach, Nahal Tavor, Bet Shemesh) und
Wichtig ist die schriftliche Fixierung der Na- sogar auf Zypern (Hala Sultan Tekke), wohin
men von Gottheiten und ihrer Attribute. Der rege Handelsbeziehungen bestanden.
Sinngehalt der längeren Inschriften aus dem Vom ugaritischen Keilschriftalphabet sind
Sinai bleibt trotz wörtlicher Entzifferung auch zwei Abecedarien überliefert, die die
meist dunkel. Religiöse Bezüge scheinen aber Buchstabenzeichen in einer voneinander ab-
vorzuherrschen. Dies glt auch für die Inhalte weichenden Ordnung wiedergeben. In dem
der proto-kanaanäischen Inschriften aus Pa- Abecedarium aus U garit mit seinen 27 Haupt-
lästina. Das Schrifttum im ugaritischen Keil- zeichen findet sich die alte semitische Anord-
schriftalphabet umfaßt mythische Literatur,
Formeln ritueller Sprache und administrative
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 335

nung der Konsonanten, wie sie später auch ugaritischen Keilschriftalphabet (Text aus Sa-
im phönizischen und hebräischen Alphabet repta im Libanon) und in der 22 Buchstaben-
erscheint (d. h. Aleph, b, g, d ...). Dagegen zeichen umfassenden Variante des Alphabets,
ist die Ordnung der Zeichen im Abecedarium die als ‘phönizisch’ weltbekannt wurde. Auch
von Bet Shemesh (mit 29 Hauptzeichen) die das phönizische Alphabet wurde in seiner
gleiche wie in den südarabischen Alphabeten klassischen Form in der Hafenstadt Byblos
(d. h. h, l, ḥ, m ...; Healey 1990, 217 f). Das ausgebildet. Insofern spielt diese Region für
ugaritische Alphabet ist das älteste vollstän- die damalige Konsolidierung und Verbreitung
dige Zeicheninventar dieses Schrifttyps, das der Alphabetschrift eine entscheidende Rolle.
bisher bekannt ist. Allerdings sind alphabe- Von den drei Schriftsystemen dieser Sprache
tische Schreibweisen selbst älter, wie die In- ist nach 1200 v. Chr., nachdem U garit von
schriften aus dem Sinai beweisen. Namen der den „Seevölkern“ zerstört worden war, die
Buchstaben im Alphabet aus U garit sind phönizische Alphabetversion die wichtigste
nicht überliefert. der Küstenregion.
Die Buchstabenordnung im Abecedarium Das Anfangsstadium in der Entwicklung
von Bet Shemesh weist den südarabischen der phönizischen Schrift läßt sich nur an we-
Zweig der Alphabetschriften als ebenso alt nigen Inschriften seit Mitte des 2. Jahrtau-
aus wie die ugaritisch-palästinische Affilia- sends v. Chr. verfolgen (Haarmann 1990,
tion. Aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. 269 f; → Abb. 20.4 auf Tafel V). In ihrem
stammende Texte aus Babylon und Elat am klassischen Duktus erscheint die Schrift be-
Golf von Akaba stellen — nach ihrem Schrift- reits um 1050 v. Chr. in der Inschrift auf dem
duktus zu schließen — ein Bindeglied zwi- Sarkophag des Königs Ahiram aus Byblos.
schen den proto-kanaanäischen und südara- Der hier dokumentierte Entwicklungsstand
bischen Schriftvarianten dar. Von den süd- war die Ausgangsbasis für zahlreiche Schrif-
arabischen Schriften sind die sabäische und tadaptionen außerhalb des phönizischen Sied-
die äthiopische die wichtigsten Vertreter lungsgebiets (s. 4 und 5). Die Hebräer (d. h.
(Haarmann 1990, 325 ff; → Art. 21, 23). die hebräisch-sprechenden Juden) und die
Die Schriftrichtung ist in den ältesten Do- Moabiter haben in einigen Schriftdenkmälern
kumenten noch nicht festgelegt. In den Sinai- aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. die phönizi-
Inschriften findet man links- und rechtsläu- sche Schrift und Sprache verwendet, so im
fige sowie vertikale Schreibweisen. Texte aus Bauernkalender von Gezer und auf der Stele
U garit sind meist rechtsläufig (wie die klas- des moabitischen Königs Meša. Die phöni-
sischen griechischen Texte), einige auch links- zische Schrift hat interne Wandlungen erlebt
läufig. In den ältesten südarabischen Texten und ihren Duktus variiert. Bezieht man den
(vielleicht aus der Zeit vor ca. 500 v. Chr.) Schriftgebrauch in der phönizischen Kolonie
findet sich eine Schreibweise, die aus der ar- von Karthago mit ein, wurde die phönizische
chaischen griechischen Schrifttradition als Originalvariante des Alphabets rund einein-
Boustrophedon (nach der Art eines Ochsen, halb Jahrtausende verwendet (Tabelle 25.5).
der das Feld pflügt) bekannt ist (z. B. Zeile Spätere Entwicklungen der phönizischen
1: von links nach rechts, Zeile 2: von rechts Schrift schließen auch kursive Varianten ein.
nach links, Zeile 3: von links nach rechts, Eine Tendenz zur Kursivierung läßt sich auch
usw.; oder Zeile 1: von rechts nach links, Zeile in den karthagischen Inschriften feststellen.
2: von links nach rechts ...). Die konventio- Phönizische Inschriften hat man in einem
nelle Festlegung der Schriftrichtung von weiten Gebiet gefunden, von Anatolien im
rechts nach links erfolgt erst gegen Ende des Norden, Zypern und Kreta im Westen, Me-
2. Jahrtausends v. Chr. mit der Ausbildung sopotamien im Osten bis Palästina im Süden.
des klassischen phönizischen Alphabets. Das westliche Mittelmeer gehörte zur kartha-
gischen Interessensphäre. Die karthagische
Variante der phönizischen Schrift ist in In-
3. Das phönizische Alphabet schriften aus Nordafrika, Südspanien, Süd-
Das Phönizische, eine der wichtigsten semi- frankreich, Sardinien, Sizilien und Malta do-
tischen Kultursprachen des Altertums, ist im kumentiert. Allein die Geographie der In-
Frühstadium seiner Schriftlichkeit in drei ver- schriftenfunde ist ein beredtes Zeugnis für das
schiedenen Schriftsystemen aufgezeichnet ausgedehnte Netz interkultureller Kontakte,
worden: in der byblischen Silbenschrift, wobei das die Phönizier aufgebaut haben.
die Zuordnung von Vokalen zu Konsonant- Die Annahme der phönizischen Schrift
zeichen schon teilweise willkürlich erfolgt, im durch die verschiedenen Völker in den Län-
336 III. Schriftgeschichte

der Europäer seit dem 16. Jahrhundert nach


Amerika, Asien und Afrika.

4. Die europäischen Affiliationen der


phönizischen Schrift
Die Handelskontakte der Phönizier im östli-
chen Mittelmeer sind nicht nur wegen der
geographischen Nähe Zyperns, Kretas und
der ägäischen Inselwelt die intensivsten, son-
dern auch deshalb, weil die phönizischen
Kauffahrer die von den Minoern erschlosse-
nen und von den Mykenern frequentierten
Schiffsrouten befuhren und sich nach dem
U ntergang von deren Seemacht das Handels-
monopol sicherten. Bereits im ausgehenden 2.
Jahrtausend v. Chr. bestanden rege Kontakte
mit Zypern und Kreta. Die Kenntnis der phö-
nizischen Schrift auf Kreta geht mindestens
auf das ausgehende 10. Jahrhundert v. Chr.
zurück. In diese Zeit wird die älteste phöni-
zische Inschrift der Insel datiert. Neuesten
Schriftfunden zufolge bietet Kreta auch das
Kulturmilieu, in dem wahrscheinlich die äl-
teste Adaption der phönizischen Schrift in
Europa stattfand.
Traditionellerweise wird die Übernahme
der phönizischen Schrift im ägäischen Raum
als typisch griechische Kulturinnovation ver-
standen. Das Bild der damaligen interkultu-
rellen Kontakte im östlichen Mittelmeer ist
jedoch komplexer. Man muß sich mit Harris
(1989, 45) fragen, wozu denn die Handel trei-
benden Griechen die Schrift brauchten, wo
doch die Handelskontakte jahrhundertelang
ohne nennenswerten Schriftgebrauch funktio-
niert hatten. Zudem sind die ältesten erhal-
Tab. 25.5: Varianten der phönizischen und puni- tenen Schriftdokumente in griechischer Spra-
schen Schrift (Auszug aus Haarmann 1990, 273) che alles andere als Kaufverträge, Inventar-
dern rings um das Mittelmeer war rein pre- listen oder sonstige Wirtschaftstexte, nämlich
stigemäßig motiviert, denn die Handelskon- Grab- und Weiheinschriften und Fragmente
takte der Phönizier standen nicht im Zeichen poetisch-epischer Sprache. Insofern waren die
einer Eroberungspolitik, als deren Folge mit ersten Griechen, die die phönizische Schrift
der Zwangsadaption phönizischer Kultur- den lautlichen Gegebenheiten ihrer Mutter-
muster zu rechnen wäre. Insofern ist der Pro- sprache anpaßten, keine Kaufleute oder See-
zeß der frühen Alphabetadaption im Mittel- fahrer. Aus den wirtschaftlichen Bedingungen
meerraum ein illustratives Beispiel für einen der damaligen Handelskontakte erklärt sich
Kulturtransfer ohne machtpolitischen Hinter- die frühe Schriftadaption nicht.
grund. Die damaligen interkulturellen Kon- Einen schriftfreundlichen Kulturtrend gab
takte der Phönizier und ihr Schriftexport un- es allerdings auf Kreta. Entgegen älteren Auf-
terscheiden sich grundlegend von den späte- fassungen, wonach die dorische Eroberung
ren Trends der Alphabetverbreitung in den der Insel im 11. Jahrhundert v. Chr. die völlige
Provinzen des römischen Reiches oder von Vernichtung der minoisch-mykenischen Rest-
dem Zwangsexport der Lateinschrift im Rah- kultur zur Folge gehabt hätte, deuten die
men der imperialistischen Expansionspolitik archäologischen Funde eher darauf, daß sich
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 337

auf Kreta eine kulturelle Symbiose entfaltete, schen Alphabets gehörten auch die Zusatz-
deren Träger die Eteokreter (späte Nachkom- zeichen Phi, Khi und Psi, für die es keine
men der Minoer), mykenische Griechen und Vorbilder in der phönizischen Schrift (oder
dorische Einwanderer waren. Alsop (1970, irgendeiner anderen Schriftvariante des Na-
279) spricht von einer ‘Greco-Minoan syn- hen Ostens) gibt. Diese Zeichen wurden nach
thesis’. Die Erinnerung an die Schriftlichkeit dem „Steinbruchprinzip“ aus dem Inventar
(in Linear A und B) war auf Kreta noch der alten kretischen Linearsysteme selektiert
lebendig, und von den Griechen in Zypern und somit in die Alphabetschrift übernom-
war bekannt, daß sie ihre Sprache in einem men.
der zyprischen Syllabare aufzeichneten. Die Der Weg der in Kreta initiierten Alphabet-
Erneuerung der Schriftlichkeit auf der Basis schrift ist als Kulturinnovation wegen ihrer
der damals verfügbaren modernsten Techno- Verwendung zur Aufzeichnung des Griechi-
logie, dem phönizischen Alphabet, war daher schen allgemein bekannt (Tabelle 25.6). Die
in einem solchen Kulturmilieu naheliegend. eteokretische Schrifttradition blieb zeitlich
An der Ausarbeitung der ältesten Alpha- wie räumlich begrenzt. Das Eteokretische
betversion auf Kreta, die für das 10., späte- stirbt schließlich als gesprochene Sprache aus.
stens 9. Jahrhundert v. Chr. angesetzt werden Die letzten Zeugnisse stammen aus dem 3.
kann, waren mit Sicherheit Eteokreter und Jahrhundert v. Chr., und zwar aus Ostkreta.
Griechen beteiligt, denn zu den ältesten In- Die ersten Nichtgriechen, die sich der neuen
schriften in der neuen Schrift gehören solche Schrifttechnologie bedienen, sind die Etrus-
in Eteokretisch, d. h. in einer nichtgriechi- ker, die ihre Schriftversion wahrscheinlich
schen Sprache. Das Verdienst, das erste voll- über ihre regen Kontakte zum Handelszen-
ständige Alphabet der Welt geschaffen zu trum Chalkis auf Euböa adaptierten. Über
haben, gebührt den Kulturvertretern jenes etruskische Vermittlung gelangte die Schrift-
Kontaktmilieus auf Kreta, keineswegs aus- lichkeit zu den Latinern, und zwar im bikul-
schließlich den Griechen, die diesen Ruhm turellen Milieu der damaligen Provinzstadt
einseitig für sich in Anspruch nahmen. Auch Rom. Jahrhundertelang stand die spärliche
auf anderen Inseln der Agäis haben Griechen Schriftlichkeit bei den Römern im Schatten
mit der neuen phönizischen Schrifttechnolo- ihrer etruskischen Lehrmeister, des ‘Volkes
gie experimentiert, der entscheidende Durch- der Bücher’. Aus der Zeit vor dem 3. Jahr-
bruch dürfte aber auf Kreta erzielt worden hundert v. Chr. sind nur neun lateinische In-
sein. Hier finden sich jedenfalls die ältesten schriften, dagegen Tausende von etruskischen
Zeugnisse einer vollständigen Alphabet- Schriftzeugnissen überliefert (Bonfante 1990,
schrift, in der auch die Vokale bezeichnet wer- 345).
den (s. Haarmann 1994, chapter 7). Außer- Über die direkten Kontakte der Phönizier
dem ist hier eine archaische Schreibweise des und Karthager mit der vorrömischen Bevöl-
phönizischen Jodh überliefert, die sich nir- kerung Spaniens gelangte der Schriftexport
gendwo sonst in der griechischen Welt findet auch dorthin. Die iberische Schrift, die seit
(Duhoux 1981). Annahmen, wonach die Al- dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr. in
phabetschrift bereits vor 1400 v. Chr. in den Inschriften bezeugt ist (U ntermann 1975,
ägäischen Raum ausgestrahlt haben soll (z. B. 1980), ist ein direkter Ableger des phönizi-
Bernal 1990), sind unwahrscheinlich. schen Vorbilds, die Assoziation bestimmter
Die Erweiterung des phönizischen Konso- Konsonantenzeichen mit vokalischen Laut-
nantenalphabets auf die Schreibung auch der werten entspricht allerdings der für das grie-
vokalischen Laute bot sich als Alternativlö- chische Alphabet typischen Verteilung. Eine
sung im schwierigen Anpassungsprozeß einer Besonderheit der iberischen Schrift ist ihr Be-
Schrift für eine lautlich ganz anders struktu- stand an zusätzlichen Silbenzeichen. U nge-
rierte Sprache als die an, für die sie ursprüng- klärt ist, ob es sich bei dem Prinzip der Sil-
lich geschaffen worden war. Die Positionen benzeichenverwendung im Iberischen, einer
im Alphabet, die für dem Eteokretischen und vorindoeuropäischen Sprache, um ein altes
Griechischen fremde Laute des Phönizischen Substrat unbekannter Identität oder um eine
reserviert waren, wurden mit Vokalen besetzt. strukturelle „Innovation“, gleichsam eine Re-
Auf diese Weise wurden ungriechische Kon- gression vom rein alphabetischen zum teil-
sonanten und Halbkonsonanten mit den grie- weise syllabischen System, handelt.
chischen Vokalen (d. h. Aleph = α, He = ε, Mit der iberischen Schrift, die sich in eine
Heta = η, Jodh = ι, Ajin = ο) assoziiert. Zu südliche (bastuloturdetanische) und eine
den Innovationen des eteokretisch-griechi- nördliche (iberische) Variante differenziert,
338 III. Schriftgeschichte

Tab. 25.6: Frühe Varianten des griechischen Alphabets (8. und 7. J h . v. Chr.)

wurde nicht nur das Iberische selbst, sondern 5. Die nahöstlichen Affiliationen der
auch das Keltische, die iberisierte Sprachform phönizischen Schrift
der Keltiberer, geschrieben (Schmidt 1992).
Die südlichen Inschriften sind linksläufig, wie Der Kulturtransfer der phönizischen Schrift
das Phönizische und Punische, die nördlichen verlief nicht nur über den Seeweg, sondern
dagegen rechtsläufig, wie das Griechische seit auch im Inland. Die semitischen Nachbarn
dem 7. Jahrhundert v. Chr. der Phönizier, die Hebräer im Süden und die
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 339

Aramäer im Osten, übernahmen die phöni- schen entwickelte die aramäische Schrift einen
zische Schrift und adaptierten sie für ihre von der historischen Originalversion deutlich
Sprachen (Haarmann 1990, 299 ff). Die alt- abweichenden kursiven Schreibstil (Tabelle
hebräische Schrift herrschte bis ins 5. Jahr- 25.7). Während man die aramäische Kursive
hundert v. Chr. vor. Die meisten althebräi- in Palmyra und Nabatäa auch als Monumen-
schen Inschriften stammen aus dem 8. und 7. talschrift verwendet, wird sie anderswo für
Jahrhundert v. Chr. Dazu gehört auch die Si- Texte auf Papyrus und auf Leder bevorzugt.
loah-Inschrift aus Jerusalem (um 700 v. Chr). Die meisten und besterhaltenen Papyri (6. — 3.
In jener Zeit adaptierten die Samaritaner die Jh. v. Chr.) stammen aus Ägypten (Hermo-
althebräische Schrift für ihre Sprache. Auch polis, Elephantine, Arsham-Dokumente).
später wurde die althebräische Schriftvariante Die althebräische und aramäische Schrift
noch vereinzelt gebraucht, so in Münzlegen- haben einige Eigenheiten entwickelt, die in
den (2. Jh. v. Chr.; 1. und 2. Jh. n. Chr.). In der phönizischen Schrift unbekannt sind. Ver-
den biblischen Texten aus Qumran findet sich schiedentlich werden auch Vokale geschrie-
ein isoliertes Beispiel für die archaische Ver- ben. Im aramäischen Schriftgebrauch betrifft
wendung der althebräischen Schrift, nämlich dies inlautende und auslautende Vokale, die
die Schreibung des Gottesnamens Jahwe. Tendenz zur Vokalbezeichnung im Althebräi-
Während der babylonischen Gefangen- schen zeigt sich bei der Schreibung von h, mit
schaft kamen die Hebräer in direkten Kontakt dem /o/, /a/ oder /e/ am Wortende geschrie-
mit der aramäischen Sprache und Schrift. Als ben werden konnte. Der Buchstabe w diente
Folge der interkulturellen Beziehungen über- zur Schreibung von /u/, mit y wurde der Vokal
nahmen die Hebräer das aramäische Alpha- /i/ bezeichnet. Weder im Althebräischen noch
bet und gestalteten dessen Zeichen zur Form im Aramäischen ist die Vokalisierung der
der typisch hebräischen Quadratschrift aus. Buchstabenschrift konsequent durchgeführt
Obwohl Teile des Alten Testaments zunächst worden. Insofern unterscheiden sich beide Sy-
in althebräischer Schrift aufgezeichnet wor- steme von der griechischen Alphabetschrift
den sind, wurde später ausschließlich die Qua- mit ihrer konsequenten Vokalbezeichnung.
dratschrift verwendet. Die Vokalisierung der Andererseits zeigt die gleichgerichtete Ten-
hebräischen Schrift durch Punkte und Striche denz im Schriftgebrauch des Nahen Ostens,
erfolgt relativ spät, und zwar erst im 5. Jahr- daß die Vokalbezeichnung als wünschens-
hundert, als das Hebräische für die meisten werte Erweiterung der Schreibkonventionen
Juden nurmehr eine Fremdsprache ist. Im 8. empfunden wurde.
Jahrhundert wurde die Quadratschrift zusam-
men mit dem Judaismus von den Chasaren,
einem Turkvolk im nördlichen Kaukasusge- 6. Zur Rolle von Kultursprachen und
biet, übernommen. Bei den Karaimen, einem Basisschriften für die Verbreitung
judaisierten Turkvolk, diente das hebräische des alphabetischen Prinzips
Alphabet bis zum Zweiten Weltkrieg zur
Schreibung ihrer Muttersprache. Kontinuität und Ausbreitungsdynamik waren
Die Schriftzeugnisse des Aramäischen sind von Anbeginn wichtige Faktoren für die Tra-
wesentlich zahlreicher und thematisch ver- dierung von Schrift. Die Kulturgeschichte
zweigter als die in althebräischer Schrift. In- kennt viele Beispiele dafür, daß einzelne
schriften in aramäischer Schrift und Sprache Schriftsysteme in enger Assoziation mit be-
finden sich an Gebäudefassaden, auf Grab- stimmten Kultursprachen besondere Impulse
stelen, längere Texte auf Papyrus und Leder. für die Verbreitung der Schriftlichkeit vermit-
telten. Die babylonische Keilschrift als vi-
Ähnlich wie das Griechische im östlichen Mit- sueller Ausdruck des Akkadischen in Asso-
telmeer spielte das Aramäische im Nahen
Osten eine wichtige Rolle als interkulturelle ziation mit dieser Kultursprache war eine sol-
Kontaktsprache. Außer von den Aramäern che Kombination, und diese Kulturträger
selbst, aus deren Königreich viele Inschriften strahlten in viele Regionen des Alten Orients
überliefert sind, wurde Aramäisch von Assy- aus. Die zahlreichen Affiliationen der Keil-
schrift, die elamische, churritische, hethiti-
rern und Ägyptern für ihre diplomatische sche, urartäische und altpersische Variante,
Korrespondenz ebenso benutzt wie von den leiten sich von der akkadischen Basisschrift
Perserkönigen als Amtssprache ihres Reiches. ab. In dieser Verwendung ist „Basisschrift“
Anders als im Fall der konservativen Schrift- eine kulturhistorische Kategorie. Andere,
varianten des Phönizischen und Althebräi- nichtalphabetische Basisschriften des Alter-
340 III. Schriftgeschichte

Tab. 25.7: Affiliationen der phönizischen Schrift im Nahen Osten (nach Healey 1990, 223)
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 341

tums waren Linear A auf Kreta, wovon sich rekten und indirekten Alphabetvariationen
die zyprischen Silbensysteme und Linear B (ca. 1000 — ca. 500 v. Chr.) ist der natürliche
ableiten, die ägyptische Schrift, aus der die Prestigedruck des Alphabets als moderner
meroitische Schrift entwickelt wurde, und das Schreibtechnologie. Im wesentlichen frei von
System der chinesischen Logogramme, aus machtpolitischen Verstrickungen erfolgt die
dessen Zeichenvariation die japanischen Syl- Ausbreitung der Alphabetschrift in jener Zeit,
labare, das vietnamesische Nom-System und über griechische und etruskische Vermittlung,
die koreanische Hanja-Schreibweise abgelei- bis nach Italien, über aramäische Vermittlung
tet worden sind (→ Art. 27). bis nach Persien und Indien (s. Haarmann
Ebenfalls auf der Kombinatorik von Basis- 1990, 521 ff zur Ausgliederung der indischen
schrift und Kultursprache beruht die Dyna- Schriftsysteme).
mik der schrifttypologischen Affiliation und Es gab später immer wieder ähnlich wirk-
geographischen Ausbreitung von Alphabet- same Prozesse, wo der Prestigedruck einer
schriften. Von den regionalen Schriftaffiliatio- Basisschrift maßgebend war für deren Aus-
nen der phönizischen Basisschrift entwickel- breitungsdynamik. Die zahlreichen lokalen
ten sich ihrerseits etliche zu Kulturträgern mit Affiliationen der Lateinschrift im mittelalter-
Eigenprestige, die griechische, etruskische lichen Europa, die regionalen Adaptionen der
und lateinische Schrift in Europa, die althe- kyrillischen Schrift bei den Süd- und Ostsla-
bräische und aramäische im Nahen Osten, wen, die Ausgliederung der aramäischen
zeitlich später die klassisch-arabische Vari- Schrift in Mittelasien, die zahlreichen Affilia-
ante des Alphabets (Al Samman 1988). Basis- tionen der indischen Brahmi-Schrift innerhalb
schriften entwickeln jeweils eine spezifische Indiens (→ Art. 24) und in Südostasien sowie
Ausstrahlungsdynamik. Diese kann minimal die Adaption der arabischen Schrift bei den
sein wie im Fall der althebräischen Schrift, islamisierten Turkvölkern Osteuropas und
von der es nur die samaritanische Abzwei- Westasiens sind Beispiele dafür. Auch die
gung gibt, andererseits hochgradig wie bei- Latinisierungskampagne der sowjetischen
spielsweise bei der griechischen Schrift, von Sprachplanung (Isaev 1979, 59 ff), die in den
der sich Dutzende von Schriftsystemen direkt zwanziger Jahren noch im Zeichen einer De-
oder indirekt ableiten. Eine Basisschrift defi- mokratisierung stand, ist nicht wie die spätere
niert sich daher als solche aufgrund ihrer Af- Kyrillisierung der nichtrussischen Sprachen
filiationen, nicht aufgrund ihrer schrifttypo- machtpolitisch motiviert, sondern beruht auf
logischen Originalität oder Eigenverbreitung dem leninistischen Ideal, wonach die Einfüh-
(Tabelle 25.8). rung der Lateinschrift die Revolution im Kul-
Die Lateinschrift ist weder eine Original- turleben des Ostens bedeutet (→ Art. 66).
schrift (wie etwa die phönizische), noch war Machtpolitische Interessen herrschten da-
sie ursprünglich weit verbreitet. Im Anfang gegen vor im Prozeß der Verbreitung der La-
war sie auf die historische Landschaft Latium teinschrift im römischen Reich sowie später
beschränkt. Heutzutage jedoch ist sie, gemes- während der Zeit der europäischen Expan-
sen an den Hunderten von lokalen Adaptio- sionspolitik seit dem 16. Jahrhundert. Ein
nen in fünf Kontinenten, die erfolgreichste eklatanter Fall von Zwangsexport der Latein-
Basisschrift aller Zeiten. Ebenfalls hinsicht- schrift ist deren Einführung in Mittelamerika
lich ihrer Stilvarianten ist die lateinische als Folge des kulturellen Genocids der spa-
Schrift die produktivste der Geschichte (Ta- nischen Konquistadoren. Die Kolonialpolitik
belle 25.9). der Europäer in Afrika und Asien praktizierte
Die Assoziation eines Schriftsystems mit das ältere Prinzip cuius regio, eius religio und
einer bestimmten Kultursprache, als deren adaptierte es für die Kulturpolitik als cuius
Kulturträger sie fungiert, ist zwar eine ent- regio, eius lingua et litterae et scriptura . Die
scheidende Voraussetzung dafür, daß sich Lateinschrift verwurzelte in den ehemaligen
Schriftaffiliationen ausbilden können, der Kolonialgebieten so stark, daß sie dort heut-
konkrete Prozeß der Abzweigung neuer zutage unverzichtbar ist. Vietnam ist ein Bei-
Schriftvarianten von einer Basisschrift ist da- spiel für diese Situation. Trotz einer vehemen-
mit aber nicht von vornherein festgelegt. ten antikolonialistischen Politik und Sprach-
Sprachökologische Faktoren bestimmen je- planung ist das lateinische Alphabet zur
weils die Gerichtetheit der Schriftvariation. Schreibung des Vietnamesischen ein Kristal-
Charakteristisch für die klassische Periode der lisationspunkt der nationalen Identität aller
von der phönizischen Schrift initiierten di- Vietnamesen (Haarmann 1990, 118 ff).
342

Tab. 25.8: Historische Affiliationen von Alphabetschriften


III. Schriftgeschichte

(mit Korrekturen nach Stiebner & Leonhard 1985, 12/13)


25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 343

Tab. 25.9: Schreibstile des lateinischen Alphabets (nach Stiebner & Leonhard 1985, 28)
344 III. Schriftgeschichte

7. Isolierte Alphabetschöpfungen in wird. Zwar erkennt man im georgischen Al-


Europa und Asien phabet eine Beziehung zum Organisations-
prinzip der griechischen Schrift (z. B. Reihen-
Zu den interessantesten Experimenten mit folge der Buchstaben und deren Zahlen-
dem alphabetischen Prinzip gehören die werte), die Zeichen sind allerdings nicht grie-
Schriftschöpfungen in verschiedenen Regio- chischer Herkunft. Ebenso wie im Fall der
nen Europas und Asiens. Hierbei handelt es armenischen Schrift gilt auch für das georgi-
sich jeweils um Originalalphabete ohne den sche Alphabet, daß dessen Buchstaben teil-
Charakter von Basisschriften. Diese Charak- weise frei erfunden sind, teilweise ältere lokale
teristik gilt für die irische Ogham-Schrift, für Besitzerzeichen nachahmen.
die armenische und georgische Schrift im Die älteste Schrift der Slawen, das glago-
Kaukasus, für die älteste Schrift der Slawen, litische Alphabet, wurde von dem griechi-
die Glagolica, für die altsyrjänische Schrift im schen Missionar Konstantinos (später Kyril-
Nordosten Europas und für das koreanische los genannt, 827—869) geschaffen. Bis heute
Hangul-System. Diese Schriftschöpfungen besteht U neinigkeit darüber, ob die griechi-
entwickelten sich unter besonderen kulturel- sche Minuskelschrift des 9. Jahrhunderts das
len Bedingungen, die lokal begrenzt blieben, Vorbild für die Glagolica war, oder ob diese
und zwar räumlich sowie zeitlich unabhängig Schriftart eine freie Erfindung des Kyrill ist.
voneinander. Im Kaukasus allerdings gab es Die Zeichen lassen sich nach ihrer äußeren
in der Frühphase der Christianisierung rege Erscheinungsform nur schwer mit griechi-
Kontakte zwischen Armeniern und Geor- schen Buchstaben in Verbindung bringen. Die
giern. glagolitische Schrift wurde zur Aufzeichnung
Die in einigen Hundert (ca. 360) Steinin-
schriften aus Irland, Wales, Schottland und des ältesten Übersetzungsschrifttums in alt-
slawischer Sprache (Altkirchenslawisch ma-
von der Insel Man überlieferte Ogham-Schrift kedonischer Prägung) in Mähren und Kroa-
wurde auf der Basis des alphabetischen Prin- tien verwendet. Nur in Kroatien konnte sich
zips und wahrscheinlich in Anlehnung an die die Glagolica im liturgischen Schrifttum bis
Lateinschrift als ein System von Strichzeichen in die Neuzeit behaupten. Im 15. Jahrhundert
(für die Konsonanten) und Punktzeichen (für entstanden auch Druckwerke in glagolitischer
die Vokale) in vorchristlicher Zeit ausgebildet. Schrift. Die Glagolica ist die einzige von Ky-
Einige der frühen Schriftzeugnisse in archai- rill geschaffene Schriftvariante. Das Zeichen-
schem Irisch lassen sich ins 3. Jahrhundert system der kyrillischen Schrift, obwohl nach
n. Chr. datieren. Vielleicht ursprünglich von ihm benannt, wurde von einem Schüler des
Druiden als Geheimschrift konzipiert, entwik- Methodios, Kliment von Ohrid, ausgearbei-
kelte sich das Ogham-Alphabet zum bevor- tet.
zugten Medium für Grabinschriften in Stein. Eine wenig bekannte Schriftschöpfung ist
Die Ogham-Schrift wurde den Bedürfnissen das altsyrjänische Alphabet, das von dem rus-
der christlichen Schriftlichkeit angepaßt und sischen Missionar Stefan von Perm zur
war bis ins 7. Jahrhundert neben der Latein- Schreibung des Syrjänischen, einer finnisch-
schrift in Gebrauch (Haarmann 1993 b). ugrischen Sprache, ausgearbeitet wurde. Zu
Im Zuge der von Syrien aus betriebenen einer Zeit, als die russisch-orthodoxe Kirche
Christianisierung des Kaukasus entwickelten noch gar kein Programm zur Missionierung
sich in Armenien (seit Anfang des 5. Jahr- nichtrussischer Völker entwickelt hatte, mis-
hunderts) und in Georgien (seit Mitte des 5. sionierte Stefan zwischen 1373 und 1395 im
Jahrhunderts) regionale Schriftkulturen. Die Siedlungsgebiet der Syrjänen im Nordosten
Schriftschöpfung des armenischen Alphabets Europas. U m 1375 schuf er eine Schrift,
(mit 38 Buchstaben) geht auf Mesrop zurück, Abur-Schrift genannt, die sich einerseits an
den ersten Bischof des Landes und Initiator das griechische und kyrillische Alphabet an-
der altarmenischen religiösen Literatur. Nach lehnt, in deren Zeichenbestand andererseits
armenischer und georgischer Überlieferung Eigentumsmarken (Tamga) der Syrjänen auf-
soll Mesrop auch die georgische Schrift ge- genommen worden sind. In der Abur-Schrift
schaffen haben. Dies betrifft die ältere der zeichnete Stefan von ihm übersetzte religiöse
beiden georgischen Alphabetvarianten, die Texte ins Syrjänische auf (Haarmann 1993 a,
Hutsuri-Schrift („Schrift der Priester“) mit 38 204 f). Bis ins 17. Jahrhundert blieb die alte
Buchstaben. Die Mḫedruli-Schrift („Schrift Schrift bei den Syrjänen in Gebrauch. Erst
der Krieger“) ist eine jüngere Entwicklung, hundert Jahre nach der Missionierung durch
die erst seit dem 13. Jahrhundert verwendet
25.  Entstehung und Verbreitung von Alphabetschriften 345

Stefan wurde das Gebiet der Syrjänen dem wurde. Das alphabetische Prinzip war im da-
Moskowiterstaat einverleibt. maligen Korea von den mongolischen Schrift-
Vielleicht die eigenwilligste aller Alphabet- varianten bekannt. Die Zeichen der Hunmin
schöpfungen ist die koreanische Hangul- Chong’um, die später in Hangul („erhabene
Schrift, die in den vierziger Jahren des 15. Schrift“) umbenannt wurde, sind keinem Al-
Jahrhunderts entstand. Da die ältere Schreib- phabet entlehnt, sie sind aber auch keine will-
weise des agglutinierenden Koreanischen mit kürlichen Erfindungen. Vielmehr hat man bei
chinesischen Schriftzeichen (Ido-System) un- der Schreibung der Laute experimentalpho-
befriedigend geblieben war, wurde von König netische Beobachtungen eingebracht, wobei
Sejong eine radikale Schriftform durchge- die Artikulationsbasis einzelner Laute in der
führt. Ein Gelehrtengremium unter seiner Strichkomposition des visuellen Zeichens zu
Leitung arbeitete die Grundlagen einer Hun- erkennen ist (Tabelle 25.10). Zudem wurden
min Chong’um („volkstümliche Schrift“) ge- bei der Zeichenselektion Elemente der chine-
nannten alphabetischen Schriftvariante aus, sischen Kosmologie berücksichtigt. Die drei-
die in einer königlichen Verlautbarung im gliedrige Differenzierung der Vokalzeichen
Jahre 1446 der Öffentlichkeit vorgestellt beispielsweise entspricht der Dreiteilung von

Tab. 25.10: Die Komponenten des koreanischen Hangul-Alphabets (nach dem McCune-Reischauer-System);
(nach Anders 1988, 362/63)
Vokalzeichen
346 III. Schriftgeschichte

Himmel (kugelförmiges Zeichen), Erde (waa- McConnell 1978 zu Amerika; Heine, Scha-
gerechter Strich) und Mensch (senkrechter deberg & Wolff 1981, 513 ff zu Afrika). Seit
Strich); Haarmann 1993 c; → Art. 27 Zf. 2.3. 1979 läuft ein umfassendes Projekt des Inter-
national African Institute zur Reform aller
Schriftsysteme afrikanischer Sprachen.
8. Die Rolle von Alphabetschriften in
der modernen Sprachplanung
Die Festschreibung und Fortschreibung von
9. Literatur
Standardsprachen auf der Basis einer alpha- Albright, William F. 1966. The Proto-Sinaitic In-
betischen Schreibweise ist das wichtigste In- scriptions and their Decipherment. Harvard/Lon-
strumentarium in der Sprachplanung des 20. don.
Jahrhunderts. Die historische Entwicklung Al Samman, Tarif. 1988. Die Geschichte der ara-
hat es mit sich gebracht, daß in weiten Teilen bischen Schrift, in: Al Samman & Mazal 1988, 69—
der Welt gar keine Alternative zum Alphabet 75.
existiert. Die Dynamik der Schriftreform im Al Samman, Tarif & Mazal, Otto. 1988. Die ara-
historischen Experiment der sowjetischen bische Welt und Europa. Graz.
Sprachplanung war zunächst auf die Durch- Alsop, John. 1970. From the Silent Earth. Har-
setzung der Lateinschrift ausgerichtet, in den mondsworth.
dreißiger Jahren dagegen erfolgte die U m-
Anders, Conrad. 1988. Korea. München.
stellung auf die Kyrillica, in der über siebzig
Schriftsprachen in der ehemaligen Sowjet- Bernal, Martin. 1990. Cadmean Letters. The Trans-
union geschrieben wurden (→ Art. 66). In mission of the Alphabet to the Aegean and Further
Indien, wo heutzutage rund ein Drittel (ca. West before 1400 B. C. Winona Lake.
300 Mill.) der Landesbevölkerung lesen und Bonfante, Larissa. 1990. Etruscan. In: Reading the
schreiben kann, sind insgesamt vierzehn Past, 321—378.
Amtssprachen und neunzehn alphabetische Coulmas, Florian. 1984. Linguistic Minorities and
Schriftvarianten offiziell anerkannt. Kampa- Literacy. Language Policy Issues in Developing
gnen zur Alphabetisierung und Intensivierung Countries. Berlin/Amsterdam/New York.
der Schulausbildung in den Regionalspra- Davies, W. V. 1990. Egyptian Hieroglyphs. In: Rea-
chen, von denen insgesamt 67 im U nterricht ding the Past, 75—135.
verwendet werden, gehören seit Jahrzehnten Duhoux, Yves. 1981. Les Étéocrétois et l’origine de
zum ständigen Aufgabenbereich der indischen l’alphabet grec. In: Antiquité Classique 50, 287—
Sprachplanung (Srivastava, 1984; → Art. 33). 294.
Das lateinische Alphabet hat sich in der Haarmann, Harald. 1990. U niversalgeschichte der
Moderne als äußerst flexibles System be- Schrift. Frankfurt/New York (2. Aufl. 1992).
währt. Ergänzt durch diakritische Zusatz- —. 1993 a. Die Sprachenwelt Europas. Geschichte
zeichen ist es sogar effektiv, um eine Ton- und Zukunft der Sprachnationen zwischen U ral
sprache wie das Vietnamesische zu schreiben. und Atlantik. Frankfurt/New York.
Gleichwohl gibt es für keine Sprache eine
hundertprozentige Eins-zu-Eins-Entspre- —. 1993 b. Zeichenkonzeptionen in der keltischen
chung von Laut und Schriftzeichen. Die fin- Antike. In: Handbuch zur Semiotik (im Druck).
nische Schriftvariante kommt allerdings dem —. 1993 c. Signs and Symbols in Korean Culture
Ideal recht nahe. Die Zahl der Schriftzeichen — Semiotic Trends in a Far-Eastern Context. In:
in den lokalen Systemen differiert teilweise Handbuch zur Semiotik (im Druck).
erheblich. In der Adaption lateinischer Buch- —. 1994. Early Civilization and Literacy in Europe.
staben spiegelt sich das Prinzip der kulturellen Old Europe, the Ancient Aegean, Ancient Cyprus,
Relativität. Zur Schreibung des Maori auf Archaic Italy (book monograph).
Neuseeland reichen beispielsweise 13 Buch- Harris, William V. 1989. Ancient Literacy. Cam-
staben aus. Die Beschränktheit des Zeichen- bridge. Mass./London.
inventars beruht hier auf der Einfachheit des Healey, John F. 1990. The Early Alphabet. In:
Lautsystems. Andererseits ist das Inventar Reading the Past, 197—257.
von nur 18 Buchstaben zur Wiedergabe von Heine, Bernd, Schadeberg, Thilo C. & Wolff, Ek-
etwa 60 Phonemen im Fall des Irischen ein kehard (ed.). 1981. Die Sprachen Afrikas. Ham-
Spiegel der Reduktion des lateinischen Zei- burg.
chenbestandes in historischer Zeit. Planvoll
Hinz, Walther. 1991. Zu den Sinai-Inschriften. In:
ist das lateinische Alphabet zur Verschriftung
Zeitschrift der deutschen morgenländischen Ge-
von autochthonen Sprachen in Amerika und
sellschaft 141, 16—32.
Afrika eingesetzt worden (vgl. Kloss &
26.  Die chinesische Schrift 347

Isaev, Magomet Izmajlovič. 1979. Jazykovoe stroi- Sass, Benjamin. 1988. The Genesis of the Alphabet
tel’ stvo v SSSR. Moskau. and Its Development i n the Second Millennium
Jeffery, Lilian H. 1990. The Local Scripts of Ar- B. C. Wiesbaden.
chaic Greece. A Study of the Origin of the Greek Schmidt, Karl Horst. 1992. Zur Inschrift von Bo-
Alphabet and Its Development from the Eighth to torrita. Indogermanische Forschungen 97, 236—
the Fifth Centuries B. C. Oxford (2. Aufl.). 241.
Jensen, Hans. 1969. Die Schrift in Vergangenheit Srivastava, R. N. 1984. Literacy Education for Mi-
und Gegenwart. Berlin (3. Aufl.). norities: A Case Study from India. In: Coulmas,
Kloss, Heinz & McConnell, Grant D. (ed.). 1978. 39—46.
The Written Languages of the World, vol. 1: The Stiebner, Erhardt D. & Leonhard, Walter. 1985.
Americas. Québec. Bruckmann’s Handbuch der Schrift. München
Ray, John D. 1990. An Outline of Carian Gram- (3. Aufl.).
mar. Kadmos 29, 54—83. U ntermann, Jürgen. 1975—1980. Monumenta Lin-
Reading the Past. Ancient Writing from Cuneiform guarum Hispanicarum, 2 Bde. Wiesbaden.
to the Alphabet. British Museum Publications.
London 1990.
Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)

26. Die chinesische Schrift

Vorbemerkung chin. Aussprache hin, die zusammen mit der


1. Allgemeines etymologischen Zeichenerklärung Morohashi
2. Entwicklung der Schriftzeichen und ihrer For- 1982 entnommen ist.
men Herrn Prof. Dr. Alfred Hoffmann (Bo-
3. Der Aufbau der chinesischen Schriftzeichen chum) bin ich für die mit vielen Ratschlägen
4. Arten von chinesischen Schriftzeichen verbundene Durchsicht des Manuskripts und
5. Die Anordnung der chinesischen Schriftzei- die Zurverfügungstellung von Material außer-
chen ordentlich zu Dank verbunden.
6. Schluß
7. Literatur
1. Allgemeines
Die chin. Schriftzeichen sind grundsätzlich in Entstehung und Entwicklung der frühen
den bis heute in Táiwān verwendeten Formen Hochkulturen sind eng mit den Flußläufen
( fántǐ-zì „Vollformen“, „Langzei- der großen Ströme verbunden, und so stand
auch die Wiege der chin. Kultur in der Nähe
chen“) als den Normalformen gegeben. Bei der großen Ströme, insbesondere des
bibliographischen Angaben von Werken aus
der Volksrepublik China (Abk.: VRC) werden Huánghé, des Gelben Flusses.
die dortigen Kurzformen ( jiǎntǐ-zì Mit Ausnahme der chinesischen wird aber
keine der Schriften dieser Kulturen mehr ver-
„Kurzformen“, „Kurzzeichen“) verwendet. wendet, und gerade diese Tatsache, daß die
Die Transkription hält sich an die auf der 5. chin. Schrift bis heute auf das stolze Alter
Sitzung des 1. Nationalen Volkskongresses von mindestens 4000 Jahren, die letzten bei-
der VRC am 11. 2. 1958 verabschiedete
den Jahrtausende davon in unveränderter Ge-
pīnyīn -U mschrift des Chinesischen. Bei älte- stalt, zurückblicken kann, dürfte mit ein
ren Sprachstadien findet die Lautschrift der Grund für die Faszination sein, die auch heute
Association Phonétique Internationale An- noch von ihr ausgeht und die denjenigen nicht
wendung, da das pīnyīn nur für die Sprache mehr losläßt, der sich einmal in ihre Fänge
der Gegenwart gilt. Für die Sprachen werden begeben hat.
allgemein die gängigen Abkürzungen chin., Für eine monosyllabisch-isolierende Ton-
jap., kor., viet. usw. verwendet. Stehen 2 chin. sprache geschaffen, stand die chin. Schrift von
Aussprachen zwischen einem der beiden Zei- Anfang an vor zwei Hauptproblemen: (a) die
chen < oder >, so weist die der Spitze ab- ungeheure Zahl von Homophonen und (b)
gekehrte Seite des Zeichens auf die archaisch- das Fehlen von Flexionsendungen, grund-
26.  Die chinesische Schrift 347

Isaev, Magomet Izmajlovič. 1979. Jazykovoe stroi- Sass, Benjamin. 1988. The Genesis of the Alphabet
tel’ stvo v SSSR. Moskau. and Its Development i n the Second Millennium
Jeffery, Lilian H. 1990. The Local Scripts of Ar- B. C. Wiesbaden.
chaic Greece. A Study of the Origin of the Greek Schmidt, Karl Horst. 1992. Zur Inschrift von Bo-
Alphabet and Its Development from the Eighth to torrita. Indogermanische Forschungen 97, 236—
the Fifth Centuries B. C. Oxford (2. Aufl.). 241.
Jensen, Hans. 1969. Die Schrift in Vergangenheit Srivastava, R. N. 1984. Literacy Education for Mi-
und Gegenwart. Berlin (3. Aufl.). norities: A Case Study from India. In: Coulmas,
Kloss, Heinz & McConnell, Grant D. (ed.). 1978. 39—46.
The Written Languages of the World, vol. 1: The Stiebner, Erhardt D. & Leonhard, Walter. 1985.
Americas. Québec. Bruckmann’s Handbuch der Schrift. München
Ray, John D. 1990. An Outline of Carian Gram- (3. Aufl.).
mar. Kadmos 29, 54—83. U ntermann, Jürgen. 1975—1980. Monumenta Lin-
Reading the Past. Ancient Writing from Cuneiform guarum Hispanicarum, 2 Bde. Wiesbaden.
to the Alphabet. British Museum Publications.
London 1990.
Harald Haarmann, Helsinki (Finnland)

26. Die chinesische Schrift

Vorbemerkung chin. Aussprache hin, die zusammen mit der


1. Allgemeines etymologischen Zeichenerklärung Morohashi
2. Entwicklung der Schriftzeichen und ihrer For- 1982 entnommen ist.
men Herrn Prof. Dr. Alfred Hoffmann (Bo-
3. Der Aufbau der chinesischen Schriftzeichen chum) bin ich für die mit vielen Ratschlägen
4. Arten von chinesischen Schriftzeichen verbundene Durchsicht des Manuskripts und
5. Die Anordnung der chinesischen Schriftzei- die Zurverfügungstellung von Material außer-
chen ordentlich zu Dank verbunden.
6. Schluß
7. Literatur
1. Allgemeines
Die chin. Schriftzeichen sind grundsätzlich in Entstehung und Entwicklung der frühen
den bis heute in Táiwān verwendeten Formen Hochkulturen sind eng mit den Flußläufen
( fántǐ-zì „Vollformen“, „Langzei- der großen Ströme verbunden, und so stand
auch die Wiege der chin. Kultur in der Nähe
chen“) als den Normalformen gegeben. Bei der großen Ströme, insbesondere des
bibliographischen Angaben von Werken aus
der Volksrepublik China (Abk.: VRC) werden Huánghé, des Gelben Flusses.
die dortigen Kurzformen ( jiǎntǐ-zì Mit Ausnahme der chinesischen wird aber
keine der Schriften dieser Kulturen mehr ver-
„Kurzformen“, „Kurzzeichen“) verwendet. wendet, und gerade diese Tatsache, daß die
Die Transkription hält sich an die auf der 5. chin. Schrift bis heute auf das stolze Alter
Sitzung des 1. Nationalen Volkskongresses von mindestens 4000 Jahren, die letzten bei-
der VRC am 11. 2. 1958 verabschiedete
den Jahrtausende davon in unveränderter Ge-
pīnyīn -U mschrift des Chinesischen. Bei älte- stalt, zurückblicken kann, dürfte mit ein
ren Sprachstadien findet die Lautschrift der Grund für die Faszination sein, die auch heute
Association Phonétique Internationale An- noch von ihr ausgeht und die denjenigen nicht
wendung, da das pīnyīn nur für die Sprache mehr losläßt, der sich einmal in ihre Fänge
der Gegenwart gilt. Für die Sprachen werden begeben hat.
allgemein die gängigen Abkürzungen chin., Für eine monosyllabisch-isolierende Ton-
jap., kor., viet. usw. verwendet. Stehen 2 chin. sprache geschaffen, stand die chin. Schrift von
Aussprachen zwischen einem der beiden Zei- Anfang an vor zwei Hauptproblemen: (a) die
chen < oder >, so weist die der Spitze ab- ungeheure Zahl von Homophonen und (b)
gekehrte Seite des Zeichens auf die archaisch- das Fehlen von Flexionsendungen, grund-
348 III. Schriftgeschichte

sätzlich bis heute, insbesondere aber in der dann als Lesung theoretisch den Begriff seiner
klassischen Schriftsprache. Frühere Sprach- jeweiligen Muttersprache einsetzen kann, wie
stufen des Chinesischen bis hin zum Mittel- es im Japanischen (yama), Koreanischen (me)
und Frühneuhoch-Chinesischen verfügten und Vietnamesischen ( núi ) dann ja auch tat-
und heutige südchin. Dialekte verfügen noch sächlich geschehen ist.
über ein größeres Phoneminventar als die Die chin. Zeichen werden in China selbst
Sprache von Běijīng (Peking) und mit dem Wort zì bezeichnet, das auf ein
Nordchina, in der es unter Außerachtlassung dz‛ǝg 3 zurückgeht; dies ist aber weiter nichts
der 4 Töne nur 415 lautlich differenzierte Pho- als ein denominales Verb des Substantivs zǐ
nemabfolgen (Wörter = Silben), mit Beach- < tsǝg 2 ‘Kind’ und hat also die Bedeutung
tung der (nicht bei allen Wörtern realisierten) ‘gebären’. Geschrieben wird das Wort mit
Töne nur 1266 unterscheidbare Lautkom- dem Zeichen , dessen älteste Form ist,
plexe gibt (Xīnhuá zìdiǎn 1972). Dort sind 81 was erkennbar ein ‘Kind’ > unter
Zeichen mit der Lesung li , davon 1 im 1. (lī), einem ‘überdachten Raum’ > und so-
20 im 2. (lí), 15 im 3. (lǐ), 42 im 4. (lì) und 3 mit die bei einer Geburt aus Tabu-Gründen
im neutralen Ton (li) angegeben (alle Zahlen eigens neben dem eigentlichen Haus errichtete
sind eigene Zählung). Hier muß jede Buch- Geburtshütte darstellt (Zhōngwén dàcídiǎn,
staben- und damit auch jede Lautschrift ver- Zeichen Nr. 7083-1). Das Zeichen erscheint
sagen, da es ihr an den visuellen U nterschei- bereits auf den Bronze-Inschriften der
dungsmöglichkeiten für ein Wiedererkennen Yīn- (oder Shäng-)Zeit (17.—11. Jh.
fehlt. Auch die Verwendung von Indices, wie
sie bei der Transkription des Sumerischen an- v. Chr.). Zwischen dieser vermutlich ur-
gewendet wird, muß aus demselben Grund sprünglichen Bedeutung ‘Geburtshütte’ und
scheitern, da es unmöglich ist, ein lì 11 von der späteren ‘Schriftzeichen’ besteht kein
innerer Zusammenhang, denn trotz aller
einem lì 42 zu unterscheiden. Zur genialen Lö- krampfhaften Versuche, über eine Bedeu-
sung, die die chin. Schrift für dieses Problem tungserweiterung ‘vermehren’ von einer ‘Ge-
gefunden hat, s. u. 3.1.4. — Das Fehlen von burtshütte’ zu einem ‘Schriftzeichen’ zu ge-
Flexionsendungen war nicht ganz so von vi- langen, kommt man nicht darum herum zu-
talem Interesse, denn was eine Sprache nicht zugeben, daß das wenig gebrauchte Wort ‘Ge-
hat, braucht sie auch nicht zu schreiben; sie burtshütte’ für den bisher noch nicht schreib-
schafft ihre syntaktischen Beziehungen auf baren Begriff ‘Schriftzeichen’ entlehnt worden
andere Art und Weise. Trotzdem sind ab und ist. Wann dies zum ersten Mal geschah, ist
zu Elemente notwendig, die mit den Mitteln nicht mehr festzustellen, in dem 100 n. Chr.
einer Bilderschrift nicht darzustellen sind (vgl. erschienenen Wörterbuch Shuō-
auch hierzu u. 3.2.2.). wén-jiězì ist er aber bereits etabliert und seit-
Die chin. Schriftzeichen sind piktogra- dem in ständigem Gebrauch. — U m chin.
phisch-ideographisch-rebusartige Logogram- Schriftzeichen von anderen zu unterscheiden,
me biǎoyǔ-wénzì mit einer unauf- kam später der Ausdruck Hàn-zì
löslichen Einheit aus ‘Schriftzeichen Chinas’ auf. Hàn bezeichnet
— Graphem als geschriebenes Schriftzeichen; dabei die von 206 v. Chr. bis 220 n. Chr. herr-
— Semanten als ihm innewohnende, manch- schende Dynastie, deren Name schon früh im
mal sehr entwicklungsfähige Bedeutung; Ausland stellvertretend für ganz China ver-
— Phonem als ihm anhaftende, in engen wendet worden war. Während der Ausdruck
Grenzen abwandelbare Lautung und Aus- Hàn-zì in China selbst erstmalig erst in den
sprache; 1369/70 redigierten Yuán-shǐ (Annalen
— Tonem als ihm inhärenter, ebenfalls nur der Yuan-Dynastie) in Gegenüberstellung zur
in engen Grenzen wandlungsfähiger Ton- mongolischen Schrift erscheint, wurde er in
verlauf. Japan bereits in der von Minamoto
Das heutige Schriftzeichen shān (Tonverlauf: no Akikane (1160—1215) zwischen Septem-
hoher ebener Ton 55 ) heißt „Berg(e)“, ist aus ber 1212 und Februar 1215 abgefaßten
einem notwendigerweise etwas abstrahierten Sammlung von 460 volkstümlichen Erzählun-
Gebirge mit höherem Mittelgipfel ent- gen Kojidan (‘Erzählungen alter Be-
standen und gibt als Bild nicht den geringsten gebenheiten’) als Gegenstück zu den jap.
Hinweis auf die Aussprache. Wer sie nicht Kana-Syllabaren verwendet. So bezeichnen
gelernt hat, kann vermutlich erkennen, daß denn diejenigen Sprachen, zu deren schriftli-
es sich um ‘Berge’ handeln soll, für die er cher Darstellung chin. Zeichen verwendet
werden bzw. im Viet. bis 1910 worden sind,
26.  Die chinesische Schrift 349

diese Zeichen auch heute noch als / nehmende Verwendung von handlichen Text-
kanji, / hanja und / verarbeitungsgeräten auch im privaten Be-
chũ· hán. U m die heutige eckige Druck- reich wird das Pendel über kurz oder lang
form gegenüber runderen Formen abzugren- aber wohl in Richtung auf eine allgemeine
zen, ist noch der Ausdruck fānġ- Waagrechtschreibung hin ausschlagen lassen.
kuài-zì „Quadratschrift“ in Gebrauch. Vor der Erfindung des Papiers zhǐ —
Die Schreibrichtung der chin. Schrift leitet bei Ausgrabungen eines Grabes der Früheren
sich aus dem Material ab, auf das geschrieben Hàn- Qián Hàn-zeit (206 v.—7 n. Chr.)
worden war. Die länglich-ovale Form des in Bàqiáo (Prov. Shǎnxī) sind
Schildkrötenpanzers und die langgestreckten Papierstücke aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.
Formen der Schulterblattknochen von Groß- gefunden worden (Tsien 2 1963, 135) — dien-
tieren, die beide im Altertum als Beschreib- ten Materialien, die in irgendeiner Weise ge-
stoffe dienten, waren bereits eine gewisse Vor- ritzt werden konnten (Knochen, Steine usw.),
gabe dafür, die einzelnen Zeichen u n t e r - gußfähige Materialien (Bronzeguß) oder Tex-
e i n a n d e r zu setzen, so daß die Bronze-In- tilien als Beschreibstoff, später dann in zu-
schriften gar keine andere Schreibrichtung nehmendem Maße eben das Papier, das 751
kennen. Die Zeilenabfolge war dagegen nicht nach der Schlacht bei Talás am gleichnamigen
von Anfang an auf die Richtung von rechts Fluß Taлac ( Dūlài < tag 1 lâd 3 , arab.
nach links festgelegt. Holz in der Form von / ) (Republik Kirgisistan), in der
langen, schmalen Brettchen ist schon sehr das Tang-Heer von den Arabern vernich-
früh (11./10. Jh. v. Chr.?) als Beschreibstoff tet wurde, durch chin. Kriegsgefangene in den
verwendet worden, und leicht spaltbarer Westen gelangte. — Schreibgerät war, abge-
Bambus war reichlich vorhanden. Ein so her- sehen von den Sticheln zum Einritzen und
gestelltes Brettchen, von oben nach unten voll den Formen für den Bronzeguß seit den äl-
geschrieben, wurde rechterhand abgelegt, das testen Knocheninschriften (ca. 1300—1100
nächste beschrieben und links neben dem er- v. Chr.) der Haarpinsel ( ) (máo)bǐ, der
sten abgelegt usw., bis die Aufzeichnung zu
Ende war, so daß sich die Zeilenabfolge von als Schriftzeichen = yù in der bis heute
rechts nach links wie von selbst ergab. Die typischen Pinselhaltung — eine Hand hält
einzelnen Brettchen wurden dann mit Fäden den Pinsel senkrecht am oberen Teil des
zusammengebunden, was das Zeichen Schafts — bereits vertreten ist (der Zusatz
> cè „Heft, Buch“ ergab. Bis zum Ende < „Bambus“ ist erst Anfang des 3. Jahr-
des II. Weltkriegs schrieben China, Korea und hunderts v. Chr. bei der damaligen Schriftre-
Japan einheitlich in dieser Weise. Dieses Prin- form hinzugekommen). Geschrieben wurde
zip war aber davor in Japan bereits kräftig mit Tusche mò, die damals aus dem Ruß
durchlöchert worden, wenn es sich um natur- von verbrannten Kiefernhölzern unter Zusatz
wissenschaftliche Werke mit vielen Formeln von Glutinleim und Lack des Lacksumachs
oder Grammatiken von in Buchstabenschrif- ( Toxicodéndron vernicíflua ) gewonnen und zu
ten geschriebenen Sprachen u. ä. handelte, so kürbiskernförmigen Scheibchen geformt wur-
daß auch die Zeichenabfolge von links nach de. Vor dem Schreiben wurden die Plätt-
rechts und die Zeilenabfolge von oben nach chen mit ein wenig Wasser auf einem Reib-
unten durchaus nicht unbekannt waren. stein yàn zu Tusche angerieben, wie es bis
Überschriften und Bildunterschriften in Zei- heute noch der Fall ist, wenn man mit dem
tungen und Zeitschriften können in Taiwan, Pinsel schreibt. Mit diesen „Vier Kostbarkei-
Hongkong und Singapur waagrecht genauso ten des Arbeitszimmers“ wénfáng-
von rechts nach links laufen wie Aufschriften sìbǎo Papier, Pinsel, Tusche und Reibstein
auf der rechten Lkw-Seite in Japan. Die ausgerüstet, konnte einem Chinesen dann
Nachkriegszeit hat hier nur in der Volksre- nicht mehr viel passieren (→ Art. 14 Zf. 3).
publik China (VRC) und in Nordkorea eine
feste Regelung gebracht, indem Nordkorea
seit Juni 1949 und die VRC seit 1. 1. 1956 2. Entwicklung der Schriftzeichen und
offiziell die Waagrechtschreibung eingeführt ihrer Formen
haben, während die anderen Länder im bel- Die folgende Darstellung der Entwicklung der
letristischen Bereich unter Einschluß von Zei- chinesischen Schriftzeichen und ihrer Formen
tungen und Zeitschriften bei der Senkrecht- ist neben den Abbildungen im Text illustriert
schreibung geblieben sind, in wissenschaftli- durch Abb. 26.1, die Briefmarkenserien aus
chen Veröffentlichungen dagegen der Waag- der VRC und Táiwān darstellt.
rechtschreibung den Vorzug geben. Die zu-
350

Abb. 26.1: Schriftgeschichte auf Briefmarken der VRC und Táiwāns: oben v. 1. n. r. Knocheninschriften/Bronzeinschriften/Kleine Siegelschrift/
Kurialschrift/Kleine Siegelschrift; unten v. 1. n. r. Große Siegelschrift/Kleine Siegelschrift/Kurialschrift/Normschrift/Handschrift/Konzeptschrift.
III. Schriftgeschichte
26.  Die chinesische Schrift 351

2.1. Als Vorstufen der Schrift bezeichnete in Regeln gefaßte Abwandlung der Kombi-
Formen nationsmöglichkeiten zur Zukunftsvorher-
sage herhalten muß, wobei der durchgehende
Die Legende berichtet, daß auch in China den Strich — als ‘ja’ und der unterbrochene --
Quipu der Inkas vergleichbare Knoten- als ‘nein’ gelten (Wilhelm 1923, Bd. I, IV; →
schnüre jiéshéng verwendet worden
Art. 55, Zf. 2). — In denselben mythischen
seien. Aus dem U rnebel des Mythos tauchen Zusammenhang gehört auch die Angabe, die
im Neolithikum greifbar Töpferkulturen auf, chin. Zeichen seien von einem Mann namens
die mit Strichzeichnungen in einfachen For- Cāng Jié um 2700 v. Chr. ge-
men versehen sind. Die Yǎngsháo- (ca.
schaffen worden, der Sekretär des Gelben
5000—3000 v. Chr.) und die Lóngshān- Kaisers Huáng Dì gewesen sein und
Kultur (ca. 2800—2300 v. Chr.) haben eine sich die Anregung dazu aus den Fährten von
große Anzahl von Töpferwaren hinterlassen, Tieren und Vögeln geholt haben soll.
auf denen sich geometrische Figuren mannig-
facher Gestalt wie z. B.
2.2 Die Knocheninschriften
usw. finden
(Lĭ 1990, 53); bei und könnte Historisch gesicherten
man evtl. an der später völlig gleich geschrie- Boden betritt man zum
benen Zahlen 1 bis 5 denken. Daß sich dar- ersten Mal mit den zahl-
unter auch Figuren befinden, die späteren reich erhaltenen Inschrif-
„richtigen“ chin. Zeichen ähneln ( ), ist ten auf Bauchpanzern
reiner Zufall und hat nichts mit ihnen zu tun. von Schildkröten (πλά-
Hierher gehört auch eine 1961 in στρον) oder Schulter-
Língyánghé (in der Nähe von Jŭ Xiàn blattknochen (scapula)
im SO-Teil der chin. Provinz Shandong) von Großtieren. 1899
im heutigen Ānyáng (Provinz Hé-
ausgegrabene, unten spitz zulaufende graue
Tonvase (Höhe 57,5 cm, Ø 29,5 cm) aus der nán), dem Ort der alten Hauptstadt des
Spätzeit der Dàwènkǒu-Kultur (ca. Shāng-Reiches (bestand Anfang des 17. Jahr-
2600 v. Chr.); Okazaki 1986, 12, 46 f), auf der hunderts bis ca. 1050 v. Chr.) entdeckt, aber
ein wahrscheinlich als Eigentumsmarke ein- erst seit 1928 sukzessive ausgegraben, sind bis
zustufendes „Ornament“ eingeritzt ist, heute etwa 130 000 Inschriften mit ca. 5000
das die Phantasie der Schriftgelehrten sofort Einzelzeichen, von denen rund 1500 entziffert
worden sind (Wáng 1982, 570), registriert. Sie
beflügelte, weil es eine frappante Ähnlichkeit wurden während der Zeit des Shāng-Reiches
mit 1000 Jahre jüngeren und echten ersten ausschließlich für plastro- oder skapulopy-
chin. Zeichen zu haben schien: = =
romantische Orakel verwendet, bei denen in
Sonne, = / = Mond und = Anwendung des Prinzips do ut des die (Geister
= Feuer. Damit war es aber auch der) Ahnen unter Darreichung von Opfern
schon erledigt, denn ein daraus zusammen- dazu bewogen werden sollten, Auskunft über
zubastelndes „Zeichen“ [ ] existiert das Schicksal der nächsten 10 Tage oder bei
nicht und wäre auch bei der Kompliziertheit irgendwelchen staatlichen oder privaten U n-
der Zusammensetzung nicht zu erwarten ge- ternehmungen zu geben (s. Abb. 26.2 auf Ta-
wesen. fel XI). Plastra und Scapulae wurden für das
Die traditionelle chin. Legende zählt auch Orakel vorbereitet, indem zahlreiche Stellen
acht aus je drei entweder durchgehenden oder auf ihnen ausgeschabt wurden, bis nur noch
unterbrochenen waagrechten Strichen beste- ein dünnes Häutchen übrigblieb. Von einem
hende Trigramme bāguà ‘Himmel’, anderen Beteiligten wurden dann die Fragen
‘Erde’, ‘Donner’, ‘Wasser’, eingeritzt, worauf ein erhitzter Stab in die
‘Berg’, ‘Holz’, ‘Feuer’ und ‘See’ Aushöhlungen gehalten wurde, so daß die
zu den Vorstufen der Schrift. Sie sollen von übriggebliebenen dünnen Stellen sprangen.
Fú Xī, einem der drei mythischen Diese Sprünge wurden meistens vom König
Kaiser des Altertums, „erfunden“ worden sein selbst gedeutet. War das Ergebnis des Orakels
und von Dingen der Natur über Verwandt- ungünstig, wurde es mit neuen Opfern wie-
schaftsgrade bis hin zu Charaktereigenschaf- derholt. Manchmal kommt es auch vor, daß
ten alles mögliche symbolisieren. Je 2 zu die Rückseite eine Aufzeichnung des Inhalts
8 2 = 64 Kombinationen zusammengestellt, enthält, ob die Voraussage eingetroffen ist
dienen sie auch heute noch als Grundlage für oder nicht (vgl. das kurze Beispiel weiter un-
die Erstellung von Horoskopen, bei denen die ten).
352 III. Schriftgeschichte

Die Knocheninschriften werden heute nor- in Aufsicht, die beiden Räder aber in die
malerweise mit jiǎgǔ-wén(zì) Horizontale geklappt wiedergegeben sind, da
„Schildkrötenpanzer- und Knochen-Schrift- die Rekognoszierbarkeit ohne Darstellung
(zeichen)“ bezeichnet, während die Benen- des Charakteristikums ‘Räder’ nicht mehr ge-
nungen qìwén „Kerbschrift“ mehr auf geben wäre.
die Aufzeichnungsweise, bǔcí „Orakel- Ein kurzes zusammenhängendes Beispiel
texte“ auf den Zweck, guījiǎ-wénzì (Keightley 1985 a , 88; Shima 1977, 51) bein-
„Schildkrötenpanzer-Schulterblatt-Schriftzei- haltet den Erfolg mehrerer Versuche, heraus-
chen“ auf das zur Aufzeichnung verwendete zufinden, ob es ein U nheil geben wird oder
Material und Yīn-xū-wénzì auf nicht, mit der auf der Rückseite eingeritzen
den Fundort „Schriftzeichen aus den Ruinen Feststellung (s. Tabelle 26.1).
von Yīn“ abstellen.
Der Charakter der Schriftzeichen ist noch 2.3. Die Bronze- und Steininschriften
recht ursprünglich und läßt die Herkunft von Aus der Shāng- (oder
Bildern noch gut erkennen (vgl. 3.1.1.); an- Yīn-)Zeit (17. Jh.—
dererseits sind aber auch die anderen Kon- ca. 1050 v. Chr.) und
struktionsprinzipien der chin. Zeichen wie der daran sich anschlie-
symbolische (vgl. 3.1.2.) oder zusammenge- ßenden Zhōu-Zeit
setzte Bilder (vgl. 3.1.3.) und Entlehnungen
(vgl. 3.2.2.) bereits zahlreich vertreten. Die (1066—221 v. Chr.) sind
bei komplizierteren Zeichen später unver- Inschriften auf Bronze-
rückbare Stellung der einzelnen Teile inner- gefäßen bekannt, die, ursprünglich als reine
halb des Zeichens schwankt noch häufig. Die Gebrauchsgefäße (Glocken, Koch-, Eß- und
äußere Form der Zeichen mit ihrer gewissen Trinkgefäße) verwendet, dem Eigentümer
Wackeligkeit steht in unmittelbarem Zusam- dann mit ins Grab gegeben wurden. Später
menhang mit Schreibwerkzeug und Be- wurden diese Gefäße dann fast ausschließlich
schreibstoff, auf dem beim Einritzen der Zei- bei Kulthandlungen zu sakralen Zwecken ge-
chen Rundungen nur schwer zu gestalten braucht (Abb. 26.3). Die Inschriften wurden
waren. Das Einzelbeispiel am Anfang dieses entweder nach dem Guß der Gefäße eingeritzt
Abschnitts stellt einen Wagen chē/jū dar, oder häufiger als gesondert gearbeitete
Schriftplatte vor dem Guß auf der Gußform
bei dem Radachse, Deichsel und Jochstange befestigt; bei besonders begüterten Auftrag-
26.  Die chinesische Schrift 353

Knocheninschriften formenmäßig noch nahe,


so werden sie im Lauf der Zeit kompakter,
und ihre Anordnung wird regelmäßiger.
Selbstverständlich macht sich auch das Ma-
terial insofern bemerkbar, als Rundungen nun
besser gestaltet werden können. Andererseits
sind aber auch bereits Ansätze zu der später
überhand nehmenden Überladenheit der Zei-
chen zu erkennen, die dann zur Ausbildung
der großen Siegelschrift (s. u. 2.4.2.) geführt
hat. Die Zeichenanzahl der auf den Bronze-
inschriften erscheinenden Zeichen beläuft sich
auf etwas über 3000.
Die Bronzeinschriften werden heute allge-
mein als jīn-wén „Metalltexte“ bezeich-
net, wenn sie gemeinsam mit den sich zeitlich
an sie anschließenden, im Duktus aber iden-
tischen Steininschriften genannt werden sol-
len, als jīn-shí-wén „Metall/Stein-
Texte“ bezeichnet. Wenn besonders hervor-
gehoben werden soll, daß es sich bei einem
Inschriftenträger nicht um ein Sakralgefäß
handelt, wird noch der Ausdruck
zhōngdǐng-yíqì-kuǎnzhì verwendet, „ver-
senkte“ ( kuǎn) bzw. „erhabene“ ( zhì)
Schrift für „Glocken“ ( zhōng = Musikin-
strumente), „Kochkessel“ ( dǐng), „Trink-
gefäße“ ( yí) und „Eßgefäße“ ( qì ).
Einer besonderen Erwähnung bedürfen
noch an Zahl nicht gerade geringe Zeichen,
die sich entweder alleine oder unter einem
Text finden und die sich dadurch auszeichnen,
daß deutbare Zeichen oder figürliche Dar-
stellungen stets in einem quadratischen Rah-
men mit ausgekehlten Ecken eingeschrie-
ben sind, der dem chin. Zeichen yà ent-
spricht. U rsprünglich ein Bild der unterirdi-
Abb. 26.3: Bronzeinschrift auf einer Schale aus schen Grabkammer mit Zugangsrampen auf
dem 8. Jahrhundert v. Chr., in der von der erfolg- den 4 Seiten, wurde die Bedeutung dieses Zei-
reichen Durchführung eines Auftrags seitens des chens schon sehr früh auf denjenigen übertra-
Herrschers, der Belohnung des Beauftragten durch gen, der in Familie, Sippe oder Clan für ein
ihn und dem Guß der Schale als ewige Erinnerung Grab und die auszuführenden Riten zustän-
berichtet wird. (Aus „Shodō Zenshū I, S. 65, Tōkyō dig war. Da es sich bei diesen Darstellungen,
1965). abgesehen von wenigen Ausnahmen, um Per-
sonennamen handelt, sind die Lesungen zu
einem großen Teil unmöglich. Diese Zeichen
gebern sind die nach dem Guß vertieft er- werden als yàxíng-zì (älter:
scheinenden Zeichen mit Gold intarsiert. Die yàzì-wén „Muster in Form des Zeichens yà “)
Texte der Inschriften reichen von ganz kurzen „Zeichen in Form des Zeichens yà“ bezeich-
Angaben des Inhalts „dieses Gefäß hat X für net (Shirakawa 1984, 3 f). — Das am Anfang
Y zum ewigen Gebrauch gemacht“ bis zu sehr des Abschnitts abgebildete Zeichen ist wie-
langen Darstellungen (500 Zeichen und mehr) derum der „Wagen“, dessen Form bereits
über Kulthandlungen, Befehlsaufträge und gleichmäßiger gestaltet und auch schon etwas
deren Ausführung, Feldzüge, Verträge usw., mehr ausgestaltet ist, denn die Darstellung
so daß sie oft als historische Quelle von un- des Wagenkastens und der Zugpferde ergänzt
schätzbarem Wert sind. Stehen die Zeichen das Zeichen der Knocheninschriften wesent-
insbesondere am Anfang der Zhōu-Zeit den lich.
354 III. Schriftgeschichte

2.4. Die „Alte Schrift“ Zhòu-wén


Am Ende der Zhōu-Zeit führten die insta- „Zhòu-Schrift“ bezeichnet
wird. Zeitpunkt ihrer Entstehung dürfte Ende
bilen politischen Verhältnisse im 8. Jahrhun- 9./Anfang 8. Jahrhundert v. Chr. gewesen
dert v. Chr. für die folgenden Jahrhunderte sein, da König Xuān von 827—781 v. Chr.
zu raschem Aufkommen und genauso schnel- lebte. Bei dieser Schrift kommt eine Tendenz
lem U ntergang zahlreicher größerer und klei- zum Vorschein, die später zum Verzicht auf
nerer Staaten auf chin. Boden. Diese Zersplit- sie führte, da sie wegen ihrer Kompliziertheit
terung stand naturgemäß einer einheitlichen wenig praktikabel war. Sie wies zwar eine
Schrift nicht nur im Wege, sondern förderte runde, gefällige Linienführung auf, war aber
die Divergenzen geradezu, so daß es überall ungeheuer überladen. Die Schrift war be-
zu Sonderentwicklungen mit zahlreichen Zei- strebt, mehr als das unbedingt Notwendige in
chen für ein und denselben Begriff kam. Wie ein Schriftbild mit aufzunehmen, vielleicht
stark diese U nterschiede in verschiedenen, aus dem Gedanken heraus, Mißverständnisse
z. T. nahe beieinander liegenden Gebieten aus- beim Erkennen der Zeichen von vornherein
geprägt waren, soll an einem Beispiel für das auszuschließen. Das Zeichen am Anfang die-
heutige Zeichen m ǎ < m ag 2 „Pferd“ kurz ses Abschnitts stellt wiederum den „Wagen“
erläutert werden: dar, wobei zu erkennen ist, daß realitätsfern
2 Wagenkästen mit 4 Rädern gezeichnet sind
und sich die Zugpferde in 2 Hellebarden
umgewandelt haben. Trotzdem wurde diese
Schrift vom 8.—3. Jahrhundert v. Chr. nor-
mal verwendet. Aus der damaligen Zeit sind
bis heute 9 von ursprünglich 10 Stein-
trommeln erhalten geblieben (heute im Pa-
lastmuseum von Běijīng (Peking)), auf
denen 272 von ursprünglich über 700 Zeichen
in dieser Schrift in einer Größe von 4 cm 2
eingraviert sind. Inhaltlich enthalten diese
shígǔ-wén „Steintrommel-Texte“ Jagd-
gesänge in Gedichtform, die z. T. schwer ver-
ständlich sind. Man ist sich heute allgemein
darüber einig, daß sie 481 v. Chr. angefertigt
worden sind.

2.4.2. Die große Siegelschrift


Aus dieser Zhòu-Schrift
Gelehrten- und Handelskreise dieser zahlrei- unmittelbar abgeleitet ist
chen (Stadt)-staaten schufen so ein ansehnli- die dà-zhuàn „gro-
ches Schriftchaos, das nur die zusammenfas- ße Siegelschrift“, deren
sende Bezeichnung gǔ-wén „Alte Bezeichnung aus ihrer
Schrift“ gemeinsam hat. Was alles zu ihr ge- Verwendung für amtliche
zählt wird, ist durchaus Ansichtssache, einig oder private Siegel ab-
ist man sich im großen und ganzen nur dar-
über, daß die Schriftreform (s. u. 2.5.) Anfang geleitet ist. Siegel werden in Ostasien seit
des 3. Jahrhunderts v. Chr. einen Schlußpunkt ältester Zeit bis zum heutigen Tag so verwen-
gesetzt hat. det wie bei uns die eigenhändige U nterschrift.
Noch heute kann in Japan am Bankschalter
2.4.1. Die Zhòu-Schrift nur der Geld von seinem eigenen Konto ab-
heben, der sein kleines persönliches Siegel mit
Eine Ausprägung der dabei hat. Damals wie heute aber gab und
„Alten Schrift“ ist ein gibt es Versuche, Siegel oder U nterschrift zu
Duktus, der von dem äl- fälschen. U m dies zu verhindern, schmückt
testen Sohn Zhòu des man in China, Japan und Korea die Schrift-
Zhōu-Königs zeichen auf Siegeln besonders stark aus, preßt
Xuān entwickelt worden sie in kubische Formen und macht sie außer-
sein soll und deshalb als ordentlich überladen, eben so, daß ein Fäl-
scher die Zwecklosigkeit aller Mühen einse-
hen muß. Die Große Siegelschrift ist bis heute
26.  Die chinesische Schrift 355

für amtliche und private Siegel unverändert xiǎo-zhuàn „kleine Siegelschrift“ zu nennen.
in Gebrauch, und die Stempel- und Siegel- Ihre ausgewogenen und ebenmäßigen For-
schneider haben sich im Laufe der Jahrhun- men sind die Grundlage für die heutigen
derte Leitfäden geschaffen, wie die Zeichen Druck- und Schreibformen der chin. Schrift
aussehen sollen. Das Beispiel am Abschnitts- überhaupt geworden. Das Jahr ihrer offiziel-
anfang, wieder der „Wagen“, ist in einem der len Einführung in China ist zwar nicht mehr
gebräuchlichsten Duktus geschrieben, bei mit letzter Genauigkeit festzustellen, liegt
dem die Anzahl der waagrechten Striche 9 aber zwischen der Ernennung von Lì Sī zum
sein muß; sind es normal weniger, werden so Kanzler und dem Tod des Kaisers, also zwi-
viele Ecken hinein gemogelt, bis die Zahl 9 schen 214 und 210 v. Chr. Die kleine Siegel-
erreicht ist, sind es normal mehr, werden so schrift hat bis heute nichts von ihrer Popu-
viele weggelassen, bis es 9 sind. Der Vorteil larität eingebüßt und wird noch immer nicht
für die Siegelschneider liegt auf der Hand, nur für Siegel aller Art (das Siegel des japa-
denn sie brauchen nur gerade Linien, die sich nischen Kaisers und das große Staatssiegel
in einem Winkel von 90° schneiden, auszu- Japans sind in kleiner Siegelschrift gehalten),
führen (s. Abb. 26.4 auf Tafel XII). sondern auch als Zierschrift verwendet.
Ein Ableger der Kleinen Siegelschrift ist
2.5. Die kleine Siegelschrift die niǎo-chóng-shū „Schrift der Vö-
gel und Würmer“, bei der in der Qín-Zeit
221 v. Chr. wurde China (221—206 v. Chr.) bei Aufschriften auf Waf-
nach jahrelangen Kämp- fen und Bannern sowie auch bei Siegeln an
fen von dem König
den Enden der Striche Verzierungen ange-
Yìng Zhèng von Qín bracht waren, die Fährten von Vögeln (
(259—210 v. Chr., reg. niǎo ) und Würmern ( chóng ) ähneln sollten.
221—210 v. Chr.) geeint, In diesem Zusammenhang bedarf auch die
wonach er sich dann qí-zì „seltsame Schrift“ einer kurzen
Erwähnung, da sie sich durch starke Kürzun-
Qín Shǐ-Huángdì „Erster Kaiser von gen auszeichnet, wie sie die Zeichenformen
Qín“ nannte. Sollte die Reichseinigung Be- aufweisen, die heute in der VRC verwendet
stand haben, waren vereinheitlichende Maß- werden wie z. B. cāng „Getreidespeicher“
nahmen auf allen Gebieten des öffentlichen anstelle des normalen Zeichens
Lebens, vor allem der Verwaltung, notwendig.
Noch wichtiger als Maße und Gewichte sowie
Achsabstand der Wagen war hier die Verein- 2.6. Die Kurialschrift
heitlichung der Schrift, die ja bisher in allen Das geeinte China der
Landesteilen stark auseinandergedriftet war Qín-Dynastie besaß eine
und so einer Zentralverwaltung im Wege umfangreiche Verwal-
stand. Der Kaiser berief 214 v. Chr. daher tung, die schnell sein
einen seiner fähigsten Mitarbeiter, Lǐ Sī mußte, wenn sie effizient
(?—208 v. Chr.), in das Amt des Kanzlers und sein wollte. So schön die
beauftragte ihn damit, entsprechende Maß- kleine Siegelschrift auch
nahmen zu erarbeiten und durchzuführen.
Eine effiziente Verwaltung kann sich kaum war, es dauerte zu lang, bis ein Zeichen fertig
damit aufhalten, u. U . beim Schreiben für 1 gemalt war. Deshalb wurden li-rén „mit
Zeichen 1 Minute zu verschwenden. Lì Sī Dokumenten befaßte subalterne Beamte“ be-
setzte hier den Hebel für eine umfassende auftragt, eine Hilfsschrift zu schaffen, mit der
Schriftreform an, indem er die Schriftzeichen man schneller schreiben konnte. Bei dieser
auf das Wesentliche beschränkte, dabei ihre Schrift handelte es sich um eine gewisse Ver-
Rekognoszierbarkeit aber nicht beeinträch- einfachung der aus der dà-zhuàn „gro-
tigte. Wenn er so aus dem Zeichen chē/jū ßen Siegelschrift“ entstandenen xiǎo-
„Wagen“ machte, hatte er aus 22 Strichen zhuàn „kleinen Siegelschrift“, indem ihre
7 gemacht, und die Zeichen waren jetzt auch Rundungen in gerade und eckige Formen um-
einfacher zu memorieren. Derselbe Vorgang gestaltet wurden, was von einem Kalligraphen
wiederholte sich erst in den 50er bis 70er der Qín-Zeit (221—206 v. Chr.) namens
Jahren unseres Jahrhunderts, als die 2. große Chéng Miǎo bewerkstelligt worden
Schriftreform in China durchgeführt wurde. sein soll. Für den Schreibpinsel und die
Da diese neue Schrift aus der großen Sie- manchmal verwendete Rohrfeder bedeutete
gelschrift hergeleitet war, lag es nahe, sie dies eine erhebliche Schreiberleichterung, da
356 III. Schriftgeschichte

beide etwas gegen Rundungen eingestellt ist erst um etwa 800


waren. Ihrer Abkunft wegen wurde die Ku- n. Chr. belegt, ist aber bis
rialschrift damals zunächst als lì-zì heute die Standardbe-
„Schrift der subalternen Beamten“ oder auf- nennung geblieben und
grund ihrer Hilfsfunktion für die schwierigere hat andere Namen wie
kleine Siegelschrift als zuǒshū zhèngshū „richtige
„Hilfsschrift“ bezeichnet. In der Hàn-Zeit Schrift“, zhēnshū
(206 v. Chr.—220 n. Chr.) erfuhr die Kurial- „wahre Schrift“ oder zhèngkǎi „richtige
schrift dann noch einige kleinere Veränderun- Norm(schrift)“ völlig verdrängt. Da die For-
gen und Vereinfachungen, die zuerst von men der Normschrift gut zu schneiden waren,
einem weiteren Kalligraphen der Qín-Zeit, bildeten sie auch die Vorlage für die Block-
Wáng Cìzhòng, vorgeschlagen worden drucke ( diāobǎn, kèbāǎn ) als
sein sollen. Sein Duktus war noch ohne den Vorläufer des Drucks mit beweglichen Let-
späteren kleinen Aufstrich am Ende eines tern. Blockdrucke traten in China bereits im
nach rechts unten auslaufenden Striches, der 7. Jahrhundert n. Chr. auf, und es dürfte die
erst im 1./2. Jahrhundert n. Chr. aufkommt, Arbeit der Matrizenschneider erleichtert
so daß später die Bezeichnung haben, als am Ende der Míng-Zeit (An-
bāfēn(shū) „80%-Schrift“ für diese Schrift fang 17. Jh.) bei den etwas runderen und
auftaucht. Die Entstehung dieser Bezeich- gefälligeren Formen der Zhào Sōng-
nung ist heute nicht mehr restlos aufzuklären; xuě -Typen (benannt nach dem Dichter
entweder soll sie daher kommen, daß diese Zhào Mèngfǔ (1254—1322; Beiname: Sōng-
Schrift zu 20% aus Kurial- und zu 80% aus xuě)) die horizontalen Striche eines Zeichens
Siegelschrift bestehe, oder daraus abgeleitet zu Haarstrichen, die vertikalen dagegen ver-
sein, daß die Zeichen in diesem Duktus so stärkt wurden. — Die einzelnen Epochen der
aussähen, als ob sie auseinanderfielen wie die chin. Geschichte haben danach keine Ände-
Zeichen bā „acht“ und fēn „teilen“, rungen am grundlegenden Duktus mehr vor-
oder weil die Kurialschrift aus 80% kleiner genommen; trotzdem hat jede Zeit der Norm-
Siegelschrift bestünde, genauso wie die kleine schrift als der vorherrschenden Grundschrift
Siegelschrift aus 80% großer Siegelschrift und den Namen der jeweiligen Dynastie gegeben,
die jetzige Kurialschrift aus 80% der früheren. so daß in zeitlicher Abfolge an Bezeichnungen
U m die beiden letzteren unterscheiden zu noch Sòng-tǐzì „Schriftzeichen der
können, wurde die Kurialschrift der Qín-Zeit Sòng-Zeit“ (960—1279), Yuán-tǐ „Duk-
als gǔ-lì „alte Kurialschrift“ und die der tus der Yuán-Zeit“ (1206—1368) und
Hàn-Zeit als jīn-lì „jetzige Kurial- Míng-chāotǐ „Duktus der Míng-Dynastie“
schrift“ bezeichnet (Wáng 1982, 571 f). Sie (1368—1644) zu nennen sind. Volkstümlich
bildete die Grundlage für die als kǎishū wird die Normschrift als lǎo/
„Normschrift“ bekannte Form der heutigen gǔ-Sòng-zì bezeichnet, was halb liebevoll,
Druckschrift sowie die Formen der handge- halb verehrend „die alten Sòng-Zeichen“ be-
schriebenen Standardschrift. Das Schriftbei- deutet.
spiel am Abschnittsanfang („Wagen“) ist im Ein Charakteristikum der chin. Druck-
Duktus dieser „jetzigen Kurialschrift“ gehal- schrift war es immer gewesen, die Zeichen
ten. steil zu stellen, kursive Duktus im modernen
Sinne hatten gefehlt. Erst 1916 gestalteten
2.7. Normschrift Dīng Fǔzhī und Dīng
Durch endgültige Begra- Shànzhī aus den von ihnen gesammelten For-
digung der noch etwas men der Sòng-Blockdrucke einen etwas nach
geschwungenen Linien rechts oben geneigten Duktus fǎng-
der Hàn-zeitlichen Sòng-tǐ „nachempfundener Sòng-Duktus“
Kurialschrift entstand (die Bezeichnung ist in modernen Kurzzei-
Ende der Hàn-Zeit (Ende chen in diesem Duktus geschrieben), der in
2./Anfang 3. Jh. n. Chr.) gewissem Sinne als Auszeichnungsschrift
ein Duktus, der schließ- dient.
lich bis heute die Die Beispiele am Anfang des Abschnitts
Normalform der chin. zeigen von oben nach unten den „Wagen“ in
Zeichen ergeben hat. Die magerer Druckschrift, fetter Druckschrift und
heutige Bezeichnung Standard-Schreibschrift.
ka ä ishü ū “Normschrift”
26.  Die chinesische Schrift 357

ner besonderen Erwähnung, daß es auch in


China eine xíngshū „Handschrift“
(manchmal auch „Halbkursive“ genannt)
gibt. Sie ist zeitgleich mit der Normschrift
entstanden und seit dieser Zeit bis heute un-
verändert in Gebrauch. Sie verdankt ihre Ent-
stehung dem angesprochenen Zeitproblem,
denn wer sich beim etwas schnelleren Schrei-
ben nicht mehr die Zeit nimmt, den Pinsel bei
jedem einzelnen Strich gut vom Beschreibstoff
abzuheben, läuft Gefahr, daß der Pinsel die
Spur vom Ende des einen bis zum Anfang des
anderen Strichs sichtbar nachzeichnet. Bei der
Handschrift sind also zwar Form und Strich-
folge der Normschrift beibehalten worden,
die einzelnen Striche eines Zeichens werden
aber, ab und zu unter Einfügung von kleinen,
verbindenden Kreischen, untereinander ver-
bunden. Da sich auch Kürzungen im großen
und ganzen im Rahmen halten, ist die Les-
barkeit kaum beeinträchtigt. Als Kurrent-
schrift ist sie die Schrift des täglichen Lebens.
Im Gegensatz zur Konzeptschrift (s. 2.9.) wer-
den mehrere Zeichen nur selten untereinander
verbunden. Enthält die Handschrift mehr
Norm- als Konzeptschriftelelemente, nähert
sie sich also der Normschrift, bezeichnet
man sie als xíngkǎi „Norm- (mit)
Hand(schriftelementen)“, besteht sie mehr
aus Konzept- als aus Normschriftelementen,
nennt man sie xíngcǎo „Konzept- (mit)
Hand(schriftelementen)“. Am Anfang des
Abschnitts steht wiederum der „Wagen“ als
Beispiel, vgl. auch Abb. 26.5.

2.9. Konzeptschrift
Selbst die Handschrift
war von Anfang an für
Abb. 26.5: Das Schriftzeichen chì „Kaiserliches manche noch nicht
Edikt“, geschrieben vom Táng-Kaiser Tài Zōng schnell genug, so daß be-
(599—649, reg. 626—649). (Aus „Shodō Zenshū I, reits Anfang der Hàn-
Bd. 5, S. 104, Tōkyō 1930). Zeit (3./2. Jh. v. Chr.) un-
mittelbar aus der
2.8. Handschrift xiǎo-zhuàn „kleinen Sie-
Schön geschriebene gelschrift“ über das Zwi-
kǎishū „Normschrift“ schenstadium der
braucht zum Geschrie- cǎolì „verkürzten Kurial-
bensein ihre Zeit, ver- schrift“ eine bequeme
bunden mit sehr hoher und schnelle Schrift ent-
geistiger Konzentration, stand, die den Erforder-
denn ein flüchtig hinge- nissen des täglichen Lebens in etwa entsprach.
worfenes Schriftzeichen hat schon nicht mehr Sie wird bis heute ununterbrochen nicht nur
ganz die Proportionen, die der strenge Kanon für Notizen flüchtiger Natur und als integra-
fordert. Auch früher hat nicht jeder die Muße ler Bestandteil der xingshū „Hand-
dazu gehabt. U nd so bedarf es eigentlich kei- schrift“ für kompliziertere Zeichen, sondern
auch als Schrift künstlerischen Wertes in der
Kalligraphie verwendet. Die Konzeptschrift
358 III. Schriftgeschichte

ist gekennzeichnet durch außerordentlich an den nach rechts unten auslaufenden Stri-
starke Verkürzungen und Verschleifungen der chen, die Zeichen selbst sind aber noch nicht
einzelnen Striche eines Zeichens, wozu noch untereinander verbunden. — Eine Weiterent-
sehr starke individuelle Abweichungen von wicklung mit geringfügigen Veränderungen
der Normschrift kǎishū sowohl in Form zeigt die jīncǎo „jetzige Konzeptschrift“,
als auch in Strichfolge hinzukommen. Die die in der Zeit der 6 Dynastien liùcháo
Möglichkeit, Zeichen untereinander zu ver- (222—589) diese Bezeichnung zur U nterschei-
binden, wird ausgiebig genutzt. Der Duktus dung von der „Eingaben-Konzeptschrift“ er-
der Konzeptschrift mußte so notwendiger- hielt. Sie soll bereits von dem Kalligraphen
weise zu einer immensen Anzahl von Homo- Zhäng Zhī (?—ca. 192 n. Chr.) verwen-
graphen führen, die die Lesung z. T. erheblich det worden sein (Wáng 1982, 573), hat keine
erschweren bzw. manchmal sogar unmöglich Aufstriche mehr an den nach unten rechts
machen, wenn etwa der Kontext unbekannt auslaufenden Strichen und Verbindungen von
ist. Einige Formen der Konzeptschrift sind 2 untereinander stehenden Zeichen sind häu-
bei den Schriftreformen in Japan (16. 11. fig. Willkürlicher Ersatz von Radikalen und
1946) und der VRC (1952—1977) in die of- Phonetika durch andere beeinträchtigt die
fizielle Schrift übernommen worden, wie z. B. Lesbarkeit stark, so daß sie keine weite Ver-
yǔ „und, mit“ (Normschrift) > (Japan) breitung erlangte. — Die ungezügeltste Form
> (VRC) < (Konzeptschrift). der Konzeptschrift, kuángcǎo „exzen-
Die chin. Bezeichnung der Konzeptschrift trische (wörtl.: verrückte) Konzeptschrift“,
cǎoshū hat bei der Wiedergabe dieses soll ebenfalls auf Zhäng Zhī zurückgehen,
Begriffes in europäischen Sprachen fast noch wurde aber wahrscheinlich von dem Kalligra-
bis heute für erhebliches Durcheinander ge- phen Zhāng Xù der Táng-Zeit
sorgt, weil das Zeichen cǎo u. a. auch (618—907) gestaltet und erhielt ihren Namen
„Gras“ bedeutet, und man im Zusammen- von dem Kalligraphen Huái Sù (725?—
hang mit der immer so gern apostrophierten 785?). Ihre Besonderheit liegt in der Verbin-
‘Blumigkeit’ der chin. Sprache der Vorstellung dung und Verschleifung der einzelnen Striche
huldigte, die Konzeptschrift sei das Bild sich untereinander, so daß die Zeichen fast alle in
im Winde wiegender Gräser. Ihre europäische einem einzigen Pinselzug geschrieben werden
Benennung ‘Grasschrift’ leitet sich hieraus ab, und sogar Aufwärtsstriche in extremer Weise
muß aber in zweifacher Hinsicht einer Kor- miteinander verbunden werden können. Die
rektur unterzogen werden. Einmal ist die ur- U nterscheidbarkeit der Zeichen litt dadurch
sprüngliche Bedeutung des Zeichens cǎo so stark, daß die Lesbarkeit außerordentlich
‘U nkraut’, woraus eine Reihe von im Chin. eingeschränkt bis unmöglich war und oft nur
normalen Bedeutungserweiterungen abgelei- aus dem Kontext heraus sinngemäß zu er-
tet ist, und zwar über ‘beunkrautet’, ‘noch schließen ist. Trotzdem hat diese Ausprägung
nicht vom U nkraut befreit’ zu ‘noch unge- der Konzeptschrift eine sehr starke künstle-
ordnet’ und von da direkt erweitert zu ‘(noch rische Komponente, die sie dazu prädesti-
ungeordneter) Entwurf, Konzept, Manu- nierte, eine der Hauptrichtungen der Kalli-
skript’. Zum zweiten hat wohl noch nie ein graphie zu werden. Was die Verbindung der
Chinese auch nur einen Gedanken daran ver- Zeichen in der Zeile anlangt, so gehen große,
schwendet, er schreibe eine „U nkrautschrift“, kleine, schräge und gerade Zeichen ungezü-
denn die Bedeutung ‘Konzept’ ist für cǎo fest gelt durcheinander, fließen ineinander über
etabliert. und vermitteln den Eindruck, als ob ganze
Gegen Ende der Hàn-Zeit (2. — Anfang Sätze in einem Zug geschrieben worden wä-
3. Jh. n. Chr.) war der verhältnismäßig ein- ren. Es sollte dabei nicht außer Acht gelassen
fach zu schreibende Duktus der Konzept- werden, daß diese exzentrische Konzeptschrift
schrift weit verbreitet und sogar in Eingaben gar nicht langsam geschrieben werden kann,
an den Kaiser zhāngzòu verwendet wor- denn über den nächsten Strich erst nachzu-
den, so daß sie mit der Bezeichnung denken, bringt den Schreiber der Konzept-
zhāngcǎo „Eingaben-Konzept(schrift)“ belegt schrift durchaus aus dem Konzept.
wurde. Eine andere Meinung leitet die Be-
zeichnung daraus ab, daß Kaiser Zhāng 2.10. Varia
der Hàn-Dynastie (reg. 76—88 n. Chr.) An speziellen Schriftarten neben den bisher
eine besondere Vorliebe für diese Art der behandelten sind zu nennen:
Konzeptschrift gehabt habe. Der Duktus — Fette Schrift
hatte noch wie vorher die kleinen Aufstriche
Als Auszeichnungsschrift wird heute in
26.  Die chinesische Schrift 359

Druckerzeugnissen für Überschriften, Her- Pinselspitze erreicht wird. Bequem zu schrei-


vorhebungen usw. unter den Bezeichnungen ben, ist ihre Wirkung kräftig, robust und auf-
hēitǐ-zì „Zeichen in schwarzem Duk- fällig, aber dabei auch lebendig, was sie zu
tus“, cūtǐ-zì „Zeichen in grobem einer gerne verwendeten Schriftart werden
Duktus“ oder fāngtóu-zì „Zeichen ließ. Sie eignet sich sehr gut für breite Über-
mit quadratischem Kopf“ eine Art Grotesk- schriften, weshalb sie in jüngster Zeit ein be-
schrift verwendet, bei der die Striche gleich- vorzugtes Darstellungsmittel für die Themen
mäßig dick, gewichtig, gut erkennbar, dabei in den Wandzeitungen war, in denen sich die
aber auch ästhetisch sind. „Kulturrevolution“ ausgetobt hatte.
— Raster-Schrift — Der Yán-Liǔ-Stil
U m bei den Steininschriften einen Rahmen Hierbei handelt es sich um einen besonders
zur Erzielung eines ebenmäßigen Aussehens kräftigen, von den beiden Kalligraphen der
der Schrift zu gewährleisten, zeichnete man Tang-Zeit Yán Zhēnqīng (709—
ein quadratisches Raster bòkē auf den 785) und Liǔ Gōngquán (778—
zu beschreibenden Stein. Der Ausdruck 865) entwickelten Stil, der auch als Yán-
wurde dann später allgemein auf große Zei- zì oder Yán-tǐ bzw. Liǔ-zì oder
chen überhaupt übertragen. Liǔ-tǐ „Yán-Zeichen/-duktus“ bzw.
— „Weiß flatternde“ Schrift Liǔ-Zeichen/-duktus“, manchmal auch als
Als Schöpfer dieses besonderen Duktus wird Yán-jīn-Liǔ-gǔ „Fleisch (stammt
der Kalligraph Cài Yōng (132—192 von) Yán, die Knochen (von) Liǔ“ bezeichnet
n. Chr.) genannt, der auf dem Weg zum Kai- wird.
serpalast durch die Kaiserliche Bibliothek — Der Shòujīn-shū/
kam, die gerade renoviert wurde. Er sah den Shòujīn-tǐ Shòujīn-Stil
Arbeitern beim Kehren mit dem Besen zu und Der als Kalligraph ebenso wie als Maler gleich
bemerkte, daß seine Borsten parallele Linien berühmte Kaiser Huīzōng der Nördli-
im Staub hinterließen, die sich seiner Ansicht chen Sòng Běi-Sòng-Dynastie (1082—
nach gut für die Ausschmückung von Schrift-
zeichen verwenden ließen. Er besorgte sich 1135; reg. 1100—1125) nahm sich an dem
Kalligraphen ( ) Xuē Yào (Xuē
einen richtig kratzbürstigen Pinsel und fing
an, Zeichen zu schreiben, deren Striche bei Jì) (649—713) ein Vorbild, gestaltete aber des-
kräftigem Aufdrücken des Pinsels breit und sen Striche viel kräftiger, wie es sich eben für
schwarz, bei leichtem Hingleiten aber so aus- einen ordentlichen Kaiser gehört. Der Stil er-
sahen, als ob sie aus mehreren Parallelstrichen hielt seinen Namen vom Kaiser selbst.
bestünden, deren Enden dann auch noch Ver-
zierungen der verschiedensten Art aufzuwei- 2.11. Zierschriften ( zhuàn)
sen hatten. Ihre Bezeichnung fēi- Bei der Ausgestaltung von Schriften für
bái(-shū) leitet sich daraus ab, daß ihre Stri- Zwecke von Verzierungen im weitesten Sinne
che wie „weiße“ (bái) Bänder aussehen, die des Wortes sind der menschlichen Phantasie
im Winde „flattern“ (fēi). Sie war für plaka- kaum irgendwelche Grenzen gesetzt. Die
tive Aufschriften sehr beliebt und ist auch prachtvollen Handschriften des Mittelalters
heute noch nicht aus dem kalligraphischen mit ihren Initialen, die kunstvollen Qur‛ān-
Repertoire geschwunden. Abschriften von arabischer Hand oder ein
— Der Inschriftenduktus der Wèi-Zeit hebräisches Altes Testament mit Buchstaben,
in deren Strichen Tierfiguren hineingemalt
Dieser eckige, steife, ungeschlachte und eigen- sind, legen Zeugnis davon ab, daß man zu
willige Duktus wurde insbesondere gerne für allen Zeiten und überall, wo überhaupt ge-
Steininschriften der Nördlichen Wèi-Dynastie schrieben wurde, bestrebt war, die Schrift
(386—534) Běi-Wèi gebraucht, was auch als Zierde zu verwenden. Wieviel stärker
auch Anlaß für die Benennung als Wèi- muß dieser Impetus in einem Kulturkreis ge-
bēi „Steininschriften der Wèi(-Zeit)“ war. wesen sein, dessen Schrift den Charakter der
— Die Neue Wèi-Schrift Xīn-Wèi- Bildhaftigkeit niemals aufgegeben hat und die
shū deshalb geradezu dazu prädestiniert war, in
Aus diesem Inschriftenduktus der Nördlichen allen nur erdenklichen Formen ausge-
Wèi-Dynastie hat sich ein klobiger, fester, da- schmückt zu werden. Stary (1980, 3) spricht
bei aber zurückhaltender Schreibstil entwik- von 150 Zierschriften des Chinesischen, in-
kelt, der heute durch starken Druck auf die dem er Pfizmaier mit seiner Aufzählung von
100 namentlichen genannten Schriften zitiert.
360 III. Schriftgeschichte

Abb. 26.6: Das Schriftzeichen shòu „langes Leben“ in 100 verschiedenen Zierschriften. (Aus Yāng Zōngkui:
Zhōng-yīng wénzìtǐ shèjì jìfǎ“, S. 149, Táiběi o. J.).
26.  Die chinesische Schrift 361

Abb. 26.7: Das Schriftzeichen fú „Glück“ in 100 verschiedenen Zierschriften. (Aus Yāng Zōngkuí: Zhōng-
yīng wénzìtǐ shèjì jìfă“, S. 148, Táiběi o. J.).
362 III. Schriftgeschichte

Ein 1881 in China publiziertes Werk von chen allgemein anerkannt, verzichtet bis heute
Sūn Zhīxiù, das 1984 in Japan nach- kein ostasiatisches Zeichenlexikon bei der Er-
gedruckt worden ist, enthält 130 Zierschriften läuterung der Zeichen auf diese Einteilung in
mit einem Beispiel für jede einzelne. Früher 6 Gruppen. Gewiß mag es in einzelnen Fällen
für Banneraufschriften, Siegel und Halbsiegel, Auffassungssache sein, ein bestimmtes Zei-
Waffeninschriften usw. verwendet, kommen chen einer bestimmten Gruppe zuzuordnen,
sie heute zwar seltener vor, aber ganz ausge- das Prinzip als solches ist aber nie in Frage
storben sind sie nicht. Ihre allgemeine Be- gestellt worden. Die 6 Gruppen von Schrift-
zeichnung zhuàn — eigentlich ja der Ausdruck zeichen lassen sich in 2 U ntergruppen eintei-
für die Siegelschrift — leitet sich daraus ab, len, die sich danach richten, ob das betref-
daß Zierschriften in großer Zahl in der fende Zeichen mehr in seiner graphischen Zu-
Hàn-Zeit (206 v. Chr.—220 n. Chr.) aufge- sammensetzung oder aber in seiner inhaltlich-
kommen waren, in der die Siegelschrift die semantischen Verwendung betrachtet wird.
täglich verwendete Gebrauchsschrift gewesen Selbstverständlich ist reichlich Raum für
war. Als Ersatz für die hier unmögliche Dar- Überschneidungen.
stellung aller 130 Zierschriften sei eine Abbil-
dung vorgestellt, die die beiden Schriftzeichen 3.1. Graphische Zusammensetzung der
fú ‘Glück’ und shòu ‘langes Leben’ in Zeichen ( gòuchéng)
je 100 verschiedenen Zierschriften enthält
(Yáng Zōngkuí o. J., 148 f) (vgl. Abb. 26.6 u. Im Vordergrund der Betrachtung steht die
26.7). Komposition und der bildliche Aufbau eines
Zeichens einschließlich etwaiger phonetischer
Andeutungen oder Symbolik.
3. Der Aufbau der
chinesischen Schriftzeichen 3.1.1. Ursprüngliche Bilder
( xiàngxíng )
Im Gegensatz zu den meisten anderen Schrif-
ten ist die Systematik der chinesischen Schrift- In der chin. Schrift sind ursprüngliche Bilder
zeichen nicht einfach zu beschreiben, denn nur am Beginn der Schriftentwicklung ent-
schon die Menge der verschiedenen Schrift- standen, als die Konturen der darzustellenden
zeichen — 50 294 enthält das größte Zeichen- Gegenstände noch nicht dem Zwang zur Ab-
lexikon (Morohashi 2 1984—86 und Suzuki straktion unterworfen waren. Später neu ge-
1986) — stand und steht einem einfachen schaffene Zeichen gehorchten anderen Kon-
Überblick im Wege. Ältere, den Bildern noch struktionsprinzipien, als sie die ursprüngli-
etwas näher stehende Schriftzeichenformen chen Bilder verlangten. Der Bestand der chin.
haben mit dazu beigetragen, daß die Erinne- Schrift an ursprünglichen Bildern wird mit
rung an diese Bilder nicht verloren ging und, 608 angegeben (Gabelentz 1881, 47), woran
was vielleicht genauso wichtig ist, daß das sich auch bis heute nur wenig geändert haben
Memorieren eben durch die enge Verbindung dürfte. Als Beispiele mögen dienen:
zu einem Bild bis zu einem gewissen Grade (1) > k‛âG 2 > kǒu „Mund“ (Konturen
erleichtert worden ist. In dem den Staatsauf- von Ober- und Unterlippe);
bau des Zhōu-Reiches (11. Jh.—256 (2) > śiǝG 2 > shǒu „Hand“ (Strich-
v. Chr.) schildernden Werk Zhōu-lǐ „Die zeichnung einer Hand mit 5 Fingern);
Riten der Zhōu“, das wahrscheinlich während (3) > ńet 21 > rì „Sonne“ (Sonnenrund
der sog. „Zeit der Streitenden Reiche“
mit betonendem Punkt in der Mitte).
Zhànguó (475—221 v. Chr.) kompiliert wor-
den ist, wird in Bd. IV, S. 7 v, ein Ausdruck 3.1.2. Symbolische Bilder ( zhǐshì )
liù shū verwendet, was wörtlich die „6
Schriften“ i. S. v. die „6 Arten/Gruppen von Reine Symbole oder geringfügige graphische
Schriftzeichen“ bedeutet. Da diese Bezeich- Veränderungen an ursprünglichen Bildern so-
nung in der erhaltenen Literatur hier zum wie auf den Kopf gestellte oder rechts-links-
ersten Mal erscheint, darf man also die Zeit verkehrte Zeichen können Darstellungsmittel
der Abfassung des Zhōu-lǐ als term inus a quo für Begriffe werden, deren konkludente
für die Etablierung des Ausdrucks ansehen. Zeichnung Schwierigkeiten bereitet. Inhalt-
Durch das 100 n. Chr. erschienene Zeichen- lich bestimmt werden sie durch eine durch
lexikon Shuōwén-jiězì (enthält Konvention festgelegte Interpretation, die wie
9353 Zeichen) von Xǔ Shèn (ca. 58—ca. bei den heutigen Verkehrszeichen sogar als
147) als Konstruktionsprinzip der chin. Zei- Ge- oder Verbot rechtlichen Charakter an-
26.  Die chinesische Schrift 363

nehmen kann. Symbole dieser Art sind aber (10) > t‛uǝt > tú „(Sturz)geburt“
auch im privateren Bereich heutzutage durch- (das Zeichen > tsǝg 2 > zǐ„Kind“
aus nicht selten, wenn z. B. vor einer Zahl
auf den Kopf gestellt, um die anormale
steht oder wenn man an die zahlreichen Sym- Situation eines partus praecipitatus dar-
bole auf internationalen Flughäfen denkt. Die zustellen);
Anzahl der symbolischen Bilder ist in der (11)
chin. Schrift mit 107 (Gabelentz 1881, 47) > teG 2 > diǎo „abwickeln/aus-
verhältnismäßig gering. Es treten folgende wickeln → herunterhängen“ (der abge-
Fälle auf: wickelten Binden) (das Zeichen >
leG 2 > liǎo „(mit Binden einwickeln →
3.1.2.1 Reine Symbole (kein chin . terminus (ein Kind) fertig wickeln) → zu Ende
technicus vorhanden) führen/fertig sein auf den Kopf ge-
stellt)“;
Hierzu zählen vor allem die mit den Zahl- (12) np > ná „tief herunterhängen“ (das
wörtern identischen Ziffern (Menninger 2 1958 Zeichen · æp > āo; wā „Vertiefung“
Bd. II, 275) von 1 bis 4 als Strichelemente auf den Kopf gestellt, um den angege-
allgemeiner Gültigkeit sowie einige andere benen Begriff zum Ausdruck zu brin-
Zeichen, z. B.: gen).
(4) > sǝm 1 > sān „drei“ (3 Striche als
Symbol für die Zahl); 3.1.2.4. Rechts-links verkehrte Zeichen (kein
(5) über > źâng 2 > shǎng/shàng chin. terminus technicus vorhanden)
„Oberseite“ (Punkt über einer Basis); In der chin. Schrift ist schließlich noch das
(6) über > yag 2 > xià „Unterseite“ Mittel verwendet worden, vorhandene Zei-
(Punkt unter einer Basis). chen seitenverkehrt darzustellen, um einen ge-
genteiligen Begriff zum Ausdruck zu bringen.
3.1.2.2 Graphische Veränderungen (kein (13) > p‛uǝr 2 > pǒ „nicht können“
chin. terminus technicus vorhanden) (das Zeichen > k‛âr > kě „kön-
Der Ideen- und Gestaltungsreichtum der chin. nen“ umgedreht, um das Gegenteil aus-
Schrift hat manchmal einen einfachen Punkt zudrücken);
dazu verwendet, um auf einen bestimmten (14) > yâG 2 > hòu „Beamter im In-
Teil und damit einen beabsichtigten Sinnin-
halt eines Zeichens hinzuweisen: nendienst“ (das Zeichen > sǝg 1
(7) > mât > mò „Ende“ (Betonung > sī „Beamter im Außendienst“ umge-
dreht);
des oberen Teils eines Baumes: geht nicht (15) > śed 1 > shī „Leichnam“ (das
mehr weiter, Schluß):
(8) > md 3 > wèi „noch nicht“ (Be- Zeichen > nen 1 > rén
tonung des mittleren Teils eines Baumes: „Mensch“ seitenverkehrt geschrieben)
die Spitze ist noch nicht erreicht); Bei > pǝk > běi scheinen zwar beide
(9) > pǝn 2 > běn „Wurzel → Ur- Komponenten im selben Zeichen nebenein-
sprung“ (Betonung des unteren Teils eines ander zu stehen, aber hier sind 2 Rücken an
Baumes: Wurzeln und daraus unmittelbar Rücken stehende Menschen dargestellt (s. u.
abgeleitete Bedeutungserweiterungen). Beispiel 18).
3.1.2.3. Auf den Kopf gestellte Zeichen 3.1.3. Zusammengesetzte Bilder ( huìyì )
(kein chin. terminus technicus
vorhanden) Zusammensetzungen aus ursprünglichen und/
oder symbolischen Bildern zur Darstellung
In einigen Fällen haben die chin. Zeichen zu eines Sinninhalts sind verhältnismäßig häufig.
dem Mittel gegriffen, die Zeichen auf den U nabhängig von der Aussprache des darzu-
Kopf zu stellen, um besondere Gedankenin- stellenden Wortes sollen diese Zusammenset-
halte zum Ausdruck zu bringen, die z. T. das zungen Inhalte in der Art eines Bilderrätsels
Gegenteil von dem beinhalten können, was wiedergeben, wobei die Zusammenstellung
das nicht auf den Kopf gestellt Zeichen be- der Bestandteile gleichzeitig aber auch Hin-
deutet(e). Naturgemäß mußte sich die Anzahl weise auf die Bedeutung des Zeichens im wei-
solcher Zeichen in Grenzen halten, und auch testen Rahmen des Wortes geben soll. In nicht
zu Neubildungen ist es nicht mehr gekommen. wenigen Fällen kann ein Bestandteil zudem
Aus dem Schriftbild des modernen Chinesisch auch Andeutungen der Aussprache enthalten,
sind sie gänzlich geschwunden. so daß der Übergang zur nächsten Gruppe
(s. u. 3.1.4.) manchmal fließend sein kann.
364 III. Schriftgeschichte

(16) > (< + ) sen 3 > xìn „Ver- Zeichen bīng „Waffe/Soldat“, das alleine
trauen“ (‘Mensch’ + ‘Wort’ (ein Mann, der Aussprache wegen für die barbarische
ein Wort! )); Amputation herhalten mußte, bei der einem
(17) > (< + ) mang 1 > míng Soldaten einmal das rechte und dann das
linke Bein ausgerissen wurde. — Schon vor
„hell, klar“ (‘Sonne’ + ‘Mond’); den Versuchen, die Hochsprache von Běijīng
(18) > (< + ) pѷk > běi „sich (Peking) als Standardlautung in der VRC
abwenden“ , infolge spä- durchzusetzen, hat es einige Fälle gegeben, in
terer Ersetzung durch pǝg 3 > bèi frei denen Wörter eines Dialekts in Schriftzeichen
umgesetzt werden mußten, obwohl sonst Dia-
geworden für die Bedeutung „Norden“ lekten die Gunst der Schreibbarkeit versagt
(2 sich den Rücken zukehrende Men- worden war (s. u. 4.3.2.). Dem positiven Verb
schen); yǒu „vorhanden sein“ steht im nord-chin.
(19) > > b‛âg 3 > bù „zu Fuß ge- Sprachbereich normalerweise die negative
hen“ (2 voreinander gesetzte, schreitende Entsprechung m éi yǒu „nicht vorhan-
Füße); den sein“ gegenüber. Die südchin. Dialekte
(20) > t‛uѷn 2 > chuǎn „sich abwen- haben daraus eine Allegroform mǎo gebildet,
den“ (2 voneinander abgewandte Füße); für die nun ein Schriftzeichen gefunden wer-
(21) > γaN 1 > xiáng „herunterstei- den mußte, denn m éi yöu wird mit 2 Zeichen
gen“ (2 nach unten gerichtete Füße). geschrieben und muß daher selbst in kanto-
nes. Aussprache mut 9 ju 5 zweisilbig gespro-
Hierher gehören auch alle diejenigen Zeichen, chen und gelesen werden. Der Ideenreichtum
die aus 2—8facher Wiederholung des Grund- der Schreiber von Bilderschriften, die sich die-
zeichens bestehen, worunter die 2- und 3fach- ser Tatsache bewußt sind, scheint, gepaart mit
Wiederholungen weitaus im Vordergrund ste- einem gehörigen Schuß Spieltrieb, fast uner-
hen. schöpflich gewesen zu sein. Wer auf den Ge-
(22) nen > rén „Mensch“; danken kam, an dem Zeichen yǎu etwas
dz‛âN 1 > cóng „folgen“ (2 Men- wegzulassen, um zum Ausdruck zu bringen,
schen hintereinander); daß etwas nicht vorhanden ist, ist heute nicht
ngǝm 1 > yín „Menschenansamm- mehr festzustellen, das Zeichen mǎo „nicht
lung“ (3 Menschen zusammen; heute vorhanden sein“ auf jeden Fall existiert und
als Abkürzung für iѷN > zhòng garantiert durch das Nichtvorhandensein der
„viele, alle, die Massen“ verwendet; beiden kleinen Querstriche = das Nichtvor-
(23) handensein. — Mit 740 Zeichen ist diese
nâg 2 > nǚ „Frau“; Gruppe die zweitstärkste bei der Zeichenbil-
kεG 2 > jiǎo „schön“ (2 Frauen über- dung der chin. Zeichen (Gabelentz 1881, 47).
einander);
nuan 1 > (2 Frauen 3.1.4. Determinativphonetika
( xíngshēng oder xiéshēng )
nebeneinander);
kan 1 > jiān „ungeordnetes Gedrän- Determinativphonetika sind die Zusammen-
gel“ → „(Stimmen) durcheinander → setzungen aus einem auf den Sinninhalt/Ge-
„moralisches Durcheinander“ → „Ehe- dankenbereich als Determinativum und
bruch“ (3 Frauen zusammen). einem auf die Aussprache (Lesung) als Pho-
netikum hinweisenden Bestandteil innerhalb
Zu diesen Mehrfachzusammensetzungen ge- ein und desselben Zeichens. Die Einsilbigkeit
hört auch das mit 64 Strichen strichreichste der chin. Sprache hatte zusammen mit der
Zeichen jié „geschwätzig sein“, das aus 4 zunehmenden Tendenz zu lautlicher Verein-
lóng „Drachen“ zusammengesetzt ist, aber fachung (Beseitigung von Konsonantenclu-
heute nicht mehr verwendet wird. — Schließ- stern im Anlaut, Reduzierung der Medialvo-
lich gehören in diese Gruppe auch noch einige kale auf /-i-/ und/oder /-u-/ zur Palatalisie-
wenige Neubildungen, die aus verschiedenen rung und/oder Labialisierung sowie Abfall
Gründen notwendig geworden waren, wie die der Auslautkonsonanten im nord-chin. Be-
beiden um 1900 herum bei Bekanntwerden reich) bereits vor ca. 2000 Jahren zu einer
dieser Sportart aufgekommenen und heute als weitgehenden Homophonisierung geführt, so
normal akzeptierten Zeichen pīng und daß es im schriftlichen Bereich zwangsläufig
pāng zur Darstellung des engl. Wortes ping- zu Mißverständnissen führen mußte, wenn ein
pong „Tischtennis“. Ausgangspunkt war das und dasselbe Zeichen für mehrere voneinan-
der abweichende Bedeutungen gebraucht wer-
26.  Die chinesische Schrift 365

den mußte, da Differenzierungsmöglichkeiten Prä-, In- und Suffixen usw. keine U mwege
graphischer Art nicht vorhanden waren. Zwar dieser Art zu beschreiten, da Mißverständ-
entschied wohl der Kontext bis zu einem ge- nisse praktisch ausgeschlossen sind. Wollte
wissen Grade über die konkrete Einzelbedeu- man mit einem deutschen Wort in der Weise
tung, doch mußte es zwangsläufig bei fort- zu spielen versuchen, müßte man zunächst
schreitender Nuancierung der Sprache zu einmal ohne Rücksicht auf die tatsächliche,
U nzulänglichkeiten kommen, wenn z. B. das bereits differenzierende Orthographie einen
Zeichen uǝd 1 > zhuī „kurzschwänziger rein phonetisch geschriebenen Lautkomplex
Vogel“ für die bislang schriftlich nicht fixier- etwa der Form [ve:] heraussuchen und dann
baren Sinninhalte {denken/ja/dieser/ (zusam- nach Möglichkeiten Ausschau halten, wie Be-
men) mit/nur/obwohl/wer?/Schnur/mitein- deutungsunterschiede dargestellt werden kön-
ander verbinden/Vorhang/verdecken/fragen/ nen, z. B. : Gedankenbereich (die) Wehr
machen/werden} verwendet werden mußte, „Waffen“; : Gedankenbereich ( das ) Wehr
deren Aussprache identisch oder fast iden- „Aufgestautes“; : Gedankenbereich wer ?
tisch war, für die es aber noch keine adäqua- “ Mensch “.
te schriftliche Darstellungsmöglichkeit gab. In der chin. Schrift gibt es fast kein Sim-
Hier bot es sich geradezu an, das vorhandene plex, das nicht mit einem Radikal zu einer
Bildmaterial derart einzusetzen, daß man das Gruppe von Determinativphonetika zusam-
vorgegebene Wort einer durch ein solches Bild mengesetzt worden wäre. Wieviele solcher
darstellbaren Gedankenkategorie zuordnete Reihen es tatsächlich gibt, hängt z. T. von den
und beides so miteinander kombinierte, daß Auffassungen der Lexikonkompilatoren ab,
der Leser mit Hilfe des Aussprachebestand- inwieweit sie Faktoren wie z. B. unterschied-
teils auf das gemeinte Wort in seiner lautli- liche Aussprache oder graphische Abweichun-
chen Gestalt und mit Hilfe des Gedanken- gen für berücksichtigenswert halten oder
kategoriebestandteils auf die beabsichtigte nicht. Ein Lexikon (Callery 1841) listet 1040
Eingrenzung des Sinninhalts hingewiesen auf, ein anderes (Fenn 5 1940) zählt 888. Wä-
werden konnte. Der für den Gedankenbereich ren alle 214 Radikale mit den erstgenannten
verwendete Teil des Zeichens wird konventio- 1040 Phonetika verbunden, ergäben sich
nell mit dem Ausdruck bùshǒu (wörtl.) 222 560 Möglichkeiten; für Neuschöpfungen
„Klassenhaupt“ (ältere Bezeichnung), „Klas- ist also noch genügend Raum.
senzeichen“ oder „Radikal“ (heutige Benen- Die als Phonetika verwendeten Zeichen
nungen) bezeichnet. Die Verwendung solcher haben selbstverständlich als Simplex eine be-
Radikale in einem wortdifferenzierenden Sinn stimmte Bedeutung, die sie in der Zusammen-
kam zwar vereinzelt bereits bei den Knochen- setzung als Determinativphonetikum natür-
inschriften vor, weitete sich aber erst in den lich auf dem Altar der Lautung opfern muß-
400 Jahren um die Zeitenwende herum zu dem ten. Es scheint aber in einer Reihe von Fällen
Ausmaß aus, das das Wesen der chin. Schrift — U ntersuchungen darüber sind noch nicht
heute ausmacht. Dieses geniale Hilfsmittel hat angestellt worden — dennoch so zu sein, daß
der chin. Schrift einmal die Funktionalität zum mindesten ein gewisser Teil der Grund-
gegeben, ohne die eine Gebrauchsschrift nicht bedeutung des Simplex in die Reihe der Deter-
existenzfähig ist, zum andern aber auch die minativphonetika mit eingeflossen ist, die mit
Zeichenanzahl beschert, die jedem einen ge- dem betreffenden Simplex als Phonetikum ge-
linden Schrecken einjagt, der zum ersten Mal bildet worden ist. Das Zeichen > ted 1
von ihr hört. Ganz genau weiß es ja niemand, > dī stellt vermutlich einen auf dem Boden
denn das bisher umfangreichste Zeichenlexi- kauernden Menschen dar, der einen zu schlei-
kon (Morohashi 2 1984—86) hat mit seinen fenden Gegenstand auf einen Wetzstein
50 294 Zeichen noch längst nicht alles erfaßt, drückt. Aus dieser Grundbedeutung leiten
was tatsächlich existiert; es fehlen vor allem sich unmittelbar Gedankeninhalte ab wie
die in die Tausende gehenden Varianten, die ‘niederkauern’, ‘niedrig’, ‘(herunter)drücken’,
Sonderzeichen für die chin. Dialekte, die be- ‘sich entgegenstemmen’ u. ä. In der folgenden
sonderen Zeichen für den chemisch-naturwis- Tabelle 26.2 eigener Zusammenstellung aus
senschaftlichen Bereich, die viet. Zeichen und Morohashi 2 1984—86 sind alle Zeichen auf-
noch einige kleinere Gruppen. Die Gesamt- geführt, in denen als Phonetikum vor-
zahl dürfte damit vermutlich über 70 000 lie-
gen. lb/> kommt, selbst wenn die Aussprache vom Sim-
Polysyllabische Sprachen brauchen auf-
grund ihrer vielfachen differenzierenden plex abweicht. Bei der Bedeutung ist soweit
Möglichkeiten wie Deklination, Konjugation,
366 III. Schriftgeschichte

möglich eine Verbindung zur Grundbedeu-


Vorderzungenvokale  ε e
tung hergestellt und besonders hervorgeho-
Mittelzungenvokale ǝ ɐ ӛ
ben worden (die U nregelmäßigkeiten werden
/a/-Laute â æ a  ä
im Anschluß an die Tabelle erläutert, soweit
sie für das Verständnis von grundlegender Der Hauptvokal der Grundlesung in der
Bedeutung sind). Übersicht ist also der geschlossene Vorder-
Von den 68 Zeichen dieser Übersicht mit zungenvokal /e/, der nur bei Nr. 29 041 zu
ihren 73 Lesungen (5 unterschiedliche Zwei- dem Mittelzungenvokal /ǝ/ und bei Nr. 46 806
fachlesungen sind darunter) entsprechen 48 zu dem sehr offenen /a/-Laut /æ/ abgewandelt
(= 65,75%) der Grundlesung . Für die worden ist.
abweichenden Lesungen können 2 Gründe Im Auslaut waren vertreten:
verantwortlich gemacht werden: einmal der
Labiale p b m
Zusammenfall ehemals differenzierter Strich-
Dentale t d n r
anordnungen zu einer einzigen, jetzt da-
Gutturale k g ng
her homographen Darstellung, was jedoch
implosive Gutturale Q G N
überhaupt keinen Einfluß auf die Aussprache
hatte; Schreibvarianten, Verwechslungen, Bei ihnen war ein Austausch innerhalb der-
Fehlschreibungen, hyperkorrekte Formen, ge- selben Reihe möglich. Die Grundlesung der
ringfügige Aussprache- und Tonunterschiede Übersicht hat einen Dental zum Auslaut, so
trugen das ihre dazu bei, U nregelmäßigkeiten daß also noch /-t, -n/ und /-r/ zur Wortbil-
zu zementieren. Vor allem aber führte der dung herangezogen werden konnten (vgl. die
Wortbildungsmechanismus des archaischen Nr. 17 035, 17 037, 29 041, 46 806).
Chin. zu einer Vielfalt heute unterschiedlicher Die übrigen Lesungen in der Übersicht sind
Aussprachen, da Silbenan- und -auslaut in- als irregulär einzustufen und interessieren in
nerhalb ein und derselben Artikulations- diesem Zusammenhang nur am Rande.
gruppe sowie der Medialvokal zwischen /∅/, Nicht unerwähnt bleiben soll noch die Tat-
/i/ und /u/ gesetzmäßig wechseln konnten, um sache, daß das Proto-Chinesisch aller Wahr-
Bedeutungsunterschiede darzustellen. Das ar- scheinlichkeit nach die Anlautkonsonanten-
chaische Chinesisch hatte die Silbenstruktur cluster *kl-, *gl-, *pl-, *bl-, *ml-, *dk- und
A NLAUT — H AUPTVOKAL — A USLAUT mit *tg- hatte, die allerdings bereits im archai-
folgenden Anlauten: schen Chinesisch aufgespalten wurden, so daß
Labiale p p‛ b‛ m ṃ trotz gleichen Phonetikums jeweils eine Reihe
Dentale t t‛ d d‛ n l mit dem 1. und eine andere Reihe mit dem 2.
Sibilanten ts ts‛ dz‛ s z Bestandteil des Clusters als neuem Anlaut
palatalen Dentale  ‛ ‛ ń ś ź entstand. Die genannten Austauschmöglich-
palatalen Gutturale  ‛ ‛ ńģ  j keiten hätten theoretisch im Höchstfall 128
Gutturale k k‛ g‛ ng x γ. Kombinationen ergeben können, die aber nie
ausgeschöpft worden sind. Sie sind der Grund
Die Anlautkonsonanten konnten rein in der für die weitgehenden Aussprachedivergenzen
Form dieser Tabelle auftreten, so wie es die trotz gleichen Phonetikums sowohl im heuti-
Grundlesung der Übersicht zeigt. Sie konnten gen Chinesischen als auch im Sino-Japani-
aber auch palatalisiert sein, was durch den schen, Sino-Koreanischen und Sino-Vietna-
Palatalisierungsbogen ̑ mit nachfolgendem mesischen.
/i/ kenntlich gemacht wird (Nr. 8017, 17 035, Determinativphonetika sind im Ansatz in
17 037, 17 040, 22 093, 24 093, 25 000, 31 203, den Knocheninschriften bereits vorhanden,
36 720, 46 050, 46 806). Eine weitere Differen- wie z. B. das aus dem Radikal >
zierungsmöglichkeit bestand in der Labialisie- „Frau“ und dem Phonetikum > mɐd 3
rung des Anlauts (durch /u/ unmittelbar hin- > wèi zusammengesetzte Zeichen >
ter dem Anlaut gekennzeichnet, in der Über-
sicht aber nur bei der irregulären Lesung der mǝd 3 > mèi „jüngere Schwester“ (Shima
Nr. 18 974; bei der Grundlesung nicht vertre- 1977, 141). In größerem U mfang treten sie
ten). Auch Palatalisierung und Labialisierung aber erst ab der Zhōu-Zeit (11. Jh.—256
zusammen (/ ĩu/) kamen vor, sind aber in der v. Chr.) auf, um schließlich heute mit 94,8%
Übersicht ebenfalls nicht vertreten. des gesamten Zeichenbestandes die wichtigste
Hauptvokale konnten sein: Gruppe der Zeichenbildung überhaupt aus-
zumachen (Gabelentz 1881, 47). Neue Zei-
chen, deren Bildung manchmal notwendig ist
26.  Die chinesische Schrift 367

Tab. 26.2
Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung
shi-Nr. chen arch. mod. shi-Nr. chen arch. mod.
504 ted 1 dī NIEDRIGER (= 12246 ted 3 dì NIEDERschlagen
kleiner) Mensch 13068 ted 2 dǐ mit Zweigen NIE-
→ NIEDRIG DERhalten → ver-
2918 ted 3 dì Klippen NIEDRI- stecken, versteckt
GER machen (= sein
Geländeuneben- 13164 ted 2 dǐ sich (wie unter
heiten ausgleichen) Stockschlägen)
→ einebnen NIEDERkauern
3438 ted 2 dǐ (mit) NIED- 13854 ted 2 dǐ (NIEDRIG-
RIGE(N) stehende(?))
Worte(n) reden → Sonne
schelten 14640 ted 2 dǐ NIEDRIGER Teil
5001 ted 2 dǐ NIEDRIGER des Baums →
(werdender) Ort Wurzel
→ Abhang; Erd- 14988 ted 2 dǐ NIEDRIGER Teil
rutsch des Daches →
5880 ted 1 dī großer, NIEDRI- Dachtraufe
GER Teil (= Bo- 17035 d‛et diè (sich) berühren
den, Fundament) tet zhì herausziehen
→ groß 17036 ted 1 dī (falsch für Nr.
6144 ted 1 dī (ein für einen 5880)
weiblichen Volljäh- 17037 d‛et diè } (identisch mit Nr.
rigkeitsnamen ver- tet zhì 17035)
wendetes Zeichen) 17040 ·ǝn yìn sich NIEDER-
(die NIED- legen
RIGE (?) → die ted 3 zhì sich in Richtung
Kleine (?)) auf ... hin bewegen
8017 d‛ed 1 chī (Bezeichnung eines 17041 ·ed 1 yī NIEDERlegen,
t Berges) (der NIEDERgelegt
NIEDRIGE (?)) sein
9262 ted 2 dǐ NIEDRIGER Teil 17042 γεG 3 xiào falsch sein
eines Hauses → γâG 2 hào (ein Ortsname)
Fundament, Bo- 17299 dì auf eine(r) glei-
ted 3
den che(n), NIEDRI-
9751 ted 2 dǐ (Rot lackierter, GERE(N) Höhe
mit Schnitzereien bringen/ sein →
verzierter Schieß- nivellieren → ord-
bogen als Aus- nen/geordnet sein
zeichnung für Ver- 18974 γuen 1 xuán schwarz sein
dienste) 19988 dǐ den Kopf NIED-
ted 2
10069 ted 1 dī mit NIEDRIGER RIG halten und
Geschwindigkeit mit den Hörnern
herumlaufen → aufeinander losge-
einen Bummel ma- hen → (sich) be-
chen rühren
10468 ted 3 dì in NIEDERge- 20069 dǐ (identisch mit Nr.
ted 2
drückter Stim- 19988)
mung sein 20352 dǐ (Bezeichnung
ted 2
11921 ted 2 dǐ ein Messer mit der eines Hundes)
Hand auf einen (von NIEDRI-
Wetzstein NIE- GER Statur (?))
DERdrücken →
sich entgegenstem-
men → Wider-
stand leisten
368 III. Schriftgeschichte

Tab. 26.2 (Fortsetzung)


Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung
shi-Nr. chen arch. mod. Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung
21478 ted 3 dì größeres Keramik- shi-Nr. chen arch. mod.
gefäß (Kanne) mit 30845 ted 2 dǐ Adenóphora tri-
NIEDRIGEM phýlla (Thunb.) A.
(= tiefem) Boden DC. var. japónica
zur Aufnahme von Hára (eine ostasia-
Flüssigkeiten tische Schellen-
22093 ted 1 zhī Fußschwiele (an blume)
NIEDRIGER 31202 ted 2 dǐ (identisch mit Nr.
(= unterer) Stelle 30845)
23241 ted 3 dì prüfend auf etwas 31203 ed 1 zhī ungeschnitten in
NIEDERsehen d‛ed 1 chī Flüssigkeit NIE-
24093 ted 2 dǐ auf einen Wetz- DERgedrücktes
ed 2 zhǐ stein NIEDER- (= eingelegtes)
drücken → wet- Gemüse
zen, schleifen; 32922 ted 3 dì insektenförmig
Schleifstein vom Himmel her-
24665 ed 1 zhī sich vor überna- NIEDER-
türlichen Wesen hängendes Gebilde
NIEDERwerfen → Regenbogen
→ ehrerbietig sein 34199 ted 1 dī NIEDRIGES
25000 ed 1 zhī Getreide, bei dem (= unteres) Kleid
die Ähren sich → Unterkleid
NIEDERzusenken 34833 meg 1 mí Augenausdruck
beginnen → eines Kranken
Fruchtansatz beim (NIEDERgeschla-
Getreide gen(?))
27330 ted 1 dī (NIEDERgefal- 35051 ted 2 dǐ den Kopf NIED-
lene) Fadenabfalle RIG halten und
28238 ted 1 dī Hasenfangnetz mit den Hörnern
(um den Hasen aufeinander losge-
NIEDERzuhalten) hen → (sich) be-
28470 ted 1 dī Widder oder rühren
3jähriges Schaf 35356 ted 2 dǐ (mit) NIED-
(Jungtier NIED- RIGE(n) Worte(n)
RIGEN Alters (?)) reden → schelten
29041 en 2 zhěn einer NIEDRIGE- 36720 d‛ed 1 chí auf gelbem Grund
REN Stelle Wei- weiß gestreifte
sungen erteilen → Muschel
verkünden; in 37098 ted 1 dī sich in Richtung
PROSKYNETI- auf ... hin
SCHER Haltung bewegen
zu)hören 37435 ted 3 dì NIEDERtreten
29395 ted 3 dì die GRUNDlegen- 38238 ted 2 dǐ an größeren
den, beim Opfer Wagen hinten
wesentlichen Teile angebrachte
eines Tieres (Rük- Bremsstange zur
ken, Rippenstück, ErNIEDRIgung
Schulter, Ober- (= Herabsetzung)
und Unterschenkel der Geschwindig-
30296 d‛eg 2 shì lecken (falsch an- keit an einem Ab-
stelle von hang
38385 ted 2 dǐ (identisch mit Nr.
) 38238)
30399 ted 3 dì (NIEDRIGES (?))
(Kriegs)schiff
26.  Die chinesische Schrift 369

Tab. 26.2 (Fortsetzung)


Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung
Moroha- Zei- chinesisch Bedeutung shi-Nr. chen arch. mod.
shi-Nr. chen arch. mod. 42756 ted 3 dì NIEDRIGER
38794 ted 2 dǐ NIEDERgehalten Teil aus Leder
sein → sich aus → Schuh(e),
Ärger oder Trotz Sandale(n)
nicht vom Fleck 43417 ted 1 dī den Kopf NIED-
bewegen RIG machen
39347 ted 2 dǐ NIEDERlassung → gesenkten
→ Wohnsitz, Resi- Hauptes
denz 44073 ted 1 dī zu NIEDRIGEN
39466 ted 2 dǐ („gewöhnliches Kosten (oder
Zeichen“ für Nr. kostenlos) essen
39347) → nassauern
39819 t‛ed 2 tǐ das, was sich von 45155 ted 2 dǐ NIEDRIGER
der Milch NIE- Knochen → Steiß-
DERgesetzt hat bein
→ reine Butter 46050 ed 1 zhī Gádus macrocépha-
41592 ted 2 dǐ NIEDRIG(ER lus (Pazifikkabel-
werdender) Ort → jau)
Abhang, Hügel 46805 ‛ed 1 chī (identisch mit Nr.
41991 k‛ed 1 chī Milvus mígrans 41991)
(Schwarzmilan) 46806 ær 1 zhī Gállus gállus
oder Milvus mí- fórma doméstica
grans lineátus (Haushuhn)
(Schmarotzermi-
lan) bzw. die Ord-
nung Strigifórmes
(Eulenvögel);
NIEDRIG ein-
schätzen → ge-
ringschätzen

oder nicht. Dies gilt auch für die Einordnung


(s. u. 4.3.), werden mit verschwindend gerin- einzelner Zeichen in diese Gruppe, so daß die
gen Ausnahmen nach dem Prinzip der Deter- Angaben über die hierunter zu zählenden Zei-
minativphonetika gebildet. chen stark variieren (einer Zählung zufolge
(Gabelentz 1881, 47) sollen es 372 Zeichen
3.2. Verwendung der Schriftzeichen sein). Bei weitestgehender Auslegung des Be-
Den die graphische Zusammensetzung als äu- griffs „Bedeutungswandel“ könnte man
ßeres Kriterium behandelnden vier Gruppen durchaus zu der Auffassung gelangen, daß
von Schriftzeichen stehen noch zwei mit dem kein chin. Schriftzeichen davon verschont ge-
inneren Kriterium der Verwendung gegen- blieben ist.
über. (24) > *nglεQ „Quércus acu-
tíssima Carruth. (eine Eichenart) mit Ei-
3.2.1. Bedeutungswandel ( zhuǎnzhù ) cheln an den Zweigen“
ngεQ
Bedeutungswandel ist die Verwendung ein > {1} yuè „Eicheln der Quércus acutís-
und desselben Zeichens in einem von der ur- sima Carruth. in Kastagnetten → Musik-
sprünglichen Bedeutung abgeleiteten Sinn, (instrument) vgl. mod. yīnyuè
wobei fast immer auch ein gewisser Wandel „Musik“
der Aussprache mit einher geht. Bedeutungs- > {2} yào „gerne haben; (sich) wün-
wandel (Bedeutungserweiterung oder -veren- schen“ vgl. mod. yuànyào „Bitt-
gung, -verbesserung oder -verschlechterung) gebet“
bleibt in keiner Sprache zu keiner Zeit aus,
wobei im Einzelfall erhebliche Auffassungs-
unterschiede entstehen können, ob es sich be-
reits um einen Bedeutungswandel handelt
370 III. Schriftgeschichte

lεQ destiniert gewesen wären, denn es kommen


> {1} lè „sich freuen: ruhig sein“ vgl. sehr wohl auch ganz ‘normale’ Zeichen vor.
mod. kuàilè „Freude“ Die Grenze zum Bedeutungswandel ist
> {2} luò „sporadisch“ vgl. mod. manchmal fließend bzw. Auffassungssache, so
bàoluò „vereinzelte Blätter an einem daß die für diese Gruppe genannte Zahl von
Baum“ 598 Zeichen (Gabelentz 1881, 47) nur mit
> {3} lào (nur in 2 Kreisnamen vorkom- einem gewissen Vorbehalt angeführt werden
mende Lesung, z. B. Làoting kann.
(Prov. Héběi). Eine weitere Neben- (25) d‛âG 3 > dòu ursprünglich: Bild eines
lesung liáo hat keine Anwendungsbei- bauchigen Opfergefäßes mit Fuß und
spiele) Deckel (cantharus mit operculum); ent-
 lε G 3 lehnt für: Gesamtbezeichnung aller Le-
> liào „heilen“ vgl. mod. liàojī guminosen
„den Hunger stillen“ Zwar war es einerseits bestimmt so, daß man
Das obige Beispiel zeigt auch die Aufspaltung dieses Opfergefäß nicht ständig im Munde
eines proto-chin. Anlautkonsonantenclusters, führte, so daß das Zeichen sozusagen zur
der in 3.1.2. angesprochen worden war. Die Adoption freigegeben war, aber andererseits
fast verwirrende Vielfalt der Lesungen hatte hatte man ja die so nützlichen Radikale, um
noch Anfang dieses Jahrhunderts insofern einen Gedankenbereich abzustecken. Der Ge-
Konsequenzen gehabt, als eine ganze Reihe dankenbereich Pflanzen wird durch den Ra-
von Zeichen neben der normalerweise ver- dikal ‘Pflanzen’ dargestellt, also dòu
wendeten Aussprache noch eine von ihr ab- für „Leguminosen“. Nun, das Zeichen exi-
weichende sog. Leseaussprache gehabt hatte; stiert und bedeutet auch ganz artig ‘Legumi-
diese Diskrepanzen wurden erst 1920 beseitigt nosen’, nur — es wird nicht verwendet und
(Martin 1982, 82), nachdem die literarische gilt als unorthodox. Da die ursprüngliche Be-
Revolution im Gefolge der sog. „Bewegung deutung sowieso nur in einem archäologisch-
des 4. Mai“ wŭsì-yùndòng, die kunsthistorischen Zusammenhang vorkom-
1919 die Modernisierung Chinas auf ihre men kann, kann man es also bei dem Zeichen
Fahnen geschrieben hatte, auch durchzuset- ohne Pflanzen-Radikal belassen, da Mißver-
zen vermochte, daß die bisherige Schriftspra- ständnisse nicht zu befürchten sind.
che wényán durch den der U mgangs-
(26) ǝg 1 > zhī ursprünglich: den Fuß
sprache angenäherten Schreibstil báihuà
als Medium auch der schriftlichen Kommu- ( ) über eine Startlinie ( ) setzen ( )
nikation ersetzt wurde. → voranschreiten → gehen entlehnt für:
Demonstrativpronomen ‘dieser’; „Ak-
3.2.2. Entlehnungen ( jiǎjiè ) kusativ“ des Personalpronomens der 3.
Person ‘ihn, sie, es’; attributivische Ver-
Der Reichtum an Homophonen hatte der bindung zweier Satzteile
chin. Schrift schon immer große Schwierig-
keiten beschert, wenn es darum ging, Worte Das Aufkommen neuer Wörter für ‘voran-
schreiten’ ( jìn) oder ‘gehen’ ( zǒu) gab
zu schreiben, für die aus irgendeinem Grund
kein adäquates Zeichen zu finden war. Hier das Zeichen dann schließlich für den Ent-
half man sich, indem man Zeichen in einer lehnungsmechanismus frei.
mit dem ursprünglichen Sinninhalt in keiner- (27) tsâQ > zú ursprünglich: Fuß, Bein;
lei Zusammenhang stehenden Bedeutung ver- treten entlehnt für: genügen, ausreichen;
wendete, nur weil die Lautungen identisch (auf)füllen
waren. Entlehnungen in diesem Sinne waren Ein Begriff wie ‘genügen’ dürfte sich bildli-
im Frühstadium der Schriftentwicklung na- chen Darstellungsversuchen völlig entziehen.
turgemäß häufiger, da Ausbildung und ins- U nd die sonst so hilfreichen Radikale? In
besondere Verwendung der Determinative (= welchem der doch recht anschaulichen Ge-
Radikale) noch nicht so verbreitet waren wie dankenbereiche sollte man denn das recht un-
später. U nter denjenigen Wortkategorien, die anschauliche ‘genügen’ einordnen? Da das
sich gegen eine schriftliche Fixierung sträub- Wort zú aber nun einmal existierte, blieb
ten, waren vor allem Pronomina und Ab- nichts anderes übrig, als ein gleichlautendes
strakta, bei denen bild- oder rebusartige Dar- dafür einzusetzen, so daß dasselbe Zeichen
stellungsweisen versagen mußten. Dabei ist es
durchaus nicht so, daß etwa nur ganz selten bis heute sowohl für ‘Fuß’ als auch für ‘ge-
verwendete Zeichen für Entlehnungen prä- nügen’ verwendet wird, und der Leser aus
26.  Die chinesische Schrift 371

dem Zusammenhang erschließen muß, um Alle anderen Kategorien werden unter dem
was es sich handelt. Da beide Begriffe aber Begriff Varianten zusammengefaßt.
sehr weit auseinander liegen, dürften Inter-
pretationsschwierigkeiten wohl kaum zu be- 4.2. Varianten ( yìtǐzì)
fürchten sein.
4.2.1. Alte Zeichen ( gǔzì)

4. Arten von chinesischen Im Shuōwén-jiězì sind eine ganze


Schriftzeichen Reihe von Zeichen enthalten, die mit dem
Zusatz gǔwén „alte Schrift“ versehen
Die ungeheure Vielfalt der chin. Schriftzei-
chen führte notwendigerweise über ihre lexi- sind. Hierbei handelt es sich um die U mset-
kalische Anordnung hinaus auch zu Versu- zung der ursprünglich in Kleiner Siegelschrift
chen, die Zeichen nach Herkunft, Aufbau, geschriebenen Zeichenformen in Normschrift.
Verwendung und graphischer Gestalt so zu (31) > sǝg 2 > shǐ „Annalenschreiber“
durchleuchten, daß man insbesondere dar- → „Geschichte“
über Klarheit gewinnen konnte, welche (32) > sed 3 > sì „vier“
Schriftzeichen denn nun als gültige Norm an- (33) dz‛ѷg 3 > shì „Hand mit einer an
gesehen werden können und welche nicht. In
China sind seit alters her alle Schriftzeichen einen Stab gebundenen Botschaft → 
gesammelt worden, die irgendwann irgendwo Übermittler einer solchen Botschaft an
einmal aufgetaucht sind. Allein die U nmög- die Geisterwelt: Schamane; ② Über-
lichkeit, in jeder Ecke des Landes anders zu mittler einer solchen Botschaft an einen
schreiben, rief nach einer normativen Auto- anderen: Gesandter → in politischem
rität, wofür das auf Anordnung von Kaiser Auftrag entsandter Bote → die Aufgabe
Kāngxī (1654—1722, reg. 1662—1722) eines solchen Boten (ausführen) → An-
kompilierte und 1716 veröffentlichte gelegenheit, Sache“
Kāngxī-zìdiǎn ‘Kāngxī-Zeichenlexikon’
4.2.2. Ursprüngliche Zeichen ( běnzì )
neben vorangegangenen Zusammenstellun-
gen schließlich mit seinen 48 641 Zeichen den Diese Kategorie unterscheidet sich nicht we-
besten Rahmen abgeben konnte. Es enthält sentlich von den „alten Zeichen“; bei ihnen
in erheblichem U mfang Wertungen dieser fehlt lediglich der Zusatz ‘alte Schrift’ im
Art, an denen man trotz des inzwischen ein- Shuōwén-jiězì, so daß es sich allgemein um
getretenen Fortschritts der Wissenschaft auch die U msetzung der Kleinen Siegelschrift in
in diesem Bereich wegen seiner bis heute un- Normschrift handelt.
gebrochenen Autorität nicht vorbeigehen (34) > mâng 1 > wáng „nicht mehr
kann.
sichtbar sein → nicht mehr (am Leben)
sein“
4.1. Orthographisch richtige Zeichen (35) > lǝG 1 > liú „einen Wasserlauf
( zhèngzì)
() zwischen 2 Feldern (⊂ und ⊃) durch
Als orthographisch richtig gelten alle Zeichen, eine Barriere (̅) anhalten (später zu-
die als Stichwort in das Kāngxī-zìdiǎn aufge- sätzlich mit dem Determinativ ‘Feld’
nommen worden und durch keine zusätzliche ( ) versehen) → anhalten, stoppen“
Bemerkung als zu einer anderen Kategorie (36) > b‛ed 3 > bí „Nase“
gehörend gekennzeichnet sind. Sie waren bis
zum Ende des II. Weltkriegs unangefochtener
Schreibstandard sowohl in China selbst als 4.2.3. Identische Zeichen ( tóngzì )
auch in Japan und Korea. Für die Wiedergabe Vor der Reichseinigung von 221 v. Chr. exi-
klassischer Texte gilt dieser Standard auch stierten in den damaligen Staaten z. T. erheb-
heute noch. Moderne Texte erscheinen dage- lich voneinander abweichende Zeichen für ein
gen in der VRC und in Japan in der für das und denselben Begriff (s. o. 2.4.), die jedoch
jeweilige Land gültigen, z. T. verkürzten mit der Reichseinigung und der damit ver-
Form, während Táiwān diese orthographisch bundenen Vereinheitlichung der Schrift nicht
richtigen Formen beibehalten hat und Süd- etwa untergegangen wären. Ganz im Gegen-
korea keine offizielle Regelung kennt. teil: von dem kostbaren Gut der Schrift sam-
(28) sæn 1 > shān „Berg“ melten die Chinesen, was sie nur erreichen
(29) ( NICHT : ) ngïn 1 > yán „sagen“ konnten, über alle Zeitläufte hinweg in den
großen enzyklopädischen Zeichenlexika. So
(30) ( NICHT : ) ngän 1 > yán „polieren“ konnte es nicht ausbleiben, daß es für manch
372 III. Schriftgeschichte

einen Begriff mehrere Schriftzeichen gab, die (42) duǝd 1 > wéi „schnurstracks reden“
dann natürlich homophon waren. In einigen
Fällen werden auch heute identische Zeichen → (a) „ja“; (b) „nur“ ersetzt duǝd 1
gleichberechtigt nebeneinander verwendet, > wéi „schnurstracks denken“ → „nur
obwohl die meisten von ihnen nur noch ein an eine einzige Sache denken“ → „nur“
Wörterbuchdasein fristen. → „dieser“; ersetzt duǝd 1 > wéi
(37) ↔ ↔ ↔ mïâg 1 > wú „nicht“ „schnurstracks miteinander verbinden“;
(als Negations- und Prohibitivadverb) ersetzt juǝd 1 > shui/shéi „schnur-
(38) ↔ ↔ ↔ t′âr 1 > tā ur- stracks fragen“ → „fragen“ → „wer?“
sprünglich „ein (unbekannter) anderer
Mensch → etwas anderes“, dann für das 4.2.5. Unorthodoxe Zeichen ( súzì)
Personalpronomen der 3. P. sg. „er“ und Sofern von menschlicher Hand geschrieben
schließlich in Nachahmung differenzie- und nicht zu besonderen Zwecken bestimmt,
render Sprachen mit dem Radikal ‘Frau’ wohnt jeder Schrift des alltäglichen Ge-
( ) für „sie“ und mit dem Radikal brauchs die Tendenz inne, auf vermeintlich
‘Rind’ ( ) für „es“ verwendet, obwohl U nnötiges verzichten zu können. Die chin.
selbstverständlich die Aussprache die- Zeichen geben dafür fast ein Paradebeispiel
selbe geblieben ist und heute nur die ab, denn ihr Reichtum an Strichen läßt un-
Schrift unterscheidet merklich den Gedanken aufkeimen, den einen
(39) ↔ ↔ ↔ ·un 2 > yuán/yuàn oder anderen davon einfach mal wegzulassen.
„Garten“ Je mehr Striche ein Zeichen hat, desto größer
ist die Redundanz. Bei mù „Auge“ kann
4.2.4. Ersatzzeichen man keinen der waagrechten Striche einspa-
( tōng(yòng) zì) ren; läßt man einen weg, hat man sofort
rì „Sonne“. Führt man aber bei lǔ „Kriegs-
Zeichen, die aufgrund völliger Homophonie, gefangener“ den waagrechten Strich in der
weitgehender semantischer Identität und/oder Mitte des Zeichens nicht über die rechte
graphischer (Teil)übereinstimmung leicht ver- und linke Seite hinaus und schreibt , fällt
wechselbar waren, sind damals wie heute das gar nicht weiter auf und ergibt . U nd
gerne durcheinander geworfen worden, so
daß Zeichen eigentlich anderer Bedeutung(en) läßt man dann auch noch das ganz weg,
für Inhalte benutzt worden sind, von denen merkt man zwar, daß eigentlich etwas fehlt,
der Schreiber annahm, sie seien richtig — aber lesbar ist trotzdem noch. So hat es
denn wenn die Zeichenzahl in die Zehntau- denn zu allen Zeiten allgemein verwendete
sende geht, nimmt die Wahrscheinlichkeit, et- Zeichen gegeben, die in irgendeiner Beziehung
was falsch zu machen, rechnerisch eben zu. wie z. B. Strichveränderungen, Zusätze, Weg-
Obwohl die Radikale als Hinweis auf den lassungen oder andere meist nur geringfügige
Gedankenbereich eines chin. Zeichens eigent- Abwandlungen von der Norm der orthogra-
lich ja eindeutig sind, kommt es doch häufiger phisch richtigen Zeichen (s. o. 4.1.) abwichen.
vor, als man denkt, daß sie ein Schreiber Das Zeichen sú in der chin. Bezeichnung
durcheinander wirft. Ein kleines Zeichenlexi- dieser Kategorie hat bei der Übersetzung des
kon auf dem Schreibtisch ist auch heute noch Begriffs súzì in europäische Sprachen zu Miß-
oft ein rettender Engel beim mühsamen Ge- verständnissen geführt. Seine ursprüngliche
schäft des Schreibens. So kommt es zu den Bedeutung „Sitte, Brauchtum“ hat über „all-
zahlreichen Fällen, in denen ein Zeichen mit gemein gebräuchlich“ → „populär, volkstüm-
einem anderen, ähnlichen verwechselt wird, lich“ zu der Übersetzung „vulgär“ geführt,
der Schreiber „ersetzt“ es also irrigerweise; die zumindesten für das heutige Sprachgefühl
die klassischen Zeichenlexika geben solche nicht mehr adäquat sein dürfte, denn ‘gemein,
Zeichen immer an. gewöhnlich, unfein, ordinär’ (Brockhaus-
(40) nâg 2 > nǚ/rǔ „Frau“ Wahrig, s. v. vulgär) sind diese Zeichen in
keiner Weise. Deshalb soll die Bezeichnung
ersetzt nâg 2 > rǔ (eigentlich ‘sanft „unorthodoxe Zeichen“ vorgeschlagen wer-
fließendes Gewässer’) → „du“ den, um sie von dem odium vulgare zu be-
(41) γâG 1 > hóu „Larynx (Kehle)“ ersetzt freien.
·ӛn 1 / ·ӛt > yān/yè (kanton. jit 8 ) „Pha- (43) steht für tѷng 1 > dēng „Lampe„
rynx (Kehle)“ (44) steht für d‛âng 1 > chǎng „Ort,
Platz“
(45) / / steht für t‛uǝt > chū
„herauskommen“
26.  Die chinesische Schrift 373

Hierzu zählen auch die zahlreichen Zeichen, tigen Widerstand stießen, nach ein paar Wo-
bei denen lediglich die Richtung eines Striches chen wieder zurückgezogen wurden und prak-
(z. B. gerade ↔ schräg oder als Punkt ge- tisch das Ende der Schriftreform bedeuteten.
schrieben) geändert worden ist und die heute Am 9. 9. 1976 war Mao Zèdōng, der
in dieser geänderten Form als Schreibstan- sich so für die Schriftreform eingesetzt hatte
dard in der VRC gelten. und die vereinfachten Zeichen selbst nie ver-
(46) steht für γâg 2 > hù „einflügelige wendete (Lindqvist 1990, 22), gestorben, und
Halbtür“ damit war dann auch wohl die Schriftreform
(47) steht für · ân 1 > ān „beruhigt sein“ endgültig beendet.
(48) steht für tǝN 1 > dōng „(Lebens- (52) ked 1 > jī steht für ked 1 > jī
„Maschine“ ( bedeutet eigentlich
mittelvorräte für den) Winter (einla-
gern)“ Tisch’ und wird in dieser Bedeutung in
Japan, Südkorea und Taiwan auch heute
Die Abgrenzung dieser Gruppe von Schrift- noch verwendet)
zeichen gegenüber den beiden nächsten (53) steht für gâg 2 > yú/yǔ/yù („2
(4.2.6./7.) ist oft schwierig und unterliegt star- hochziehende E und 2 hochhebende 3
ken individuellen Auffassungsunterschieden, Hände greifen ineinander“) — > „inein-
da offizielle Unterscheidungskriterien fehlen. andergreifen“ → „geben“ → „(mit)-
helfen“ → „(zusammen) mit“
4.2.6. Verkürzte Zeichen ( lüèzì) (54) steht für ngp > yè „(gezackte
Ein großer Teil der heute zum Schreibstan- Holzzierleiste an einem Musikinstru-
dard der VRC gehörenden Zeichen weist ge- ment)“ → „schwierige Arbeit“ → „Un-
genüber den orthographisch richtigen Zei- ternehmen, Gewerbe, Arbeit“
chen Formen auf, die durch Weglassung bzw. I n einigen Fällen dienten auch Formen der
Zusammenziehung einiger Striche bis zu Konzeptschrift als Vorlage für ein abgekürz-
einem gewissen Grade verkürzt worden sind. tes Zeichen, wie z. B. bei
(49) steht für lâng 2 > liǎng „die bei- (55) steht für uan 1 > zhuān „(mit der
den paarig am Balken angehängten Hand aufgewickeltes Garn)“ → „seine
Schalen einer Waage“ → „beide; zwei“ Aufmerksamkeit ganz einer Sache (wie
(50) steht für ·ag 3 > yǎ/yà „Grundriß dem Garnaufwickeln) widmen“ →
der Grabkammer, an der die nachfol- „ganz, ausschließlich“
gende(n) Generation(en) die Riten für
die Verstorbenen ausführt/en“ → 4.2.8. Die Schriftzeichen der Kaiserin Wǔ
„(nach)folgen(d)“ → „zweiter“ ( Zètiān Wǔ-hòu zàozì )
(51) steht für b‛äng 2 > bīng/bìng „ne-
Im Jahre 690 n. Chr. usurpierte die Witwe des
beneinander stehen/stellen“ Tang-Kaisers Gāozōng (628—83,
Die Abgrenzung dieser Gruppe gegenüber der reg. 649—83), Zètiān Wǔ (623—705), den
vorhergehenden (4.2.5.) sowie gegenüber der Thron und hatte nichts eiligeres zu tun, als
nachfolgenden (4.2.7.) ist oft schwierig und 17 neue Schriftzeichen einzuführen, die sich
unterliegt starken individuellen Auffassungs- aber nicht durchzusetzen vermochten. Es
unterschieden. dürfte wohl nicht mehr als eine eigenwillige
Spielerei sein, wenn jap. Zeitungen aus ir-
4.2.7. Abgekürzte Zeichen ( shěngzì ) gendeinem Anlaß ab und zu einmal dazu auf-
rufen, heute so etwas als Spiel nachzuahmen
Durch Weglassung ganzer Zeichenteile hat es und damit sogar Resonanz erzielen.
zwar schon immer Abkürzungen gegeben, (56) sollte für ngut > yuè „Mond,
zum Schreibstandard sind sie in der VRC aber Monat“
erst durch die Schriftreform der Jahre (57)
1952—77 erhoben worden. Zu einem großen sollte für d‛ær 3 > dì „Erde“ oder
Teil sind dabei graphisch komplizierte Pho- (58) sollte für ǝng 3 > zhèng „Beweis“
netika durch einfachere ersetzt worden, wie stehen.
z. B. jī durch jī und viele andere mehr.
In einem Artikel der Rénmìn Rì- 4.2.9. Falsche Zeichen ( ézì )
bào ((Pekinger) Volkszeitung) vom 20. 12.
1977 waren noch weitergehende Vorschläge Mit dieser Bezeichnung versehene Schriftzei-
zur Abkürzung einer größeren Anzahl von chen kommen in den Zeichenlexika vor, wo
Zeichen gemacht worden, die jedoch auf hef- man doch eigentlich meinen sollte, daß das,
was einmal als falsch erkannt worden ist,
374 III. Schriftgeschichte

nicht eigens notiert zu werden brauchte. Die teren Bereich handelt es sich häufig um Ter-
im täglichen Leben so zahlreichen Fehlschrei- mini aus dem Buddhismus, die eine Vorliebe
bungen, bei denen der an sich richtige Radikal für vielstrichige Zeichen entwickelt hatten.
durch einen vermeintlich richtigen, hier aber (62) gibt das Binomen shèngwén
falschen, ersetzt wird, sowie die mehr oder „śrāvaka“ (Buddhaschüler) wieder, wo-
weniger willkürlichen Hinzufügungen bzw. bei der beiden Zeichen gleiche Bestand-
Weglassungen von Punkten oder einzelnen teil „Ohr“ in seiner Konzeptschrift-
Strichen haben manchmal sogar die Matri- form > doppelt übereinanderge-
zenschneider beim Entwurf ihrer Vorlage für setzt worden ist.
den Letternguß aufs Glatteis geführt, so daß
falsche Zeichen sogar im Druck vorkommen Dabei konnten auch sehr verwechslungsfä-
können. Insbesondere graphisch ähnliche hige Zeichen entstehen, wie z. B.
Teile von Zeichen bieten sich geradezu für (63) für das Binomen jīngāng
Verwechslungen an. „vajra“ (Festigkeit, Beständigkeit) →
(59) ist falsch anstelle von led 2 > lǐ „Diamant“, wobei der obere Bestandteil
„Ritus, Sitte(n)“. Der Radikal des des Zeichens und der rechte Be-
Zeichens (abgekürztes Zeichen für standteil des Zeichens kombiniert
) ist durch geringfügige Schrägstel- worden sind, aber genauso aussehen wie
lung des 1., 4. und 5. Strichs > das orthographisch richtige Zeichen
geworden und würde somit den Gedan- kad 3 > jiè „in einer Rüstung stek-
kenbereich ‘Getreide’ anstatt ‘Sakrales’ kender Mensch ( )“ → „dazwi-
zum Ausdruck bringen. schenstecken → dazwischentreten →
(60) ist falsch anstelle von dz‛en 2 > sich einmischen → vermitteln.
jǐn/jìn „ein Gefäß mit einer Bürste Als Anfang dieses Jahrhunderts englische
in der Hand säubern → leer machen Maße und Gewichte in China eingeführt wur-
→ ausschöpfen → erschöpfen“ (mit spä- den, ist ein Zeichen für den Begriff ‘Seemeile’
terer Erweiterung durch ‘Mensch’) Da geschaffen worden, das gerade auf der Grenze
das abgekürzte Zeichen für exi- zwischen Ligatur und neuem Zeichen steht.
stiert, kann man sehr schnell auf den (64) hǎilǐ < dem linken Bestandteil
Gedanken kommen, auch die Zusam- ‘Wasser’ des Zeichens hǎi ‘Meer’ und
mensetzungen mit dieser Abkürzung zu dem ganzen Zeichen lǐ ‘Meile’.
schreiben, obwohl diese Zusammenset-
zungen offiziell mit dem nicht abgekürz- Keine dieser Ligaturen konnte sich wirklich
ten Bestandteil geschrieben werden müs- durchsetzen, so daß sie im heutigen Schrift-
sen. Fälle dieser Art sind sehr häufig bild nicht mehr erscheinen. Auch
vorgekommen, insbesondere bei und (65) qiānwǎ „Kilowatt“ < qiān „1000“
nach der Schriftreform von 1952—77, und wǎ für „Watt“
wo fast niemand mehr wußte, was richtig
war und was nicht. ist wieder verschwunden. Der Grund dafür
(61) ist falsch anstelle von en 2 > ist wohl in der Tatsache zu suchen, daß diese
zhěn „Flecken am Körper eines Men- Ligaturen zweisilbig gelesen werden müssen,
was den Prinzipien der chin. Schrift zuwider-
schen → Masern“ , später zur Ver- läuft. Die Wandzeitungen während der Wir-
deutlichung durch das Krankheitsradid- ren der „Kultur„revolution haben zahlreiche
kal ergänzt. Falsch geschnittene Let- Ligaturen dieser Art hervorgebracht, bei de-
ter infolge Auslassung des Radikals nen bis zu 5 Zeichen zu einem zusammenge-
‘Mensch’. faßt worden sind, das aber dann auch 5-silbig
gelesen werden mußte. Ein Beispiel für eine
4.2.10. Ligaturen ( hézì ) 4-Silben-Ligatur ist
Bei den chin. Zeichen wurden vor allem aus (66) shèhuì-zhǔyì „Sozialismus“ < dem
Gründen der Zeitersparnis aus zwei oder meh- Radikal des 1. Zeichens und dem gan-
reren Einzelzeichen bzw. deren charakteristi- zen 4. Zeichen des Ausdrucks
schen Bestandteilen zusammengesetzte Zei-
chen gebildet, um immer wiederkehrende Be-
griffe einfacher schreiben zu können. Im äl- Während des Koreakrieges (1950—53) wurde
von chin. Seite das Zeichen
26.  Die chinesische Schrift 375

(67) kàng-Měi yuán-Cháo „den USA Wi- das die buddhistische Mönchsgemeinde be-
derstand leisten und (Nord)korea unter- zeichnet, einer Übersetzung ins Chinesische
stützen“ < dem Radikal des 1. und aber heftigen Widerstand entgegensetzte und
dem rechten Bestandteil des 4. Zei- daher phonetisch transliteriert werden mußte.
chens des Ausdrucks Welcher Art diese Widerstände waren, läßt
sich unschwer daran ablesen, daß keine der
verwendet. In der Handschrift kommen Li- ins Auge gefaßten chin. Entsprechungen für
gaturen dieser Art immer wieder vor und sind ‘Zusammenschluß, Vereinigung’, usw. eine
auch nicht auf den politischen Bereich be- Bedeutung zu suggerieren vermochte, die et-
schränkt. Früher gab es bereits solche Bei- was mit einer Klerikervereinigung zu tun ge-
spiele: habt hätte. Die U msetzung der beiden Sans-
(68) lìshǐ „Geschichte" < dem Radikal krit-Silben ins Chin. ergab zwar verhältnis-
des 1. und dem ganzen 2. Zeichen des mäßig einfach die Lautung [tsǝŋ 1 -kar 1 ], die
Binomens Schreibung mit passenden Schriftzeichen be-
(69) réngōngshi „Kunststein“ < Zusam- reitete aber etwas größere Schwierigkeiten, da
mensetzung der 3 Einzelzeichen sich bei Auswahl chin. Schriftzeichen stets ihr
‘(von) Menschen’ ‘gearbeiteter’ semantischer Hintergrund lautstark zu Wort
‘Stein’ zu einem einzigen Zeichen. meldet. Fiel die Wahl z. B. auf die beiden
Zeichen , so wäre nicht auszuschließen
Andererseits bestand aber in der neueren Zeit gewesen, neben den wörtlichen Eigenbedeu-
seit etwa 300 Jahren insbesondere für die tungen „früher“ — „hinzufügen“ auch an
schriftliche Fixierung der gesprochenen Spra- einen Personennamen zu denken, da das erste
che die Notwendigkeit, neue Darstellungs- Zeichen häufig als Familienname vorkommt.
mittel für die Allegro-Formen zu schaffen, die U m solchen etwaigen Mißverständnissen von
sich ja in jeder Sprache laufend bilden. Sie vornherein vorzubeugen, wandte der „Erfin-
sind durch Einsilbigkeit charakterisiert, so der“ einen im späteren Verlauf der Schrift-
daß sie mit dem Prinzip der Schrift 1 Silbe = geschichte noch öfter verwendeten Trick an:
1 Zeichen im Einklang stehen. Die auf diese er versah beide Zeichen mit dem graphischen
Weise notwendig gewordenen Einzelzeichen Zusatz , der in sehr vielen Zeichen vor-
sind sämtlich Ligaturen aus den Lento-For- kommt und zum Ausdruck bringt, daß das
men der Sprache, wie z. B. betreffende Zeichen in den Gedankenbereich
(70) wāi „schief < búzhèng „nicht ‘menschliche Wesen’ gehört: . Damit war
gerade“ zweierlei erreicht: einmal eine Schreibung, die
(71) nāo „schlecht“ < bùhǎo „nicht das Wort einigermaßen phonetisch adäquat
gut“ wiederzugeben imstande war, und die zum
(72) béng „unnötig“ < búyòng anderen durch den Zusatz = ‘Mensch’
„nicht nötig“ einen gewissen Anhaltspunkt liefern konnte,
in welchen Zusammenhang der neue Begriff
und viele andere gleichen Aufbaus. zu stellen war. Ein zusätzlicher positiver Ne-
beneffekt bestand noch darin, daß sich etwas
4.3. Neu geschaffene Zeichen völlig Neues, wie es diese beiden Zeichen
Neue Begriffe in ein etabliertes Schriftsystem waren, besser einprägt als Altbekanntes. In
aufzunehmen, bereitet in Buchstaben- oder China werden noch heute neue Zeichen ge-
Silbenschriften schon Schwierigkeiten, ist für schaffen, wenn die Notwendigkeit dazu be-
die chin. Schrift aber noch viel schwieriger; steht. U nd sie besteht z. B. in den Naturwis-
sie läuft fast zwangsläufig darauf hinaus, neue senschaften.
Zeichen zu schaffen. Als der Buddhismus
etwa ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. in China 4.3.1. Neue Zeichen in den
Fuß faßte, brachte er mit seiner von der chin. Naturwissenschaften
verschiedenen Gedankenwelt auch seine zahl- Für die bekannten chemischen Elemente wie
reichen Fachtermini mit, von denen einige Kupfer, Gold, Silber, Eisen usw. haben in
trotz der Bemühungen der in Indien ausge- China seit jeher etablierte Bezeichnungen und
bildeten Chinesen und der nach China ge- daher auch Schriftzeichen existiert. Es ver-
kommenen Inder den Übersetzungsversuchen steht sich dabei von selbst, daß die Benen-
trotzten. Ein instrukives Beispiel dafür ist das nungen aus e i n e r Silbe bestanden und mit
Sanskrit-Wort saṃgha (damalige Aussprache e i n e m Schriftzeichen geschrieben wurden
etwa [ t sãgha], wörtlich: „Zusammenschluß“), und werden. An diesem Prinzip änderte sich
376 III. Schriftgeschichte

auch nichts, als immer neue Elemente und Bei Verbindungen usw. ist dasselbe Prinzip
immer neue chemische Verbindungen benannt zur Anwendung gelangt und interessanter-
werden mußten. Die dafür notwendigen weise auch bei theoretischen Begriffen nicht
neuen Zeichen haben inzwischen einen U m- außer Acht gelassen worden.
fang erreicht, der es selbst dem interessierten (79) tóng „Ke tone “ (R 1 — CO — R 2 ) <
Laien praktisch unmöglich macht, z. B. einen Radikal als Indikator für eine Reihe
Zeitungsartikel mit chemischen Fachausdrük- von Stoffen, die weder Metall noch Gas
ken zu verstehen. Die neuen Zeichen in die- oder Stein sind (Schwierigkeit der
sem Bereich sind alle nach dem Prinzip der Zuordnung und zunehmender Auf-
Determinativphonetika gebildet, bei denen brauch eigentlich zuständiger Radikale!)
ein Determinativum in der Regel angibt, ob und dem Phonetikum tóng zur Wie-
es sich um Metall, Gas, Stein usw. handelt, dergabe der 2. Silbe
während das Phonetikum die ungefähre eng- (80) běn „Ben zol“ (C 6 H 6 ) < Radikal
lische Aussprache der ersten (falls diese be- > ‘Gräser’ aus demselben Grund
reits anderweitig besetzt ist, der zweiten) Silbe
wiederzugeben versucht. Daß es dabei fast nie wie in Beispiel (79) und dem Phonetikum
ohne größere Kompromisse abgeht, versteht běn zur Darstellung der 1. Silbe
sich von selbst. (81) hán „Enthalpie“ < Radikal
(73) láo „ Law rencium“ (Lr) < Radikal ‘Wärme’ und dem Zeichen hán ‘ent-
‘Metall’ und Phonetikum láo zur halten sein’, da Enthalpie als die gesamte
Wiedergabe der 1. Silbe Wärme definiert ist, die in einem System
(74) nǎi „Neon“ (Ne) < Radikal enthalten ist
(82) shāng „Entropie“ < Radikal
‘Gas(e)’ und Phonetikum nǎi mit [ai
‘Wärme’ und dem Zeichen shāng
> ε] zur Wiedergabe der 1. Silbe
(75) gǔ „ Ko balt“ (Co) < Radikal ‘ Me- ‘Quotient’, da Entropie als Quotient aus
der reversiblen Wärme menge und der
tall’ und Phonetikum gǔ zur andeu- absoluten Temperatur eines Systems de-
tungsweisen Wiedergabe der 1. Silbe finiert ist.
Die neuen Zeichen beschränken sich jedoch Ein interessanter Systemzwang erschien eben-
nicht auf die Bezeichnung chemischer Ele- falls auf naturwissenschaftlichem — diesmal
mente, sondern sind auch für andere chemi- zoologischem — Gebiet in den 60er Jahren
sche Termini von Verbindungen, funktionei- dieses Jahrhunderts. Das erst 1901 in Äqua-
len Gruppen und sogar Begriffen der Theorie torialafrika entdeckte Okapi (Okapia john-
gebildet worden. stoni) wurde bis in die 50er/60er Jahre in der
(76) piē „ P rotium“ ( ) < Radikal VRC und wird heute noch in Taiwan chin.
‘Gas(e)’ und dem Phonetikum piě zur huòjiāpí geschrieben, ohne daß auch
Wiedergabe des Anlauts und gleichzeitig nur eines der 3 Zeichen irgendeinen Hinweis
durch Verwendung eines Strichs zur darauf hätte, daß es sich um ein Tier handelt.
Andeutung des Wasserstoffisotops mit Nun existieren aber 2 heute nicht mehr ver-
der Massenzahl 1 wendete Zeichen jiā (eigentliche Bedeu-
(77) dāo „Deuterium“ ( , D) < Radikal tung: „500jähriger Affe, der auf Menschen-
Gas(e)’ und dem Phonetikum fang ausgeht“) und pi (eigentliche Bedeu-
> dāo zur Wiedergabe des An- tung: „in die Höhe fliegen“), die aussprache-
lauts und gleichzeitig durch Verwen- mäßig die 2. und 3. Silbe des Wortes ‘Okapi’
dung zweier Striche ǁ zur Andeutung wiederzugeben imstande sind und durch das
des Wasserstoffisotops mit der Massen- Tier-Radikal darüber hinaus noch einen
zahl 2 Anhaltspunkt geben können, in welchen Ge-
(78) chuān „ T ritium“ ( , T) < Radikal dankenbereich das Wort gehört. Die Verlok-
Gas(e)’ und dem Phonetikum kung, diese beiden Zeichen als phonetische
chuān zur ganz schlechten Wiedergabe Wiedergabe von ‘-kapi’ zu verwenden, muß
des Anlauts und durch Verwendung so groß gewesen sein, daß man nun auch nicht
dreier Striche  zur Andeutung des Was- mehr widerstehen konnte, das 1. Zeichen
serstoffisotops mit der Massenzahl 3. (eigentliche Bedeutung: „Schreckruf der Vö-
Der Zwang des Systems hatte bei den
Strichen zur Kennzeichnung der Mas-
senzahl keine andere Wahl mehr gelas-
sen, als auf chuān auszuweichen, obwohl
sich Anlaute mit [t ~ t‛] durchaus hätten
darstellen lassen.
26.  Die chinesische Schrift 377

gel z. B. bei einem Gewitter“) mit dem Tier- (88) jɐp 7 „etwas, das naß geworden ist
Radikal zu versehen, um ein einheitliches und wieder trocken werden muß, aber
äußeres Erscheinungsbild des ganzen Wortes noch nicht wieder trocken ist“
zu erhalten. Dieses neue Zeichen ist weder
in den Shànghǎier Ausgaben des chin. Stan- 4.4. Tabu-Zeichen
dardwörterbuches Cíhǎi von 1936 (Erst- ( jìngbì-zì oder huì )
ausgabe) und 1948 noch in der Táiwān-Aus-
gabe von 1962 enthalten, sondern erscheint Vornamen zur Identifizierung einer Person
erst in den VRC-Ausgaben, und zwar inter- waren früher immer mit einem gewissen Flair
essanterweise 1965 in der Aussprache /ō/ zur des Geheimnisses umgeben, da man annahm,
Wiedergabe der 1. Silbe von ‘Okapi’ unter Macht über die Person zu haben, wenn man
Außerachtlassung des Phonetikums /huò/, ihren wirklichen Vornamen kannte. Nachdem
1979 aber dann in der Aussprache /huò/, wo- ein Chinese bei der Geburt zunächst einen
mit dem Prinzip der Determinativphonetika nǎimíng „Milchnamen“ und wenig später
wieder voll Geltung verschafft worden ist. Die einen xiǎomíng „kleinen Namen“ er-
VRC schreibt heute ausnahmslos in der neuen halten hatte, bekam er im Knabenalter seinen
Form huòjiāpí, während Taiwan es richtigen „persönlichen Vornamen“ míng,
bei Formen beläßt, die keinen Bezug auf der dann bei Erreichen der Volljährigkeit
„Tier“ enthalten. durch den als Rufname fungierenden „Anre-
denamen“ zi ersetzt wurde, wodurch der
4.3.2. Neue Zeichen für Dialektausdrücke „persönliche Vorname“ für die Zukunft ta-
Nachdem die gesprochene Sprache seit Be- buisiert wurde. Bei den Vornamen berühmter
ginn dieses Jahrhunderts auch in literarischen Persönlichkeiten und den Prinzennamen
nachmaliger Kaiser war es aus Gründen der
Werken mehr und mehr Verwendung gefun- Ehrerbietung schließlich U sus geworden, die
den hat, ist es nur natürlich, daß darin auch in ihren Vornamen vorkommenden Zeichen
manche Dialektausdrücke vorkommen, die in ihrer eigentlichen Form zu tabuisieren, in-
für eine bestimmte Region charakteristisch
dem die entsprechenden Zeichen so nicht
sind, für die die Standardschrift aber keine
Zeichen zur Verfügung hat. Einerseits waren mehr verwendet werden durften. Wer ein sol-
sie in gewisser Beziehung verpönt, anderer- ches Zeichen in einem normalen Kontext in
der Staatsprüfung schrieb, fiel unweigerlich
seits offiziell aber auch nicht gefördert, da die durch (Hauer 1926, 25). Konfuzius (
Standard(hoch)sprache aus der Sorge heraus,
die Zementierung von Dialektunterschieden Kǒng fū-zǐ) hatte den Vornamen Qiū, und
könne sich negativ auf die angestrebte Ein- insbesondere die Konfuzianisten wollten die-
heitlichkeit der Sprache und damit auch auf ses Zeichen aus Ehrfurcht vor dem großen
die politische Einheit auswirken, im Mittel- Philosophen nicht mehr gebrauchen. Seine ur-
punkt des Interesses stand und steht. Trotz- sprüngliche Bedeutung „sanfter Hügel“ kam
dem sind Dialektausdrücke überregionaler aber durchaus in normalen Kontextzusam-
Bedeutung in Lexika der Standardsprache menhängen vor, ohne ersetzt werden zu kön-
aufgenommen, und es gibt eine Reihe von nen, und darüber hinaus gab es auch noch
Dialektwörterbüchern, die auch die eigens für zahlreiche Schriftzeichen, in denen es als Pho-
solche Begriffe geschaffenen Zeichen auffüh- netikum vorkam. Abhilfe schuf hier das Skal-
ren. Aus den beiden großen Dialektgebieten pell, indem man einen Strich des Zeichens
Shànghǎi und Guǎngdōng (Kan- wegnahm und fortan nur das verstümmelte
ton) seien einige Beispiele angeführt: Zeichen schrieb, bis wie bei den Kaisernamen
1. Dialektgebiet Shànghǎi Entwarnung gegeben werden konnte — bei
ihrem Ableben. Bei Konfuzius sah das dann
(83) zɔ 13 „noch nicht ganz ausgewach- so aus:
sen“ (von Tieren) (91) für das eigentliche qiū,
(84) li 31 „sie“ (Pers.-pron. 3. P. sg. f.) (92) für das eigentliche qiū „Regen-
(85) tso? 5 (Lockruf für Hühner) wurm“
2. Dialektgebiet Guǎngdōng (Kanton) und viele weitere Zusammensetzungen. — Bei
(86) lek 9 (Bezeichnung der Auslandschi- Kaiser Kāngxī war es mit seinem Vornamen
Xuányè nicht anders, wo man den letz-
nesen für) Singapur ten Strich des Zeichens wegließ ( ),
(87) si 1 „vorbeizischen“ um der Ehrfurcht Genüge zu tun. Auch hier
378 III. Schriftgeschichte

waren alle Zusammensetzungen gleicherma-


Linguodentale:
ßen betroffen.
[] [ts‛] [s]
(93) für das eigentliche xuàn „von (Halb)vokale:
etwas geblendet sein“ [i][j] [u] [w] [y]
Einzelvokale:
4.5. Aussprachebezeichnung mit einer [] [ɔ] [ǝ, ] [-ε]
Lautschrift sui generis (
Auslaute:
zhùyīn-zìmǔ bzw. zhùyīn- fúhào )
[ai] [an] [an] [ao] [εi]
Während Japan mit den Kana-Syllabaren und [ѷn] [ǝŋ] [] [ou]
Korea mit der Han’gǔl-Schrift schon verhält- Da die Zeichen [v], [ŋ-] und [] schon
nismäßig früh Mittel und Wege gefunden hat-
ten, die Aussprache der chin. Zeichen mehr bald nicht mehr verwendet wurden, ver-
oder minder genau darzustellen, stand China schwanden sie genauso wie die in den 50er/
nie vor dem Problem, die Lesung seiner eige- 60er Jahren für die in die Silbentafel neu
nen Zeichen für das eigene Volk noch geson- aufgenommenen Zeichen für die silbisch aus-
dert anzugeben: wer lesen konnte, ko n n t e gesprochenen Konsonanten [m], [n]
lesen, und zwar mit all den Fährnissen, die und [ŋ] wieder aus den Aussprache-Zei-
öfters damit verbunden waren. Wer nicht le- chen (Kanegae 1960, 1150).
sen konnte, brauchte auch keine besondere Die Verwendung[rj] der Ausspra-
Aussprachebezeichnung. Erst die literarische che-Zeichen ist fast gänzlich
Revolution von 1917 forderte im Zusammen- auf Wörterbücher und Zeichen-
hang mit der Propagierung der gesprochenen lexika beschränkt, obwohl man
Sprache auch im geschriebenen Bereich eine eigentlich hätte annehmen sol-
allgemeine Verbreitung der Lesefähigkeit und len, ein praktikables Mittel in
damit verbunden selbstverständlich der rich- der Hand gehabt zu haben, um
tigen Aussprache. Am 23. November 1918 zumindest fremde nom ina pro-
gab daher das Erziehungsministerium eine pria damit schreiben zu kön-
Verfügung heraus, mit der unter der Bezeich- nen. Sie sind aber im Gegensatz
nung zhùyīn-zìmǔ „Aussprache-Alphabet“, z. B. zur jap. Schrift nie dafür
die am 29. April 1930 in zhùyīn-fúhào „Aus- verwendet worden, wofür einer
sprache-Zeichen“ abgeändert wurde, ein Sy- der Gründe vielleicht gewesen
stem von Zeichen eingeführt wurde, durch das sein mag, daß das äußere Er-
die Aussprache chin. Schriftzeichen in An- scheinungsbild eines chin. Tex-
und Auslaut zerlegt wiedergegeben werden tes dadurch gestört worden
konnte. Den Aussprache-Zeichen liegen ältere wäre. Das nebenstehende Bei-
Formen und Abweichungen normaler chin. spiel stammt aus der táiwāne-
Zeichen zugrunde, die heute nicht mehr ver- sischen Tageszeitung
wendet werden und daher für andere Zwecke Guóyǔ-Rìbào vom 9. Februar 1993, wobei
frei waren. Die Aussprache-Zeichen haben nicht verschwiegen werden darf, daß die Zei-
folgende Formen: tung für Lernende (Kinder und Erwachsene,
An- und Einzellaute: die sich mit den Standardlauten vertraut ma-
chen wollen) gedacht ist. Es ist eine Artikel-
Bilabiale: überschrift hāi, nǐ hǎo m a? „Hallo! Wie geht’s
[] [p‛] [m] dir?“ Wie daraus ersichtlich ist, werden auch
Labiodentale: die Töne beim letzten Aussprache-Zeichen an
[f] [v] dessen rechter oberer Ecke gekennzeichnet,
Apikodentale: wobei der 1. Ton allerdings unbezeichnet
[] [t‛] [n] [l] bleibt, 2. (′), 3. (ˇ) und 4. (‵) Ton wie in der
Velare: normalen Transliteration in lateinische Buch-
[] [k‛] [ŋ] [h] staben (pīnyīn), der dort unbezeichnete „neu-
Apikopalatale: trale Ton“ qīngshēng jedoch durch einen
[z  ] [t‛] [] [] Punkt auf Mitte (·) vor dem tonlos zu lesen-
Retroflexe: den Schriftzeichen besonderrs gekennzeichnet
[tʃ‛] [tʃ‛] [ʃ] [ʒ] wird.
26.  Die chinesische Schrift 379

5. Die Anordnung der chinesischen bestands aus (Gabelentz 1881, 47). Die nach
Schriftzeichen Beendigung des II. Weltkriegs am 16. Novem-
ber 1946 in Japan dekretierte und die in der
Buchstabenschriften haben normalerweise VRC zwischen 1952 und 1977 durchgeführte
keine besonderen Probleme mit der Anord- Schriftreform hat hier den kleinen Riß im
nung des Vokabulars. Die Reihenfolge der Damm der Radikale herbeigeführt, die ihn
Alphabete liegt fest, sieht man von Einzelfäl- z. T. haben einstürzen lassen. Bei den in Japan
len ab wie dem, daß der Duden ö als o + e, und der VRC vorgenommenen Vereinfachun-
Meyers Enzyklopädisches Lexikon ö aber gen der Schriftzeichen, die leider zu einem
hinter o einordnet. Bei den chin. Zeichen Teil nicht identisch sind, ist es vorgekommen,
schob besonders am Anfang der Schriftent- daß der alte Radikal dabei unversehens ver-
wicklung die große Anzahl einer Ordnung schwand, wenn z. B. aus guī ‘zurückkeh-
irgendwelcher Art einen Riegel vor, denn wie ren’, dessen Radikal ‘Schritt’ war, in Japan
sollte man eine komplexe Anordnung von
Strichen ordnen? So waren es denn semanti- und in der VRC wurde. Für die Kom-
sche Kriterien, von denen sich frühe Zusam- pilatoren von Zeichenlexika ist dieser U m-
menstellungen leiten ließen. Das älteste er- stand bis heute Anlaß zu Verwirrung, denn
haltene chin. Werk dieser Art ist das im 2. von den übriggebliebenen Bestandteilen ist
Jahrhundert v. Chr. kompilierte Ěryǎ aus semantischen Gründen keiner geeignet,
eine Radikalfunktion zu übernehmen, wes-
mit etwa 3300 Zeichen, die inhaltlich mit Hilfe halb dieses Zeichen entweder unter dem alten
von Synonymen erläutert werden. Sie sind zu Radikal erscheint oder aber unter einem neu
einzelnen Gruppen zusammengefaßt, ohne eingeführten Verlegenheitsradikal anzutreffen
daß die Zeichen graphisch geordnet sind. 100 ist. Der letztere Ausweg wird heute in Japan
n. Chr. erschien das Shuōwén-jiězì und der VRC sehr häufig beschritten, ohne
von Xǔ Shèn (58?—147?), das 9353 daß es bisher zu einer Normierung gekommen
Zeichen enthält, die erstmals nach graphi- wäre. Einige Autoren sind dabei soweit ge-
schen Gesichtspunkten angeordnet sind. Die gangen und haben früher einheitliche Radi-
Radikale als Determinative für einen be- kale getrennt ( und beide ‘Hand’) oder
stimmten Gedankenbereich waren in der früher getrennte Radikale zu einem zusam-
Schrift inzwischen zunehmend in Gebrauch mengelegt ( ‘Mond’ und ‘Fleisch’), was
gekommen, um die wachsende Anzahl von die Verwirrung noch größer gemacht hat. Ver-
Zeichen bewältigen zu können, und boten einfacht hat es die Sachlage nicht, denn man
sozusagen von Natur aus ein Ordnungs- muß heute bei jedem neuen Zeichenlexikon
schema an. Gleiche graphische Elemente wur- erst die Betriebsanleitung genau studieren,
den zu einer Gruppe zusammengefaßt und ehe man es benutzen kann. Die VRC hat
konnten so das Gerippe einer Zeichenzusam- zudem versucht, vom System der Radikale
menstellung bilden. Das Shuōwén-jiězì hat 540 ganz abzugehen und den 1. und 2. Strich eines
solcher Gruppen, die später bù ‘Abteilung’ Zeichens zum Ordnungsprinzip zu erheben (s.
genannt wurden. Sie waren noch nicht nach Abb. 26.8), was aber ebensowenig hilfreich
der Anzahl der Striche in aufsteigender Rei- war und wieder aufgegeben worden zu sein
henfolge geordnet. Danach ist aber kein Zei- scheint. Der Lernende in Europa und Ame-
chenlexikon mehr von der Anordnung nach rika ist von Anfang mit dem Aufsuchen von
bù abgewichen, selbst wenn ihre Aufreihung chin. Schriftzeichen in einem Zeichenlexikon
und Anzahl selbst bis heute starken Schwan- konfrontiert, was zunächst einmal dazu ge-
kungen unterliegt. Das von Méi führt hat, die Radikale der Einfachheit halber
Yīngzuò (Hauptschaffensperiode 1570— durchzuzählen und sie bei ihrer Nummer zu
1615) kompilierte Zìhuì enthält 33 179 nennen ( ist Radikal Nr. 75 ‘Baum’), nur
Zeichen, die erstmals nach 214 Radikalen in sollte man dabei nicht vergessen, daß diese
aufsteigender Anzahl der Striche angeordnet Nummern in ganz Ostasien unbekannt sind.
und damit Vorbild für alle späteren Zeichen- Die Radikale haben in jeder Landessprache
lexika bis in die Zeit nach dem Ende des II. ihren eigenen Namen — alle 214, nur die
Weltkriegs geworden sind. Der Leitgedanke versuchsweise neu eingeführten nicht. So ist
bei der Radikalanordnung war die Abstek- das besagte Radikal 75 ‘Baum’ in China
kung eines Gedankenbereichs (= Radikal), mùzìpáng ‘(mit dem) Zeichen ‘Baum’
der in den meisten Fällen durch ein Phoneti- an der Seite’, in Japan kihen ‘Radikal’
kum ergänzt wird. Diese Determinativpho- (-hen) ‘Baum’ (ki-) und in Korea
netika machen 94,8% des gesamten Zeichen-
380 III. Schriftgeschichte

Abb. 26.8: Vorschlag zur Anordnung der chin. Schriftzeichen nach den ersten beiden Strichen.
nam u-m ok byǒn ‘Radikal’ (byǒn) ‘Baum’ Seit dem 11. Februar 1958 ist nun von der
(rein-kor. namu )-‘Baum’ (sino-kor. mok ). In VRC ein mit lateinischen Buchstaben arbei-
Europa und Amerika haben sich Kompilato- tendes Transliterationssystem für die chin.
ren von für Lehrzwecke konzipierte Zeichen- Sprache eingeführt worden, das von der Aus-
lexika aber etwas ausgedacht, dem Lernenden spracheseite her in der Lage ist, eine Anord-
die Suche nach den Zeichen zu erleichtern, in- nung für Zeichenlexika zu bieten, die auch in
dem sie in vielen Fällen in Mißachtung (oder der Reihenfolge des lateinischen Alphabets
U nkenntnis?) der Beziehungen zwischen Ra- geschehen kann. Dieses pīnyīn ‘Laute
dikal und Determinativphonetikum alteinge- zusammensetzen’ genannte System ist heute
sessene Radikale von ihrem Stammplatz ver- in der VRC offiziell als Hilfsschrift eingeführt
jagten und unter Möchtegernradikale einord- und hat das insbesondere in Europa und
neten. wén ‘hören’ steht traditionell unter Amerika bisher fast ausschließlich verwendete
dem Radikal ‘Ohr’, wèn ‘fragen’ unter Transliterationssystem von Wade-Giles, das
‘Mund’; das Tor drumherum hat mit im wesentlichen auf der englischen Ausspra-
einem Radikal überhaupt nichts zu tun, denn che der Buchstaben basierte, schon fast ver-
es ist in beiden Zeichen Phonetikum. Die au- drängt. Wie bei jedem System, so muß man
genblickliche Hilfe für den Lernenden schlägt auch bei dem pīnyīn- System einige Konzessio-
rasch in Ärger um, sich nicht gleich das rich- nen an die Praktikabilität machen. So sind
tige Radikal eingeprägt zu haben, wenn man Sonderzeichen wie , ч, ŋ, ș, , die 1954 noch
mit den Standardlexika arbeiten muß. in der shízì zhèng-
Ein zweites Ordnungssystem geht zwar yīn sānqiānwǔbǎi zì biǎo „Liste von 3500 Zei-
auch von der graphischen Gestalt der Schrift- chen in richtiger Aussprache zum Lesen und
zeichen aus, berücksichtigt aber nicht die am Schreiben“ enthalten waren, wieder getilgt
Aufbau eines Zeichens beteiligten Kompo- worden, da die internationalen Kommunika-
nenten, sondern nur die graphische Gestal- tionsmittel nicht über diese Buchstaben ver-
tung der linken oberen, linken unteren, rech- fügen. Die pīnyīn -Transliteration stellt sich
ten oberen und rechten unteren Ecke eines heute in ihrer bis jetzt endgültigen Form fol-
Schriftzeichens. Je nach ihrem Aussehen be- gendermaßen dar:
kommen diese Ecken Ziffern zwischen 0 und /a/ [a] im Normalfall der vordere tiefe
9 zugeteilt und, wenn nötig noch eine diffe- ungerundete orale Vokal, sonst
renzierende 5. Ziffer. So erhält z. B. das Zei- [ε] im Auslaut /-ian/ und in der Silbe
chen duān ‘Ende, Rand’ aufgrund sei- /yan/
ner Ecken die Ziffern 0212 in der Reihenfolge /b/ [] stimmlose unaspirierte labiale Te-
oben links/rechts und unten links/rechts sowie nuis
einen U nterscheidungsindex 7 , also 0212 7 . /c/ [ts‛] stimmlose aspirierte dorsoalveo-
Praktisch läuft es darauf hinaus, sich die lare Affrikata
5stelligen Zahlen zu merken, um ein Zeichen /ch/ [tʃ‛] stimmlose aspirierte dorsopalatal-
aufschlagen zu können. Da es dann auch noch retroflexe Affrikata
wie bei der Nummer 4422 7 vorkommen kann, /d/ [] stimmlose unaspirierte alveolare
daß 42 Zeichen darunter eingeordnet sind, Tenuis
dürfte es auf der Hand liegen, daß die Radi- /e/ [ε, ɔ, , ǝ] je nach dem vorhergehenden
kale wohl der sicherste und damit auch der Konsonanten
schnellere Weg sind, Zeichen aufzusuchen. /f/ [f] stimmlose labiodentale Frikativa
Die mit dem chin. Begriff /g/ [] stimmlose unaspirierte velare Te-
Sìjiǎo-hàom ǎ cházìfǎ ‘Methode zum Zeichen- nuis
aufsuchen (nach den) 4 Ecken’ bezeichnete /h/ [x] stimmlose velare Frikativa
Methode hat sich letztlich auch nicht allge- /i/ [i] im Normalfall der vordere hohe
mein durchsetzen können. ungerundete orale Vokal
26.  Die chinesische Schrift 381

von dieser wissenschaftlichen U mschrift bis-


[] dorsoalveolarer Vokal nach den
lang unberührt, wie es seit den Tagen von
Konsonanten /c/, /s/ und /z/ Marco Polo gewesen ist, der ‘Japan’
[] dorsopalataler Vokal nach den
Konsonanten /ch/, /r/, /sh/ und
mit Zipangu wiedergab und die damalige
/zh/ Aussprache ʒ I 4 pǝn 3 kuǝi 3 damit fast getrof-
/j/ [t] stimmlose unaspirierte alveolare fen hatte.
Affrikata
/k/ [k‛] stimmlose aspirierte velare Tenuis
/l/ [l] stimmhafter alveolarer Lateral 6. Schluß
/m/ [m] stimmhafter bilabialer Nasal Eine Schrift ist an uns vorübergezogen, die in
/n/ [n] stimmhafter alveolarer Nasal ihrer fast verwirrenden Vielfalt seit über
/ng/ [ŋ] stimmhafter velarer Nasal 4000 Jahren in ständigem Gebrauch ist und
/o/ [o] hinterer mittehoher gerundeter bisher keinerlei Abnutzungserscheinungen ge-
oraler Vokal nach den Konsonan- zeigt hat. Im Gegenteil: sie stellt ihre Frische
ten /b/, /f/, /m/ und /p/ immer wieder unter Beweis, wenn es gilt, neue
/p/ [p‛] stimmlose aspirierte bilabiale Te- Situationen zu meistern, wie es die Naturwis-
nuis senschaften und die Dialekte gezeigt haben.
/q/ [t‛] stimmlose aspirierte alveolare Af- Auf ein paar Zeichen mehr oder weniger
frikata kommt es schließlich nicht an — alle kann
/r/ [] stimmhafte dorsopalatal-retro- sowieso niemand behalten, selbst die 8079
flexe Frikativa (eigene Zählung) des zum Standard- Taschen-
/s/ [s] stimmlose dorsoalveolare Frika- lexikon avancierten Xīnhuá zìdiǎn
tiva nicht, von dem man annehmen kann, daß es
/sh/ [ș] stimmlose aspirierte alveolare Te- die gebräuchlichsten Zeichen aufgelistet hat.
nuis Das tägliche Leben kommt sowieso mit viel
/u/ [u] im absoluten Auslaut der hintere weniger — etwa der Hälfte — aus. Die pīnyīn-
hohe gerundete orale Vokal U mschrift war einmal dazu gedacht gewesen,
[w] Halbvokal vor /a/, /i/ und /o/ die chin. Zeichen ganz zu ersetzen. Aber hier
[y] vorderer hoher gerundeter oraler muß man wohl der chin. Sprache den Dank
Vokal nach den Konsonanten /j/, abstatten, daß sie solch ein Vorhaben durch
/q/, /x/ und /y/ ihre in diesem Fall alles besiegende Homo-
/ü/ [y] nach anderen Konsonanten als /j/, phonie vereitelt hat und wohl auch weiterhin
/q/, /x/ und /y/ vereiteln wird, denn solange die Chinesen
/w/ [ω] bilabialer Halbvokal im absoluten Chinesisch sprechen und sich diese Sprache
Anlaut nicht von Grund auf ändert, was wohl nicht
/x/ [] stimmlose alveolare Frikativa im Bereich der Möglichkeiten zu liegen
/y/ [j] stimmhafte palatale schwache Fri- scheint, werden sie auch weiterhin ihre Schrift
kativa im absoluten Anlaut gebrauchen (müssen) und wir Gelegensheit
/z/ [] stimmlose unaspirierte dorsoal- haben, uns an ihr zu erfreuen.
veolare Affrikata
/zh/ [tʃ] stimmlose unaspirierte dorsopala-
tal-retroflexe Affrikata 7. Literatur
Die Bezeichnung der Töne wird über dem Callery, J. M. 1841. Systema Phone-
Hauptvokal mit ̄ für den 1. (Tonverlauf 55 ), ticum Scripturae Sinicæ. Pars I/II, Macao.
′ für den 2. ( 35 ), ˇ für den 3. ( 214 ) und ̀ für Fenn, Courtenay H. 5 1940. The Five Thousand
den 4. ( 51 ) Ton angegeben, der neutrale Ton Dictionary, Peking.
bleibt unbezeichnet. Wenn beim Zusammen- Gabelentz, Georg von der. 2 1953 (Neudruck von
treffen mehrerer Vokale Mißverständnisse zu 1 1881). Chinesische Grammatik, Berlin.
befürchten sind, welche Vokale zu welcher
Silbe gehören, werden nicht zusammengehö- Hauer, Erich. 1926. Das Mandschurische Kaiser-
rende Vokale durch einen Apostroph ge- haus, sein Name, seine Herkunft und sein Stamm-
trennt, z. B. xī’ān, da /xian/ [jεn] lauten baum, in: Mitteilungen des Seminars für Orienta-
würde. lische Sprachen an der Friedrich-Wilhelms-U niver-
Selbstverständlich bleiben die jeweiligen sität zu Berlin, Jahrgang XXIX, Erste Abteilung:
nationalen, an der Orthographie und Orthoe- Ostasiatische Studien, Berlin.
pie ausgerichteten Transliterationssysteme Kanegae, Nobumitsu. 1960. Zhongguoyu Cidian,
Tōkyō.
382 III. Schriftgeschichte

Shirakawa, Shizuka. 1984. Jitō, Tōkyō.


Keightley, David. N. 2
1985. Sources of Shang His- 1984.
tory, Berkeley/Los Angeles/London. Stary, Giovanni. 1980. Die chinesischen und mand-
Lǐ Xuéqin. 1990. Chūgoku kodai kanjigaku no dai- schurischen Zierschriften, Hamburg.
ippo, Tōkyō. Jap. Übersetzung von Obata Toshi- Sūn Zhīxiù. 1881. Zhuànshū bǎi tǐ Qiān-zì-wén.
yuki des chin. Werks Gǔwén zìxué chūjiē (Peking Nachdruck Tōkyō 1984.
1983).
1984.
1990 Suzuki, Toshio (ed.). 1986. Kore ga goman-ji, Tō-
1983). kyō.
Lindqvist, Cecilia. 1990. Eine Welt aus Zeichen, 1986.
München 1990 (deutsche Übersetzung von Lothar Tsien, Tsuen-hsuin [ ]. 2 1963. Written on
Schneider des Werkes „Tecknens Rike“, 1989).
Bamboo and Silk, Chicago.
Martin, Helmut. 1982. Chinesische Sprachplanung,
Wáng, Gāng. 1982. Shūfǎ-zìdiǎn, Chóngqìng.
Bochum.
1982.
Menninger, Karl. 2 1958. Zahlwort und Ziffer I/II,
Göttingen. Wilhelm, Richard. 1923. I Ging — das Buch der
Wandlungen, Düsseldorf/Köln.
Morohashi, Tetsuji. 2 1984—86. Dai-Kanwa-jiten,
Xīn-Huá zìdiǎn. 1972. Běijīng.
Tokyo.
1972.
59—61.
—. 1982. Kō-Kanwa-jiten, Tōkyō. Yāng Zōngkuí (ed.). O. J. Zhōng-yīng wénzìtǐ shèjì
57. jìfǎ, Táiběi.
Okazaki, Kei (ed.). 1986. Dai-Kōga-bummei no
nagare — Santō-shō bumbutsu-ten, Tōkyō. Zhōngwén Dàcídiǎn biānzuǎn wěiyuánhuì (ed.).
1962. Zhōngwén Dàcídiǎn, Táiběi.
61.
1962.
Shima, Kunio (ed.). 1977. Inkyo bokuji sōrui, Tō-
kyō. Wolfram Müller-Yokota,
1977. Bochum (Deutschland)

27. Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:


Japan — Korea — Vietnam

1. Japan
2. Korea jap. japanisch
3. Vietnam kor. koreanisch
4. Literatur viet. việtnamesisch

Abkürzungen
a) Aussprachen (hochgestellt) 1. Japan
altj altjapanisch 1.1. Anfänge
c chinesisch
j rein-japanisch Daß das chinesische Schriftsystem auf die
Nachbarn Chinas nicht ohne Einfluß bleiben
kant kantonesisch
konnte, stand eigentlich von vornherein fest
mitk mittel-koreanisch und war nur eine Frage der Zeit, da die Höhe
modk modernes Koreanisch und Überlegenheit der chinesischen Kultur
sj sino-japanisch auf der einen und die Noch-Schriftlosigkeit
sk sino-koreanisch der China umgebenden Völker nicht-chinesi-
sv sino-việtnamesisch scher Zunge auf der anderen Seite faute de
v rein-việtnamesisch mieux dazu führen mußte, daß diese Völker
ihren Blick nach China richteten.
b) Sprachen In den chinesischen Reichsannalen der
chin. chinesisch Späteren c Hàn -Dynastie ( c Hòu-Hàn-

frz. französisch
382 III. Schriftgeschichte

Shirakawa, Shizuka. 1984. Jitō, Tōkyō.


Keightley, David. N. 2
1985. Sources of Shang His- 1984.
tory, Berkeley/Los Angeles/London. Stary, Giovanni. 1980. Die chinesischen und mand-
Lǐ Xuéqin. 1990. Chūgoku kodai kanjigaku no dai- schurischen Zierschriften, Hamburg.
ippo, Tōkyō. Jap. Übersetzung von Obata Toshi- Sūn Zhīxiù. 1881. Zhuànshū bǎi tǐ Qiān-zì-wén.
yuki des chin. Werks Gǔwén zìxué chūjiē (Peking Nachdruck Tōkyō 1984.
1983).
1984.
1990 Suzuki, Toshio (ed.). 1986. Kore ga goman-ji, Tō-
1983). kyō.
Lindqvist, Cecilia. 1990. Eine Welt aus Zeichen, 1986.
München 1990 (deutsche Übersetzung von Lothar Tsien, Tsuen-hsuin [ ]. 2 1963. Written on
Schneider des Werkes „Tecknens Rike“, 1989).
Bamboo and Silk, Chicago.
Martin, Helmut. 1982. Chinesische Sprachplanung,
Wáng, Gāng. 1982. Shūfǎ-zìdiǎn, Chóngqìng.
Bochum.
1982.
Menninger, Karl. 2 1958. Zahlwort und Ziffer I/II,
Göttingen. Wilhelm, Richard. 1923. I Ging — das Buch der
Wandlungen, Düsseldorf/Köln.
Morohashi, Tetsuji. 2 1984—86. Dai-Kanwa-jiten,
Xīn-Huá zìdiǎn. 1972. Běijīng.
Tokyo.
1972.
59—61.
—. 1982. Kō-Kanwa-jiten, Tōkyō. Yāng Zōngkuí (ed.). O. J. Zhōng-yīng wénzìtǐ shèjì
57. jìfǎ, Táiběi.
Okazaki, Kei (ed.). 1986. Dai-Kōga-bummei no
nagare — Santō-shō bumbutsu-ten, Tōkyō. Zhōngwén Dàcídiǎn biānzuǎn wěiyuánhuì (ed.).
1962. Zhōngwén Dàcídiǎn, Táiběi.
61.
1962.
Shima, Kunio (ed.). 1977. Inkyo bokuji sōrui, Tō-
kyō. Wolfram Müller-Yokota,
1977. Bochum (Deutschland)

27. Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:


Japan — Korea — Vietnam

1. Japan
2. Korea jap. japanisch
3. Vietnam kor. koreanisch
4. Literatur viet. việtnamesisch

Abkürzungen
a) Aussprachen (hochgestellt) 1. Japan
altj altjapanisch 1.1. Anfänge
c chinesisch
j rein-japanisch Daß das chinesische Schriftsystem auf die
Nachbarn Chinas nicht ohne Einfluß bleiben
kant kantonesisch
konnte, stand eigentlich von vornherein fest
mitk mittel-koreanisch und war nur eine Frage der Zeit, da die Höhe
modk modernes Koreanisch und Überlegenheit der chinesischen Kultur
sj sino-japanisch auf der einen und die Noch-Schriftlosigkeit
sk sino-koreanisch der China umgebenden Völker nicht-chinesi-
sv sino-việtnamesisch scher Zunge auf der anderen Seite faute de
v rein-việtnamesisch mieux dazu führen mußte, daß diese Völker
ihren Blick nach China richteten.
b) Sprachen In den chinesischen Reichsannalen der
chin. chinesisch Späteren c Hàn -Dynastie ( c Hòu-Hàn-

frz. französisch
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 383

shū , sj Go-Kanjo ), die Anfang des 5. Jahrhun- darstellbar, denn im ersten Fall wäre zwar
derts n. Chr. von c Fàn Yè (398—445) eine Lautfolge /n/ + /a/ + /k/ angenähert
zusammengestellt wurden und den Zeitraum möglich, aber dann hätte das Auslaut-/a/ der
von 25—220 n. Chr. umfassen, wird berichtet, 2. japanischen Silbe /ka/ geopfert werden
daß einer zu Tributleistungen an den chine- müssen. Hätte man sich andererseits für die
sischen Hof gekommenen japanischen Ge- 2. Möglichkeit der Darstellung mit 2 chine-
sandtschaft vom chinesischen Kaiser sischen Zeichen entschlossen, so wären 2
c Guāngwǔ im Februar 57 n. Chr. ein goldenes
Komplexe /na + C f / und /ka + C f / zustande-
Siegel als Zeichen dafür überreicht worden gekommen, deren Verwendbarkeit für das Ja-
ist, daß sie sich als unter chinesischem Schutz panische am deutlich hörbaren chinesischen
stehend betrachten durften. Dieses Siegel ist Auslautkonsonanten gescheitert wäre. Die
am 12. 4. 1784 von einem Landwirt bei Ar- Entscheidung mußte also wohl oder übel zu-
beiten auf seinen Feldern, die im heutigen gunsten der ersten Möglichkeit fallen.
Bei den weiter bestehenden und manchmal
Stadtbezirk j Higashi-ku der Stadt
sehr engen Kontakten Japans zu China sollte
j Fukuoka (NW-Kyūshū) lagen, gefunden wor- nicht vergessen werden, daß die Gesandt-
den und ist somit eine willkommene Bestäti- schaften hin und zurück ihren Weg meisten-
gung der chinesischen Annalen; es befindet teils über die koreanische Halbinsel an deren
sich heute als Nationalschatz im Kunstmu- Westküste entlang nahmen, eine Tatsache,
seum der Stadt j Fukuoka. Die Inschrift des die später ebenfalls von Wichtigkeit werden
Siegels lautet in erschlossener sollte. Der Norden der koreanischen Halb-
chinesischer Aussprache der damaligen Zeit insel war 108 v. Chr. unter chinesische Ober-
(archaisches Chinesisch) xân 3 uǝ r 1 ng 1 kuǝk hoheit gekommen, und die Errichtung der
γung 1 („König [des] Land[es] Ng 1 [in zum] chinesischen Residenzstadt c Lèlàng,
Hàn [-Reich gehörenden] Japan“) und ist auf ( sk Nangnang ( ), sj Rakurō ) trug wesentlich
zweierlei Weise aufschlußreich: Einmal ist mit dazu bei, die chinesische Kultur und als deren
dem chinesischen Zeichen ng 1 der Ver- Grundlage die chinesische Schrift an Völker
such unternommen worden, ein japanisches, nicht-chinesischer Zunge weiterzureichen.
d. h. nicht -chinesisches nom en proprium mit Selbstverständlich bedienten sich die Chine-
chinesischen, d. h. n i ch t -japanischen Schrift- sen bei der Verwaltung koreanischer Ange-
zeichen darzustellen. Das Problem als solches stellter, denn ohne deren Vermittlung wäre
war für China nicht neu, denn seit dem aller- die Verständigung mit der einheimischen Be-
ersten Kontakt eines Chinesen mit einem Aus- völkerung weder schriftlich noch mündlich
länder bzw. mit dem Ausland gab es für den möglich gewesen. Diese koreanischen Ange-
Chinesen gar keine andere Möglichkeit, als stellten mußten für ihre chinesischen Behör-
einen fremden Namen mit Hilfe chinesischer denleiter aber auch koreanische nom ina pro-
Zeichen als einzigem vorhandenen Darstel- pria aufzeichnen, und dafür hatten sie nur die
lungsmittel wiederzugeben. Mit dem chinesi- chinesischen Schriftzeichen zur Verfügung.
schen Zeichen ng 1 sollte also vermutlich Sie standen also vor demselben Problem wie
das bis heute existente Topo- und Hydrony- die Chinesen, die j / naka / schreiben mußten.
mikon j naka (Wörtliche Bedeutung „Mitte“; Ein U nterschied zum Japanischen bestand in-
Fluß durch die Stadt j Fukuoka und Name sofern, als die damals dort gesprochene Spra-
che — ein südtungusisches Idiom — wohl
eines Stadtteils im Stadtbezirk j Hakata )
auch geschlossene Silben hatte, was die Aus-
wiedergegeben werden, wobei dasjenige Pro- wahl chinesischer Zeichen für die Darstellung
blem auftaucht, das 500 Jahre später bei der der Namen wenigstens etwas erleichterte.
Herausbildung der japanischen Schriftsy- Die chinesischen Reichsannalen berichten
steme eine so wichtige Rolle spielen sollte: die dann verhältnismäßig ausführlich über Stam-
unterschiedliche Struktur des Donators Chi- mesfehden in Süd-Japan, die schließlich im
nesisch einerseits und des Rezipienten Japa- 3./4. Jahrhundert n. Chr. zu den Anfängen
nisch andererseits. Das archaische Japanisch eines organisierten Staatsgebildes in Zentral-
kannte bis etwa Anfang des 11. Jahrhunderts Japan führten, das Ende des 4./Anfang des 5.
n. Chr. nur die Silbenstruktur V oder CV für Jahrhunderts sogar in innerkoreanische Que-
den Wortanfang und CV für alle übrigen Sil- relen verwickelt wurde. Dadurch bedingt, flo-
ben, also nur offene Silben, während das Chi- hen zahlreiche Angehörige der koreanischen
nesische nur geschlossene Silben aufwies. Eine Oberschicht nach Japan. Sie hatten aus langer
japanische Silbenfolge /naka/ war daher we- Erfahrung gründliche Kenntnisse nicht nur
der mit 1 noch mit 2 chinesischen Zeichen der chinesischen Sprache, sondern auch der
384 III. Schriftgeschichte

Schrift und ihrer Verwendung auch zur Nota- werden mußte. So kam, um nur ein Beispiel
tion koreanischer Wörter erlangt, denn sie zu nennen, als Ersatz für das zur Darstellung
und ihre Nachkommen waren diejenigen, die der japanischen Silbe /a/ anfänglich verwen-
bis ins 6. Jahrhundert hinein in Japan für dete Zeichen (archaisch-chinesisch r 1 >
offizielle Aufzeichnungen unter Einschluß der  1 ), das aufgrund inner-chinesischer Laut-
Familienregister, für die Einziehung von Steu- entwicklungen auf dem Weg zu einer Aus-
ern, für Einnahmen und Ausgaben sowie für
die auswärtigen Beziehungen ausschließlich sprache [ 1 ] nicht mehr für [a] zu gebrauchen
war, das Zeichen (archaisch-chinesisch
zuständig waren. Diese heute mit dem japa-
nischen Ausdruck sj kikajin (= „Na- n > n ) in den Bereich der Möglichkei-
1 1
ten, da kein anderes Zeichen in der Lage war,
turalisierte“; der Ausdruck selbst ist neu und den anvisierten japanischen Vokal /a/ adäquat
tritt in dieser Form erstmals im § 16 des ja- wiederzugeben. Dabei mußte in Kauf genom-
panischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von men werden, daß das chinesische Auslaut-/n/
1899 auf) bezeichneten Flüchtlinge konnten einer Amputation zum Opfer fiel (Wenck
bei ihren Schreibarbeiten zumindest grund- 1954, § 457 ff).
sätzlich auf ein ihnen vertrautes Schriftsystem
zurückgreifen, brauchten also nichts vollstän- 1.2. Altjapanisch
dig Neues auszutüfteln, wenn sie sich an die
in China ausgebildete Methode, fremde Ei- Auf diesem Wege war man im 6. Jahrhundert
gennamen zu schreiben, hielten. Für eine mo- zu einem Verfahren gelangt, mit dessen Hilfe
nosyllabische Sprache geschaffen, konnte die ein altjapanischer Text über den U mweg lie-
chinesische Schrift Zeichen für Silben, nicht bevoll behauener chinesischer Mosaikstein-
für einzelne Phoneme zur Verfügung stellen. chen zu einem (Satz-)Bild zusammengefügt
Es lief also darauf hinaus, für alle 88 Silben werden konnte. Dieses System war nicht starr,
des damaligen Syllabars der altjapanischen sondern machte den beispielhaft angedeute-
Sprache (mindestens) ein chinesisches Schrift- ten Lautwandel der chinesischen Sprache
zeichen herauszusuchen, das die darzustel- nachvollziehend mit. Die älteste in Relikten
lende japanische Silbe so genau wiederzuge- erhaltene Stufe (Zusammenstellung bei Kan
ben imstande war, daß sie der japanische Le- To-kō 1982, 6) enthält 134 chinesische Zei-
ser als das Gemeinte zu identifizieren in der chen für 62 japanische Silben, 26 sind im
Lage war. Bei der Auswahl der chinesischen überkommenen Material nicht repräsentiert.
Zeichen kam den sj kikajin zu Hilfe, daß es In diesem Zusammenhang ist für die Weiter-
durchaus chinesische Zeichen gab, die zu jener entwicklung in Richtung auf die spätere ja-
Zeit (4.—6. Jh.) durch Abfall stimmhafter Fi- panische Schrift hin eine Feststellung beson-
nalkonsonanten im Chinesischen, also durch ders wichtig: in einem verhältnismäßig frühen
den Übergang vom archaischen zum Altchi- Stadium muß den Benutzern dieses Schrift-
nesischen, in der Lage waren, eine Kombi- systems aufgefallen sein, daß man das japa-
nation von Anlautkonsonant und Auslaut- nische Wort /yama/ „Berg“ zwar schrei-
vokal darzustellen: die Aussprache des Zei- ben und selbstverständlich auch verstehen
chens „Nacht“ hatte sich bereits vom ar- konnte, daß es andererseits aber daneben ein
chaisch-chinesischen dag 3 zu altchinesisch chinesisches Zeichen , in damaliger chine-
ja 3 gewandelt, so daß die japanische Silbe sischer Aussprache ṣæn 1 , gibt, das zwar im
/ya/ dargestellt werden konnte. „Hanf“ japanischen Syllabar wegen seiner Lautung
war vom archaisch-chinesischen mag 1 zu alt- keine Verwendung gefunden hatte, dessen Be-
chinesisch ma 1 geworden und konnte so für deutung aber „Berg“ war und ist. Die felsen-
die japanische Silbe /ma/ verwendet werden. feste Überzeugung, daß chinesische Schrift-
Schrieb man beide Zeichen nacheinander zeichen nur für die chinesische Sprache da
, ergab sich das japanische Wort /yama/ sind und ergo chinesisch zu lesen sind, hatte
( ) „Berg“. Leider war es nicht immer ganz sich zwar in der damaligen Zeit so tief ein-
geprägt, daß im Grunde genommen heute
so einfach wie hier, denn die Phoneminven- noch nicht daran gerüttelt wird, aber doch
tare des Altchinesischen und des Altjapani- allein schon die Tatsache, daß diese chinesi-
schen wiesen doch so gravierende Differenzen schen Zeichen zur Darstellung j a p a n i s c h e r
auf, daß mancher Kompromiß notwendig Silben „mißbraucht“ worden sind, hat den
war, der, da beim Empfänger keine phoneti- Mini-Riß im Damm verursacht, der ihn spä-
schen Veränderungen vorgenommen werden ter zum Einsturz brachte. Selbst wenn die
konnten, ohne die Verständlichkeit zu opfern, völlige Gleichsetzung von = /yama/ =
notgedrungen auf der Geberseite geschlossen = „Berg“ noch etwas auf sich warten ließ,
385

so waren unter den erwähnten 134 Zeichen zuschließen. Der obige Beispieltext ist in sich
doch immerhin 23 (= 17,16%), deren Lesung homogen, was die Verwendung der Schrift-
sich nicht auf ihre chinesische Aussprache, zeichen angeht, verlangt vom Leser also nur
sondern sozusagen auf ihre Übersetzung ins eine phonetische Identifikation des einzelnen
Japanische stützte. Ihre Auswahl orientierte Zeichens mit seinem Laut. Kamen aber jetzt
sich an dem Zusammentreffen der verhältnis- Zeichen mit ihrem Bedeutungsgehalt in rein-
mäßig einfachen Schriftzeichen mit der Tat- japanischer Lesung hinzu, dann war der Leser
sache, daß das ins Japanische übersetzte Wort gezwungen, sozusagen alleine auf einem Kla-
nur eine Silbe hatte (die beiden Ausnahmen vier vierhändig zu spielen. Dabei bildete sich
erklären sich damit, daß bei /tö/ die auch allmählich ein System heraus, das faktisch
bei der Konjugation des Verbs alt-j / tömu / „an- noch heute für die alltägliche Schreibung des
halten“ unveränderliche 1. Silbe und bei Japanischen gilt: die Substantiva und cum
/yu/ die häufig in Zusammensetzungen ver- grano salis auch die Stämme der Verben wer-
wendete 1. Silbe benutzt worden ist). Als Bei- den mit semantisch und die grammatisch un-
spiele für diese 23 Zeichen seien angeführt verzichtbaren Flexionsendungen und Parti-
(vollständige Auflistung vgl. Müller-Yokota keln mit phonetisch verwendeten chinesischen
1987, 8): Zeichen geschrieben. Das obige Beispiel sähe
dann so aus:
(1) < alt-japanisch kë „Haar“
(2) < alt-japanisch tö(mu) „anhalten“ Die semantisch verwendeten
Zeichen sind mit einem Strich ver-
(3) < alt-japanisch mi „drei“
sehen, aber es muß betont werden,
(4) < alt-japanisch me „Frau“
daß es sich hierbei um ein zu Il-
Als Beispiel für einen zusammenhängenden lustrationszwecken vom Verfasser
Text auf dieser Stufe der Schriftentwicklung, aufbereitetes Beispiel, also nicht
bei der jede einzelne Silbe durch 1 chinesisches um Originalschreibung handelt.
Zeichen in altjapanischer Lautung wiederge- Eine solche Schreibweise ist in
geben ist, sei das Gedicht Nr. 793 aus der der Dichtung noch sehr lange ver-
insgesamt 4516 Gedichte umfassenden altja- wendet worden, aber die Erforder-
panischen Gedichtsammlung des nisse des täglichen Lebens waren
Man’yōshū (abgeschlossen im Jahre 758; vgl. an der Unzweideutigkeit des zu
Ichiko 1985, 23, s. v. 758) in Originalschrei- Lesenden ausgerichtet, wenn z. B.
bung angeführt: Regierungserlasse durch Vorlesen
des Textes bekanntgemacht wur-
(altjapanisch) yö-nö naka-pa mu-
nasiki 1 mönö-tö siru töki 1 - si iyöyö den oder der Priester Gebete an die Götter
richtete, bei denen Versprecher unweigerlich
masu-masu kanasikarike 1 ri „Wenn
man die Erfahrung macht, wie in-
dazu führten, daß sie unerhört blieben. U m
haltlos die Welt doch ist, wird man
dem (Vor)leser eine optische Handhabe zu
von Mal zu Mal trauriger“.
bieten, schrieb man daher in solchen Fällen
Da sich die erwähnte Gedicht-
die oben nicht unterstrichenen Teile nur halb
sammlung neben anderen Werken
so groß wie die anderen und rückte sie gleich-
dieser Zeit durch diese Schreib-
zeitig bei senkrechter Schreibweise etwas nach
weise auszeichnet, ist sie allgemein
rechts heraus, also etwa so:
unter der Bezeichnung Auch dies ist keine Originalschrei-
Man’yōgana be- bung, sondern nur zu Anschauungs-
kannt ( man’yō- ist dem Titel der zwecken aufbereitet.
Gedichtsammlung entnommen, Da diese Schreibweise vornehmlich
-gana aus kana ist die gängige Be- in offiziellen Dokumenten wie z. B.
zeichnung der japanischen Silben- Kaiserlichen Erlassen ( sj semmyō )
alphabete, also eigentlich ‘Silben- benutzt wurde, ist sie unter der Bezeich-
alphabet, in dem das Man’yōshū nung j Semmyō-gaki „Schreib-
geschrieben ist’).
weise der Kaiserlichen Erlasse“ be-
Als im Laufe der Zeit vermehrt chinesische kannt geworden.
Zeichen in ihrer ursprünglichen Bedeutung, Als die chinesischen Schriftzeichen
d. h. zwar in chinesischem Gewand, aber ins nach Japan kamen, hatten sie bereits
Japanische übersetzt in rein-japanischer Le- ihre heutige Gestalt (s. 1.1.), nur war
sung, auftraten, waren Schwierigkeiten bei diese Gestalt dreifach ausgeprägt:
der Lesung eines Textes nicht mehr ganz aus-
386 III. Schriftgeschichte

tung „Welle“ bereits verzichtet und diente nur


(1) Die Normschrift c kǎishū/ zur schriftlichen Darstellung der altjapani-
sj kaisho/ sk haesǒ/ sv giai-thu· in den ex- schen Silbe /pa/; seine äußere Gestalt wan-
akten, festgelegten Formen, die u. a.
delte sich aufgrund der Konzeptschriftform
langsam über zu , womit ein Grad der
auch der heutigen Druckschrift, wie sie
hier in den Beispielen verwendet wird, Vereinfachung, Abstraktion und Verfrem-
dung gegenüber dem ursprünglichen chinesi-
zugrunde liegen. Mit dieser Schrift sind bei schen Zeichen erreicht war, das dann da-
den ägyptischen Hieroglyphen die exakt aus- mit wieder in der Lage war, seine wahre Funk-
geführten Zeichen der Inschriften vergleich- tion als Sinnzeichen mit der Bedeutung
bar (→ Art. 19). „Welle“ auszuüben, während sein Abkömm-
(2) Die Handschrift c xíngshū / sj gyōsho/ ling ausschließlich Silbenschriftzeichen für
sk haengsǒ / sv hàng-thu, die aus dem altjapanischen /pa/ über einige
wie sie in jedem Schrift- Zwischenstufen entstandene heutige Silbe
system vorhanden ist, im Falle der chinesi- /ha/ wurde.
schen Zeichen charakterisisert durch Verbin- Dieser Prozeß spielte sich bei allen chine-
dungslinien zwischen den Einzelstrichen der sischen Zeichen ab, die zur Darstellung ja-
Normschrift und Ausbildung gewisser Run- panischer Silben verwendet worden sind, war
dungen der sonst sehr eckigen Normschrift. im 9./10. Jahrhundert vollendet und ergab
Die ägyptischen Hieroglyphen haben hier die unter Berücksichtigung der Tatsache, daß für
hieratische Schriftform entwickelt. jede japanische Silbe mehr als ein chinesisches
(3) Die Konzeptschrift c cǎoshū / sj sōsho / Zeichen als Grundlage gedient hatte, eine an-
sk ch’osǒ / sv thao-thu (aufgrund falscher Inter-
sehnliche Liste für das Gesamtsyllabar. In der
folgenden Aufstellung sind deswegen nur die
pretation des Zeichens c cǎo als ‘Gras’ (richtig im heutigen Japan seit der Volksschulverord-
ist ‘Entwurf, Konzept’) oft als „Grasschrift“ nung vom 20. 8. 1900 offiziell verwendeten
bezeichnet) für schnelle Notizen u. ä. Auf- Silben mit ihren Standardzeichen und deren
zeichnungen, charakterisiert nicht nur durch Ableitungen in der Reihenfolge aufgenom-
extreme Zusammenziehungen der einzelnen men, wie sie der heute üblichen Anordnung
Striche, sondern auch von der Normschrift in der sog. „50-Laute-Tabelle“ (
manchmal sehr stark abweichender Strichfüh- sj gojū-onzu ) entspricht (→ Tab. 27.1).
rungen und der reichlich genutzten Möglich-
keit, die sonst isoliert untereinander stehen- Das obige Gedichtbeispiel (1.2.) sieht dann
den Zeichen miteinander zu verbinden ( so aus, was zwar auch keine Originalschrei-
c liánmián-tǐ / sj remmen-tai / sk yǒnmyǒn-
bung ist, zu Nutz und Frommen der Leser
aber eine heute allgemein verwendete Misch-
ch’e / sv liên-miên-thê ): schreibung, wie sie auch von der ‘Anthologie
der klassischen japanischen Literatur’, Bd. 5,
55) durchgehend benutzt wird:
Die so entstandene Schrift er-
freute sich u. a. auch des Zeichen-
verbindungen erlaubenden, flüssi-
gen Duktus wegen insbesondere
bei den Damen des Kaiserlichen
Hofes größter Beliebtheit, die sich
viel lieber der rein-japanischen
Sprache (und Schrift) bedienten
als ihre männlichen, auf chinesi-
Norm- und Handschrift geschrieben von Frau Bar- schen Stil und Schreibweise fixier-
ten Kollegen. Sie ließen den Fluß
bara L. T. Chang (Bochum), Konzeptschrift vom der japanischen Literatur zu einem
Verfasser. gewaltigen Strom anschwellen,
weshalb diese Schrift denn auch
1.3. Ausbildung der Kana-Syllabare mit der 938 erstmals aufgetretenen
Die immer wiederkehrenden grammatischen Bezeichnung j onnade „Frau-
Formantien der japanischen Sprache forder- enhandschrift“ belegt wurde. Der
ten geradezu dazu heraus, möglichst schnell heute allgemein übliche Name
geschrieben zu werden, so daß sich die Kon- j Hiragana wurde, wie durch Rodriguez
zeptschrift hier austoben konnte. Das am An- (1604, 55 v) belegt ist, erst Anfang des 17.
fang des Gedichtbeispiels vorkommende Zei- Jahrhunderts eingeführt und bedeutet eigent-
chen sj pa hatte auf seine chinesische Bedeu- lich „vollständig ( hira- ) entlehnte ( -ga- )
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 387

Tab. 27.1: Die Hiragana und ihre Ableitung


388 III. Schriftgeschichte

Schriftzeichen ( -na )“ (Müller-Yokota 1987, 66 leicht und klein, d. h. platzsparend geschrie-


Anm. 46), da es sich um die stilisierte Kon- ben werden konnten. Das für die japanische
zeptschriftform ganzer chinesischer Zeichen Silbe /re/ verwendete Zeichen war zwar
handelt. schon eine beliebte Abkürzung der Voll-
Zur gleichen Zeit entstand auf einem ganz Schreibung und mit 5 statt mit 18 Strichen
anderen Sektor für ganz andere Zwecke ein auch verhältnismäßig schnell zu schreiben,
ganz anderes Syllabar, die aber wen der Abkürzungsteufel einmal reitet,
j Katakana („teilweise ( kata- ) entlehnte ( -ka- ) für den sind 4 Striche weniger als 5. U nter
Schriftzeichen (- na )“). Der 538 n. Chr. durch der Voraussetzung, daß einmal eine eindeutige
Vermittlung Koreas nach Japan gelangte Bud- Festsetzung getroffen worden ist, für was die
dhismus verbreitete sich rasch, so daß Stu- Abkürzung gelten soll, und zum andern eine
dium und Lehre einen ungeheuren Auf- ausreichende visuelle Distinktivität gegenüber
schwung nahmen. In 1.1. war bereits erwähnt anderen Abkürzungen gegeben ist, kann man
worden, daß sich die für China fremden Ge- so stark kürzen, wie man will: minus
dankengänge des Buddhismus sprachlich in = , geringfügig umgestaltet: . So ent-
Transliterationen von Sanskrit-Begriffen in stand für das gesamte Syllabar ein vollstän-
chinesischen Zeichen äußerten, wenn ad- diges Katakana-Inventar, bei dem im Anfang
äquate Übersetzungen nicht zu finden gewe- genau wie bei der Hiragana manche Position
sen waren. U m der ebenfalls in 1.1. schon mehrfach besetzt war, das aber schließlich seit
angesprochenen Verwechslungsgefahr mit in- der in 1.2. erwähnten Volksschulverordnung
haltsträchtigen, richtigen chinesischen Sätzen die folgenden Formen in der offiziellen Rei-
zu entgehen, verwendeten diese Translitera- henfolge aufweist (→ Tab. 27.2).
tionen zu einem großen Teil komplizierte, sel- Ein Blick auf die beiden Kana-Syllabare
tene chinesische Zeichen, die die Wiedergabe zeigt, daß der Laut [p] als Tenuis und die
der manchmal recht langen Sanskrit-Wörter Mediae ganz fehlen. Während die Man’yō-
zu einem Geduldsspiel werden ließen. Bei gana das /p/ keiner Sonderbehandlung zu un-
häufig vorkommenden Begriffen sinnt daher terwerfen brauchte, da es als Tenuis normal
jeder Schreiber — damals wie heute — auf im Phonem-Inventar vertreten war, änderte
Abhilfe. Z. B. war der Sanskrit-Begriff śrā- sich die Situation aufgrund inner-japanischen
vaka „Schüler (der buddh. Lehre)“ auch in Lautwandels später insofern, als [p] über eine
seiner chinesischen Übersetzung c shēng- Zwischenstufe [ p ϕ] (ca. 10.—13. Jh.) zu [ϕ]
wén / shōmon / sǒngmun / thanh-vǎn
sj sk sv (13.—16. Jh.) wurde, um schließlich danach
mit sei- im Wortanlaut zu [h(a), h(ε), h(ɔ), i, ϕ]
nen insgesamt 31 Strichen beim Schreiben so und intervokalisch zu [∅] zu werden. Die not-
aufwendig, daß irgendein Vorfahre von Ga- wendig gewordene graphische U nterschei-
belsberger zwangsläufig auf die Idee kommen dung für den als Phonem nie verloren gegan-
mußte, ein bißchen ταχυγραϕεῖν zu machen, genen /p/-Laut erfolgte dann seit etwa Beginn
indem er dafür nur 4 Striche vorsah, wobei des 17. Jahrhunderts mittels eines kleinen,
er das gemeinsame Element beider Zeichen rechts oben am Kana-Zeichen der /h/-Reihe
untereinander setzte und die Konzept- angefügten Kreischens ° ( handaku-
schriftform extrem stilisierte. Solche Ab- ten): = /ha/ : = /pa/. Die
kürzungsfanatiker muß es gerade unter den Phonem-Opposition Tenuis : Media war an-
Mönchen zahlreicher gegeben haben. Einer dererseits in der Man’yōgana durch entspre-
der Hauptinhalte ihres Berufs war ja die Ver- chende Zeichen meistens deutlich zum Aus-
breitung und richtige Interpretation der druck gekommen (z. B. /ka/ : /ga/),
Lehre, und dies war notwendigerweise auch wurde aber bei der Schreibung in Kana weit-
an die korrekte Aussprache der Lehrsätze ge- gehend außer acht gelassen (z. B. iṯure ...
bunden. Diese Lesungen waren des öfteren so saẖurahi ... yamuḵoto ... ḵa ... suḵurete (Mu-
kompliziert, daß die Mönche nach Hilfsmit- rasaki 1525, 1 r.) für iḏure ... saḇurahi ...
teln Ausschau hielten. Das vorhandene Dar- yamuoto ... a ... suurete (NKBT Bd. 14,
stellungsmittel der Man’yōgana verwendete 1958, 27), was ursprünglich wohl mit einer
ganze chinesische Zeichen und schied wegen gewissen Instabilität intervokalischer Tenues
Platz- und Zeitmangels aus, und die Frauen- zusammengehangen haben dürfte, später aber
handschrift Hiragana war nichts für Männer. reine Gewohnheitssache wurde, die z. B. in
Also kamen sie auf die Idee, die für die Wie- offiziellen Verlautbarungen sogar noch bis
dergabe der japanischen Silben verwendeten Ende 1946 ein respektiertes Dasein fristete,
Man’yōgana- Zeichen so abzukürzen, daß sie denn der japanische Leser wußte ja, was ge-
meint war. Falls sich aber aus irgendeinem
389

Tab. 27.2: Die Katakana und ihre Ableitung (1)

Laut heutige entstanden aus


Drucktype
a dem zu vereinfachten linken Bestandteil des Zeichens

i dem linken Bestandteil des Zeichens

u dem oberen Bestandteil des Zeichens

e der zu Z stark stilisierten Konzeptschriftform des ganzen Zeichens

o dem linken Bestandteil des Zeichens

ka dem linken Bestandteil des Zeichens

ki der zu erheblich verkürzten Konzeptschriftform des Zeichens

ku den ersten beiden Strichen und = des Zeichens

ke dem 1. , 2. und 3. Strich des Zeichens

ko der oberen Hälfte des Zeichens

sa den ersten 3 Strichen und = des Zeichens

shi der Konzeptschriftform des Zeichens

su den letzten 3 Strichen , und des Zeichens

se dem 1. und 5. Strich des Zeichens

so den ersten beiden Strichen und des Zeichens <

ta der oberen Hälfte des Zeichens

chi dem ganzen Zeichen

tsu den 3 mittleren Punkten des Zeichens

te den ersten 3 Strichen , und des Zeichens

to dem 1. — und 2. Strich = des Zeichens

na dem 1. — und 2. Strich = des Zeichens

ni dem ganzen Zeichen

nu dem rechten Bestandteil des Zeichens

ne dem linken Bestandteil des Zeichens <


390 III. Schriftgeschichte

Tab. 27.2: Die Katakana und ihre Ableitung (2)

Laut heutige entstanden aus


Drucktype
no dem Strich des Zeichens

ha dem ganzen Zeichen

hi der rechten Hälfte des Zeichens

fu dem 1. und 2. Strich des Zeichens

he dem über 2 > verkürzten rechten Bestandteil des Zeichens

ho dem unteren rechten Bestandteil des Zeichens

ma der Konzeptschriftform des Zeichens stilisiert oder aus der


Verbindung des 1. mit dem 2. Strich — des Zeichens

mi dem ganzen Zeichen

mu dem oberen Bestandteil des Zeichens

me der unteren Hälfte des 1. Strichs und dem 2. Strich des


Zeichens

mo dem 1. , 3. — und 4. Strich des Zeichens

ya dem 1. und 3. Strich des Zeichens

yu der linken Hälfte des oberen waagrechten Strichs , dem mittleren


senkrechten Strich und dem Abschlußstrich des Zeichens

yo der unteren Hälfte des Zeichens oder dem rechten Bestandteil


∃ des Zeichens

ra dem 1. und 2. Strich des Zeichens

ri dem rechten Bestandteil des Zeichens

ru den beiden letzten Strichen ‫ ׀‬und des Zeichens

re dem rechten Bestandteil des Zeichens <

ro dem oberen oder unteren Kästchen des Zeichens

wa dem rechten Bestandteil des Zeichens über Formen wie ()

(w)i dem ganzen Zeichen

(w)e dem über Formen wie > umgestalteten oberen Bestandteil


des Zeichens

(w)o dem ganzen, über Konzeptschriftformen > umgestalteten Zeichens

-n einem Symbol der Form o. ä. zur Bezeichnung des bis dahin un-
bekannten Phonems des Silbenschlußnasals
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 391

Grund die Notwendigkeit dazu ergab, wie waren. Aus der ersten Schreibweise kann man
etwa in Leseglossen, die Aussprache exakt immerhin „diejenigen, die mit allen Him-
wiederzugeben, gab es etwa seit Ende des 9. meln in Verbindung stehen “, aus der
Jahrhunderts vielfältige Möglichkeiten, durch zweiten (ohne jegliche Ironie) „Genossen ,
dem Kana-Zeichen beigefügte diakritische die mit dem Himmel in Verbindung stehen
Zeichen unterschiedlichster Art ( “ herauslesen (Vos 1989, 372).
u. v. a. m.) an verschiedenen Stellen des Nach der Vertreibung der Missionare
Kana-Zeichens auf die Stimmhaftigkeit des (1624) und der 1639 erfolgten totalen Ab-
Anlautkonsonanten hinzuweisen. Seit Anfang schließung Japans gegenüber dem Ausland,
des 17. Jahrhunderts trugen dann schließlich die bis 1853 andauerte, war neben den Chi-
2 Striche in Form eines Doppel-Gravis `` nesen nur den Holländern seit 24. 8. 1609 of-
rechts oben neben dem Kana-Zeichen den fiziell gestattet, Handel zu treiben, und ganz
Sieg davon, so daß heute Tenuis- und Media- wenigen handverlesenen Japanern, Kontakt
Anlaut genau getrennt sind: = /ta/: mit ihnen zu haben. Es ist kaum verwunder-
= /da/. lich, daß diese Zeit mit ganz wenigen Aus-
Die Kontakte Japans waren bis 1453, als nahmen wie z. B. k ō hī < holl. koffie (1797;
die Portugiesen auf der Insel Tane- Vos 1989, 371) für den Fremdwortimport äu-
gashima südlich von Kyūshū landeten, fast ßerst unergiebig war. Durch die ein Jahr nach
gänzlich auf China beschränkt. Da man zwar seinem ersten Erscheinen in der Bucht von
eine vom Chinesischen völlig verschiedene Tōkyō 1853 von dem amerikanischen Admi-
Sprache sprach, sich aber ansonsten derselben ral M. C. Perry quasi erzwungene Öffnung
Schrift bediente, war die Übernahme fremden von Land und Häfen änderte sich die Situa-
Wortgutes überhaupt kein Problem. Natür- tion dann jedoch grundlegend. Die sich
lich waren die chinesischen Laute anders als schnell ausweitenden Beziehungen zum Aus-
die japanischen, aber die für das Japanische land und den Ausländern (Handelsverträge,
mundgerecht gemachte U mformung des Chi- Aufnahme konsularischer und diplomatischer
nesischen hatte zu dieser Zeit bereits eine Tra- Beziehungen, Ausländer in zunehmender
dition von fast 1000 Jahren und spielte daher Zahl in Japan) brachten eine Flut von frem-
überhaupt keine Rolle mehr. Portugiesen und den Eigennamen und Sachbezeichnungen mit
Spanier als ihre Nachfolger kamen vornehm- sich, die durch das ungeheure Anschwellen
lich als Patres — port./span. padre — ein der Übersetzungsliteratur aus europäischen
Begriff, dessen Inhalt in chinesischen Zeichen Sprachen noch gewaltig verstärkt wurde. Da-
„übersetzt“ wiederzugeben unmöglich war. mals wie heute scheitert eine phonetisch ge-
Also blieb nichts anderes übrig, als die Kana nauere Wiedergabe ausländischen Wortgutes
zur Schreibung heranzuziehen, wie es für an der Tatsache, daß die japanische Phonem-
nicht-chinesische Fremdwörter üblich war anzahl weit geringer ist als die europäischer
und ist. Aber da fingen die Probleme denn Sprachen. Die Kana-Schreibung bot bei dem
auch schon an: zwar keineswegs etwa in der Bemühen, eine Silbe mit 2 Silbenschriftzei-
Weise, daß ein Konsonantencluster wie /dr(e)/ chen darzustellen, insofern einen kleinen An-
mit Kana nicht darstellbar gewesen wäre, son- haltspunkt, als das systemimmanente Inven-
dern die Schwierigkeiten waren eher psycho- tar bei der Schreibung von Silben der Struktur
logischer Natur, denn es ging nicht an, einen [ʃ]/[tʃ] + /a, o, u/ dazu Zuflucht genommen
geistlichen Herrn einfach mit Kana zu schrei- hatte, den Anlaut mit den Zeichen /shi/
ben. Seit der Man’yōgana -Zeit war es unver- bzw. /chi/ in normaler Größe und den
rückbares Prinzip, daß nur derjenige „richtig“ Auslaut mit den halb so groß und ausgerückt
schrieb, der mit chinesischen Zeichen schrei- geschriebenen Zeichen /ya/, /yu/ und
ben konnte: wenn schon Kana, dann eben /yo/, also für /sha/ usw. darzustellen.
Man’yōgana. U nter Berücksichtigung von
Aussprache- und Lesegewohnheiten der da- Diese Schreibweise wurde nun auch für Silben
maligen Zeit kam es so zu einer „Ersatz- verwendet, die das moderne Japanisch nor-
schreibung“ (1584) und malerweise nicht hat, wie z. B. {te i } für
etwas später (beides damals etwa /ti/ sowie für mindestens 24 weitere Silben
(Aufstellung bei Müller-Yokota 1987, 52 f).
[paderẽ] ausgesprochen) (1620), wobei die Su- Neue Zeichen in ein etabliertes Schriftsy-
che nach adäquaten Zeichen immer zu einem stem einzuführen, stößt selbst dann auf einen
mit großem Ernst betriebenen, vergnüglichen gewissen Widerstand, wenn sich die Form an
Spiel wurde, Zeichen dabei zu finden, die ein gewohntes Erscheinungsbild anlehnt. So
u. U . noch für einen Hintergedanken gut versuchte man, das im Japanischen inexi-
392 III. Schriftgeschichte

stente Phonem [v] durch ein /u/ mit dem heute ungebrochene ungeheure Spieltrieb der
diakritischen Doppel-Gravis zur Bezeich- Japaner, auszuprobieren, was man denn so
nung der Stimmhaftigkeit zu /v/ zu kom- alles mit den schönen chinesischen Zeichen
binieren, schaffte es 1946 bei der Schriftre- anfangen kann. In altjapanischer Zeit bereits
form zugunsten von /b/ wieder ab ( / ausprobiert, war das japanische Hochmittel-
tereḇi/ für *terei für televi[sion] „Fernse- alter des 13.—15. Jahrhunderts in diesem Zu-
hen“), um es zum 1. 4. 1991 wieder einzufüh- sammenhang besonders stark eigenschöpfe-
ren. risch tätig gewesen und ließ der Phantasie bei
Das im Japanischen überhaupt nicht vor- Neuschöpfungen ungehindert freien Laut.
handene /l/ durch ein Kreischen ° bei der /r/- Für das japanische Verb j kaerimiru hatte der
Reihe des Syllabars zu kennzeichnen ( für chinesische Bestand die nicht geringe Anzahl
/la/ usw.) hatte überhaupt keine Chance. Das von 14 Zeichen
Zeichen für /tu/ wird nur ab und zu bei (Morohashi 2 1986,
der Notation von Worten aus dem Ainu ver- Bd. 13, 575 s. v. k aerimiru ) zur Verfügung,
j
wendet (z. B. /turano/ „Einheit“). In von denen das 1. ( ), 4. ( ) und 13. ( )
Aussprachewörterbüchern kommt dieses heute noch normal verwendet werden. Eigent-
Kreischen schließlich noch bei der /k/-Reihe lich sollte man meinen, das reiche aus, zumal
vor, um den Velarnasal [ŋ] von der Media [g] man ja nur ein Zeichen auf einmal gebrauchen
zu unterscheiden ( [ka] : [ŋa] : [ga]). kann, aber nein — honi soit qui mal y pense —
Ebenfalls wissenschaftlichen Werken vorbe- ein Schalk, der es ernst meinte, war der An-
halten sind das aus der Man’yōgana stam- sicht, daß ‘zurückblicken’ ein Vorgang sei, bei
mende Zeichen und das im 19. Jahrhun- dem der zunächst nach vorn gerichtet gewe-
dert aus /i/ und /e/ zusammengesetzte sene Blick sich nunmehr nach hinten um-
für die im heutigen Syllabar nicht mehr drehe und es ergo logisch und somit ange-
vorhandene Silbe /ye/. bracht sei, j kaerimiru einfach so zu schreiben:
(U niversität Kyōto 1969, 292 f). Niemand
1.4. Neubildungen hat diese genialen Erfindungen bis heute ein-
mal zusammengestellt, doch besteht kein
Chinesische Schriftzeichen sind in China von Zweifel daran, daß ihre Anzahl in die Hun-
Chinesen für Chinesen geschaffen worden, an derte, wenn nicht gar in die Tausende geht.
ihren Export in Länder anderer Zunge wurde Als am 6. August 1612 das Christentum in
und wird in China nicht gedacht. Deshalb Japan nach anfänglicher Duldung allgemein
stand China denjenigen Völkern, die sich an- verboten wurde und christliche Schriften einer
gemaßt hatten, die chinesische Schrift für ihre strengen Zensur unterworfen waren, japani-
eigenen Zwecke zu „mißbrauchen“, völlig un- sche Christen aber gleichwohl aus ihren Ver-
beteiligt gegenüber, wenn diese Völker mit ihr stecken auf abgelegenen Inseln heraus weiter-
nicht ganz zurecht kamen. Aber in China hin propaganda fidei machten, versuchten sie,
selbst bestand ab und zu die Notwendigkeit, der Zensur u. a. dadurch ein Schnippchen zu
neue Zeichen zu schaffen (→ Art. 26, Zf. 4.3.). schlagen, daß sie christliche Begriffe mit Zei-
So ist es nur allzu verständlich, wenn sich chen schrieben, die äußerlich wie chinesische
auch die „Entleiher“ der chinesischen Schrift Zeichen aussahen, es aber nicht waren. Da
nicht davon abschrecken ließen, Zeichen im der monotheistische Gottesbegriff des Chri-
Do-it-yourself-Verfahren auszutüfteln, die stentums mit herkömmlichen chinesischen
dann nicht mehr im strengen Sinne chinesisch, Zeichen sowieso nicht darstellbar war (an-
sondern vielmehr einheimisch waren. Japan fängliche Versuche wurden schnell wieder auf-
hat diese Möglichkeit von Anfang an weit- gegeben, als man merkte, welche nicht-christ-
gehend genutzt. Mit eine der wesentlichen lichen Konnotationen mit den verwendeten
Voraussetzungen für das Gelingen war die Zeichen verbunden waren), gebrauchte man
Tatsache, daß die chinesischen Zeichen im lieber das lateinische Wort deus in Katakana-
Japanischen ja nicht nur ihre aus dem Chi- U mschrift dafür. Das aber wäre nach dem
nesischen abgeleitete sino-japanische, sondern Verbot darauf hinausgelaufen, sich der Zen-
auch ihre Übersetzung ins Japanische als sur ans Messer zu liefern. Die mittelalterliche
„rein-japanische“ Lesung zur Verfügung hat-
ten. In China nicht endemische Fauna und Frakturkontraktion mit der Überstrei-
Flora verlangte direkt nach „richtigen“ Zei- chung für Abbreviaturen bot sich hier als
chen, andere Begriffe schlossen sich diesem Ausweg an, denn mit dem Pinsel verfrem-
Schrei nach Gleichberechtigung an und det geschrieben, ließ bei dem Zensor gar
schließlich gesellte sich dazu noch der bis keinen Gedanken an den christlichen Gott
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 393

aufkommen, war es doch eines der vielen Zei- unterstützt, daß /yo/ und /i/ im Wortanlaut
chen, die er nicht lesen konnte (KD, Bd. 4, durchaus austauschbar waren (und es heute
Bildteil zwischen S. 444 u. 445, Bilder Nr. 15, noch manchmal sind).
16, 18, Tōkyō 1984; vgl. auch Vos 1989, 373). Die japanische Kana sind Silbenschriftzei-
Das heutige moderne Japanisch verwendet chen, bei denen es aufgrund ihrer Ableitung
eine ganze Reihe solcher mit dem unchinesi- aus chinesischen Zeichen, die ja immer eine
schen Ausdruck sj kokuji „einheimische ganze Silbe darstellen, unmöglich ist zu sagen,
Zeichen“ bezeichneter Schriftzeichen, die zum der eine Strich bedeute den An- und der an-
Standardinventar gehören. Da diese Zeichen dere den Auslaut. Gleichwohl hat die japa-
nicht aus China stammen, haben sie selbst- nische Sprachwissensachft die Struktur der
verständlich keine sino-japanische, sondern japanischen Silbe zwangsläufig schon sehr
nur rein-japanische Lesungen, wenn da nicht früh erkannt, es bestand nur absolut keine
das japanische Verb j hataraku „arbeiten“ Notwendigkeit, diese Silben in An- und Aus-
wäre, für das anscheinend im chinesischen laut aufzulösen, da das System als solches
Inventar kein passendes einzelnes Schriftzei- praktikabel genug war. Trotzdem hatte der
chen zu finden gewesen war. Natürlich wäre Mönch Keichū (1640—1701; bürgerli-
es falsch, daraus den Schluß zu ziehen, die cher Familienname Shimokawa), einer
Chinesen hielten nichts vom Arbeiten, nur das der bedeutendsten Philologen seiner Zeit, der
dort dafür verwendete Zeichen c láo hatte u. a. das bis 1946 gültig gewesene System
der japanischen Orthographie auf eine gesi-
z. Z. der Übernahme im Chinesischen von cherte historische Basis gestellt hatte, nicht
damals eher die Bedeutung ‘einem Kranken eher Ruhe, bis er für alle Silben mit Ausnahme
hilfreich zur Seite stehen’ und ist erst später der Vokale und der /a/-haltigen Silben ein aus
auf den Begriff ‘arbeiten’ ausgedehnt worden. Man’yōgana -Anlaut oben und abgekürztem
Also besann man sich darauf, daß ‘arbeiten’ Man’yōgana- Auslaut unten bestehendes
etwas ist, bei dem sich ein Mensch normaler- Phantasiezeichen zu Papier gebracht hatte.
weise bewußt bewegen muß, wenn er etwas Der Systemzwang verführte ihn sogar dazu,
zustande bringen will. Wer konnte deshalb die beiden im japanischen Syllabar nie existen-
etwas dagegen haben, das Zeichen ‘be- ten Silben */yi/ und */wu/ zu installieren (→
wegen’ mit ‘Mensch’ zu kombinieren, um Tab. 27.3). Die Weiterentwicklung, wenn da-
daraus j hataraku ‘arbeiten‘’ zu machen? von überhaupt noch die Rede sein kann, war
Das Zeichen ‘bewegen’ ist ein richtiges hier wohl an ihre natürlichen Grenzen gesto-
chinesisches Zeichen, wird c dòng gelesen und ßen, denn die Frage cui bono ? kann offensicht-
hat daher die sino-japanische Lesung sj dō. Das lich nur mit nemini beantwortet werden.
einheimische Zeichen j hataraku hat sich Die Neuzeit brachte Ende des 19. Jahrhun-
derts noch einmal einen Schub neuer Zeichen,
diese Lesung sj dō als Dauerleihgabe angeeig- als die Bezeichnungen für die in Japan neu
net und nie wieder abgegeben. eingeführten Maßeinheiten anglo-amerikani-
Die japanische Sardine Sárdinops ságax scher bzw. französisch-metrischer Provenienz
melanostícta SCHLEG. ist in chinesischen Ge- an die Stelle der alten japanischen Begriffe
wässern nicht heimisch (chinesisch heißt sie traten. Auch hier war der Motor dafür wieder
heute c shādīngyú und man merkt so-
in dem U mstand zu sehen, daß Japanisch
fort, woher der Name kommt), kommt aber eben normalerweise mit chinesischen Schrift-
in den gesamten japanischen Küstengewäs- zeichen unter Zuhilfenahme der Kana-Sylla-
sern vor, heißt seit alt-japanischer Zeit j iwashi bare als Hilfsmenge geschrieben wird. Wenn
und wird mindestens seit seinem ersten Auf- nun aber fremde Maßeinheiten in das nor-
treten in dem 930 von Minamoto no male Schriftbild integriert werden sollen,
Shitagō (911—983) verfaßten Zeichenlexikon dann war der erste Schritt dazu, daß sie
sj Wamyō-ruijushō (Miya- „normal“, d. h. mit chinesischen Zeichen ge-
zawa & Minegishi 1985, 24 r (S. 193)) ge- schrieben werden konnten. Der Raster für die
schrieben. Der linke Bestandteil des Zei- Grundeinheiten Gramm (g), Liter (1) und Me-
ter (m) war schnell gefunden: für Gramm
chens ist dabei das Determinativum für alles,
was mit Fischen zusammenhängt, und der mußte das Zeichen sj ga (seine eigentliche

rechte bedeutet für sich alleine ‘schwach’ Bedeutung ‘(Dach)ziegel’ ist hier überhaupt
und wird j yowashi (prädikative Form der klas- nicht von Belang) einspringen; es repräsen-
sischen Schriftsprache) gelesen. Die phoneti- tierte die 1. Silbe eines Wortes j garamu (Ya-
sche Anlehnung wird zudem noch dadurch mada 1893, 482), das wahrscheinlich auf das
Konto der sog. sj rangakusha („Hol-
394 III. Schriftgeschichte

Tab. 27.3: Das An-/Auslaut-Syllabar Keichū’s

landwissenschaftler“) ging, die aus Gewohn- Die Lesungen aller dieser Zeichen waren
heit Anlautkonsonantencluster von Fremd- selbstverständlich die der dafür verwendeten
wörtern aus dem Niederländischen auflösten, Fremdwörter, also von j kiroguramu kg bis
indem sie den dem Cluster folgenden Vokal j miririttoru ml.
in regressiver Assimilation als Sproßvokal Vor Einführung der metrischen Maße
zwischen den 1. und 2. Bestandteil des Clu- machte man kurzzeitig auch einmal eine An-
sters setzten (vgl. niederl. glas > j grasu leihe beim anglo-amerikanischen Maßsystem,
‘Glas’), um es für japanische Zungen aus- und hier erreichte die Gestaltungskraft einen
sprechbar zu machen. Die heutige Form j g - einsamen Höhepunkt, dem die Hinwendung
ramu < frz. gramme ist seit 1909 offiziell. zum viel praktischeren metrischen System
Der Liter nahm mit sj ritsu und der Lesung (leider) ein nur kurzes Dasein bescherte. In
j rittoru vorlieb und der Meter mit , bei dem England und Amerika wurden früher die Zei-
chen ʒ für dram ap. ( 3,89 g) und für die
das sj bei/mai normaler sino-japanischer Le- U nze (oz. ap. 31,1 g) verwendet, was für
sungen so lange unter Druck gesetzt wurde, die Japaner eine direkte Aufforderung zum
bis es gegen die Lesung j mei nichts mehr ein- Handeln war. Das dram- und das U nzenzei-
zuwenden hatte. Die dezimalen Zählschwellen chen blieben im großen und ganzen unge-
10 3 bis 10 — 3 boten keine Schwierigkeiten, da schoren: und , nur die fluid ounce er-
sie von alters her im System vorhanden waren forderte ein klein wenig Nachdenken. Fluid
( 10 3 kilo-, 10 2 hekto-, 10 1 deka-, hat aber etwas mit Flüssigkeit zu tun, und
10 — 1 dezi-, 10 — 2 zenti- und 10 — 3 milli-), alle chinesischen Zeichen, die etwas damit zu
so daß eine ordentliche Tabelle entstand (vgl. tun haben, werden mit dem Determinativum
Müller-Yokota 1987, 46): für Wasser geschrieben. Warum sollte man
nicht auch das U nzen-Zeichen damit kombi-
Tab. 27.4: Metrische Maßeinheiten nieren und einfach schreiben? Vom Ge-
dankenblitz bis zur Ausführung wird es nicht
lange gedauert haben. — Den Vogel schoß
aber der Winzling unter den Gewichten, das
grain mit seinen ca. 64,8 mg ab. 100 Jahre alte
Wörterbücher und der Taschenkalender einer
Fotosatzmaschinenfirma in Ōsaka für das
Jahr 1990 führen es mit dem Zeichen auf,
das selbst in dem mit 50 294 Zeichen umfang-
reichsten Zeichenlexikon von Morohashi
( 2 1984—86) nicht enthalten ist. Einmal scharf
angeschaut, gibt es aber sein Geheimnis preis
und entpuppt sich als stilisiertes großes G >
> , um damit zum Ausgangspunkt
unseres G zurückzukehren, das ja aus einem
C mit rechts unten angesetztem Strich nach
rechts \ entstanden ist.
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 395

1.5. Zeichenspiele nem) Gesicht zum Ausdruck kommt“ gelesen


werden. Tantae m olis erat iaponicas legere lit-
Die beiden Tatsachen, daß einmal hinter je- teras.
dem chinesischen Zeichen nicht nur früher,
sondern auch jetzt noch deutlich und bewußt
ein (Schrift)bild konkreten Inhalts steht, und 1.6. Ligaturen
daß die Zeichen zum anderen im Japanischen Von der Möglichkeit, 2 oder gar mehrere chi-
sowohl sino-japanisch als auch rein-japanisch nesische Zeichen zu einem neuen zusammen-
gelesen werden können und nach wie vor ge- zuziehen, war in 1.3. im Zusammenhang mit
lesen werden, hat seit alters her einen Mecha- dem Buddhismus kurz die Rede. Im Gegen-
nismus in Gang gesetzt, den man nur unvoll- satz zu den in China aufgetretenen Schwierig-
kommen mit dem Begriff Rebus wiedergeben keiten (— > Art. 26), war das von Haus aus
kann, da die Bildhaftigkeit in Buchstaben- polysyllabische Japanisch in dieser Beziehung
oder Silbenalphabeten zum allergrößten Teil weniger vorbelastet und wies bis zur Schrift-
verloren gegangen ist. Fälle wie 2 g = zwei g reform von 1946 eine ganze Reihe von Liga-
= Zweige sind und bleiben selten. Jedem, der turen auf, von denen die allermeisten jedoch
sich mit chinesischen Schriftzeichen befaßt, dieser Reform zum Opfer gefallen sind. Heute
sei er Schüler in Ostasien oder Lernender sind z. B. noch j maro < ma + ro
anderswo, werden sie in ihrer Bildhaftigkeit (Endung männlicher Eigennamen) oder
ad oculos demonstriert, alleine schon, um sie j kume <
einprägsamer zu machen. Die verhältnismä- ku + me (ein Familienname)
ßig große Gestaltungsfreiheit bei der Kon- in Gebrauch, während frühere Bildungen wie-
struktion chinesischer Zeichen (Stalph 1989, der der Vergessenheit anheim gefallen sind
52 ff) hat dem natürlichen Trieb des homo (vgl. Lehmann-Faust 1951, Suppl. 5—31).
ludens Tür und Tor geöffnet, und mancher Auch in beiden Kana-Bereichen gab es bis
Schalk hat sich hier austoben können. Jeder 1946 einige weithin verwendete Ligaturen.
weiß, daß ‘Frau’ bedeutet und als De- Die Hiragana hatte u. a. /shime/ oder
terminativum in sehr vielen Zeichen vor- /yori/ < /yo/ + /ri/ aufzuweisen, von
kommt, daß u. a. ‘hinaufgehen’ und denen heute nur noch das Zeichen verein-
u. a. ‘hinuntergehen’ beinhalten und mitein- zelt gebraucht wird. Die Katakana verfügte
ander kombiniert in einigen Zeichen u. a. über /koto/ < /ko/ oder /toki/
( , , , , ) enthalten sind. Wer < /to/ + /ki/, von denen keines mehr
könnte da widerstehen, sich ein Zeichen verwendet wird.
auszudenken, um der Tatsache beredten Aus- U nmittelbar nach dem Ende des II. Welt-
druck zu verleihen, daß eine ‘Frau, die hinauf- kriegs machte sich eine amerikanische Erzie-
und hinuntergeht bzw. -fährt’ eben eine Fahr- hungskommission in Japan zu schaffen, die
stuhlführerin ist und folgerichtig japanisch der offenbar in Amerika bis heute unausrott-
j erebētā-gāru (< engl. elevator girl ) gelesen baren Auffassung huldigte, die Japaner hätten
werden muß? Man darf nun nicht denken, ihre Schreibweise extra so schwierig gemacht,
daß so etwas lediglich ein Zeitvertreib müßig- damit sie kein Ausländer erlernen könne, und
gehender Zeitgenossen sei — weit gefehlt: außerdem verhindere sie die Anhebung des
Bildungsniveaus weiter Bevölkerungsschich-
Spielereien mit Zeichen ( sj gisho ) haben
ten und damit eine Demokratisierung. Die
seit den Tagen des altehrwürdigen Man’yōshū japanische Schrift müsse daher weitgehend
literarische Tradition. Stellvertretend für un- vereinfacht werden. So kam es dazu, daß am
zählige Beispiele sei hier nur eines genannt. 16. 11. 1946 eine Regierungsverordnung in
Im Gedicht Nr. 1787 enthält die Zeile Kraft trat, durch die einmal die Anzahl der-
sozusagen eine Regieanwei- jenigen chinesischen Zeichen, die in Grund-
sung (hier unterstrichen) für den Leser, die er und Mittelschule, d. h. also während der Zeit
befolgen muß, sonst hapert es mit dem Ver- der allgemeinen Schulpflicht, vermittelt wer-
ständnis. Die Zeichenabfolge ist zudem auch den, auf 1850 sog. Tōyō-kanji
noch chinesisch und bedeutet „auf dem „zur Verwendung geeignete chinesische
Berg ist noch ein Berg “. Erst Schriftzeichen“ beschränkt wurde, wovon da-
wenn man sich genau daran hält und gra- mals 881 (heute 996) als Kyōiku-
phisch nachvollziehend einen Berg über kanji „chinesische Zeichen für die (Grund-
einen anderen setzt, kommt das Zeichen aus)bildung“ (Stalph 1989, 49 Anm. 70) in
„herauskommen“ zustande und die Zeile den 6 Grundschuljahren, der Rest in den ver-
kann dann alt-j irö-ni (i) deba „wenn es in (mei- bleibenden 3 Jahren Mittelschule gelehrt wer-
den. Zum andern wurde aber auch bei 426
396 III. Schriftgeschichte

Schriftzeichen eine mehr oder minder starke verabschiedet und eingeführt wurde, die in
Vereinfachung des einzelnen Zeichens verfügt, der Zwischenzeit noch einige geringfügige Er-
wodurch z. T. wesentliche Kürzungen erzielt gänzungen erfahren hat, aber weiterhin Gül-
wurden. Das 25-strichige sj chō „Amt“ tigkeit besitzt. Wie auch der letzte Vorschlag
hatte nach der Abmagerungskur nur noch 5 der als beratendes Organ des Kultusministe-
Striche , das 17-strichige sj sei, shō ; j koe riums fungierenden Kommission für japani-
sche Sprache zur Orthographie der Fremd-
„Stimme“ noch 7 . In diesem Zusammen- wörter vom 1. 3. 1990, der am 1. 4. 1991 in
hang sollte nicht unerwähnt bleiben, daß bis dieser Form promulgiert worden ist, expressis
zu diesem Zeitpunkt überall in Ostasien, wo verbis festlegte, sollen sich zwar Schulen,
chinesische Zeichen geschrieben wurden, die- Amtsstuben und Presseorgane an die offizi-
selben Formen verwendet wurden, und daß ellen Regelungen halten, dem Privatmann
diese Schriftzeichen das kulturell einigende und der Wissenschaft ist aber die Freiheit
Band ganz Ostasiens gewesen waren (→ Art. zurückgegeben worden, die Schriftzeichen
32). Dieses nicht zu unterschätzende Band auch wieder in ihrer alten, ungekürzten Form
war damit — und wie man heute nach 45 zu verwenden. U nd es sollte nicht verhehlt
Jahren sagen muß — endgültig zerrissen, zu- werden zu konstatieren, mit welcher (Wol)lust
mal auch die Volksrepublik China seit 1952 sich inzwischen ein Großteil der Japaner der
diesen Weg mit von Japan z. T. stark abwei- restitutio in integrum hingegeben hat.
chenden Zeichenformen beschritt. Der Kurio-
sität halber sei vermerkt, daß die „Vereinfa-
chungen“ in 36 Fällen in einem zusätzlichen 2. Korea
Strich zu dem alten Zeichen bestanden, wie
z. B. bei (alt 7 Striche) > (neu 8 Stri- 2.1. Einleitung und Anfänge
che) ho ; aruku „zu Fuß gehen“.
sj j
Da zwar die offizielle Zeichenzahl be- Im U nterschied zu Japan hat die Halbinsel
schränkt worden war, man aber eine Sprache Korea eine Landverbindung zu China, was
nicht von heute auf morgen auf Volksschul- ab 108 v. Chr. dazu führte, daß Nord- und
niveau absenken kann — im Endeffekt ist es Mittel-Korea bis 313 n. Chr. unter chinesi-
wohl auf eine Verarmung der Sprache hin- scher Oberhoheit standen. Die Errichtung der
ausgelaufen, wie die Ausdrucksarmut der jun- beiden Verwaltungszentren c Lèlàng /

gen Generation auch in Japan beweist — sk Nangnang (heute P’yǒngyang) für die
mußte man in einer sehr großen Anzahl von Präfektur gleichen Namens und
Fällen zu dem Mittel von U mschreibungen c Dàifāng / sk Taebang (entweder in der Nähe des
( j kakikae ) greifen, um den neuen Nor-
heutigen Sǒul oder bei
men Genüge zu tun. Dazu zählen sowohl sk Sǒksǒng-ni, Gemeinde
einzelne Zeichen wie z. B. sj chū „Kommen- sk Munjǒn, Landkreis sk Pongsan, Provinz
tar“, für das jetzt sj chū mit der eigentlichen sk Hwanghae ) für die Präfektur gleichen Na-
Bedeutung „eingießen“, aber auch ganze Aus- mens brachte die chinesischen Beamten in
drücke wie z. B. sj sōkō „bleiche Farbe unmittelbaren Kontakt zur einheimischen Be-
haben“ + „aufgeregt sein“ → „überstürzt“, völkerung und löste damit dasselbe Problem
für das jetzt sj sōkō „Trockenspeicher“ aus wie später in Japan auch: die Schreibung
+ „Kaiser“ eingesetzt wurden. Bei den zahl- der Eigennamen. Das 414 n. Chr. errichtete
losen Fällen dieser Art darf allerdings nicht Monument zum Gedenken an den
sk Koguryǒ- König sk Kwanggaet’o
vergessen werden, daß der Sinnzusammen-
hang entscheidend mit dazu beiträgt, Miß- (374—412, reg. 391—412) enthält eine große
verständnisse auszuschließen, und daß heute Anzahl solcher Eigennamen. Zur Charakte-
nach fast einem halben Jahrhundert allge- risierung der Verschriftung reicht ein Beispiel
meiner Gewöhnung fast niemand die alte und aus, da die Transkriptionsmethode in der Ver-
damit richtige Schreibung mehr kennt. wendung phonetisch gebrauchter Zeichen mit
Die 1946 dekretierte und zunächst murrend der chinesischen identisch ist. Die Zeichen 9
hingenommene Beschränkung der Zeichen- und 10 der 2. Zeile der Südseite der Inschrift
zahl erwies sich — quod erat expectandum — sind , archaisch-chinesisch am 2 -led 3 ,
als unzureichend, so daß am 23. 3. 1981 eben- altchinesisch am 2 -lei 3 und sk ǒm-ri, eine Tran-
falls für den offiziellen und den Schulge- skription des (tungusisch-)solonischen Wortes
brauch eine auf 1945 Zeichen aufgestockte amur „Fluß“, zeigen das gleiche Prinzip der
Liste (sog. Jōyō-kanji „chinesi- Verschriftung mit etwas größeren Freiheiten
sche Zeichen für den normalen Gebrauch“)
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 397

in der phonetischen Gestaltung, wie sie nach Vereinfachung. So wurde z. B. aus der
ebenso bei der Man’yōgana auftreten. Lokativ-Endung mitk ay > modk e ein
Aus dieser ältesten Periode, die trotz der die Nominativ-Endung i zu (Parallele
Tatsache, daß die auf der koreanischen Halb- zum Katakana i des Japanischen!), die in
insel in der damaligen Zeit gesprochenen der älteren Schriftsprache satzschließende
Sprachen unbekannt sind, zusammenfassend und tatsachenfeststellende Verb-Endung
als Altkoreanisch bezeichnet wird, obwohl
mitk ni zu (zusammen mit dem Verb
man annehmen darf, daß sich die Koreanisch
zu nennende Sprache erst danach aus dem modk hada ‘machen’ stark verkürzt > ), die
langsamen Zusammenschmelzen mehrerer Endung des Adversativkasus zur Herstellung
Einzelidiome gebildet hat, sind wie in Japan eines Gegensatzes mitk nn > modk nǔn zu
auch nur Aufzeichnungen in chinesischer oder das Verbalsuffix der feststellenden Aus-
Sprache erhalten. Obwohl aus dieser frühen
Zeit Materialien nur ganz sporadisch überlie- sage k ra zu (vollständige Auflistung bei
fert sind, hat sich für diese 1. Phase aufgrund Trappmann 1989, 100—119). Seit dem 15.
des Inhalts einer vielleicht aus dem Jahre 552 Jahrhundert wird diese Art der Schreibweise
(oder 612) stammenden Steininschrift die Be- mit dem Begriff modsk kugyǒl a. l. „münd-
zeichnung sǒgich’e „Gelöbnisschrift“ liche Geheimüberlieferung“ bezeichnet.
eingebürgert (Lee 1977, 52 f), deren Beson- Genau wie in Japan waren es auch in Korea
derheit darin besteht, daß sie zwar ausschließ- Lieder und Gedichte, die Anlaß dazu waren,
lich chinesische Zeichen in ihrer semantischen nicht nur Einzelworte oder Eigennamen, son-
Funktion verwendet, die Abfolge der Zeichen dern zusammenhängende Sätze in der Lan-
aber bereits teilweise vom Chinesischen ab- dessprache aufzuzeichnen. Erhalten sind 25
weicht (Trappmann 1989, 11) und sozusagen unter dem zusammenfassenden Begriff
„koreanisiert“ erscheint, so daß der Leser in- sk hyangga „einheimische Lieder“ bekannte
terlinear übersetzen konnte, ohne wegen der Gedichte, von denen 14 aus dem 7./8. Jahr-
anderen Stellungsgesetze des Chinesischen hundert stammen sollen und in dem angeblich
vor und zurück springen zu müssen. 1285 fertiggestellten Geschichtswerk
U ngefähr im 7. Jahrhundert (Lee 1977, 55) sk Samguk-yusa „Überlieferungen [aus
scheint eine Entwicklung eingesetzt zu haben, der Zeit] der 3 Reiche“ und weitere 11 aus
die der Semmyō-gaki (s. 1.2.2.) in Japan ent- der Feder des Mönchs Kyunyǒ
spricht, und durch die eine gewisse Systema-
tisierung in der Weise erreicht wurde, daß wie (923—973) in dessen Biographie enthalten
dort auch Substantiva und Verbstämme mit sind (Sasse 1989, 133). Da für die Aufzeich-
chinesischen Zeichen in semantischer Funk- nungen nur Zeichen der chinesischen Schrift
tion, Endungen und Partikeln aber mit chi- zur Verfügung standen, ergaben sich dieselben
nesischen Zeichen in rein phonetischer Funk- Probleme wie bei der schriftlichen Fixierung
tion verwendet wurden. So wurde z. B. die des Altjapanischen, so daß die gesamte Kla-
viatur der weißen Tasten für die semantische,
Konverbalform des Verbs mitk hta > der schwarzen für die aus der sino-koreani-
modk hada ‘machen’ mitk hko > modk hago ‘ma- schen Lesung der chinesischen Zeichen ab-
chen und dann’ geschrieben, wobei geleitete und des Pedals für die aus der rein-
in semantischer Funktion den Begriff ‘ma- koreanischen Lesung stammende phonetische
chen’ zum Ausdruck bringt, während Verwendung bespielt werden mußte, um zu
modsk kyǒn die grammatische Endung -/ko/ der einem Ergebnis zu kommen. Ein Beispiel mag
Konverbalform andeutet (Lee 1977, 57 f). Da zur Illustration dienen (Sasse 1989, 173):
diese Schreibweise bis zum Ende des 19. Jahr- gewöhnliches Zeichen ( sk sokcha )
hunderts vorzugsweise von Beamten verwen- anstelle des orthographisch richtigen Zeichens
det worden ist, ist sie neben einigen weniger ( sk chǒngja ) modk nop’ta „hoch sein“:
gebräuchlichen Bezeichnungen unter dem Na- Chinesisches Zeichen in semantischer Funk-
men modsk idu „Beamtenlesung“ (= Be-
tion und rein-koreanischer Lesung mitk nop ’/ o.
amtenschrift) bekannt geworden. modsk pok < archaisch-chinesisch p’ Q >
Wie sich die in Japan verwendete Man’-
yōgana für die Endungen und Partikel durch altchinesisch p’ Q : Chinesisches Zeichen in
den ständigen Gebrauch nicht nur der sino-koreanischer Lesung als phonetisches
Normal-, sondern auch der Konzeptschrift Komplement für den koreanischen Wortaus-
schnell zu Allegro-Formen abschliff, so ver- laut /p’ + dunkler Vokal + implosives k/
langten auch die für die Endungen und Par- unter gleichzeitiger Andeutung der Endung —
tikel verwendeten idu-Zeichen kategorisch /k/ der verstärkten Konverbalform (Sasse
1988, 185—254, insb. 244).
398 III. Schriftgeschichte

modsk ho : Chinesisches Zeichen in sino- Wortes ppun „nur“.


koreanischer Lesung als phonetisches Kom- In abgekürzter Form wird das chinesische
plement zur Darstellung des aspirierten Stam- Zeichen sk ǔn für auslautendes -/n/ verwen-
mauslauts -/p’/ von k nop ’/ ta und der auf -/o/ det, wobei die aus dem Determinativbestand-
auslautenden Konverbalform k nop ’/ o „sind teil abgeleiteten Abkürzungen , ,
hoch und ...“. und vorkommen, wie z. B. oder zur
Wiedergabe des Präteritalpartizips modk han <
2.2. Einheimische Zeichen älterem hn „gemacht habend“ des Verbums
modk hada < älterem hta „machen“. —
Über die bisher beschriebenen Verwendungen
der chinesischen Schriftzeichen zur Darstel- U nter Zuhilfenahme von Zeichen des Han’-
lung der koreanischen Sprache hinaus hat gǔl-Alphabets wurden zur Auslautkennzeich-
man es auch in Korea für notwendig erachtet, nung (-k), (-ŋ), (-n) und (-m)
für mit richtigen chinesischen Zeichen nicht gebraucht, in der Mehrzahl der Fälle (8 von
wiedergebbare koreanische Begriffe eigene 9), um sino-koreanische Lautungen anzudeu-
Zeichen neu zu schaffen ( sk kukcha „ein- ten, wie z. B. kǒk < sk kǒ + -/k/,
heimische Zeichen“). Wenn der Wind tung < sk tu + -/ŋ/ oder tun <
sk p’ung durch die Tür fegt, gibt es sk tu + -/n/. Bei dem Zeichen < sk ya
k p’aeng „Durchzug“ — ein in seiner Bildhaf- + -/m/ können Zweifel aufkommen, ob es
tigkeit außerordentlich einprägsames Zei- phonetisch /yam/ oder semantisch k pam
chen. Flora und Fauna boten wie in Japan „Nacht“ gelesen werden soll (alle Angaben
auch Anlaß für zahlreiche Neubildungen, wie nach Sasse 1980, 193—204).
z. B. sk ǒm für das Efeugewächs Kalópanax Kombinationen dieser Art waren selbstver-
ricinifólius MIQUEL (zusammengesetzt aus dem ständlich erst nach der Erfindung der heute
Determinativum k namu ‘Baum’ und dem als Han’gǔl bezeichneten Buchstabenschrift
Phonetikum ǒm zur Wiedergabe des ko- möglich. Sie entsprach und entspricht der ko-
reanischen Sprache so gut, daß man eigentlich
reanischen Wortes ǒm-namu für diese ganz auf die chinesischen Zeichen hätte ver-
Pflanze). zichten können, aber hier war der historische
Im Gegensatz zu den „einheimischen Zei- Hintergrund und die Tradition doch stärker
chen“ in Japan und Việtnam enthalten die als alle Bequemlichkeit. Erst das Ende des II.
koreanischen „einheimischen Zeichen“ eine
recht umfangreiche Gruppe von 70 der ins- Weltkriegs brachte hier insofern eine Ände-
gesamt 168 Zeichen (vollständige Auflistung rung, als die chinesischen Zeichen in Nord-
bei Sasse 1980, 193—204), deren Kennzeich- korea gänzlich abgeschafft wurden (bewußter
nung die Einarbeitung eines chinesischen Zei- völliger Bruch mit der Tradition!) und nur
chens bzw. eines Teils davon oder aber eines noch in Han’gǔl geschrieben wird, während
koreanischen Han’gǔl -Zeichens (s. u. 2.3.) in Südkorea mit Ausnahme der Jahre 1970—
das ursprüngliche chinesische Zeichen ist, um 1972, in denen die chinesischen Zeichen offi-
auf den Auslaut aufmerksam zu machen. Aus ziell abgeschafft waren, an ihnen mit der
chinesischen Zeichen sind folgende phoneti- Maßgabe festgehalten hat, daß ihre Lesung
sche Komplemente abgeleitet: auf die sino-koreanischen Lautungen be-
sk ǔl zur Wiedergabe des Auslaut-/l/ in
schränkt ist und man bei der Lesung der
Notwendigkeit enthoben ist, wie im Japani-
sino- und rein-koreanischen Wörtern, wie schen erst die Möglichkeiten auszuloten, ob
z. B. sk ol < sk o + sk ǔl für den Laut man denn nun sino- oder rein-japanisch lesen
/ol/ oder k tol < k tol + sk ǔl , um die soll oder zuweilen gar einen 3. Weg beschrei-
rein-koreanische Lesung tol „Stein“ sicher- ten muß.
zustellen;
sk chǔl/chil zur Wiedergabe der Auslaute 2.3. Exkurs: Die modk Han’gǔl -Schrift
-/s, ch, ch’, t’/ in sino- und rein-koreanischen Die in 2.1. erwähnten Schwierigkeiten bei der
Wörtern sowie des Anlaut-/s/ in rein korea- schriftlichen Darstellung des Koreanischen
nischen Wörtern einer älteren Sprachstufe, mit chinesischen Zeichen hingen vor allem
wie z. B. sk kǒs < sk kǒ + (Auslaut- damit zusammen, daß dem Koreanischen ein
/s/) für den Laut /kǒs/, k kos < k kos den japanischen Kana-Syllabaren vergleich-
+ (Auslaut-/s/), um die rein-koreanische bares Hilfsmittel zur Schreibung grammati-
scher Endungen fehlte. Der koreanische Kö-
Lesung /kos/ „Blume“ sicherzustellen, oder
mitk spun > modk ppun <
nig sk Sejong (1397—1450; reg. 1418—
(Anlaut-/s/) + 1450) arbeitete deshalb im 12. Monat seines
sk pun zur Wiedergabe des rein-koreanischen
25. Regierungsjahres (= Dez. 1443/Jan. 1444)
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 399

zusammen mit einer kleinen Gruppe von 8 kombinierbar sind, hätte man den koreani-
Gelehrten unter der Leitung des hoch ange- schen Familiennamen sk Kim ja einfach
sehenen Philologen und Phonetikers schreiben
sk Sin Sukchu (13. 6. 1417—21. 6. 1475) eine können, aber hier siegte die Tradition, ein
Schrift aus, die Abhilfe schaffen sollte. 1446 chinesisches Schriftzeichen immer in ein ima-
als sk Hunmin-chǒngǔm (wörtl. „das ginäres Quadrat hineinzuschreiben, so daß die
Volk in den richtigen Lautungen unterweisen“ Einzelbuchstaben seit Anbeginn der korea-
[= Nationale Orthoëpielehre]) veröffentlicht, nischen Buchstabenschrift als Gruppe zu einer
fand diese genial erfundene Buchstabenschrift Silbe zusammengefaßt werden: < .
trotz der Anstrengungen Sejongs und seiner Die folgende Zusammenstellung (Tab.
Nachfolger wegen der Widerstände in der Be- 27.5) enthält alle koreanischen Buchstaben in
amtenschaft und der der chinesischen Tradi- ihrer heutigen Reihenfolge, wobei die heute
tion verhafteten Oberschicht nur geringe Ver- nicht mehr verwendeten Zeichen mit einem *
breitung. Sie geriet dadurch zwar nicht in gekennzeichnet sind.
Vergessenheit, aber doch auf ein Abstellgleis Das heutige koreanische Alphabet hat die
mit rotem Ausfahrtssignal, und führte ledig- Abfolge:
lich bei der Niederschrift von Liedern, dem
Erlernen von chinesischen Schriftzeichen, Die Vokale sind dabei unter dem Vokalträ-
dem Studium chinesischer Bücher, beim An- ger o angeordnet. Sie werden graphisch durch
fängerunterricht für Mädchen sowie bei der vertikale und horizontale Striche dargestellt,
Schreibung fremder Eigennamen ein küm- die den Öffnungsgrad des Mundes symboli-
merliches Dasein am Rande, ja war sogar sieren sollen. Sie sind unter sich kombinier-
durch die Benennung sk ǒnmun „Schrift
bar, um Diphthonge und Triphthonge bilden
für die niedere Sprache“ noch zusätzlich dis- zu können. Das moderne Koreanisch hat fol-
kriminiert. U m 1900 dann als sk kungmun gende Vokalzeichen in der Reihenfolge des
„nationale Schrift“ bezeichnet (Lee 1977, 64), Alphabets:
änderte sich dies erst 1945 nach der japani- /a/, /ae/ < /a + i/, /ya/, /yae/ <
schen Kapitulation, als sich der bereits 1913/ /ya + i/
14 von dem Grammatiker sk Chu Si- /ǒ/, /e/ < /ǒ — i/, /yǒ/, /ye/ < /yǒ + i/
kyǒng (1876—1914) vorgeschlagene Name /o/, /wa/ < /o + a/, /wae/ <
k han’gǔl (< k han- „groß/eins“ + k kǔl /o + a + i/, /oe/ < /o + i/, /yo/
/u/, /wǒ/ < /u + ǒ/, /we/ <
„Schrift“) für die eigenständige koreanische
Schrift durchsetzte. /u + ǒ + i/, /ui/ < /u + i/, /yu/
Waren die japanischen Kana-Syllabare /ǔ/, /ǔi/, /i/.
noch in völliger Abhängigkeit von der chi- Herrn Prof. Dr. Werner Sasse, Frau Marie-
nesischen Silbe entstanden, so lösten sich Se- Theres Westhoff und Herrn Lektor Oh In-je
jong und seine Berater in epochemachender (alle Bochum) bin ich für Materialbeschaf-
Weise von diesen Vorstellungen, indem sie fung und wertvolle Hinweise zu Zf. 2 sehr zu
durch Aufspaltung einer Silbe in An-, In- und Dank verpflichtet.
Auslaut zu einer Einzellautbetrachtung ge-
langten, was Voraussetzung für die Schaffung
einer Buchstabenschrift ist. Das Hunmin- 3. Việtnam
chǒngǔm erläutert die einzelnen Buchstaben Allein schon die Tatsache, daß die geogra-
zunächst phonetisch: phische Situation Việtnams derjenigen Ko-
„k. Velarlaut. Wie der zuerst gesprochen Laut reas insofern gleicht, als es eine gemeinsame
des Zeichens sk kun [„Fürst“] (Hunmin- Landgrenze mit China hat, hat chinesischer
chǒngüm, 1 r), und sodann physiologisch, um Infiltration von Anfang an Tür und Tor ge-
die Form des Buchstabens beschreiben zu öffnet, zumal hier wie da dem Riesenreich
können: „( scil. das China ein flächenmäßig kleines Land gegen-
Zeichen für den ) Velarlaut k bildet die über stand, das zudem fast immer unter sich
den Kehlkopf verschließende Zungenwurzel sehr zerstritten war. Je geeinter und daher
nach.“ (Hunmin-chöngǔm, 6 r; vgl. auch Abb. mächtiger das Reich der Mitte war, desto
25.10). Dies wird für alle damaligen 28 Buch- stärker waren auch seine Gelüste, ganz Ost-
staben durchgeführt, deren Zusammenstel- asien mit seiner pax sinica zu beglücken. Die
lung zu einer Silbe das einzige Zugeständnis c Hàn -Dynastie (206 v. Chr.—220 n. Chr.)
an die Schreibtradition der chinesischen war ein solcher Staat, und folglich kam
Normschrift war. Da Einzelbuchstaben frei Việtnam nicht darum herum, sich von
400 III. Schriftgeschichte

Tab. 27.5: Die koreanische Han’gǔl-Schrift


Buchstabe Laut Name Bemerkungen
[k-/--] kiyǒk
[g’] ssang-giyǒk völlig unaspiriert
[n] niǔn
[t-/--] tigǔt
[d’] ssang-digǔt völlig unaspiriert
[-r-/-l] (r)iǔl
[m] miǔm
[p-/--] piǔp
[b’] ssang-biǔp völlig unaspiriert
* [-β-] sun-gyǒngǔm seit ca. 1450 nicht mehr verwendet
( (Lee 1977, 148)

[s h ] siot aspiriert
[s’] ssang-siot völlig unaspiriert
* [z] pan-siot, seit der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in
yǒrin siot, der Schrift nicht mehr verwendet
samgak siot (Lee 1977, 150)
(1) spiritus lenis iǔng heute nur Vokalträger

[(2) [-ŋ] iǔng silbenschließender Velarnasal [ŋ]


* [’-/--] toen iǔng Vokalanstoß als Vokalträger im Anlaut [’]
yǒrin hiǔt intervokalischer stimmhafter laryngaler
Frikativlaut [] (Lee 1977, 151); seit Ende
15./Anfang 16. Jahrhundert in der Schrift
nicht mehr verwendet (Lee 1977, 152)
* [] area a seit 15./16. — 2. Hälfte 18. Jahrhundert in
der Schrift nicht mehr verwendet, aber erst
1933 abgeschafft (Lee 1977, 242)
[tʃ-/--] chiǔt
[tʃ’] ssang-jiǔt völlig unaspiriert

[tʃ h ] chhiǔt stark aspiriert

[k h ] khiǔk stark aspiriert

[t h ] thiǔt stark aspiriert

[p h ] phiǔp stark aspiriert


[h] hiǔt
[ç] ssang-hiǔt palataler stimmloser Frikativlaut („ich-
Laut“), seit 1465 in der Schrift nicht mehr
verwendet (Lee 1977, 146)
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 401

111 v. Chr. bis 968 n. Chr. mit dem Status sen“ existierte ja und war bekannt. Nun er-
eines chinesischen Protektorats abzufinden. gaben aber die Entlehnungen aus dem chi-
Rund 1100 Jahre chinesischer Oberherrschaft nesischen Vokabular normalerweise die Sino-
in Việtnam mußten daher ihre unauslöschli- Varianten der jeweiligen Sprachen.
chen Spuren hinterlassen. Während sich die c shípǐn „Lebensmittel“
chinesische Verwaltung in den chinesischen
Präfekturen auf koreanischem Boden mit in- sjshokuhin „Lebensmittel“
digenen Sprachen herumschlagen mußte, die sk sikp’um „Lebensmittel“
mit dem Chinesischen nichts zu tun hatten, sv thụcphâm „Lebensmittel“
war die Situation in Việtnam insofern anders, Andererseits zeigt aber der Grundwortschatz
als das Việtnamesische bei allen gravierenden durchaus sein Beharrungsvermögen — „es-
U nterschieden zum Chinesischen rein äußer- sen“ als Simplex ist nie etwa durch *„man-
lich eine monosyllabisch-isolierende Sprache dieren“ ersetzt worden. Das Japanische hat
war und ist. Mögen sich Phonetik und gram-
matikalisch-syntaktische Konstruktionen im sich mit dem Trick der Übersetzung in die
Việtnamesischen noch so sehr vom Chinesi- eigene Sprache geholfen: da das chinesische
Zeichen „essen“ bedeutet, lesen wir das
schen unterscheiden, so lag doch die Versu-
chung nahe, die für eine ebenfalls monosyl- einfach taberu. Bis zur Einführung der Han’-
j

labisch-isolierende Sprache geschaffenen chi- gǔl-Schrift war es in Korea ebenso: das Zei-
nesischen Schriftzeichen so, wie sie waren, für chen wurde k mǒkta gelesen. Im Việtnamesi-
das Việtnamesische zu verwenden. Zwar schen hätte es theoretisch genauso sein kön-
dachte im Anfang niemand daran, Việtna- nen, aber die Einsilbigkeit der Sprache
mesisch mit chinesischen Zeichen zu schrei- machte einen Strich durch die Rechnung. Auf
ben, denn wenn es etwas zu schreiben gab, Việtnamesisch heißt „essen“ v ăn. Schriebe
dann wurde es, wie in Japan und Korea zu- man nur , könnte man dem Zeichen von
nächst auch, mit chinesischen Zeichen in chi- außen nicht ansehen, ob es sv tụ oder sv thụ
nesischer Sprache geschrieben. Nur ein Punkt oder aber v ăn gelesen werden soll, denn Le-
machte überhaupt keine Schwierigkeiten, sehilfen wie im Japanischen j ta⋮beru
nämlich die Schreibung der việtnamesischen
Eigennamen, die ja in Japan und Korea nicht oder Koreanischen k mǒk⋮ta waren ja
nur Stein des Anstoßes, sondern direkter Aus- unmöglich. Also blieb nichts anderes übrig,
löser für eine eigene Schriftentwicklung ge- als eine radikale Trennung in der Weise vor-
wesen waren. Bis zum heutigen Tage werden zunehmen, daß die sino-việtnamesischen Le-
việtnamesische nom ina propria in China nicht sungen für die chinesischen Zeichen reser-
phonetisch transkribiert, sondern mit richti- viert, für die việtnamesischen Worte aber neue
gen chinesischen Zeichen geschrieben, die in Zeichen geschaffen wurden, die mit den ech-
Việtnam selbst gar nicht mehr verwendet und ten chinesischen Zeichen nicht verwechselt
verstanden werden. In China wird Việtnam werden konnten. Die den Gedankenbereich
geschrieben und c yuènán ( kant jyt 9 nam 4 ) eines chinesischen Zeichens bezeichnenden
Determinativa boten dazu zusammen mit den
ausgesprochen, ist sv Điện-biên-ph Phonetika eine gute Grundlage. Da „essen“
und Lê-Văn-Huu ist der Verfasser immer etwas mit ‘Mund’ zu tun hat, war der
der việtnamesischen Geschichtsannalen Determinativ-Bestandteil des zu schaffenden
sv Đại-Việt s·-ký von 1272. Zeichens bereits eindeutig als ‘Mund’ fest-
U m diese Zeit herum wurden erste Versu- gelegt. Als Phonetikum für das việtnamesi-
che unternommen, die eigene việtnamesische sche Wort v ăn bot sich c ān an, so daß sich
Sprache mit chinesischen Zeichen zu schrei- ein Zeichen ergab, das dem Leser die ein-
ben. Das Problem hierbei war, daß das deutige Instruktion gab, „hat etwas mit
Việtnamesische zwar monosyllabisch war, auf ‘Mund’ zu tun und soll ungefähr wie [an]
grammatische Formantien also keine Rück- gelesen werden“. Wer es dann immer noch
sicht zu nehmen brauchte, aber ganz andere nicht kapiert hatte, mußte wohl hungrig blei-
Worte benutzte als das Chinesische. Vor die ben.
Aufgabe gestellt, das Verb „essen“ schriftlich Zur Abgrenzung von den echten chinesi-
zu fixieren, hätte man wie im Japanischen und schen Zeichen chũ hán wurde diese
Koreanischen auch zweigleisig fahren kön- neue Schrift chũ nȏm „einheimische
nen, einmal mit der Entlehnung der adaptier- Schriftzeichen“ genannt; die Gesamtzahl ihrer
ten chinesischen Aussprache und zum ande- Zeichen beläuft sich auf 6285 (eigene Zählung
ren mit der eigenen rein-việtnamesischen Lau- aufgrund von Takeuchi 1988, 633—694). Ihr
tung, denn das chinesische Zeichen „es-
402 III. Schriftgeschichte

bei weitem wichtigstes, aber nicht das einzige neue Schrift chũ· nôm in altem Gewande erst
Bildungsgesetz war die oben dargestellte im 13. Jahrhundert erste Gehversuche unter-
Kombination eines Determinativums mit nahm. 1282 schrieb der Justizminister
einem Phonetikum. Andere Bildungsweisen Nguyễen-Thuyên Gedichte in einheimischer
hatten i n diesem Zusammenhang zwar nur Sprache, womit er beim Adel eine große Re-
geringe Chancen, kamen aber vor, so z. B. bei sonanz hatte (Lê 1969, 117). Ende des 15./
v trò·i „Himmel“ < sv thiên (Himmel) Anfang des 16. Jahrhunderts nahm die in chũ·
und sv thuọng (oben), wobei einerseits we- nôm geschriebene Literatur einen bescheide-
der noch als Phonetikum geeignet nen (Lê 1969, 174), Ende des 17. und im 18.
Jahrhundert aber einen beachtlichen Auf-
waren und andererseits /trò·i/ als sino-việt- schwung (Lê 1969, 226). In der 2. Hälfte des
namesische Lautung irgendeines chinesischen 18. Jahrhunderts stellte die zunächst in Chi-
Zeichens nicht vorkommt. Das Zeichen dürfte nesisch verfaßte „Klage einer Kriegersfrau“
von dem chinesischen Binomen c tiān-
( ) Chinh-phụ-ngâm(-khuc) von
shàng (Himmel, Firmament) mit inspiriert Đặng-Trần-Côn in ihrer Übertra-
worden sein. Ähnlich bei v trùm „Häupt-
gung ins Việtnamesische durch die Dichte-
ling“ < sv nhân (Mensch) und sv thuọng rin Đoàn-Thị-Điém (1705—1748)
(oben) für einen Menschen, der an der Spitze das Original weit in den Schatten (Lê 1969,
steht. Auch v trùm kommt als sino-việtname- 226; hier unrichtigerweise Phan-
sische Lautung eines chinesischen Zeichens Huy-Ích als Übersetzer genannt). U m 1790
nicht vor. herum wurde der Versuch unternommen, die
Graphisch setzen sich die chinesischen Zei- chinesischen Zeichen gänzlich durch die ein-
chen aus einzelnen (Pinsel)strichen zusam- heimischen zu ersetzen, indem Gesetze, Kult-
men, deren Gesamtzahl im Chinesischen gebete, Proklamationen und die 3. Prüfungs-
selbst die stolze Zahl von 64 erreicht. Zu allen arbeit bei den Staatsprüfungen nur noch in
Zeiten hat man daher oft seine Zuflucht zu chũ· nôm geschrieben wurden (Lê 1969, 262 f),
Abkürzungen genommen, insbesondere wenn was dann 1790 zur offiziellen Einführung als
es sich dabei um häufig gebrauchte Zeichen nationale Schrift ausgebaut wurde (Lê 1969,
gehandelt hat. Auch die chũ nôm blieb davon 264). Erst 1915 wurde die chũ nôm offiziell
nicht verschont, so daß es von gekürzten, abgeschafft, nachdem Việtnam schon lange
abgekürzten, verkürzten und verstümmelten französisches Protektorat geworden war (Ka-
Zeichen nur so wimmelt. Das Zeichen mei et al. 1988, 765) und französische Missio-
c wéi / sj i / sk wi / sv vị nare, insbesondere P. Alexandre de Rhodes
„machen“, das ursprünglich (1591—1660) in seinem 1651 in Rom heraus-
„einen Elefanten bei der Arbeit mit der gekommenen Dictionarium Annam iticum -Lu-
Hand leiten“ bedeutete, war schon den sitanum et Latinum bereits eine auf portugie-
Chinesen zu lästig, so daß sie schon früh sische Vorarbeiten beruhende U mschrift des
inoffiziell auf einen Großteil der Hand ver- Việtnamesischen in lateinische Buchstaben
zichteten und nur noch schrieben. Aber geschaffen hatte, die seit 1910 als sv (chũ)
auch das war ihnen noch zu viel, so daß heute quốc ngũ ( ) alleiniges Darstellungs-
offiziell von dem Elefanten nur noch soz. mittel des Việtnamesischen geworden ist.
Skeletteile übriggeblieben sind. Die chũ Der Gesamtkomplex der Entwicklung der
nôm hat demgegenüber manchmal den Weg chinesischen Schrift in Việtnam kann gut an
der japanischen Katakana beschritten und einem Beispiel veranschaulicht werden, das
Teile eines Zeichens verwendet, in diesem Fall der việtnamesischen Übertragung des er-
auf den Elefanten ganz verzichtet und nur wähnten Versromans „Klage einer Kriegers-
noch die Hand übriggelassen. Das Zeichen frau“ entnommen ist (Nguyễn-Du, s. l. s. a.,
wurde so für das việtnamesische Verb làm Bd. II, 157, Z. 7—8) (s. nächste Seite).
„machen, tun“ verwendet, war darüber hin- Für wertvolle Hinweise und Hilfestellung bei
aus aber auch noch für die Lautungen lam/ der Materialbeschaffung z. Zf. 3 bin ich Frau
lâm/lem/lim/lôm/lo·m/lum/luôm eingesetzt Dr. Vera Schmidt (Bochum) und Herrn Dr.
worden. Johannes Kehnen (Duisburg) sehr zu Dank
Entwicklungen dieser Art reifen langsam, verpflichtet.
und so ist es kaum verwunderlich, daß die
27.  Weiterentwicklungen der chinesischen Schrift:Japan — Korea — Vietnam 403

Original Erläuterung
(1) có abgekürztes Zeichen für das aus dem Phonetikum cố und
vorhanden sein dem Determinativum „vorhanden sein“ zusammengesetzten
Determinativphonetikum „vorhanden sein“.

(2) đâu verkürztes Zeichen, anstelle von đâu (eigentliche Bedeu-


ganz und gar tung „Helm“) rein phonetisch verwendet.
(3) verkürztes Zeichen für sv thiên „einseitig, voreingenommen,
thiên parteiisch“.
(4) verkürztes Zeichen für sv vị „wegen, weil, für, infolge“
vi
sino-viet. Binom-Komposi-
tum mit der Bedeutung
„Voreingenommenheit“.
Kein chin. Lehnwort.
(5) chũ· Aus dem Phonetikum trũ (mit chũ· homophon) und dem
(auf)bewahren Determinativum „Schriftzeichen“ zusammengesetzes Zei-
chen mit der Bedeutung „Schriftzeichen“; hier fälschlicherweise
für das homophone trũ „(auf)bewahren, speichern“ ver-
wendet.
(6) mệnh sino-viet. Lehnwort mit der Bedeutung „Fügung, Los, Ge-
Geschick, Los, Fügung schick; Leben“.
(7) dồi Lapsus calami für richtiges , das aus dem Determinativum
dào < (Wasser) als Sinnbild für Überfluß“ (Fluß ← Was-
rein-viet. Binom-Komposi- ser!) und dem Phonetikum đôi zur Darstellung des Begriffs
tum mit der Bedeutung „Überfluß“ gebildet ist.
„viel, (über)-reichlich“
(8) câ Aus co/ky/kỳ durch graphische Umkehrung der Größen-
zu viel verhältnisse (großes anstelle eines kleineren und kleines
anstelle eines größeren) gebildet, um den Begriff „zu groß, zu
viel“ darzustellen (das große ist für das kleine „zu
groß“).
(9) hai Aus dem Phonetikum thai und dem Determinativum
zwei, doppelt „2“ zusammengesetzes Determinativphonetikum.

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28. Mittelamerikanische Schriften

1. Schriftsysteme im vorspanischen Amerika kürzlich entzifferten epiolmekischen Schrift


2. Narrative Piktographie der Präklassik bereits sehr komplexe logosyllabische Struk-
3. Die zapotekische Schrift turen haben. Im nördlichen Mesoamerika
4. Die epiolmekische Schrift tritt Schrift erst unmittelbar vor der spani-
5. Maya-Hieroglyphen schen Invasion auf.
6. Die aztekische Hieroglyphenschrift
7. Literatur
2. Narrative Piktographie der
Präklassik
1. Schriftsysteme im Der eigentlichen Schrift gehen in Mesoame-
vorspanischen Amerika rika verschiedene Vorstufen zur Schrift voran.
Die indianischen U reinwohner des amerika- In den frühen Stadtkulturen der Olmeken, im
nischen Kontinents haben verschiedene Tal von Oaxaca, und in den meisten Bereichen
Schriftsysteme entwickelt, die im Vergleich Zentralmexikos noch bis in die postklassische
mit den altweltlichen Schriften nur ungenü- Zeit hinein wird eine komplexe narrative Pik-
gend bekannt, aber aufgrund ihrer vollkom- tographie zur „Schreibung“ einfacher Aus-
menen Eigenständigkeit von erheblichem sagen verwendet. Die narrative Piktographie
komparatistischen Interesse für die Erfor- ist jedoch ein begrenztes System, das ab-
schung der Genese von Schriftsystemen sind. strakte Ideen und Zusammenhänge nicht dar-
Von den amerikanischen Schriften werden in zustellen vermag (vgl. 6.). Die olmekische
diesem Kapitel nur solche behandelt, die nicht Kultur, die von 1200 v. Chr. bis 500 v. Chr.
auf europäische Kontakte zurückgehen. Ab- an der mexikanischen Golfküste blühte, ent-
gesehen von diversen sehr heterogenen Vor- wickelte eine komplexe narrative Ikonogra-
läufern der Schrift haben die indianischen phie, die möglicherweise bereits den Über-
Völker Nordamerikas keine eigenständigen gang zu einer den Sprachcode einbeziehenden
Schriftsysteme hervorgebracht. Ganz anders Notation vollzog. Allerdings sind uns bis jetzt
stellt sich die Situation in den frühen vorspa- keine eigentlichen olmekischen Hieroglyphen-
nischen Stadtkulturen Mesoamerikas dar, die texte bekannt, sieht man einmal von dem
verschiedene ideographische und logosyllabi- Vorkommen isolierter Zeichen ab, die für no-
sche Systeme entwickelten, die von den letzten minale Ausdrücke stehen.
vorchristlichen Jahrhunderten bis zur spani-
schen Eroberung, in Rückzugsgebieten sogar
noch bis weit in die Kolonialzeit hinein in 3. Die zapotekische Schrift
Gebrauch waren. Die städtischen Kulturen im
andinen Raum haben — im Gegensatz zu Die Verwendung von Schrift in Mesoamerika
Mesoamerika — keine Schriftsysteme ver- ist zum ersten Mal in der zapotekischspra-
wendet, die über das Stadium der an anderer chigen Stadt Monte Alban im Tal von Oaxaca
Stelle behandelten Vorstufen zur Schrift hin- in Südmexiko belegt (Marcus 1976; Whitta-
ausgehen. Die Verwendung von Schrift im ker 1992, 6). Die ältesten Schrifttexte finden
vorspanischen Amerika ist auf das „Meso- sich auf massiven Stelen aus dem 6. Jahrhun-
amerika“ genannte Kulturareal beschränkt, dert v. Chr. Das Schriftsystem wurde über die
also auf ein Gebiet, das sich auf die heutigen gesamte Präklassik weiterentwickelt und zur
Staaten Mexiko, Guatemala, Belize, Hondu- Niederschrift der militärischen Erfolge der
ras und El Salvador erstreckt. Herrscher Monte Albans verwendet. Die
Die folgende Diskussion beschränkt sich Schrift erreichte ihre höchste Entwicklung in
daher auf die Schriftsysteme des vorspani- der späten Präklassik (200 v. Chr.—250
schen Mesoamerika. Der Schwerpunkt der n. Chr.) und wurde dann aber zu dem Zeit-
Darstellung muß bei der Mayaschrift liegen, punkt, als die Macht der Stadt am größten
die nicht nur das am weitesten entwickelte, war, in der Verwendung dramatisch reduziert.
sondern inzwischen auch das am besten er- Geschriebene Texte wurden durch eine kom-
forschte Schriftsystem der Neuen Welt ist. plexe Ikonographie ersetzt, die vielleicht den
Neben der Mayaschrift entstanden bereits in Vorteil einer allgemeineren Verständlichkeit in
der Präklassik andere Schriftsysteme im süd- einem durch die Eroberungen entstandenen
lichen Mesoamerika, die wie im Fall der erst multilingualen U mfeld hatte. Die zapoteki-
406 III. Schriftgeschichte

sche Schrift wurde bis in die späte Klassik „epiolmekische“ Schrift bezeichnet wird, da
verwendet, hatte in der Spätzeit jedoch allein sie in der archäologischen Tradition der frü-
die Funktion, Namen und Daten niederzu- heren olmekischen Kultur steht (Justeson &
schreiben. Kaufman 1993, 1703). Bislang sind nur neun
Das Corpus der zapotekischen Hierogly- epiolmekische Schrifttexte bekannt, von de-
phentexte ist klein und im wesentlichen auf nen alle bis auf zwei auf Steinmonumente
Steinmonumente — Stelen und Wandtafeln geschrieben sind. Die geringe Anzahl der
— aus dem Hauptort Monte Alban be- Texte wird wettgemacht durch eine 1986 in
schränkt. Kurze Texte sind auch in umliegen- La Mojarra (Veracruz) gefundene Basaltstele
den Orten gefunden worden, die wahrschein- mit einem aus mehreren hundert Schriftzei-
lich von Monte Alban kontrolliert wurden. chen bestehenden gut erhaltenen Text (Abb.
Die Kürze der meisten Inschriften, in denen 28.1). Die Entdeckung und Publikation dieses
selten mehr als zehn Zeichen folgen, deutet außergewöhnlichen Monumentes, das zwei si-
darauf hin, daß es sich um ein logographi- cher zu entziffernde Daten aus der Mitte des
sches System handelt. Die Zeichen stellen in 2. Jahrhunderts n. Chr. trägt, führte zu einer
den meisten Fällen konkrete Gegenstände intensiven Auseinandersetzung mit der epiol-
dar. Sie stehen für Kalenderzeichen, Perso- mekischen Schrift und ihrer Entzifferung im
nennamen, Toponyme und Verben. Da die Frühjahr 1993 (Justeson & Kaufman 1993).
zapotekischen Sprachen stark isolierende Epiolmekische Schrifttexte repräsentieren
Sprachen sind, brauchen grammatische Affixe eine Prä-Proto-Zoque-Sprache. Sieben ver-
nicht repräsentiert zu werden. Der zapoteki- wandte Mixe-Zoque-Sprachen werden noch
sche Kalender beruht auf dem in ganz Me- heute in der Region, in der epiolmekische
soamerika verbreiteten 260tägigen Ritual- Texte gefunden wurden, gesprochen. Die Ent-
kalender. Die Zeichen des Ritualkalenders zifferung der epiolmekischen Schrift beruht
wurden auch zur Notierung des 365tägigen auf dem Vergleich der Struktur der Schrift
Jahres und verschiedener anderer Kalender- mit der Struktur des rekonstruierten Prä-
abschnitte verwendet. Wie in vielen anderen Proto-Zoque, der Ähnlichkeit des Kalender-
Regionen Mesoamerikas erfolgt die Namen- systems mit dem der späteren Maya und der
gebung von Personen nach ihrem Geburts- graphischen Ähnlichkeit vieler Zeichen mit
datum, so daß Personennamen häufig nicht Zeichen aus der genetisch verwandten Maya-
von Kalenderdaten zu unterscheiden sind. To- schrift.
ponyme können an ihrer syntaktischen Posi- Die Anzahl der epiolmekischen Schriftzei-
tion und daran erkannt werden, daß sie häu- chen ist mit knapp 200 Zeichen zu gering für
fig mit dem Zeichen „Berg“ kombiniert wer- eine rein logographische Schrift. Die epiol-
den. Einige der Ortshieroglyphen können mit mekische Schrift stellt daher den ersten be-
aus der Kolonialzeit bekannten Toponymen kannten Beleg für eine vollentwickelte logo-
aus dem Tal von Oaxaca und angrenzenden syllabische Schrift in Mesoamerika dar. Die
Gebieten korreliert werden. Dabei hat sich meisten Silbenzeichen haben die Struktur
herausgestellt, daß neben konkreten Topo- Konsonant-Vokal (CV). In den Mixe-Zoque-
nymen auch Namen von Distrikten erschei- Sprachen sind nur 66 CV-Kombinationen
nen, denen die genannten Eroberungen zu- möglich, so daß trotz eines geringen Textcor-
geordnet werden. Zu den wenigen sicher iden- pus syllabische Entzifferungen an einer Viel-
tifizierten Verben gehört das Verb für „er- zahl unterschiedlicher Kontexte überprüft
obern“. werden können. Neben CV-Silbenzeichen
Die sprachliche Entzifferung der zapote- können auch Logogramme, die die Struktur
kischen Schrift steht erst in den Anfängen CVC und CVCV haben, in phonetischen
und wird durch das Fehlen reiner Silbenzei- Schreibungen verwendet werden, wobei ihr
chen und die seltene phonetische Verwendung semantischer Wert bedeutungslos wird. Aus
der Logogramme, aber auch durch die Kürze mehreren Silben bestehende Logogramme
der Texte und die unbefriedigende Dokumen- können durch Akrophonie zu CV-Silbenzei-
tation der zapotekischen Sprachen erschwert. chen werden. Logogramme sind häufig iko-
nische Zeichen, deren Bilder für das Gemeinte
stehen. Die Silbenzeichen können sowohl für
4. Die epiolmekische Schrift rein syllabische Schreibungen, aber auch zur
In der Zeit zwischen 150 v. Chr. und 450 phonetischen Komplementierung von Logo-
n. Chr. entstand im Kerngebiet der olmeki- grammen und zur Schreibung grammatischer
schen Kultur eine Schrift, die am besten als Morpheme verwendet werden.
28.  Mittelamerikanische Schriften 407

Abb. 28.1: Die epiolmekische Basaltstele von La Mojarra, Veracrúz, México. Zeichnung von George Stuart
408 III. Schriftgeschichte

Die La Mojarra-Stele, der längste bekannte die auf Feigenbastpapier geschrieben sind und
epiolmekische Text, behandelt die Inthroni- sich heute in europäischen und mexikanischen
sation des dargestellten Herrschers, beglei- Bibliotheken befinden. Wie groß das sich
tende Opferzeremonien und zahlreiche Feld- ständig durch archäologische Grabungen er-
züge, die er unternommen hat. Inhaltlich ent- weiternde Gesamtcorpus aller Hieroglyphen-
spricht sie damit späteren Maya-Inschriften. texte ist, läßt sich nicht genau sagen; sicher
Nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell handelt es sich um eine fünfstellige Zahl. Ver-
scheint die epiolmekische Schrift die gleichen schiedene Projekte bemühen sich gegenwärtig
Wurzeln zu haben wie die erst später belegten um die vollständige Dokumentation des Text-
Maya-Hieroglyphen. Zahlreiche epiolmeki- corpus.
sche Zeichen sind Mayazeichen ähnlich und
teilen mit ihnen auch den gleichen Lautwert. 5.2. Entstehung und Entwicklung der
Mayaschrift
5. Maya-Hieroglyphen Zu den noch ungelösten Fragen gehört die
Frage, ob die Mayaschrift eine selbständige
5.1. Verbreitung der Mayaschrift und weitgehend unabhängige lokale Entwick-
lung ist, oder ob die Mayaschrift aus der
Schriftzeugnisse in der Hieroglyphenschrift pazifischen Küstenregion in das Tiefland, das
der Maya finden sich im gesamten Gebiet der das Kerngebiet der klassischen Mayakultur
klassischen Mayakultur, das sich über Süd- bildet, importiert wurde (Justeson, Norman,
mexiko, über den gesamten Norden des Staa- Campbell & Kaufman 1985).
tes Guatemala, den Staat Belize, und einen In den Jahrhunderten unmittelbar um die
schmalen Streifen im Nordwesten des Staates Zeitenwende wurde an der pazifischen Kü-
Honduras erstreckt. In mehreren hundert stenregion wie auch im Hochland Guatemalas
Städten, die im Einzelfall bereits in der mitt- ein Schriftsystem verwendet, das in vielerlei
leren Präklassik (800 bis 300 v. Chr.) entstan- Hinsicht als Vorläufer der klassischen Maya-
den, wurde die Hieroglyphenschrift bis zum schrift angesehen werden kann. Die Schöpfer
Zusammenbruch der klassischen Mayakultur dieser Schrifttexte standen in Kontakt mit
(ca. 750 bis 900 n. Chr.) verwendet. Schrift- Sprechern von Mixe-Sprachen, die ihrerseits
texte haben sich auf einer Vielzahl unter- die epiolmekische Schrift verwendeten. Die
schiedlicher Materialien erhalten, vor allem wenigen lesbaren Hieroglyphen auf frühen
aber auf Steinmonumenten (→ Abb. 28.2 auf Texten dieser Region sind in einer der Chol-
Tafel IX). Zu den steinernen Schriftträgern sprachen geschrieben, die in der Kolonialzeit
gehören Stelen, Altäre, und architektonische in der Gegend nicht mehr vorkamen. Das
Elemente, wie Türstürze und -laibungen, könnte ein Indiz dafür sein, daß es in der
Wandtafeln, und sogar Treppen. Neben ge- späten Präklassik zu einer Migration von
meißelten Texten gibt es auch ein sehr großes cholsprachiger Bevölkerung aus dem Hoch-
Corpus von auf Keramiken geschriebenen land und der Pazifikküste in das Tiefland
Texten. Schließlich kennen wir zahlreiche gekommen ist. Auch archäologische Indizien
Texte auf Kleingeräten und Schmuckstücken können zur Stützung dieser Hypothese an-
aus Jade, Knochen und Muschelschale (Abb. geführt werden. Das letzte datierte Monu-
28.3) und einige wenige Exemplare von in ment aus der Küstenregion trägt das Datum
Holz geschnitzten Texten. Nur in wenigen 126 n. Chr. Andererseits haben neuere ar-
Fällen haben sich Wandmalereien mit erläu- chäologische Grabungen im Norden Guate-
ternden Hieroglyphentexten gefunden. In der malas zeigen können, daß Städte mit monu-
Zeit kurz vor der spanischen Invasion ent- mentaler Architektur und einer komplexen
standen die vier noch erhaltenen Faltbücher, Ikonographie schon um 600 v. Chr. existier-
ten und daß mit frühen Formen von Maya-
schrift beschriebene Monumente und Objekte
ebenfalls bereits in der Präklassik vorkommen
(Hansen 1991, 12 ff).
Die sich vor allem in monumentalen Stuck-
masken an der Fassade von Tempelpyrami-
den manifestierende präklassische Ikonogra-
Abb. 28.3: Inzisierte Muschelplatte mit Logo-
phie macht sich ein Zeichenrepertoire zu
gramm, wahrscheinlich für einen Personennamen;
nutze, das weitgehend identisch ist mit Lo-
Originalgröße
gogrammen, die später in der Mayaschrift
28.  Mittelamerikanische Schriften 409

vorkommen. Diese Tatsache deutet wiederum und Inschriften hervorzubringen.


auf eine lokale Entstehung der Mayaschrift Aus der Postklassik (900 n. Chr. bis zur
aus der Ikonographie der Präklassik hin. spanischen Invasion) kennen wir Hierogly-
Möglicherweise schließen sich beide Theorien phentexte mit wenigen Ausnahmen nur noch
nicht aus; vielleicht hat es auch diverse An- aus den vier erhaltenen Handschriften, deren
sätze zur Schriftentwicklung gegeben, die Inhalte nun nicht mehr historischer, sondern
durch die Zuwanderung von Cholsprechern religiöser und astronomischer Natur sind. Die
ins Tiefland zusammengeführt wurden. Fest Schrift der Handschriften ist weitestgehend
steht jedoch, daß im dritten nachchristlichen identisch mit der Schrift der späten Klassik.
Jahrhundert die Kenntnis der Schrift über das Entgegen weitverbreiteter Ansicht repräsen-
gesamte Gebiet der klassischen Mayakultur tieren die Handschrift keine stärkere Phone-
verbreitet ist, und daß uns die Schrift plötzlich tisierung als die Texte auf klassischen Stein-
als voll entwickeltes logosyllabisches System monumenten (Grube, 1990). Die weit niedri-
begegnet. In die gleiche Zeit fällt auch der gere Anzahl von Schriftzeugnissen aus post-
Beginn der eigentlichen klassischen Zeit der klassischer Zeit geht auf die veränderten po-
Mayakultur. Die uns erhaltenen Schriftdo- litischen Strukturen der Postklassik zurück,
kumente entstammen fast ausnahmslos einem in der nun nicht mehr einzelne Herrscherper-
höfischen Kontext. Stelen, Altäre und Gebäu- sönlichkeiten im Vordergrund standen, son-
deinschriften hatten die Aufgabe, die Biogra- dern Formen kollektiver Herrschaftsaus-
phien und politischen Programme der Herr- übung erprobt wurden (Schele & Freidel
scher festzuhalten und in einen religiösen 1991). Mit der Ankunft der Spanier und der
Kontext zu stellen (Schele & Freidel 1991). Auslöschung, Bekehrung und U merziehung
Innerhalb der sechs Jahrhunderte der klassi- des Adels erlosch die Kenntnis und damit die
schen Zeit verändert sich die Schrift konti- Verwendung der Mayaschrift im sechzehnten
nuierlich (Grube 1990). Obgleich schon die Jahrhundert. Bis auf wenige Ausnahmen
ältesten frühklassischen Texte rein syllabische scheinen die Spanier an der Mayaschrift nicht
Schreibungen aufweisen, nimmt der Grad der interessiert gewesen zu sein. Dieser U mstand
Phonetisierung besonders stark während des hat dazu geführt, daß es keine Bilinguen gibt
Überganges von der Frühklassik zur Spät- und die einzige spanische Beschreibung von
klassik im 6. Jahrhundert n. Chr. zu. Begriffe, Mayahieroglyphen auf Mißverständnissen
die in der Frühklassik ausschließlich logogra- beruht (Coe 1992). Da es den spanischen Er-
phisch geschrieben wurden, werden in der oberern bis zum Ende der Kolonialzeit nicht
Spätklassik nun auch syllabisch geschrieben. gelang, das gesamte Mayagebiet zu kontrol-
Gleichzeitig steigt der Grad der phonetischen lieren, konnten sich in den U rwäldern des
Komplementierung, und die Schrift wird um Südens Maya-Kleinstaaten, in denen die
zahlreiche neue Silbenzeichen bereichert. Mayaschrift verwendet wurde, bis gegen Ende
Neben einer immer größer werdenden Flexi- des 17. Jahrhunderts halten. Die Verwendung
bilität, die auch der individuellen Kunstfertig- von Schrift ist durch Erwähnungen in spani-
keit der Schreiber immer größeren Raum ließ, schen Berichten belegt; Texte selbst sind uns
sind die Veränderungen der Schrift im sech- aber aus dieser Spätzeit nicht bekannt.
sten Jahrhundert Anzeichen für eine sich wan-
delnde linguistische Landschaft, die einher- 5.3. Forschungsgeschichte
geht mit bislang noch nicht hinlänglich er-
forschten Veränderungen in der sozialen und Mit der archäologischen Wiederentdeckung
politischen Struktur der Kleinstaaten des der Mayakultur begann um 1840 auch die
Mayagebietes. In der Spätklassik nahm die wissenschaftliche Erforschung der Maya-
Anzahl von Silbenzeichen noch weiter zu, schrift (Coe 1992). Die Entzifferung be-
ohne jemals allerdings die Logogramme aus schränkte sich zunächst auf die Interpretation
der Schrift zu verdrängen und den Schritt zu des Zahlensystems und des Kalenders. Mit
einer reinen Silbenschrift zu machen. Mit dem der fotografischen Dokumentation einer gro-
Kollaps der politischen Struktur der klassi- ßen Anzahl von Monumentaltexten Ende des
schen Mayakultur endete auch die Verwen- Jahrhunderts setzte auch ein verstärktes Be-
dung der Schrift als Medium der herrschen- mühen um die sprachliche Entzifferung der
den Elite. Die letzte datierte Stele wurde im Mayaschrift ein. Sie war geprägt von Ausein-
Jahr 909 n. Chr. errichtet, zu einer Zeit, da andersetzungen zwischen den Forschern, die
die meisten zentraler gelegenen Städte bereits in der Mayaschrift ein Sprache kodierendes
aufgehört hatten, monumentale Architektur System sahen, und solchen, die in ihr eine
410 III. Schriftgeschichte

ideographische Schrift erkennen wollten. Das tieren (unflektierte) Substantive, Verben, Ad-
Fehlen linguistischer Daten und die ungenü- jektive, Adverbien und Zahlklassifikatoren.
gende linguistische Ausbildung der meisten Neben Silbenzeichen und Logogrammen
Befürworter der phonetischen Entzifferung gibt es nur zwei sicher als nicht mitzulesendes
führte zu einer über mehrere Jahrzehnte wäh- Determinativ interpretierte Zeichen, die so-
renden Stagnation der Entzifferung der genannte „Tageszeichencartouche“ und die
Mayaschrift, zu der festen Überzeugung, daß Dopplungspunkte. Wird ein Zeichen in die
die Mayaschrift ideographischer Natur sei Tageszeichencartouche infigiert, verliert es
und daß sie hauptsächlich zur Schreibung re- seinen ursprünglichen Silben- oder Wortwert
ligiöser und astronomischer Texte gedient und wird zu einem Logogramm für eines der
habe (Thompson 1950). Der russische Ägyp- zwanzig Tageszeichen des mesoamerikani-
tologe Yurii Knorozov wies 1952 unter Zu- schen Ritualkalenders. Die Anbringung von
hilfenahme einer über die Schrift berichten- zwei Dopplungspunkten außen an den U mriß
den kolonialspanischen Quelle nach, daß die eines Silbenzeichens deutet an, daß der Sil-
Mayaschrift mit ihren etwa 750 Schriftzeichen benwert des betreffenden Zeichens zu wieder-
nur ein logosyllabisches System sein konnte holen ist.
(Knorozov 1958). Seine Forschungen stießen In allen Schrifttexten werden Logogramme
zunächst auf Ablehnung. Erst Anfang der und Silbenzeichen miteinander kombiniert
80er Jahre ist Knorozovs Forschungsansatz (Abb. 28.4). Die gleichen Begriffe, die lo-
erfolgreich weitergeführt worden und hat zu gographisch geschrieben werden können,
entscheidenden Durchbrüchen in der sprach- können ebenfalls durch eine Kombination
lichen Lesung der Mayaschrift geführt (vgl. von Silbenzeichen geschrieben werden. Die
Stuart 1987; Grube & Stuart, 1987; Houston Grundstruktur von Morphemen in den ver-
1989). Parallel dazu gelang Anfang der 60er schrifteten Mayasprachen ist Konsonant-Vo-
Jahre der Nachweis des historischen Charak- kal-Konsonant (CVC). Die meisten Mor-
ters der Mayaschrift (Berlin 1958; Proskou- pheme werden daher syllabisch geschrieben,
riakoff 1960). Seitdem sind die Herrscherdy- in dem man zwei CV-Zeichen miteinander
nastien fast aller Kleinstaaten rekonstruiert kombiniert, wobei der Vokal des zweiten Zei-
worden (vgl. Schele & Freidel 1991). chens ausfällt. Die Wahl des zweiten Zeichens
scheint von Vokalharmonie bestimmt zu sein,
5.4. Struktur der Mayaschrift wenngleich in bestimmten Regionen auch die
Vokale /a/ und /i/ als neutrale Vokale galten,
Mit ihren insgesamt etwa 750 Schriftzeichen die offenbar frei kombinierbar waren. Waren
ist die Mayaschrift vielen anderen logosylla- die zu schreibenden Wörter länger, wurden
bischen Schriftsystemen vergleichbar. Grund- weitere Silbenzeichen angehängt. Silbenzei-
sätzlich gibt es zwei verschiedene Arten von chen werden ebenfalls zur phonetischen Kom-
Schriftzeichen: Logogramme und Silbenzei- plementierung von Logogrammen verwendet
chen. Das Verhältnis von Logogrammen zu und können dem Logogramm vor- oder nach-
Silbenzeichen ist etwa gleich. Silbenzeichen gestellt, in wenigen Fällen auch in dieses in-
haben ohne Ausnahme die Struktur Konso- figiert werden. Logogramme haben — mit
nant — Vokal (CV). Da es in den der Schrift seltenen Ausnahmen — immer genau ein
zugrundeliegenden Sprachen 21 Konsonan- sprachliches Denotat. Die phonetische Kom-
tenphoneme und fünf Vokalphoneme gibt, plementierung diente also nicht der Festle-
gibt es nur 105 mögliche CV-Silbenkombi- gung eines von mehreren alternativen Deno-
nationen. Tatsächlich gibt es aber wohl über taten des Logogramms, sondern bestimmte
dreihundert Silbenzeichen. Dieser Wider- die korrekte Aussprache in einer multilingua-
spruch ist dadurch zu erklären, daß für fast len Situation. Ob im Einzelfall einer logogra-
alle Silben mehr als nur ein Zeichen existiert. phischen Schreibung oder einer silbischen
Etwa 60% der Silbenzeichen können als be- Schreibung der Vorzug gegeben wurde, blieb
reits entziffert gelten. Logogramme sind wahrscheinlich individueller Entscheidung
Wortzeichen. Sie entsprechen in der Regel überlassen.
genau einem Morphem. Auch innerhalb der Die Grenze zwischen Silbenzeichen und
Logogramme gibt es Allographe für das glei- Logogrammen war nicht eng gezogen. Silben-
che Morphem. Die exakte sprachliche Entzif- zeichen konnten für gleichlautende Mor-
ferung von Logogrammen gelingt in der Regel pheme stehen. U mgekehrt konnten Zeichen,
nur, wenn phonetische Komplemente den die mehrheitlich als Logogramme verwendet
Wortlaut andeuten. Logogramme repräsen- werden, syllabisch verwendet werden. Mei-
28.  Mittelamerikanische Schriften 411

Abb. 28.4: Syllabische und logographische Schreibungen in der Mayaschrift. Die Beispiele witz „Berg“, tzak
„beschwören“ und tz’ib „Schrift, schreiben“. Zeichnung des Verfassers
stens handelt es sich dabei um Logogramme im Fall der Logogramme meist der durch sie
mit auslautendem -h oder Glottisverschluß. bezeichneten Objekte. Sowohl bildhafte Zei-
Logogramme haben ein sprachliches Deno- chen als auch abstrakte Zeichen konnten per-
tat, können aber auch Synonyme bezeichnen. sonifiziert werden, indem man sie in die U m-
Das Logogramm für die Zahl „vier“ chan risse eines Kopfes infigierte. U mgekehrt war
kann sowohl chan „Himmel“ als auch chan es möglich, ein pars pro toto des Zeichens zu
„Schlange“ schreiben (Houston 1984). schreiben. Die zahlreichen Variationsmöglich-
Eine — insgesamt noch nicht bekannte — keiten brachten es mit sich, daß das gleiche
Anzahl von Zeichen war polyphon und hatte Wort nicht nur einmal als Logogramm und
zwei Silbenwerte oder denotierte ein Wort und dann als Silbenzeichen, sondern auch stets mit
eine mit dem Wort in keinem erkennbaren allomorphen Silbenzeichen oder als Kopfva-
Zusammenhang stehende Silbe (Fox & Juste- riante geschrieben werden konnte, so daß in
son 1984). Wahrscheinlich gehören alle Ta- einem Text sich wiederholende Begriffe immer
geszeichen zu den polyphonen Zeichen. verschieden auftreten können.
Zeichen können in verschiedenen Formen Silbenzeichen und Logogramme wurden zu
auftreten und künstlerisch verändert werden. Hieroglyphenblöcken zusammengefügt, die
Viele Schriftzeichen, besonders aber Logo- meistens einem „Wort“ entsprechen. Hiero-
gramme sind Bilder konkreter Gegenstände, glyphenblöcke werden in senkrechten Kolum-
412 III. Schriftgeschichte

nen, in der Regel aber in Doppelkolumnen an diese gekoppelt. Gut bekannt sind die prä-
geschrieben. Innerhalb einer Doppelkolumne vokalischen und präkonsonantischen Vari-
werden die Hieroglyphenblöcke von links anten der Ergativpronomina, während bis-
nach rechts, und dann in der nächstunteren lang noch kein Absolutivpronomen sicher
Zeile von links nach rechts gelesen, bis der nachgewiesen wurde.
Leser an das untere Ende der ersten Doppel- Inschriften bestehen gewöhnlich aus meh-
kolumne gelangt ist und in gleicher Weise, reren Sätzen, die in einen präzisen, durch
von oben nach unten mit der zweiten Dop- den Kalender vorgegebenen chronologischen
pelkolumne fortfährt. Rahmen plaziert sind. Längere Texte erwäh-
nen Serien von Kalenderdaten. Die verschie-
5.5. Mayasprachen und ihre Verschriftung denen Daten gehen den Sätzen voran und
markieren deren Beginn. Die Interpretation
Von den 32 heute gesprochenen Mayaspra- des chronologischen Gerüstes eines Textes ist
chen sind nur die Cholsprachen (Chontal, Voraussetzung für die Erforschung der Syn-
Chol, Chorti) und die yukatekischen Spra- tax und der häufig durch Ellipsen und frag-
chen (Mopan, Itzaj, Lakandon und das mentarische Ausdrücke gekennzeichneten
eigentliche yukatekische Maya) an der Ent- Diskursstruktur eines Textes (Lounsbury
stehung der Schrift beteiligt gewesen. Das Ge- 1980).
biet, in dem zur Zeit der spanischen Invasion
Chol- und yukatekische Sprachen gesprochen 5.6. Inhalte
wurden, ist identisch mit dem Gebiet der klas-
sischen Mayakultur und mit dem Gebiet, in Mayainschriften auf öffentlichen Monumen-
dem sich Hieroglyphentexte finden. Zu Be- ten berichten fast ausschließlich von biogra-
ginn der klassischen Zeit waren die betreffen- phiebezogenen und historischen Ereignissen,
den Sprachen noch nicht aufgesplittert. Die sowie von der Einweihung von Objekten und
Aufsplitterung von Cholan in einen östlichen Bauwerken. Die meisten Ereignisse wurden
und einen westlichen Zweig erfolgte wohl im in einen kosmologischen und religiösen Rah-
Übergang von früher zu später Klassik und men eingebettet, die den Herrscher als Zen-
ist verantwortlich für einige, wenn nicht alle trum des Kosmos darstellten. Ereignisse wie
der Veränderungen, die die Schrift in dieser Kriege, die Einweihung von Gebäuden und
Zeit erfuhr (Justeson et al. 1985). Die Chol- Opferzeremonien orientierten sich an wichti-
und yukatekischen Sprachen sind teilergative gen astronomischen Phänomenen. Die Auf-
Sprachen des aspektorientierten Typus und zeichnung biographie- und dynastiebezogener
teilen einen weitestgehend identischen Wort- Daten hat es möglich gemacht, die Geschichte
schatz. Die Rekonstruktion der Sprachgeo- aller großen Herrscherdynastien der klassi-
graphie des Mayagebietes zur klassischen Zeit schen Mayakultur von der frühen bis zur
steckt erst in den Anfängen. Offensichtlich späten Klassik und ihre Beziehungen zuein-
wurde in den südlichen und westlichen Regio- ander zu rekonstruieren. Die Inschriften do-
nen Cholan gesprochen, und in den östlichen kumentieren die territorialen Ansprüche der
und nördlichen Gebieten Yukatekan. Archäo- Kleinstaaten, indem sie von der Einsetzung
logische und linguistische Indizien sprechen von Beamten in abhängigen Städten und Pro-
dafür, daß die Verschriftung von Cholan spä- vinzen berichten. In den letzten Jahren ist es
ter begann als die des Yukatekan. zu einer verstärkten Zusammenarbeit von Ar-
Die Silbenzeichen der Mayaschrift gestat- chäologen und Schriftforschern gekommen,
teten ihr die vollständige Wiedergabe der durch die es möglich wurde, die auf Monu-
Grammatik, vor allem der komplexen Verb- menten festgehaltene offizielle Version der
morphologie. Dennoch ist die Erforschung Geschichte archäologisch zu verifizieren.
der Verbmorphologie bis heute ein dringendes Großangelegte Bauprogramme manifestie-
Desideratum, obgleich wir Aspekte, transitive ren sich in langen Weihinschriften auf Bau-
und intransitive Formen unterscheiden kön- werken. In den Weihinschriften wird nicht nur
nen (Schele 1982; Bricker 1986). Die Syntax von der Fertigstellung und zermoniellen „Be-
der Hieroglyphentexte entspricht der verb- lebung“ von Bauwerken, sondern auch von
initialen Syntax gesprochener Mayasprachen. ihrer Namengebung berichtet, da in der Vor-
Häufig kommen stative Konstruktionen ohne stellung der Maya Bauwerke ebenso wie an-
eigentliches Verb vor. Hilfsverben und Mo- dere kostbare Objekte und Schmuckstücke
dalverben sind bekannt; sie gehen unflektier- beseelt waren. Sowohl auf Steinmonumenten
ten Verben voran und sind mit Präpositionen wie auch auf Keramiken haben Künstler ihre
Signaturen hinterlassen, eine Tatsache, die es
28.  Mittelamerikanische Schriften 413

uns heute ermöglicht, die soziale Dimension Postklassik verlor die Schrift ihren höfischen
des Schreibens zu erforschen. Charakter und wurde nicht mehr auf öffent-
Religiöse Texte kommen sowohl in der lichen Monumenten verwendet. Die spanische
klassischen Zeit wie in der Postklassik vor. Missionierung zerstörte die religiösen Grund-
Die religiösen Texte der Postklassik sind uns lagen für die Schriftverwendung. Im Rahmen
in den Handschriften erhalten. Sie sind zum zeitgenössischer indianischer Revitalisierung
großen Teil augurischer Natur und verbinden erfährt die Mayaschrift unter Maya-Intellek-
Prophezeiungen mit verschiedenen Kalender- tuellen Guatemalas eine gewisse, von Hiero-
zyklen. Die besterhaltene Handschrift, der glyphenforschern unterstützte Renaissance
Dresdner Mayacodex enthält verschiedene und wird als Zierschrift in modernen maya-
astronomische Kapitel über die Venus und zur sprachigen Medien eingesetzt.
Vorhersage der Knotenpunkte, an denen Fin-
sternisse stattfinden konnten (→ Abb. 28.5
auf Tafel X). 6. Die aztekische Hieroglyphenschrift
Hieroglyphentexte auf Keramiken sind Obgleich die Schrift, die in vorspanischer Zeit
häufig narrativ und begleiten gemalte Szenen, im Hochtal von Mexiko entstand, von An-
die sowohl religiöser, in vielen Fällen aber gehörigen verschiedener ethnischer Gruppen
auch weltlicher Art sind. Auf Keramiken fin- und politischer Einheiten verwendet wurde,
den sich deshalb Sprechtexte, in denen gram- ist sie doch unter der Bezeichnung „Azteki-
matische Formen wie etwa der Imperativ, sche Schrift“ bekannt. Die aztekische Schrift
oder Pronomina, wie etwa die erste Pers. Sin- ist heute gut erforscht, vor allem deshalb, weil
gular vorkommen, die sich auf anderen Me- es zahlreiche aztekische Dokumente aus der
dien nicht finden. frühen Kolonialzeit gibt, die mit lateinschrift-
Neben den genannten Inhalten muß es
auch Tributlisten, Familiengeschichten, An- lichen Übersetzungen und Glossen versehen
weisungen für Rituale und medizinische Bü- sind (Dibble 1971; Prem 1992). Aztekische
cher gegeben haben. Texte dieser Art waren Schriftdokumente sind uns vor allem aus der
wahrscheinlich in Büchern geschrieben, von frühen Kolonialzeit in Form von Handschrif-
denen sich bis auf die vier zuvor erwähnten ten erhalten, die zum Teil als Abschriften vor-
keines erhalten hat. aztekischer Quellen entstanden. Neben Tri-
butlisten, in denen die Namen der tribut-
pflichtigen Ortschaften hieroglyphisch ge-
5.7. Soziale Aspekte der Verwendung der schrieben sind, begegnet uns aztekische
Mayaschrift Schrift in religiös-ritualistischen Handschrif-
Im Gegensatz zu den Schriften des alten Ori- ten und schließlich in vorspanischer Zeit auch
ents ist die Mayaschrift nicht aus einer öko- auf Steinmonumenten. In der Kolonialzeit
nomischen Notwendigkeit entstanden, son- wurde die aztekische Schrift auch zur Schrei-
dern als Instrument zur religiösen Sanktio- bung spanischer Wörter und Namen verwen-
nierung von Herrschaft. Ihr Anwendungsbe- det.
reich hat sich in der Klassik auf alle Bereiche Der relativ begrenzte Anwendungsbereich
des höfischen, politischen und religiösen Le- der aztekischen Schrift reflektiert die offen-
bens ausgeweitet. Literalität war nach gegen- sichtlichen Begrenzungen des Systems, das
wärtigen Kenntnissen auf den — allerdings komplexe Sachverhalte und abstrakte Ideen
sehr zahlreichen — Adel beschränkt und Be- nicht auszudrücken vermochte. So blieb die
standteil der Ausbildung junger Fürsten. aztekische Schrift vor allem auf die Schilde-
Schreiber waren häufig nahe Familienange- rung historischer Abläufe, religiöser Zere-
hörige des Herrschers. Dennoch konnten monien und die Schreibung von Personen-
wohl auch Angehörige sozial niedriger Grup- namen, Toponymen und Ethnonymen be-
pen Informationen aus den Inschriften ent- schränkt.
nehmen. Dies mag einer der Gründe dafür Die aztekische Schrift kannte zwei unter-
gewesen sein, daß die Schrift stets ihren aus- schiedliche und unabhängig voneinander exi-
geprägt ikonischen Charakter bewahrte und stierende Subsysteme: narrative Piktographie
nie den Schritt zu einer reinen Silbenschrift (Prem 1992, 53) und die eigentliche Hierogly-
machte. Ein anderer Grund für die „Konser- phenschrift. Während die Zeichen der Hiero-
vativität“ des Systems war der heilige Cha- glyphenschrift Elemente aus dem Sprachcode
rakter der Schrift, der eine besondere Kunst- denotieren und so eine Aussage in zwei Codes
fertigkeit verlangte. Mit der Veränderung der notieren, läßt die narrative Piktographie den
sozialen Struktur der Mayagesellschaft in der Sprachcode aus und denotiert die Aussage
414 III. Schriftgeschichte

direkt, in dem sie das Gemeinte mit Hilfe eines als andere Zeichen. Zu den am häufigsten
stark konventionalisierten graphischen Codes verwendeten Logogrammen gehören die
abbildet. Narrative Piktographie kann also kalendarischen Zeichen, die die Namen der
von jedem „gelesen“ werden, der den graphi- zwanzig Tage des mesoamerikanischen Ri-
schen Code und die metaphorischen und sym- tualkalenders bezeichnen, oder etwa das Zei-
bolischen Beziehungen zwischen Zeichen und chen xiuhmolpilli für das Jahr zu 365 Tagen.
Denotat verstand. Der Vorteil dieses Systems In der Regel war aber eine solche ein-eindeu-
ist, daß es die Kenntnis des Nahuatl, der tige Zuordnung von Zeichen zu sprachlichem
aztekischen Sprache, nicht notwendig voraus- Denotat nicht gegeben, entweder weil das Zei-
setzt. In dem multilingualen U mfeld, in dem chen unterschiedlich interpretiert werden
die aztekische Schrift verwendet wurde, war konnte, oder weil es Synonyme für das Be-
die Sprachunabhängigkeit ein wesentlicher zeichnete gab. Ein weiteres Problem ergab
Vorteil der narrativen Piktographie. In dieser sich bei der — relativ seltenen — Schreibung
Form des Schreibens wurde nicht der Sprach- von Verben. Sie konnten am besten geschrie-
code abgebildet, sondern der Inhalt einer ben werden, indem man den Menschen oder
Aussage. Es versteht sich von selbst, daß eine das Tier bei der Verrichtung der gemeinten
detailgetreue Abbildung der Aussage nicht in Handlung zeichnete. Nun konnte aber das so
Frage kam. Aus Gründen der Schreiböko- geschriebene Zeichen auch für das Objekt sel-
nomie, aber auch um die Identifikation be- ber stehen. Ein anderes Problem stellt sich bei
stimmter Objekte oder Eigenschaften zu er- der Schreibung von Begriffen, die nicht als
leichtern, bediente man sich eines weitgehend Objekt abgebildet werden können wie etwa
standardisierten graphischen Codes, in dem Eigenschaften oder Adjektive. Man half sich,
die darzustellenden Objekte auf ihre wesent- indem man ein Objekt zeichnete, daß diese
lichen U mrisse oder sogar auf ein pars pro Eigenschaft in besonderem Maße hatte oder
toto reduziert wurden. Darüber hinaus stan- verkörperte. Auch hier ergab sich aber wieder
dardisierte man die Darstellung von Objek- das Problem daß das so entstandene Zeichen
ten, um individuelle Variationen zu vermei- auch für das Objekt selbst stehen konnte.
den. So entwickelten sich einfache und un- Die zahlreichen Ambiguitäten der ideogra-
zweideutige Zeichen für die am meisten wie- phischen Schreibungen wurden durch ergän-
derholten Objekte. zende phonetische Schreibungen reduziert.
Es ist ganz offensichtlich, daß die narrative Als phonetische Schreibungen werden alle
Piktographie große Defekte hat und abstrakte Schreibungen bezeichnet, bei der der Sprach-
Ideen und Zusammenhänge nur in sehr engem code zwischen Denotat und Zeichen geschal-
Rahmen darstellen kann. Darüber hinaus ist tet wird. Phonetische Zeichen bezeichneten
sie nicht in der Lage, Namen von Personen ihr Denotat in der aztekischen Schrift ent-
und Orten exakt wiederzugeben. Aus diesem weder durch Konvention oder durch Homo-
Grund verwendete man immer dann, wenn nymie. Vollständige Homonyme sind sehr sel-
die korrekte Wiedergabe von Elementen des ten im Nahuatl. So konnte man sich auch
Sprachcodes notwendig war, die Hierogly- approximativer Homonymie bedienen: der
phenschrift. Die Hieroglyphenschrift war kein Kopf eines Adlers cuauhtli konnte für
einheitliches System. Sie kombinierte ideogra- „Baum“ cuahuitl stehen. Rein phonetische
phische Schreibungen mit phonetischen Schreibungen, bei denen ein Wort mit Hilfe
Schreibungen. In ideographischen Schreibun- zweier Zeichen geschrieben wird, die keine
gen wird wiederum der Sprachcode ausge- Beziehung zur Bedeutung des Wortes haben,
schaltet und der Aussageinhalt unmittelbar sind in der aztekischen Schrift extrem selten
bildlich verschlüsselt. In dieser Hinsicht sind und scheinen überhaupt erst nach der spani-
ideographische Schreibungen nicht von nar- schen Eroberung aufzutreten. Häufig wurden
rativer Piktographie zu unterscheiden. In phonetische Schreibungen zur phonetischen
ideographischen Schreibungen ist jedoch der Komplementierung von Logogrammen oder
Grad an Ambiguität weitaus geringer als in Ideogrammen angewendet. Die phonetisch
narrativer Piktographie. Ein Zeichen wird verwendeten Zeichen reduplizieren den ge-
idealerweise vom Leser im gleichen Wortlaut samten oder auch nur einen Teil des ideogra-
interpretiert wie vom Schreiber. Wenn ein Zei- phisch oder logographisch geschriebenen
chen eindeutig einem Wort zugeordnet wer- Wortes. Auch grammatische Suffixe wie etwa
den kann, handelt es sich um ein Logogramm. bestimmte Ortssuffixe konnten unter Anwen-
Logogramme zeigen in der Regel einen grö- dung des phonetischen Prinzips geschrieben
ßeren Grad an graphischer Standardisierung werden. Ein Beispiel dafür ist das Suffix -tlan,
28.  Mittelamerikanische Schriften 415

das mittels einer Zeichnung zweier Zähne der Mayaschrift von der Protoklassik bis zur Spa-
( tlantli ) geschrieben wird. nischen Eroberung. Berlin.
Neben der ideographischen und phoneti- — & Stuart, David. 1987. Observations on T110
schen Verwendung von Zeichen konnten Zei- as the Syllable ko. Washington, D. C.
chen auch als Determinative, die nicht mit- Hansen, Richard. 1991. A Preclassic Maya Text
gelesen wurden, sondern lediglich zusätzliche from El Mirador. Washington, D. C.
Information vermitteln, verwendet werden. Houston, Stephen D. 1984. An Example of Ho-
Zu den wesentlichen Aufgaben von Deter- mophony in Maya Script. American Antiquity
minativen gehört die Identifizierung der Ka- 49(4), 790—805.
tegorie einer Hieroglyphe als Toponym oder
—. 1989. Maya Glyphs. London.
Personenname. Toponyme werden oft durch
die Zeichnung eines Berges markiert; eroberte Justeson, John S., Norman, William, Campbell,
Ortschaften sind an einem brennenden Tem- Lyle & Kaufman, Terrence. 1985. The Foreign Im-
pel zu erkennen. pact on Lowland Mayan Language and Script.
Der geringe Grad der Phonetisierung der New Orleans.
aztekischen Schrift, die Tatsache, daß es kei- Justeson, John S. & Kaufman, Terrence. 1993. A
nen fest umrissenen Zeichenkanon gab, daß Decipherment of Epi-Olmec Hieroglyphic Writing.
die Leserichtung nicht immer eindeutig war Science 259, 1703—1711.
und daß Zeichen von verschiedenen Lesern Knorozov, Yurii. 1958. The Problem of the Study
unterschiedlich interpretiert werden konnten of Maya Hieroglyphic Writing. American Anti-
machten die aztekische Schrift zu einem de- quity 23, 284—291.
fekten und wenig eindeutigen Schriftsystem. Lounsbury, Floyd. 1980. Some Problems in the
Seine Vorteile, nämlich seine Flexibilität und Interpretation of the Mythological Portion of the
— für einen Sprecher des Nahuatl — relativ Hieroglyphic Text of the Temple of the Cross at
einfache Erlernbarkeit konnten die offen- Palenque. In: Robertson, Merle (ed.), Third Palen-
sichtlichen Nachteile gegenüber der von spa- que Round Table, 1978, Part 2. Austin, 99—115.
nischen Mönchen eingeführten lateinischen Marcus, Joyce. 1976. The Origins of Mesoamerican
Schrift nicht aufwiegen. Dennoch existierten Writing. Annual Review of Anthropology 5,
für viele Jahrzehnte beide Systeme nebenein- 35—67.
ander. Prem, Hanns J. 1992. Aztec Writing. In: Bricker,
Victoria R. (ed.). Supplement to the Handbook of
Middle American Indians, Volume Five: Epigra-
7. Literatur phy. Austin, 53—69.
Berlin, Heinrich. 1958. El glifo „emblema“ en las Proskouriakoff, Tatiana. 1960. Historical Implica-
inscripciones mayas. Journal de la Société des tions of a Pattern of Dates at Piedras Negras,
Américanistes [n. s.] 47, 111—119. Guatemala. American Antiquity 25, 454—475.
Bricker, Victoria R. 1986. A Grammar of Mayan Schele, Linda. 1982. Maya Glyphs — The Verbs.
Hieroglyphs. New Orleans. Austin.
Coe, Michael D. 1992. Breaking the Maya Code. — & Freidel, David. 1991. Die unbekannte Welt
London. der Maya — Das Geheimnis ihrer Kultur entschlüs-
Dibble, Charles E. 1971. Writing in Central selt. München.
Mexico. In: Wauchope, Robert, Ekholm, Gordon Stuart, David. 1987. Ten Phonetic Syllables. Wash-
F. & Bernal, Ignacio (ed.). Handbook of Middle ington, D. C.
American Indians 10. Austin, 322—323. Thompson, John Eric S. 1950. Maya Hieroglyphic
Fox, James & Justeson, John. 1984. Polyvalence in Writing: An Introduction. Washington, D. C.
Mayan Hieroglyphic Writing. In: Justeson, John S. Whittaker, Gordon. 1992. The Zapotec Writing
& Campbell, Lyle (ed.). Phoneticism in Mayan System. In: Bricker, Victoria R. (ed.). Supplement
Hieroglyphic Writing. Albany, 17—76. to the Handbook of Middle American Indians,
Grube, Nikolai. 1990. Die Entwicklung der Maya- Volume Five: Epigraphy. Austin, 5—19.
schrift — Grundlagen zur Erforschung des Wandels
Nikolai Grube, Bonn (Deutschland)
416 III. Schriftgeschichte

29. Decipherment

1. Decipherment of writing and interpretation category can be understood only after signif-
of languages icant links to a known writing system or a
2. Methods of decipherment known language are discovered. In most suc-
3. Decipherment of ancient writing systems cessful decipherments a connection to a lan-
4. Attempts to decipher the scripts of pre-Co- guage — often a distant one — was estab-
lumbian America lished, and thus the procedure shifted to the
5. Other deciphering attempts first category.
6. Scripts not yet deciphered
7. References 2.2.  If writing is characterized as the graphical
expression of units of a language, then these
units have first to be determined. This task
1. Decipherment of writing was difficult for writings in which more than
and interpretation of languages one category of units was indicated by graph-
Among writing systems presented in this sec- ical units — graphemes. Such inconsistencies,
tion on the history of writing, several were however, have been helpful in some decipher-
no longer used or studied for various reasons ments.
and were forgotten. The meaning of their In some old writing systems words were
graphical signs was not rediscovered until af- expressed by graphical signs indicating real
ter a long period of time. And in many in- objects or actions or at least suggesting them.
stances languages which were fixed in these Such signs could be understood without
writing systems also became extinct. knowing the sounds of words, and thus trans-
In the following short survey of decipher- ferred with the writing system to be used in
ment, attention will be devoted solely to the texts in another language; the sign indicated
rediscovery of the writings; reconstruction of the meaning, not the sound.
extinct languages is taken into consideration The actual pronunciation of word signs —
only as far as it is relevant for the study of logograms — could also be used to indicate
writing systems. the same sounds without respect to the orig-
This distinction between decipherment and inal meaning. This phonetization led to de-
interpretation of language was already velopment of basically syllabic systems with
known, as Maurice Pope points out, to the different types of syllables. U sing C for “con-
author of the biblical Book of Daniel (5, 8). sonant” and V for “vowel”, these syllable
The quasi-graphical systems in which pic- types can be indicated as CV, VC, CVC, V,
tures and symbolic signs convey a message and even CVCV has been verified.
without respect to a specific language will not Such a predominantly syllabic system is
be dealt with here. The indication of numbers represented in the cuneiform script of Sume-
by certain quantities of dots and strokes and rian origin which was then adopted for other,
modern systems of traffic signs serve as ex- non-related languages. Such a mixed system
amples of such systems. is different from exclusively syllabic systems,
in which only syllables of the CV type are
represented; the V signs have to be interpreted
2. Methods of decipherment as ∅V, zero consonant + vowel.
Another development of word scripts led
2.1.  Various categories of texts no longer un- to the introduction of phonetic signs indicat-
derstandable were classified as follows by I. ing consonants and their groupings, with no
J. Gelb: (1) the writing is unknown and the vowels. This system was appropriate for an-
language is known; (2) the writing is known cient Egyptian script, since consonants were
and the language unknown; (3) both language sufficient to indicate the meaning of words.
and writing are unknown. In alphabetic writing systems one graphical
The second category concerns the interpre- sign, letter, indicates one sound unit, pho-
tation of the language. Etruscan can be cited neme. For most Semitic alphabets the con-
as an example; it is written in the ancient sonant letters suffice, as the structure of
Greek alphabet with only few variations, but words is based on consonants.
the structure of the language in which 8,000
texts have been preserved has not yet been 2.3.  The character of writing determines the
sufficiently established. The texts of the third number of graphemes. In systems with quan-
29.  Decipherment 417

titative prevalence of logograms, hundreds of already known. For study of large amounts
graphemes have been attested. A consistent of data computers have recently come into
syllabic script needs less than one hundred use. They are helpful in providing reliable
signs; and alphabetic systems manage with information about the frequency of signs and
thirty or even less letters. These quantitative their combinations.
considerations are decisive for the aproach to In the attempts to reconstruct phonological
the decipherment. The existence of scripts us- features of a language represented by an un-
ing various language units as grapheme bases known script, graphical characters indicating
can make the correct determination of graph- the word category or similar information de-
eme values difficult, especially if — as is often serve special treatment. Because of their rel-
the case with cuneiform scripts — a grapheme ative frequency these determinatives can help
can have more than one value. in ascertaining semantic meanings of words.
Some similarities in graphical forms or in
2.4.  Deciphering attempts have only been suc- tentatively determined sign values can lead to
cessful if the corpus of written material was establishing significant relationships between
large enough. Considerable help in decipher- them. For syllabic signs their arrangement in
ment or in confirmation of its correctness has grids can provide considerable help in deter-
been provided by texts in one language and mining their phonological character.
two scripts (bi-scripts), and texts of identical
content in two languages (bi-linguals). Even 2.6.  The role of chance is not to be underes-
texts in more than two languages are known. timated as concerns both the methods of de-
Names which were known from other ancient cipherment and the access to the texts to be
texts or from copies of texts passed down deciphered.
from antiquity have also aided deciphering After successful or partial decipherment
attempts significantly. Especially the names based on texts in the unknown script, bi-
of rulers, which were sometimes emphasized linguals can sometimes be found which can
by graphical arrangements, have proven use- serve to verify or refute the results. Also al-
ful. phabet tablets, comparisons of two scripts
and vocabularies containing words in two or
2.5.  Some methodical approaches which have more languages can serve this purpose.
proven successful can be mentioned. But it is An access of competent decipherers to the
necessary to point out that in some instances newly found texts i s dependent on the publi-
rational methods led to dead ends while in- cation of excavation results or the willingness
tuition or application of less strict methods of responsible archaeologists to allow the pro-
opened the way to correct decipherments. spective decipherer to study the new finds. A
Some methods used in decipherment of for- prompt publication of new texts can lead to
gotten writing systems are similar to those their prompt decipherment; concealment of
with which decipherers try to disclose the important finds can delay decipherment for
meaning of a message intentionally made se- decades.
cret by some means of cryptography. Expe-
rienced cryptographers have participated in
effective decipherments of ancient scripts. The 3. Decipherment of
selection and application of methods also de- ancient writing systems
pends on the graphical arrangement of texts.
If signs follow each other directly, the task is 3.1.  It would be interesting to trace the grow-
more difficult than the analysis of texts in ing interest in ancient scripts during the Ren-
which units, mostly words, are separated by aissance, through the first successful deci-
spaces or some dividing signs. pherment attempts in the 18th century, to the
The repetition of sign combinations may period of great descoveries — the 19th cen-
provide considerable help; they may point to tury — and to decipherments of the 20th
important words, and if they appear at the century. Here the inventory of scripts and
end or the beginning of word units separated languages preserved by transmission in writ-
by graphical means, they may express gram- ing and reading since antiquity is worth men-
matical patterns, afformatives or prefixes. tioning, since this knowledge was instrumen-
In some stages of decipherment the relative tal for the successful decipherments. The Jew-
frequency of signs can lead to comparison of ish community cultivated Hebrew as well as
the phonological system to that of a language Western and Eastern Aramaic, the Syriac
418 III. Schriftgeschichte

churches their Eastern Aramaic language, the 3.4. Cuneiform writing


Coptic church the last stage of Ancient Egyp-
tian, the Ethiopic church their local Southern While the Egyptian script in its three graph-
Semitic language. All these languages were ical variants was used for one language only,
written in alphabetic scripts. The Greek lan- the cuneiform writing served various, mutu-
guage and alphabet were well-known. ally unrelated languages. The cuneiform word
In presenting some decipherments, a selec- signs developed from pictorial signs. Sume-
tive approach is required due to the space rians in Lower Mesopotamia also used these
restraint. Those scripts whose decipherment cuneiform signs for sound units, mostly syl-
opened access to cultures previously known lables. This system was adopted for East Se-
only from late and not always reliable reports mitic languages, Old Akkadian and then
deserve more attention. Therefore, the ancient Babylonian and Assyrian. It was also used
Egyptian scripts and the cuneiform writings for Elamite, Hurrian and U rartaean, and
of Mesopotamia and adjacent areas will be Indo-European Hittite. For Indo-European
dealt with primarily. Two diametrically op- Old Persian the system was considerably sim-
posed deciphering methods will be demon- plified (→ art. 18).
strated in Sec. 3.7. on the basis of two ancient The decipherment began with this Old Per-
scripts from the Eastern Mediterranean: the sian cuneiform script. Georg Friedrich Gro-
U garitic alphabet and Cretan Linear B syl- tefend (1775—1853), high-school teacher in
labary. Göttingen, succeeded — with help of histor-
ical data from Herodotus — in identifying
names and titles of Persian kings in the first
3.2.  The first successful decipherment was version of trilingual royal inscriptions. In
presented in 1754 by Jean-Jacques Barthé- 1802 he did not yet have access to other
lemy (1716—1795). With help of the Syriac ancient Persian texts, which Henry Rawlinson
alphabet and Greek words in bi-lingual in- later used (1810—1895) to complete the de-
scriptions he established the alphabet used in cipherment of this system of 39 graphemes
the oasis of Palmyra in the Syrian Desert for for consonants and syllables.
the local Aramaic dialect. A few years later Trilingual royal Persian inscriptions of Per-
Barthélemy succeeded in reading the Phoe- sepolis and other sites also provided clues to
nician inscriptions, the script and language of the decipherment of the Babylonian cunei-
which is similar to Hebrew. form script. Comparison of names of kings
in Old Persian and the other yet to be defined
3.3. Ancient Egyptian scripts version written in signs corresponding to
Determination of the nature of the Egyptian those on inscriptions found in Mesopotamia
hieroglyphic script was hampered by its pic- led to discovery of syllabic values of some
torial appearance: it was assumed that — signs. Further progress was impeded by the
similar to Chinese script — each sign indi- polyvalence of some syllabic signs and by use
cated one word. A stone inscribed in 196 B. C. of some signs for words, i. e., logograms.
in Egyptian hieroglyphs and Demotic script Eventually the Semitic character of the lan-
and in Greek was found in Rosetta in the guage was recognized and related languages,
Nile Delta by a French army officier in 1799. Hebrew and Arabic, were effectively used to
Jean-François Champollion (1790—1832), determine word meanings. The results of
who studied Coptic and collected reproduc- these decipherments were confirmed in 1857,
tions of Egyptian inscriptions, compared the when in London four leading decipherers
Greek Rosetta text with the Egyptian version. translated a recently discovered text in the
He identified names of Egyptian kings also same way. Many thousands of Babylonian
known from Greek sources. He was also able and Assyrian cuneiform documents and re-
to identify the correct nature of the Egyptian cords as well as long literary works could be
scripts: Word signs and signs indicating con- interpreted.
sonants and their combinations were supple- This opened access to texts in other lan-
mented by determinatives indicating the se- guages written in basically syllabic cuneiform
mantic categories of some words. Champol- writing. The use of logograms (word signs)
lion was then able to translate hieroglyphic both to express words within the texts and as
inscriptions, hieratic papyri and also the epic determinatives indicating character of words
poem on the victory of Ramses II at Kadesh. has proven helpful in interpreting these lan-
guages. Here, only some aspects relevant from
29.  Decipherment 419

the viewpoint of writing characteristics will middle of the first millenium B. C. found on
be mentioned. the island of Cyprus. Again, the parallel Phoe-
U nderstanding texts in the Sumerian lan- nician text provided the clue. George Smith
guage originating mostly from the 3rd and (1840—1876) of the British Museum deter-
2nd millenia B. C. was difficult because of the mined the syllabic character and Greek lan-
preconceived notion that the religious texts guage of these inscriptions. Moriz Schmidt
which were later copied were cryptographic. (1823—1888), a classical scholar in Jena,
It took several decades to establish the struc- found in 1874 that only syllables of types CV
tures of the Sumerian language since it was and V were used. This system of approx. 30
not related to any known language. The word signs does not express Greek sounds as pre-
signs adopted from it by writing systems in cisely as the Greek alphabet.
other languages facilitated decipherment con-
siderably. It was also possible to determine 3.7. Deciphering of the Ugaritic alphabet
logographic and phonetic values of pictorial and of Cretan Linear B
signs from which the cuneiform signs devel-
oped. Two relatively recent, well-documented deci-
The clue to the interpretation of Hittite pherments are presented here together to il-
was also provided by a logogram. In 1915 lustrate both similarities and significantly dif-
Czech scholar Bedřich Hrozný (1879—1952) ferent methods applied.
found that the sign for “bread” appears par- The U garitic cuneiform alphabet and Cre-
allel to the sequence wa-a-tar-ma, which re- tan Linear script B were used on opposite
minded him of some Indo-European words sides of the eastern Mediterranean, before
for “water”; he related the word following their respective civilizations were destroyed
the sign for “bread”, e-iz-za-te-ni, to Indo- by upheavals at the end of Bronze Age around
European verbs for “eating”. An Indo-Eur- 1200 B. C. Both these writings were then com-
opean language was prevalent in the middle pletely forgotten. First clay tablets with Cre-
of the second millenium B. C. in central Ana- tan Linear B signs were excavated at Knossos
tolia. by Arthur Evans (1851—1941) on 5 April
1900. The first clay tablet with cuneiform
3.5. Hittite “hieroglyphs” simple was found at Ras Shamra in northern
Syria on the Mediterranean shore between
After the Hittite Empire was destroyed in the the city of Lattaquié and Mount Ǧebel el-
12th century B. C., small Hittite states sur- Aqra‛, at the excavation conducted by Claude
vived for several centuries in southeast Ana- F.-A. Schaeffer (1898—1982), on 14 May
tolia and adjacent areas of Syria. A writing 1929.
system with rather pictorial signs, already The background of these two scripts was
used in the final period of the Hittite Empire, quite different. The Cretan Linear B repre-
survived as well. This Hittite hieroglyphic sented the final stage of development; a pic-
writing — so called for its similarity to the tographic script was used in Crete during the
oldest Egyptian script — was already known first half of the second millenium B. C. and
at the end of the 19th century. Even though later the Linear script A which, because of
names written both in Hittite cuneiform script the similarity of graphical shapes of some
and in the hieroglyphic signs were known, as signs, can be considered a direct predecessor
well as the Hittite language itself, attempts to of Linear B. The U garitic cuneiform alphabet
decipher the hieroglyphs using various deci- is a systematic new creation: only the simplest
phering methods were only partially fruitful. combinations of wedges appearing as ele-
Most successful was Ignace J. Gelb (1907— ments in the syllabic cuneiform writing were
1985). The complete decipherment was based introduced. In the three last letters of the
on parallel texts from the 8th century B. C., alphabet, allegedly added by Eisirios, more
in Hittite hieroglyphs and the Phoenician al- complicated or even imitative forms were
phabet, found in 1947 in the ruins of the used.
ancient fortress on the hill Karatepe, north- Substantial differences in acquiring access
east of Adana in Turkey. It was published by to the epigraphic finds affected the procedures
Helmuth Bossert (1889—1961). of these two decipherments. Schaeffer’s prin-
ciple was to make the texts found at Ras
3.6. Cypriote syllabary Shamra accessible without delay; in 1929, the
same year as they were excavated, all 51 texts
Since the middle of the 19th century scholars were published by Charles Virolleaud (1879—
have been attracted to inscriptions from the 1968). Evans already published a few Linear
420 III. Schriftgeschichte

B texts in 1900, and 120 more in 1909, but sequence according to their consonants and
the bulk of his finds appeared only after his in horizontal lines according to their vowels.
death, in 1952. Three acknowledged scholars The separation of words by vertical lines
worked simultaneously on the decipherment made it possible to put together the syllable
of Ras Shamra texts; they supplemented and values obtained by the combinatoric method.
in some instances corrected each others’ One of the results was ko-no-so, the place
work. name “Knossos”. Simple words could also be
Hans Bauer (1878—1937) in Halle und determined, such as ko-wo and ko-wa, for
Paul (Édouard) Dhorme (1881—1966) in Je- “boy” and “girl”, respectively, as was already
rusalem agreed with Virolleaud about the al- suggested by A. E. Cowley in 1927. These
phabetic character of the newly found script words correspond to the Greek koros and
with about 30 cuneiform signs. They consid- kora; cf. the original Arcadian form korra.
ered the language to be related to Phoenician Recognition of Greek words was difficult. It
and Hebrew. Some texts from 1929 are still still is in the case of exclusive use of CV signs;
relatively difficult to understand, as they were final consonants of the closed syllables and
badly preserved. The one-letter word on the some other word elements are not indicated.
first line of a text was rightly interpreted by Close cooperation between Ventris and clas-
Virolleaud as l- “to”. Other West Semitic sical philologist John Chadwick brought iden-
words containing this letter were then sought tification of additional Greek words.
by decipherers. The rather intuitive approach Confirmation of a decipherment can be
of Dhorme brought, in some respects, better reached in principle by two means: First, if
results than the more methodical procedures texts in this deciphered writing system make
of Bauer, who tried to determine grammatical sense and second, if newly acquired evidence
markers. can be interpreted according to the results of
Since it was found that the number of the decipherment.
consonants was higher than 22, as in the A great number of U garitic poetic texts
Hebrew alphabet, data from a conservative and their similarities with Hebrew biblical
West Semitic language — Classical Arabic — poetry provided this kind of verification. Of
was used to identify the values of interdentals methodical interest are some examples of the
and postvelars as well as meanings of words. second kind of confirmation. In 1932 Bedřich
Similarly, the unconventional features of the Hrozný recognized names of Hurrian gods
30-letter U garitic alphabet, namely, three syl- and grammatical features in a Hurrian text
labic signs at the end, i /’i/, u /’u/ and  /su/, written in U garitic cuneiform letters. Tablets
and the limitation of the first letter to a /’a/, with 30 signs in alphabetical order very sim-
were explained with reference to related Se- ilar to that of the Hebrew alphabet have been
mitic languages. The relevant results which found at Ras Shamra since 1938. One of them
were achieved in three years enabled Virol- found in 1955 has U garitic letters accompa-
leaud to provide reliable translations of poetic nied by syllabic cuneiform signs containing
texts found since 1930. Also the ancient name the same consonants.
of the city ugrt, according to the syllabic Verification of the decipherment of Cretan
records pronounced as /’ugarīt-/, could be Linear B script was not so clear-cut. The
determined (→ art. 20). available texts are all only random records;
While the decipherment of the U garitic al- no connected or even literary texts are known.
phabet was supported from the very begin- Confirmation was provided, however, by a
ning by related languages, it was not clear tablet excavated by C. W. Biegen at Pylos on
which language was represented by the Linear the Peloponnesus in 1952. Two tripods de-
B texts. Evans himself in 1935, and American picted in the list are characterized as ti-ri-po-
classical scholar and linguist Alice Kober de, corresponding to the dual form tripode in
(1906—1950) in 1943—1950 recognized some Classical Greek.
patterns of inflection. She also found some The contribution of these two decipher-
relationships between syllabic signs express- ments cannot be overestimated. That of the
ing the same consonant and different vowels. U garitic cuneiform alphabet provided access
This approach was effectively applied by Mi- to great epic poems in an ancient Canaanite
chael Ventris (1922—1956), an English archi- language; this decipherment contribute to
tect with experience in cryptograhy. In 1951 better understanding of the forms and style
and 1952 Ventris put together syllabic grids of Hebrew Biblical poetry. The understanding
in which CV signs were presented in vertical of Linear B texts extends the knowledge of
29.  Decipherment 421

the Greek language many centuries back. were used for astronomical and religious
Greeks were already living on Crete in the texts.
Bronze Age. Among the scrolls discovered in 1950s in
the Qumran caves at the Dead Sea (→ Fig.
3.8. Decipherments of other ancient scripts 36.1 on table V), where they were deposited
before 68 A. D., are several exhibiting cryptic
Other decipherments of ancient scripts from scripts. In Hebrew texts some Greek letters
the countries around the Mediterranean can were used, together with archaic Hebrew let-
be presented only briefly, with few data. ters. Some secret instructions were indicated
The Meroitic alphabet of 23 letters used in Greek letters in the Copper Scroll (3Q15),
south of Egypt in the first centuries of the containing locations of hidden treasures.
Christian era is attested in two graphical ver- Specific cryptic alphabets were used in
sions, corresponding to Egyptian hiero- some Hebrew texts; some cryptic letters are
glyphic and Demotic scripts. Its system ap- similar to archaic Hebrew letters. A fragmen-
parently follows the Greek model. It was de- tary astronomical text on phases of the moon
ciphered at the beginning of the 20th century (4Q317) was deciphered and partially pub-
by the British Egyptologist Francis Griffith. lished by Józef Tadeusz Milik in 1976. Mi-
U sing Old Persian and Babylonian ver- chael Wise deciphered and published in 1992
sions of trilingual inscriptions of kings of a religious text, “Admonitions to the Sons of
Persia, it was possible to interpret the third Dawn” (4Q298).
version, written in Elamite, a language unre-
lated to any known language. 3.10. Scripts of Central and Southern Asia
The Proto-Elamite script used in Susa (now
in southern Iran) in the second half of the Alphabetic scripts of Central and Southern
second millenium B. C. was deciphered by Asia developed from the Aramaic models.
Walther Hinz in 1961; it is a syllabic script Some of them were forgotten and had to be
with some logograms. deciphered by modern scholars. The Danish
The alphabetic scripts used in southern scholar Wilhelm Thomsen (1842—1927) de-
Arabia in the Pre-Islamic times could be un- ciphered the script used by Turks in Mongolia
derstood with help of the Ethiopic alphabet, and Siberia before they adopted Islam. The
which developed from this ancient script. oldest stages of the Indian alphabetic scripts
They were deciphered by Emil Rödiger in such as Brahmi were deciphered by British
1837 and by Wilhelm Gesenius in 1841. scholars, James Prinsep (1799—1840) and
Phoenician alphabet probably served as others.
model for alphabetic writing systems used C. O. Blagden deciphered the alphabet
mostly in the 2nd century B. C. in the western used by the Mon people in Burma/Myanmar
Mediterranean. Libyan or Numidian, written in the first half of the 2nd millennium A. D.
in North Africa in an ancient Berber dialect,
was deciphered with help of Punic and Latin
parallel texts. Iberian and Turdetanian (in the 4. Attempts to decipher the scripts of
city of Tartessus) alphabets were used in His- pre-Columbian America
pania. Due to uncertain interpretation of their
language the deciphering attempts are not yet 4.1.  The fact that some of these languages are
considered fully reliable. still in use facilitates these attempts, but the
Adaptations of the Greek alphabet for functions of graphical signs are difficult to
Indo-European languages related to Greek, determine (→ art. 28).
which were spoken in Anatolia in the first
millennium B. C. — Phrygian, Lydian, Ly- 4.2.  The least developed of these American
cian, Pamphylian (at Side) — were deter- systems was that used by the Incas in Peru.
mined on the basis of their relationships to Signs, often geometrized, on textiles and
Greek, and with help of bilingual inscriptions wood probably indicated concepts; they could
with Greek and Aramaic versions. have possibly also been used for names. Most
signs depict objects; their combinations can
3.9. Ancient cryptic scripts convey a message without reference to any
language. It seems that pictorial signs and
While in the modern times cryptic devices are their combinations were also used to express
used mostly for military and similar secrets divine, personal and geographical names, and
(→ art. 145), in the antiquity cryptic scripts calendar terms. It is not clear, however,
422 III. Schriftgeschichte

whether use of originally pictorial signs was B. C. is alphabetic. In 1948 William F. Al-
introduced to indicate language sounds. bright referred to their language as Proto-
Canaanean (→ art. 20).
4.3.  Writings of Central America were more Similarly, in 1965 Henri Cazelles charac-
developed, such as Aztec script, which was terized tablets from the late Bronze Age from
used in central Mexico, and Maya script in Deir ‛Alla in the Jordan Valley as Canaanite.
Eastern Mexico and even farther east. The The syllabic system of the Cypro-Minoan
Maya language is still spoken as is Nahuatl, texts from the late Bronze Age was used for
which developed from the Aztec language. an ancient, non-Indo-European language, ac-
Both these writing systems are well-preserved cording to Émilie Masson.
in handwritten codices; in the Maya area, The number of signs points to the syllabic
signs on stone buildings and stelae were also character of late Bronze Age “hieroglyphs”
found. from Byblos, published by Maurice Dunand.
Pictorial Aztec signs were probably used The decipherment by Édouard Dhorme, who
to write names; this system is considered ei- referred to the language as Old Phoenician,
ther less developed or even deteriorated com- is no longer accepted. A new decipherment
pared to the system taken over from Maya. was presented by George Mendenhall in 1985;
Maya writing is preserved in written doc- he points to the relationships of the language
uments from about 300 A. D. until the 16th of these “hieroglyphic” inscriptions to both
century. Spanish bishop Diego de Landa re- West Semitic and Arabic (→ art. 20).
corded consonantal values in some Maya The syllabic script of the Manchurian tribe
signs about 1556. of Khitan, used around 1000 A. D., was stud-
Mayan “hieroglyphs” were used primarily ied with help of computers by Russian schol-
to indicate words and names. Some signs ars.
served as semantic determinants. Some signs
and their variants were gradually applied as
grammatical affixes and phonetic comple- 6. Scripts not yet deciphered
ments. Eventually some originally logo-
graphic signs were introduced to indicate syl- Some scripts which have withstood all at-
lables. This development is analogical to that tempts at decipherment deserve mention: Cre-
of ancient Mesopotamian cuneiform script. tan hieroglyphic and Linear A texts are writ-
Also some similar methods were used for the ten in an unknown language. The same is true
deciphering of these in their developing ana- for another text from Bronze Age Crete, the
logical writing systems. Discus of Phaistos, with pictorial signs
First reliable results in decipherment of stamped in spiralic sequence, perhaps the
Central American scripts were reached only most frequent subject of scholarly and ama-
in the second half of the 20th century. Im- teur deciphering efforts.
portant attempts were presented by Russian It is not clear whether the signs on the
scholars, beginning with Yu. V. Knorozov in tablets found at Tărtăria in Romania and
1952. Mayan texts were analyzed in Novosi- several other Neolithic sites on the Balkan
birsk with help of computers. Recent results Peninsula are part of a writing system (→
were contributed by North American schol- art. 17).
ars, who applied methods of modern linguis- The unknown language prevents complete
tics (→ art. 28). decipherment of all signs of the Carian script,
derived mostly from the Greek alphabet and
preserved in inscriptions from western Ana-
5. Other deciphering attempts tolia and Egypt.
Much effort has been devoted to the pic-
Some decipherments of writing systems are torial script from the third millennium B. C.
not — or perhaps not yet — commonly ac- preserved on seals and inscriptions in the In-
cepted. Some of these devoted to “Old dus Valley. If this Proto-Indian writing ex-
World” scripts may be briefly mentioned. presses names or even words of a language,
According to the number of signs, even it would most be probably of Proto-Dravid-
writing systems not yet deciphered can be ian character (→ art. 24).
categorized as alphabetic, syllabic or logo- Quite isolated are the inscriptions carved
grahic. with shark teeth on wood tablets on the Eas-
The script of Proto-Sinaitic inscriptions ter island in the Pacific Ocean, about 4000
from the middle of the second millennium km west of Chile. It seems that the pictorial
29.  Decipherment 423

signs served as ritual symbols or memory aids ed. New York.


in reading rituals or mythological narratives Hanks, William F. & Rice, Don S. 1989. Word and
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424

IV. Schriftkulturen
Literate Cultures

30. Oral and Literate Cultures

1. Introduction ethno centric views dicho ot mizing primitive


2. The oral-literate dichotomy o ver against civilized (o r ratio nal) human-
3. Literacy and orality as means, not cause kind, nevertheless, to deny the validity o f the
4. Literacy and orality not unitary distinctio n between no n-literate and literate
5. Literacy and orality not separate so cieties was to o verlo o k significant histo rical
6. Literacy and orality not sequential and functio nal co nsequences o f literacy (1963
7. Literacy, orality, and inequality [1968, 28]). They went o n to use the example
8. References o f the rise o f alphabetic culture in Greek
civilizatio n to sho w that alphabetic reading
and writing led no t o nly to new (“lo gico -
1. Introduction empirical” 1963 [1968, 43]) mo des o f tho ught,
In the thirty years since Go o dy & Watt (1963) but also to the develo pment o f po litical de-
argued fo r significant co nsequences o f liter- mo cracy, the breakdo wn o f the literate/no n-
acy, seeking to stem a gro wing tide against literate so cial stratificatio n typical o f pro to -
the traditio nal distinctio n between no n-liter- literate cultures, greater individualizatio n o f
ate and literate so cieties, a burgeo ning mul- perso nal experience, and a mo re highly dif-
tidisciplinary research literature o n o ral and ferentiated cultural traditio n than that trans-
literate co mmunicatio n in actual co ntexts has mitted in no n-literate so cieties (1963 [1968,
accumulated with such a breadth and depth 55—63]).
o f evidence to the co ntrary that it has indeed Go o dy & Watt were no t alo ne in suggesting
o verwhelmed the o ral-literate dicho to my. An- significant co nsequences o f literacy and
thro po lo gists, histo rians, psycho lo gists, and thereby, so mewhat parado xically, putting o r-
so cio linguists, amo ng o thers, have pro vided ality “o n the map” (Havelo ck 1991, 12).
evidence that literacy neither stands in a di- Havelo ck suggests that McLuhan’s Gutenberg
cho to mo us relatio nship to o rality no r carries Galaxy (1962), Lévi-Strauss’ The Savage
with it necessary co nsequences. Specifically, Mind (1962), and his o wn Preface to Plato
this research do cuments that speaking and (Havelo ck 1963) co incided with Go o dy &
writing are means o f co mmunicatio n that Watt in marking the release o f “a flo o d o f
co nditio n, but do no t determine, what is do ne intellectual activity devo ted to [...] the o ral-
with them; that neither literacy no r o rality literate equation” (Havelock 1991, 12).
are unitary and co nstant acro ss cultures; that A number o f scho lars have explo red o rality
o rality and literacy, far fro m being o ppo sites, and literacy via a dicho to mized view which
are intimately intertwined in bo th use and attaches clear benefits to the literate end o f
character; and that there is no unifo rm, se- the equatio n. Ong (1982) devo tes a bo o k to
quential path whereby a mo ve fro m o rality explo ring the differences between o ral and
to literacy necessarily signifies individual o r literate tho ught and expressio n, and the emer-
so cietal develo pment o r pro gress. To realize gence o f the latter fro m the fo rmer. Havelo ck
the significance o f these findings, we must himself, while champio ning the “o ralist in-
first intro duce the o ral-literate dicho ot my heritance” as a “necessary supplement to o ur
they refute. abstract literate co nscio usness,” nevertheless
characterizes the fo rmer as “limited” in “its
fo rms o f expressio n and co gnitio n — rhyth-
2. The oral-literate dichotomy mic, narrativized, actio n o riented” (1991, 26).
Olso n asso ciates the develo pment o f wide-
Go o dy & Watt argued that, tho ugh so cial spread literacy with the Pro testant Refo rma-
scientists co uld no lo nger in the 1960s accept
30.  Oral and Literate Cultures 425

tio n and the rise o f mo dern science, and at- that the speech [o r co mmunicative] act sho uld
tributes ot literacy psycho ol gical oc nse- replace the linguistic co de as the fo cus o f
quences which he clearly co nsiders to be ad- attentio n in the study o f languages, Hymes
vantageo us, namely: the develo pment o f ex- (1964, 3) argued that “[the ethno graphy o f
plicit, auto no mo us pro se; the ability to dis- co mmunicatio n] must take as co ntext a co m-
tinguish data fro m interpretatio n; and the munity, investigating its co mmunicative hab-
gro wth o f metalanguage (e. g. Olso n 1977; its as a who le, so that any given use o f channel
1991 a; 1991 b; see also Halverso n 1991 fo r a and co de takes its place as but part o f the
critique of Olson). reso urces upo n which the members o f the
These and o ther scho lars’ claims fo r the co mmunity draw”. Amo ng the channels o f
benefits o f literacy are summarized by Graff co mmunicatio n to be included in such an
as “the literacy myth” (1986, 62). “Writings appro ach Hymes explicitly mentio ned no t
abo ut the imputed ‘co nsequences,’ ‘implica- o nly speaking and writing, but also printing,
tio ns,’ o r ‘co nco mitants‘ o f literacy have as- drumming, whistling, singing, and so o n
signed to literacy’s acquisitio n a truly daunt- (1964, 13). Murray (1988) co nvincingly adds
ing number o f co gnitive, affective, behavio ral, electro nic mail to the reperto ire o f co mmu-
and attitudinal effects, ranging fro m empa- nicative channels.
thy, inno vativeness, achievement o rientatio n, Numero us researchers to o k up the call fo r
‘c
o sm o op litanism’, inf o rmatio n acquisiti o n such an appro ach, pursuing ethno graphies o f
and media awareness, natio nal identificatio n, speaking (e. g. Bauman & Sherzer 1974) and
techno ol gical acceptance, ratio nality, co m- o f writing. (e. g. Dubin 1989; Heath 1983;
mitment to demo cracy o r to o ppo rtunism, Szwed 1981), and yielding rich evidence o f
linearity o f tho ught and behavio r o r urban the impo ssibility o f generalizing validly abo ut
residence! [...] On o ther levels, literacy ‘o ral’ vs. ‘literate’ cultures (Hymes 1980, 28).
‘thresho lds’ are seen as requirements fo r ec- Such studies demo nstrate that co mmunities
o no mic develo pment, ‘mo dernizatio n,’ po lit- and cultures may, and do , emplo y the same
ical develo pment and stability, fertility co n- means, i. e. speaking and writing, to diverse
trol, and so on and on” (Graff 1986, 65). ends and that it is the purpo se o f the language
Graff’s o wn explo ratio n o f literacy in spe- act, and no t the mo dality (spo ken o r written)
cific histo rical co ntexts has yielded evidence that determines the bias o f language to ward
co ntrary to the literacy myth, as has research being “explicit o r vague, lo gical o r illo gical,
by o thers acro ss a range o f histo rical and adequately o r inadequately info rmative, lucid
cultural co ntexts. It is this research that we o r o paque,” and so o n (Halverso n 1991, 628,
will no w turn to in o ur explo ratio n o f o ral 630). The impo rtant questio ns are no t
and literate cultures. whether a co mmunity, culture, o r so ciety is
o ral o r literate, but rather what the reperto ire
o f o ral and literate means and the relatio n-
3. Literacy and orality as means, ships amo ng them are in any particular co m-
not cause munity, culture, o r so ciety. Again and again
Altho ugh anthro po ol gy, histo ry, and psy- as a result o f these studies and in a call fo r
cho lo gy have played so me part in the study mo re o f the same, scho lars reiterate that the
o f o rality and literacy in co ntext, the greatest co gnitive [and o ther] co nsequences o f literacy
ro le has perhaps been taken by so cio linguis- are still elusive and pro bably mo re culture-
tics and the ethno graphy o f co mmunicatio n, specific and co mmunity-specific than usually
which had their beginnings at abo ut the same suppo sed (Halverso n 1991, 639); that is, that
time as the afo rementio ned arguments fo r the co nsequences o f literacy canno t be pre-
significant co nsequences o f literacy (see fo r sumed, but must be researched by fo cusing
example Fishman 1968; Hymes 1964). Heath o n the diversity o f literacy events and prac-
(1984, 54) suggests that so cio linguistics’ ma- tices in specific and diverse cultural, histo ri-
jo r co ntributio n to literacy research o ver the cal, and ideo lo gical co ntexts (Graff 1986, 65,
last few decades has been the “attempt to 68; Street 1991 b, 1, 10; 1992).
place texts within their co ntexts and to ex-
amine these acro ss so cial gro ups, situatio n 4. Literacy and orality not unitary
and institutio ns”. Indeed, an interest in co n-
text as an impo rtant facto r in all aspects o f A series o f seminal studies have established
language use is a central feature o f the eth- that literacy can by no means be co nsidered
no graphy o f co mmunicatio n. In pro po sing a unitary phenomenon across cultures:
426 IV. Schriftkulturen

— Psycho lo gists Scribner & Co le (1981) set — Wagner (1987), Street (1993), and Wagner
o ut to investigate the co gnitive co nsequences & Puchner (1992) have pro vided edited co l-
o f literacy amo ng the Vai o f Liberia, and in lectio ns further do cumenting the great diver-
the pro cess do cumented the co existence o f sity o f literacy attitudes and practices acro ss
three different types o f literacy, each asso ci- cultures. Wagner’s vo lume fo cuses mainly o n
ated with different languages, institutio ns, internatio nal co mpariso ns, amo ng them “me-
and so cial activities. They fo und that different dieval England: Malagasy as lo cal adapta-
literacies implied different co gnitive co nse- tio ns o f co lo nial literacy (Street); the Vai o f
quences: neither the syllabic Vai script which Liberia: Brazilian peasants, similar in eco -
was used fo r perso nal and co mmercial re- no mic level, different in valuatio n o f literacy
co rds, no r the Arabic alphabetic literacy (Carraher); Brazilian peasants: Brazilian
which was used fo r Qur’anic study were as- middle-class expectatio ns fo r literacy (Car-
so ciated with higher o rder intellectual skills, raher); co ntrasting mo ther mediatio ns o f sto -
while English literacy, used fo r go vernmental rybo o k reading (Teale and Sulzby); indige-
and educational purposes, was. no us and immigrant families in relatio n to a
— Heath (1983) underto o k the study o f lit- co mmo n metho d o f teaching reading in Israel
eracy in co ntext within an ethno graphy o f (Feitelso n); the effect o f differing mo dels o f
co mmunicatio n framewo rk and fo und strik- functio nal literacy in Kent, in New Zealand,
ing differences in ho w children were so cialized and in Papua New Guinea (Do wning)”
into such literacy-related practices as sto ry- (Hymes in Wagner 1987: xiii). Papers in the
telling and questio n-answer sequences in three Wagner & Puchner vo lume explo re interna-
co mmunities o f the rural American So uth — tio nal co ntinuities and co ntrasts aro und lit-
a white middle-class to wn and white and eracy po licy, wo men and literacy, literacy and
black w o rking-class oc mmunities, respec- multilingualism, literacy and develo pment,
tively. In particular, attitudes to ward the re- and health and literacy. Street’s vo lume in-
latio n o f literacy to ‘truth,’ perfo rmance and cludes bo th inter- and intra-natio nal cultural
participatio n in sto ry-telling, and the ro le o f variatio n. Fo r example, Ro ckhill (1987) de-
kno wn-answer questio ns differ acro ss these scribes ho w everyday ho useho ld literacy prac-
communities. tices o f Hispanic wo men in Lo s Angeles re-
— Anthro po lo gist Street (1984) identified a main invisible while mo re public kinds o f
number o f literacies in use in vario us rural literacy are seen as bo th threatening and de-
villages o f No rth East Iran, amo ng them the sireable; Weinstein-Shr (1993) co mpares the
‘maktab’ literacy learnt in the Islamic scho o l different uses o f literacy o f two Hmo ng ref-
and a ‘co mmercial’ literacy lo cally adapted ugees in Philadelphia: a yo ung man who se
fro m maktab literacy, as well as the rural and literacy enables him to act as bro ker between
urban state scho o l literacies. On the basis o f his fello w refugees and the ho st so ciety; and
the differences amo ng these literacies and an o lder man who adapts his literacy to serve
their relative no n-interchangeability, Street him in traditional Hmong roles of authority.
rejected what he labeled the ‘auto no mo us Similarly, three decades o f research in so -
mo del’ o f literacy, which assumes that literacy cio linguistics and the ethno graphy o f speak-
is a unitary, neutral and auto no mo us variable ing have yielded insights into variatio n in o ral
which exists everywhere in the same fo rm and language use at every level fro m the pho netic
who se acquisitio n carries the same co nse- to the pragmatic. At the pho netic level, so ci-
quences; and argued fo r the ‘ideo lo gical o linguistic research sho wed that “o ne and the
mo del’ o f literacy, which assumes instead that same pro nunciatio n o f ‘bird’ [båid] might be
literacy practices are always embedded in cul- stigmatized in New Yo rk City, admired in
tural patterns, so cial institutio ns, and, espe- Charlesto n” (Hymes 1992: 3; cf. Labo v 1966
cially, power structures. o n the so cial stratificatio n o f English in New
— Delgado -Gaitan (1990) analyzes children’s Yo rk City). At the pragmatic level, gro und-
so cializatio n into literacy and scho o ling in breaking vo lumes such as Bauman & Sherzer
Mexican families o f Califo rnia, describing pa- 1974 and Cazden, Jo hn & Hymes 1972 de-
rental aspiratio ns, o ral literacy activities, and scribed differences in ways o f speaking acro ss
text-interactio n activities that give evidence co mmunities and classro o ms, respectively.
o f stro ng suppo rt fo r literacy in these ho mes, Baumann 1983 o n speaking and silence
despite po pular misco nceptio ns and research amo ng 17th century Quakers; Philips 1983 o n
which blame mino rity children’s scho o l fail- o ral co mmunicatio n in classro o ms and co m-
ure on the home culture. munity o n the Warm Springs Indian Reser-
30.  Oral and Literate Cultures 427

vatio n; Sherzer 1983 o n Kuna ways o f speak- o f which literacies mo st clo sely resembled
ing; Bo ggs, Watso n-Gegeo & McMillen 1985 those of the school.
o n speaking, relating, and learning amo ng Others, to o , have pro vided evidences o f the
Hawaiian children at ho me and at scho o l; ways in which o ral language use scaffo lds and
Ochs 1988 o n language acquisitio n and lan- supp o rts literacy acquisiti o n, specifically
guage so cializatio n in a Samo an village; “scho o led literacy” acquisitio n (Co o k-Gum-
Basso 1990 o n Western Apache language and perz 1986, 22): Au & Jo rdan (1981) repo rted
culture; and Go o dwin 1990 o n talk as so cial that inco rpo rating co -narratio n — character-
o rganizatio n amo ng Black children in Phila- istic o f a native Hawaiian speech event, the
delphia are examples o f bo o k length studies talk sto ry — into reading lesso ns co ntributed
do cumenting the diversity o f o ral co mmuni- to children’s learning at the KEEP (Kame-
cation across communities and cultures. hameha Early Educatio n Pro gram) scho o l in
Hawaii; in the American so uthwest, Mo ll &
Diaz (1985) fo und that use o f o ral Spanish in
4. Literacy and orality not separate an English reading lesso n co uld impro ve
Tho ugh the abo ve studies have been catego - fo urth-grade bilingual students’ English read-
rized as studies o f literacy o r o rality, in truth ing; Hiebert & Fisher (1991), citing these ex-
mo st o f them stray, whether intentio nally o r amples and o thers, po sit that tho ughtful de-
inadvertently, fro m o ne territo ry into the sign o f task and talk structures is crucial fo r
o ther. Virtually all the literacy studies neces- pro viding equitable learning o ppo rtunities in
sarily inco rpo rate aspects o f o ral language classro o ms with children fro m diverse cul-
use since, as Go o dy & Watt themselves no ted, tures, and suggest that such an appro ach is
writing is an “additio n, no t an alternative to co nsistent with a Vygo tskyan framewo rk that
o ral transmissio n” (1963 [1968, 68]). Simi- po sits the impo rtant ro le o f so cial interactio n
larly, o f the last several ethno graphies o f in children’s literacy develo pment (Vygo tsky
speaking mentio ned, Bo ggs, Watso n-Gegeo & 1962).
McMillen, Ochs, and Philips all explicitly Literacy and o rality are intertwined no t
treat the relatio nships between children’s o ral o nly at the level o f individual learning, but
language so cializatio n at ho me and their lit- also at the level o f so cietal practice. Heath
eracy learning in school. no tes that so cio linguists have accumulated
Orality and literacy, far fro m being o ppo - co nsiderable evidence that “disco urse fea-
site, are intimately interwined in bo th use and tures, o ral language uses and ways o f viewing
character. As to use, research has sho wn that language in specific speech co mmunities
literacy use is always embedded in o ral lan- ha[ve] co nsiderable effect o n the receptio n o f
guage use, that children’s (and adults’) liter- literacy” there (1984, 47). Street 1993 dem-
acy develo pment is stro ngly influenced by o nstrates this, citing his co ntributo rs’ descrip-
o ral so cial interactio n, and that literacy and tio ns o f peo ple “tak[ing] ho ld o f’ (Street
o rality are in a relatio nship o f recipro cal in- 1991 b, 6) literacy and co mbining it with their
teractio n such that co mmunicative functio ns o ral culture in a variety o f ways. Kulick &
assigned to o ne may be taken o ver by the Stro ud, he says, demo nstrate ho w, in a Papua
o ther and vice versa. As to character, research New Guinea village, co nventio ns emplo yed in
has sho wn that characteristics co mmo nly as- o ral disco urse carry o ver into written fo rms;
cribed to one or the other are shared by both. specifically, the co nventio ns o f hed (avoidance
Heath (1982) demo nstrated ho w a familiar o f appearing pushy) and save (emphasis o n
literacy event in mainstream US culture, the o penness to kno wledge and sensitivity to o th-
bedtime sto ry, is embedded in o ral language ers’ interests); and Blo ch presents a case, in a
use. Street argued that “literacy practices are Zafimaniry village in Eastern Madagascar,
always embedded in o ral uses, and the vari- where literacy and scho o ling serve to rein-
atio ns between cultures are generally varia- fo rce existing patterns o f o ral co mmunica-
tio ns in the mix o f o ral/literate channels” tio n; while Besnier do cuments a case, o n Nu-
(1988, 5). Heath’s (1983) study o f the func- kulaelae ato ll in the So uth Pacific, where lit-
tio ns and uses o f literacy in the three So uthern eracy actually expands the co mmunicative
rural co mmunities clearly revealed no t o nly reperto ire by allo wing the o vert expressio n o f
that speech and literacy were interrelated in affect in writing which is no t allo wed in o ral
each gro up, but that differences amo ng the co mmunicatio n. Alternatively, Street co ntin-
gro ups were no t so much alo ng the lines o f ues, in urban America, Camitta describes ad-
o ral versus literate cultures as alo ng the lines o lescent vernacular writing which appears to
428 IV. Schriftkulturen

share features with o ral co mmunicatio n (fea- writing, in Western Apache culture; a series
tures such as face-to -face co mmunicatio n and o f essays in Swann (1992) demo nstrate,
impro visatio n); while Shuman, in a study o f amo ng o ther things, the systematicity o f Na-
sto rytelling rights amo ng ado lescents, pre- tive American o ral literatures. Halverso n sug-
sents a reversal o f the usual co mmunicative gests that b o t h o ral and written language can
no rms fo r o ral and written language, whereby be explicit o r o paque, citing as examples Ho -
writing is used fo r face-to -face interactio n and meric o ral verse as explicit and Heidegger’s
o ral language fo r absent-autho r co mmuni- written pro se as o paque; and that fo rm and
cation. meaning are as easily perceived as auto no -
Evidence fro m studies o f literacy in co n- mo us in o ral as in written language, as evi-
text, then, sho w that literacy and o rality can denced, fo r example, by the co mmo n expres-
be put to similar uses, i. e. that diverse means sio n, “I didn’t mean that the way it so unded”
can be used to the same ends. Similarly, ex- in ordinary conversation (1991, 624—631).
plo ratio ns into the character o f literacy and
o rality suggest that diverse means can share
similar characteristics, depending o n the use 6. Literacy and orality not sequential
to which they are put. The uses and nature o f literacy and o rality
No t all scho lars agree o n this po int. Olso n are no t, then, as easily separable as the o ral-
argues that as literacy assumes functio ns fo r- literate dicho to my wo uld suggest. Even mo re
merly served by o ral fo rms, it alters the fo rms significant to o ur understanding o f the ro le
and in the pro cess, new, literate attitudes to o f literacy in o ur wo rld are findings that chal-
self, kno wledge, and so ciety evo lve (Olso n & lenge the unilinear mo del o f individual and
To rrance 1991, 1). He suggests that the rise so cietal develo pment via the acquisitio n o f
o f widespread literacy in Euro pe co ntributed literacy. The o ral-literate dicho to my carried
to the Refo rmatio n and to the rise o f mo dern implicit within it a view o f literacy as engine
science by permitting the differentiatio n o f o f so cial and psycho lo gical change (a view
text fro m interpretatio n. “In speech, [...] fo rm still held by so me, see Olso n & To rrance 1991,
and meaning are perceived as indisso lubly 7 o n co ntinuity theo ry vs. great divide the-
linked by speakers. Literacy is intrumental in o ry). Ho wever, the wo rk o f so cial histo rians
pulling them apart by freezing the fo rm into and anthro po lo gists is increasingly calling
a text” (Olso n 1991 a, 153). He argues that into questio n the co rrelatio n between literacy
while o ral statements must be po etized to be and individual and so cietal develo pment, with
remembered and in the pro cess lo se so me o f co nsensus emerging that the ro le o f literacy
their explicitness, written statements bypass as a facto r in individual and so cietal change
the limitatio ns o f memo ry and can, with a is highly dependent o n o ther facto rs (Heath
highly explicit writing system such as the al- 1984, 51).
phabet, beco me relatively auto no mo us ex- Halverso n refutes Olso n’s suggestio n that
pressio ns o f meaning. (Written) texts and the rise o f widespread literacy and any co n-
(o ral) utterances, in his view, differ alo ng lines co mitant co nceptual changes led to the Re-
o f meaning, truth, and functio n: while utter- fo rmatio n and thence to the rise o f mo dern
ances appeal fo r their meaning to shared ex- science, no ting that it was mo re likely the
periences and interpretatio ns, texts appeal to inventio n o f the printing press, and the rejec-
premises and rules o f lo gic; while truth in tio n o f institutio nal autho rity that Pro tes-
utterance has to do with wisdo m, truth in text tantism engendered, rather than literacy per
has to do with co rrespo ndence between state- se, that spurred these so cial mo vements o n
ments and implicatio ns; and while in o ral (1991, 622, 634). Indeed, Olso n himself ac-
speech the interperso nal functio n is primary, kno wledges the ro le o f the printing press, as
in text it is the ideatio nal o r lo gical functio n do cumented by histo rian Eisenstein (1979),
which is primary (Olson 1977). but maintains his o wn co nceptual-change
Others take issue with the characteristics view, as against what he terms her instrumen-
and attitudes attributed to literacy (e. g. per- tal view (Olson 1991 a).
manence, systematicity, explicitness, auto n- Kaestle (1991) suggests that recent study
o my), po inting o ut that they can co exist just o f the histo ry o f literacy has been shaped
as well with o ral language use. Baso (1990, aro und fo ur interpretive issues, which he
99—137) demo nstrates the permanence o f frames as questio ns and to which he o ffers
mo ral teachings bo und up with places and tentative answers based o n research to date.
the o ral narratives abo ut them, w i t h o u t In essence, his answers co mplicate any easy
30.  Oral and Literate Cultures 429

co rrelatio ns between literacy and pro gress, and the realities [...]; the so cial theo ries and
between literacy and o ther so cial changes, and experiential realities; the liberating po tentials
between literacy and scho o ling, as well as and the integrating, ho mo genizing, co ntro l-
thro wing into questio n the assumptio n that ling uses” (1986, 76).
o nce literacy is intro duced in a so ciety, it will
auto matically expand. He no tes that while
there are stages in the evo lutio n o f writing 7. Literacy, orality, and inequality
systems and in the diffusio n o f literacy to It is in these last-mentio ned co ntradictio ns
different gro ups in so ciety, no t all so cieties that the inequalities o f literacy reside. “The
mo ve thro ugh all stages, and the stages are center o f attentio n is shifting, in much current
po tentially reversible and no t mutually exclu- wo rk, to the o ften igno red language and lit-
sive, but gradual and o verlapping (1991, eracy skills o f no n-mainstream peo ple and to
6—7). Fo r this fact o f so cietal literacy devel- the ways in which mainstream, scho o l-based
o pment, as well as fo r the pro cesses o f indi- literacy o ften serves to perpetuate so cial ine-
vidual literacy develo pment, mentio ned abo ve quality while claiming, via the literacy myth,
(cf. 5.), the no tio n o f co ntinuum captures to mitigate it” (Gee 1991, 268).
mo re aptly than dicho to my the relatio nship Literacy is bo th liberato r and weapo n o f
between o rality and literacy (Heath 1984, 54; o ppressio n; and has been reco gnized as such
Hornberger 1989, 278—279, 282). as far back as Plato , who “wants the autho r
Graff (1986) in fact pro po ses that we need to stand as a vo ice behind the text no t just
to reco nceptualize the histo ry o f literacy, to engage in respo nsive dialo gue [with the
mo ving fro m a co nceptual framewo rk cen- reader], but to enfo rce cano nical interpreta-
tered aro und change to o ne emphasizing co n- tions” (Gee 1991, 271).
tinuities and co ntradictio ns. His o wn research Hymes (1992) describes inequality in lan-
do cuments histo rical examples that refute the guage in terms o f the dialectic between actual
change framewo rk and its implicit linking o f and po tential ability. Whereas linguists kno w
literacy with pro gress: 18th century Sweden, and take fo r granted that all languages and
where a transitio n to mass literacy had no th- all literacies are po tentially equal, they also
ing to do with urbanizatio n, co mmercializa- tend to take fo r granted that po tential equal-
tio n, and industrializatio n, and everything to ity means actual equality, when in fact that
do with the co nservative piety o f the state is no t so . Just as “it is a fallacy to equate the
church; and 19th century Canada, where reso urces o f a language to the reso urces o f
analysis o f pro cesses o f scho o ling and literacy (all) users” (Hymes 1992, 10), so to o literacy
acquisitio n fo r different ethnic and o ccupa- fo r all, when co mmand o f literacy remains
tio nal gro ups in the cities reveals that greater cruelly stratified, o ffers no real advantage
literacy did no t co rrelate with increased o ver no literacy. If, as scho lars like Besnier
equality and demo cracy no r with better co n- (1993), Ferdman (1990), Ro ckhill (1987), and
ditio ns fo r the wo rking class, but rather with Street (1993) suggest, literacy practices are
co ntinuing so cial stratificatio n. His new co n- co nstitutive o f identity, but the o nly literacy
ceptual framewo rk is premised o n co ntinuities identity available to yo u is o ne which chal-
and co ntradictio ns recurringly fo und acro ss lenges o r denies yo ur cultural identity and at
the histo ry o f literacy in different cultures and the same time po sitio ns yo u as marginalized,
so cieties. Co ntinuities include no t o nly the then what have yo u gained by beco ming lit-
co ntributio ns o f o ral co mmunicatio ns and erate?
traditio ns in receiving, co nditio ning, and Yet, if it is true that literacy practices po -
shaping writing, as implied by the no tio n o f sitio n us, it is also true that they may be sites
o ral-literate co ntinuum mentio ned abo ve; but o f nego tiatio n and transfo rmatio n (Street
also legacies aro und the use o f elementary 1991 a, 3). Literacy, tho ugh no t a causal fac-
scho o ling fo r mo ral co nduct, respect fo r so - to r in individual and so cietal develo pment,
cial o rder, and participant citizenship; and the can be an enabling o ne. Indigeno us literature
enduring po wer o f literacy’s uses fo r state and pro ductio n and learner-centered publicatio ns
administratio n, theo lo gy and faith, trade and are o n the rise aro und the wo rld. Scho o ling
co mmerce (Graff 1986, 72—74); while co n- with a cro ss-cultural literacy appro ach is
tradictio ns include tho se between “the pro - in evidence (Saravia-Sho re & Arvizu 1992).
mo ted uses o f literacy and [its] so cial purpo ses Where literacy po licy and pro grams begin to
[...]; the functio nal and no n-functio nal uses catch up with the insights (reviewed abo ve)
o f literacy; the self-activating po tentials [...] that researchers and practitio ners are wit-
430 IV. Schriftkulturen

nessing daily, where institutio ns and gro ups fro m Plato to Freire thro ugh Harvey Graff. Har-
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432 IV. Schriftkulturen

31. On the Threshold to Literacy

1. Forerunners of writing do ubtedly stimulated by the advent o f Euro -


2. Numbers peans with established systems o f writing. In
3. Conditions and constraints the early nineteenth century the Chero kee
4. Expansion and disappearance of thresholds Indians invented a syllabic script as an answer
of literacy ot the Euro pean co mmunicatio n systems
5. References aro und them and so o n had higher rates o f
literacy than the neighbo uring immigrants.
Sho rtly afterwards a similar type o f script was
1. Forerunners of writing created by Bukele fo r the Vai language in
Liberia. In these cases a single individual was
1.1. Preliterate graphs mainly respo nsible fo r the inventio n which
was accepted by the peo ple as a result o f a
Many early so cieties emplo y graphic devices, public demo nstratio n that linguistic messages
either as a linguistic o r as abstract fo rms. co uld be sent at a distance (→ art. 58). In
Mo st o f these devices have a linguistic co m- o ther wo rds it was the letter-writing ability
po nent, in that language enters in to their o f the script that was attractive to tho se living
creatio n and their interpretatio n; they have in an oral society.
meaning to the initiato r and the recipient. We
do no t see a picture o f a ho use witho ut mut-
tering o r at least thinking the wo rd ‘ho use’. 1.4. The development of earlier scripts
That is true in a different way o f mo st ab- In o ther parts o f the wo rld such earlier pic-
stract signs, such as po inters to indicate di- to graphs are rarely fo und in the areas where
rectio n; these are symbo lic in a further sense writing began; they co nstitute no necessary
since they stand at a farther remo ve fro m preliminary. Writing systems o ften appeared
what is signified. On the o ther hand such suddenly rather than by a pro cess o f lo ng
grahic fo rms may also be purely deco rative, evo lutio n. Ho wever in Meso po tamia and
especially when they co me in rhythmic se- mo re widely in the Near East we also find
quence like the chevro n o rnaments o n Ro - fro m c. 6000 B. C. a series o f marked and
manesque buildings. Markings o n individual shaped clay to kens (o r hand-made pebbles)
pebbles are mo re likely to carry specific mean- which were later used in trading transactio ns,
ings than repeated themes (patterns). Other to act as bills o f lading indicating the co ntents
types o f mark were certainly used fo r so me o f particular transacti o ns (Schmandt-Bes-
mnemo nic purpo ses as in the case o f Ojibway serat 1981; → art. 16). This task invo lved
birchbark scro lls where they reminded the primarily the representatio n o f quantity,
recito r o f narrative o r similar sequences o f which can exist, as in a tally, witho ut any
the chants rather than transcribing particular reference to qualities, to the nature o f the
linguistic utterances (Dewdney 1975). The go o ds transacted. To indicate the co ntents
clo ser such signs are to bearing a precise invo lved ano ther series o f signs which can be
linguistic meaning, the mo re they can be co n- seen as the fo rerunners o f the full writing
sidered fo rerunners o f writing and can be read system that develo ped aro und 3100. The
in bro adly the same way by anyo ne kno wing chro no lo gy and the details are a matter o f
the language and the script. discussio n, but much early writing in Meso -
po tamia did give pride o f place to the reco rd-
1.2. Pictograms ing o f transactio ns and to the creatio n o f
administrative lists (indeed lists o f all kinds).
In early so ciety such signs were o ften picto rial Much teaching also to o k the similar fo rm o f
in fo rm, as in No rth America, where we find making lists o f o bjects, especially natural
no t o nly single picto grams but mo re co mplex o nes. So stro ng was this tendency that Lands-
sequences o f picto graphs capable o f co nvey- berger (1937) speaks of Listenwissenschaft.
ing warnings, indicating directio ns and pro -
viding so me fo rm o f time measurement, as in
the case o f the well-kno wn Dako ta calendar 2. Numbers
on a buffalo robe (Mallery 1893).
2.1. Early uses: numerical systems
1.3. The recent invention of scripts
A develo pment o f this kind wo uld lead to the
No rth America is unusual in its develo pment prio r use o f a numerical system (which is
o f picto graphs. So me o f their uses were un- o ften distinct fro m scripts themselves, ado pt-
31.  On the Threshold to Literacy 433

ing as with Arabic o r Ro man numerals, a 2.3. Cognitive operations


lo go graphic, no n-pho netic fo rm) and to signs
fo r transacted o r reco rded o bjects. Writing The example o f mathematics indicates the
has the capacity to iso late parts o f speech, pro fo undly stimulating effect that the devel-
elements o f the sentence, in this way. Tho ugh o pment o f writing can have o n human cul-
it is a po int o f argument, it may be that the tures, and o n the co gnitive o peratio ns o f their
much later graphic system o f the Maya o f members. The arithmetic table is a co gnitive
Central America co nstituted such a fo rm o f to o l with which o ne can increase o ne’s un-
pro to -writing (Marcus 1976); it was certainly derstanding o f this wo rld and participate in
greatly co ncerned with numerals, principally its activities. It is like that o ther graphic to o l,
fo r calendrical purpo ses. The Inca o f So uth a map, which helps us to understand the wider
America develo ped a mnemo nic system using physical enviro nment and to find the way to
co lo ur-co ded kno ts (quipu) as a kind o f tally, Mecca, Jerusalem o r Nagasaki. On a verbal
but essentially of r reco rding transactio ns. level, early literacy enco uraged a mo re precise
Bo th these co mplex so cieties, the o ne based no tio n o f catego ries, since lists o f trees had
o n the intensive pro ductio n o f maize, the to have a beginning and an end, at which
o ther o f the po tato e, were o n the thresho ld po int there co uld be a shift to , say, bushes.
o f literacy. Nevertheless in o ther centres such As with o ther fo rms o f ‘measurement’, such
as Egypt and China the reco rd indicates a precisio n is no t a no table feature o f co mmu-
sudden breakthro ugh to a full lo go graphic nicatio n in o ral so cieties. That is equally true
system altho ugh o f co urse the uses to which o f no tio ns o f co ntradictio n (later develo ped
this new means o f co mmunicatio n were put by Aristo tle) and o f o rtho do xy, that is, o f the
expanded o ver time. In China the earliest that co rrect, ‘autho rized’ versio n o f a narrative o r
have been fo und relate to divinatio n but as a law. In o ral so cieties ideas o f this kind exist
in o ther areas that fo cus may be a functio n in embryo but co ntradictio n is much easier
o f the materials used fo r this particular pur- to perceive when o ne is dealing with written
pose. statements. Such precisio n has its disadvan-
tages. The kind o f paradigmatic reaso ning
fo rmulated by the Greeks was perhaps o ne
2.2. Mathematics in Mesopotamia such case, giving rise to subtle distinctio ns fo r
In Meso po tamia the uses o f early writing are their o wn sake. Nevertheless, fo r better o r fo r
particularly easy to fo llo w since the marker wo rse, it was writing that permitted such
material was clay and the market a reed with changes to o ccur. Of co urse, any particular
a triangular sectio n, giving rise to a script feature did no t necessarily fo llo w the inven-
kno wn as cuneifo rm. The baked clay was tio n o r ado ptio n o f writing (with the po ssible
virtually indestructable and the impressio ns exceptio n o f better perfo rmance o f tasks in-
difficult to erase. Even scho o l exercises have vo lving verbatim memo ry, see Scribner &
been preserved. One particularly interesting Co le 1981), but the creatio n o f graphic fo rms
sequence brings o ut the way that literacy en- to represent language is a preco nditio n fo r
abled Meso po tamia, already much interested their develo pment in the histo ry o f human
in the use o f writing fo r co mmercial trans- cultures.
actio ns, to develo p the science o f mathematics
o ver time. Oral so cieties po ssess metho ds fo r
additio n and subtractio n but have o nly very 3. Conditions and constraints
simple devices fo r multiplicatio n and divisio n,
pro cesses that emerge very early when num- 3.1. The preconditions for writing
bers and their pro ducts are allo cated graphic What are the so cial preco nditio ns fo r the de-
equivalents, giving rise to mathematic tables. velo pment o f systems o f writing? Co mplete
Geo metrical calculatio ns, required fo r trans- writing systems came abo ut fo llo wing what
actio ns in valuable farming land such as has been called the seco nd Agricultural Rev-
fields under irrigatio n, is again made po ssible o lutio n, that is, in Meso po tamia and Egypt
by the co mbinatio n o f visual representatio n abo ut 3000 B. C. These so cieties po ssessed ir-
o f space and number. Fro m these vantage rigated, plo ugh agriculture that suppo rted an
po ints, mo re co mplex mathematical o pera- urban po pulatio n engaged in a variety o f spe-
tio ns can be develo ped and pro gress in this cialist tasks, in particular metal wo rk and the
directio n is very clear fro m the tablets under pro ductio n o f clo th. They were the first ‘civ-
discussio n (Nissen, Damero w & Englund ilisatio ns’ in the literal sense o f that wo rd,
1990). with elabo rate co urt and temple o rganisatio ns
434 IV. Schriftkulturen

invo lved in the keeping o f reco rds, in partic- available. Even befo re that o ccurs the no tio n
ular o f the inflo w and o utflo w o f perso nnel, rather than the practice o f writing fro m neigh-
wealth, fo o dstuffs and messages. Altho ugh it bo uring gro ups may influence o ral so cieties,
is po ssible to o rganise so me activities o f this impressing them as a means o f co mmunica-
kind by o ral means alo ne, po ssibly with the tio n o ver distance and hence as a way o f
help o f co unting with pebbles (as in Daho - getting in to uch with supernatural agencies.
mey, West Africa), with no tched tallies (as in Such was the view o f the ‘bo o k’ in New
Euro pe) o r with co ol ur-co ded kno ts (as Guinea so cieties at the time o f co ntact, while
amo ng the Inca), they can be greatly extended neighbo urs o f the Islamic wo rld in Africa
by means o f even a basic system o f writing, made use o f written verses o f the Qu’ran fo r
which enables wo rds (e. g. names) to be re- divinato ry, medicinal and o ther purpo ses.
corded as well as quantities. Writing had a certain prestige in advanced
o ral cultures, even tho ugh they might be un-
3.2. The transmission of skills willing to accept the so cial co nsequences o f
its ado ptio n, that is, religio us change o r go v-
In o ther terms, the so cial eco no my has to ernmental co ntro l. That was less true fo r
reach a certain po int befo re writing beco mes many o f states systems in Africa; tho se that
a po ssibility. Abo ve all o ne needs an o rgani- lacked writing themselves made use o f liter-
satio n fo r the transmissio n o f trained teachers ates fro m o utside, Muslims in earlier times,
and acquiescent pupils. The fo rmer have to realising their utility fo r distant co mmunica-
be taken o ut o f primary pro ductio n, the latter tio n, fo r histo rical reco rds, and fo r treaties
o ut o f the family, at least fo r a large part o f with o ther po wers; while little use was made
the day o ver a perio d o f many years. While o f writing fo r administrative reco rds, reco g-
language learning takes place within the fam- nitio n was given to its ro le in co mmunicating
ily, that is no t the case fo r writing (except fo r the word of God.
particular individuals). Fo r the first lo go -
graphic scripts, which represent wo rds o r co n-
cepts by individual signs, make immense calls 4. Expansion and disappearance of
o n memo ry since the signs are many and thresholds of literacy
co mplex, tho ugh the fact that so me are pic-
to graphic may make them easier to recall. 4.1. Thresholds for subsequent expansion
The lo ng perio d o f apprenticeship can be car-
ried o ut within the framewo rk o f a wider What were the thresho lds fo r the spread o f
o rganisatio n, such as a temple, a co urt o r literacy fro m the o riginal urban centres? The
po ssibly o f ano ther ‘great o rganisatio n’, as prime mo vers seem to have been literate re-
Oppenheim called them. The mo st usual co n- ligio ns, fo llo wed by co mmercial and admin-
text is the temple, as in Ancient Egypt, which istrative activities. Islam, Christianity, Hin-
gives the who le curriculum a definite shape. duism and Buddhism spread writing wherever
Nevertheless administratio n remains a central they went, fo r it was essential that so me be
aim o f the pro ductio n o f literates; it is part trained to hand o n the religio us traditio n. The
o f the implicit co ntract between church and pro cess was po tentially greater when the sys-
state, which has left its mark o n co ntempo - tem o f writing was alphabetic. In recent times
rary western society (Baines 1983). it has been the aim o f Islam and Po st-Re-
fo rmatio n Christianity to press to wards mass
3.3. The constraints of oral cultures literacy fo r their co nverts. As a result writing
spread to previo usly no n-literate so cieties in
The desire to sto re info rmatio n in a fo rm the co urse o f the expansio n o f these creeds
o ther than in the memo ry alo ne is already fro m centres in the Near East and Euro pe.
present in simple o ral cultures. The reco rding Of co urse the military co nquests o f states like
o f ceremo nial gifts and co ntributio ns, which Ro me also entailed the spread o f a script fo r
have to be returned o n similar o ccasio ns, o f administrative purpo ses, as did the co mmer-
items in marriage transactio ns where o wner- cial netwo rks o f Pho enician and o ther Near
ship as distinct fro m po ssessio n may be at Eastern traders to the East and to the West.
stake, o f the names o f members o f vo luntary But such administrative activities do no t gen-
asso ciatio ns, these activities get inco rpo rated erally lead to the institutio nalisatio n o f liter-
in writing when it beco mes available, as do acy amo ng the lo cal po pulatio ns so that when
elementary co mmercial transactio ns. That de- administrato rs withdraw, the practice o f writ-
sire is insufficient to give rise to writing itself ing might co llapse. It was the religio us gro ups
but makes use o f that skill when it beco mes
31.  On the Threshold to Literacy 435

who fo r their o wn ends were keen o n setting are inevitably inco rpo rated in larger netwo rks
up scho o ls fo r the large-scale training o f lo cal o f po litical, religio us o r eco no mic ties. De-
personnel. spite the fact that writing was o f minimal use
within their o wn lo cal co mmunities, literacy
4.2. Contemporary literacy in the third became available, indeed was o ften at first
world fo rced upo n them. Tho se who acquired these
skills o ften had to leave their co mmunities in
In many co untries the stro ng links between o rder to make use o f their newly-acquired
scho o ls and educatio n co ntinues to this day. talents, acting as intermediaries with the
No w the finances are largely taken o ver by wo rld o utside o r migrating yet further afield.
the state and they co nstitute a very significant Impo sed by the wo rld system and avidly
element in the average budget o f develo ping pro pagated by tho se who had already under-
as o f develo ped co untries. Fro m the stand- go ne the experience, scho o ling makes literacy
po int o f mo ney, effo rt and perso nel, scho o l- no t so much a matter o f learning to write
ing, o f which literacy is an abso lute pre- o ne’s mo ther to ngue, as is the case fo r speak-
requisite, usually takes prio rity beyo nd that ers o f languages o f wo rld circulatio n (which
o f the eco no my, ho using, health, even de- is ho w they develo ped that status), but o f
fence. This emphasis, the result o f wo rldwide learning to read ano ther language which gives
co mpariso n by po liticians and o thers fo r access to co ntempo rary kno wledge. The re-
who se tasks and fo r who se very so cial po si- sults are pro fo und fo r smaller co untries, since
tio ns literacy is essential, has given the struc- parliamentary pro ceedings, newspapers, ra-
ture o f many develo ping co untries a particu- dio , the acquisitio n o f ‘info rmatio n’, all de-
lar twist. Earlier written cultures went pend upo n a seco nd language. That is go o d
thro ugh lo ng perio ds when the ability to read fo r ‘mo dernisatio n’ but marginalises the ro le
and write was achieved o nly by a mino rity. o f lo cal languages and cultures. Literacy acts
Much pro to -industrial activity was set o n fo o t as a ho mo genising facto r in large regio ns such
by a largely illiterate wo rk fo rce and it co uld as China where, by using the lo go graphic
be argued that such a parsimo nio us divisio n script, individuals can co mmunicate by writ-
o f labo ur was a co nditio n o f earlier gro wth. ing o ver wide areas even when they canno t
The attempt to pro duce mass literacy in so - understand each o ther’s speech. Such co m-
cieties with a lo w eco no mic base may have municatio n is po ssible between Chinese, Jap-
advantages o f a so cial kind but it is undo ubt- anese and Ko reans, in rather the same way
edly very co stly in o ther repects. The sight o f as classical Arabic o r Latin was earlier in the
yo ung ado lescents wo rking in the fields o r Islamic o r Christian wo rlds. Writing is as
wo rksho ps sho cks many Euro peans. It is no t go o d fo r the culture o f the glo bal village as
clear that the sudden abando nment o f the it is harmful in the lo ng run fo r the culture
pro ductive labo ur po wer o f all the yo unger of the locality.
members o f so ciety by the intro ductio n o f
co mpulso ry educatio n in African co untries
can be sustained witho ut co nsiderable aid 5. References
fro m o utside. No r is it clear that in the early
stages o f mo dernisatio n a full life canno t be Baines, Jo hn. 1983. Literacy and ancient Egyptian
led witho ut writing, given the stro ng depend- society. Man N. S. 18, 572—99.
ence o n the earlier o ral culture and the lack Dewdney, S. 1975. The Scro lls o f the So uthern
o f written materials in lo cal languages. In Ojibway. Toronto.
Africa few are o n the thresho ld o f literacy Fairservice Jnr. William. A. 1983. The script o f the
until they have also mastered a language o f Indus Valley civilizatio n. Scientific American 248,
wo rld circulatio n such as English o r French, 44—52.
since if their cultures were previo usly no n- Go o dy, Jack. 1986. The Lo gic o f Writing and the
literate, they were by definitio n devo id o f Organisation of Society. Cambridge.
their o wn reading matter and are fo rced to —. 1987. The Interface between the Written and
rely on that of others. the Oral. Cambridge.
Hawkins, J. A. 1979. The o rigin and disseminatio n
4.3. The disappearance of thresholds o f writing in Western Asia. In: Mo o rey, P. R. S.
Such develo pments meant that the no tio n o f (ed.), Origins of civilization. Oxford, 128—166.
a thresho ld fo r literacy no lo nger make any Landsberger, B. 1937. Materialien zum Sume-
sense at the so cietal level. No n-literate peo ple rischen Lexikon. 1. Die Serie anna ittsu. Rome.
436 IV. Schriftkulturen

Marcus, Jo yce. 1976. The o rigin o f Meso american tablets’. Visible Language 15, 321—44.
writing. Annual Review o f Anthr o op ol gy 5, Scribner, Sylvia & Co le, Michael. 1981. The Psy-
35—67. chology of Literacy. Cambridge, Mass.
Mallery, G. 1893. Picture-writing o f the American Schengde, M. J. 1985. The inscribed calculi and the
Indians. Washington D. C. inventio n o f writing: the Indus view. J. Eco n. So c.
Nissen, Hans-Jürgen, Damero w, Peter & Englund, Hist. Orient 28, 50—80.
Ro bert K. 1990. Frühe Schrift und Techniken der Zuidema, T. 1982. Bureaucracy and systematic
Wirtschaftsverwaltung im alten Vo rderen Orient: kno wledge in Andean civilizatio n. In: Co llier,
Inf
o rmatio nsspeicherung und -verarbeitung ov r G. A., Ro saldo , R. L. & Wirth, J. D. (ed.), The
5000 Jahren. Berlin. Inca and the Aztec states 1400—1800: anthro po l-
Schmandt-Besserat, Denise. 1981. Fro m to kens to ogy and history. New York.
tablets: a revaluatio n o f the so -called ‘numerical
Jack Goody, Cambridge (Great Britain)

32. Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

1. Der hànzì-Kulturkreis — Begriffsbestimmung klassischen Schriftsprache, die im alten China


2. Entstehung und historisches Umfeld zur Aufzeichnung vo n Texten und Do kumen-
3. Die Ausbreitung der hànzì-Kultur in Ostasien ten Verwendung gefunden hatte, ano rdneten.
4. Hànzì, hanja und kanji im heutigen Ostasien Dieser schriftsprachliche Stil heißt im mo der-
5. Literatur nen Chinesischen gŭwén (wörtl. ‘alte Schrift/
Texte’), in Japan kambun und in Ko rea han-
mun (beide: ‘chinesische Schrift/Texte’).
1. Der hànzì-Kulturkreis — Daß in China die gespro chene und die ge-
Begriffsbestimmung schriebene Sprache bereits in frühester Zeit
Am äußersten Rand des eurasischen Ko nti- erheblich differierten, ist zur Genüge bekannt.
nentes, in einem Gebiet, das man auf euro - Die ältesten erhaltenen chinesischen Schrift-
päischen Karten stets am weitesten rechts pla- zeugnisse sind die Shāng-zeitlichen Orakel-
zierte und deshalb „Ferno st“ nannte, exi- inschriften (chin. bŭcí, jap. bokuji), die auf
stierte lange Zeit eine Kulturgemeinschaft, die Schildkrötschalen o der Rinderkno chen und
gemeinhin als „hànzì-Kulturkreis“ (chin. hàn- dergleichen geritzt wurden und in ihrer Ge-
zì = ‘chinesische Schriftzeichen’; jap. kanji; samtheit deshalb auch als jiǎgŭwén, jap.
kor. hanja) bezeichnet wird. kôkotsubun ‘Inschriften auf Kno chen und
Es handelte sich dabei, vereinfacht gesagt, Schildkrötpanzern’ bezeichnet werden (→
um eine Gemeinschaft vo n Menschen, die Art. 26; Taf. XI). Die Texte, die etwa aus dem
aufgrund ihrer Lese- und Schreibfähigkeit 13. bis 10. Jahrhundert v. Chr. stammen, sind
chinesischer Schriftzeichen schriftsprachlich, äußerst ko nzis; daß es sich um Entsprechun-
das heißt mittels nach bestimmten fo rmellen gen der damals gespro chenen Sprache han-
und grammatischen Regeln in chinesischen deln könnte, ist auszuschließen. Zu den älte-
Schriftzeichen fixierter Texte miteinander sten erhaltenen chinesischen Schriftzeugnis-
ko mmunizieren ko nnten, o hne das Medium sen zählen ferner die Bro nzeinschriften, die
der gespro chenen Sprache in Anspruch neh- etwa zur gleichen Zeit wie die Orakelinschrif-
men zu müssen. Damit sprengte der hànzì- ten entstanden und bis in die Zhōu-Zeit (um
Kulturkreis Staats- und Dynastiegrenzen und 1025 bis 221 v. Chr.) hinein auf den Innen-
überkam alle aufgrund lo kal gespro chener seiten vo n Bro nzegefäßen, die man für reli-
Sprachen bestehenden Unterschiede. giöse Zeremo nien und Rituelle go ß, zu finden
Vo m Altertum bis in die jüngste Vergan- sind; aber auch diese Bro nzeinschriften (jīn-
genheit bestand mithin für die Bewo hner wén, jap. kimbun) spiegeln nicht einfach die
mehrerer Länder des Fernen Ostens die Mög- gespro chene Sprache der Epo che wider. Vo n
lichkeit, sich tro tz unterschiedlicher Sprachen den ersten schriftlichen Aufzeichnungen an
frei miteinander zu verständigen, so fern sie schrieb man also in China anders, als man
sich nur chinesischer Schriftzeichen bedienten sprach.
und diese syntaktisch nach den No rmen der Der traditio nelle, no rmative Stil der klas-
sischen chinesischen Schriftsprache — güwén
436 IV. Schriftkulturen

Marcus, Jo yce. 1976. The o rigin o f Meso american tablets’. Visible Language 15, 321—44.
writing. Annual Review o f Anthr o op ol gy 5, Scribner, Sylvia & Co le, Michael. 1981. The Psy-
35—67. chology of Literacy. Cambridge, Mass.
Mallery, G. 1893. Picture-writing o f the American Schengde, M. J. 1985. The inscribed calculi and the
Indians. Washington D. C. inventio n o f writing: the Indus view. J. Eco n. So c.
Nissen, Hans-Jürgen, Damero w, Peter & Englund, Hist. Orient 28, 50—80.
Ro bert K. 1990. Frühe Schrift und Techniken der Zuidema, T. 1982. Bureaucracy and systematic
Wirtschaftsverwaltung im alten Vo rderen Orient: kno wledge in Andean civilizatio n. In: Co llier,
Inf
o rmatio nsspeicherung und -verarbeitung ov r G. A., Ro saldo , R. L. & Wirth, J. D. (ed.), The
5000 Jahren. Berlin. Inca and the Aztec states 1400—1800: anthro po l-
Schmandt-Besserat, Denise. 1981. Fro m to kens to ogy and history. New York.
tablets: a revaluatio n o f the so -called ‘numerical
Jack Goody, Cambridge (Great Britain)

32. Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì)

1. Der hànzì-Kulturkreis — Begriffsbestimmung klassischen Schriftsprache, die im alten China


2. Entstehung und historisches Umfeld zur Aufzeichnung vo n Texten und Do kumen-
3. Die Ausbreitung der hànzì-Kultur in Ostasien ten Verwendung gefunden hatte, ano rdneten.
4. Hànzì, hanja und kanji im heutigen Ostasien Dieser schriftsprachliche Stil heißt im mo der-
5. Literatur nen Chinesischen gŭwén (wörtl. ‘alte Schrift/
Texte’), in Japan kambun und in Ko rea han-
mun (beide: ‘chinesische Schrift/Texte’).
1. Der hànzì-Kulturkreis — Daß in China die gespro chene und die ge-
Begriffsbestimmung schriebene Sprache bereits in frühester Zeit
Am äußersten Rand des eurasischen Ko nti- erheblich differierten, ist zur Genüge bekannt.
nentes, in einem Gebiet, das man auf euro - Die ältesten erhaltenen chinesischen Schrift-
päischen Karten stets am weitesten rechts pla- zeugnisse sind die Shāng-zeitlichen Orakel-
zierte und deshalb „Ferno st“ nannte, exi- inschriften (chin. bŭcí, jap. bokuji), die auf
stierte lange Zeit eine Kulturgemeinschaft, die Schildkrötschalen o der Rinderkno chen und
gemeinhin als „hànzì-Kulturkreis“ (chin. hàn- dergleichen geritzt wurden und in ihrer Ge-
zì = ‘chinesische Schriftzeichen’; jap. kanji; samtheit deshalb auch als jiǎgŭwén, jap.
kor. hanja) bezeichnet wird. kôkotsubun ‘Inschriften auf Kno chen und
Es handelte sich dabei, vereinfacht gesagt, Schildkrötpanzern’ bezeichnet werden (→
um eine Gemeinschaft vo n Menschen, die Art. 26; Taf. XI). Die Texte, die etwa aus dem
aufgrund ihrer Lese- und Schreibfähigkeit 13. bis 10. Jahrhundert v. Chr. stammen, sind
chinesischer Schriftzeichen schriftsprachlich, äußerst ko nzis; daß es sich um Entsprechun-
das heißt mittels nach bestimmten fo rmellen gen der damals gespro chenen Sprache han-
und grammatischen Regeln in chinesischen deln könnte, ist auszuschließen. Zu den älte-
Schriftzeichen fixierter Texte miteinander sten erhaltenen chinesischen Schriftzeugnis-
ko mmunizieren ko nnten, o hne das Medium sen zählen ferner die Bro nzeinschriften, die
der gespro chenen Sprache in Anspruch neh- etwa zur gleichen Zeit wie die Orakelinschrif-
men zu müssen. Damit sprengte der hànzì- ten entstanden und bis in die Zhōu-Zeit (um
Kulturkreis Staats- und Dynastiegrenzen und 1025 bis 221 v. Chr.) hinein auf den Innen-
überkam alle aufgrund lo kal gespro chener seiten vo n Bro nzegefäßen, die man für reli-
Sprachen bestehenden Unterschiede. giöse Zeremo nien und Rituelle go ß, zu finden
Vo m Altertum bis in die jüngste Vergan- sind; aber auch diese Bro nzeinschriften (jīn-
genheit bestand mithin für die Bewo hner wén, jap. kimbun) spiegeln nicht einfach die
mehrerer Länder des Fernen Ostens die Mög- gespro chene Sprache der Epo che wider. Vo n
lichkeit, sich tro tz unterschiedlicher Sprachen den ersten schriftlichen Aufzeichnungen an
frei miteinander zu verständigen, so fern sie schrieb man also in China anders, als man
sich nur chinesischer Schriftzeichen bedienten sprach.
und diese syntaktisch nach den No rmen der Der traditio nelle, no rmative Stil der klas-
sischen chinesischen Schriftsprache — güwén
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 437

bzw. jap. kambun und ko r. hanmun — bildete bis dahin gültigen Werte führte, hielt dieser
sich vermutlich vo m fünften bis dritten vo r- Zustand bis zur Revo lutio n im Okto ber 1911
christlichen Jahrhundert heraus; am Anfang und dem gleichzeitigen Ende der Qīng-Dy-
standen die in der chinesischen Geistesge- nastie etwa zweitausend Jahre lang an.
schichte unter dem Begriff zhūzĭ băijiā zusam- Zur Festigung der Vo rmachtstellung des
mengefaßten Do kumente — Texte, in denen Ko nfuzianismus trug wesentlich das zur Zeit
die zur Zeit der Streitenden Reiche (Zhànguó, der Suí-Dynastie (581—618) eingeführte Prü-
475—221 v. Chr.) vo n Herrscherho f zu Herr- fungssystem für die höheren und höchsten
scherho f ziehenden Wanderphilo so phen ihre Beamtenränge bei. Die Prüfungsfragen
diversen Lehrmeinungen fo rmulierten. We- stammten o hne Fehl aus dem Kano n der ko n-
sentlichen Anteil daran, daß dieser Stil sich fuzianischen Schriften, so daß sich die männ-
bei den Intellektuellen des späteren China als lichen Nachko mmen der gebildeten Schichten
schriftsprachlicher Standard etablierte, hatte bereits im zarten Alter vo n drei o der vier
o hne Zweifel die zur Frühen Hàn-Zeit (206 Jahren auf deren Studium ko nzentrierten, um
v. Chr.—8 n. Chr.) unter Kaiser Wŭ Dì (Re- im wahrsten Sinne des Wo rtes Seite für Seite
gierungszeit 140 bis 88 v. Chr.) erfo lgte „Auf- zu verinnerlichen und bis hin zu den Stan-
wertung des Ko nfuzianismus zur Staatsideo - dardko mmentaren auswendig zu lernen. So
logie“. wurden die vo n Ko nfuzius und anderen ver-
Der im Lande Lŭ im Südwesten der heu- faßten Schriften, die die zentralen Ideen und
tigen Pro vinz Shāndōng gebo rene Ko nfuzius Vo rstellungen dieser Lehre enthielten, in der
(552—479 v. Chr.) ko difizierte die grundle- traditio nellen chinesischen Gesellschaft für je-
genden gesellschaftlichen Verhaltensweisen den Gebildeten zur Pflichtlektüre. Abgefaßt
und lehrte die Möglichkeit einer harmo ni- waren sie in jenem schriftsprachlichen Stil,
schen Lenkung des Staates und der Gesell- den die Denker zur Zeit der Streitenden Rei-
schaft durch gegenseitige Achtung und Rück- che verwendet hatten. Die durchgängige Ver-
sichtnahme (die fünf Kernbeziehungen: zwi- wendung beinahe ein- und desselben Stiles in
schen Fürst und Staatsdiener, Vater und Texten, die mehrere Jahrhunderte vo r Chri-
So hn, Mann und Frau, älterem und jüngerem stus geschrieben wurden, und in so lchen, die
Bruder, Freund und Freund). In der Qín-Zeit aus dem 20. Jahrhundert stammen, dürfte ein
(221—206 v. Chr.) war der Ko nfuzianismus weltweites Unikum sein; in China dagegen
unter Kaiser Shǐ Huángdì bis an den Rand war es alltäglich und wurde aufgrund der
der Auslöschung unterdrückt wo rden, hatte o ben skizzierten gesellschaftlichen Gegeben-
in der Hàn-Zeit jedo ch wieder einen allmäh- heiten nie in Frage gestellt.
lichen Aufschwung erlebt, bis er zur Blüte der Dieser grundlegende Stil, der sich so früh
Hàn unter Wǔ Dì zur zentralen Staatslehre herausgebildet und etabliert hatte, blieb da-
erho ben wurde. Vo n den vielfältigen Lehren nach über Jahrhunderte schriftsprachliche
der zhūzǐ bǎijiā erkannte Wǔ Dì lediglich die No rm, was nicht zuletzt die Regierung und
des Ko nfuzianismus als Staatslehre an, berief Verwaltung des Landes wesentlich erleich-
Pro fesso ren an die in der Hauptstadt Cháng- terte. Vo n weit in der Vergangenheit liegenden
ān gegründete Staatliche Akademie, die die Zeiten an, in denen sich no ch keine landesweit
heiligen Schriften des Ko nfuzianismus lehr- gültige Standardsprache herausgebildet hatte,
ten, ließ do rt vo n den Pro vinzgo uverneuren war es eben diese allero rten verbreitete ge-
ganz Chinas ausgewählte Jugendliche ausbil- schriebene Sprache, die die Vielfalt der im
den und verpflichtete die besten Abso lventen Riesenreich China vo rko mmenden dialekta-
an seinen Ho f. Da die Nähe zum Kaiser si- len Unterschiede, die eine Verständigung über
cheren Ruhm und Karriere bedeutete, wid- das gespro chene Wo rt nicht selten unmöglich
mete sich bald die Jugend des Landes dem machten, überwand und den Bewo hnern er-
Studium der ko nfuzianischen Schriften, um laubte, miteinander zu ko mmunizieren. Und
Zugang zu dieser Schule zu erhalten. dies galt nicht nur für das eigentliche China:
Die Ho chschätzung des ko nfuzianischen Das derart geschriebene Wo rt war in ganz
Systems nahm nach Wǔ Dì no ch erheblich Ostasien verständlich.
zu; als Herrschaftslehre des Staates baute der Die Länder Ostasiens empfingen, wie no ch
Ko nfuzianismus seine zentrale Stellung in der zu schildern sein wird, bereits sehr früh die
Philo so phie und in den Wissenschaften weiter Weihen der chinesischen Ho chkultur, vo r-
aus. Abgesehen vo n extremen Ausnahmezei- nehmlich durch die Übernahme des Ko nfu-
ten wie der Mo ngo lenherrschaft (Yuan-Zeit, zianismus. Auf der ko reanischen Halbinsel
1234—1368), die zu einer Umkehrung aller wie in Japan bedeutete „Wissenschaft“ lange
438 IV. Schriftkulturen

Zeit nichts anderes als das Studium der ko n- Tag zur schriftlichen Fixierung vo n Texten
fuzianischen Klassiker. Verdeutlicht wird dies eingesetzt werden.
durch die Tatsache, daß das in den Ländern Die genauen histo rischen Daten der Ent-
Ostasiens meistgelesene und am häufigsten stehung wie der Dauer dieses Kulturkreises
nachgedruckte Werk das Lúnyǔ war, die „Ge- sind jedoch äußerst schwer zu bestimmen.
spräche“ des Konfuzius. Aus altchinesischen Schriften, in denen sich
Die chinesischen Schriftzeichen nun, die Beschreibungen Japans und der ko reanischen
hànzì, dienten ursprünglich zur schriftlichen Halbinsel finden, ist zu ersehen, daß China
Fixierung der Sprache des chinesischen Vo l- seine innere und äußere po litische Stabilität
kes der Hàn. Mit der Tradierung des Ko n- etwa zur Frühen Hàn-Zeit (206 v. Chr.—8
fuzianismus fand dieses Schriftsystem jedo ch n. Chr.) erreichte, eine Zeit, in der es auch
über seine innerchinesische Ro lle hinaus in Interesse an den umliegenden Ländern zu zei-
ganz Ostasien Verbreitung und diente schließ- gen begann und mit verschiedenen Staaten
lich im Altertum als eine Art internatio nale diplo matische Beziehungen anknüpfte; damit
Gemeinschrift. So entstanden in dieser Re- kann die Frühe Hàn-Zeit als Epo che gelten,
gio n der Erde Gemeinschaften, die mittels in der die ersten Anfänge des hànzì-Kultur-
der chinesischen Schriftzeichen und dem im kreises keimten. Das Nachlassen der Ein-
alten China entwickelten schriftsprachlichen flußsphäre dieser Kulturgemeinschaft, der
No rmstil Austausch pflegen ko nnten, Ge- Anfang ihres Niederganges, fällt etwa mit je-
meinschaften, die in ihrer Gesamtheit den ner Zeit zusammen, als der Ko nfuzianismus
„hànzì-Kulturkreis“ ausmachen. in den Gesellschaften Ostasiens seine jahr-
Zu diesem Kulturkreis, in dessen Zentrum hundertelange Vo rmachtstellung als abso lutes
natürlich China, das Mutterland der hànzì, Wertesystem einzubüßen begann, als aus dem
stand, gehörten jene Länder Asiens, die mit Euro pa nach der Industriellen Revo lutio n
China diplo matische Beziehungen unterhiel- eine neue Zivilisatio n mit mo dernem Gedan-
ten o der Handel trieben. Das waren im Osten kengut und ho chentwickelten Techno ol gien
die Königreiche der ko reanischen Halbinsel nach Ostasien drang, als, ko nkret, China
so wie, jenseits des Meeres, Japan, im Westen nach dem verlo renen Opium-Krieg (1842)
die an der „Seidenstraße“, der gro ßen Ost- halb ko lo nialisiert wurde und beispielsweise
West-Verkehrsader, gelegenen Länder und Japan nach der Meiji-Restauratio n (1868)
südlich davo n unter anderem Vietnam. Nicht energisch daranging, einen neuen Staat nach
dazu gehörten die Staaten im No rden Chinas dem Vo rbild der westlichen Gesellschaften zu
und das im Westen gelegene, kulturell ho ch- errichten. Vo n dieser Zeit an, etwa ab Mitte
entwickelte Tibet. Zwar war auch do rt die des 19. Jahrhunderts also , hielt sich die auf
chinesische Kultur samt Schriftzeichen rezi- dem Medium der chinesischen Schriftzeichen
piert wo rden, und nicht wenige Menschen beruhende Kulturgemeinschaft in ihrem
verfügten über die Kenntnisse, sich dieses Me- Glanz nur no ch so lange, bis sich die aus dem
diums frei zu bedienen. Letztlich aber schaffte Westen eingeströmten neuen Wertvo rstellun-
man in diesen Ländern die hànzì ab und ent- gen endgültig durchgesetzt hatten.
wickelte — mit allen kulturellen Ko nsequen- Heute gibt es im Fernen Osten keinen in
zen — eigenständige Schriften. irgendeiner Fo rm einigenden “hànzì-Kultur-
Oberflächlich betrachtet läßt sich der kreis“ mehr. Selbst die chinesischen Schrift-
hànzì-Kulturkreis mit der in Euro pa seit zeichen an sich haben ihren Rang als d i e
dem Mittelalter vo rherrschenden Religio ns- Schrift Ostasiens verlo ren; als hauptsächliches
gemeinschaft der römisch-katho lischen Kir- Mittel zur alltäglichen Aufzeichnung vo n
che vergleichen, die, mit dem Papst im Zen- Sprache werden sie nur no ch in China und in
trum, aufs engste durch das Band der latei- Japan eingesetzt. Die traditio nelle Bezeich-
nischen Sprache verbunden war. Die weit grö- nung „hànzì-Kulturkreis“ allerdings wird als
ßere zeitliche wie auch geo graphische Aus- eine Art Kürzel zur zusammenfassenden Be-
dehnung des hànzì-Kulturkreises zeigt jedo ch nennung der kulturellen Charakteristika der
die Grenzen eines so lchen Vergleiches. Im Region nach wie vor häufig benutzt.
Euro pa vo n heute wird zudem das Lateini- So wurde etwa 1986 in Tôkyô ein inter-
sche im Alltag nicht mehr gespro chen; es lebt natio nales Sympo sium zur „Geschichte und
nur in sehr limitierter Fo rm als Kirchenspra- Zukunft der hànzì-Kultur“ veranstaltet. Or-
che und als Gegenstand der Fo rschung fo rt, ganisiert und ko o rdiniert hatte diese Veran-
während in den Ländern Ostasiens die chi- staltung, an der neben japanischen Wissen-
nesischen Schriftzeichen nach wie vo r Tag für schaftlern Gelehrte aus China, Ko rea und
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 439

Vietnam teilnahmen, der vo r wenigen Jahren sich ausschließlich mit Fragen der chinesi-
versto rbene, weltweit reno mmierte Sprach- schen Schriftzeichen beschäftigen. Im Mittel-
wissenschaftler Hashim o ot Mantarô. Die punkt steht dabei stets die vo n den Wissen-
während des mehrtägigen Sympo siums ge- schaftlern der betro ffenen Länder mit gro ßem
haltenen Vo rträge und die Ergebnisse der Dis- Eifer diskutierte histo rische Bedeutung und
kussio nen sind in dem 1987 publizierten Ta- zukünftige Entwicklung des ehemaligen o st-
gungsband Kanji-minzoku no ketsudan — asiatischen „hànzì-Kulturkreises“. Die chine-
kanji no mirai ni mukete [Entscheidungen der sischen Schriftzeichen bilden aus verschiede-
hànzì-Völker — für eine Zukunft der chine- nen Gründen gegenwärtig nicht mehr das
sischen Schriftzeichen] enthalten. starke einigende Band vo n einst; gleichwo hl
Eine ähnliche Veranstaltung mit dem hat diese Kulturgemeinschaft auch vo n der
Thema „Die chinesischen Schriftzeichen im heutigen, internatio nalen Warte aus gesehen
Alltag der Länder des hànzì-Kulturkreises“ durchaus Bedeutung; die Möglichkeit regio -
fand im September 1991 in Seo ul statt; die naler Zusammenschlüsse und freundschaftli-
Teilnehmer kamen aus Ko rea, Japan und chen Austausches auf der Basis des Mediums
China. Im Vo rdergrund standen dabei Fragen hànzì ist nach wie vo r gegeben. Wünschens-
der Einstellung zu den chinesischen Schrift- wert und erfo rderlich ist, daß in Zukunft auch
zeichen in den jeweiligen Ländern so wie zu- Wissenschaftler aus Ländern, die nicht zum
sammenfassende Darstellungen im Alltag hànzì-Kulturkreis gehören, vo r allem aus
auftauchender Schriftprobleme. Euro pa und Amerika, intensiv an der Erör-
Vo n Bedeutung ist hier, daß diese Tagung terung solcher Fragen teilnehmen.
in Südko rea ausgerichtet wurde, einem Land,
das, wie no ch zu zeigen sein wird, vo n der
Schriftzeichenkultur bereits beträchtlich ent- 2 Entstehung und historisches Umfeld
fremdet ist, ferner, daß auch drei Wissen-
schaftler aus der Vo lksrepublik China teilnah- Überall in den an China grenzenden Gebieten
men, mit der Südko rea zu diesem Zeitpunkt — auf der ko reanischen Halbinsel und in
no ch keine diplo matischen Beziehungen un- Japan im Osten, im No rden in der Mo ngo lei
terhielt. Da auch zwei Teilnehmer aus dem und Mandschurei, im Westen in Tibet, ferner
Südko rea traditio nell freundschaftlich geso n- in den an der vo n Westen nach Zentralasien
nenen Taiwan angereist waren, bo t die Ta- verlaufenden „Seidenstraße“ gelegenen Län-
gung in Seo ul Gelegenheit zu umfassenden dern und im Süden in Thailand und in Viet-
Diskussi o nen zwischen hànzì-Wissenschaft- nam — entstanden und vergingen im Alter-
lern vo m Festland und aus Taiwan, wie sie tum verhältnismäßig kleine Reiche und Dy-
bis dahin weder in Běijīng no ch in Táiběi nastien. Eine ho chentwickelte Zivilisatio n be-
möglich gewesen waren. Der ursprüngliche saß nur China. Scho n sehr früh galt das Reich
Plan, auch Wissenschaftler aus der Vo lksre- seinen Nachbarn deshalb als Land der Ho ch-
publik Ko rea (No rdko rea) einzuladen, mußte kultur, von dem man zu lernen habe.
jedo ch aus verschiedenen Gründen scheitern. Bald nach ihrer innenpo litischen Stabilisie-
Die Regierung der nach dem Zweiten Welt- rung erstreckte die im Zentrum Chinas ent-
krieg im No rden der ko reanischen Halbinsel standene mächtige Hàn-Dynastie ihren Ein-
entstandenen os zialistischen o V lksrepublik flußbereich auf die Nachbarstaaten, unter-
schaffte die chinesischen Schriftzeichen bald warf sie o der band sie als Vasallen an sich
gänzlich ab, und heute wird do rt zur Ver- und erlegte ihnen die Pflicht der regelmäßigen
schriftung ausschließlich das im 15. Jahrhun- Entsendung von Gesandtschaften auf.
dert entwickelte eigenständige han’gŭl-Alpha- Nach der traditio nellen chinesischen Denk-
bet verwendet; die Haltung no rdko reanischer weise bildete das „Reich der Mitte“ im wahr-
Wissenschaftler zum Thema hànzì wäre des- sten Sinne des Wo rtes den Mittelpunkt der
halb vo n beso nderem Interesse gewesen. Es Welt und war den umliegenden „Barbaren“
ist zu ho ffen, daß sich das erklärte Vo rhaben kulturell und geistig abo lut überlegen. Der
der südko reanischen Veranstalter, beim näch- über dieses Reich der Mitte gebietende Herr-
sten derartigen Sympo sium unter allen Um- scher war nicht einfach ein aufgrund po liti-
ständen auch Wissenschaftler aus dem „No r- scher und militärischer Stärke aus irgend-
den“ dabeihaben zu wo llen, in die Tat umset- welchen Wirren siegreich hervo rgegangener
zen läßt. Fürst, so ndern galt als irdischer Beauftragter
Die beiden genannten Veranstaltungen des „Himmels“, der höchsten und abso luten,
waren und sind beileibe nicht die einzigen, die das Universum beherrschenden Macht und
wurde folglich als „Himmelssohn“ tituliert.
440 IV. Schriftkulturen

Kulturelles Überlegenheitsgefühl und Die Gunst des „Himmelsso hnes“, um no ch


Ho chschätzung der jeweils eigenen Wertvo r- einmal zum Altertum zurückzukehren, er-
stellungen sind natürlich kein spezifisch chi- streckte sich nach traditio neller Vo rstellung
nesisches Charakteristikum; im alten China auch auf die benachbarten „Barbaren„völker,
äußerten sie sich jedoch in extremer Form. die ihrer Kultur so mit dank des Herrschers
Bei der traditio nellen chinesischen Denk- des „Reiches der Mitte“ teilhaftig wurden.
weise handelte es sich um eine völkische Über- Ihren Dank dafür hatten die „Barbaren“-
legenheitsphilo so phie, die die das Reich der staaten durch regelmäßige Gesandtschaften
Mitte beherrschenden Hàn scho n in sehr frü- und durch Tributzahlungen zum Ausdruck zu
her Zeit entwickelten, ein Pro zeß, der, wie uns bringen.
die Geistesgeschichte lehrt, vo n der Zeit der Auch dieses Tributsystem galt als den
Streitenden Reiche an bis zur Qín-Dynastie „Barbaren“ vo m „Himmelsso hn“ gewährte
und damit etwa parallel zur Etablierung der Gnade. China war seit jeher gro ß und reich
ko nfuzianisch geprägten Mo ral- und Herr- genug gewesen, um sich autark verso rgen zu
schaftslehre verlief. können und bedurfte der „Barbaren-Pro -
Die Hàn, die das Fundament der eigentli- dukte ursprünglich nicht. Diese Länder waren
chen chinesischen Zivilisatio n schufen, be- zudem arm an Resso urcen, und ihre Pro duk-
haupteten gegenüber den Nachbarvölkern tivität war gering; zur Aufrechterhaltung ihres
op litisch wie militärisch eine uneinge- kulturellen Niveaus waren sie auf den Handel
schränkte Vo rmachtstellung, die sich scho n mit China angewiesen. Die Fürsten und Kö-
bald zu einem kulturellen Überlegenheitsge- nige der „Barbaren“ schickten also Gesandt-
fühl steigerte. Schließlich gab man dem eige- schaften und trieben Handel, um in den Besitz
nen Land den schmückenden Namen „Glanz für sie lebensno twendiger Güter zu gelangen,
und Pracht und Blüte der Mitte“ (Zhōnghuá) während in China der für das Reich nicht
und bedachte die Nachbarvölker aller Him- unbedingt erf o rderliche Außenhandel als
melsrichtungen mit pejo rativen Bezeichnun- blo ße Gunst des Kaiserho fes an die Nach-
gen wie „Barbaren“ o der „Wilde“, versagte barstaaten galt.
ihnen also die Anerkennung als gleichwertige So wucherte die traditio nelle chinesische
Staaten. Denkweise bis in das Handelsgebaren hinein.
Der traditio nellen chinesischen Denkweise Den Herrschern der Tribut zahlenden „Bar-
nach war es nur natürlich, daß die „Barba- baren“ verlieh man chinesische Beamtenränge
ren“ sich nach der „Pracht der Mitte“ sehnten und ernannte sie zu Königen vo n Vasallen-
und deren Pro tektio n suchten; Aufstände ge- staaten, die man so dem Universum, dessen
gen das Reich wurden unter keinen Umstän- Zentrum China selbst war, einverleibte. Na-
den geduldet. Dieses Bewußtsein blieb in den türlich behagte Chinas Nachbarn die Ver-
herrschenden Schichten Chinas bis in die er- ächtlichmachung als „Barbaren“ nur wenig.
sten Dekaden des 20. Jahrhunderts hinein tief Das ehrenrührige Tributsystem brachte ihnen
verwurzelt (möglicherweise so gar, wie mit- jedo ch Gewinn, auch wirtschaftlichen, und
unter behauptet wird, bis heute) und führte allein die Tatsache, mit dem im alten Ostasien
letztlich mit dazu, daß sich die Mo dernisie- zivilisato risch unangefo chten an der Spitze
rung Chinas verzögerte. Auch gegenüber stehenden China Beziehungen zu pflegen,
England und anderen mo dernen Staaten Eu- hatte Vo rteile — bei Streitigkeiten mit an-
ro pas pflegte man no ch nach der Industriellen grenzenden Drittstaaten ko nnte man sich bis
Revo lutio n und der Mo dernisierung der Wis- hin zur Gewährung militärischen Beistandes
senschaften das Bewußtsein, diplo matische auf die Pro tektio n durch die Supermacht
Beziehungen zu „barbarischen Vasallenstaa- China verlassen.
ten“ zu unterhalten; ähnlich verhielt man sich Die o ffiziellen Gesandtschaften wurden
gegenüber den christlichen Missio naren, o hne darüber hinaus in China äußerst gastlich
an den der fremden Kultur immanenten reli- empfangen: Unterkunft und Verpflegung
giösen Hintergrund o der die damalige inter- waren unentgeltlich, Esko rten geleiteten sie
natio nale Lage auch nur einen Gedanken zu zu bestens ausgestatteten Gästehallen, und
verschwenden. Die einseitige Fo rderung an man gewährte ihnen Audienzen beim Kaiser.
die Gesandten dieser Länder, dem „Himmels- Den Gesandten aus den Nachbarstaaten, die
so hn“ bei der Audienz entsprechende Reve- sich aus chinesischer Sicht auf der Stufe vo n
renz zu erweisen, verursachte eno rme po liti- Entwicklungsländern befanden, mußte es vo r
sche Probleme. dem Glanz und der Pracht der chinesischen
Hauptstadt geradezu schwindlig werden; zu-
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 441

dem durften sie mit der Bevölkerung freien besucht und aus der Hand des damaligen
Handel treiben und wurden als Gegenleistung „Himmelsso hnes“ Guāngwǔ ein go ldenes Sie-
für ihre Tribute mit chinesischen Beamtenrän- gel empfangen hätten, das 1784 am Kap Ka-
gen versehen und mit auserlesenen Geschen- nan
o saki (Fuku
o ka, Kyûshû) gefunden
ken entlohnt. wurde. Die Siegelinschrift trägt die fünf Zei-
Länder, die wie das Reitervo lk der Hunnen chen mit der Bedeutung „Kö-
im No rden, das mit China vo n der Qín-Dy-
nastie Kaiser Shǐ Huángdìs bis zur Frühen nig [des] Land[es] Na [im zum] Hàn[-Reich
Hàn-Zeit aufs heftigste verfeindet war, dem gehörenden Japan]“. Der Kaiser der Hàn-
Reich bis zuletzt jede Tributzahlung verwei- Dynastie erkannte damit den König vo n Na,
gerten, blieben die Ausnahme. Eine Ko pie der der Gesandte geschickt hatte, o ffiziell als
zur Zeit der Nördlichen und Südlichen Dy- Herrscher über den Staat Na an. Die immer
nastien, als im gespaltenen China immer wie- wieder diskutierte Möglichkeit, daß es sich
der kurzlebige Herrscherhöfe einander ab- bei diesem go ldenen Siegel um eine Fälschung
wechselten, in der südlichen Dynastie Liáng handeln könnte, ist extrem gering. Tro tz sei-
(502—557) angefertigte berühmte Bildro lle — ner nur fünf hànzì muß es deshalb als bedeu-
das Original ist nicht erhalten — zeigt 35 zur tendes Schriftzeugnis gewertet werden und als
Tributzahlung angereiste ausländische Ge- Beleg dafür, daß das Land „Na“ bereits im
sandte und verzeichnet in einem beschreiben- ersten nachchristlichen Jahrhundert Ko ntakte
den Text die Namen und geo graphischen Da- zu China unterhielt.
ten jedes einzelnen vertretenen Landes. Be- Die Übernahme eines Schriftsystems dürfte
reits Mitte des sechsten Jahrhunderts leisteten im auto chtho n schriftlo sen Japan vo r allem
also mehr als dreißig Länder China Tribut, im Zusammenhang mit der Herrschaftsstruk-
eine Zahl, die sich während der Tang-Zeit tur und der Straffung der po litischen Orga-
(618—907), der Epo che der Fo rmung und nisatio n des Landes no twendig gewo rden
Festigung des hànzì-Kulturkreises, no ch bei- sein. Daß die schließlich überno mmene
nahe verdoppelte. Schrift hànzì waren, ergab sich aus der geo -
graphischen Lage des Landes und aus der
allgemeinen po litischen und gesellschaftlichen
3. Die Ausbreitung der hànzì-Kultur Situatio n Ostasiens: Die erste Schrift, mit der
in Ostasien Japan in Berührung kam, war die chinesische;
eine Qual der Wahl gab es nicht.
3.1. Japan Nach der Siegelüberreichung durch Kaiser
Guāngwǔ erreichten alle möglichen Kultur-
Japan wurde etwa zu der Zeit in den hànzì- güter und -pro dukte Japan, darunter viele,
Kulturkreis integriert, als es begann, Tribut- die — wie beispielsweise Spiegel o der Münzen
gesandtschaften nach China zu entsenden. — hànzì-Inschriften trugen. Mehr schlecht als
Die erste Erwähnung Japans in chinesi- recht ahmten die Japaner bald die aus China
schen Quellen findet sich im landeskundlichen erhaltenen Bro nzespiegel nach; viele davo n
Abschnitt (dìlǐ-zhì) der Hàn-Annalen (Hàn- sind erhalten. Nachgeahmt wurden auch die
Shū, 1. Jahrhundert n. Chr.). Do rt heißt es: auf den Originalen eingravierten Texte und
„Die Wa befinden sich [südöstlich vo n] Lè- Inschriften, wo bei allerdings zahlreiche Feh-
làng inmitten des Meeres. Im ganzen sind es ler unterliefen: So verwechselte man etwa die
über hundert Staaten. Einige davo n ko mmen Reihenfo lge der in den Texten enthaltenen
und leisten Tribut.“ Lèlàng war die nach der zyklischen Zeichen (die zur Zeitangabe dienen
Ko lo nialisierung der ko reanischen Halbinsel und in der hànzì-Kultur zum abso luten Basis-
108 v. Chr. im Süden der heutigen no rdko - wissen gehören), schrieb Zeichen do ppelt, ver-
reanischen Hauptstadt P’yŏngyang eingerich- tauschte die rechten (tsukuri)und linken (hen)
tete Residenzstadt. „Wa“ bezeichnet das heu- Bestandteile ho rizo ntal gegliederter Schrift-
tige Japan. Einige der „über hundert Staa- zeichen o der pro duzierte gar irgendwelche
ten“, in die Japan damals geteilt war, müssen zeichenähnlichen Phantasiegebilde. Die Spie-
also bereits zur Frühen Hàn-Zeit regelmäßig gel stammen alle aus dem 4. bis 5. Jahrhun-
das Festland besucht haben. dert, so daß angeno mmen werden kann, daß
Genauere Angaben als das Hàn-Shū bieten man in Japan, abgesehen vo n einer gering-
die „Berichte über die Ostbarbaren“ in den fügigen Zahl berufsmäßiger, vo m Festland
„Annalen der Späteren Hàn“ (Hòu Hàn-Shū). eingewanderter Schreiber, zu dieser Zeit no ch
Do rt wird erwähnt, daß im Jahre 57 n. Chr. keine Vo rstellung vo m eigentlichen Sinn und
Gesandte des „Landes Na“ die Hàn-Dynastie
442 IV. Schriftkulturen

Zweck vo n Schrift hatte. Die Zeichen waren nischen Halbinsel, in Vietnam und in anderen
den Japanern kaum mehr als Ornament. nicht chinesischsprachigen Ländern eine
Einen klassischen Beleg für die Verwen- Ko mbinatio n vo n beiden Metho den zum
dung vo n Schrift in ihrer eigentlichen Funk- Zuge (→ zur Schriftgeschichte Japans aus-
tio n bieten erstmals die zur Aufrechterhaltung führlich Art. 27, Zf. 1.).
der Beziehungen zu China verfaßten Urkun-
den. So so ll etwa die legendäre Königin Pi- 3.2. Die koreanische Halbinsel
miko des Reiches Yamatai, die im Jahre 293
nach dem Niedergang des Landes „Na“ die Aufgrund der geo graphischen Lage Ko reas
Tributgesandtschaften nach China wieder als peninsulare Verlängerung des Ko ntinentes
aufgeno mmen hatte, der ersten chinesischen besteht die Möglichkeit einer scho n sehr
Gesandtschaft, die Yamatai besuchte und ein früh erfo lgten Übernahme der chinesischen
kaiserliches Begleitschreiben samt Siegel Schriftzeichen. Ihre regelmäßige Verwendung
überreichte, ihrerseits ein Grußschreiben mit dürfte aber auch hier erst in die Zeit nach der
auf den Weg gegeben haben. Ihr Ho f verfügte Errichtung Lèlàngs und der anderen drei Re-
demnach über — wenn auch nicht unbedingt sidenzstädte (108 v. Chr.) durch die Hàn fal-
einheimische — Perso nen, die hànzì schreiben len. Alle ho hen Beamten wurden damals zwar
und Schriftstücke im Stil der klassischen chi- direkt vo n China entsandt, aber bei den in
nesischen Schriftsprache aufsetzen konnten. den Ämtern diensttuenden niedrigeren Rän-
Ein wesentlicher Punkt, der hier der Er- gen handelte es sich um Einheimische; die
wähnung bedarf, ist die Frage, wie es den Verwaltungsaufgaben wurden also vo n Ko -
Japanern möglich war, ein Schriftsystem, das reanern erledigt, und die Schrift, derer sie sich
ursprünglich ausschließlich zur Aufzeichnung bedienten, waren hànzì. Bei den frühesten
der Sprache der Hàn, also des Chinesischen, Schriftzeugnissen der Halbinsel handelt es
ko nzipiert war, später auch zur schriftlichen sich um beschriftete Ziegel und Ho lztafeln;
Darstellung der eigenen, vo m Chinesischen des weiteren existiert eine im Jahre 85 n. Chr.
völlig verschiedenen Sprache einsetzen zu errichtete Steinstele mit einem verhältnismä-
können. Natürlich betrifft dieses Pro blem ßig langen, zusammenhängenden hànzì-Text.
nicht nur Japan, so ndern gilt in gleicher o der Um das dritte Jahrhundert, nach dem Nie-
ähnlicher Fo rm auch für Ko rea, Vietnam dergang der Hàn und der Errichtung dreier
usw.; es war das größte Hindernis auf dem starker, unabhängiger Staaten, der Drei Rei-
Weg der Entstehung des hànzì-Kulturkreises, che Ko guryŏ, Paekche und Silla, beherrschten
aber eines, das sich aufgrund der ursprünglich die Ko reaner so wo hl die chinesischen Schrift-
ideo graphischen Funktio n der chinesischen zeichen als auch die klassische chinesische
Schriftzeichen nicht als unüberwindlich er- Schriftsprache; Do kumente und Schriftstücke
wies. aus dieser Zeit sind erhalten.
Die jedem einzelnen Schriftzeichen eigene Am frühesten entfaltete sich die chinesische
Bedeutung ließ sich auch o hne Kenntnis der Kultur in dem direkt an China grenzenden
jeweiligen chinesischen Aussprache vermit- Ko guryö (37—668). Mitte des 4. Jahrhun-
teln; das galt beso nders für die so genannten derts übernahm man do rt den Buddhismus,
pikt
o graphischen Schriftzeichen, beispiels- und zur etwa gleichen Zeit wurden staatliche
Akademien zur Förderung der Lehre des
weise . Alsbald wurden dann die den hànzì Ko nfuzianismus errichtet. Mit dem Buddhis-
eigenen bzw. zugeo rdneten Bedeutungen mit mus und Ko nfuzianismus kam eine Fülle
äquivalenten Wörtern aus der eigenen Spra- klassischer chinesischer Schriften ins Land,
che „unterlegt“, in diesem Fall ‘Berg’ mit deren Studium bald zum freien Umgang mit
den ursprünglich fremden Schriftzeichen
dem japanischen yama, das sich fo rtan als führte. Auf welch ho hem Niveau die hànzì-
„japanische Lesung“ (kun-yomi) dieses Zei- Kultur Ko guryŏs stand, verdeutlicht die rie-
chens etablierte. Eine zweite Metho de bestand sige, im Jahre 414 errichtete Steinstele Kwang-
darin, die ursprüngliche chinesische bzw. eine gae-t’o, deren majestätisch gehauene, an die
ihr angenäherte Aussprache der hànzì in die quadratischen Schriftfo rmen der Hàn erin-
eigene Sprache zu integrieren (on-yomi; sino - nernden Zeichen vo n den Beziehungen Ko -
japanische, sino ko reanische etc. Aussprache); reas und des alten Japan berichten.
im Falle vo n (neuchinesisch shān) führte Mitte des 7. Jahrhunderts unterwarf Silla
dies in Japan zu der Lesung san. Zur Fixie- Paekche und dann auch Ko guryǒ und
rung der jeweiligen Landessprache kam so - herrschte allein über die Halbinsel. Silla (57
wo hl in Japan wie in den Staaten der ko rea- v. Chr.—668, vereintes Silla 668—935) hatte
nach anfänglichen Auseinandersetzungen
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 443

schließlich die Macht der Táng anerkannt und des Ko reanischen angeo rdnet und vo r allem
Gesandtschaften so wie zum Studium auch Prä- und Suffixe mit lautwertig verwendeten
Mönche nach China geschickt. Man pflegte Schriftzeichen wiedergegeben wurden. Die
intensive kulturelle Ko ntakte. Mitte des 8. Erfindung dieser Schreibweise so ll der Le-
Jahrhunderts wurden Pers o nennamen und gende nach auf einen gewissen Sŏl Ch’o ng
Rangbezeichnungen sinisiert, und Heimkeh- zurückgehen, der zur Zeit des Silla-Königs
rer aus Tang-China erhielten wichtige Ämter Sinmun lebte; aufgrund der Zunahme jener,
und Po sten in der Verwaltung; die Zahl jener, die sich im no rmativen Stil der chinesischen
die die hànzì und die klassische chinesische Schriftsprache auszudrücken verstanden, ge-
Schriftsprache beherrschten, nahm stetig zu. riet sie jedoch bald außer Gebrauch.
Manche der aus Silla entsandten Studenten Die heute in Ko rea verwendete, eigenstän-
bestanden gar die als schwierigste, als Prüfung dig ko reanische Buchstabenschrift han’gŭl
aller Prüfungen geltende ho he chinesische Be- wurde 1443 unter dem vo n der Nachwelt als
amtenprüfung, eine selbst für ho chgebildete größtem aller Yi-Herrscher gefeierten König
Chinesen beinahe unüberwindliche Hürde, Sejo ng (1397—1450) entwickelt und 1446 un-
und wurden Regierungsbeamte am Ho fe der ter der Bezeichnung Hunmin chŏng’ŭm ‘Rich-
Táng. tige Laute zur Unterweisung des Vo lkes’ pu-
Im auf Silla fo lgenden Königreich Ko ryŏ blik gemacht. Die geläufige Bezeichnung war
(918—1392) förderte man weiterhin die Ver- han’gǔl, die „Gro ße bzw. Gro ßartige Schrift“.
breitung des Buddhismus, pflegte aber auch Der Tag der Pro klamatio n der Hunmin chŏng-
den Ko nfuzianismus und führte die Wissen- ŭm, der 9. Okto ber, wird heute in Ko rea als
schaften chinesischen Stils zu neuer Blüte. Im Nationalfeiertag begangen.
Jahre 958 übernahm man das chinesische Sy- Das han’gǔl ist eine pho nemische Schrift,
stem der Beamtenprüfungen; verlangt wurden die Einheiten für Ko nso nanten und Vo kale
Kenntnisse der chinesischen Po esie und der zu silbischen Blöcken gruppiert und deshalb
klassischen chinesischen Schriftsprache, vo r auch Züge einer Silbenschrift besitzt. Die Ge-
allem der konfuzianischen Klassiker. staltung der einzelnen Einheiten so ll auf de-
In der vo n 1392 bis zur Annexio n Ko reas taillierten pho netischen Beo bachtungen ba-
durch Japan (1910) dauernden Yi-Dynastie sieren, und auch das Gesamtsystem ist gera-
wird der Ko nfuzianismus zur herrschenden dezu ein Muster an linguistischer Präzisio n
Staatslehre. Die in dieser Epo che veröffent- und Ratio nalität (→ zur Schriftgeschichte
lichten hànzì-Schriften sind Legio n, und ins- Ko reas ausführlich Art. 27, Zf. 2.). Das han’-
beso ndere die Studien zur Lehre und den gŭl war damit das geeignetste Medium zur
Do gmen des Ko nfuzianismus stehen den in schriftlichen Aufzeichnung der ko reanischen
China verfaßten an Qualität in nichts nach. Sprache, ko nnte sich aber aufgrund des star-
Scho n sehr früh bildete sich also auf der ken chinesischen Einflusses und der Ho ch-
ko reanischen Halbinsel eine Zweisprachigkeit schätzung des Ko nfuzianismus in der tradi-
heraus: Gespro chen wurde Ko reanisch, wäh- tio nellen Gesellschaft lange Zeit nicht als
rend man geschriebene Texte mit hànzì im Stil Amtsschrift durchsetzen.
der klassischen chinesischen Schriftsprache
gestaltete. Natürlich gab es in der Verwen- 3.3. Vietnam
dung der chinesischen Schriftzeichen auch
ko reanische Eigenheiten. Nach anfänglicher Zum hànzì-Kulturkreis gehörte lange Zeit
Schreibung im rein chinesischen Stil ging man auch das an den Süden Chinas grenzende
immer häufiger dazu über, ko reanische Orts- Vietnam. Auch dieses Land stand bereits seit
und Perso nennamen o der Beamtenbezeich- vo rchristlicher Zeit unter dem kulturellen
nungen mit lautwertig eingesetzten Schrift- Einfluß seiner gro ßen nördlichen Nachbarn;
zeichen auszudrücken, wo bei so wo hl reinko - mit China pflegte es enge po litische und kul-
reanische als auch sino ko reanische „Lesun- turelle Ko ntakte. Der chinesische Einfluß ver-
gen“ zum Tragen kamen. Je nach spezifischer stärkte sich merklich ab 679, als die Tang-
Ausprägung wird diese Art des schriftlichen Dynastie in der Gegend des heutigen Hano i
Ausdrucks als idu, kugyŏl o der hyangch’al be- eine „Pro tektio nsregierung Annam“ zur Ko n-
zeichnet. Das bekannteste System ist das idu, tro lle der nichtchinesischen Vo lkschaften ein-
wo bei die hànzì so wo hl in ihren sino ko rea- richtete; eine Fülle vo n Sinismen fand Ein-
nischen als auch reinko reanischen Lautungen gang in die vietnamesische Sprache.
zur Fixierung ko reanischer Wörter und Syn- Die etwa 300jährige Geschichte der „Pro -
tagmen eingesetzt, die hànzì in der Wo rtfo lge tektio nsregierung“ fand ihr Ende mit dem
Niedergang der Táng Mitte des 10. Jahrhun-
444 IV. Schriftkulturen

derts und dem Zusammenbruch des Sìchuān- wendeter Schriftzeichen besteht in der
Yúnnán-Verkehrsweges. Es etablierte sich Schwierigkeit, die einen vo n den anderen zu
eine vo n der chinesischen Herrschaft mehr unterscheiden. Das chũ’ nôm umgeht dieses
o der weniger unabhängige vietnamesische Re- Pro blem, indem es rein pho no lo gisch einge-
gierung. setzte Schriftzeichen durch graphische Zu-
Die erste langfristig stabile Regierung schuf sätze wie oder kenntlich macht.
in diesem Teil Asiens die Ly-Dynastie (1009—
1225); die Hauptstadt war Thang Lo ng (Ha- Diese graphisch als Pho no gramme ausge-
no i). Die anfangs tief buddhistisch geprägte wiesenen Schriftzeichen wurden in einer Art
Dynastie wandte sich später dem Ko nfuzia- Mischtext im Zusammenspiel mit genuinen
nismus zu und führte u. a. ein dem chinesi- hànzì, die man in Vietnam als „ko nfuzianische
schen ähnliches System vo n Beamtenprüfun- Schriftzeichen“ bezeichnete, verwendet. Der-
gen ein. Zugleich erklärte man die hànzì zur art aufgezeichnet sind unter anderem eine
Amtsschrift und anerkannte die klassische Vielzahl literarischer Werke. Mit der Einfüh-
chinesische Schriftsprache als o ffizielle ge- rung der alphabetischen Verschriftung der
schriebene Sprache. In diesem Punkt unter- vietnamesischen Sprache wurden die chũ’ nôm
scheidet sich die Entwicklung, die letztlich bis nach und nach verdrängt; bei einem sehr klei-
zum Ende des 19. Jahrhunderts fo rtdauerte, nen Teil der älteren Bevölkerung so ll aber
in nichts von der in Korea oder Japan. no ch eine gewisse Lesefähigkeit vo rhanden
Während der Ly- und der darauffo lgenden sein.
Chn(Trận)-Dynastie (1225—1400) fand eine Selbst in Ostasien ist heute vielen Men-
Fülle chinesischen Schrifttums Eingang ins schen kaum no ch bewußt, daß Vietnam ein-
Land. Daneben wurde in dieser Zeit aber mal zum hànzì-Kulturkreis gehörte. Die chi-
auch eine auf der Basis der chinesischen nesischen Schriftzeichen sind abgeschafft, die
Schriftzeichen geschaffene und diesen sehr Sprache wird mittels lateinischer Buchstaben
ähnliche, aber do ch eigenständige Schrift ver- verschriftet (benutzt wird das in Frankreich
wendet; man nannte sie chũ’ nôm, was ur- übliche lateinische Alphabet zuzüglich dia-
sprünglich ‘einheimische Vo lksschrift’ bedeu- kritischer Zeichen zur To nhöhenwiedergabe).
tet. Dieses System wird als Quôc ngu (‘Landes-
Die chinesischen Schriftzeichen waren zur sprache’) bezeichnet, geht aber auf ein vo n
Wiedergabe des Vietnamesischen, einer im christlichen Missio naren entwickeltes Tran-
wesentlichen ebenso wie das Chinesische skriptio nssystem zurück, das zum ersten Mal
mo no syllabischen Sprache, gut geeignet. Zur in dem 1651 vo n Alexandre de Rho des her-
Darstellung vo n vietnamesischen Orts- und ausgegebenen Dictionarivm Annamiticvm, Lu-
Perso nennamen wählte man dabei hànzì, de- sitanvm et Latinvm Verwendung fand.
ren chinesische Lautungen mit denen der Allgemeine Verbreitung fand dieses Schrift-
jeweiligen vietnamesischen Silben identisch system zur Zeit der Nguyen-Dynastie (1802—
waren o der ihnen sehr nahe kamen. Die chi- 1945), zu der das Land seine Blütezeit, auch
nesischen Schriftzeichen wurden, mit anderen seine histo risch größte territo riale Ausdeh-
Wo rten, o hne Rücksicht auf ihren semanti- nung erlebte und sich den Namen Việt-Nam
schen Gehalt rein lautwertig gebraucht, ein (‘Land des Südens’) gab; dem ersten Herr-
Prinzip, das man mit den nach der altjapa- scher der Dynastie, Nguyen Anh (Gia Lo ng),
nischen Gedichtsammlung Man’yôshû be- gelang es, das Land mit Hilfe französischer
nannten man ’yôgana, sprich Pho no grammen, Missio nare po litisch zu einen und eine Dy-
vo r der Herausbildung der Silbenschriften hi- nastie nach dem Mo dell der in China herr-
ragana und katakana auch in Japan einsetzte schenden Qīng(Mandschu)-Dynastie aufzu-
und das heute no ch in China zur schriftlichen bauen, stand aber Frankreich und anderen
Wiedergabe westlicher Orts- und Perso nen- Staaten des Westens o ffen gegenüber. In der
namen Verwendung findet. So wird etwa der Fo lgezeit kamen jedo ch starke anti-westliche
Name des Präsidenten der Vereinigten Staa- Gefühle auf, die Missio nare wurden grausam
ten vo n Amerika, Bush, mit den beiden Zei- unterdrückt; schließlich entsandte Frankreich
Streitkräfte. Im Vertrag vo n Saigo n (1862)
chen (Bùsī) wiedergegeben und Lo ndo n stellte Vietnam einen Teil seines Territo riums
als (Lúndūn) geschrieben. Der semanti- unter französische Oberho heit und wurde de
facto vo n Frankreich ko lo nialisiert; Ende des
sche Gehalt der Zeichen spielt dabei keine 19. Jahrhunderts befand sich das Land völlig
Rolle. unter französischer Ko ntro lle, ein Zustand,
Ein Pro blem beim gemischten Einsatz rein der mit dem Zwischenspiel der japanischen
lautwertig so wie nach ihrem Sinngehalt ver-
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 445

Besetzung 1940—1945 bis nach dem Ende des zeichen beherrscht. Hànzì gehörten zur Welt
Zweiten Weltkrieges anhielt. des Ko nfuzianismus und der Intellektuellen,
Auf diese Weise wurde Vietnam teils mit die große Masse der Bevölkerung war illiterat.
Gewalt dem kulturellen Einfluß Chinas ent- Hànzì sind, auch wenn alle, die sie beherr-
rissen und entfernte sich damit no twendiger- schen, dazu neigen, dies zu vergessen, eine
weise vo m hànzì-Kulturkreis. Die Aufzeich- vo n den Zeichenfo rmen her ko mplizierte,
nung der Sprache mittels hànzì und/o der chũ’ schwierig zu lernende und schwer zu schrei-
nôm wurde rasch zugunsten der vo n den Mis- bende Schrift. Hinzu ko mmt die aufgrund des
sio naren entwickelten Lateinumschrift auf- ideo graphischen Charakters der Zeichen no t-
gegeben, die auch heute no ch das gültige wendige schiere Zahl, die den Schrifterwerb
Schriftsystem ist. Hànzì werden nur no ch vo n extrem zeitaufwendig macht. Da es jedo ch in
Teilen der chinesischstämmigen Bevölkerung China, vo r allem im zivilisato risch und kul-
verwendet; insgesamt spielen sie nicht die ge- turell maßgeblichen Hàn-China, keine andere
ringste Ro lle mehr (→ zur Schriftgeschichte Schrift gab, blieb nichts anderes übrig, als zur
Vietnams ausführlich Art. 27, Zf. 3.). Aufzeichnung der Sprache eben diese ko m-
plexen Schriftzeichen zu verwenden. Ihre Er-
lernung erfo rderte langen Unterricht und ein
4. Hànzì, hanja und kanji entsprechendes so ziales Umfeld, so daß die
im heutigen Ostasien der Schrift Kundigen schließlich eine privile-
gierte Schicht bildeten, die die Gesellschaft
4.1. China beherrschte.
Die als ein wesentlicher Bestandteil der
Mit der Ausrufung der Vo lksrepublik China Sprach- und Schriftrefo rmen der Vo lksrepu-
im Okto ber 1949 brach über die hànzì auch blik in Angriff geno mmene Vereinfachung der
im Land ihres Ursprungs eine Welle vo n Re- hànzì zielte darauf, eben diesen Zustand zu
fo rmen herein. Auf Taiwan, in Ho ngko ng und überwinden und die Schrift der breiten Mehr-
unter der chinesischen Bevölkerung Singa- heit des Volkes zugänglich zu machen.
purs lebt die überk o mmene chinesische Bestrebungen zur Vereinfachung der
Schriftkultur — in jeweils mo difizierter Fo rm Schriftzeichen sind allerdings keine Erfindung
— fo rt, auf dem Festland jedo ch, wo die der Vo lksrepublik; sie haben eine lange Tra-
überwältigende Mehrheit der Chinesen lebt, ditio n. Die Geschichte der hànzì ist eine Ge-
änderte sich die die Schriftzeichen betreffende schichte der Bemühungen, sie zu vereinfa-
Lage dramatisch. chen. Bei jeder Entwicklung der Zeichenfo r-
Die Veränderung läßt sich gro b kennzeich- men — vo n den Kno cheninschriften zur Sie-
nen als Übergang vo n einer „passiven“ zu gelschrift, zur Ko nzeptschrift und vo n do rt
einer „aktiv geschaffenen“ hànzì-Kultur. In zu den fließenden Linien der Halbkursiva und
einer Gesellschaft, in der das Vo lk herrschte, der Grasschrift (→ Art. 26) —, bei jedem Be-
galt es, die Ro lle vo n Sprache und Schrift neu mühen, schneller zu schreiben, ging es im
zu überdenken, und scho n bald nach der Grunde immer nur um eines: die Schrift so
Gründung des Neuen China nahm man die weit wie möglich zu vereinfachen. Auch Ver-
Aufgabe einer grundlegenden Schriftrefo rm fahren wie die Vereinfachung vo n Radikal-
in Angriff. zeichen bzw. Klassenhäuptern innerhalb der
Scho n 1940 hatte Máo Zédōng geschrie- quadratischen No rmschrift o der die Erset-
ben, die Kultur des neuen China müsse die zung ko mplizierter Zeichenbestandteile durch
der Massen sein, die Sprache dem Vo lk nä- gleichlautende einfachere waren ganz ge-
hergebracht, die Schrift nach einheitlichen wöhnlich.
Kriterien refo rmiert werden. 1951 gab er dann Was man im Alltag schrieb, waren nicht
die Weisung aus, die “hànzì unbedingt in die Zeichen der ko nfuzianischen Lehrtexte
Richtung auf ein pho no lo gisch o rientiertes o der die der amtlichen Beamtenprüfungen,
Schriftsystem zu refo rmieren, wie es in der so ndern jene vereinfachten Kurzzeichen. Dies
Welt vorherrscht“. belegen eine Vielzahl der zu Beginn dieses
Die ersten aktiven Bemühungen zielten auf Jahrhunderts aus den Höhlen vo n Dūnhuáng
drei Punkte: die Etablierung einer Standard- gebo rgenen alten Schriftro llen, aber auch
sprache, die Schaffung einer pho nemischen viele Druckwerke, die nach der Sòng-zeitli-
Schrift zur Angabe der Lesung vo n hànzì so- chen Erfindung des Buchdruckes hergestellt
wie eine Vereinfachung der hànzì selbst. wurden und nicht zum klassischen ko nfuzia-
Zuvo r hatte zu allen Zeiten stets nur ein nischen Kano n gehören, zum Beispiel Werke
sehr kleiner Teil der Bevölkerung die Schrift-
446 IV. Schriftkulturen

der beliebten Sitten- und Unterhaltungslite- zugelassenen Kurzzeichen im Überblick bo t.


ratur; sie alle enthalten vereinfachte Schrift- Eine weitere „Liste vo n Zeichenfo rmen zur
zeichen. Und selbst jene, die die Schrift be- Verwendung in Druckerzeugnissen“ setzte
herrschten, benutzten bei privaten Aufzeich- einen letzten Standard, vo n dem lediglich
nungen, bei No tizen o der im Briefwechsel mit Nachdrucke klassischer Werke ausgeno mmen
vertrauten Perso nen nicht die Vo llfo rmen waren.
ko mplizierter hànzì, so ndern Kürzel und Die scharfe Haltung der Kulturrevo lutio n
Kurzzeichen. gegen alle überko mmenen Machtstrukturen
Diese „in der Fo rm vereinfachten Zeichen“ trug das ihrige zu einer weiteren Förderung
(jiǎntǐzì, eine Bezeichnung, die heute in China der Kurzzeichen bei; immer mehr auch nicht
für die mo dernen Kurzzeichen benutzt wird) amtlich zugelassene Kürzel wurden geschaf-
wurden „abgekürzte“ (lüèzì) o der „Vulgärzei- fen und erfreuten sich weiter Verbreitung.
chen“ (súzì) genannt und ausschließlich vo n Diese ino ffiziellen, aber allero rten verwen-
bestimmten Schichten bzw. zu beso nderen deten Kurzzeichen führten nach der Zerschla-
Gelegenheiten verwendet; sie galten weniger gung der Kulturrevo lutio n zu einem nicht un-
als die Vo llfo rmen. Mit der Diskussio n um erheblichen Durcheinander in der Schriftzei-
die No twendigkeit einer allgemeinen Schul- chenverwendung, zu dessen Entwirrung im
bildung und angesichts der Tatsache, daß die Dezember 1977 ein „Zweites Pro gramm zur
überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Vereinfachung der Schriftzeichen“ veröffent-
weder lesen no ch schreiben ko nnte, wurden licht wurde, das aber tro tz o der gerade wegen
diese ehemals nicht „gesellschaftsfähigen“ der Inklusio n einer Vielzahl ino ffizieller Kurz-
Zeichen jedo ch in neuem Licht gesehen und zeichen auf wenig Gegenliebe stieß und im
als vo lksnahe, einfache Schrift pro pagiert, die Januar 1986 wieder außer Kraft gesetzt
weiter verbreitet werden müsse. wurde. Unter den aufgeführten Zeichen hat-
Die vo n der Regierung der Vo lksrepublik ten sich nicht wenige nur regio nal bekannte
China erlassenen Bestimmungen zur Refo rm bzw. an Institutio nen und Organisatio nen ge-
der Schriftzeichen wurden im Januar 1956 als bundene Sonderformen befunden.
Hànzì jiǎnhuà fāng’àn ( cǎo’àn) (‘Programm Der Einsatz und die Verbreitung vo n Kurz-
zur Vereinfachung der chinesischen Schrift- zeichen sind jedo ch kein Pro blem mehr, das
zeichen’) veröffentlicht. Das Pro gramm be- sich auf einen Streich po litisch lösen ließe.
stand aus drei Teilen: aus einer Liste vo n Die Zeichen haben eine Eigendynamik ent-
insgesamt 230 bereits in Zeitungen und Zeit- wickelt, die sich nicht einfach per Beschluß
schriften verwendeter und mithin gut bekann- sto ppen läßt. Tatsächlich sieht man heute
ter Kurzzeichen; die entsprechenden Vo llfo r- überall in China in den Geschäftsstraßen und
men wurden außer Kraft gesetzt und durften Ladengassen eine Flut neu geschaffener, amt-
nur no ch in Nachdrucken klassischer Werke lich nicht sanktio nierter Kurzzeichen, und ein
und ähnlichen So nderfällen benutzt werden; Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.
zweitens aus einer Zusatzliste vo n 285 vo rläu- Tro tzdem gibt es nirgendwo ko nkrete An-
figen Kurzzeichen, die zwar als unpro blema- sätze, die hànzì gänzlich abzuschaffen.
tisch galten, deren Akzeptanz durch die Öf- Lǔ Xùn (1881—1936), der Vater der mo -
fentlichkeit aber abgewartet werden so llte; dernen chinesischen Literatur und zugleich
drittens aus einer Liste 54 abgekürzter Radi- Schriftrefo rmer und eifriger Verfechter des
kale, auf deren Basis sich eine Fülle weiterer Einsatzes des lateinischen Alphabetes, hatte
Kurzzeichen schaffen ließ (= alle Zeichen, in die extreme Ansicht vertreten (entweder gin-
denen einer der abgekürzten Radikale Be- gen die hànzì unter o der aber China), und
standteil war). auch Máo Zédōng hatte sich, wie erwähnt,
Die Regierung betrieb diese Schriftpo litik für eine Entwicklung hin zu einer pho -
mit gro ßer So rgfalt und Vo rsicht; die Kurz- no ol gisch ausgerichteten Schrift eingesetzt.
zeichen wurden jedo ch vo n der Öffentlichkeit Gleichwo hl liegt die vo n China langfristig an-
mit Begeisterung aufgeno mmen und setzten gestrebte Abschaffung der hànzì und ihre Er-
sich bald in amtlichen Publikatio nen ebenso setzung durch ein pho no lo gisches Schriftsy-
wie in Zeitschriften und Zeitungen als o ffizi- stem im Sinne Lǔ Xùns und Mao s wo hl no ch
elle Fo rmen der Schriftzeichen durch. Im Mai in weiter Ferne.
1964 erschien dann eine ‘Generalliste verein- Das als erster Schritt in diese Richtung
fachter Schriftzeichen’ (jiǎnhuàzì zǒngbiǎo), geschaffene No tatio nssystem hànyǔ pīnyīn
die die Bestimmungen zur Abkürzung vo n dient nur als pho netische Hilfsschrift für die
Radikalzeichen weiter spezifizierte und alle hànzì; zur ausschließlichen Aufzeichnung der
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 447

chinesischen Sprache wird es nicht eingesetzt. der Grund- und Mittelschulen ausschließlich
Ein System, das diese Funktio n übernehmen han’gǔl zu verwenden waren; hanja durften
könnte, wurde bisher no ch nicht entwickelt. nur in Ausnahmefällen beigegeben werden
Zudem eröffnen sich auch in China immer und standen dann in Klammern. Damit war
neue Metho den der maschinellen und elektro - die Po litik, das Ko reanische grundsätzlich mit
nischen Schriftzeichenverarbeitung, so daß han’gŭl zu verschriften, vo rgegeben, auch
die hànzì wo hl no ch lange ihren Platz als wenn man die chinesischen Schriftzeichen
wesentlicher Träger der Kultur Chinas werden nicht gänzlich verbannte.
behaupten können (→ Art. 69). Ähnliche Maßnahmen ergriffen die Ame-
rikaner in Japan, wo bei die Sto ßrichtung hier
4.2. Korea auf einer Limitierung der Zahl der zugelas-
senen Schriftzeichen lag. Inmitten der Um-
In Ko rea werden heute vo rnehmlich zwei wälzungen überko mmener Wertvo rstellungen
Schriftsysteme eingesetzt, nämlich die vo r und der gesellschaftlichen Wirren der Nach-
etwa 500 Jahren entwickelte Buchstaben- kriegszeit machten die amerikanischen Besat-
schrift han’gŭl und die chinesischen Schrift- zer und auch ein Teil der Japaner in etwas
zeichen (hanja), die, wie beschrieben, vo r rund irratio naler Argumentatio n die hànzì bzw.
zweitausend Jahren auf der ko reanischen
Halbinsel heimisch wurden. kanji als die Wurzel allen Übels aus, als Band
und als Fessel, mit dem der japanische Mili-
Die han’gǔl hatten sich in den jahrhunder- tarismus ehedem seine geplante „Gro ßasiati-
telang vo m Ko nfuzianismus und dem chine- sche Wo hlstandssphäre“ hatte zusammenhal-
sischen System der Beamtenprüfungen ge- ten wo llen. So wurden in Ko rea wie in Japan
prägten Ländern der ko reanischen Halbinsel Maßnahmen zur Beschränkung der Zeichen-
lange Zeit nicht als Amtsschrift durchsetzen zahl getro ffen; aber weder hier no ch do rt
können; sie galten als „Vulgär-“ bzw. als waren die hànzì blo ß Mittel zur Aufzeichnung
„Frauenschrift“. Heute ist das ganz anders. der Sprache, so ndern aufs engste mit der Ge-
Wer sich in Ko rea zurechtfinden will, ko mmt schichte und der Kultur des Landes verwo -
um eine Kenntnis der han’gǔl nicht herum. ben, ein kulturelles Erbe, das sich nicht ein-
Firmen- und Ladenschilder so wie Reklame- fach igno rieren ließ. Im Schulunterricht rich-
tafeln sind fast ausschließlich in han’gül ge- tete man deshalb, um die Verbindung zur
halten, und die Busse und Bahnen in Seo ul Kultur der Vergangenheit nicht ganz abreißen
geben sämtliche Ortsangaben und Haltestel- zu lassen, ein Fach kambun bzw. hanmun
len nur in han ’gŭl. ‘Klassisches Chinesisch’ ein.
Der Siegeszug dieser Schrift begann Ende Ausgeno mmen vo n dem erwähnten ko rea-
des 19. Jahrhunderts; ursprünglich war eine nischen Schulbuchbeschluß waren alle ande-
Verdrängung o der gar Abschaffung der chi- ren Schriften und Druckerzeugnisse; in Zei-
nesischen Schriftzeichen nicht vo rgesehen tungen und Zeitschriften ebenso wie in amt-
gewesen; die han’gŭl so llten nicht mehr sein lichen Publikatio nen wurde eine hanja-han-
als Ko mpo nente einer hanja-han’gŭl-Misch- gŭl-Mischschrift verwendet (eine Ausnahme
schrift. bildeten Werke der erzählenden Pro sa, die
Nach der Besetzung Ko reas im Jahre 1910 bereits seit der Yi-Dynastie fast ausschließlich
stand das Land bis 1945 unter japanischer in han’gǔl fixiert wurden).
Verwaltung. Der Bevölkerung wurde verbo - Als Maßnahme zur weiteren Förderung
ten, auf ko reanisch zu ko mmunizieren; sie der han’gŭl-Bewegung erließ die ko reanische
hatte sich in der Fremdsprache Japanisch zu Regierung im Herbst 1948 ein „Gesetz zur
verständigen und schriftlich im japanischen ausschließlichen Verwendung vo n han’gŭl“,
kanji-kana-Mischstil auszudrücken. Mit dem erlaubte aber in einer Zusatzklausel „bis auf
Ende des Zweiten Weltkrieges und der Be- weiteres auch den Gebrauch vo n hanja“; die-
freiung vo n der japanischen Herrschaft wurde ses „bis auf weiteres“ wurde jedo ch nicht zeit-
auch die traditio nelle Vo rmachtstellung der lich spezifiziert, was das Gesetz wirkungslo s
hanja gebro chen; die Ro lle der o ffiziellen machte.
Amtsschrift kam den han’gŭl zu. Anders verhielt es sich mit dem 1955 vo m
Eine wichtige Ro lle spielte dabei der Be- ko reanischen Kultusministerium verkündeten
schluß des auf Weisung der amerikanischen „han ’gŭl-Gesetz“. Do rt heißt es: „Alle amtli-
Militärverwaltung eingesetzten „K
o reani- chen Publikatio nen, Zeitungs- und Zeitschrif-
schen Ausschusses für Schule und Ausbil-
dung“ (Chosŏn kyoyuk simŭihoe) vo m De- tentexte so wie für die breite Öffentlichkeit
zember 1945, nach dem in den Lehrbüchern bestimmten Publikatio nen sind ausschließlich
448 IV. Schriftkulturen

in han’gŭl zu halten. Bei wissenschaftlichen nach wie vo r verwurzelt ist. Die ausschließli-
Texten können Fachtermini jedo ch zusätzlich che Verwendung vo n han’gǔl ko nnte sich un-
in hanja gegeben werden; sie stehen dann in angefo chten aller po litischen Bemühungen bis
Klammern.“ Der ausschließliche Gebrauch heute nicht durchsetzen. Der starke Wider-
vo n han’gŭl wurde überall auf Plakaten, Po - stand der Bevölkerung führte ganz im Gegen-
stern und Schildern pro pagiert; nach und teil zu Zugeständnissen seitens der Regierung.
nach verschwanden die chinesischen Schrift- 1972 kam sie nicht umhin, eine 1800 Einheiten
zeichen aus dem öffentlichen Leben. Ab 1961 umfassende Liste vo n „Essentiellen chinesi-
wurden auch Gerichtsurteile nur no ch in han- schen Schriftzeichen für den hanmun-Unter-
gŭl verfaßt. richt“ (hanmun kyoyukyong kich’o hanja) zu
Die in den sechziger Jahren no ch verstärkt erlassen, die ab 1975 in den Schulbüchern der
betriebene han’gŭl-Po litik der Regierung kul- Mittel- und Oberstufe auftauchten. In Zeitun-
minierte schließlich in einer vo m Präsidenten gen, Zeitschriften usw. finden wir deshalb
der Republik am 25. 10. 1968 erlassenen Di- heute einen mit hanja durchsetzten Mischstil,
rektive, in der es unter anderem heißt: während alle regierungsamtlichen Publikatio -
1. Mit Wirkung vo m 1. Januar 1970 sind nen ausschließlich in han’gŭl gehalten sind.
nicht nur die vo n staatlichen und amtlichen Eine wesentliche Ursache für das Scheitern
Stellen verfaßten Schriftstücke, so ndern sämt- der Schriftpo litik der Regierung liegt in der
liche Texte jedweder Art ausschließlich mit Fülle der ins Ko reanische integrierten Sinis-
han’gǔl zu schreiben. Texte, die chinesische men. Etwa 70% des in Wörterbüchern do -
Schriftzeichen enthalten, haben keine Gültig- kumentierten ko reanischen Wo rtschatzes sind
keit. der Statistik zufo lge chinesischen Ursprungs.
2. Die Entwicklung vo n han’gŭl-Schreib- Die Vielzahl der darunter befindlichen Ho -
maschinen ist zu fördern; sie sind überall zu mo pho ne führt bei reiner han’gŭl-Schreibung
verbreiten. zu semantischen Unklarheiten, die sich letzt-
3. Das 1948 erlassene „Gesetz zur aus- lich nur durch eine Ersetzung des betreffen-
schließlichen Verwendung vo n han’gŭl“ wird den sin o ok reanischen W o rtschatzes durch
revidiert; die hanja-Zusatzklausel wird mit reinko reanisches Wo rtgut vermeiden ließen.
Wirkung vom 1. Januar 1970 aufgehoben. Eine Ersetzung dieser seit Jahrhunderten und
4. In sämtlichen Schulbüchern sind kei- länger in der ko reanischen Sprache fest ver-
nerlei chinesische Schriftzeichen mehr zu ver- ankerten Sinismen — wenn sie denn möglich
wenden. ist — hieße aber nichts weniger als eine tief-
5. Die Umschreibung aller klassischen greifende Veränderung der Sprache an sich.
Werke in han’gǔl ist voranzutreiben. Die Pro blematik eines so lchen Unterfangens
Die Rigidität dieser Bestimmungen stieß in liegt auf der Hand.
der Bevölkerung auf erheblichen Unmut; Die Wahl han’gǔl o der hanja — die Pro -
gleichwo hl setzte die Regierung auf der Basis blematik der Aufrechterhaltung o der Nicht-
der Direktive einen „Ausschuß zu Fragen der Aufrechterhaltung des kulturellen Erbes ein-
ausschließlichen Verwendung vo n han’gǔl“ mal beiseite — ist demnach keine allein die
(Han’gŭl chŏnyong wiwŏnhoe) ein und veran- Art der Verschriftung betreffende Frage, so n-
laßte eine Reihe durchgreifender Maßnah- dern wirkt sich unmittelbar bis in die Struktur
men, etwa die Abschaffung der 1951 festge- der Sprache aus.
legten und danach im Schulunterricht ver- Eine zweite Ursache für das letztliche
mittelten Liste vo n 1300 „Pflichtzeichen“ Scheitern der Bemühungen, die chinesischen
(kyoyuk hanja). Schriftzeichen gänzlich abzuschaffen, dürfte
Ab 1970 erschienen in amtlichen Publika- im internatio nalen Ko ntext zu suchen sein.
tio nen so wie in Gesetzestexten keine chinesi- Ko reas einflußreichste o stasiatische Nach-
schen Schriftzeichen mehr, und ab März des- barn sind Japan und China (einschließlich
selben Jahres verschwanden sie aus den Lehr- Taiwan und Ho ngko ng), und in beiden Län-
büchern der Grund- und Mittelschulen so wie dern werden nach wie vo r hànzì verwendet.
der gymnasialen Oberstufe. Zeitungen, Zeit- Eine einseitige Abko ppelung Ko reas vo n der
schriften und andere nicht-amtliche Veröf- hànzì-Traditio n wäre po litisch und auch wirt-
fentlichungen hielten jedo ch tro tz der rigiden schaftlich zumindest nicht von Vorteil.
Maßnahmen der Regierung am herkömmli- Neuerdings sind in Ko rea ganz im Gegen-
chen ko reanisch-chinesischen Mischstil (Kuk- teil Bestrebungen im Gange, die alte hanja-
Han honyongch’e) fest, so daß der Gebrauch Kultur wieder aufleben zu lassen. Überall
vo n hanja in der ko reanischen Gesellschaft
32.  Der Kulturkreis der chinesischen Schriftzeichen (hànzì) 449

werden in privaten und kirchlichen Einrich- gereicht, eine neue No rm, die der Willkürlich-
tungen chinesische Schriftzeichen gelehrt, und keit und Arbitrarität, die bis dahin zumindest
der Unterricht wird nicht nur Kindern erteilt; theoretisch geherrscht hatte, Einhalt gebot.
auch viele Erwachsene frequentieren nach der Der Gebrauch ausschließlich dieser 1850
Arbeit o der in ihrer Freizeit diese Einrichtun- Standardschriftzeichen war zwar, vo n den
gen. Das ko reanische Tauziehen um hanja Schulbüchern einmal abgesehen, nicht zwin-
und han’gŭl ist no ch nicht entschieden; o b es gend vo rgeschrieben, wurde aber für Gesetze
am Ende wie in No rdko rea zu einer Abschaf- und andere amtliche Schriftstücke so wie Zei-
fung der chinesischen Schriftzeichen ko mmt, tungen, Zeitschriften usw. dringend empfo h-
bleibt offen. len — eine Empfehlung, die sich in den fo l-
genden Jahren immer mehr durchsetzte und
4.3. Japan die Verschriftlichung (wegen der gleichzeiti-
gen Verwendung der beiden Silbenalphabete
Die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Drängen hiragana und katakana allerdings nicht die
der amerikanischen Militärverwaltung auch Ortho graphie im Sinne vo n Rechtschreibung)
in Japan fo rciert betriebene Schriftrefo rm be- des Japanischen weitgehend standardisierte.
traf hinsichtlich der chinesischen Schriftzei- 1981, dreieinhalb Dekaden nach ihrer er-
chen (kanji) zwei Aspekte: eine graphische sten Pro mulgatio n, wurde die Liste auf Drän-
Vereinfachung der Schriftzeichen und eine gen vo n u. a. Zeitungsverlagen und nach lang-
Reduzierung der Zeichenzahl. jährigen Beratungen des „Ausschusses für
Ehedem als „Vulgärzeichen“ (zokuji) o der Fragen der Landessprache“ (kokugo shingi-
„abgekürzte Schriftzeichen“ (ryakuji) — bei- kai)schließlich um 95 kanji auf 1945 Schrift-
spielsweise statt , statt , statt zeichen erweitert. Diese Erweiterung und die
in der Präambel der bis heute gültigen neuen
, statt oder statt — bezeich- Liste (jôyôkanjihyô) angedeutete zusätzliche
nete kanji galten nach der Refo rm als o ffiziell Lo ckerung der gesellschaftlichen Verbindlich-
und ko rrekt. Diese vereinfachten Fo rmen keit rief bei den Verfechtern einer Schriftzei-
seien leichter zu erlernen und leichter zu chenbegrenzung zeitweise heftige Reaktio nen
schreiben, ein aus pädago gischer Sicht durch- hervo r und wurde als „reaktio näre Schrift-
aus vertretbarer Standpunkt. Unter den de- politik“ gebrandmarkt.
kretierten neuen Fo rmen befanden sich aber Fo rderungen, die Schriftzeichen vo n der
auch so lche, die aus semantischer bzw. ety- Zahl her zu begrenzen o der gar völlig abzu-
m
o ol gischer Sicht nicht unpr o blematisch schaffen, hatte es zuvo r in Japan häufig ge-
geben, verstärkt ab Mitte der zwanziger Jahre
waren. So ersetzte man zum Beispiel im Zusammenhang mit der Mo dernisierung
‘Kunst’ durch das ursprünglich ‘Gras mähen’ des Landes, die, wie es hieß, auch die Schrift
bedeutende o der verkürzte den wesent- einschließen müsse. Das Ziel vo r allem vieler
Unternehmen war, ihre Geschäftsko rrespo n-
lichen Zeichenbestandteil (‘zwei Menschen denz ratio neller und schneller abwickeln zu
können. Die Lösung lag in einer Auto mati-
nebeneinander’:‘fo lgen, begleiten’), etwain sierung der Schriftverarbeitung nach dem
‘fo lgen, geho rchen’ zu einem etymo lo gisch Mo dell westlicher Schreibmaschinen, das al-
lerdings nur zwei Möglichkeiten bo t: den aus-
nicht vertretbaren . Eine Fo lge dieser Ver- schließlichen Einsatz entweder der japani-
kürzungen war, daß Gymnasiasten und selbst schen Silbenschriften o der aber eine Ver-
Studenten heute ältere Texte, die no ch die schriftung der Sprache mittels lateinischer
Vo llfo rmen der Schriftzeichen (seiji ‘korrekte Buchstaben. In beiden Fällen hatten die kanji
Schriftzeichen’) enthalten, nicht mehr lesen auf der Strecke zu bleiben. Tatsächlich wurde
können. in der Fo lge ein „kana-Typewriter“ entwik-
Vo n wesentlich größerer Tragweite als die kelt, eine Schreibmaschine, die statt Buchsta-
Vereinfachung der Schriftzeichenfo rmen war ben mit den Zeichen der japanischen Silben-
jedo ch die Beschränkung der für den amt- alphabete bestückt war; sie kam kurzfristig
lichen Gebrauch und die schulische Ausbil- und in beschränktem Umfang zum Einsatz,
dung zugelassenen kanji: 1946 wurde per konnte sich letztlich aber nicht durchsetzen.
Kabinettsbeschluß eine entsprechende 1850 Einen Ausweg bo t schließlich Ende der
Schriftzeichen umfassende Liste pro mulgiert 70er Jahre die Co mputertechno lo gie, die mit
(tôyôkanjihyô). Im Fo lgejahr wurde eine Liste der Entwicklung der so genannten „Wo rtpro -
der diesen Zeichen zuzuo rdnenden sino japa- zesso ren“, d. h. mit Drucker und Mo nito r
nischen und reinjapanischen Lesungen nach- versehenen Kleinco mputern zur elektro ni-
schen Textverarbeitung, auch die Verarbei-
450 IV. Schriftkulturen

tung chinesischer Schriftzeichen und damit Barnard, No el. 1978. The nature o f the Ch’in „Re-
die Beibehaltung des traditio nellen kanji- fo rm o f the Script“ as reflected in archaeo lo gical
kana-Mischstiles (kanji-kana-majiribun) er- do cuments excavated under co nditio ns o f co ntro l.
möglichte. Diese leicht zu bedienenden, ho ch- In: Ro y, David T. & Tsien, Tsuen-hsuin (ed.), An-
effizienten elektro nischen Schreibmaschinen, cient China: Studies in Early Civilizatio n. Ho ng
die heute in Japan überall, auch in privaten Kong, 181—213.
Haushalten, verbreitet sind, nahmen der Be- Hashimo to , Mantarô et al. 1987. Kanji-minzoku no
wegung für eine Reduzierung der Schriftzei- ketsudan — kanji no mirai ni mukete [Entscheidun-
chen eines ihrer gewichtigsten Argumente — gen der hànzì-Völker — für eine Zukunft der chi-
die chinesischen Schriftzeichen ließen sich nesischen Schriftzeichen]. Tôkyô.
elektro nisch nicht o der nur unter ho hem Ko - Kôno , Ro kurô. 1969. The Chinese Writing and its
stenaufwand verarbeiten. Influences o n the Scripts o f the Neighbo uring Peo -
Die japanische Industrieno rm (Japanese ples. In: Memo irs o f the Research Department o f
Industrial Standard, JIS) stellt für die elektro - the To yo Bunko , 27. Wiederabgedruckt in: Kôno ,
nische Datenverarbeitung zwei Zeichensätze Ro kurô. 1980. Kôno Rokurô chosakû [Gesammelte
zur Verfügung, die neben den Silbenschriften, Schriften] 3, 15—102.
den Buchstaben des lateinischen und griechi- Lee, Ki-Mo o n. 1977. Geschichte der ko reanischen
schen Alphabetes, Numeralia, So nderzeichen Sprache. Dt. Übersetzung herausgegeben ov n
etc. (insgesamt 524 Einheiten) 6355 kanji ent- Bruno Lewin. Wiesbaden.
hält (Satz 1: 2965, Satz 2 (1990 um 2 kanji
Lewin, Brun o . 1980. Sprachk o ntakte zwischen
erweitert): 3390 Zeichen). Nicht zu dieser
Paekche und Yamato in frühgeschichtlicher Zeit.
No rm gehörende Schriftzeichen können bei
Asiatische Studien 34,2, 167—188.
allen Wo rtpro zesso ren über ein So nderpro -
gramm vom Benutzer selbst erstellt werden. Lewin, Bruno et al. 1989. Sprache und Schrift Ja-
Im Regelfall reichen die Industrieno rmen pans. Leiden: Brill.
1 und 2 völlig aus; Spezialisten, etwa Wissen- Martin, Helmut. 1982. Chinesische Sprachplanung.
schaftler o der Jo urnalisten, sto ßen jedo ch Bochum: Brockmeyer.
nicht selten auf Schriftzeichen, die in beiden Miller, Ro y Andrew (1993). Die japanische Spra-
Sätzen nicht enthalten sind; so kann per che. Geschichte und Struktur. Aus dem überarbei-
Wo rtpro zesso r etwa der Vo rname, nicht aber teten englischen Original vo n Jürgen Stalph et al.
der Familienname des chinesischen Po litikers München.
Deng Hsiao -ping (Deng) generiert werden; Müller-Yo ok ta, W o lfram. 1987. Abriß der ge-
ebenso lassen sich nicht alle der in den japa- schichtlichen Entwicklung der Schrift in Japan. Bo -
nischen Literaturdenkmälern Kojiki und chumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 10, 1—75.
Man’yôshû o der selbst in den Werken der Nguyên, Dình Ho à. 1959. Chũ’nôm — the demo tic
mo dernen Klassiker Mo ri Ôgai (1862—1922) system o f writing in Vietnam. Jo urnal o f the Ame-
o der Natsume Sôseki (1867—1916) enthalte- rican Oriental Society 79, 270—274.
nen Zeichen darstellen. Ramming, Martin. 1960. Bemerkungen zur Pro ble-
So wird das Schriftbild japanischer Texte matik der Schriftrefo rm in Japan. Sitzungsberichte
heute in gro ßem Umfange vo n Ingenieuren der Deutschen Akad. der Wiss. zu Berlin, Klasse
und So ftwareherstellern beeinflußt, die In- für Sprachen, Literatur und Kunst (1960, 4). Berlin.
dustrieno rmen umsetzen. Schreibende, die Seeley, Christo pher. 1991. A Histo ry o f Writing in
mit Wo rtpro zesso ren arbeiten, sind mithin in Japan. Leiden.
der Wahl ihrer kanji nie ganz frei — selbst
Stalph, Jürgen. 1989. Grundlagen einer Grammatik
wenn sich der neueste, im Okto ber 1990 vo m
der sino japanischen Schrift. Wiesbaden. Harras-
japanischen Wirtschaftsministerium (MITI,
os witz (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts
Ministry fo r Internatio nal Trade and Indu-
der Ruhr-Universität Bochum; 39).
stry) unterbreitete Vo rschlag einer 5801 Zei-
chen umfassenden Ergänzungsliste schließlich Thränhardt, Anna Maria. 1978. Schriftrefo rm-Dis-
durchsetzen sollte. kussio n in Japan zwischen 1867 und 1890. Eine
Untersuchung ihrer linguistischen und po litisch-
soziologischen Aspekte. Hamburg.
5. Literatur Tru’o ’ng Van Chinh. 1970. Structure de la langue
vietnamienne. Paris.
Atsuji, Tetsuji.1985. Kanjigaku — Setsumo n kaiji
no sekai [Die Wissenschaft vo n den chinesischen Tetsuji Atsuji, Ôsaka (Japan)
Schriftzeichen — die Welt des Shuōwén jiězì]. übersetzt von Jürgen Stalph
33.  The Sphere of Indian Writing 451

33. The Sphere of Indian Writing

1. Writing in ancient India tio n, o n the o ther hand, which is gro unded
2. Indian scripts in legend and ritual, links literary texts and
3. Written tradition writing to divine revelatio n. Either way, the
4. Official languages o rigin o f Indian literature will co ntinue to be
5. Language development a subject fo r speculatio n. As Whitney (1964,
6. Written languages and education xix) states: „All dates given in Indian literary
7. Literacy in modern India histo ry are pins set up to be bo wled do wn
8. Publications again.”
9. Written word in the sphere of Indian writing
10. References 1.1. Oral versus written
11. Appendix: Survey of living languages in India
It is generally believed that the bulk o f ancient
Indian literature o riginated witho ut the art o f
1. Writing in ancient India writing and was transmitted o rally fo r cen-
turies. The ancient Indian grammarians are
The histo ry o f writing in India has remained said to have perfected the metho d o f reducing
a vexed and o pen questio n. The o rigin o f rules o f grammar into algebraic fo rmulas en-
writing has been linked to the first datable suring the co rrect pho netic renderings o f all
evidence o f the deciphered Asho ka edicts o f texts. Memo rizatio n o f literary texts was co n-
the third century BC; yet the literary histo ry sidered to be the o nly metho do lo gy fo r the
o f India, acco rding to Whitney (1964, xv) learning and transmissio n o f such texts (Whi-
co uld easily be as o ld as 2000 BC. It is gen- ternitz 1981, 33). The earliest Indian literature
erally agreed that the o ldest Indian literature is said to belo ng to 2000 BC, the Indian
must have already reached its peak well be- writing system is believed to go back to 500
fo re histo rical times. The dating o f ancient BC, and the Asho kan edicts which are the
Indian literature is based largely o n linguistic earliest extant samples o f writing in India
evidence which distinguishes the language o f belo ng to the third century BC (Co ulmas
the Vedas fro m the later Classical Sanskrit 1989, 181; Mo o kerji 1960, 211). This wo uld
which is highly co dified. There is no do ubt mean that no t o nly was the vast bo dy o f
that the Vedic language predates Sanskrit and ancient literature handed do wn o rally fo r fif-
its sister Prakrits including Pali, but the pre- teen hundred years but that all ancient liter-
cise date o f the co mpo sitio n o f the Vedas will ature was co mpo sed o rally. The fo ur Vedas
perhaps never be agreed upo n. Altho ugh no co ntain between them o ver a hundred tho u-
do cumentary o r palaeo graphic evidence prio r sand verses (Karan Singh 1987, 1), which to -
to the Asho kan edicts exists, the earliest San- gether with the innumerable co mmentaries
skrit literature is datable with reference to and treatises o n philo so phy, law, medicine,
Buddhist literature which was written befo re mysticism, grammar and a ho st o f o ther sub-
the fo urth century BC. The Sanskrit language jects make up a mo st fo rmidable vo lume o f
itself is datable fro m the scientific treatises o n literary creatio n. And yet all this bulk is be-
grammar which are o ver 2500 years o ld. Pa- lieved to have been faithfully handed do wn
nini’s grammar o f Sanskrit o f the sixth o r o nly by wo rd o f mo uth witho ut disto rtio n.
fifth century BC, mentio ns ten grammarians While it canno t be do ubted that the memo -
who precede him but who se wo rks have no t rizatio n o f texts must have been linked with
survived (Ananthanarayana 1976, 5—6). religio us ritual, it is natural to speculate
By and large, western scho lars base their whether such a vo lume o f literature co uld
estimatio ns o f the dates o f vario us literary have co me into existence witho ut writing. As
texts o n histo rical evidence such as acco unts Chatterji (1966, 54) puts it: „Go o d, bad o r
by Greek histo rians o r Chinese travellers who indifferent, witho ut so me system o f writing
came to India as Buddhist pilgrims in the the Vedic co mpilatio ns co uld no t co nceivably
fifth to seventh centuries AD (Winternitz have been made.”
1981, 23—25). The linguistic evidence o f re-
latedness o f Sanskrit to o ther Indo -Euro pean 1.2. Vedic literature
languages is o ften used in suppo rt o f linking
the use o f writing in India to the develo pment The Vedic perio d in Indian literary histo ry is
and practice o f writing in the Middle East, recko ned between 2000 BC and 560 BC, the
ancient Greece and Ro me. The Indian tradi- year Gautam Buddha was bo rn. Of the fo ur
452 IV. Schriftkulturen

Vedas — the Rig, the Sama, the Yajur, and there is ample pro o f o f kno wledge o f the art
the Atharva — the o ldest is the Rig Veda o f writing as well as its widespread use. In
which co ntains o ver a tho usand hymns and o ne o f the Buddhist tracts fro m abo ut 450
ten tho usand verses. The Sama Veda, made BC there is mentio n o f children’s games which
up largely o f the hymns fro m the Rig Veda, include guessing o f letters o f the alphabet
pro vides fo r different readings o f the hymns. traced in the air. Instructio n in writing and
The Yajur Veda is significant that in additio n arithmetic was widespread. There is mentio n
to hymns it also has numero us pro se utter- in so me o f the texts, o f wo o den writing bo ards
ances, co nsidered to be the o ldest examples and wo o den pens (Nanavati 1973, 162—165).
o f Indo -Euro pean pro se. The Atharva Veda, The educatio nal system o f the time was highly
like the Yajur Veda, carries a number o f brief structured and there are meticulo us details o f
pro se passages. The hymn material in the ho w the scho o l and university systems were
Vedas is referred to as mantra and the pro se o rganized. Primary educatio n emphasized
is called brahmana. The Brahmana traditio n mo ral educatio n in additio n to the 3 R’s. The
is carried fo rward in the Arnayakas, hermitic art o f writing was practised by all classes o f
texts, and culminates in the Upanishads o f peo ple including the trading and co mmercial
which there are nearly two hundred, and are classes.
in the fo rm o f dialo gues between the teacher
and the disciples, dealing with pro blems o f 1.4. Manuscripts
human existence. Co llectively, the Upanishads
are kno wn as the Vedanta o r the end o f the The earliest do cumentary evidence o f writing
Vedas (Karan Singh 1987, 3). A further dis- in the fo rm o f ancient Indian manuscripts is
tinctio n is made between the Brahmanas and no t o lder than the earliest centuries after
Sutras, the latter being in the fo rm o f rules Christ. It has been argued that a po ssible
such as tho se fo und in Panini’s grammar Ash- reaso n fo r the general lack o f written do cu-
tadhyayi o r the Dharma-sutras o f Manu ments co uld be the writing material used in
which co uld have been written in the sixth ancient India. The mo st po pular writing ma-
century BC. The two great epics, the Ramay- terials in ancient India seem to have been
ana and Mahabharata to gether with the phil- birch bark and palm-leaf. The latter is co n-
o so phical po em, the Bhagavad-Gita, also be- sidered to be the o nly appro priate material
long to the Vedic period (Whitney 1964, xiii — fo r inscribing religio us texts and co ntinues to
xxii; Nanavati 1973, 9—37). be used in the present time. Palm leaves are
This entire bo dy o f literature is believed to very fragile and easily destructable in the In-
have been o ral in the absence o f „sure pro o fs dian climate. Manuscripts written o n palm
o f the existence o f manuscripts o r even au- leaves have to be co ntinuo usly reco pied fro m
thentic info rmatio n abo ut writing do wn texts time to time. It is therefo re difficult to co n-
fro m o lder days” (Winternitz 1981, 27). The clude, fro m the o ldest extant palm leaf man-
Indian traditio n, o n the o ther hand, assigns uscripts, whether they are the first co pies o f
the writing o f the Mahabharata to the ele- the texts they carry. The pro blem is no t made
phant-headed Go d Sri Ganesha who came to any easier by the fact that the o ldest texts do
the assistance o f the Sage Vyasa who so ught no t always identify the autho rs o r the perio d
divine interventio n fo r penning the great epic. when a text was written. So me o f the o ldest
Acco rding to legend, Sri Ganesha snapped manuscripts fro m the fo urth, fifth and sixth
o ff o ne o f his tusks to use as a pen. Wakankar centuries AD have been disco vered in Tur-
(1968, 6—8) demo nstrates that there are ref- kestan, Japan and Nepal. Manuscripts fo und
erences to „marking” o r „writing” in the Rig in India are relatively mo re recent — fro m
Veda, Yajur Veda and in several Aranyakas the tenth to twelfth centuries AD (Winternitz
and Upanishads. In the Bhagavad Gita (10.33) 1981, 32—33). Many o f the manuscripts
Sri Krishna says „Amo ng letters I am the fo und in India are written o n paper and are
vowel A, ...” (Judge 1984, 75). fro m the thirteenth century o nwards. Numer-
o us manuscripts have been fo und in temples,
1.3. Buddhist literature palaces and private co llectio ns, tho usands o f
them have been catalo gued and published.
It is universally agreed that all the texts o f Special manuscript libraries have been estab-
Vedic literature handed do wn to the present lished after 1947 to preserve these valuable
were co mpo sed well befo re 500 BC when Bud- reco rds. In additio n to the tho usands o f In-
dhism was bo rn in India. In the Buddhist dian manuscripts scattered all o ver the wo rld,
cano nical literature co mpleted befo re 400 BC, innumerable manuscripts are still in private
33.  The Sphere of Indian Writing 453

co llectio ns in India and are in the danger o f io n which suppo rts the theo ry o f indigeno us
being destro yed fo r lack o f care and aware- o rigin o f Brahmi. Chatterji (1966, 7—11) re-
ness o f their value (Encyclo paedia o f Indian jects the Semitic o rigin hypo thesis and po sits
Literature 1989, 2596—2606; P. B. Ray 1992, a pro to -Brahmi script aro und the tenth cen-
135—137). tury BC which links it to the Late Harappan
script o f aro und 1200 BC (cf. S. R. Rao 1985,
6). The pho no lo gical principles that o bvio usly
2. Indian scripts underlie the arrangement o f the vo wel and
The o rigin and use o f scripts in India presents co nso nant signs in acco rdance with place and
as many pro blems and parado xes as the his- manner o f articulatio n make the script a part
tory of Indian literature (→ Art. 24). o f the ancient Indian grammatical traditio n
which fo rmed a part o f the Vedic scientific
literature (Agrawala 1966, 12). The Brahmi
2.1. Ancient scripts script and its vario us branches all attest the
The o ldest writing fo und o n the Indian sub- insights o f Indian grammarians into the re-
co ntinent is o n 3,000 seals excavated at many latio nship between speech and writing, which
sites o ver a large tract in the no rth and west. is reflected in the pho nemic-syllabic character
These seals fro m the Indus valley civilizatio n, o f all Indian alphabets. The develo pment o f
also called the Harappan civilizatio n, belo ng the Brahmi fro m an earlier Pro to -Brahmi and
to the perio d 2500 BC to 1600 BC. In the the Late Harappan scripts seems intuitively
absence o f any reliable bilingual data, it is acceptable, especially in the light o f the claim
no t po ssible to assign any meaning to the that there must have been a writing system in
vario us symbo ls fo und o n these seals. Until the Vedic perio d. It must be no ted that even
the Harappan script is finally deciphered the the pro po nents o f the Semitic o rigin o f
o rigin o f writing in India will co ntinue to be Brahmi reco gnize the fact that the writing
reckoned from the date of the Ashokan edicts. system was tho ro ughly redesigned and re-
The Asho ka edicts are scattered all o ver created by the ancient Indians (Co ulmas
the subco ntinent po inting to widespread lit- 1989, 185). Dani (1986, 29—30) states:
eracy. The Asho kan inscriptio ns are in two „Whatever may be the particular so urce o f
scripts: the Kharo sthi fo und in the no rth- inspiratio n, Brahmi is a creatio n o f the Indian
west, and the Brahmi. Kharo sthi is written Pandits. The script has been evo lved to suit
fro m right to left. The Kharo sthi script is no t the local grammar ...”
attested after the fo urth century AD (Pattan-
ayak 1981, 95). 2.2. Development of Brahmi
The Brahmi like Kharo sthi, and unlike the
Semitic, is no t a co nso nant script. Every basic Within India the Brahmi develo ped into two
sign is a co mbinatio n o f a co nso nant so und distinct branches — the no rthern and the
plus an inherent vo wel /a/; o ther vo wels are so uthern. One may identify three significant
indicated by diacritics added to the basic co n- stages fro m the third century BC in the de-
so nant signs; the inherent vo wel can be muted velo pment o f bo th these branches. In the
thro ugh a special diacritic; and co nso nant no rth the Gupta Brahmi o f 400 AD was used
clusters are indicated by ligatures where the o ver a very large tract o f land co vering mo st
inherent vo wel o f all but the last co nso nant o f no rth India as well as parts o f the so uthern
is muted (→ Art. 24). The Brahmi also has peninsula. During the sixth and seventh cen-
distinct signs fo r initial vo wels. In all the turies a style o f the Gupta Brahmi was called
extant texts, including the Asho kan edicts, the Siddhamatrika which was widely used fo r
Brahmi is written fro m left to right (Co ulmas writing religio us texts in India, Central Asia
1989, 184). The Brahmi is a fully elabo rated and Japan (Agrawala 1966, 13). Between the
script with 44 letters as against the 22 char- eighth and tenth centuries the Gupta script
acters in the Semitic script (Winternitz 1981, develo ped two distinct fo rms — the eastern
27). Despite these features which distinguish and the western, the fo rmer giving rise to the
it fro m bo th the Semitic and Kharo sthi, west- Nagari script and the latter to Sharada which
ern scho lars co nsider the Brahmi script to be co ntinues to be used fo r writing specific Kash-
a derivative o f the Semitic system o f writing. miri texts. The Nagari develo ped further into
Ho wever, there is no agreement o n whether Devanagari, Pro to -Bengali, and Tibetan. The
the Brahmi belo ngs to the No rth o r the So uth Sharada script, in turn, gave rise to the Gur-
Semitic branch (Dani 1986, 24ff; Rasto gi mukhi script (Chatterji 1966, 11; Agrawala
1980, passim). There is ano ther bo dy o f o pin- 1966, 13—14; also cf. Co ulmas 1989, 182).
454 IV. Schriftkulturen

Like the Gupta Brahmi, the Nagari was used


o ver a very large area giving rise to numero us
lo cal variatio ns called by different names. A
versio n o f the Nagari was used in So uth India
under the name o f Nandinagari. In So uth
India the Brahmi develo ped into the Grantha
script which influenced bo th the Tamil and
the Malayalam scripts. Aro und the seventh
century the Pallava script figures pro minently
in the develo pment o f the Tamil-Malayalam
writing system. At abo ut the same time there
is evidence o f the Kadamba script which, to -
gether with the Nandinagari, gave rise to the
Kannada-Telugu writing systems (Agrawala
1966, 15; Meenakshisundran 1966, 23—27;
KV Rao 1966, 28—33).
In India the mo dern day descendants o f
the Brahmi develo ped between the tenth and
sixteenth centuries AD. The evo lutio n o f the
vario us scripts has no t been strictly linear.
Many branches and sub-branches have criss-
cro ssed. A script develo ped in o ne part has
been carried to ano ther and so metimes re-
bo rro wed. Fo r example the Khampti lan-
guage, spo ken in the no rth-east o f India em-
plo ys a variety o f the Thai script which can
be ultimately traced back to the Brahmi
thro ugh Pali fro m which have also o riginated
the Saimese, Kavi, Burmese, and Sinhalese
scripts. Likewise, Ladhaki languages spo ken
in the no rth use the Tibetan script which is
an o ffsho o t o f the Nagari script (cf. Pattan-
ayak 1981, 42). Such o verlaps result in co n-
flicting analyses and multiple relatio nships.
Fo r instance the Gurmukhi script which is
used fo r writing Punjabi is derived fro m the
Sharada script by Chatterji (1966, 11), and
from the Devanagari by Coulmas (1989, 182).

2.3. Present-day writing systems


Fig. 33.1: Transliteration into various Indian lan-
Nine majo r scripts derived fro m the Brahmi
are used to write mo st o f the majo r Indian guages of the Sanskrit phrase Satya-
languages. The Devanagari is used to write meva jayate — ‘Truth alone triumphs’
Hindi, Marathi and Sanskrit. Bengali is writ-
ten in the Bengali script which is also used to Fig. 33.1 pro vides examples o f the present-
write Assamese with mino r additio ns. Guja- day scripts, except Ro man, used fo r writing
rati, Kannada, Malayalam, Oriya, Tamil and majo r languages o f India. It is impo rtant to
Telugu is each written in a script that bears no te that the eleven scripts currently used fo r
the name o f the language, e. g. Gujarati is writing the majo r Indian languages, are em-
written in the Gujarati script, and so o n. plo yed fo r writing the thirty o dd o ther Indian
Punjabi is written in the Gurmukhi script (cf. languages which are written. Fro m the earliest
Pattanayak 1981, 41—42). In additio n to times many o f the Indian scripts have been
these nine Brahmi derived scripts, the Persio - used fo r writing mo re than o ne language. The
Arabic script is used fo r writing Kashmiri, Devanagari script is an o utstanding example
Sindhi and Urdu. The Ro man script is used o f a script that is used fo r writing several
fo r writing English and fo r transliteratio n o f Indian languages including Sanskrit. The
all Indian languages in a variety o f co ntexts.
33.  The Sphere of Indian Writing 455

Grantha script in So uth India was used fo r cally. Ho wever mo st pro po sals fo r a co mmo n
writing Sanskrit, Tamil and Malayalam. A script have failed because no language co m-
mo dified versio n o f the Bengali script is used munity is willing to o pt fo r a script o ther than
of r writing Manipuri. The Persio -Arabic the traditio nally used script. In the meantime,
script, used fo r writing three o f the majo r script as an identity marker has beco me mo re
languages, is also used fo r writing Punjabi strengthened as hitherto unwritten languages
bo th in India and Pakistan. Just as a script have been reduced to writing. While the state
may be used by mo re than o ne language, po licy legislates the use o f the do minant re-
many Indian languages emplo y mo re than gio nal script fo r newly written languages, a
o ne script. Punjabi is written bo th in Gur- number o f such languages have so ught to
mukhi and the Persio -Arabic, Tamil uses the develo p new scripts, so me derived fro m the
Grantha in additio n to the Tamil script, Kash- Indic scripts, o thers to tally different (Daswani
miri uses the Sharda and the Persio -Arabic. 1976, 36—42; 1975 b, 182—185; Pattanayak
Sindhi was, at o ne time, written in fo ur scripts 1981, 42, 94—109).
— Devanagari, Persio -Arabic, Gurmukhi and
Hattai. When a language emplo ys mo re than
o ne script, each script takes o n specific so cio - 3. Written tradition
linguistic functio ns — o ne used by men and Fo urteen mo dern Indian languages can claim
ano ther by wo men, o ne fo r sectarian func- lo ng written traditio ns. Ten o f the fo urteen
tio ns and the o ther fo r secular, and so o n languages derive fro m Sanskrit and fo ur have
(Pattanayak 1981, 42, 94—99; Ferguso n evo lved fro m ancient Dravidian which, in
1992, 28; Daswani & Parchani 1978, 93—94; fact, pre-dates Sanskrit. It is agreed that mo st
1979, 61; 1985, 223—24; cf. N. C. Chaudhuri o f these mo dern languages emerged as literary
1968, 44). languages aro und the tenth century AD, yet
several can demo nstrate an unbro ken literary
2.4. Common script histo ry o f several hundred years befo re the
There are stro ng script lo yalties in India. Al- tenth century. Standard Hindi has a mo re
tho ugh all the Indic scripts have derived fro m recent literary histo ry but can be linked to
the Brahmi, all the mo dern scripts have dis- Sanskrit thro ugh the vario us regio nal literary
tinct identities and staunch adherents. In the dialects which actually pre-date Hindi and are
mo dern co ntext the pro po sal fo r writing all no w subsumed under it. Likewise, Urdu o c-
the Indian languages in o ne script has been cupies a unique po sitio n amo ng the mo dern
co nsidered bo th at the o fficial go vernmental Indian languages. It shares its structure with
level and at the intellectual-theo retical level. Hindi and still has its o wn distinct literary
The central argument in favo ur o f a co mmo n traditio n fro m aro und 1500 AD drawing
script is based o n the criteria o f efficiency and upo n bo th the regio nal literary reso urces as
techno lo gical viability. It has been argued well as tho se o f the Persian language and
that multiplicity o f scripts can be a hinderance literature (Akhtar 1985, 181 ff; Bhudeb Chau-
in the running o f a mo dern natio n state, hence dhuri 1985, 110 ff; Go vindswamy 1985, 119 ff;
all the Indian languages sho uld be written in Gupta 1985, 97 ff; Nayak 1985, 133 ff; Reddy
o ne script; at the same time, the co mmo n 1985, 160 ff). In additio n to these fo urteen
script sho uld be able to facilitate techno lo gi- languages, many mo re mo dern Indian lan-
cal inno vatio ns. The Ro man script was pro - guages can claim written traditio ns, albeit
po sed as a likely candidate (Chatterji 1960, mo re recent. The questio n o f determining
304—307; P. S. Ray 1963, 92—105). The written status in itself raises a number o f
o ther o bvio us co ntender has been the Deva- pro blems. In a multi-lingual so ciety with a
nagari script. In 1966 the Ministry o f Edu- lo ng written histo ry, there is a co mplex rela-
catio n, Go vernment o f India, pro po sed an tio nship between classical languages, vernac-
augmented Devanagari as a co mmo n script ulars and dialects. At each stage in the de-
fo r Indian languages. The Devanagari, it has velo pment o f mo dern Indian languages the
been argued, wo uld be better since it is an vernaculars have develo ped fro m spo ken va-
indigeno us script and is widely used all o ver rieties gradually replacing standard literary
the co untry. Bo th the Ro man and the Deva- varieties. As vernacular languages have be-
nagari co uld fulfil the requirement o f effi- co me standardised, regio nal spo ken dialects
ciency, but the Devanagari is co nsidered to have taken the place o f vernaculars. The Pra-
be mo re authentic culturally and linguisti- krits co -existed as spo ken languages with the
standard literary Sanskrit; as the Prakrits be-
456 IV. Schriftkulturen

came standardised, they yielded to Apa- 3.2. Criteria for written status


bhramshas which in time yielded to the mo d-
ern Indian languages o f the tenth century AD. No t all o f the 96 living Indian languages in
The develo pment fro m dialect to vernacular the 1971 list are written languages. In the
to standard written variety co ntinues as hith- strictest sense, a language witho ut a script
erto unwritten languages develo p into written can be co nsidered unwritten. In that sense 14
literary languages adding to the number o f o f these languages are unwritten (see appen-
written languages in India. dix). But the mere fact o f alphabetizatio n do es
no t necessarily qualify a language fo r written
status. At least 32 o ther languages, altho ugh
3.1. Inventory of living languages they have writing systems, canno t be co unted
It is no t always po ssible to determine the amo ng the written languages fo r lack o f any
number o f written languages in India at any significant written traditio n o r co ntinued
given po int o f time. In fact the to tal number written activity. Writings in these languages
o f living languages and dialects in India has are restricted to spo radic and limited texts
always been a to pic fo r debate. The Indian such as wo rd lists, grammatical sketches o r
Census, carried o ut every ten years, pro vides religi
o us translati o ns. Mahapatra et al.
an invento ry o f mo ther to ngues spo ken by (1989 a, xvii ff) list several criteria fo r deter-
the Indian peo ple. The mo ther to ngues are mining written status o f a language, o f which
gro uped under different languages and dia- two are co nsidered the mo st impo rtant, viz.
lects o n the basis o f linguistic and cultural (i) existence o f printed literature by native
affinities. Over the past seventy years, differ- speakers o f that language, and (ii) use o f the
ent lists o f living languages have been pro - language in the primary scho o l. The criterio n
po sed. The Linguistic Survey o f India by Sir fo r native literary o utput is significant be-
Geo rge Grierso n pro po sed a list o f 179 lan- cause many o f the 32 alphabetized languages
guages and 544 dialects (Grierso n 1967, 26), have so me kind o f learned literature in print
which was different fro m the o ne used in 1921 pro duced by scho lars such as linguists and
census with 190 languages and 49 dialects. anthro po lo gists o r religio us translatio ns by
The Grierso n invento ry has influenced much fo reign missio naries. Ho wever, despite these
o f the wo rk o n language taxo no mies carried written texts the speakers o f these languages
o ut in India (Shapiro & Schiffman 1981, 70— do no t read o r write their languages (Bhat-
115). In 1961 a pheno menal number o f 1652 tacharya 1991, 7 f). The criterio n fo r a lan-
mo ther to ngues was classified under 193 lan- guage being used in the primary scho o l is
guage names. This invento ry was ratio nalized even mo re significant since its use in educa-
fo r the 1971 census which lists 105 languages, tio n pro mo tes the creatio n o f text bo o ks in
each with a speaker strength o f 10,000 and po pular as well as refined pro se leading to
abo ve (Mahapatra et al. 1989 a, xvii). An- co dificatio n and standardizatio n (cf. Fergu-
o ther 106 languages and dialects are sub- so n 1971, 51—58). Language reshaping, it is
sumed under these 105 language names, mak- believed, is achieved thro ugh literature o f in-
ing a to tal o f 211 languages (Bhattacharya fo rmatio n mo re than literature o f imagina-
1991, 16 n 3). Apart fro m Sanskrit and Ti- tio n. Scho o l text-bo o ks are a step in that
betan seven o f these 105 languages are either directio n. Many o f the Indian languages with
fo reign languages (Arabic, Chinese, Persian mo re recent written histo ries have reaso nable
and English) o r languages o f do ubtful status quantity o f no n-narrative pro se. On the o ther
(Naga, Kuki, Munda). The remaining 96 lan- hand, the 32 languages with o nly scripts are
guages belo ng to fo ur language families: (i) no t co unted amo ng the written languages be-
Austro -Asiatic (Austric), (ii) Dravidian, (iii) cause they have neither no n-narrative litera-
Indo -Aryan (Ind o -Eur
o pean), (iv) Tibet o - ture no r scho o l text-bo o ks. Other criteria
Burman (Sino -Tibetan). In 1971 the 19 Indo - which determine the written status o f a lan-
Aryan languages were spo ken by 73.93%, the guage relate to do mains such as administra-
16 Dravidian languages by 23.95%, the 13 tio n, legislatio n, judiciary and the mass me-
Austro -Asiatic languages by 1.27%, and 48 dia, particularly jo urnalism. The vigo ur o f a
Tibeto -Burman languages by o nly 0.79% o f written language may also be measured by
the Indian op pulati o n (cf. Mahapatra, the number o f translatio ns fro m o ther lan-
McCo nnell, Padmanabha & Verma 1989 a, guages into that language as well as transla-
xvii). The appendix lists all the 105 languages tio ns fro m it into o ther languages. On such a
under different language families. scale o f criteria o nly 50 o f the 96 Indian
33.  The Sphere of Indian Writing 457

languages qualify as written languages. A guages o f India. Fo r the Hindus all o ver India
definitio n o f writtenness based o n these cri-
teria is more methodological than ideological. Language % loan Language % loan
words words
3.3. Written languages Assamese 47.5 Malayalam 53.8
The fifty written languages in the 1971 census Bengali 61.8 Marathi 46.6
list are distributed amo ng the fo ur language Gujarati 46.3 Oriya 50.7
families. The fo urteen majo r written lan- Hindi 43.2 Punjabi 25.6
guages have ancient literary traditio ns and Kannada 61.7 Tamil 13.5
have been used as languages o f mo dern edu- Kashmiri 7.2 Telugu 54.9
catio n fo r a fairly lo ng perio d. They have Fig. 33.2: Sanskrit loan-words in some Modern In-
been used in o ther do mains such as admin- dian languages in %. (Based on Gandhi 1984, 21)
istratio n, judiciary and legislatio n fo r varying
perio ds. In additio n to these 14 languages, (and internatio nally) it is the language o f re-
the 36 o ther languages that qualify as written ligio n and ritual; Hindu religio us texts are
languages have relatively recent literary read and recited daily by hundreds o f millio ns
traditio ns, mo st o f them in the nineteenth o f peo ple. Fo r many centuries Sanskrit has
century except fo r Nepali and Manipuri been written in a variety o f alphabets, each
which have literature fro m the eighteenth cen- part o f the co untry emplo ying the script used
tury. It is no tewo rthy that 22 o f these lan- fo r the lo cal vernacular (cf. 2.5.); but in Aryan
guages belo ng to the Tibeto -Burman family, India Sanskrit has lo ng been written in the
and 6 to the Austro -Asiatic; o nly eight belo ng Devanagari script (Whitney 1964, 1). Admit-
to the o ther two families — Indo -Aryan, 5 tedly, there is no significant new literary pro -
and Dravidian, 3. Of the Tibeto -Burman and ductio n in the language, yet the tho usands o f
Austro -Asiatic languages as many as 25 use o lder texts co ntinue to be repro duced and
the Ro man script, so me exclusively and o thers reprinted with a go o d deal o f research co n-
in additio n to the Devanagari o r ano ther In- ducted o n Sanskrit as a classical language rich
dic script. So me o f them use three scripts, in literature bo th religio us and scientific (cf.
so me even fo ur. The cho ice o f the Ro man 1.2.). Sanskrit is taught in the scho o ls and
script is related to the alphabetizatio n o f these co lleges as an elective o r o ptio nal subject, and
languages by Christian missio naries. Co nse- mo st traditio nal universities pro vide fo r spe-
quently, the earliest publicatio ns in these lan- cializatio n in Sanskrit. Thro ugho ut the last
guages are Biblical translatio ns (cf. Ferguso n 4000 years, Sanskrit has influenced o ther In-
1992, 28; Pattanayak 1981, 96). Like the 14 dian languages; it has been a perpetual so urce
majo r languages, these 36 languages satisfy fo r learned vo cabulary and all Indian lan-
the two majo r criteria; i. e. they all have guages including Dravidian have Sanskrit
printed native literature in varying degrees, ol an-w o rds ob rr o wed at vari o us stages
and they are used as languages o f instructio n thro ugho ut their develo pment. It is o fficially
in the primary scho o l. There are scho o l text- reco gnized as the so urce fo r creatio n o f tech-
bo o ks in all these languages, and at least three nical termino lo gy and fo r the enrichment o f
o f them (Khasi, Ko nkani and Manipuri) are Hindi as the o fficial language (cf. 4.1.; 4.2.).
used at the co llege and university levels like All Indian languages have layers o f Sanskrit
the 14 majo r written languages. The majo r lo an-wo rds since all languages keep returning
difference between the majo r languages and to this so urce fo r enrichment as and when
the mo re recently written languages is that o f co mmunicative demands have warranted new
vo lume and variety o f printed literature. The vo cabularies. In fo rmal written styles all mo d-
use o f these languages in o ther do mains is ern Indian languages, with the po ssible ex-
directly related to the status o f so me o f these ceptio n o f Sindhi and Urdu, use Sanskritic
as official languages. tatsama wo rds in preference to the vernacular
tadbhava wo rds. An estimate o f the tatsama
3.4. Sanskrit as a written language wo rds in mo dern Indian languages in given
in Fig. 33.2 (Gandhi 1984, 21).
Altho ugh no t co unted amo ng the 50 written As a language o f classical literary heritage
languages because o f lack o f current native and immense linguistic reso urces, Sanskrit
literature and it no t being used as a language was included in the list o f scheduled languages
fo r primary educatio n, Sanskrit co ntinues to in the Co nstitutio n o f India (cf. 4.2.) despite
o ccupy a unique po sitio n amo ng the lan- the fact that the number o f peo ple claiming
458 IV. Schriftkulturen

Sanskrit as their mo ther-to ngue is very small; any o ther mo dern Indian language. The vo l-
in 1981 their number was a mere 2,946 peo ple ume o f printed literature in English exceeds
(Census o f India 1981; 1987, 3). Ho wever, the that o f any o ther Indian language. In 1987—
number o f mo ther-to ngue speakers is no t a 88 o ut o f the nearly 32,000 bo o ks received by
true reflectio n o f the status o f Sanskrit in the Natio nal Library in Calcutta 56.5%
India. Fo r that matter there has been an (17,650) were in English. There is no to pic o n
unending debate o n whether Sanskrit was which bo o ks are no t written and printed in
ever a spo ken language (N. C. Chaudhuri English in India; bo th literature o f info rma-
1968, 43; Ho ck 1992, 247 f), fo r it is argued tio n and imaginatio n is pro duced in the lan-
that Sanskrit has always been a highly co di- guage, altho ugh no t many o f the mo ther-
fied written language used fo r written co m- to ngue speakers engage in this activity. Cre-
municatio n in co njunctio n with vario us spo - ative literature in English by Indian writers
ken languages fro m Prakrits o nwards co -ex- has acquired the label o f Indo -Anglian liter-
isting with newly emerging written literary ature (Ansari 1978, 144—161). English can
languages, and maintaining its supremacy as be the medium o f instructio n fro m the earliest
the mo st perfect vehicle o f written texts. De- classes in the primary scho o l in English me-
spite the small number o f mo ther-to ngue dium scho o ls; it is taught as o ne o f the co m-
speakers in mo dern India, Sanskrit is pro - pulso ry languages to all scho o l children fro m
jected as a language o f great significance and grade 5 o r 6 o nwards as o ne o f the three
value, and effo rts are being made to revive it languages under the three-language fo rmula
as a spo ken language in additio n to its ro le (cf. 6.2.). At the senio r scho o l, co llege and
as a carrier o f the Indian traditio n and literary university it is the medium o f instructio n fo r
heritage. Daily news bulletins in Sanskrit are science and technical subjects. All co lleges
bro adcast by the natio nal radio altho ugh and universities o ffer specialised co urses in
so me scho lars claim that spo ken Sanskrit is English language and literature. Altho ugh
being attritio ned thro ugh disuse (Ho ck 1992, English is no t included in the Eighth Schedule
247—260). If all the Indian languages were (cf. 4.2.), it co ntinues to be an asso ciate o f-
put o n a co ntinuum, Sanskrit wo uld be placed ficial language o f the Indian Unio n (cf. 4.1.)
at o ne extreme as a predo minently written and is used widely fo r o fficial co mmunicatio n
language and the 14 unalphabetized lan- at the go vernmental level between the Unio n
guages (cf. 3.2.) at the o ther extreme as who lly and the States as well as between States that
spo ken languages with the remaining 82 lan- do no t share a co mmo n language. In recent
guages placed at vario us po ints o n the co n- years it has been declared as the o fficial lan-
tinuum acco rding to the written spheres o r guage in two states, viz. Mizo ram and Na-
do mains in which they functio n in the to tal galand. English is used in legislatures and
multilingual co mmunicative setting (cf. Bhat- parliament, the supreme co urt and the state
tacharya 1991, 2). high co urts, in administratio n, industry and
co mmerce. It is the language o f scientific re-
3.5. The sphere of English in India search and is used by mo st educated peo ple.
It is the preferred language o f internatio nal
English has been excluded fro m the list o f co mmunicatio n used by Indian diplo mats, ac-
written languages (cf. 3.3.) because it is clas- ademics and businessmen. In the urban areas
sified as a fo reign language to gether with mo st educated Indians speaking different
Arabic, Chinese and Persian, all fo ur being mo ther-to ngues, o r even the same mo ther-
included in the 1971 invento ry o f living lan- to ngue prefer to co mmunicate thro ugh Eng-
guages. In 1981 o ut o f a to tal Indian po pu- lish since it brings so cial prestige and reco g-
latio n o f 661.5 millio n, English mo ther- nitio n (Ansari 1978, 69 ff; Daswani 1975 a,
to ngue speakers were ro ughly 0.23 millio n, 34—49).
just abo ut 0.034% o f the to tal po pulatio n In spite o f the widespread use o f spo ken
(Census o f India 1981: 1987, 449). The and written English, the facility in English o f
mo ther-to ngue speakers o f English make up the average Indian speaker has deterio rated
o nly 1% o f the to tal number o f speakers o f o ver the past 90 years, particularly in the last
English in India, 99% o f who m speak English 45 years since 1947. A regio nal variety la-
as a seco nd language, the to tal number co n- belled Indian English has co me to be reco g-
stitute barely 3.4% o f the Indian po pulatio n nized as a no n-native variety no ted fo r its
(cf. Mahapatra et al. 1989 a, xix). No twith- characteristic syntax and pho no lo gy which
standing this, English enjo ys high so cial pres- exhibit marked influence o f the Indic mo ther-
tige and is used in mo re do mains than perhaps
33.  The Sphere of Indian Writing 459

to ngues o f the speakers (Ansari 1978, 155 ff; 4.1. Hindi as official language
Jo hn 1968, 80 f; Pattanayak 1981, 161—178;
Daswani 1975, 34—47; Gokak 1964, 57—62). The Indian Co nstitutio n, which was ado pted
in 1950, designated Hindi in the Devanagari
script as the o fficial language o f the Indian
4. Official languages Unio n (the federal go vernment) and also pro -
vided fo r the co ntinuatio n o f English fo r o f-
Multiple o fficial languages fo r co mmunica- ficial purpo ses fo r a perio d o f fifteen years
tio n at vario us levels is characteristic o f mul- until 1965 by which time it was assumed that
tilingual po licies. India has had an uninter- Hindi wo uld be able to replace English in all
rupted state po licy o f multiple o fficial lan- the o fficial do mains. The Co nstitutio n also
guages since the fo urth century BC (Ferguso n pro vided fo r the ado ptio n o f o ne o r mo re
1992, 27). Sanskrit was the natio nal o fficial languages as the state o fficial languages in
language fo r many centuries even when the the different states in the co untry. The Co n-
day-to -day co mmunicatio n was in the lo cal stitutio n carried a directive fo r the develo p-
dialects. As an o fficial language, Sanskrit was ment o f the Hindi language: „It shall be the
pro bably no t the mo ther-to ngue o f many peo - duty o f the Unio n to pro mo te the spread o f
ple (cf. N. C. Chaudhuri 1968, 43). During the Hindi language, to develo p it so that it
the Muslim perio d Persian succeeded Sanskrit may serve as a medium o f expressio n fo r all
as the o fficial language. Persian, strangely the elements o f the co mpo site culture o f India
eno ugh, was no t the mo ther-to ngue o f even and to secure its enrichment by assimilating
the Muslim rulers who intro duced it into In- witho ut interfering with its genius, the fo rms,
dia. While Sanskrit was always a cultural and style and expressio ns used in Hindustani and
religio us language fo r a large sectio n o f the in the o ther languages o f India specified in
Indian po pulatio n, Persian was so lely an o f- the Eighth Schedule, and by drawing, wher-
ficial language used o nly by the go verning ever necessary o r desirable, fo r its vo cabulary,
elite and later by the educated; it was neither primarily o n Sanskrit and seco ndarily o n
understo o d by the lay peo ple, no r accepted o ther languages.” (Co nstitutio n o f India, Part
as a part o f the Indian cultural heritage. Per- XVII, Chapter IV, Article 351). The directive
sian was displaced by English which became is clear. Hindi was no t o nly declared as the
the o fficial language o f India under the Brit- o fficial language o f the co untry, but it had to
ish, especially after the unsuccessful War o f be develo ped to take o n that ro le mo re effec-
Independence in 1857 when India became a tively, and the develo pment had to be natural
co lo ny o f the British Cro wn. Like Persian, to Hindi as well as depend o n the reso urces
English was neither the mo ther-to ngue o f the o f Sanskrit and o ther Indian languages.
Indian peo ple no r a language o f cultural iden- Mo reo ver, in additio n to being the natio nal
tity. o fficial language Hindi co uld also be the o f-
Fo r so cio -po litical reaso ns, in the ninety ficial language in any o f the states in the
years fro m 1857 to 1947 English came to be co untry (cf. Mahapatra 1991, 12). Hindi was
used very widely in India, in do mains that designated the o fficial language o f the Unio n
extended far beyo nd the strictly o fficial o nes. by the Co nstituent Assembly after a lo ng de-
It became the mo st prestigio us language and bate in which languages o ther than Hindi viz.
was used exclusively in higher educatio n, re- English, Hindustani, Sanskrit and Bengali
search, internatio nal relatio ns and fo r science were pro po sed as alternatives to Hindi as the
and techno lo gy, in additio n to the o fficial official language (Gandhi 1984, 33—41).
do mains o f legislatio n, administratio n and the
judiciary. It became the preferred language 4.2. Scheduled languages
fo r co mmunicatio n amo ng the educated elite
and affected the develo pment and mo derni- The Eighth Schedule is mentio ned twice in
zatio n o f Indian languages to a large extent. the Indian Co nstitutio n: in the co ntext o f
In 1947 with po litical freedo m the cho ice o f mo nito ring the use o f Hindi as the o fficial
an o fficial language fo r free India to o k o n an language (Co nstitutio n o f India, Article 344),
added significance since the use o f Indian and in the co ntext o f the develo pment o f
languages in preferance to English had been Hindi (cf. 4.1.). In 1950 the Schedule listed
an impo rtant issue during the freedo m strug- 14 languages including Hindi and Sanskrit.
gle (Gandhi 1984, 8). English was no t included since it was no t
co nsidered to be an Indian language. The
o ther 12 languages were all majo r written
460 IV. Schriftkulturen

languages with lo ng literary traditio ns. Other guages has never been clear. Kashmiri is a
Indian languages were left o ut o f the Schedule Scheduled language and a regio nal language
because they did no t have established literary but no t an o fficial language. Urdu is a Sched-
traditio ns. Sindhi, a majo r Indian language uled language, no t a regio nal language, yet it
with literature go ing back to the eighth cen- is a state o fficial language in Jammu & Kash-
tury AD was left o ut because the entire Sindhi mir where, curio usly, it is no t even o ne o f the
speaking regio n was assigned to Pakistan, and three numerically impo rtant languages (India
the Sindhi immigrant po pulatio n in India was Literacy Atlas 1978). Sanskrit and Sindhi are
scattered all o ver the co untry (Daswani 1979, Scheduled languages, but neither is a regio nal
60—68; 1992, 239 ff). In 1957 the po litical o r state o fficial language. The reco gnitio n o f
map o f India was redrawn when states were do minant regio nal languages (except Kash-
demarcated o n linguistic basis making po lit- miri) as state o fficial languages has had sev-
ical bo undaries co extensive with language eral fallouts.
bo undaries. As a result, the Eighth Schedule The o fficial languages have beco me the
to o k o n a very special significance since all languages o f universal currency extending to
the Scheduled languages, except Sanskrit and all do mains, making it o bligato ry fo r speakers
Urdu, became majo rity o r do minant lan- o f mino rity languages in each state to learn
guages in the newly drawn states. Urdu is the the state o fficial language. This has also led
stated mo ther-to ngue o f sizeable po pulatio ns, to further co dificatio n and standardizatio n o f
especially Muslim, in several states, but it is each state o fficial language. Telugu has be-
no t a majo rity language in any o f the states. co me standardized in the directio n o f a mo d-
After 1957 the Scheduled languages, as o ffi- ern spo ken standard as o ppo sed to the earlier
cial languages o f different states, became lan- classical written standard, leading to a much-
guages o f wider use in do mains such as leg- needed refo rm in educatio n (Krishnamurti
islatio n, administratio n, judiciary and edu- 1979, 1—29). Likewise, as a state o fficial lan-
catio n. This also affected the status o f o ther guage Bengali has undergo ne systematic co d-
languages spo ken in each state. Fo r example, ificatio n with adjustments in the traditio nally
Gujarati became a mino rity language in Bo m- reco gnized diglo ssic styles — the fo rmal sadhu
bay after the separatio n o f Maharashtra and bhasha and the co llo quial chalit bhasha (Chat-
Gujarat (Phadke 1979, 118—132). The co n- terjee & Chatterjee 1979, 25—34). Tamil has
sequences o f linguistic states became evident been purged o f Sanskritic tatsama loan-words
much later when the majo rity languages to o k in an effo rt to purify the language (Anna-
o n the mantle o f do minant languages in the malai 1979, 35—68). On the o ther hand,
states and were perceived as a threat by the Hindi has faced co mpetitio n fro m several o f
mino rity languages in each state (Mallikarjun the regio nal dialects subsumed under stan-
1985, 264—279), exactly in the same manner dard Hindi (Misra 1979, 70—79), just as there
as Hindi as the o fficial language o f the Unio n has been o ppo sitio n to Hindi as the o fficial
was perceived as a threat by the o ther lan- language o f the Unio n (Srivastava 1979, 80—
guages o f the Eighth Schedule (Srivastava 88; Pattanayak 1985, 280—286). In effect the
1979, 80—89; Pattanayak 1985, 280—286). creatio n o f linguistic states leading to the re-
Since 1957, speakers o f several written lan- co gnitio n o f majo r languages as state o fficial
guages excluded fro m the Schedule have ag- languages has given rise to language identity
itated fo r the inclusio n o f their languages in and linguistic ambitio ns. Speakers o f numer-
the Eighth Schedule. Sindhi was added to the o us mino r languages (as against mino rity lan-
Schedule in 1967, and in 1992 Ko nkani, Man- guages) have so ught to pro ject their linguistic
ipuri and Nepali have been included in the identities as a prelude to po litical identities
Eighth Schedule, making the to tal o f Sched- (Ekka 1979, 99—106; Mahapatra 1979, 107—
uled languages 18 with many mo re languages 117; Khubchandani 1985, 287—310).
seeking inclusio n. Fig. 33.3 sho ws the states Do minant languages as state o fficial lan-
where 15 Scheduled languages are spo ken as guages have also resulted in reinfo rcing re-
majo rity languages; Sanskrit, Sindhi and gio nal language identity as primary and na-
Urdu are no t indicated since they are state- tio nal identity as seco ndary. Speakers o f lan-
less languages. guages o ther than the do minant regio nal lan-
guage are perceived as o utsiders which has
4.3. Regional and state official languages led to heightened linguistic identities amo ng
linguistic mino rities in each state. In a co untry
The distinctio n between Scheduled languages, where multilingualism is a reality at the grass-
regio nal languages and state o fficial lan-
33.  The Sphere of Indian Writing 461

Fig. 33.3: The Scheduled languages of India. Sanskrit, Sindhi and Urdu are not indicated since they are
stateless languages

ro o ts level, with no t even o ne o f the 464 shai/Mizo in Mizo ram where the state o fficial
administrative districts in the co untry being language is English, and Nepali in parts o f
mo no lingual, the do minatio n o f a regio nal West Bengal where the o fficial language is
language as the state o fficial language, creates Bengali. Majo r languages such as Bengali,
mo re frictio n than harmo ny. In several states Hindi, Malayalam, Tamil, Telugu and Urdu
mino rity languages have been declared as ad- are designated as sub-regio nal o fficial lan-
ditio nal o fficial languages since they are ma- guages in states o ther than tho se where they
jo rity languages in specific sub-regio ns within are state o fficial languages. English is no w
the state; viz. Bho tia and Lepcha in Sikkim the state o fficial language in Nagaland and
in additio n to the state o fficial Nepali; Lu- Mizo ram giving it the unique status o f a state
462 IV. Schriftkulturen

o fficial language witho ut it being either a languages. Since its inceptio n the Sahitya
Scheduled o r a regio nal language (Mahapatra Akademi has reco gnized o utstanding literary
et al. 1989 a, xxiii f). writings in vario us Indian languages thro ugh
natio nal literary awards given o ut every year.
The Sahitya Akademi has its o wn list o f
5. Language development twenty-o ne languages — 18 Scheduled lan-
The Co nstitutio n o f India directs the Unio n guages plus English, Do gri and Rajasthani.
o f India to ensure the develo pment o f Hindi It is wo rth no ting that Ko nkani, Manipuri
as the o fficial language using the reso urces o f and Nepali which have fo und a place in the
the languages o f the Eighth Schedule (cf. 4.1.). Eighth Schedule in 1992 were already reco g-
The go vernment o f India set up several co m- nized by the Sahitya Akademi as literary lan-
mittees and co mmissio ns and also established guages. Likewise, Rajasthani which is sub-
several institutio ns to carry o ut the directive sumed under Hindi by the Indian census, is
co ntained in the Co nstitutio n. The initial ef- reco gnized as a separate literary language by
fo rts were related to the creatio n o f technical the Sahitya Akademi. The Sahitya Akademi
termino lo gies and writing standard reference also o rganizes writers’ wo rksho ps and o ther
bo o ks so that Hindi co uld perfo rm the ro le literary meetings thro ugho ut the co untry to
assigned to it. Invariably, any planned activity po pularize Indian literature accro ss linguistic
fo r the develo pment o f Hindi also entailed bo undaries. One o f the majo r activities un-
parallel activities fo r the develo pment o f re- dertaken by the Sahitya Akademi is to trans-
gio nal o fficial languages, particularly fo llo w- late Indian literature into as many Indian
ing the fo rmatio n o f linguistic states, since languages as po ssible. An encyclo paedia o f
the state languages were to perfo rm precisely Indian literature is being prepared by the Sah-
tho se functio ns at the state level that were itya Akademi. The vario us literary activities
assigned to Hindi at the natio nal level. The are co o rdinated by the regio nal centres o f the
majo r develo pmental activities have been in Sahitya Akademi in Bo mbay, Calcutta and
the areas o f pro mo tio n o f Indian literatures Madras in additio n to the natio nal centre in
and languages, printing o f text-bo o ks and New Delhi. Many o f the states have estab-
reference bo o ks including dictio naries, estab- lished state Sahitya Akademies fo r the pro -
lishment o f liberaries, study o f tribal lan- mo tio n o f literary activities in all the lan-
guages, and research in classical and mo dern guages in a particular state. Co nsequently, all
languages. languages with written literature find enco ur-
agement thro ugh these state academies (cf.
P. B. Ray 1992, 126 f).
5.1. Technical terminologies
The Co mmissio n fo r Scientific and Technical 5.3. Promotion of Indian languages
Termino lo gy in New Delhi prepares and pub-
lishes definitio nal dictio naries and termino - Develo pment and pro mo tio n o f Indian lan-
logies in basic sciences, applied sciences, social guages is enco uraged thro ugh numero us pro -
sciences and humanities which are used fo r grammes and institutio ns bo th at the natio nal
writing text-bo o ks and reference bo o ks. The level as well as in each o f the states. The
Co mmissio n prepares these termino lo gies in majo r thrust o f these develo pmental activities
Hindi and the o ther Scheduled languages. is to facilitate the three-language fo rmula (cf.
It enco urages pro ductio n o f university level 6.2.) in scho o ls and to wo rk to wards a switch-
bo o ks in Hindi in the vario us disciplines. Uni- o ver fro m English to regio nal languages as
versity level bo o ks in regio nal languages are media o f instructio n at the universities. The
pro duced at the state level. By 1978 a to tal Central Institute o f Hindi, in Agra, pro mo tes
o f 4528 bo o ks had been written in 11 Sched- the teaching o f Hindi in the no n-Hindi speak-
uled languages fo r use at the university level ing states and pro duces text-bo o ks as well as
(Gandhi 1984, 204—207). reference bo o ks including multilingual dic-
tio naries and technical termino lo gies fo r fa-
cilitating the use o f Hindi as an o fficial lan-
5.2. Promotion of Indian literatures guage. The Central Institute o f Indian Lan-
In 1954 the Go vernment o f India set up the guages in Myso re is the co unterpart institute
Sahitya Akademi, the natio nal academy o f fo r the pro mo tio n o f o ther majo r Indian lan-
literature, to wo rk actively fo r the develo p- guages thro ugh research, publicatio ns and in-
ment o f literature in Indian languages and to structio nal mo dules. Metho do lo gies fo r ac-
co o rdinate literary mo vements in the vario us celerated instructio n in Indian languages fo r
33.  The Sphere of Indian Writing 463

no n-native speakers is o ne o f the special areas


o f co ncern. Research in written and unwritten There are mo re than 60,000 libraries in India.
mino r and tribal languages is a majo r activity The Natio nal Library in Calcutta is the per-
o f this institute. 57 tribal languages, so me manent repo sito ry o f all printed material pro -
witho ut alphabets, are being systematically duced in India, all printed material written
researched fo r pro ductio n o f basic reference by Indians as well as material written o n India
materials and text-bo o ks (cf. P. B. Ray 1992, by fo reigners wherever published and in
114 f.). whatever language. Under the Delivery o f
Bo o ks Act o f 1954, the Natio nal Library re-
ceives o ne co py o f each publicatio n pro duced
5.4. Promotion of foreign languages in the co untry. Apart fro m jo urnals, perio d-
As early as 1958 the go vernment o f India icals, maps, manuscripts, newspapers, micro -
established the Central Institute o f English in film/micro fish, the Natio nal Library has a
Hyderabad fo r ensuring qualitative impro ve- co llectio n o f o ver two millio n bo o ks. The
ment in the teaching o f English. Altho ugh the Natio nal Library publishes the Indian Na-
Co nstitutio n o f India had envisaged a switch- tio nal Biblio graphy every mo nth and an-
o ver fro m English to Indian languages in nually which co ntains entries o f publicatio ns
vario us do mains, the impo rtance o f English in majo r Indian languages and English re-
as an internatio nal language was never ques- ceived under the Delivery o f Bo o ks Act. There
tio ned and steps were taken to ensure co ntin- are majo r libraries in all the Indian cities.
uatio n o f English as o ne o f the three lan- Educatio nal institutio ns have bo o k co llectio n
guages to be taught at the scho o l (cf. 6.2.). and many universities have specialised librar-
The Central Institute o f English was later ies fo r researchers. Under the Delivery o f
expanded to address o ther majo r fo reign lan- Bo o ks and Newspapers (Public Libraries) Act
guages, viz. Russian, German, French and o f 1954 fo ur libraries are entitled to o ne co py
Arabic (cf. P. B. Ray 1992, 115 f). Tibetan each o f all new bo o ks and magazines pub-
finds a special place in the study o f fo reign lished in the co untry; these are the Natio nal
languages. Special institutio ns fo r the study Library, Calcutta, Central Library, Bo mbay,
o f Tibetan and Buddhism have been estab- Co nnemara Public Library, Madras and
lished in Himachal Pradesh and Sikkim as Delhi Public Library, Delhi. In a recent at-
well as in Varanasi to research o n Tibetan tempt to po pularize the reading habit amo ng
studies with special reference to the co ntri- the rural readers a netwo rk o f 2355 Jana
butio n o f Tibetan to the Indian heritage, fo r Shikhshana Nilayams, rural reading ro o ms
a bo dy o f kno wledge lo st to Sanskrit and and libraries is being established (cf. P. B. Ray
Pali, exists in the Buddhist texts in Tibetan 1992, 90 f; 137 ff).
(cf. P. B. Ray 1992, 139).
5.6. Promotion of book publication
5.5. Promotion of classical languages The Natio nal Bo o k Trust in Delhi pro mo tes
In the scheme o f things, pro mo tio n and de- publicatio n o f bo o ks in majo r Indian lan-
velo pment o f classical languages finds a place guages and also pro mo tes the reading habit
alo ng with the develo pment o f mo dern Indian especially amo ng scho o l children and neo -
and fo reign languages. Sanskrit, Classical literates. It pro duces bo o ks o f general inter-
Arabic and Persian are studied and pro mo ted est, bo th narrative and no n-narrative, and
thro ugh a number o f develo pmental pro - enco urages private publishers to pro duce such
grammes. Reco gnitio n awards are given to bo o ks at subsidised prices. The NBT o rgan-
scho lars in Classical Arabic, Persian and San- izes wo rksho ps fo r writers and translato rs in
skrit. Traditio nal Sanskrit educatio n includ- Indian languages to enco urage bo o k writing
ing the o ral traditio n is paid particular atten- fo r children and newly literate adults. It o r-
tio n. Co mpetitio ns in recitatio n o f Vedic ganizes bo o k fairs, natio nal bo o k weeks, sem-
hymns to enco urage co ntinuatio n o f the o ral inars and exhibitio ns as part o f its pro mo -
traditio n are o rganized annually. Sanskrit tio nal activities (cf. P. B. Ray 1992, 108—
scho lars are enco uraged to co ntinue the study 112).
o f that language in the traditio nal mo de o f
memo rizatio n and handing do wn the texts
o rally. Sanskrit is also taught as o ne o f the 6. Written languages and education
languages at the scho o l level (cf. P. B. Ray The mo dern university system was intro duced
1992, 116—121). in India by the British after 1857 with the
establishment o f the universities o f Bo mbay,
5.6. Promotion of Libraries
464 IV. Schriftkulturen

Madras and Calcutta. The medium o f instruc- new language in a fo rmal scho o l setting. The
tio n in these universities was English. The medium o f instructio n in the co lleges and
educatio nal system under the British was lim- universities, especially in science and techno l-
ited to the elite and aimed at pro ducing Eng- o gy, co ntinues to be English. In 1967, the
lish kno wing Indians trained to serve the in- go vernment o f India pro po sed to intro duce
terests o f the co lo nial masters, it igno red the regio nal languages as media o f instructio n at
indigeno us system o f educatio n and sup- the university level replacing English. This
planted it by intro ducing the western pattern decisio n had to be mo dified permitting co n-
o f scho o l educatio n (Raza, Ahmad & Nuna tinuance o f English as the medium o f instruc-
1990, 12—15). The indigeno us scho o ling sys- tio n in science and techno lo gy because o f
tem which had a histo ry o f at least 2500 years pro test by writers, students, academics, pro -
(Mo o kerji 1960, xix—xxxvi), perished under fessio nals and intellectuals (Mehro tra 1986,
the state co ntro lled scho o ls run by the British 203—217; Shah 1968, 97—118; Farreira 1968,
since the pro ducts o f this educatio n were ab- 34—38; Rajago palachari 1968, 59—61; Sri-
so rbed by the co lo nial administratio n as nivasan 1968, 92—96; also cf. Shah 1968,
clerks. The language o f instructio n in the 189—209).
scho o ls and universities in British India was
English. It was o nly in 1922, after a pro - 6.2. The three-language formula
tracted debate o n the ro le o f vernacular lan-
guages in educatio n, that scho o l educatio n In 1961 it was decided by the Co nference o f
came to be imparted thro ugh the majo r In- Chief Ministers o f the vario us states o f the
dian languages in different parts o f British Indian Unio n that all scho o l children in the
India. English, ho wever, co ntinued to be co untry will be required to study three lan-
taught as a co mpulso ry subject at the scho o l. guages during their scho o ling, this po licy
The medium o f instructio n at the universities which came to be referred to as the three-
and co lleges co ntinued to be English. In 1947 language fo rmula was mo tivated mo re by po -
when India became independent, the majo r litical and so cial co nsideratio ns rather than
pro blem befo re the co untry was to universal- educatio nal (Shah 1968, 197). Basically, the
ize elementary educatio n in o rder to bring fo rmula envisaged the use o f the mo ther-
within the scho o l-fo ld millio ns o f children to ngue o r the regio nal language as the me-
speaking different languages and dialects dium o f instructio n at the primary scho o l
many o f which were unwritten, and to bring (grades I—V), fo llo wed by the natio nal o ffi-
literacy to millio ns o f adults who had no t cial language Hindi as the seco nd language
been pro vided basic educatio n (cf. 7.). The at the upper primary stage (grades VI—VIII),
fo cus after 1950 was the pro visio n o f basic with English as the third language to be in-
educatio n in the mo ther-to ngue o f the learn- tro duced anytime between grades VI to X in
ers to all children in the age-group 6—14. the scho o l. The three language of rmula
equated the Hindi speaking states with the
6.1. Medium of instruction no n-Hindi speaking states, making the study
o f a mo dern Indian language co mpulso ry in
In the fo rty year perio d fro m 1951 to 1991 states where Hindi was the state o fficial lan-
the number o f languages in which primary guage. The three-language fo rmula has been
scho o l educatio n is pro vided has risen to fifty fo llo wed in the Indian scho o l system since
— the written languages o f India (cf. 3.3.). 1961 with varying degrees o f success. It has
This number, ho wever, is o nly a small pro - been interpreted idio syncritically by several
po rtio n o f the to tal number o f mo ther- states making it po ssible fo r mo st learners to
to ngues. Co nsequently, a large number o f make easy o ptio ns. In Tamil Nadu it has been
scho o l children in India get primary educa- reduced to a two -language fo rmula where
tio n thro ugh a language that is no t their Tamil and English are taught as the two lan-
mo ther-to ngue. Fo r many children the scho o l guages in scho o ls. In relatio n to the use o f
language is the standard written variety o f written languages in educatio n, it has to be
the regio nal o r so cial dialect they have learnt no ted that every Indian who co mpletes sec-
naturally, fo r many o thers it is a to tally dif- o ndary educatio n (grades I—X) learns to read
ferent language o ften fro m ano ther language and write three languages, and o ften three
family unrelated ot their mo ther-to ngue. separate scripts. In many cases a learner may
Scho o l educatio n, therefo re, is an exercise in actually have to learn fo ur languages includ-
acquiring no t merely the skills o f reading and ing his mo ther-to ngue if that is different fro m
writing but an exercise in acquiring a to tally the do minant state o fficial language. Acco rd-
33.  The Sphere of Indian Writing 465

ing to the educatio nal po licy children fro m o f the practice o f reading and writing in a
tribal co mmunities are suppo sed to be taught so ciety. The literacy rates in India have reg-
thro ugh their mo ther-to ngue in grades I and
II, making a transitio n to the state o fficial Literacy Rates Scheduled Non
language in grade III. These children, there- castes scheduled
fo re, are required to learn to read and write 1971 1981 1971 1981
in fo ur languages if they sho uld co mplete % % % %
seco ndary scho o l. It may be no ted that a Total population 14.67 21.38 33.80 41.30
number o f tribal languages especially o f the Male 22.36 31.11 44.48 52.35
Austro -Asiatic and Tibeto -Burman families Female 6.44 10.93 22.25 29.43
are as yet unwritten. Once these languages Rural population 12.77 18.48 27.51 34.22
beco me available as media o f instructio n at Male 20.04 27.91 38.10 46.14
the primary scho o l their status will change Female 5.06 8.44 15.88 21.68
and they will aspire like o ther written lan-
guages fo r a place in the Eighth Schedule (cf. Urban population 28.65 36.60 55.06 60.39
Citizens for Democracy 1978, 58—61). Male 38.93 47.54 63.73 68.46
Female 16.99 24.34 44.93 51.19
6.3. Status of English in education Fig. 33.4: Literacy Rates in India (From: Raza &
Aggarwal 1986, 107)
English is o ne o f the three languages in the
three-language fo rmula. It co ntinues to be the istered an increase fro m 5.35% in 1901 to
medium o f instructio n at the co llege and uni- 52.11% in 1991. In 1951 the literacy rate was
versity levels in science, medicine, engineering 19.74%. The nearly, 48% increase in ninety
and agriculture. It is also the medium o f in- years (1901—1991) o f a little o ver 32% in-
structio n fo r so cial sciences and humanities crease in fo rty years (1951—1991) bo th po int
in many Indian universities. English is the to the increased practice o f reading and writ-
so le language fo r scientific research and an ing in India (Prem Chand 1991, 3; cf. Raza
impo rtant language fo r all academic research. & Aggarwal 1986, 101). While the literacy
In public examinatio ns leading to pro fes- rates have mo unted, the abso lute number o f
sio nal careers, including go vernment service, peo ple who canno t read o r write has steadily
English co ntinues to be an impo rtant lan- increased since the to tal Indian po pulatio n
guage. The Unio n Public Services Co mmis- has mo re than do ubled between 1951 and
sio n which co nducts examinatio ns fo r entry 1991.
into the Indian Administrative Service allo ws The gro wth o f literacy during this perio d
candidates to o pt fo r a regio nal language as has no t been able to bridge the gap between
the medium o f answering examinatio n ques- male and female literacy. Fo r instance, in
tio ns. Figures sho w that abo ut 8% to 23% 1951 male literacy was 29% while female lit-
o f the candidates o pt fo r o ne o f the regio nal eracy was o nly 2.8%. In 1991 male literacy
languages, the o thers o pting fo r English. figures stand at 63.9% (an increase o f 34.9%
There is so me evidence to sho w that the re- in fo rty years) and female literacy at 39.4%
gio nal languages are beco ming increasingly (an increase o f 36.6% in fo rty years). Segre-
mo re po pular at these examinatio ns altho ugh gated literacy rates fo r rural and urban areas
English is still the mo st po pular language as well as fo r upper (no n-scheduled) and
(Gandhi 1984, 201). At the scho o l level mo re backward (scheduled) castes reveal these gaps
and mo re parents prefer to send their children mo re dramatically. Fig. 33.4 sho ws the co m-
to English medium scho o ls where it is taught parative rates o f literacy amo ng scheduled
as the first language. In recent debates o n the and no n-scheduled castes in rural and urban
medium o f instructio n at the scho o l level the areas (Raza & Aggarwal 1986, 107). As is
impo rtance o f mo ther-to ngue is being reiter- evident, the no n-scheduled caste urban males
ated and there is a demand fo r po stpo ning have the highest literacy rates at 68.46% and
the study o f English in the scho o l curriculum the scheduled caste rural females the lo west
(Nair 1992, 96; 103 f). rates at 8.44%. The hierarchy o f literacy fro m
the upper caste urban male to the lo wer caste
rural female is sho wn in Fig. 33.5 (cf. Raza
7. Literacy in modern India & Aggarwal 1986, 110). It is clear that the
Literacy is co nsidered to be a reliable index urban: rural and the male: female variables
466 IV. Schriftkulturen

Scheduled Caste Rural Female 8.44% Sl. Literary rates


Non-Scheduled Caste Rural Female 21.68% No. State/IYD (1981)(1991)*
Scheduled Caste Urban Female 24.34% 1. Andhra Pradesh 35.7 45.1
Scheduled Caste Rural Male 27.91% 2. Arunachal Pradesh 25.5 41.2
Non-Scheduled Caste Rural Male 46.14% 3. Assam N.A 53.4
Scheduled Caste Urban Male 47.19% 4. Bihar 32.0 38.5
Non-Scheduled Caste Urban Female 51.19% 5. Goa 65.7 77.0
Non-Scheduled Caste Urban Male 68.46% 6. Gujarat 52.2 60.9
7. Haryana 43.9 55.3
Fig. 33.5: Hierarchy of Literacy in India (Based on 8. Himachal Pradesh 51.2 63.5
Raza & Aggarwal 1986, 110) 9. Jammu & Kashmir 32.7 N.A
intersect with the caste variable. The spread 10. Karnataka 46.2 56.0
o f literacy in India, therefo re, is no t unifo rm. 11. Kerala 81.6 90.6
Urban India is mo re literate than the rural, 12. Madhya Pradesh 34.2 43.5
upper castes are mo re literate than the lo wer 13. Maharashtra 55.8 63.1
castes, and males are mo re literate than fe- 14. Manipur 49.6 61.0
males. Practice o f literacy in India is a male 15. Meghalaya 42.1 48.3
do main. Then, there are regio nal variatio ns 16. Mizoram 74.2 81.2
with so me states sho wing very high literacy 17. Nagaland 50.2 61.2
rates, o thers very lo w. Fig. 33.6 sho ws literacy 18. Orissa 41.0 48.6
rates fo r 1981 and 1991 in the 32 States and 19. Punjab 48.2 57.1
Unio n territo ries o f India (Prem Chand 1992, 20. Rajasthan 30.1 38.8
6). It may be assumed that the literacy rates 21. Sikkim 41.6 57.5
in each o f the states relate to the do minant 22. Tamil Nadu 54.4 63.7
majo rity language. In o ther wo rds, the 90.6% 23. Tripura 50.1 60.4
literacy rate in Kerala in 1991 is indicative o f 24. Uttar Pradesh 33.3 41.7
literacy in Malayalam, likewise the 38.5% 25. West Bengal 48.7 57.7
literacy rate in Bihar in 1991 is indicative o f 26. A & N Islands 63.2 73.7
the rate o f literacy in Hindi, the do minant 27. Chandigarh 74.8 78.7
majo rity language o f Bihar. It may be co n- 28. Dadar & Nagar Haveli 32.7 39.5
cluded that no t all written languages have the 29. Daman & Diu 59.9 73.2
same status since the literacy rates are differ- 30. Delhi 71.9 76.1
ent for different languages. 31. Lakshdweep 68.4 79.2
32. Pondicherry 65.1 74.9
7.1. Literacy and illiteracy * Based on estimated population of age group 7
Widespread illiteracy, in the narro w sense o f and above
absence o f alphabetizatio n, is a relatively re- Fig. 33.6: Literacy Rates in Indian States and Un-
cent phen o meno n. Unsegregated literacy ion Territories 1981—1991. (From Prem Chand
rates fo r the entire po pulatio n, measured in 1992, 6)
percentages is no t an Indian interpretatio n o f
literacy. It is surmised that as early as the
fo urth and third centuries BC, literacy must literate and the illiterate alike. Also , there has
have been widespread in the central Maurya always been a distinctio n between classical
empire (Go ugh 1968, 70). Certainly, by the literacy and vernacular literacy, each with spe-
fifth century AD there was a well established cific functio ns, and abo ve all literacy in the
system o f educatio n in India (Mo o kerji 1960, mo dern western co nno tatio n is perceived as
492—502). In medieval India literacy appears an aspect o f fo rmal scho o ling, quite unco n-
to have been universal amo ng the upper nected with everyday living (Ferguso n 1992,
castes. Yet literacy in India has always been 28). It is significant to no te that fo rmally
perceived as a highly specialised skill which educated Indians co nsider it infra dig to wo rk
is the jurisdictio n o f certain sectio ns o f the with their hands. Literacy and educatio n,
so ciety. Lack o f alphabetic literacy was no t therefo re, have never been co terminuo us in
co nsidered an o bstacle o r an impediment in the Indian psyche, no r have the co nsequences
the acquisitio n o f kno wledge o r learning, o f literacy, in traditio nal India, been so di-
since the o ral traditio n was available to the rectly measureable in terms o f eco no mic and
so cial advantage as in the present day co ntext.
The lack o f alphabetic literacy has never be-
33.  The Sphere of Indian Writing 467

fo re influenced the lives o f the illiterate peo ple


as it do es to day (cf. Go o dy & Watt 1968, 1. Assamese: 153
27—68). 2. Bengali: 1,422
3. English: 6,281
7.2. Levels of literacy 4. Gujarati: 440
In an alphabetized literate so ciety, ho w is 5. Hindi: 2,469
individual literacy measured? A language 6. Kannada: 965
which merely has an alphabet is no t neces- 7. Hashmiri: 29
sarily co nsidered to be a written language (cf. 8. Malayalam: 881
3.2.; Co ulmas 1992, 210). Similarly, an indi- 9. Marathi: 1,133
vidual who can o nly sign his name canno t be 10. Oriya: 220
co nsidered literate. In the Indian co ntext, ev- 11. Punjabi: 422
ery scho o l graduate is literate in three lan- 12. Sanskrit: 219
guages, o ften fo ur. Sho uld that be the meas- 13. Sindhi: 100
ure o f literacy, o r sho uld the ability to read 14. Tamil: 959
and write in limited co ntexts be co nsidered 15. Telugu: 611
sufficient? Is it necessary to be able to read 16. Urdu: 568
and write the standard fo rmal language o r is 17. Other languages: 14
literacy in the lo cal dialect sufficient? In a Total: 16,886
multilingual so ciety multiple literacy is co n- Fig. 33.7: Books received at the National Library,
sidered usual, but it is no t clear whether that Calcutta in 1987—88. (From Indian National Bib-
sho uld be the no rm. Ultimately, practice o f liography 1989, Annexure-VII)
literacy is far mo re impo rtant than access to
literacy. In a traditio nal so ciety where literacy like Sindhi have ancient written traditio ns.
is perceived as a specialised skill, the practice Mo st o f these languages have larger numbers
o f literacy is limited to tho se who se o ccupa- o f no n-narrative publicatio ns reflecting a
tio ns o r so cial ro les demand literacy. Fo r the pro cess o f reshaping and standardizatio n.
spread o f literacy in such so cieties it is nec- The mo re recently written languages (cf. 3.3.)
essary to extend the sphere o f writing, and have fewer publicatio ns, so me o f them very
therefo re, literacy, to do mains that are tra- recent and no t many in the no n-narrative
ditio nally co vered by o ral mo des o f co mmu- catego ry (Mahapatra et al. 1989 a, xvii f;
nicatio n. Many literacy pro grammes igno re 1989 b, passim).
this intricate ro le relatio nship between the
written and o ral mo des and seek to bring 8.1. Books, newspapers and periodicals
alphabetic literacy to all illiterates irrespective
o f whether there is demand fo r literacy and A large number o f bo o ks, newspapers and
whether the so cial enviro nment pro vides fo r perio dicals are published each year. Fig. 33.7
widespread practice of literacy. sho ws the number o f bo o ks received by the
Natio nal Library, Calcutta (cf. 5.6.) in 1987—
88. Newspapers and perio dicals are published
8. Publications in many Indian languages fro m all the states.
Fo rty two newspapers and perio dicals are
The vo lume o f publicatio ns in a language is mo re than a hundred years o ld, the earliest
a measure o f the extent o f writing in that being the Gujarati Daily Bombay Samachar
language. Mo st o f the majo r Indian languages published fro m Bo mbay and started in 1822.
have literary traditio ns that go back a lo ng At the end o f 1989 the to tal number o f news-
time (cf. 3.), ho wever printed publicatio ns in papers printed in vario us languages was
the majo r languages o f India can be linked 27,054, bro ught o ut in 93 languages and dia-
to the advent o f the printing press in India in lects. Fig. 33.8 sho ws publicatio n o f newspa-
early nineteenth century. So me o f the newly pers and perio dicals language-wise at the end
written languages fo und an impetus in the o f 1989. The to tal circulatio n o f newspapers
intro ductio n o f the printing press and the in 1989 was 58,284,000 co pies (P. B. Ray
writing systems o f these languages were stan- 1992, 319).
dardized as a result o f publishing activities.
Publicatio ns in the 14 majo r languages run 8.2. Newspapers and language
into tho usands. Languages like Bengali, Hin- modernization
di, Marathi and Tamil have many mo re
publicatio ns than languages like Kashmiri, Newspapers, mo re than bo o ks, have co ntrib-
Punjabi and Sindhi, altho ugh so me languages uted to the pro mo tio n o f reading habits
amo ng the millio ns o f new literates, bo th
468 IV. Schriftkulturen

No. Languages DailiesTri/Bi Weeklies Fortnightlies Monthlies Quarterlies Others AnnualsTotal


1.Hindi 1013 45 4102 1456 1874 313 102 19 8924
2.English 197 15 536 423 1899 930 515 112 4627
3.Assamese 8 2 36 25 33 8 7 0 119
4.Bengali 63 11 482 341 541 328 111 8 1885
5.Gujarati 53 4 240 109 375 42 28 9 860
6.Kannada 148 4 242 144 346 33 13 2 932
7.Kashmiri 0 0 1 0 0 0 0 0 1
8.Malayalam 159 1 145 128 548 35 15 6 1037
9.Marathi 172 13 467 122 378 76 33 76 1337
10.Oriya 30 0 61 46 188 62 14 4 405
11.Punjabi 60 1 238 58 193 24 17 1 592
12.Sanskrit 2 0 5 1 13 11 3 0 35
13.Sindhi 8 0 27 9 31 4 2 0 81
14.Tamil 192 5 191 169 526 20 7 1 1111
15.Telugu 65 2 189 121 297 19 5 1 699
16.Urdu 269 16 831 236 391 36 13 3 1795
17.Bi-lingual 37 14 409 223 821 254 90 27 1875
18.Multi-lingual 9 2 71 41 180 55 25 6 389
19.Others 53 9 80 32 106 58 12 0 350
TOTAL 2538 144 8353 3684 8740 2308 1012 275 27054
Fig. 33.8: Number of Newspapers in 1989. (From Ray 1992, 320)
pro ducts o f the fo rmal scho o ling system and by the newspapers have fo und a place in
the adult neo -literates who have participated the native lexico ns (Daswani 1989, 83—88;
in the numero us pro grammes o f adult liter- Krishnamurti 1984, 96—112). In a recent sur-
acy. In the pro cess o f reaching o ut to millio ns vey amo ng new literates in West Bengal it has
o f new readers the vernacular newspapers been fo und that a newspaper is the mo st
have been instrumental in language mo dern- favo ured reading material amo ngst adult neo -
izatio n. The demand fo r vernacular language literates. A number o f bro ad-sheets bro ught
newspapers has given rise to small newspapers o ut in several vernacular languages fo r adult
reaching o ut to limited po pulatio ns, o ften in neo -literates perfo rm a do uble functio n, that
the rural areas where literacy rates have been o f making current info rmatio n available to
traditio nally lo w. In the pro cess o f reaching these adults, and reinfo rcing the skill o f read-
o ut to the new readership, the vernacular ing amo ng them. These specially designed
newspapers have systematically adapted the newspapers are also used to enhance the skill
fo rmal written styles o f the majo r languages o f writing amo ngst the neo -literates. (Na-
to the spo ken co llo quial styles o f rural po p- tio nal Institute o f Adult Educatio n 1992, pas-
ulatio ns. In the case o f newly written lan- sim.) The silent linguistic change that is cur-
guages the newspapers have evo lved a who le rently underway in the written languages
new vo cabulary o f newspaper styles. The ma- thro ugh po pularizatio n o f reading amo ng
jo r area o f inno vatio n in the majo r Indian new literates is bo und to have far reaching
languages has been the lexico n. The vernac- effects. Already, the gap in the fo rmal and
ular newspapers, which were dependent fo r a co llo quial styles in traditio nally diglo ssic lan-
lo ng time o n the English news co py, have guages has narro wed. As mo re and mo re peo -
evo lved new wo rds and phrases to meet the ple begin to depend o n the written wo rd, these
demands o f mo dern day internatio nal jo ur- languages will undergo further adaptation.
nalism. These newspapers have explo ited the
reso urces o f Sanskrit, Persian and English to
create new vo cabularies, in additio n to the 9. Written word in the sphere of
creative extensio n o f the internal linguistic Indian writing
reso urces in each language. The newspapers An assessment o f the sphere o f writing in a
have greatly influenced the style o f writing in co untry like India brings into fo cus vario us
o ther do mains bo th fo rmal and co llo quial. issues. The ancient traditio n o f literary activ-
Many o f the lexical inno vatio ns intro duced
33.  The Sphere of Indian Writing 469

ity co upled with the o ral traditio n o f handing 1 o f 1987. Registrar General & Census Co mmis-
do wn ancient learning has tended to assign a sioner, India.
unique status to the written wo rd. It was fo r Chatterjee, Suhas & Chatterjee, Sipra. 1979. Stan-
lo ng the do main o f a limited number o f in- dardizatio n o f Bengali in the So cial Perspective. In:
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to dians o f the literary traditio n. Even with Chatterji, Suniti Kumar. 1960. Indo -Aryan and
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9. Khezha
A. Written languages (scheduled) 10. Konyak
1. Assamese 11. Ladakhi
2. Bengali 12. Lepcha
3. Gujarati 13. Lotha
4. Hindi 14. Lushai
5. Kashmiri 15. Mikir
6. Konkani 16. Phom
7. Marathi 17. Sangtam
8. Nepali 18. Sema
9. Oriya 19. Tangkhul
10. Punjabi 20. Thado
11. Sindhi 21. Tripuri
12. Urdu C. Unwritten languages (alphabetized)
1. Adi
2. Balti
3. Chang
4. Deori
5. Halam
6. Khiemnungan
472 IV. Schriftkulturen

7. Kinnauri 4. Mundari
8. Lahuli 5. Nicobarese
9. Lakher 6. Santali
10. Mao C. Unwritten languages (alphabetized)
11. Miri/Mishing 1. Korku
12. Mishmi 2. Savara
13. Monpa D. Unwritten languages (not alphabetized)
14. Nissi/Dafla 1. Bhumij
15. Nocte 2. Gadaba
16. Paite 3. Juang
17. Rabha 4. Koda/Kora
18. Sikkim Bhotia 5. Korwa
19. Tangsa V. Classical languages: total number — 2
20. Vaiphei 1. Sanskrit
21. Wancho 2. Tibetan
22. Yimchungre VI. Foreign languages: total number — 4
D. Unwritten languages (not alphabetized)
1. Arabic/Arbi
1. Koch 2. Chinese
2. Lalung 3. English
3. Mogh 4. Persian
4. Pawi VII. Languages of doubtful linguistic status: total
IV. Austro-Asiatic: total number — 13 number — 3
A. Written languages (scheduled) 1. Naga
None 2. Kuki
B. Written languages (non-scheduled) 3. Munda
1. Ho
2. Kharia Chander J. Daswani, New Dehli (India)
3. Khasi

34. Die ägyptische Schriftkultur

1. Rahmenbedingungen Zusammenwachsens ov rgeschichtlicher Kul-


2. Funktionen der Schriftkultur turen (4000—3000: Nagade I—III), bei de-
3. Bürokratie — Texterzeugung und -speiche- nen scho n (vo r-)schriftliche No tatio nssysteme
rung im Dienst der Archive eine Ro lle spielten. Staats- und Schriftent-
4. Tempel mdash; Schrift und Ritus, Schrift und Wis- wicklung laufen, sich mutuell bedingend, ne-
sen beneinander her und kulminieren im AR
5. Schrift und Bildung (2650—2200 v. Chr.). Nach dessen Zusam-
6. Repräsentation: der „monumentale Diskurs“ menbruch (Erste Zwischenzeit, 2200—2050
7. Totenliteratur — Rezitationsliteratur und v. Chr.) entwickelt sich außerhalb kultischer
Wissensausstattung und büro kratischer Funktio nen eine Litera-
8. Literatur tur, die im MR (2050—1650) ko difiziert, aus-
gebaut und zum Kernbestand ägyptischer
Abkürzungen: „Bildung“ wird, an dem sich spätere Epo chen
als einer „Klassik“ o rientieren. Die 2. Zwi-
AR Altes Reich schenzeit nach dem Ende des MR ist durch
MR Mittleres Reich die Einwanderung der asiatischen Hykso s (15.
NR Neues Reich Dyn.: 1650—1550) gekennzeichnet. Mit ihrer
H1 Hieroglyphenschrift Vertreibung durch die thebanischen Herr-
H2 Hieratische Schrift scher der 17. und 18. Dyn. beginnt das NR
D Demotische Schrift (1550—1100) als eine beso ndere Blütezeit der
ÄHG Assmann, Altägyptische Hymnen und Ge- ägyptischen Kultur. Das imperialistische Aus-
bete greifen des Reiches nach Nubien und vo r al-
LÄ Lexikon der Ägyptologie lem Vo rderasien führt kulturell zur Öffnung
gegenüber fremden Einflüssen, insbeso ndere
babylo nischer, syrischer, hethitischer Religio n
1. Rahmenbedingungen
Die pharao nische Kultur entsteht im Niltal
mit der Gründung des Einheitsstaates um
3000 v. Chr. am Ende langer Pro zesse des
472 IV. Schriftkulturen

7. Kinnauri 4. Mundari
8. Lahuli 5. Nicobarese
9. Lakher 6. Santali
10. Mao C. Unwritten languages (alphabetized)
11. Miri/Mishing 1. Korku
12. Mishmi 2. Savara
13. Monpa D. Unwritten languages (not alphabetized)
14. Nissi/Dafla 1. Bhumij
15. Nocte 2. Gadaba
16. Paite 3. Juang
17. Rabha 4. Koda/Kora
18. Sikkim Bhotia 5. Korwa
19. Tangsa V. Classical languages: total number — 2
20. Vaiphei 1. Sanskrit
21. Wancho 2. Tibetan
22. Yimchungre VI. Foreign languages: total number — 4
D. Unwritten languages (not alphabetized)
1. Arabic/Arbi
1. Koch 2. Chinese
2. Lalung 3. English
3. Mogh 4. Persian
4. Pawi VII. Languages of doubtful linguistic status: total
IV. Austro-Asiatic: total number — 13 number — 3
A. Written languages (scheduled) 1. Naga
None 2. Kuki
B. Written languages (non-scheduled) 3. Munda
1. Ho
2. Kharia Chander J. Daswani, New Dehli (India)
3. Khasi

34. Die ägyptische Schriftkultur

1. Rahmenbedingungen Zusammenwachsens ov rgeschichtlicher Kul-


2. Funktionen der Schriftkultur turen (4000—3000: Nagade I—III), bei de-
3. Bürokratie — Texterzeugung und -speiche- nen scho n (vo r-)schriftliche No tatio nssysteme
rung im Dienst der Archive eine Ro lle spielten. Staats- und Schriftent-
4. Tempel mdash; Schrift und Ritus, Schrift und Wis- wicklung laufen, sich mutuell bedingend, ne-
sen beneinander her und kulminieren im AR
5. Schrift und Bildung (2650—2200 v. Chr.). Nach dessen Zusam-
6. Repräsentation: der „monumentale Diskurs“ menbruch (Erste Zwischenzeit, 2200—2050
7. Totenliteratur — Rezitationsliteratur und v. Chr.) entwickelt sich außerhalb kultischer
Wissensausstattung und büro kratischer Funktio nen eine Litera-
8. Literatur tur, die im MR (2050—1650) ko difiziert, aus-
gebaut und zum Kernbestand ägyptischer
Abkürzungen: „Bildung“ wird, an dem sich spätere Epo chen
als einer „Klassik“ o rientieren. Die 2. Zwi-
AR Altes Reich schenzeit nach dem Ende des MR ist durch
MR Mittleres Reich die Einwanderung der asiatischen Hykso s (15.
NR Neues Reich Dyn.: 1650—1550) gekennzeichnet. Mit ihrer
H1 Hieroglyphenschrift Vertreibung durch die thebanischen Herr-
H2 Hieratische Schrift scher der 17. und 18. Dyn. beginnt das NR
D Demotische Schrift (1550—1100) als eine beso ndere Blütezeit der
ÄHG Assmann, Altägyptische Hymnen und Ge- ägyptischen Kultur. Das imperialistische Aus-
bete greifen des Reiches nach Nubien und vo r al-
LÄ Lexikon der Ägyptologie lem Vo rderasien führt kulturell zur Öffnung
gegenüber fremden Einflüssen, insbeso ndere
babylo nischer, syrischer, hethitischer Religio n
1. Rahmenbedingungen
Die pharao nische Kultur entsteht im Niltal
mit der Gründung des Einheitsstaates um
3000 v. Chr. am Ende langer Pro zesse des
34.  Die ägyptische Schriftkultur 473

und Mytho lo gie. Nach dem Versuch einer siven, die bereits D nahe stehen (dies ganze
o
mon theistischen Religi
o nsstiftung durch Spektrum wird z. B. scho n vo n den „Äch-
Echnato n (1360—40) bedeutet die nachfo l- tungstexten“ des AR vertreten), wird im 1.
gende Ramessidenzeit (19.—20. Dyn., 1300— Jahrtausend ein weiterer Schnitt gemacht und
1100) eine Reo rganisatio n der äg. Schriftkul- zwischen H2 und dem (nicht mehr in H1
tur, die durch das Aufko mmen neuer Gattun- transskribierbaren) D unterschieden, so daß
gen, einer spezifischen Literatursprache wir in der Spätzeit nicht zwei, so ndern drei
(„Traditio nsägyptisch“), der Verehrung der funktio nal definierte Schriftsysteme neben-
Schulklassikern des MR und einer beso nde- einander haben. Die Entwicklung wird be-
ren Blüte des „theo lo gischen Diskurses“ ge- stimmt durch Interferenz zweier verschiede-
kennzeichnet sind. Vieles davo n verschwindet ner Kräfte. Die eine läßt sich als „archaisie-
in der Dritten Zwischenzeit (1100—650), in rende Bindung“ kennzeichnen, sie wirkt still-
der das Land wieder in verschiedene Teilstaa- stellend und führt dazu, daß ältere Schriftsta-
ten zerfällt. Nach der „saitischen Renais- dien neben jüngeren in bestimmten Funktio -
sance“, einer kurzen Blüte des wiedervereinig- nen erhalten bleiben. Die andere können wir
ten Landes unter der 26. Dyn. (650—525), als „systemratio nale Evo lutio n“ bezeichnen,
die in archaisierendem Eklektizismus an ver- sie wirkt (im Dienst des Schreibers, nicht des
schiedene Epo chen der ägyptischen Vergan- Lesers) in Richtung auf immer geringeren
genheit anknüpft, beginnen die Jahrhunderte Schreibaufwand und Beschränkung auf nö-
der persischen, griechischen und schließlich tigste unterscheidende Merkmale. Die Schrift-
römischen Fremdherrschaft, in denen sich die differenzierung entspricht nicht der Sprach-
ägyptische Schriftkultur in den drei funktio - differenzierung. Zwar bezeichnet D ein
nal differenzierten Schriftsystemen des Hier- Schrift- und Sprachstadium, und H1 zeigt in
o glyphischen (H1), Hieratischen (H2) und De- ihrer Verwendung eine gewisse So lidarität
mo tischen (D) entfaltet und in der Spätantike (mit vielen Ausnahmen) mit dem Mittelägyp-
so gar am hellenistischen Schrifttum erhebli- tischen, das als Kult- und Bildungssprache
chen Anteil gewinnt. kano nisiert wurde (Junge 1985). In H2 werden
aber unterschiedslo s mittelägyptische, „tra-
1.1. Schrift: Digraphie ditio nsägyptische“ (Vernus) und neuägypti-
sche Texte geschrieben. Die bindenden Kräfte
1.1.1. Dynamik der Ausdifferenzierung hieratischer Stillstellung stehen dem Heiligen,
Die ägyptische Schrift ist gekennzeichnet die treibenden Kräfte systemratio naler Evo -
durch das Nebeneinanderbestehen zweier lution dem Profanen nahe (Vernus 1990).
Schriftsysteme, die, o bwo hl jederzeit mutuell
transkribierbar, do ch hinreichend vo neinan- 1.1.2. Inschriftlichkeit
der unterschieden sind, um getrennt erlernt H1 ist die bildhafte Fo rm der äg. Schrift, in
werden zu müssen. Dabei bleibt das eine der die Zeichen ihren realistischen Bildbezug
Schriftsystem, die M o numentalschrift der auf bestimmte Dinge der sichtbaren Welt
Hiero glyphen (H1), über drei Jahrtausende o hne jede abstrahierende Vereinfachung über
hinweg ziemlich ko nstant (→ Abb. 34.1 auf die gesamte mehrtausendjährige äg. Schrift-
Tafel IV), während das andere, die Kursiv- geschichte unvermindert beibehalten. H1 ist
schrift des Hieratischen (H2), sich weiter ent- so mit die einzige ursprünglich pikto graphi-
wickelt und auch weiter differenziert. Aus H1 sche Schrift, die ihre Bildhaftigkeit nicht im
entsteht zunächst das Kursiv-Hiero glyphi- Laufe ihrer Entwicklung verschliffen hat. Das
sche, dann H2, neben dem das Kursiv-Hiero - ist nur möglich im Rahmen einer di- und
glyphische aber für bestimmte Funktio nen später po lygraphischen Differenzierung, in
bestehen bleibt (→ Abb. 34.2—3). Im späten der entscheidende Funktio nen vo n anderen,
NR entwickelt sich H2 zum „abno rmalen H2“, weniger aufwendigen Schriften wahrgeno m-
dann zum Demo tischen (D), bleibt aber men werden. Der Anwendungsbereich vo n H1
gleichfalls neben diesem für bestimmte Funk- ist auf Steinmo numente festgelegt. Die Er-
tio nen bestehen. Während bis zum Ende des richtung vo n Mo numenten ist ein Spezifikum
2. Jahrtausends der Bereich der Kursivschrif- der äg. Kultur, das in diesem Umfang an-
ten sich als ein breites Spektrum mit fließen- derswo keine Parallelen hat (Assmann 1991,
den Übergängen darstellt, dessen Po le gebil- 16—31). Es erklärt sich aus (1) der beso nde-
det werden auf der einen Seite durch Buch- ren Repräsentatio nsbedürftigkeit des Staates
Schriften vo n hervo rragender Lesbarkeit und (des ersten dieses Fo rmats in der Mensch-
auf der anderen Seite durch verschliffene Kur- heitsgeschichte), und (2) aus äg. Vo rstellungen
474 IV. Schriftkulturen

Abb. 34. 2: Kursiv-Hieroglyphen. Totenbuch des Cha, 18. Dynastie, um 1400 v. Chr. (Aus: Ägyptisches
Museum Turin. 1988. Das Alte Ägypten. Die religiösen Vorstellungen. Mailand, Abb. 270)
34.  Die ägyptische Schriftkultur 475

Abb. 34. 3: Buch-Hieratisch. Beispiel für eine sorgfältige Buchschrift der frühen 18. Dynastie um 1500 v. Chr.
(Aus: Breasted, J. H. 1930. The Edwin Smith Surgical Papyrus. Chicago, Tafel VIII)
476 IV. Schriftkulturen

einer „schriftgestützten“ nachto dlichen Fo rt- mente mehr persönlichen Charakters). Lehrer-
dauer im so zialen Gedächtnis (Assmann 1991, Ko rrekturen am Rand vo n Schüler-Hand-
169—99), wo bei Staat und Unsterblichkeit in schriften zeigen, daß mehr Wert auf Kalligra-
Ägypten eng miteinander zusammenhängen phie als auf Ortho graphie gelegt wird. Im NR
und sich mit Stein und Schrift zum „mo nu- hat sich die Zeilenschreibung durchgesetzt.
mentalen Diskurs“ verbinden. In der Ent- Nur To tenbücher werden no ch in Ko lumnen
wicklung vo n H1 sind die „archaisierenden beschriftet. Hierfür wird ein neuer Schrifttyp
Bindekräfte“ vo ll wirksam und die evo lutiven verwendet: Kursivhiero glyphen. Erst ab der
Kräfte neutralisiert. Dasselbe Prinzip hierati- 21. Dyn. verwendet man auch für To tenbücher
scher Stillstellung regiert auch die Kunst (Da- H2 und Zeilenschreibung. Zur gleichen Zeit
vis 1989). H1 und Kunst bilden eine Einheit wird der Bruch zwischen „Buchschrift“ und
(Fischer 1986); der übergreifende Begriff ist „Alltagsschrift“ (Schlo tt 1989, 82 ff; Parkin-
das „Mo nument“ (äg. mnw), das so wo hl der so n 1991, 13 f) vo llzo gen. Neben H2 als Schrift
Repräsentatio n der po litischen Macht als für religiöse und literarische Texte tritt jetzt
auch der Verewigung des Individuums dient. das abno rme H2, später D, als Kanzleischrift.
Der mo numentale Diskurs ist ein Diskurs der Die Kursivhiero glyphen verschwinden, denn
Selbstthematisierung (Assmann 1987). In al- H2 ist jetzt gegenüber der Alltagsschrift hin-
len H1-Texten ist der Stifter des Denkmals in reichend abgegrenzt. Mit der Einführung des
1., 2. o der 3. Ps. gegenwärtig. Der Zweck des Griechischen als Alltagsschrift wird D auch
mo numentalen Diskurses ist die Selbst-Ver- für literarische, zuletzt so gar für religiöse
ewigung. Mit Hilfe des Mo numents gewinnt Zwecke (To tenliturgien, s. Smith 1987; auch
der Stifter Anteil an der unvergänglichen Totenbücher) verwendet.
Dauer, die der Ägypter mit dem Steinernen
verbindet. Er gewinnt einen Körper, dem die 1.1.4. Kryptographie, Kalligraphie und
Hiero glyphenschrift eine Stimme leiht, um zur Verwandtes
Nachwelt zu sprechen und die Nachgebo re-
nen über die Jahrtausende hinweg zu errei- Krypto graphie tritt als eine Variante der
chen. In diesem mo numentalen Diskurs der Hiero glyphenschrift im Bereich der inschrift-
Selbstverewigung hat das, was sich in Ägyp- lichen, nicht der handschriftlichen Überliefe-
ten als „Literatur“ im engeren Sinne entwik- rung auf (LÄ II, 1196 s. v. Hiero glyphen, H.).
kelt, einen Vo rlauf: die Ko mmunikatio n zwi- Nach vereinzelten Anfängen im AR und MR
schen „Grabherr und Nachwelt“ wird zum wird Krypto graphie im NR häufiger und
Mo dell der Ko mmunikatio n zwischen „Auto r ko mmt in zwei Funktio nsko ntexten vo r: 1. in
und Publikum“ (Assmann 1991, 169—99). deko rativen Inschriften als eine Fo rm der Äs-
thetisierung des Schriftbilds zum Zwecke der
1.1.3. Handschriftlichkeit: Kursivschriften Steigerung des Anreizes zur Lektüre (Privat-
inschriften, königliche Bauinschriften), und 2.
Da die Hiero glyphen eher zur Kunst als zum in es o terischen Texten ov rnehmlich der
Schreiben gehören, ist die Kursive die eigent- Königsgräber zur Steigerung ihrer Geheim-
liche Schrift des Ägyptischen; sie erlernt der haltung. Als Ästhetisierung des Schriftbilds
ägyptische Schreiber (während die Erlernung hat auch die seit der Amarnazeit gelegentlich
vo n H1 den Künstlern vo rbehalten ist), und auftretende „kreuzwo rtartige“ Textgestaltung
mit ihr verbindet sich der äg. Begriff des zu gelten. Hierbei wird ein Text so angeo rd-
Schreibens (Vernus 1990; zum fo lgenden s. net, daß ein o der zwei querlaufende Zeilen
Schlo tt 1989, 52—85). Sie entsteht vermutlich für eine Anzahl vo n Zeichen auch eine Lesung
gleichzeitig mit H1 (der älteste Papyrus, aller- in anderer Richtung ermöglichen. In extre-
dings leer, stammt aus einem Grab der 1. men Fällen (zwei sind bisher bekannt) ist der
Dyn.). Die Kursivschrift H2 wird vo n rechts gesamte Text in Quadrate eingeteilt und so -
nach links geschrieben. Die ältere Schreib- wo hl senkrecht wie waagerecht zu lesen. Die
weise in senkrechten Ko lumnen wird im äg. Bezeichnung für so lche Texte ist šd r zp
Laufe des MR auf waagerechte Zeilen um- snw „auf 2 Weisen zu lesen“ (Stewart 1971).
gestellt. Dabei bildet sich die Ko nventio n her- Als Ästhetisierung des Schriftbildes haben
aus, bei religiösen Handschriften die Ko lum- schließlich auch Fo rmen symmetrischer („he-
nenschreibung beizubehalten. Im Bereich der raldischer“) Zeichenano rdnung zu gelten, wie
Kursivschrift finden wir eine mehr o der weni- sie vo rzugsweise etwa auf Seitenwänden kö-
ger ausgeprägte Oppo sitio n zwischen „Buch- niglicher Thro ne, Architraven vo n Tempel-
schrift“ (literarische und o ffizielle Handschrif- Durchgängen und Giebelfeldern vo n Stelen als
ten) und „Alltagsschrift“ (Briefe u. a. Do ku- Repräsentatio nen der pharao nischen Herr-
34.  Die ägyptische Schriftkultur 477

schaft (als eine Art Staatswappen) auftreten gerechte Haltung durchgesetzt. Schriftrich-
(vgl. Fischer 1986). tung war vo n rechts nach links, bis zum MR
Die Epigraphik der griechisch-römischen in senkrechten, später in waagerechten Zeilen.
Zeit basiert weitgehend auf krypto graphi- Zweitwichtigster Schreibsto ff war Leder.
schen Traditio nen (Saunero n 1982). Jeder Lederro llen werden in den Texten o ft er-
Tempel strebt jetzt nach Ausbildung seines wähnt, meist in Verbindung mit ho hem Alter,
eigenen Schriftsystems, mit der Tendenz, galten also als haltbarer als Papyrus, sind aber
möglichst viele verschiedene Schriftzeichen zu äußerst selten gefunden wo rden. Leinwand
finden. H1 ist dank seiner Bildhaftigkeit ein wurde für Texte benutzt, die man auf dem
o ffenes System, das ständig neue Zeichen in- Körper trug wie Amulette, Heilungszauber-
tegrieren kann. sprüche und To tenliteratur (auf Mumienbin-
den). Im Schulunterricht wurden Ho lztafeln
1.1.5. Heiligkeit der Schrift verwendet, die mit weißem Stuck überzo gen
waren, mit einer Vo rrichtung zum Aufhängen.
Die äg. Bezeichnung für Schrift ist mdw nṯr Billigstes Schreibmaterial war das Ostrako n:
„Go tteswo rte“. Nach äg. Vo rstellung wurde flach absplitternder Kalkstein, der in Theben
die Welt durch Go tteswo rte als Schrift ge- als Bauschutt zur Verfügung stand, und
schaffen: Der Künstlergo tt Ptah erfand „im Scherben zerbro chener To ngefäße. Ostraka
Herzen“ die Zeichen, die seine Zunge in wurden benutzt für Übungen im Schulunter-
Wo rte und seine Hände in Dinge, Pflanzen richt, für Briefe und für kleinere Rechtsge-
und Lebewesen umsetzte (Allen 1988, 42—47, schäfte (Quittungen u. ä.). Die Rahmenerzäh-
91—93). Die Schrift erscheint in dieser Sicht lung der demo tischen Weisheitslehre des An-
als ein enzyklo pädisches Bildlexiko n, die Welt chschescho nqi erzählt, daß der Auto r den
als unerschöpfliches Schriftzeichenreservo ir, Text im Gefängnis auf vielen To nscherben
die Tätigkeit des Schreibers als Fo rtsetzung niederschrieb und mo tiviert auf diese Weise
und Inganghaltung der Schöpfung. Der anschaulich die lo ckere Textko härenz einer
„Schreiber des Go ttesbuches“ tritt auf als Spruchsammlung.
einer, der „das Seiende ausspricht und das Als Schreibgeräte verwendete der Ägypter
Nichtseiende entstehen läßt“ (Faulkner 1969, die Palette, schwarzen und ro ten Farbsto ff,
§ 1146). den Wassernapf zum Anrühren der Farbe und
die Schreibbinse. Für die ägyptische „Litera-
1.2. Schreibstoffe und Schreibgeräte to kratie“ war die Palette, was für die euro -
Wichtigster Schreibsto ff ist der Papyrus (vo n päische Aristo kratie der Degen: ein Standes-
dem. P3-Pr-c3 ko pt. papoyro, gr. pápyros = abzeichen. „Du trägst deine Palette zu Un-
„der des Pharao “: Papyrusherstellung war recht“ wird zu einem unwürdigen Schreiber
staatliches Mo no po l. Hierzu und zum fo lgen- gesagt (Weber 1969, 40). Die Palette wird
den s. Černý 1977; Weber 1969.) Dabei wird so gar vergöttlicht als Hypo stase des Schrei-
das in Streifen zerschnittene Mark der Pa- bergo ttes Tho t (ibd., 38 ff). Auch mit dem
pyruspflanze kreuzweise aufeinandergelegt Wassernapf verband sich ein religiöser
und mit seinem Schlegel flachgeklo pft so wie Brauch: aus ihm brachten die Schreiber vo r
anschließend geglättet. Die Seite mit den waa- Beginn ihrer Arbeit eine Libatio n dar. Das
gerecht liegenden Fasern wurde nach innen Geschäft des Schreibens wurde als eine Art
gero llt und ab dem NR zuerst beschrieben To tenkult an den „Klassikern“ ausgedeutet
(Recto ). Wegen der Ko stbarkeit des Materials (Assmann 1991, 177 f). Geschrieben wurde
wurden Papyri o ft wiederbenutzt; ausgemu- mit dem Halm der Binse juncus maritimus,
sterte Akten wurden z. B. auf der Rückseite dessen eines Ende schräg gekappt und durch
(Verso ) mit literarischen Texten beschriftet. Kauen zu einem feinen Pinsel zerfasert wurde.
Papyri wurden als einzelne Blätter, vo r allem Erst in griechischer Zeit wurde auf den ka-
aber als Ro llen benutzt, die aus aneinander lamos mit harter, schreibfederartiger Spitze
geklebten Blättern hergestellt wurden. Die umgestellt. Vo n seiner Binse ko nnte ein
Ro llen wurden so wo hl in vo ller Höhe (im MR Schreiber sprechen wie heute ein Auto r vo n
um 30 cm, im NR um 42 cm) wie auf halber seiner Feder: „meine Binse hat mich vo ran-
(16—22 cm) und geviertelter Ro lle (8—14 cm) gebracht“, „den seine Binsen bekannt ge-
beschrieben. Briefe wurden auf der senkrecht macht hat“. In den Schreibgeräten ko nkreti-
gehaltenen Ro lle geschrieben; für andere sierte sich für den Ägypter die als göttlich
Schriftstücke hat sich seit dem MR die waa- empfundene schaffende, o rdnende, ko ntro l-
lierende und verwaltende Macht der Schrift.
478 IV. Schriftkulturen

Abb. 34. 4: Beispiel für Buchführung aus den Abusir-Papyri (Akten der Tempelverwaltung des Neferirkare
aus der 5. Dynastie um 2470 v. Chr.). Die Objekte sind in den Spalten, die Tage in den Zeilen eingetragen.
34.  Die ägyptische Schriftkultur 479

Links das Original in hieratischer Schrift, rechts die Nachzeichnung mit den hieroglyphischen Zeichenformen.
(Aus: Posener-Krieger, O. & de Cenival, J. L. 1968. Hieratic Papyri in the British Museum 5th ser. London,
Tafel VI.)
480 IV. Schriftkulturen

1.3. Layout und sprachliche Formung kierung derjenigen textlichen Einheit, die


sprachlich ḥwt, eigentlich „Haus“, genannt
Die ungewöhnliche Flexibilität der äg. wird, was so viel wie Lied, Kapitel, Stro phe
Schrift, die eine Ano rdnung in senkrechten bedeutet (Grapo w 1936, 53). In Ritualhand-
und waagerechten Zeilen erlaubte, machten schriften der Spätzeit ist auch stichische
sich v. a. die Akten und Urkunden zunutze Schreibung bezeugt (auch in der Lo ndo ner
(Helck 1974). In königlichen Dekreten bildet Handschrift der Lehre des Amenemo pe). Das
der Ho rusname des Königs die erste, senk- Layo ut wird durch scriptio continua be-
rechte Zeile, dann fo lgen zwischen je zwei stimmt. Nur ausnahmsweise und in religiösen
waagerechten Zeilen, die den o beren (Name Handschriften wird sprachliche o F rmung
des Adressaten) und den unteren Abschluß o der textliche Gliederung auch graphisch
(Siegelvermerk) bilden, senkrechte Zeilen mit sichtbar gemacht (Grapow 1936).
dem Text des Dekrets. Ähnlich sind in reli- In medizinischen Handschriften werden
giösen Texten Litaneien angeo rdnet, mit den Glo ssen durch Ro tschreibung gegenüber dem
repetierten Elementen in waagerechten und Haupttext abgeho ben. Ro te Farbe wird für
den variierten Elementen in senkrechten Zei- viele Zwecke verwendet (Po sener 1951, 77
len. Tabellarische Ano rdnung entwickelt sich unterscheidet vier Funkti o nen: Herv o rhe-
in der Buchführung (Abusir-Papyri, 5. Dyn., bung, z. B. vo n Summen in Abrechnungen,
um 2470 v. Chr., s. Po sener-Kriéger 1976). Die Gliederung, Iso lierung und Differenzierung),
Einträge sind durch senkrechte und waage- v. a. aber zur Markierung vo n Metatextuali-
rechte Zeilen in Zeilen und Spalten gegliedert. tät, für Titel, Glo ssen, Ko rrekturen, Nach-
Meist bilden die einzelnen Tage die Zeilen, schriften, Ko lo pho ne, Vermerke (wie „usw.“,
wo bei jede zehnte Zeile durch ro te Farbe als „und umgekehrt“, „viermal“), Rezitatio ns-
„Wo che“ markiert ist; in den Spalten stehen anweisungen.
Güter, anliefernde Instituti o nen, Perso nen
und andere Variablen (→ Abb. 34.4). Viele 1.4. Institutionen des Schreibens
Sprüche der „To tenliteratur“ (Sargtexte, To -
tenbuch) spiegeln in ihrer listenhaften Ano rd-
nung bür
o kratische Aufzeichnungstechnik, 1.4.1. Schreiben lernen
z. B. die Fährbo o t- (Sargtext 398) und Fang- Schulen im eigentlichen Sinne hat es nicht
netz-Sprüche (ibd. 474), die Gliedervergo t- gegeben (hierzu und zum fo lgenden grundle-
tung (To tenbuch 42), das „negative Sünden- gend Brunner 1957; LÄ I, 569—75; V,
bekenntnis“ (ibd. 125). Häufig ist die „ge- 741—43). Schreiben wurde weitestgehend wie
spaltene Ko lumne“, bei der ein sich wieder- alle anderen beruflichen Fertigkeiten auch in
ho lendes Textelement nur einmal geschrieben persönlicher Gehilfenbeziehung zu einem Be-
und verklammernd den variierten Elementen amten („Famulus-System“) erlernt. Erst im
vo rangestellt wird (Grapo w 1936, 40 ff). Li- MR erfahren wir vo n einer Ho fschule in der
terarische Handschriften sind meist viel Residenz im Zusammenhang der No twendig-
schlichter gestaltet und spiegeln die sprachli- keit, eine neue Beamten-Elite heranzubilden
che Fo rmung nicht wider. Denn sie waren (Po sener 1956, 3 ff), im NR auch vo n Tem-
nicht zur Lektüre und zum Nachschlagen be- pelschulen. Das Schreibenlernen in der Klasse
stimmt, so ndern zur Speicherung auswendig ging dann der spezialisierten Fachausbildung
beherrschter Texte. Literarische Texte sind in in einem Verwaltungsbüro vo raus. Es gab
der Regel in Abschnitte gegliedert („Maxi- keine hauptberuflichen Lehrer; auch der
men“ in Weisheitsbüchern, „Kapitel“ in er- Gruppenunterricht wurde vo n Beamten ne-
zählenden Texten), die durchschnittlich 12— benamtlich ausgeführt. Die Ausbildung wur-
24 Verse umfassen. Sie werden durch Rubren de nicht mit einer Prüfung, so ndern mit der
o der Trennzeichen markiert (Assmann 1983 a) Berufung auf einen Po sten abgeschlo ssen.
und erleichtern die Memo ratio n. Die „Verse“ Dem Unterricht wurden zugrundegelegt: (1)
— lo ckere Sinneinheiten mit zwei bis drei Schulbücher mit Mustertexten: das Schulbuch
Hebungen als Einheit nicht po etischer, so n- „Kemit“ und die „Miszellaneen“, vo m Leh-
dern allgemein gebundener Sprache (LÄ IV, rer zusammengestellte Sammelhandschriften
1127—1154; Fecht, in: Spuler 1970, 19—51) (Camino s 1957), (2) „Klassiker“: alte Texte
— werden nicht selten durch Verspunkte ab- überwiegend weisheitlichen Inhalts zur Erler-
getrennt, die o ffenbar die metrisch ko rrekte nung des Mitteläg. so wie gewiß auch zum
Rezitatio n erleichtern so llten (LÄ VI, 1017 f) Auswendiglernen als „Bildungs“-Gut (Ass-
Zu diesen Gliederungsindikat o ren gehört mann 1991, 303—13) und (3) Wissens-Lite-
auch das (ro te) Zeichen der „Hand“ als Mar- ratur wie pAnastasi I (Fischer-Elfert 1986).
34.  Die ägyptische Schriftkultur 481

1.4.2. Verwaltungsarchive und Ono mastica u. a. (Tait 1977; Reymo nd 1977;


Sakralbibliotheken Fo wden 1986). Die Auflistung der 42 „ho ch-
no twendigen Bücher“, die sämtlich vo n Her-
Archive (ḫ3 n zš „Büro der Schriften“) ge- mes selbst verfaßt sein so llen, entspricht auf-
hörten zu allen größeren Wirtschaftsbetrieben fallend den erhaltenen Katalo gen (Stro m.
(v. a. Tempeln) und Behörden (z. B. Schatz- VI.4.35—7; vgl. Fo wden 1986, 58 f): 1 Buch
haus und Scheune für Steuerurkunden). Do rt Götterhymnen; 1 Buch über die Lebensfüh-
wurden die Perso nal- und Landurkunden so - rung des Königs; 4 Bücher über Astro no mie;
wie Gerichtspro to ko lle abgelegt und durch 10 Hiero glyphische Bücher (Ko smo graphie,
Archivare verwaltet. Größere Funde ausge- Geo graphie, Tempelbau, Tempelland, Verso r-
musterter Archiv-Bestände bilden die Akten gung und Ausstattung der Tempel); 10 Bücher
des To tentempels vo n Neferirkare aus Abusir über Erziehung und Opferkult; 10 Hieratische
(5. Dynastie: Po sener-Kriéger 1976), die Ka- Bücher über Gesetze, Götter und priesterliche
hunpapyri (12. Dyn.) und die Grabräuber- Lebensführung; 6 medizinische Bücher.
papyri (20. Dyn.: LÄ II, 862—66). Biblio the- Wir haben es hier mit einer Art „Kano n“
ken (pr mḏ3t „Haus der Schriftro llen“, sa- zu tun. Wie der hebräische an den 24 Buch-
krale Spezialbiblio thek, hierá bibliothéke nach staben des Alphabets, so o rientiert sich dieser
Dio do r I 49.3) waren den Tempeln angeglie- an den 42 ägyptischen Gauen. Ob es daneben,
dert und enthielten die für die Durchführung vielleicht als Palastbiblio theken, Sammlungen
der entsprechenden Aktivitäten no twendigen der natio nalen literarischen Traditio n gab,
Schriften, waren also eher Hand- und Ar- muß fraglich bleiben. Dieser Biblio thekstyp
beits-, als Sammelbiblio theken. Aufgrund der wurde vo n den Assyrern entwickelt, die sich
Vergänglichkeit des Materials mußten wich- durch „Bildung“ zu legitimieren suchten; auf-
tige, zum Wiedergebrauch bestimmte Tradi- fallenderweise entfalten die gleichzeitigen In-
tio nstexte in regelmäßigen Abständen ko piert
werden (grundlegend: Burkard 1980). Das ge- schriften der Äthio penkönige einen ausge-
prägten Bildungsprunk (Grimal 1980).
schah in Skripto rien, deren wichtigste, die
„Lebenshäuser“ (pr ‛ nh) ebenfalls dem Palast
1.5. Schreiber
und den Tempeln angegliedert waren (LÄ III,
954—57). Eine Idee vo m Inhalt einer Hand- Zwar war die ägyptische Bevölkerung nur zu
biblio thek vermittelt der Fund einer Bücher- einem verschwindend geringen Bruchteil lite-
kiste in einem Grab der 13. Dynastie: Lite- rat (1% nach Baines 1983), dafür spielten
rarische Texte (Sinuhe, Klagen des Bauern, aber die Schreiber eine alles beherrschende
Weisheitstexte), Rituale, Hymnen, medizini- Ro lle, und der Alltag war in einem außer-
sche und medico -magische Texte (Gardiner o rdentlichen Maße schriftdurchwirkt. Das er-
1955). Offenbar haben wir es mit der Biblio - gab sich aus dem ägyptischen System weit-
thek eines „Vo rlesepriesters“ (ẖrj-ḥ3bt) zu tun, gehend staatlicher Plan- und Speicherwirt-
der als Rezitato r zugleich literarischer, litur- schaft so wie der Mo no po lisierung des Hand-
gischer und magischer Texte so wie als Heiler werks. Schreiber waren überall anzutreffen,
wirkte. Dieselbe Verbindung vo n Kult, Me- wo es etwas zu registrieren o der zu ko ntro l-
dizin, Magie und Literatur finden wir 500 lieren galt.
Jahre später in dem Fund eines Familienar- Der typische ägyptische Schreiber war ein
chivs in Der el Medine (Pestman 1982): Lite- Beamter innerhalb der verschiedenen Res-
rarische Werke (Liebeslieder, der Streit zwi- so rts der ägyptischen Verwaltung (Scheunen,
schen Ho rus und Seth, Nilhymnus, Weisheits- Schatzhaus, Justiz, Militär, Arbeit, Residenz,
lehre), Medico -magische Texte, Rituale (Ame- Gau, Stadt, Tempel). Die Schrift erscheint
on phis I), mant o ol gische Wissensliteratur und entwickelt sich als ein Organ der büro -
(Traumbuch). Für die Spätzeit geben uns in- kratischen Zentralverwaltung und ihres ver-
schriftlich erhaltene Buchkatalo ge vo n Tem- waltenden Zugriffs auf die Resso urcen und
pelbiblio theken (Edfu, To d), Funde aus Bi- die Menschen des Landes. Die Schreiber bil-
blio theken (Elephantine: Burkard 1980, 96— den daher als Träger spezifischer Ämter der
98; Tebtynis) so wie der Bericht bei Clemens Zentralverwaltung die Oberschicht des ägyp-
Alexandrinus einen Eindruck. Aus Tebtynis tischen Staates (Schlott 1989).
stammen Rituale, Götterhymnen, ko smo gra- Den schriftkundigen Priester treffen wir
phische und Geo graphische Bücher, Astro - mit den Titeln „Schreiber des Go ttesbuchs“
no mie, Magie, Weisheitstexte, Traumbücher, (seit Frühzt.: Meeks 1989, 70 n. 2) und „Trä-
Medizin, Bücher über die Tempelverwaltung, ger der Schriftro lle“ (ẖrj-ḥ3bt, meist übersetzt
als „Vo rlesepriester“, „lecto r priest“) im To -
482 IV. Schriftkulturen

ten- und Götterkult; ihm o blag die Rezitatio n Dienst des Staates. In Ägypten gab es, im
der heiligen Schriften (Verklärungen, Hym- Gegensatz zu China und Griechenland, keine
nen) und die Durchführung der ko mplizierten „auto no me Intelligenz“, die gegenüber der
Festrituale (LÄ I, 940—43). Typisch ist die po litischen Macht eine kritische Instanz eige-
Verbindung vo n Kult, Magie, Medizin, später ner Legitimität dargestellt hätte. Bildungs-
auch Mantik und Weisheit. In der Bibel er- und Machtelite waren identisch.
scheinen die ägyptischen „Vo rlesepriester“ un-
ter dem Namen hartummim (vo n äg. 〈ẖrjw-
ḥ3bt〉 ḥrjw-tp, o„ berste o V rlesepriester“, 2. Funktionen der Schriftkultur
Quaegebeur 1987) als Wahrsager, Magier und
Schriftgelehrte. Schrift ist in Äg. stets eingebettet in prakti-
Hauptberufliche Schreiber, die nichts als sche Vo llzüge, zumindest aber anwendungs-
Schreiber waren, wirkten als „Briefschreiber bezo gen. Wir können den Gesamtbereich des
Pharao s“ und Sekretäre ho her Beamter. Wir Schrifttums einteilen in (a) Akten, Do ku-
werden auch mit Tradenten zu rechnen haben, mente, Briefe; (b) Literatur mit den drei Be-
denen das Ko pieren vo n Textvo rlagen o blag. reichen Rezitatio nsliteratur (im Kult), Erzie-
Es gab zweifello s auch Gelehrte und Schrift- hungsliteratur (zum Auswendiglernen) und
steller, die sich eine so umfassende Kenntnis Wissensliteratur (zum Nachschlagen), und (c)
der Schriften erwo rben haben, daß sie in der Inschriften. Einen So nderfall bildet (d) die
Weitergabe der Traditio n ihrerseits schöpfe- To tenliteratur. Das entspricht weitgehend den
risch wirken und den „Traditio nsstro m“ Funktio nsbereichen „Bür o kratie“, „Tempel“
durch eigene o K mp
o siti
o nen bereichern und „Schule“, so wie den Schreibfunktio nen
ko nnten. Die fiktiven Verfasserangaben, in „Speicherung“, „Erziehung/Zirkulati
o n/Pu-
die Lebenslehren im Sinne einer „Rahmung“ blikatio n“, „Repräsentatio n“ und „Verewi-
eingekleidet zu werden pflegen, lassen ho he gung“. Da der Funktio nsbereich „Schule“
und höchste Beamte als Auto ren auftreten; weitgehend in die Institutio nen der Verwal-
das entspricht der Wirklichkeit einer Ausbil- tung und des Tempels eingegliedert war, bil-
dung in den Kanzleien, nicht durch Lehrer, den Büro kratie und Tempel die wichtigsten
so ndern durch die Beamten selbst. Das Ge- Fundamente ägyptischer Schrifttraditio n (Po -
heimnis der schriftgelehrten „Weisen“ ist die sener 1951, 77).
Fernwirkung ihrer Wo rte. So wie der Rede-
gewandte die Situatio n, so beherrscht der 3. Bürokratie:
Schriftgewandte die Zeit. „Bei diesen Weisen, Texterzeugung und -speicherung im
die das Ko mmende vo rhersagten, geschah
das, was aus ihrem Munde hervo rgeko mmen Dienst der Archive
war. Man fand es als Spruch, aufgeschrieben
in ihren Büchern (...) Sie sind zwar verbo rgen, 3.1. Schrift und Wirtschaft: Akten
aber ihre Magie erstreckt sich auf alle, die in Über alle landwirtschaftliche und handwerk-
ihren Büchern lesen“ (pChester Beatty IV: liche Pro duktio n mußte Buch geführt werden,
Brunner 1988, 59 ff). Wer schreiben kann, sei es zum Zwecke der Besteuerung o der
steigt ein in einen Diskurs, der mit den fern- der Magazinierung. Warenzirkulatio n über
sten Vo rfahren und Nachko mmen über die Märkte spielte eine verschwindend geringe
Jahrtausende hinweg ko mmuniziert. Vo raus- Ro lle gegenüber Speicherung und Redistri-
schau des Ko mmenden ist keine Sache inspi- butio n, die Buchführung implizierten. So se-
rierter Pro pheten und Ekstatiker, so ndern le- hen wir in Mo dellen und Wandbildern Schrei-
benskluger Erfahrung und Belesenheit. Pro - ber überall in Aktio n, wo Waren angeliefert
gno se fo lgt aus Diagno se, aus der Kunst, das und ausgegeben werden. Der jährliche „Aus-
Leben bis auf die typischen Tiefenstrukturen sto ß“ an beschriftetem Papyrus durch die
zu durchschauen (rq) und zu allgemeingül- Buchhaltung eines einzigen größeren Betrie-
tigen Aussagen zu ko mmen, die sich auch bes wird auf ca. 120 lfd. m Papyrus geschätzt
no ch nach Jahrhunderten als wahr erweisen (Ho chrechnung Po sener 1961 auf der Basis
(Brunner a. a. O.). Der ägyptische Begriff vo n der Abusir-Papyri; s. o. Abb. 34.4).
Weisheit (rh-jht, der „Wissende“) ist eng mit
der Schrift verknüpft. Der Wissende ist „ein- 3.2. Schrift und Recht: Gesetze, Edikte,
gedrungen in die Schriften“. „Werde eine Protokolle und Urkunden
Bücherkiste“ rät ein Lehrer dem Schüler
(Brunner 1957, 179). Die äg. Sprache unterscheidet zwischen hp
Aber auch die Literaten waren Beamte im „Gesetz“ und wḏ(.t) „Befehl, Edikt“. Erstere
werden handschriftlich, letztere inschriftlich
34.  Die ägyptische Schriftkultur 483

aufgezeichnet. Handschriftliche Rechtsbücher menten chro no lo gischer Orientierung. Da es


(ko difizierte Gesetze) sind allerdings erst ab keine durchgehende Jahreszählung gab, viel-
der Spätzeit erhalten, so daß ihre Existenz für mehr mit jeder neuen Thro nbesteigung wieder
ältere Perio den umstritten ist (co ntra: Otto bei Jahr 1 bego nnen wurde, bo ten die Königs-
1956; pro : Kruchten 1981). Der Co dex Her- listen das einzige Mittel, sich über die Aus-
mo po lis stammt aus dem 6. Jahrhundert dehnung der Zeit Rechenschaft abzulegen.
(Grunert 1982); die demo tische Chro nik er- Auf diesen Listen beruht auch das pto lemäi-
wähnt eine Gesetzessammlung unter Darius I. sche Geschichtswerk des Manetho , angerei-
(Meyer 1915), in verschiedenen griechischen chert mit annalistischen Einträgen. Auch die
Quellen erfahren wir vo n Sakralgesetzen Annalen (gnwt) waren nicht öffentlich, so n-
(Quaegebeur 1980/81). Was man aus älterer dern gehörten zum Archiv. Der Palermo stein
Zeit kennt, sind einerseits königliche Dekrete, allerdings bietet eine Art mo numentaler Pu-
meist Erlasse für Privilegien und Exemptio - blikatio n vo n Annalen vo n der Frühzeit bis
nen für einzelne Tempel, andererseits private in die 5. Dynastie.
Rechtsurkunden. Alle Rechtsvo rgänge wur-
den pro to ko lliert; so lche Pro to ko lle wurden
bei Verhandlungen ggf. auf der Suche nach 4. Tempel — Schrift und Ritus,
Präzedenzfällen konsultiert. Schrift und Wissen
3.3. Schrift und Geschichte: 4.1. Schrift und Ritus:
Annalen, Tagebücher Kultische Rezitationsliteratur
Es gibt allgemein zwei Fo rmen vo n Ge- Die streng wo rtlautgetreue Überlieferung vo n
schichtschreibung: die Do kumentatio n lau- Ritualtexten bildet weltweit die ursprünglich-
fender Vo rko mmnisse und die zusammenfas- ste und wichtigste Funktio n der Überliefe-
sende retro spektive Erzählung. In Ägypten rung. Im Unterschied zu den Indern, Grie-
spielt Do kumentatio n die Hauptro lle. Man chen und Kelten, die hierfür der Schrift miß-
kennt Reste o der Erwähnungen vo n Tage- trauten und das Gedächtnis für das präzisere
büchern verschiedener Betriebe und Institu- Medium hielten, haben die Ägypter sich o f-
tio nen (Redfo rd 1986, 97 ff) wie Wirtschafts- fenbar scho n sehr früh der Schrift zur Auf-
betriebe, Festungen, der Thebanischen Ne- zeichnung ritueller „Vo r-schriften“ und Rezi-
kro po le, Lo gbücher vo n Schiffen, Kriegsta- tatio nen bedient. Daher trägt der Ritualist
gebücher etc. Seit dem MR treten daneben den Titel „Träger der Schriftro lle“ (LÄ I,
die Fo rmen mo numentaler Veröffentlichung 940—43): er entnimmt der Schrift, wie das
in Fo rm vo n Stelen und Tempelinschriften Ritual durchzuführen und was zu rezitieren
so wie (v. a. im Ausland) auch Felsinschriften. ist. S o rgfältige Ritualhandschriften waren
Sie dienen der Ko mmemo ratio n einzelner her- zweigeteilt und enthielten in einem Bildstrei-
ausgeho bener Ereignisse, vo n denen man fen Skizzen der auszuführenden Handlung
wünscht, daß sie in die (mündliche) Überlie- und in einem Textstreifen die zu rezitierenden
ferung ko mmender Generatio nen eingehen. Texte nebst Gl o ssen („Kultk o mmentare“)
Zusammenfassende Tatenberichte, in denen und Vermerken. Viele Techniken und Ko n-
ein Herrscher Rechenschaft über seine ge- ventio nen der rituellen Schriftpraxis sind in
samte Regierungszeit ablegt, vergleichbar den die To tenliteratur (Sargtexte und To tenbuch)
bio graphischen Inschriften der Privatleute, übernommen worden.
gibt es nicht. Am nächsten ko mmt dem der Zu den wichtigsten Veränderungen gehört
Gro ße Papyrus Harris, der einer Zusammen- die Entstehung des „Theo lo gischen Diskur-
stellung allen vo n Ramses III. gestifteten ses“. Die theo lo gische Arbeit an der Idee der
Tempelbesitzes einen histo rischen Bericht Einheit Go ttes und seiner Beziehung zur po ly-
über den Übergang vo n der 19. zur 20. Dy- theistischen Götterwelt vo llzieht sich einer-
nastie und die ersten beiden Könige der 20. seits in Hymnen kultischer (Berliner Papyri
Dynastie, Sethnacht und Ramses III. anfügt 3049, 3050, 3056) und funerärer Bestimmung
(LÄ IV, 707). Königslisten gehörten nicht zu (Grabinschriften), andererseits in literari-
den öffentlichen Denkmälern. In inschriftli- schen Handschriften (Pap. Bo ulaq 17 aus der
cher Fo rm hatten sie den liturgischen Sinn mittleren 18. Dyn. mit älteren Amun-Hym-
einer Opferrezitatio n im königlichen Ahnen- nen, pLeiden J 350, ein Zyklus vo n Amun-
kult. In handschriftlicher Fo rm (Turiner Pa- hymnen mit Zahlenwo rtspielen, der wo hl un-
pyrus) gehörte die Königsliste zu den Instru- ter einem Titel wie „das Buch der 1000 Lie-
der“ kursierte, pLeiden J 344, pChester Be-
484 IV. Schriftkulturen

atty IV) und berührt sich mit der im weiteren Der früher meist ins AR datierte Text kann
Sinne weisheitlichen Gebetsliteratur. aus inhaltlichen Gründen kaum älter sein als
Eine beso ndere Ro lle spielt die Bewegung die Ramessidenzeit (13. Jh. v. Chr.). Viele der
der „Persönlichen Frömmigkeit“, die sich gro ßen Hymnen der Ramessidenzeit zeigen
nicht nur in der genannten Gebetsliteratur, denselben systematisierenden Zugriff und
so ndern auch und vo r allem in einer Fülle können gut als „Traktate“ gelten. (Vgl. bes.
vo n Vo tivstelen manifestiert, unter denen die ÄHG Nrs. 127—131, 143—145; Lichtheim
aus Der el-Medine durch ihre bedeutenden 1973—80 III, 109—115; Saunero n 1962; zur
Texte hervo rragen. Persönliche Unglücksfälle Reko nstruktio n der ramessidischen Amun-
wie Krankheit, beso nders Blindheit, werden Theo lo gie s. Assmann 1983.) Bauinschriften
als Strafe einer erzürnten Go ttheit gedeutet, der griech.-röm. Tempel enthalten mytho lo -
die durch öffentliches Bekenntnis und Lo b- gische „Mo no graphien“ über den Ursprung
preis in Fo rm einer Stele besänftigt werden des Tempels (Guthub 1973).
soll (Assmann 1984, 258—67). Typisch für die Wissensliteratur der Spät-
Ritualpapyri des MR stammen aus dem zeit sind geo graphische Handbücher, die für
Ramesseumfund (Gardiner 1955), des NR jeden Gau die relevanten Info rmatio nen
(„Ritual für Ameno phis I.“) aus dem Chester (Haupto rt, Osiris-Reliquie, Go tt und Göttin,
Beatty Fund aus Der el Medine und der 22. Priester und Sängerin, Barke und Kanal, Hei-
Dyn. aus einem nach Berlin gelangten Fund liger Baum und Hügel, wichtigste Feste, Ta-
thebanischer Herkunft (Mo ret 1902). Aus der bus, Schlangen, Ackerland und Sumpfgebiet)
Spätzeit sind zahlreiche Ritualpapyri erhal- zusammenstellen. Ausführlichere Gau-M o -
ten, vgl. zu diesen Derchain 1965; Assmann no graphien enthielten darüber hinaus My-
1990 a; Goyon 1972 u. a. then und Kultlegenden (Vandier 1962; Bein-
lich 1991). Astro no mische Handbücher haben
4.2. Schrift und Wissen: sich nicht erhalten, lassen sich aber als Vo r-
Priesterliche Wissens-Literatur lagen für Sarg-, Grab- und Tempeldeko ratio -
nen seit dem MR erschließen (Neugebauer-
Verstreut in verschiedenen Gattungen der Parker 1960). Pap. Chester Beatty III ist ein
Tempel- und T o tenliteratur (Verklärungen, o neir
o mantisches Handbuch (Sauner
o n
Bauinschriften usw.) erscheinen Texte, die 1959). Zur Omen-Literatur kann man ferner
Elemente eines theo lo gischen Systems in ko - die Tagewählerei-Kalender rechnen, vo n de-
härenter Fo rm entfalten. Zu den frühesten nen sich (seit dem MR) 9 erhalten haben
Beispielen gehört die Theo lo gie des Luftgo ttes (Bakir 1966). Zum Priesterwissen gehört auch
Schu in Sprüchen 75—83 der Sargtexte (Ass- das o phio ol gische Handbuch in Bro o klyn
mann 1984, 209—15; Allen 1988, 13—27) und (Sauneron 1989).
die „Theo dizee“ in Spruch 1130 (Assmann Irgendwo zwischen To tenliteratur und prie-
1984, 204—8). Spruch 80 beschreibt als Mo - sterlicher Wissensliteratur stehen die Unter-
no lo g des Schu den Mo ment der Weltentste- weltsbücher der Königsgräber, Beschreibun-
hung als den Übergang des Einen in die Drei- gen des nächtlichen So nnenlaufs in Bild-Text-
heit vo n Atum, Schu und Tefnut, die als „All, Ko mpo sitio nen, deren Verwendung als könig-
Leben und Wahrheit“ ausgedeutet wird. liche To tenliteratur vermutlich sekundär ist.
Spruch 1130 ist ein Mo no lo g des Schöpfer- Es handelt sich um Auflistungen vo n Hand-
go ttes, der sich vo n der Mitverschuldung des lungen und Namen unterweltlicher Wesen im
Bösen freispricht. Man hat in diesem Text die Zusammenhang des So nnenlaufs, so wie lange
Antwo rt auf den „Vo rwurf an Go tt“ vermu- Rezitatio nen, meist Lo bpreisungen des So n-
tet, der in den „Mahnwo rten des Ipuwer“ nengo ttes und Wechselreden zwischen diesem
erho ben wird: daß Go tt aufgrund seiner In- und den unterweltlichen Göttern und Wesen.
differenz gegenüber dem Bösen eine Mit- Das Buch vo m Tag und vo n der Nacht bildet
schuld am Zerfall der Ordnung trifft (Fecht das ko smo graphische Gegenstück zum litur-
1972). Den berühmtesten theo lo gischen Trak- gischen Text des Stundenrituals (ÄHG
tat enthält eine Inschrift der 25. Dyn., die Nr. 1—12), das unabhängig davo n in So n-
„Memphitische Theo lo gie“, die sich als Ab- nenkultstätten des NR auftritt und erst in
schrift einer wurmzerfressenen Handschrift pto lmäischen Tempeln mit dem ko smo gra-
ausgibt (Allen 1988, 42—47, 91—93). Sie be- phischen Teil verbunden wird. Dieser Fall be-
richtet vo n der Erschaffung der Welt durch leuchtet den Sitz im Leben der Gattung „Ko s-
o
K nzeptio n („Herz“) und Pr
o klamati
o n mo graphie“: sie gehört zum So nnenkult und
(„Zunge“) und vo n der Wirksamkeit dieser ko difiziert das für den Kultvo llzug no twen-
Prinzipien in der Erhaltung der Schöpfung.
34.  Die ägyptische Schriftkultur 485

dige Wissen. Der auffallendste Zug dieser 5.2. Weisheitsliteratur


Literatur ist ihre hermetische Exklusivität. Bis
zum Ende des NR ko mmt sie nur in der Den Kernbereich der edukativen Literatur
Deko ratio n der unterirdischen und unzu- bildet in allen Epo chen der ägyptischen Ge-
gänglichen Königsgräber vor. schichte die Weisheitsliteratur. Sie umfaßt
Die medizinische und medico -magische Li- zwei Gattungen: Lehren und Klagen. Die
teratur läßt sich speziell mit dem Priestertum Lehren, vo n denen 17 teils ganz, teils frag-
der Göttin Sachmet verbinden (v. Känel 1984; mentarisch erhalten sind (Brunner 1991),
Ghalio unghi 1983). Medizinische Handbü- dürften die älteste literarische Gattung dar-
cher sind z. T. so rgfältig (mit ro ter Tinte) glo s- stellen; zugleich ist sie bis in die griechisch-
siert. Die Grenzen zwischen Medizin und Ma- römische Zeit pro duktiv geblieben (Lichtheim
gie (hierzu Bo rgho uts 1978) sind fließend, so 1983). Typisch für diese Gattung ist der Bezug
daß die zahlreichen Heilungszaubertexte zur auf eine als Verfasser auftretende Lehrauto -
medizinischen Wissensliteratur gerechnet wer- rität. Da im Falle der Lehre des Königs Ame-
den müssen. Carminative Magie gehörte zum nemhet I. der Dichter Cheti als der eigentliche
Spektrum medizinischer Anwendungen. Wis- Verfasser überliefert ist, dürfte es sich auch
sensliteratur mehr pro fanen Charakters bilden bei den anderen Verfassernamen um literari-
die mathematischen Handbücher (Gillings sche Rahmenfiktio nen handeln, so daß die
1972) so wie „Ono mastica“, Wo rtlisten in Geschichte der Gattung nicht unbedingt bis
sachlicher Ano rdnung (Gardiner 1947). Aus in die 3. Dynastie, zu Imuthes zurückgehen
der Spätzeit sind auch Zeichenlisten und An- muß, der als erster Weisheitsauto r gilt (wenn
sätze grammatikalischer Ko difikatio nen über- auch seine Lehre nicht erhalten ist). Vo llstän-
dig und in mehreren Fassungen erhalten ist
liefert (LÄ IV, 732). die Lehre des Wesirs Ptahho tep unter Aso sis
(5. Dynastie; ein histo rischer Wesir dieses Na-
5. Schrift und Bildung mens ist in der 6. Dynastie bezeugt), die bei
weitem bedeutendste Lehre, die bis in die
Spätzeit und vielleicht so gar darüber hinaus
5.1. Tradieren: Kopieren, Lehren, Erweitern (Brunner 1988, 417—20) bekannt war.
Man darf davo n ausgehen, daß schriftliche Ob diese Texte wirklich ins AR zu datieren
Texte anwendungsbezo gen waren. Geschrie- sind (die erhaltenen Handschriften stammen
ben wurde nur im Hinblick auf institutio na- frühestens aus dem MR), o der vielmehr in
lisierte Verwendungssituatio nen. Es gab, so - der Herakleo po litenzeit und der 12. Dyn. ent-
viel wir wissen, keinen Buchmarkt und kein standen sind, ist umstritten. Der fiktio nale
Lesepublikum. Schreiben lernte man anhand Charakter der Verfasserschaft ist jedo ch in
der gro ßen o der fundierenden Texte der ägyp- den meisten Fällen evident. In der Zeit nach
tischen Literatur (zum Pro blem der „Litera- dem AR treten so gar Könige als „Verfasser“
rizität“ äg. Texte s. Assmann 1974; Lo prieno vo n Lehren auf: der Vater des Königs Meri-
1992). Vo r und unabhängig vo n der Ausbil- kare (10. Dyn.) und Amenemhet I. (12. Dyn.).
dung zu spezifischer Sachko mpetenz in einem Im NR tragen die „Verfasser“ vo n Lehren
bestimmten Resso rt der Verwaltung o der des bescheidenere Titel. Ani ist Tempelschreiber,
Kults geno ß der ägyptische Schüler eine Un- Amenem o pe Katasterschreiber. Inhalt der
terweisung in literarischer Bildung. Das ist, Lehren ist das, was der Ägypter Ma’at
was mit sb3jjt „Lehre, Unterweisung“ gemeint („Wahrheit — Gerechtigkeit — Ordnung“)
ist (Brunner 1957, vgl. hebr. musar „Zucht“, nennt, das Prinzip des richtigen Lebens und
gr. paideia). Als Lehrer fungierten die Tra- Handelns, das einen Menschen so wo hl im
denten, denen zugleich das Abschreiben (und Einklang mit seinen Mitmenschen hält als
Auslegen?) der fundierenden Texte o blag, und auch zum Erfo lg im irdischen Leben und zur
die in beso nderen Fällen den überlieferten Fo rtdauer im Jenseits verhilft (Assmann
Bestand durch eigene Ko mpo sitio nen erwei- 1990). Der Gegenwert dieser Ethik des Ge-
terten. Der Traditio nsstro m und seine Pflege meinsinns ist Habgier, das ego istische Streben
bildeten den Rahmen literarischer Ko mmu- nach Selbstbereicherung auf Ko sten anderer,
nikatio n. Erziehungsliteratur wurde als Schul- das den einzelnen iso liert und dadurch der
sto ff auswendig gelernt; an ihr lernte man Vergänglichkeit preisgibt. Als wichtigste Ent-
schreiben, fo rmulieren und die Regeln gebil- wicklungslinie in der Geschichte dieser Gat-
deten und erfolgreichen Benehmens. tung tritt ihre Theo lo gisierung hervo r. Was
als Einstimmung in eine wesentlich diesseitige,
486 IV. Schriftkulturen

wenn auch göttlich fundierte Ordnung be- außerhalb Ägyptens spielen. (1) Sinuhe flieht
ginnt, wird allmählich zur Unterwerfung un- im Zusammenhang der Ermo rdung Amenem-
ter den Willen Go ttes. Die so zialen Tugenden hets I. nach Palästina, wo er zu Reichtum und
der Rücksicht, Selbstbeherrschung und Be- Würden aufsteigt, kehrt aber auf dem Höhe-
scheidenheit nehmen die spezifisch religiöse punkt seiner Karriere nach Ägypten zurück,
Färbung der Demut, Go ttesfurcht und Fröm- um sich mit dem König auszusöhnen und in
migkeit an. Diese Po sitio n ist bei Amenemo pe dessen Gunst zu sterben und begraben zu
erreicht; eine wichtige Po sitio n auf diesem werden (Lo prieno 1988). Die Geschichte re-
Wege markiert die Lehre für Merikare mit flektiert die Pro bleme des Willens (die Flucht
ihren gro ßartigen Abschnitten über das To - wird einem „Plan Go ttes“ zugeschrieben), so -
tengericht und den Schöpfergo tt als Hirten wie der Beziehungen, in die der einzelne ge-
seiner Schöpfung. Im späteren NR erweitern stellt ist zu Go tt, zum König, zu den Mit-
sich daher die Gattungen der Weisheitslite- menschen und seinem eigenen Inneren
ratur um religiöse Texte: Gebete und Hymnen („Herz“). Außerdem beleuchtet sie die typisch
an die Götter („Persönliche Frömmigkeit“: ägyptische Verbindung zwischen Herrschaft
Fecht 1965). und Heil, Staat und Unsterblichkeit, Königs-
Die andere bedeutende Gattung der Weis- gunst und Mo numentalgrab. (2) Der Schiff-
heitsliteratur bilden die Klagen. Unter die- brüchige (Lo prieno 1991) strandet auf einer
sem Oberbegriff fassen wir die Werke der Insel und begegnet do rt einer schlangenge-
„Auseinandersetzungsliteratur“ (Spuler 1970, staltigen Go ttheit. Auch hier geht es um das-
139—57; engl. Übers. der meisten Texte in selbe Beziehungsgeflecht vo n Individuum,
Lichtheim 1973—80) zusammen, d. h. die Go tt, König, Mitmenschen und „Herz“. Der
Klagen über die durch den Verlust an so zialer Held muß lernen, daß „Go tt“ ihn zu dieser
Gerechtigkeit (Ma’at) aus den Fugen gera- Insel gebracht hat und daß er sein Herz in
tenen Welt, z. B. die Mahnwo rte des Ipuwer Geduld und Standhaftigkeit üben muß, um
(pLeiden J 344), die Pro phezeiungen des Ne- heimkehren zu können zum König und zu
ferti (pPetersburg 1116 b), die Klagen des seiner Familie. Aus späterer Zeit läßt sich nur
Chacheperresenb (tBM 5645), u. a. m. Alle der Bericht des Wenamun (pMo skau 120, LÄ
diese Texte stammen vermutlich aus dem MR, IV 724) mit diesen Erzählungen vergleichen.
teilweise in Fo rtführung einer aus der Erfah- Gemeinsam ist diesen Werken neben dem aus-
rung des Zerfalls des AR-Staates erwachsen- ländischen Schauplatz die Orientierung an
den Traditio n. Aus späterer Zeit stammen Der einem außerliterarischen Ausgangstyp: bei Si-
Mo skauer Literarische Brief (pMo skau 127 nuhe die auto bio graphische Grabinschrift,
LÄ IV, 724), Das Töpfero rakel (griechisch), beim Schiffbrüchigen und Wenamun der Ex-
Das Orakel des Lammes und die Demo tische peditio nsbericht (zu dieser Gattung s. Blu-
Chro nik (beide demo tisch). Es handelt sich menthal 1977).
um „po litische Chao s-Beschreibungen“ (Ass-
mann 1991, 259—87), die das Pro blem der 5.4. Kanonische und
so zialen Gerechtigkeit (Ma’at) auf der Ebene außerkanonische Literatur
des gesamtgesellschaftlichen Gelingens be-
handeln und sich daher mit den Lebenslehren Die Erzählliteratur des NR scheint nicht mehr
ergänzen, die sich diesem Pro blem auf der an den edukativen Rahmen der „Bildung“
Ebene individuellen Gelingens widmen. Mit gebunden. Jetzt bildet sich ein vo n funktio -
den Klagen berühren sich die Harfnerlieder, nalen Bezügen entlasteter Raum des Vergnü-
eine Gattung der Gelagepo esie (Fo x 1982), gens an schönen Texten und Handschriften
die durch elegische Beschwörung der Ver- heraus, in deutlicher Abgrenzung gegenüber
gänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des dem kano nisierten Bereich der „Schulklassi-
irdischen Lebens (memento mori-Mo tiv) zum ker“. Dieser basiert auf einer Auswahl vo n
Genuß des festlichen Augenblicks aufruft Bildungstexten des MR und läßt sich bestim-
(carpe diem-Mo tiv) (Assmann 1991, 215— men anhand des Mehrfachvo rko mmens der
226). Texte, vo r allem auf Ostraka (Kalksteinsplit-
ter, seltener To pfscherben), wie sie als billig-
5.3. Erzählende Literatur stes Schreibmaterial im Schulunterricht ver-
wendet wurden. Die klassischen Texte wurden
Die erzählende Literatur des MR gehört auswendig gelernt und abschnittsweise nie-
ebenfalls in den Rahmen der edukativen Lite- dergeschrieben, wo bei die zahlreichen Fehler
ratur (Otto 1966; Eyre 1990, 150 ff). Sie wird zeigen, daß auf Sinnverständnis wenig Wert
durch zwei Erzählungen vertreten, die beide gelegt wurde und eine die Überlieferung dieser
34.  Die ägyptische Schriftkultur 487

Texte begleitende Auslegungskultur nicht ent- 6. Repräsentation:


wickelt war (Burkard 1977). Den Häufigkeits- der „monumentale Diskurs“
reko rd halten Texte wie Die Lehre des Cheti
(eine Satire der praktischen Berufe zum Lo b- 6.1. Königliche Monumente
preis des Schreiberberufs), Die Lehre des Kö-
nigs Amenemhet I., Der Nilhymnus (alle drei Alles weist darauf hin, daß sich in Ägypten
Texte gelten als Werke des Dichters Cheti), die Schrift aus vo rschriftlichen No tatio nssy-
Neferti, Die Lo yalistische Lehre, Die Lehre stemen entwickelt hat, die im Dienst der Re-
eines Mannes an seinen So hn, das Schulbuch präsentatio n po litischer Gewalt und Identität
Kemit so wie, deutlich seltener bezeugt, Dje- standen, im Gegensatz zu Vo rderasien, wo das
defho r, Ptahho tep und Sinuhe. Viele bedeu- vo rschriftliche No tatio nssystem in den Be-
tende Werke der MR-Literatur, vo r allem reich der Wirtschaft weist (Schlo tt 1989). Aus
Klagen, sind in diesen Kano n nicht aufge- diesen Ursprüngen entwickeln sich im MR
no mmen (Bauer, Lebensmüder, Schiffbrüchi- die verschiedenen Gattungen der Königsin-
ger). Vo n neuen Texten gehören zum Schul- schriften: Stelen zur „Verewigung“ histo ri-
kano n Die literarische Streitschrift (pAnastasi scher Ereignisse, o ft in der Fo rm der „Königs-
I), Die Lehre des Ani und die Übungstexte no velle“ als beso nders elabo rierter narrativer
der auf das Vo rbild der Kemit zurückgehen- Einkleidung (Hermann 1938; Eyre 1990; Spa-
den Miszellaneen mit Mo dellbriefen und li- linger 1982, 101—114; LÄ II, 566—68), Tem-
terarischen Übungsstücken aller Art wie Eu- pelinschriften usw., immer in engstem Ver-
lo gien, Hymnen, Gebete, Ermahnungen an bund mit Bilddarstellungen, die den König
den Schüler, nicht So ldat zu werden, sich im Kult vo r Go ttheiten o der beim „Erschla-
nicht zu betrinken o der entsprechenden Aus- gen der Feinde“ darstellen. Die Königsin-
schweifungen hinzugeben, Berufssatiren nach schriften berichten, begründen und legitimie-
dem Vo rbild des Cheti, Listen mit Waren etc. ren königliches Handeln, wo bei die Gewichte
(Camino s 1957). Echte Briefe, vo n denen eine verschieden verteilt sind. In Bauinschriften
ganze Anzahl erhalten sind, zeigen die Wir- liegt das Gewicht meist auf der Legitimatio n
kung dieses Trainings (Bakir 1970; Wente durch theo ol gische Überhöhung, in Feld-
1967). zugsberichten (Spalinger 1982) auf der nar-
Dem Schulkano n stehen die Neuägypti- rativen Spezifikatio n. Höhepunkte bilden hier
schen Erzählungen (Hintze 1950/52) gegen- die Kamo se-Stelen mit dem Bericht der Be-
über, die jeweils nur auf einer einzigen Hand- freiungskämpfe gegen die Hykso s (17./18.
schrift bezeugt sind: die Wundererzählungen Dyn., um 1580 v. Chr.) und das Gedicht
des Pap. Westcar, das Zweibrüdermärchen über die Kadesch-Schlacht Ramses II. (1274
des Pap. D’Orbiney (Blumenthal 1973), der v. Chr.; v. d. Way 1984). Vo n beiden Texten
Verwunschene Prinz, Der Streit zwischen Ho - existieren (was eine gro ße Ausnahme darstellt)
rus und Seth und viele andere: Erstverschrift- auch literarische Fassungen auf Schreibtafel
lichungen mündlich umlaufender Erzählun- bzw. Papyrus. In der Ramessidenzeit verän-
gen, o ffenbar zum Zwecke der Unterhaltung dert sich im Zusammenhang mit einer Theo -
(alle übers. in Brunner-Traut 1989). Zur glei- lo gisierung des Geschichtsbildes der Teno r
chen Überlieferungsfo rm gehören Liebeslie- der Inschriften. Das einzelne Ereignis gewinnt
der, vo n denen mehrere Zyklen bekannt sind jetzt an Bedeutung, indem es als göttliche
(Fo x 1985) so wie Papyri und Ostraka mit Interventio n zugunsten des Königs gedeutet
satirisch-karnevalesken und o bszönen Zeich- wird. In der Kadesch-Schlacht greift Amun
nungen. Hierbei scheint es sich um Illustra- rettend ein. Merenptah geht bei seinem Be-
tio nen vo n Fabeln (Brunner-Traut 1968) und richt der Libyerschlacht no ch einen Schritt
Fabliaux (pTurin Cat. 2031 LÄ IV 736, C5) weiter: er läßt dem irdischen Kampf einen
zu handeln, deren Texte nur in mündlicher Rechtsstreit im Himmel vo rausgehen, wo be-
Traditio n existieren. Vo n den Fabeln tauchen reits das Urteil über seinen Gegner gefällt und
einige über 1000 Jahre später in demo tischen Merenptah der Sieg zugespro chen wird, so
und griechischen Texten auf. Beso nders cha- daß der König überhaupt erst aufgrund gött-
rakteristisch ist das Thema der Verkehrten licher Bev o llmächtigung militärisch aktiv
Welt (z. B. ein Mäuse-Pharao , der eine vo n wird. Die inschriftlichen Tatenberichte stan-
Katzen verteidigte Stadt ero bert: Brunner- den in den äußeren Tempelbezirken und
Traut 1968, 4 mit fig. 1) o der ein Nilpferd im waren darauf angelegt, vo n Besuchern, die
Feigenbaum (ibd. 5 mit fig. 8). anläßlich vo n Festen bis in die Vo rhöfe zu-
gelassen waren, gelesen zu werden. Sie so llten
488 IV. Schriftkulturen

Nachruhm im ko llektiven Gedächtnis stiften; abweichende Lesarten. Die To tenliteratur exi-


und in der Tat findet sich bei Hero do t (II stiert in drei Aufzeichnungsfo rmen, die sich
101) und Dio do r (I 45) die Vo rstellung, die auf das Alte, Mittlere und Neue Reich ver-
ersten „52 Könige“, d. h. die Könige des Al- teilen: als Steininschrift auf den Wänden der
ten Reichs, hätten keine nennenswerten Taten inneren Pyramidenkammern (Faulkner 1969),
vo llbracht, was sich daraus erklärt, daß die auf den Innenwänden hölzerner Särge (Sarg-
Gattung des m o numentalen Tatenberichts texte in Kursivhiero glyphen auf Stuck, Übers.
erst mit dem Mittleren Reich aufkommt. frz. Barguet 1986; engl. Faulkner 1973—78)
und auf Papyrus (To tenbücher Übers. Ho r-
6.2. Nichtkönigliche Inschriften nung 1979). Die Geschichte der äg. To tenli-
teratur ist der Pro zeß einer allmählichen Ko n-
Der Aufzeichnungsrahmen des mo numenta- stitutio n eines eigenständigen schriftkulturel-
len Privatgrabes, ab MR auch der Tempelsta- len Gebiets. Die Pyramidentexte sind weit-
tue, bietet Raum für eine Vielzahl verschie- gehend sekundäre „Verinschriftlichung“ vo n
dener Textgattungen, die teils auf den To ten- Texten, deren eigentlicher Ort der Kult ist
kult, teils auf Grabbesucher bezo gen sind. (s. o . 4.1. „Schrift und Ritus“). Wenn uns
Unter den letzteren ragen die Inschriften bio - auch vo n den „Festro llen“, die als Vo rlage
graphischen Inhalts heraus (Lichtheim 1988). gedient haben müssen, direkt nichts erhalten
Als schriftliches Medium der Selbstrepräsen- ist, zeigt do ch das Vo rko mmen identischer
tatio n ergänzen sie sich mit dem bildlichen Spruchfo lgen auf Papyri der Spätzeit, daß
Medium der gleichfalls ho chstehenden Po r- hier Liturgien zugrundeliegen, die im Ritual-
trätkunst (Assmann 1991, 138—168). In den ko ntext über die Jahrtausende hin weitertra-
bio graphischen Inschriften zieht ein Grabherr diert wurden. Die MR-Särge übernehmen
die Summe seines Lebens. Dabei sind zwei viele dieser Liturgien aus den Pyramidentex-
Aspekte maßgebend, die ursprünglich in zwei ten und weisen dazu eine gro ße Masse neuer
distinkten Gattungen behandelt werden: die „Sprüche“ auf. Als No vum treten jetzt
Beamtenkarriere im Königsdienst und das Spruchtitel hinzu, die die Texte explizit für
Bekenntnis zur ethischen No rm der Ma’at. den Gebrauch des To ten umfunktio nieren.
Erst nach dem Zusammenbruch des AR fallen Weitaus die meisten dienen dazu, im Jenseits
diese Bereiche zusammen: auch die Karriere eine bestimmte Gestalt anzunehmen („Ver-
wird „ethisiert“, ein Kano n vo n Beamtentu- wandlungssprüche“), andere, einen To ten zu
genden bildet sich heraus wie Schweigen, einem verklärten Geist zu machen („Verklä-
Selbstherrschung, Bescheidenheit, oV raus- rungen“) usw. Gegenüber den Pyramiden des
sicht, Wo hltätigkeit, Freundlichkeit, Gro ß- AR hat sich jetzt die To tenliteratur als ein
zügigkeit, Lo yalität, Bildung usw. (Lichtheim Funktio nsrahmen ko nstituiert, im Sinne ma-
1988). Die Idee einer Selbstverewigung im gischer Rezitatio nen mit spezifischer Heilsef-
Medium der Schrift, wie sie dem Ho razischen fizienz. Der Abstand zwischen der Ausgangs-
aere perennius zugrunde liegt, wird scho n in fo rm, der „Festro lle“, und der Zielfo rm, der
Ägypten selbst vo m mo numentalen auf das beschrifteten Sargwand, ist viel geringer, da
literarische Denkmal übertragen (Assmann für die Beschriftung dieselben Schreibgeräte
1991, 169—178: pChester Beatty IV), das als verwendet und Schriftko nventio nen befo lgt
Überbietung des Grabmonuments erscheint. werden. Bei den To tenbüchern des NR ist
dieser Abstand verschwunden. Jetzt werden
nicht mehr Festro llen ko piert, so ndern ältere
7. Totenliteratur — Totenbücher.
Rezitationsliteratur und Die To tenliteratur hat sich auch überliefe-
Wissensausstattung rungstechnisch als eigenes Gebiet ausdifferen-
Die ägyptische To tenliteratur (Altenmüller, ziert. Die einzelnen Handschriften sind aber
in: Spuler 1970, 52—81) bildet innerhalb der immer no ch weitgehend individuell zusam-
ägyptischen Überlieferung den Bereich mit mengestellt; Bestand und Reihenfo lge der
den os rgfältigsten Schrifttraditio nen. Hier Sprüche liegen nicht fest. Dieser Schritt wird
entsteht der erste und bedeutendste kateche- erst ansatzweise in der 21. Dyn., dann end-
tische Ko mmentar (To tenbuch Kap. 17), hier gültig in der Saitenzeit vo llzo gen. Mit der
bilden sich Fo rmen systematischen Vo rlagen- Kano nisierung des To tenbuchs (vgl. hierzu
und Variantenvergleichs heraus (Rößler-Köh Co lpe 1987) einher geht die Entstehung neuer
ler 1976). Offensichtlich benutzte ein so rgfäl- Ko mpo sitio nen der To tenliteratur. In der 21.
tiger Schreiber mehrere Vo rlagen und no tierte Dyn. entstehen die „Mytho lo gical Papyri“,
34.  Die ägyptische Schriftkultur 489

die neben Texten vo r allem ho chsymbo li- —. 1990. Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblich-
sche Bildko mpo sitio nen enthalten (Niwinski keit im Alten Ägypten, München.
1989), so wie die Kurzfassungen des Amduat —. 1990 a. Egyptian Mo rtuary Liturgies. In: Stu-
(Sadek 1985). Im Gefo lge der späteren Ka- dies in Egypto lo gy, Jerusalem (Fs. M. Lichtheim),
no nisierung entstehen das „Buch vo m Ver- 1—45.
bringen der Ewigkeit“ (LÄ II, 54 f) und die —. 1991. Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft
beiden „Bücher vo m Atmen“ (Go yo n 1972; im Alten Ägypten, München.
1974). Jetzt werden auch gelegentlich Rituale Baines, Jo hn. 1983. Literacy and ancient egyptian
des Osiriskults an To tenbuchro llen angehängt society. Man 19, 572—99.
o der in eigenen Schriftro llen ins Grab mit- Bakir, A. el-M. 1966. The Cairo Calendar. Kairo.
gegeben. Eine gro ße Fülle vo n Osiris-Litur-
gien sind uns auf diese Weise erhalten und —. 1970. Egyptian Episto lo graphy fro m the 18th
vermitteln eine Vo rstellung vo m Aussehen der to the 21st dynasty. Kairo.
„Festro llen“ des Vo rlesepriesters. Einzelne Barguet, Paul. 1986. Textes des sarco phages égyp-
Rituale enthalten dieselben Texte, die scho n tiens de Moyen Empire. Paris.
den Beschriftern der Pyramiden als Vo rlage Beinlich, Ho rst. 1991. Das Buch vo m Fayum. Wies-
gedient haben (Möller 1900). Diese Hand- baden.
schriften verwenden ein schönes, flüssiges und Blumenthal, Elke. 1973. Die Erzählung des Papyrus
archaisierendes Hieratisch, das erst in der Rö- d’Orbiney als Literaturwerk. Zeitschrift für ägyp-
merzeit erstarrt. Einzelne Sprüche werden o ft tische Sprache 99, 1—77.
in einzelnen Ko lumnen angeo rdnet; auch sti- —. 1977. Die Textgattung Expeditio nsbericht. In:
chische Schreibung ist nicht selten. So lche Fragen an die altägyptische Literatur (Fs. Otto ),
o sirianischen To tenliturgien (zu dieser Gat- 85—118.
tung s. Assmann 1990 a) sind auch demo tisch Bo rgho uts, J. F. 1978. Ancient Egyptian Magical
belegt (pBM 10 507 ed. Smith 1987). Damit Texts, NISABA 9, Leiden.
kehrt die To tenliteratur zu ihrem Ursprung Brunner, Hellmut. 1957. Altägyptische Erziehung.
zurück: zur Verschriftlichung kultischer Re- Wiesbaden.
zitatio nsliteratur zum Zwecke der Grabbei-
—. 1966. Grundzüge einer Geschichte der altägyp-
gabe. Nachdem sich die eigentliche To tenli-
tischen Literatur. Darmstadt.
teratur vo m To tenkult abgeso ndert hatte und
sich als Ausstattung des To ten mit dem zum —. 1979. Zitate aus Lebenslehren. In: Ho rnung,
Bestehen der Jenseitsreise nötigen Wissens- E. & Keel, O. (ed.), Studien zu den altägyptischen
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—. 1982. L’écriture figurative dans les textes Jan Assmann, Heidelberg (Deutschland)

35. Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

1. Anfänge (Proto-Keilschrift) 1. Anfänge (Proto-Keilschrift)


2. Altsumerische Zeit
3. Akkadzeit 1.1. Schriftgeschichte
4. Neusumerische Zeit
5. Altbabylonisch-Altassyrische Zeit 1.1.1. Voraussetzungen
6. Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit
7. Das 1. Jahrtausend Die Schrifterfindung in Südmeso po tamien
8. Literatur (Uruk?) an der Wende vo m 4. zum 3. Jahr-
tausend v. Chr. fußte auf Vo rläufern, dem Sy-
stem der in To nbälle eingeschlo ssenen, mit
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 491

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siècles du paganisme. Esna V, Kairo.
—. 1982. L’écriture figurative dans les textes Jan Assmann, Heidelberg (Deutschland)

35. Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients

1. Anfänge (Proto-Keilschrift) 1. Anfänge (Proto-Keilschrift)


2. Altsumerische Zeit
3. Akkadzeit 1.1. Schriftgeschichte
4. Neusumerische Zeit
5. Altbabylonisch-Altassyrische Zeit 1.1.1. Voraussetzungen
6. Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit
7. Das 1. Jahrtausend Die Schrifterfindung in Südmeso po tamien
8. Literatur (Uruk?) an der Wende vo m 4. zum 3. Jahr-
tausend v. Chr. fußte auf Vo rläufern, dem Sy-
stem der in To nbälle eingeschlo ssenen, mit
492 IV. Schriftkulturen

Siegelabro llungen gesicherten Zählsteine (→ 1.2.1. Enzyklopädische „Lehrbücher“


Art. 16). Griffeleindrücke als Zahlzeichen er-
übrigten das Zerbrechen der Bälle für Mo - Der einfach scheinende Gedanke, Symbo le zu
nats- o der Jahresabrechnungen und erlaubten zeichnen, setzte die gewaltige Anstrengung
ein nachprüfbares Rechnungswesen. Kissen- vo raus, ein allgemein verbindliches System
förmige, gesiegelte To ntafeln (o hne Zähl- vo n Zeichenfo rmen und ihnen zugeo rdneten
steine) mit Zahleindrücken fo lgen; das Ge- Bedeutungen (Wörtern) zu schaffen, das weit
zählte legten andere Ko nventio nen fest (z. B. über das Inventar der Fo rmen vo n Zählstei-
Aufbewahrungso rt, Tafelfo rm). So lche Zah- nen hinausgriff. Es mußte gelehrt werden; die
len-Tafeln fanden sich auch in Iran (z. B. „Schule“ entstand. Der Lehrsto ff brauchte
Susa, Go din Tepe, Tepe Sialk), in No rdsyrien eine feste, dauerhafte Ordnung. Didaktisch
geschickt wählte man die vo n Sachgruppen
(z. B. Ǧebel Arūda, Habūba Kabīra). Der Sie- in Listen, erfaßte und o rdnete die vo rgefun-
gelabdruck auf Urkunden aus Recht und dene Welt, Ko nkretes wie Abstraktes (z. B.
Wirtschaft bleibt durch Jahrtausende Zeichen
für Verantw o rtlichkeit und Anerkennung Ämter), nach übergeo rdneten Katego rien, ge-
meinsamen Merkmalen, Funktio nen etc., als
einer Verpflichtung. enzyklo pädische Lexika. Das blieb bis zum
Ende der KS Grundlage der Schreiberausbil-
1.1.2. Anfänge der Schrift dung (später auch andere Typen). Die Iden-
Das Ersetzen der Zählsteine durch mit spit- tifizierung der Pro to -KS-Zeichen der frühe-
zem Griffel in To n geritzte Bildzeichen er- sten lexikalischen Texte begünstigen jüngere
scheint im Rückblick naheliegend. Es hat wie Duplikate (Fāra, Tell Abū Ṣalābīḫ, Ebla, auch
kaum eine andere Erfindung die Kulturen aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.). Vo m
Asiens und Euro pas geprägt. — In Südme- 2. Jahrtausend an sind die Listen auch zwei-
so po tamien entstand die Vo rfo rm der baby- sprachig, (sumerisch-akkadisch), in Ugarit
lo nisch-assyrischen Keilschrift (KS), in Iran und bei den Hethitern mehrsprachig. Sie bil-
unabhängig davo n die (no ch unentzifferte) den das Gerüst des angesammelten Wissens;
pro to -elamische Bilderschrift, die vermutlich der mündliche Unterricht vermittelte ko m-
zur elamischen Strichschrift des letzten Drit- plexe Info rmatio nen, warum ein Wo rt mit
tels des 3. Jahrtausends v. Chr. führte (→ einem bestimmten Zeichen geschrieben an
Art. 18) und mit ihr endete. Aus Syrien fehlen dieser Stelle in dieser Liste aufgeführt ist (Ca-
Textfunde bis ca. 2400 v. Chr.; man kann ver- vigneaux 1976). — Die gro ße geistige Lei-
muten, die babylo nische Pro to -KS sei do rt stung analytischen wie ko nstruktiven Den-
überno mmen wo rden. Wie diese nach Südo st- kens (vo n So den 1936) in der Ko mpilatio n
Euro pa gelangte, ist no ch ganz unklar (Fal- der Listen steht nicht allein; Tempelbezirke
kenstein 1965). vo n der Größe des E’ana in Uruk setzen die
Handhabung einer verzweigten Wirtschafts-
1.1.3. Sprache verwaltung vo raus, und die Architektur der
gewaltigen Tempel mit ihren ko mpliziert ge-
Die der Pro to -KS zugrundeliegende Sprache gliederten Räumen stellte höchste Ansprüche
war sehr wahrscheinlich das Sumerische, eine an die Fähigkeit, exakt zu planen und z. B.
Ergativ-Sprache vo m agglutinierenden Typ die Statik korrekt zu berechnen.
o hne bekannte Verwandte. Hinweise auf eine
in Südmeso po tamien zwischen Schrifterfin- 1.2.2. Formulare
dung und eindeutig sumerischen Texten (um
2600 v. Chr.) vo rherrschende andere Sprache Die meisten Pro to -KS-Texte sind Wirtschafts-
fehlen; Indiz ist auch die Schreibung der Zah- urkunden, tägliche, mo natliche o der jährliche
len im Sexagesimalsystem. Das Sumerische Abrechnungen vo n Tempeldienststellen über
benennt seine Zahlen sexagesimal. Zwischen Einnahmen und Ausgaben vo n Gro ß- und
/aš/ = 1 (= 600) und /ĝéš/ = 60(1) kennt es Kleinvieh, Getreide und seinen Pro dukten
zwar Fünfer- (z. B.: 7 = 5 + 2), Zehner- und (Mehl, Bro t, Bier) o der Obst und Wein, über
Zwanzigerschritte (30 = 3 × 10, 40 = 20 × 2), Arbeit und hergestellte und verarbeitete Wa-
genuin benannt sind wieder 602 /šár/ und, ren wie Keramikgefäße, Wo lle und Tuche, etc.
davo n abgeleitet, 603 /šár gal/ (gro ßes šár), in Listenfo rm mit summierendem Schlußver-
merk. — Da die Schrift dieser Zeit nur
604 /šár gal šu nu-tag-ga/ (unerreichtes, gro - Zahl- und Wo rtzeichen kennt, ist der für
ßes /šár/); vgl. Powell 1972. das Verstehen nötige Zusammenhang meta-
1.2. Alltagstexte und Schulbildung
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 493

sprachlich durch die Ano rdnung der Einträge genden wird darum vo r allem auf das jeweils
auf der To ntafel ko diert: Urkundenfo rmulare Neue abgehoben.
sind ebenso wie der Katalo g der Schriftzei-
chen no rmiert und waren vo m Schreiber zu 1.3. Aufbewahrung, Fundumstände
erlernen. Die mo derne Fo rschung steckt hier
no ch in den Kinderschuhen. Fo rmulare blei- To ntafeln bewahrte man in Keramikgefäßen,
ben bis ins 1. Jahrtausend wesentliche Merk- Lederbeuteln, Körben (mit den Inhalt nen-
male vo n Do kumenten der Verwaltung und nenden Etiketten) o der auf hölzernen o der
des Rechts; ihre Kenntnis ist unerläßlich für gemauerten Regalen auf. Im neubabylo ni-
das Verständnis der einzelnen Texte. schen Sippir lagen sie in Wandnischen eines
Biblio theksraumes(?). Funde verdanken wir
1.2.3. Mathematik meist Katastro phen, wenn Tafeln aus einstür-
zenden o der brennenden Gebäuden nicht zu
Über die Schreiberausbildung dieser frühen retten waren. Oder sie sind wie der Inhalt
Zeit ist so nst nichts bekannt; Mathematik mo derner Papierkörbe Teil achtlo s wegge-
(ko mplizierte Rechenarten und Geo metrie) wo rfenen Abfalls, manchmal wegen ihres fe-
gehörte vo n Anfang an dazu, galt es do ch, sten Tons Unterlage von Türschwellen.
z. B. Saatgut, Erträge und Ratio nen für
Mensch und Vieh über größere Zeiträume zu
berechnen, Felder zu vermessen, die Anzahl 2. Altsumerische Zeit
vo n Arbeitern beim Ausheben vo n Kanälen
zu berechnen, das Vo lumen der zu bewegen- 2.1. Schriftgeschichte
den Erdmasse zu bestimmen, etc. — Die Auf der Fāra-Stufe (ca. 2600 v. Chr.) hat die
Schreibkunst war vermutlich auf den kleinen Schrift aus Wo rtzeichen genügend silbische
Kreis der Verwaltungsbeamten beschränkt. Lesungen abstrahiert, um eine (für Mutter-
sprachler) genügende grammatische Eindeu-
1.2.4. Dokumente über Landerwerb tigkeit zu erzielen, die ko mplexere Zusam-
Außer „Schulbüchern“ und Wirtschaftsur- menhänge schriftlich festzuhalten erlaubte (→
kunden sind seit der Phase der Pro to -KS (ab Art. 18, Zf. 6.5.2.). Dieses Instrument wird in
Uruk III) Steindo kumente über Erwerb vo n, der altsumerischen Epo che zunehmend ver-
o der Rechte an Ländereien bezeugt: Steinta- feinert; an ihrem Ende (Irikagina vo n Lagaš,
feln mit Reliefschmuck, vo m Text überzo gene Lugal-zage-si vo n Uruk und Umma) wird
Tierfiguren o der (später) Statuen mit In- jede gespro chene Silbe geschrieben; jedo ch
schrift. Scho n die frühesten zeigen struktu- nicht immer in ihrer Lautung vo llständig no -
relle Ähnlichkeiten (Fo rmular); es kann sich tiert. Fo rmulargebundene Texte erlauben für
um (geraffte?) Abschriften vo n Rechtsurkun- Kenner des Fo rmulars ergänzbare Verkürzun-
den auf To n handeln, vo n denen selbst (kaum gen.
Privathäuser der Zeit in Meso po tamien er-
graben) nichts erhalten ist. Am Ende des 3. 2.2. Alltagstexte
Jahrtausends verschwindet diese Denkmal-
gattung, lebt aber ½ Jahrtausend später in 2.2.1. Wirtschaftsurkunden
den kudurru (vgl. 6.2.) wieder auf; wie diese
waren sie (mo dern ebenfalls kudurru genannt) Abrechnungen der Wirtschaftsverwaltung
wo hl in Tempeln depo niert (Gelb, Steinkeller vo n Tempel und Staat werden durchsichtiger,
& Whiting 1991). in Fāra bereits mit finiten Verbalfo rmen (Ed-
zard 1976, 194 f), was in Ĝirsu, Umma, Nip-
1.2.5. Weitere Textarten? pur und Adab zur Regel wird. Schlußver-
merke no tieren den Verwaltungsbereich (z. B.
Die Existenz anderer Textgattungen zu dieser der Ehefrau des Stadtfürsten) und den ver-
Zeit ist möglich. Altsumerische Schultexte antwo rtlichen Beamten. Gegen Ende der Pe-
(z. B. Beschwörungen und po etische Texte aus rio de (vo r allem in Girsu und Umma) beginnt
Fāra und Tell Abū Ṣalābīḫ) zeigen wie lexi- man, Urkunden zu datieren. Später allgemein
kalische Tafeln vo r jedem Eintrag einen Grif- übliche Jahresnamen ko mmen in Nippur und
feleindruck („Zählkeil“). So können no ch im syrischen Ebla auf.
nicht verständliche Pro to -KS-Tafeln mit die-
sem Merkmal auch andere Inhalte als lexi- 2.2.2. Rechtsurkunden
kalische Listen haben. Einmal in Gebrauch
geko mmene Textarten mögen sich wandeln, Einige Rechtsgeschäfte werden häufig beur-
bleiben aber in aller Regel erhalten; im fo l- kundet (vgl. 1.2.4.), Schenkung vo n Haus und
Sklaven scho n in Fāra verbal stilisiert. In
494 IV. Schriftkulturen

Fāra no minal gehaltene, seit E’anatum vo n richten detaillierter. Texte auf ho hlen „To n-
Lagaš (um 2450 v. Chr.) verbal stilisierte kegeln“ (zur Fo rm: Co o per 1985) sind viel-
Kaufurkunden nennen außer Gegenstand leicht Schüler-Abschriften vo n Stelen. Sein
(Feld/Haus), Preis, Käufer, Verkäufer (mit Enkel E’anatum beschreibt z. B. (Geierstele)
Verwandten) und Zeugen der Parteien auch den Krieg mit dem Nachbarstaat Umma samt
öffentliche Zeugen (Vermesser, Hero ld, Fel- Vo rgeschichte, dann ausführlich den Eid des
derschreiber). Unter späteren Lagaš-Herr- unterlegenen Herrschers vo n Umma; Enme-
schern gibt es erste Sklavenkaufurkunden tena verlegt den Anfang dieses zur Zeit des
(vgl. Edzard 1968; Krecher 1974; Gelb et al. Mesa(l)lim vo n Kiš beginnenden Ko nfliktes
1991). in die Welt der Götter. Der Usurpato r Irika-
gina berichtet über umfangreiche rechtliche
2.2.3. Briefe Refo rmen; er beschreibt vo n Lugal-zage-si be-
gangene Frevel, beto nt seine Unschuld und
Der Brief, Mittel schriftlicher Ko mmunika- fo rdert, Lugal-zage-sis Göttin Nisaba so lle
tio n schlechthin, taucht erst spät, am Ende diesen bestrafen. Stilistisch gehören diese
der Epo che auf. Drei der sechs Beispiele ge- Texte zur geho benen Sprache, sie sind Lite-
hören zur Ko rrespo ndenz der Herrscher vo n ratur. Sehr kunstvo ll ist die Vaseninschrift des
Lagaš mit Verwaltungsbeamten (So llberger Lugal-zage-si gestaltet (Wilcke 1991). Königs-
1956, Enz. 1, N.12.14.). Sumerische, später inschriften aus Mari am mittleren Euphrat
auch akkadische Briefe verwenden bis ins 1. sind (west)akkadisch zu lesen.
Jahrtausend die Bo tenfo rmel „Zu X sprich!
So (sagt) Y.“ Ob diese Fo rmel besagt, der 2.4. Schule und Literatur
geschriebene Brief sei zunächst nur Begleit-
und Belegtext einer mündlichen Bo tschaft, Altsumerisch sind die meisten Gattungen su-
o der o b sie nur dem mündlichen Bo tenver- merischer Literatur späterer Epo chen bereits
kehr abgeschaut ist, ist nicht festzustellen. vertreten, o ft in Schülerhandschriften; Ko lo -
Das sumerische Wo rt /ù-na(-a)-du11/ „Brief“ pho ne vo m Tell Abū Ṣalābīḫ zeigen, daß meh-
ist die lexikalisierte Auffo rderung an den Bo - rere Perso nen beteiligt waren, darunter mehr-
ten „Sprich zu ...“ und wird als unnedukkum fach ein „Meister“ (Biggs 1974, 33—35). Das
ins Babylo nische entlehnt. Der epischen Tra- Verständnis leidet stark an Bruchstückhaftig-
ditio n gilt ein Brief als erstes Schriftstück: keit der To ntafeln und für den heutigen Wis-
Enmerkar erfindet das Schreiben auf To n, sensstand allzu knapper No tierung der Mo r-
weil die Zunge seines Boten „schwer“ ist. pho grapheme. Schreibflächen vo n To ntafeln
o der -zylindern sind (auch bei lexikalischen
2.3. Königsinschriften Texten) schachbrettartig eingeteilt, gleichsam
linierte „Schreibhefte“. Gründe für die Aus-
Die frühesten Königsinschriften finden sich wahl bestimmter, gewiß mündlich verfaßter
auf Weihegaben. Eine Steinschale (vo r der und meist auch tradierter Literaturwerke für
Fāra-Zeit) identifiziert den Spender „Me- den Schulunterricht sind no ch nicht sicht-
bára(ge)-si, König vo n Kiš“ (Edzard 1959); bar. — Die frühesten erkennbaren literari-
wenig später steht auf einer reliefgeschmück- schen Texte ko mmen aus Fāra. Sprichwo rt-
ten, steinernen Keule: „Mesal(l)im, König sammlungen (Civil & Biggs 1966, 5—7) und
vo n Kiš, Haus-Erbauer des (Go ttes) Nin- Beschwörungen gegen verschiedene Übel
ĝirsu, hat dem (Go tt) Nin-ĝirsu (diese Keule) (z. B. Krankheit, Sko rpio n, Schlange) und für
hineingebracht. Lugal-šà-engur (war) Stadt- po sitive Ziele (z. B. Geburt, Tempelbau) und
fürst vo n Lagaš“ (Steible 1982/2, 215 f). Ur- vo n ‘Kultmitteln’ (Tamariske), werden über
Nanše, der Begründer der 1. Dynastie vo n jüngere Duplikate aus dem no rdsyrischen
Lagaš, identifiziert auf Weihplaketten Fami- Ebla (um 2400 v. Chr.) verständlich (Kreber-
lienmitglieder und Bedienstete namentlich nik 1984). Der seit der Ur III-Zeit bezeugte
und zählt wie auf Steintafeln auf, welche Tem- „Marduk-Ea-Typ“ (Falkenstein 1931, 44—
pel er errichtet habe. Vo n ihm stammen auch 76) findet hier einen Vo rläufer; die Göttin
erste Feldzugsberichte: die unentzifferte Stele Ningirima bittet ihren Vater Enlil um Hilfe
Steible 1982/1: Urn. 50 und eine no ch altsu- für den Bedrängten, nicht Marduk/Asal-lú-ḫi
merisch vo n einer Stele ko pierte Übungsab- seinen Vater E’a/En-ki. — Tell Abū Ṣalābīḫ
schrift in Stein (Co o per, 1980, 104 ff, Steible (um 2550 v. Chr.) erbrachte neben Beschwö-
1982/1: Urn. 51). Andere pro minente Träger rungen epische Fragmente (z. B. Jaco bsen
vo n Original-Inschriften sind Statuen, Back- 1989; Biggs 1974, Nr. 282; 283), einen Kranz
steine und Nägel aus Metall o der (nicht bei kurzer Hymnen auf Tempel verschiedener
Ur-Nanše) To n. Ur-Nanšes Nachfo lger be-
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 495

Städte (Biggs 1974, 45—56) und eine frühe III-Zeit ist dieser Pro zeß weitgehend abge-
Fassung (Biggs 1971) der altbabylo nisch (um schlo ssen. Rechts- und Wirtschaftsurkunden
1800 v. Chr.) bezeugten Hymne auf das Hei- und Briefe erscheinen nun in akkadischer
ligtum Keš (Gragg 1969). Die Ermahnungs- o der sumerischer Sprache; das Akkadische
literatur vertritt der auch in der frühen Ak- herrscht in No rdbabylo nien und in Randge-
kadzeit (um 2350 v. Chr.), altbabylo nisch und bieten vo r (z. B. Gasur bei Kerkuk); wieweit
um 1100 v. Chr. in Assur überlieferte Rat des sein Gebrauch im Süden die Präsenz ak-
Šuruppag (Alster 1974, Wilcke 1978, Civil kadisch-sprachiger Garniso nen und Go uver-
1984): Mahnungen eines Vaters an Kind und neure spiegelt, ist unsicher. In einigen Briefen
Schwiegerkind zu rechtem Verhalten in Han- aus dem Süden fo lgt auf sumerisch fo rmu-
del und Wandel. — Rätsel stammen aus La- lierte Teile syllabisch geschriebenes Akka-
gaš (Biggs 1973); in Ĝirsu diente eine Tama- disch (z. B. Westenho lz 1975, Nr. 50). Zwei-
risken-Beschwörung einem Steinschreiber als sprachigkeit der Schreiber ist anzunehmen.
Übungstext; do rt auch ein Bruchstück eines Briefe (Kraus 1976) aus Südbabylo nien
Klageliedes (So llberger 1956, Urn. 49, Ukg. (kaum akkadzeitliche Privathäuser ausgegra-
15); ein auf einem To nzylinder geschriebener ben; darum fehlen auch private Wirtschafts-
Mytho s vo n der Geburt eines Go ttes (van texte) gehören zur Verwaltungsk o rrespo n-
Dijk 1966) und andere mytho lo gische Frag- denz; im No rden (Sippir, Diyala-Gebiet) gibt
mente fanden sich in Nippur. Die o ft akka- es auch private Geschäftsbriefe. Die Bo ten-
dischen Namen der Schreiber literarischer fo rmel kann am Anfang o der mitten im Brief
Texte vo m Tell Abū Ṣalābīḫ weisen auf enge stehen; sie kann so gar fehlen. Zumeist ent-
sumerisch-akkadische K o ntakte. Ein no ch halten Briefe Bitten o der Anweisungen. Der
unverständlicher Text vo n do rt ist akkadisch Adressat ist o ft in der 3. Perso n angeredet. —
zu lesen, wie ein Duplikat aus Ebla erweist Rechtsgeschäfte nehmen zu; neu sind Dahr-
(Edzard 1984, Nr. 6). — Po well (1976, 431 ff) lehensurkunden. Bis zur Mittelbabylo nischen
findet bereits in Fāra Rechenaufgaben, die Zeit sind Vertragstexte nur o bjektiv stilisiert
Interesse an abstrakten mathematischen Pro - und beurkunden die den neuen Rechtszustand
blemen beweisen. begründende Handlung als vo llzo gen. Ge-
richtsurkunden können fo rtan Beweisverfah-
2.5. Palastarchive von Ebla und Mari ren und Erklärungen vo r Gericht festhalten
(Edzard 1968; Krecher 1974; Gelb et al. 1991).
Tell Mardīḫ (Ebla) erbrachte umfangreiche
Palastarchive mit überwiegend sumero gra- 3.2. Königsinschriften und Literatur
phisch geschriebenen, in westakkadischem
Dialekt zu lesenden Wirtschaftstexten, lexi- Die Könige vo n Akkade (ca. 2350—2150)
kalischen Listen und literarischen (sumeri- zeichnen ihre Taten in beiden Sprachen auf
schen und akkadischen) Texten, Briefen und Statuen und Stelen auf; es gibt Bilinguen.
Vertragstexten, die in den Archivi Reali di Verlo rene Originaltexte sind durch Abschrif-
Ebla und den Materiali Epigrafici di Ebla ten aus dem altbabylo nischen Schulunterricht
ediert werden. In Ebla enthalten lexikalische wiederzugewinnen (Gelb & Kienast 1990). —
Listen erstmals akkadische Wörter; sie sind Vo n der vermutlich reichen akkadischen Lite-
den sumerischen aber nicht gegenüber- so n- ratur dieser Zeit ist fast nichts im Original
dern nachgestellt. Ein westakkadisch zu le- erhalten. Erzählungen über die Könige vo n
sendes Wirtschaftsarchiv fand sich auch im Akkade tauchen relativ spät in No rdbabylo -
frühdynastischen Palast vo n Mari (Charpin nien und überwiegend außerhalb Babylo niens
1987). (Mari, Assyrien, Bo ğazköi, Tell al-Amarna)
auf. Do ch Omina und späte Chro niken be-
zeugen eine reiche mündliche Überlieferung,
3. Akkadzeit die aber vermutlich aus po litisch-religiösen
Gründen keinen Eingang in die altbabylo ni-
3.1. Schriftgeschichte, Alltagstexte sche Schultraditio n des Südens fand. Bruch-
stücke einer sumerischen Dichtung über Sar-
Das erste vo ll funktio nsfähige akkadische go n vo n Akkad und sumerische Werke sei-
Syllabar (→ Art. 18) hat die sumerische ner To chter En-ḫedu-ana (En-Priesterin des
Ortho graphie nachhaltig beeinflußt, (z. B. Mo ndgo ttes im südbabylo nischen Ur) sind
Schreibung silbenschließender K o nso nanten erhalten. — Unter den Schultexten finden sich
in Verbalpräfixketten). Die Neuerungen set- schwierige Rechenaufgaben.
zen sich langsam durch, gegen Ende der Ur
496 IV. Schriftkulturen

3.3. Elam und Hurriter 4.2.2. Briefe


Mit der Ausdehnung des Reiches vo n Akkade Briefe staatlicher und lo kaler Dienststellen
nach Iran und in Nutzung des altakkadischen enthalten meist Anweisungen; Verwaltungs-
Syllabars hält die KS auch in Elam und bei urkunden no tieren, Bo ten sei Verpflegung
den no rdmeso po tamischen Hurritern (Wil- aufgrund eines Briefes des Reichskanzlers ge-
hem 1989, 8 f) Einzug. Ein Staatsvertrag (Ak- währt wo rden. Adressaten sind überwiegend
kade-Elam; Name des Herrschers vo n Ak- in der 3. Perso n angespro chen. Das Verständ-
kade nicht erhalten) in elamischer Sprache ist nis leidet o ft an lako nischer Kürze (Adressat
in KS überliefert (Hinz 1967). Elamische und Absender Bekanntes unerwähnt) und am
Herrscher verfassen akkadische Weihinschrif- Hang der Schreiber zu uno rtho graphischem
ten an elamische Go ttheiten; so lche in ela- Schreiben in fo rmularlo sem Ko ntext (z. B.
mischer Sprache aber in elamischer Strich- So llberger 1966, Nr. 5 i 5—11 (ba-ra-za/ für
schrift. /ba-ra-zàḫ/ „sind entlaufen“, /in tar/ für /èn
tar/ „fragen“, /ba-ra-AD. KU-e/ („?“), /bí-in-
la-ḫa/ für /bí-in-laḫ5-ḫa/ „die er weggeführt
4. Neusumerische Zeit hat“) und zum Ko ntaminieren zusammenge-
setzter Verben (ibid. i 9: /Lugal-kù-zu-da ĝá-
4.1. Schriftgeschichte la ba-dé/ „bei L. sind sie bei der Arbeit ab-
handen geko mmen“: Vermengung vo n /ĝá-la
Um die Mitte der Regierungszeit Šulgis vo n dag/ „Arbeit verlassen“ und /ugu dé/ „verlo -
Ur (2094—2047 v. Chr.) explo diert die Zahl ren gehen“). Literarisch tradierte Briefe der
der KS-Do kumente. Z. Zt. ca. 35 000 veröf- Könige vo n Ur III sind Teil des Kano ns alt-
fentlichte Wirtschafts- und (zum geringeren babylonischer Schulliteratur.
Teil) Rechtsurkunden der Epo che (viele Tau-
send no ch unveröffentlicht) stammen über-
wiegend aus den 35 Jahren zwischen 2060 und 4.3. Königsinschriften
2025 v. Chr. (fast nur aus südbabylo nischen Im Original sind überwiegend kurze Bau- und
Städten). Die staatliche Verwaltung erfaßte Weihinschriften der Herrscher vo n Ur III er-
das ganze Land. Urkunden und Briefe halten, vo n Gudea vo n Lagaš (etwa gleich-
schützte man vo n nun an o ft mit gesiegelten zeitig mit Ur-Nammu [2111—2095 v. Chr.])
Hüllen, die den Text der Innentafel wieder- und seinem Vo rgänger Ur-Baba auch aus-
ho len ko nnten. — Außer To ntafeln /dub/, führliche, in Statuen gemeißelte Berichte über
tuppum, gebrauchte man lē’um genannte höl- Tempelbauten (Steible 1991). Altbabylo nische
zerne Wachstafeln, die (später mit Sicherheit) Abschriften zeigen längere, literarisch gestal-
als Po lyptycha mehrere Flügel besitzen ko nn- tete Feldzugsberichte Šū-Su’ens vo n Ur (Civil
ten. Ein (aus dem Mittelmeer gebo rgenes) 1969; Kutscher 1989, 71—101; Sjöberg 1972).
spätes Beispiel bildet Ünal (1989, 135) ab.
4.4. Neusumerische und altbabylonische
4.2. Alltagstexte Schulbildung und Literatur
4.2.1. Rechtsurkunden 4.4.1. Lehrstoff und -ziele
Zahl und Art beurkundeter Rechtsgeschäfte Die Schule war eine Institutio n, kein Schul-
nehmen zu. Darlehens- und abstrakte Schuld- gebäude. Die Ausbildung zum Schreiber er-
urkunde (Verpflichtungsschein) sind flexible fo lgte wie eine Handwerkslehre im Hause des
Mittel zur Gestaltung vo n Verträgen, für die Meisters (Waetzo ldt 1989). Examina wurden
(no ch) kein festes Fo rmular entwickelt ist, im Kreise der Meister abgeno mmen (Sjöberg
z. B. Dienstmiete, Pacht, Lieferungskauf. Als 1975, 140: 2). Der in mehreren Städten gleich
eigene Gattung ko mmt die gerichtliche End- geo rdnete (Wilcke 1987, 85 ff) Lehrsto ff er-
urteilsurkunde (Falkenstein 1956—1957) auf. hellt aus Übungstexten, aus altbabylo nisch
Urkunden können Beweismittel sein; dafür und jünger überlieferten Schulsatiren in
spricht die in Verwaltungstexten häufige Fo r- Dialo gfo rm und aus der Hymne Šulgi B.
mel „Wenn eine vo n A gesiegelte Urkunde Vo n fester Fo lge der Literaturwerke zeugen
gebracht wird, ist die vo n B (stellvertretend) auch Stichzeilen und mehrere Texte vereinen-
gesiegelte Urkunde zu zerbrechen“. Teile eini- de Sammeltafeln. Neben den Regeln vo n
ger Urkunden (SI.A.A-Archiv) können ak- Schreibkunst und Mathematik muß der Schü-
kadisch formuliert sein (vgl. 5.1.). ler vo r allem die (in den ersten Jahrhunderten
des 2. Jahrtausends v. Chr. aussterbende) su-
merische Sprache beherrschen, dann lexika-
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 497

lische Listen (Syllabare, Perso nennamenli- lismus Membrorum. Die in mündlicher Tra-
sten, Sachgruppenlexika), Urkundenf o rmu- ditio n wurzelnde Epik verwendet fo rmelhafte,
lare (anhand vo n Mo dell-Verträgen; auch refrainartig wiederkehrende Versgruppen;
Strafurteilen) und die kasuistisch stilisierten längere Abschnitte werden o ft abgewandelt
Rechtssammlungen (Co dices Ur-Nammu, Li- wiederho lt (Auftrag und Ausführung etc.),
pit-Ištar, akkadisch: Co dices Ešnuna und vgl. Wilcke 1976. In den eher liedhaften
Ḫammurabi), das Briefe Schreiben, Musik Königsepen der Ur III-Zeit ist dieses Stilmit-
und Dichtkunst, Rheto rik in nuce vermit- tel selten. — Altbabylo nisch blieb die Schul-
telnde Sprichw o rtsammlungen. An Hand literatur sumerisch, auch wenn man im Alltag
eines Schimpfwörterlexiko ns und literarischer nicht mehr sumerisch sprach. Vereinzelt tau-
Streitgespräche lernt er (zu welchem fo rensi- chen akkadische Dichtungen auf (z. B. in Nip-
schen Zweck?), Beleidigungen mit gleicher pur Teile des Gilgameš-Epo s, in Ur burleske
Münze heimzuzahlen. Eine sehr subjektive Vo lksdichtungen). So nstige Fundo rte liegen
Geschichtsversio n wird mittels der Sumeri- überwiegend in No rdbabylo nien (Tell Ḥar-
schen Königsliste und durch Ko pieren vo n mal, Sippir) und in Randgebieten (Susa:
Königsinschriften vergangener Epo chen und Anzu-Epo s, Mari: Narām-Sîn-Bericht). Der
Briefen der Herrscher vo n Ur gelehrt. Epen Wendepunkt liegt vermutlich in der Zeit
über Götter und Hero en, Lieder auf Götter Hammurabis (Agušaja-Lied); nach Samsu-
und Könige und geschichtsdeutende Dichtun- iluna nehmen in Sippir akkadische po etische
gen wie die Klagen über die Zerstörung vo n Texte an Zahl zu. Nun wird auch hier vo n
Ur (und Sumer) so llen künftigen Beamten Königen vo n Akkade berichtet; das vo n der
Gesellschaft und Staat im Reiche der Ur III- Sintflut erzählende Atram-ḫasīs-Epo s stellt
Könige und ihrer Nachfo lger leitende Prin- erstmals so ziale Ko nflikte und ihre Lösung
zipien vermitteln und werden nach der Alt- dar.
babylonischen Zeit kaum weiter tradiert.
4.4.3. Wissenschaft, Handbücher
4.4.2. Literatur
Seiner Opferschaukunst rühmt sich scho n
Die Literatur der Neusumerischen Zeit ist Šulgi vo n Ur. Omina finden sich aber schrift-
sumerisch; nur wenige altakkadische Be- lich erst früh-altbabylo nisch auf Lebermo del-
schwörungen liegen vo r. Die Werke sind an- len (Mari). In der Beo bachtung und Deutung
o nym (in der 1. Perso n redende Herrscher vo n Eingeweiden des Opfertieres, natürlicher
sind kaum selbst Dichter) und nur in wenigen (z. B. Aussehen Neugebo rener bei Mensch
Originalen bezeugt; das Gro s der Texte liegt und Tier, Geschehen im Haus und auf der
in Abschriften aus der Zeit Samsu-ilunas vo n Straße, Gestirne, Erdbeben, etc.), aber auch
Babylo n (1749—1712 v. Chr.) vo r; sie stam- herbeigeführter Ereignisse (Öl in Wasser,
men überwiegend vo m Ende des 3. Jahrtau- Wasser in Öl gego ssen; Rauch) und in ihrer
sends, z. B. Hymnen auf und Epen über die Ordnung nach Merkmalen der Befunde sehen
Könige vo n Ur (Klein 1981), sind z. T. auch wir denselben wissenschaftlichen Geist wie bei
älter (vgl. 2.4.). Bis in die Spätzeit überlieferte der Schaffung der ersten Sachgruppen-Listen,
man (zweisprachig) z. B. Epen um den Go tt s. o ., 1.2.1.). Omensammlungen fügte man zu
Nin-ĝirsu/Ninurta: An-gim dím-ma (Co o per Serien gleicher Thematik zusammen und tra-
1978; 58 Textzeugen) und Lugal ud me-lám- dierte sie wie auch Opferschaugebete nur Ak-
bi (van Dijk 1983; 189 Textzeugen). Kultlieder kadisch. Sie sind Fachliteratur der Zukunfts-
scheinen kaum zur südbabylo nischen Schrei- deuter. Waren neusumerische medizinische
berausbildung gehört zu haben; im No rden Texte (Civil 1960) Einzeltafeln, standen den
(Babylo n, Kiš, Sippir, Mê-Turān) sind sie gut altbabylo nischen Ärzten scho n Ko mpendien
bezeugt. — Eindrucksvo lles (nicht in die zur Verfügung. Auch sumerische und akka-
Schultraditio n eingegangenes) Beispiel neu- dische Beschwörungen sammelte man in Se-
sumerischer Dichtkunst ist die (mindestens) 2 rien (z. B. Geller 1985). Derartige Handbü-
To nzylinder mit insgesamt 1366 Versen um- cher haben nachaltbabylo nisch gro ßen Anteil
fassende „Bauhymne“ Gudeas vo n Lagaš. an der literarisch-wissenschaftlichen Überlie-
Die an Metaphern und Vergleichen reiche ferung. Bei vereinzelten Ritualen in sumeri-
Sprache der Dichtungen ist in Verse und Stro - scher Sprache ist nicht ersichtlich, o b sie zur
phen gefaßt; Metra sind nicht erkennbar. Die altbabylo nischen Schulliteratur gehören o der
Dichter gebrauchen kunstvo ll einen gro ßen Niederschriften aus aktuellem Anlaß sind.
Schatz rheto rischer Mittel. Sehr beliebt ist der Dasselbe gilt für das akkadische Ištar-Ritual
aus dem Alten Testament bekannte Paralle-
498 IV. Schriftkulturen

aus Mari (Do ssin 1938). Die Ko chrezepte 5. Altbabylonisch-Altassyrische Zeit


(van Dijk, Go etze & Hussey 1985, Nr. 25—
27; Bottéro 1982) sind ohne Parallele. 5.1. Schriftgeschichte
4.5. „Literalität“ in Neusumerischer und In der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends wird das
Altbabylonischer Zeit Akkadische Schriftsprache der Alltagsdo ku-
mente. Nur in Babylo nien behalten fo rmular-
Die Verschriftlichung aller Verwaltungsvo r- gebundene Rechtsurkunden das Sumerische
gänge in der Ur III-Zeit setzt entsprechende weitgehend bei, wechseln aber öfter ins Ak-
Fähigkeiten der Beamten vo n höchsten bis zu kadische; auch bei sumerischer Fo rmulierung
niedrigsten Rängen vo raus (Waetzo ldt 1991, gebrauchen sie akkadische Präp o siti
o nen.
640). Sie führen auf Siegeln die Bezeichnung Das Syllabar erlaubt eine weite Verbreitung
„Schreiber“ (/dub-sar/) wie einen akademi- der Lese- und Schreibfähigkeit (vgl. 4.5). Im
schen Titel. König Šulgi rühmt seine umfas- Klo ster (gagûm) in Sippir treten Schreiberin-
sende Schulbildung (Hymne Šulgi B). Auch nen auf. — Anato lier übernehmen die KS und
Priester und andere Kultperso nen brauchten schreiben in assyrischem Dialekt. Das Baby-
eine pro funde Schulbildung. Private No tizen lo nische ist auch in Syrien und No rdmeso -
und Abrechnungen aus Privathäusern (z. B. po tamien (Aleppo , Alalaḫ, Ḫana, Mari, Tell
Ko sten einer Bestattungsfeier: Owen 1982, Leilan, Tell al-Rimah, Tell Šemšara), in Elam
853; Nippur, Haus I, Ur III-Zeit), altbaby- und Tilmun (Baḥrain) vertreten.
lo nisch (z. B. Edzard 1970, Nr. 55—235 aus
Sippir-Amnānum) auch in der 1. Perso n sti- 5.2. Alltagstexte
lisiert (Edzard 1970, Nr. 140—142; 173; 209 f;
Charpin 1986, 66—67, aus Nr. 7, Quiet Street 5.2.1. Rechts- und Verwaltungsurkunden
in Ur) setzen Beherrschung der KS durch ihre
Besitzer vo raus. Die Neigung neusumerischer Private Rechts- und Wirtschaftsurkunden
Rechtsurkunden (Nippur, aus Privathäusern) werden wesentlich häufiger. Fo rmulare sind
wie der Briefe (vgl. 4.2.2.) zu uno rtho graphi- lo kal verschieden und wandeln sich im Laufe
schem Schreiben und zum Ersetzen ko mpli- der Zeit. Da Vertreter vo n Behörden für ihre
zierter o der seltener Zeichen durch silbische Ämter auch privatrechtliche Verträge schlie-
Wiedergabe der Wörter ist Anlaß, eine bei der ßen (Kraus 1958, Kap. 6—7), ist der private
Stadtbevölkerung, in geho benen Schichten Charakter der Urkunden nicht immer sicher.
(z. B. Kaufleuten) breite Lese- und Schreib- Gerichtsurkunden sind stets akkadisch stili-
fähigkeit anzunehmen; z. B. /ĝiz-ki-im/ für siert. Verwaltungsurkunden staatlicher, lo ka-
IGI.DUB mit Lesung /ĝizkim/ „Vertrauen“ ler und religiöser Dienststellen sind ebenfalls
und /ki-lu-ti-in/ für KI.SIG7.ALAN mit Le- zahlreich vertreten.
sung /ki(u)lutin/ „Zeichen“ in Owen 1982, Nr.
511, 13.33 (vgl. Çiĝ/Kizilyay 1965, 96 : 7 /ki- 5.2.2. Briefe
lu̚-ti-ba/; Po hl 1937, 3 : 7 /ki-lu-ti-im-ba/) Der Briefverkehr (Kraus 1964 ff) erfaßt alle
o der /nam-bé-re(-e/né)/ (vgl. Sauren 1969, Bereiche der Gesellschaft. Auch an Götter
23), /nam-re/ (Owen 1982, 293 : 4) und /nam- wandte man sich brieflich und erhielt ebenso
bé-ru/ (Sigrist 1990, 263 : 12) für NAM.- Bescheid vo n ihnen. Die Palastarchive vo n
BÍ.RU(-e) geschriebenes /nam-érim(-e)/ „as- Mari (Parro t, Do ssin & Durand 1950 ff) be-
serto rischer Eid“ (→ Art. 18, Zf. 3.1. zu zeugen die diplo matische Ko rrespo ndenz vo n
den Umschriftk o nventi
o nen). Untersuchun- Königshöfen untereinander und die der Herr-
gen zur „Literalität“ im Alten Orient fehlen scher mit Familienmitgliedern und Unterge-
no ch; do ch bestärken in altbabylo nischen Pri- benen. Spätaltbabylo nisch ko mmen Briefe
vathäusern des Südens (z. B. in Ur [Abschnitte o hne Absender und Adresse (o hne Bo tenfo r-
AH, EH und EM], in Isin, auch in Nippur) in mel) mit kennzeichnender runder Fo rm auf
ho her Pro zentzahl ausgegrabene KS-Texte (Finkelstein 1972, 4 f), vielleicht entstanden
(darunter vielfach Schultexte) in o biger An- aus bereits älter (Edzard 1970, Nr. 135.188)
nahme, zumal das Syllabar dieser Perio de nur bezeugten Notizen in der 2. Person.
ca. 85 Zeichen (dazu ca. 20 seltenere) benötigt;
daß die altasyrischen Kaufleute in Anato lien 5.3. Königsinschriften
(Syllabar vergleichbar gro ß) selbst schrieben,
ist unbestritten. Vgl. auch Pedersén (1986, Bau- und Weihinschriften Babylo niens blei-
140), der für „at least 1/6, perhaps even ben in der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends über-
between 1/4 and 1/3“ der Privathäuser im neu- wiegend sumerisch und nehmen an Verbo sität
assyrischen Assur Archive annimmt. zu. Bedeutendstes Denkmal ist die akkadisch
geschriebene Gesetzesstele Ḫammurabis, de-
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 499

ren Text Schüler in Babylo nien und Assyrien durru) der Belehnungsurkunden depo niert
no ch im 1. Jahrtausend ko pieren. Akkadische man in Tempeln, vgl. 1.2.4. Entsprechend feh-
Felsinschriften lo kaler Herrscher im Zagro s- len Feldkaufurkunden (Ausnahme: Ko mpen-
Gebirge stammen vo m Beginn der Epo che. satio n für Auslösung aus Kriegsgefangen-
Könige vo n Mari und Ešnuna schreiben auch schaft, Lackenbacher 1983). „Zwiegesprächs-
Babylo nisch, ebenso der im babylo nisch urkunden“ (Petscho w 1974, 38 f) mit wörtli-
sprechenden Obermeso po tamien beheimatete chen Erklärungen der Parteien stehen vo n
Šamšī-Adad in Texten aus Assur und Niniveh; nun an neben traditio nell fo rmulierten (vgl.
Assyrisch gebrauchen z. B. Abschriften eines 3.1.); auch in Randgebieten stilisiert man sub-
Textes des Īrišum vo n Assur (Grayso n 1987, jektiv. — Abrechnungen der Lo kalverwaltung
19 ff) aus Anatolien (Kültepe). in Ugarit und Briefe vo n do rt schreiben Uga-
ritisch in Ko nso nantenschrift. — Unter he-
thitischen Urkunden sind Landschenkungen,
6. Mittelbabylonisch/-assyrische Zeit Gerichtspro ot ko lle und Staatsverträge her-
vo rzuheben. — Die internatio nale Ko rre-
6.1. Schriftgeschichte (Verbreitung) spo ndenz (vo r allem Amarna-Briefe: Mo ran
1987) ist eine erstrangige Geschichtsquelle
Die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends ist in und erlaubt Einblicke in Handel, Po litik,
Babylo nien und Assyrien weniger dicht be- wechselndes Kriegsglück, Diplo matie und
zeugt als frühere Perio den. Babylo nische Ur- vielfältige Verflechtungen der Herrscherhäu-
kunden und Briefe gibt es z. B. aus Ur, Isin, ser miteinander.
Nippur, Babylo n, Sippir, Dūr-Kurigalzu, as-
syrische aus Assur, Tell al-Rimah, Dūr-Kat- 6.3. Schule und Literatur
limmu am Ḫabūr, Ḫana am mittleren und
Tell al-Qiṭār (hurritisches Substrat) am o be- Die meisten Schultexte dieser Epo che wurden
ren Euphrat. In Emar und seinen Nachba- außerhalb vo n Babylo nien gefunden: Susa,
ro rten am Euphratknie, weiter westlich in Nuzi, Assur, Emar, Ugarit, Hattuša, Megiddo
Alalaḫ, in Ugarit am Mittelmeer und auf Zy- und Tell al-Amarna. Sie beweisen ein inten-
pern (Amarna-Briefe), in Palästina bis hin sives Lehren der KS, der lexikalischen, wis-
nach Ägypten (Tell al-Amarna), in Hattuša senschaftlichen (Omina) und literarischen
und im hurritischen Mitanni-Reich schrieb Überlieferung Babyl o niens außerhalb des
man Westbabyl
o nisch, im Osttigrisland Kernlandes. — Im Übergang der Altbabylo -
(Nuzi) Babylo nisch mit starkem hurritischem nischen zur Mittelbabylo nischen Zeit erfo lgt
Substrat. Akkadisch war lingua franca und die Kano nisierung der babylo nischen Litera-
die KS das internatio nale Schriftsystem im tur, die bindende Ordnung der altbabylo nisch
gesamten Vo rderen Orient. — Tušratta vo n bego nnenen Serienbildung in Literatur und
Mitanni schrieb auch (in KS) in seiner hur- Wissenschaft, die Ko lo pho ne der Tafeln be-
ritischen Muttersprache an den Pharao ; He- zeugen. Das Gilgameš-Epo s erhielt seine Sîn-
thiter gebrauchten die KS für akkadische wie leqe-unnīnī zugeschriebene (relativ) endgül-
hethitische Texte. In Elam schrieb man Ela- tige Fassung. Das laut Epilo g schriftlich ver-
misch in KS. — Ugarit entwickelte eine eigene faßte Weltschöpfungsepo s Enūma elīš ent-
KS zur Darstellung des Ko nso nantenalpha- stand in dieser Perio de; es greift auf einen
betes des Ugaritischen (→ Art. 20). Mo nu- Katalo g der Namen des Go ttes Marduk zu-
mental- und Siegelinschriften (letztere auch rück, die midraschartig gedeutet werden (Bo t-
aus Emar) in hethitischer und luwischer Spra- téro 1977); zu dieser in spätbabylo nischen
che schreiben Hieroglyphen-hethitisch. o
K mmentaren häufigen hermeneutischen
Technik s. Cavigneaux 1987. In Assyrien
6.2. Alltagstexte entstehen Königsepen; das Tukultī-Ninurta-
Epo s (Machinist 1976) berichtet, der König
Do kumente aus Recht und Wirtschaft unter- habe die Schätze der babylo nischen Literatur
scheiden sich regio nal in Fo rmularen, Rechts- als Kriegsbeute nach Assur gebracht. Aus
materie und in zugrundeliegenden Bräuchen. Ḫattuša und Emar stammen früheste Bei-
In Babylo nien hat die Kassitenherrschaft die spiele kunstvo ll gebauter Gebete (Mayer
Landbesitzverhältnisse grundlegend verän- 1976), die in magischen Beschwörungsritua-
dert. Könige belehnen nun treue Untergebene len Verwendung finden (Abusch 1983). Die
mit riesigen, teilweise vo n öffentlichen Lasten Entstehungszeit der Rituale läßt sich nicht
befreiten Latifundien und entziehen sie den eng eingrenzen. Abusch 1990, 1991, 1992 er-
in Ungnade Gefallenen. Mit Göttersymbo len schließt für die gegen Hexerei gerichtete Serie
(als Garanten) versehene Steinko pien (ku-
500

Maqlû des 1. Jahrtausends eine lange, min- 7.3. Königsinschriften


destens in diese Perio de zurückreichende Vo r-
geschichte; sie wächst vo n nur vier Beschwö- Neu sind in Assyrien mit lebendigen Taten-
rungen über zunächst zehn bis zu einhundert berichten der Könige beschriebene Palastre-
an, wo bei sich ihr Charakter stark ändert. In liefs, „Obelisken“ und ko lo ssale Türlaibungs-
Emar gefundene kultische Rituale sind o hne figuren. Neu ist auch die Gliederung der Be-
Parallele in babylo nischer Traditio n. Sie kön- richte nach Jahren („Annalen“). Babylo nische
nen als Handbücher gedient haben. — In Könige, auch Kyro s, berichten auf traditio -
ugaritischer Sprache und Schrift sind mytho - nellen Inschriftenträgern und auf (massiven)
lo gische Epen, Rituale und Beschwörungen To ngefäßchen meist über ihre Bautätigkeit.
aufgezeichnet. — Hethitisch werden hurriti- Atypisch sind Inschriften des archäo lo gisch
sche (z. B. Kumarbi) und altanato lische (z. B. interessierten Nabo nid, der die Einsetzung
Zalpa-Mytho s, Otten 1972) Mythen erzählt; seiner To chter in das lang o bso let gewo rdene
hethitische Rituale beschreiben den Ablauf Amt der En-Priesterin des Mo ndgo ttes be-
gro ßer Feste und kultische Handlungen vo n richtet und (auf einer in Ḫarrān gefundenen
König und Königin. Das Rechtsleben der He- Stele) seine Mutter ihre Vita erzählen läßt und
thiter regelnde Erlasse und Gesetze wurden die Trauerfeierlichkeiten für sie beschreibt. —
tradiert. Ihre Geschichtsdarstellung in Taten- In elamischer und altpersischer Sprache und
berichten und Pro lo gen zu Staatsverträgen ist Schrift, aber auch auf Akkadisch schildern
stark legitimatorisch. die Achämeniden ihre Taten in gro ßen Felsin-
schriften.

7. Das 1. Jahrtausend 7.4. Wissenschaft und Literatur


Assurbanipal sammelte in Babylo nien und
7.1. Schriftgeschichte Assyrien wissenschaftliche und literarische
Das 1. Jahrtausend kennt KS und aramäische Texte für seine Biblio thek in Niniveh. Instruk-
Ko nso nantenschrift (→ Art. 20). Assyrische tiv sind die vo n Parpo la 1983 edierten Auf-
Palastreliefs zeigen Schreiber beider Schriften stellungen (Zugang zur Biblio thek vo n ca.
nebeneinander stehend. In Assyrien sicherte 2000 To ntafeln und 300 Po lyptycha). Es sind
man aramäische Urkundenr o llen (Perga- in erster Linie Omenserien, medizinische
ment?) mit To nplo mben, die den Text in KS Texte und Beschwörungsserien, kaum schöne
auf Akkadisch wiederh
o len. Babyl
o nier Literatur. Vo n der Vielfalt sumerischer und
schrieben KS bis ins 1. Jahrhundert n. Chr., akkadischer Literatur dieser Zeit zeugen Ka-
zuletzt nur no ch Schultexte, auch mit Um- talo ge vo n Hymnen und Klageliedern und
schrift in griechischen Buchstaben (z. B. Gel- z. B. die vo n Livingsto ne 1989 bearbeitete as-
ler 1983; vgl. Oelsner 1986). Die babylo nische syrische Ho fliteratur. Schöne und wissen-
KS entfernt sich unter dem Einfluß der Ko n- schaftliche Literatur sammelte man in Assy-
so nantenschrift vo n der silbengerechten Wie- rien auch außerhalb der Hauptstädte Assur,
dergabe gesprochener Sprache. Kalḫu und Niniveh; s. den Textfund vo m
Sultan Tepe (z. B. Mythen, Epen, Hymnen,
7.2. Alltagstexte Beschwörungen, kultische und magische Ri-
tuale) o der die Tafel mit Anzu- und Erra-
Internati
o nale K o rresp
o ndenz, Vasallenver- Epo s aus Tarbiṣu. — In Babylo nien ko mmen
träge, Do kumente der Staatsverwaltung und viele einschlägige Tafeln aus Uruk, Babylo n,
Briefe vo n Vo rzeichenkundigen, die dem as- Bo rsippa und Sippir. — Am Anfang des 1.
syrischen König astro no mische Beo bachtun- Jahrtausends entstand das Erra-Epo s, eine
gen und andere o minöse Zeichen berichten mythische Schilderung verheerender Fo lgen
und aktuell deuten, erlauben genaue Ein- einer Niederlage Babylo niens und eines Auf-
blicke in Po litik und Geistesleben Assyriens. standes. In dieser Zeit bildete sich auch die
Daneben stehen auch private Urkunden und Geschichtsschreibung in fo rtlaufenden Chro -
Briefe, auch aus Pro vinzstädten (z. B. Gu- niken heraus (z. B. Grayso n 1975). Eine neue
zana). — In Babylo nien sind u. a. Urkunden Literaturgattung ist auch der Ko mmentar, der
und Briefe gro ßer Handelshäuser (Murašû, traditio nelle Texte aller Art philo lo gisch, o ft
Egibi) bezeugt. Rechtsgeschäfte und Pro zesse midraschartig (vgl. 6.3.) erklärt.
werden bis in die Arsakidenzeit auf To ntafeln
beurkundet. — In Persepo lis fanden sich
staatliche Wirtschaftsarchive in elamischer 8. Literatur
Sprache und Schrift.
Abkürzungen:
FAOS =Freiburger Altorientalische Studien
35.  Die Keilschriftkulturen des Vorderen Orients 501

and Textual Histo ry o f Maqlû vii 58—105 and ix


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36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 503

terialien der Frau Pro fesso r Hilprecht Co llectio n Jo hann Geo rg & Liedtke, Max (ed.), Schreiber,
o f Babylo nian Antiquities im Eigentum der Uni- Magister, Lehrer. Zur Geschichte und Funktio n
versität Jena, NF 1—2) Leipzig. eines Berufsstandes. (Schriftenreihe zum Bayeri-
Po well, Marvin A. 1972. The Origin o f the Sexa- schen Schulmuseum Ichenhausen. Bad Heilbrunn,
gesimal System, the interactio n o f Language and 33—50.
writing. Visible Language 5, 5—18. —. 1991. Rezensio n zu: Gibso n, McGuire & Biggs,
—. 1976. The Antecedents o f Old Babylo nian Place Ro bert D. (ed.), The Organizatio n o f Po wer:
No tatio n and the Early Histo ry o f Babylo nian Ma- Aspects o f Bureaucracy in the Ancient Near East
thematics. Historia Mathematica 3, 417—439. (= Studies in Ancient Oriental Civilizatio n 46).
Sauren, Herbert. 1969. Untersuchungen zur JAOS 111, 637—641.
Schrift- und Lautlehre der neusumerischen Urkun- Westenho lz, Aage. 1975. Early Cuneifo rm Texts in
den aus Nipuur. ZA 59, 11—64. Jena. Presargo nic and Sargo nic Do cuments fro m
Sigrist, Marcel. 1990. Tablettes du Princeto n Theo - Nippur and Fara in the Hilprecht-Sammlung vo r-
lo gical Seminary, Épo que d’Ur III. Philadelphia, derasiatischer Altertümer, Institut für Altertums-
PA. wissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität,
Jena. Kopenhagen.
Sjöberg, Åke W. 1972. A Co mmemo rative Inscrip-
tion of King Šūsîn. JCS 24, 70—73. Wilcke, Claus. 1976. Fo rmale Gesichtspunkte in
—. 1975. Der Examenstext A. ZA 64, 137—176. der sumerischen Literatur. In: Sumerio lo gical Stu-
dies in Ho no r o f Tho rkild Jaco bsen o n his seven-
vo n So den, Wo lfram. 1936. Leistung und Grenze
tieth Birthday, June 7, 1974 (Assyrio lo gical Studies
sumerischer und babylo nischer Wissenschaft. In:
20). Chicago, 205—316.
Die Welt als Geschichte 2, 411—464; 509—557
(Nachdruck 1965 mit Nachträgen in: Libelli 172. —. 1978. Philo lo gische Bemerkungen zum Rat des
Darmstadt, S. 21—133). Šuruppag und Versuch einer neuen Übersetzung.
ZA 68, 196—232.
So llberger, Edmo nd. 1956. Co rpus des inscriptio ns
„royales“ présargoniques de Lagaš. Genf. —. 1987. Die Inschriftenfunde der 7. und 8. Kam-
pagnen (1983 und 1984). In: Hro uda, Barthel (ed.),
—. 1966. The Business and Administrative Co rre-
Isin — Išān Baḥrīyāt. Die Ergebnisse der Ausgra-
spo ndence under the Kings o f Ur (= TCS 1).
bungen 1983—1984 (= ABAW NF 94), 83—120.
Locust Valley.
—. 1991. Ortho graphie, Grammatik und literari-
Steible, Ho rst. 1982/1, 2. Die Altsumerischen Bau-
sche Fo rm. Beo bachtungen zu der Vaseninschrift
und Weihinschriften (Teil 1—2 = FAOS 5). Wies-
Lugalzaggesis (SAKI 152—156). In: Fs. Mo ran,
baden.
455—504.
—. 1991. Die Neusumerischen Bau- und Weihin-
Wilhelm, Gerno t. 1989. The Hurrians. Warminster.
schriften (Teil 1—2 = FAOS 9). Stuttgart.
(Überarbeitete Übersetzung vo n: ders., Grundzüge
Ünal, Ahmet. 1989. The Po wer o f Narrative Hittite der Geschichte und Kultur der Hurriter. Wiesbaden
Literature. In: Biblical Archaeo lo gist 1989, 130— 1982).
144.
Waetzo ld, Hartmut. 1989. Der Schreiber als Lehrer Claus Wilcke, München/Leipzig
in Meso po tamien. In: vo n Ho hen Zo llern, Prinz (Deutschland)

36. Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

1. Allgemeines der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. unter


2. Rahmenbedingungen ägyptischem Einfluß einerseits, in Ko nkur-
3. Textkorpus renz mit der Keilschriftkultur andererseits
4. Schule entwickelt und allmählich durchgesetzt. Da
5. Funktionen der Schrift ihre Prinzipien der in Ugarit im 13. Jahrhun-
6. Schrift und Bild dert v. Chr. verwendeten Keilalphabetschrift
7. Literatur zugrundeliegen, muß sie damals bereits weiter
verbreitet gewesen sein, als wir es bisher auf-
grund der no ch recht spärlichen Funde nach-
1. Allgemeines weisen können (→ Art. 20). Aber erst nach
Die Alphabetschrift, genauer: die westsemi- den tiefgreifenden po litischen Veränderungen
tische Ko nso nantenschrift, hat sich bereits in am Übergang vo n der Spätbro nze- zur Frü-
hen Eisenzeit (12./11. Jahrhundert v. Chr.)
36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 503

terialien der Frau Pro fesso r Hilprecht Co llectio n Jo hann Geo rg & Liedtke, Max (ed.), Schreiber,
o f Babylo nian Antiquities im Eigentum der Uni- Magister, Lehrer. Zur Geschichte und Funktio n
versität Jena, NF 1—2) Leipzig. eines Berufsstandes. (Schriftenreihe zum Bayeri-
Po well, Marvin A. 1972. The Origin o f the Sexa- schen Schulmuseum Ichenhausen. Bad Heilbrunn,
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Sigrist, Marcel. 1990. Tablettes du Princeto n Theo - Nippur and Fara in the Hilprecht-Sammlung vo r-
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PA. wissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität,
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—. 1975. Der Examenstext A. ZA 64, 137—176. der sumerischen Literatur. In: Sumerio lo gical Stu-
dies in Ho no r o f Tho rkild Jaco bsen o n his seven-
vo n So den, Wo lfram. 1936. Leistung und Grenze
tieth Birthday, June 7, 1974 (Assyrio lo gical Studies
sumerischer und babylo nischer Wissenschaft. In:
20). Chicago, 205—316.
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(Nachdruck 1965 mit Nachträgen in: Libelli 172. —. 1978. Philo lo gische Bemerkungen zum Rat des
Darmstadt, S. 21—133). Šuruppag und Versuch einer neuen Übersetzung.
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So llberger, Edmo nd. 1956. Co rpus des inscriptio ns
„royales“ présargoniques de Lagaš. Genf. —. 1987. Die Inschriftenfunde der 7. und 8. Kam-
pagnen (1983 und 1984). In: Hro uda, Barthel (ed.),
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spo ndence under the Kings o f Ur (= TCS 1).
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Locust Valley.
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Steible, Ho rst. 1982/1, 2. Die Altsumerischen Bau-
sche Fo rm. Beo bachtungen zu der Vaseninschrift
und Weihinschriften (Teil 1—2 = FAOS 5). Wies-
Lugalzaggesis (SAKI 152—156). In: Fs. Mo ran,
baden.
455—504.
—. 1991. Die Neusumerischen Bau- und Weihin-
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schriften (Teil 1—2 = FAOS 9). Stuttgart.
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Ünal, Ahmet. 1989. The Po wer o f Narrative Hittite der Geschichte und Kultur der Hurriter. Wiesbaden
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Waetzo ld, Hartmut. 1989. Der Schreiber als Lehrer Claus Wilcke, München/Leipzig
in Meso po tamien. In: vo n Ho hen Zo llern, Prinz (Deutschland)

36. Die nordwestsemitischen Schriftkulturen

1. Allgemeines der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. unter


2. Rahmenbedingungen ägyptischem Einfluß einerseits, in Ko nkur-
3. Textkorpus renz mit der Keilschriftkultur andererseits
4. Schule entwickelt und allmählich durchgesetzt. Da
5. Funktionen der Schrift ihre Prinzipien der in Ugarit im 13. Jahrhun-
6. Schrift und Bild dert v. Chr. verwendeten Keilalphabetschrift
7. Literatur zugrundeliegen, muß sie damals bereits weiter
verbreitet gewesen sein, als wir es bisher auf-
grund der no ch recht spärlichen Funde nach-
1. Allgemeines weisen können (→ Art. 20). Aber erst nach
Die Alphabetschrift, genauer: die westsemi- den tiefgreifenden po litischen Veränderungen
tische Ko nso nantenschrift, hat sich bereits in am Übergang vo n der Spätbro nze- zur Frü-
hen Eisenzeit (12./11. Jahrhundert v. Chr.)
504 IV. Schriftkulturen

findet die Linearschrift, wahrscheinlich vo n (Galling 1971). Da diese Schriftträger, die zur
den phönizischen Städten ausgehend, weite Aufzeichnung ephemerer ebenso wie längerer
Verbreitung und ausschließliche Verwendung. und wertbeständigerer hist o rischer, op eti-
Sie wird im 10. Jahrhundert in Palästina scher, religiöser Texte gut geeignet sind, ent-
(Gezer-Kalender), im 9. Jahrhundert im öst- fallen, ist das Ko rpus der Texte stark be-
lich angrenzenden M o ab (Meša-Inschrift) schränkt. Als Ausnahme müssen die Texte aus
und in den nördlich angrenzenden aramäi- Ugarit gelten, die in einem eigenen Keilalpha-
schen Staaten überno mmen und bald auch — bet aufgezeichnet sind und deren Beschreib-
vermutlich im kleinasiatischen Raum — an. sto ff, die To ntafel, sich verhältnismäßig gut
die Griechen weitergegeben. In dieser Zeit erhalten hat.
bleiben die allgemeinen Prinzipien dieser
Schrift und ihrer Graphie unverändert: 2.2 Schreibtechnik
— Schriftrichtung linksläufig im Gegensatz Die Schreibtechnik der uns erhaltenen Texte
zur der Keilschrifttradition verhafteten ist ziemlich einheitlich (Lemaire 1985).
Rechtsläufigkeit des Ugaritischen Ostraka, d. h. Gefäßscherben, wurden meist
— reine Konsonantenschrift (erst im aramäi- mit dem Pinsel bzw. der Binse und schwarzer
schen Kulturkreis kommt es zur Wieder- Tinte beschrieben, zunächst auf der leicht ge-
gabe von Vokalen in best. Positionen, den wölbten Vo rderseite, erst wenn der Platz nicht
matres lectionis) ausreichte, auf der Rückseite. Dabei wurde
— feste Buchstabenfolge in Abecedarien (zu das Ostrako n um seine Längsachse gedreht.
Schulzwecken) Inschriften auf den Verputz vo n Wänden wur-
— Beibehaltung dieser Zeichenfolge (und der den ebenfalls mit (ro ter und schwarzer) Tinte
Zeichennamen) bei den Griechen. geschrieben. Kurze Texte (Eigentums- bzw.
Scho n früher hatte sich die südsemitische Inhaltsvermerke) auf Gefäßen wurden auch
Schrift als eigener Stamm mit geso nderter vo r o der nach dem Brand mit einem Stichel
Entwicklung und einer anderen Ko nso nan- eingeritzt, selbst Stempel (bes. auf Krughen-
tenfolge abgespalten. keln) für wiederkehrende Vo rgänge sind be-
legt. In die To ntafel, die als Schriftträger (ab-
gesehen vo m Ugaritischen) für die Aufzeich-
2. Rahmenbedingungen nung einer Linearschrift schlecht geeignet ist,
wurde der Text eingeritzt, als Beischrift gele-
2.1. Schriftträger gentlich auch mit dem Pinsel aufgetragen. In
Metallgegenstände (selten auch Elfenbein)
Die Entwicklung der Schriftkultur wird mit wurde die Inschrift nach der Herstellung gra-
der Verbreitung der Schrift einhergegangen viert, in beso nderen Fällen (aramäische In-
sein, do ch wissen wir darüber — bedingt schriften auf Silberschalen) auch gepunzt.
durch die Vergänglichkeit der Schriftträger — Steininschriften wurden no rmalerweise ein-
nur wenig bzw. unser Bild der frühen Schrift- getieft, o ffenbar o hne vo rherige Zeichnung
kultur ist verzerrt. Zwar müssen wir davo n auf dem Mo nument, nur in seltenen Fällen
ausgehen, daß vielerlei Materialien als wurden die Buchstaben erhaben herausgear-
Schriftträger gedient haben, do ch hat das im beitet. Auf Papyrus und Pergament (z. B.
Gegensatz zu Ägypten humide Klima im Mit- Schriftro llen aus den Höhlen vo n Qumran am
telmeerraum und in No rdmeso po tamien alle To ten Meer; → Abb. 36.1 auf Tafel V) wurde
o rganischen Substanzen vernichtet. Fo lglich entweder mit der ägyptischen Binse o der mit
sind do rt lediglich Texte erhalten geblieben, der Rohrfeder geschrieben.
die auf Metall, Stein, To n (Keramik), Verputz
aufgemalt o der eingemeißelt wurden. Papy- 2.3. Schriftgestaltung
rus, Pergament, Ho lz, als Schreibmaterial si-
cher weithin in Gebrauch, sind verro ttet o der Die Schriftgestaltung kennt keine Unter-
verbrannt. Das gilt auch vo n den mit einer schiede zwischen den einzelnen Textarten.
Wachspaste gefüllten Ho lz- o der Elfenbein- Eine eigene Mo numentalschrift wird nicht
tafeln, die mit Scharnieren zu Po lyptycha zu- entwickelt, auch der Unterschied zwischen
sammengefügt werden ko nnten (Funde in Gro ß- und Kleinbuchstaben existiert nicht.
Nimrud und in Schiffswracks, z. B. Ulubu- Natürlich sind Steininschriften fo rmal steifer
run, Payto n 1991). Die dafür übliche griechi- als die zur Kursive neigenden Tintenaufschrif-
sche Bezeichnung deltos geht so gar auf se- ten der Ostraka und Papyri. Tro tzdem ähneln
mitisch daltu (urspr. „Türflügel“) zurück die Buchstaben einander sehr, so daß pa-

o graphische Altersbestimmungen möglich
36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 505

sind. Regio nale Unterschiede der Buchsta- fehlen, muß es unbedingt berücksichtigt wer-
benfo rmen bilden sich bereits im 9. Jahrhun- den.
dert v. Chr. heraus und lassen bald Zuschrei-
bungen zu bestimmten Kulturkreisen zu (Na- 3.1. Sprachen
veh 1982): Aramäisch mit der Tendenz der
Öffnung der o beren Rundung einiger Zei- Im fo lgenden werden die Textgattungen o hne
chen; Hebräisch mit starken Ober- und Un- Rücksicht auf ihre sprachliche Zugehörigkeit
terlängen, einer Tendenz zur Schräglage der behandelt, o bgleich selbstverständlich sprach-
Zeichen bei gleichzeitiger Abplattung; Pu- liche Identität auch kulturelle Identität be-
gründet. Tro tzdem ist es bei der verhältnis-
nisch mit der Übernahme kursiver Unterlän- mäßig schmalen Textbasis erlaubt, diese Dif-
gen mit Verdickung in die Steininschriften,
Herausbildung einer bald sehr vereinfachten ferenzen gegenüber den Gemeinsamkeiten zu-
„neupunischen“ Schriftvariante. Eine Beso n- rücktreten zu lassen. Sprachlich (und in ge-
derheit zeigt das Hebräische inso fern, als es wissem Umfang auch graphisch) gehören die
in nachexilischer Zeit, belegbar ab ca. 250 Dokumente drei Kulturkreisen an:
v. Chr., die eigene Schrifttraditio n verläßt und
eine auf aramäischen Fo rmen aufbauende 3.1.1.  dem Kanaanäischen, wo zu das Hebräi-
„Quadratschrift“ verwendet, die mit geringen sche (in Palästina), das Mo abitische, Am-
Mo difikatio nen bis heute in Gebrauch ist (→ mo nitische und Edo mitische (im heutigen Jo r-
Art. 20, Zf. 4.1.2.). Sie kennt, wie auch später danien) und das Phönizisch-Punische (Syri-
die arabische Schrift, bei einigen Buchstaben sche Küste und Nordafrika) gehören;
(K, M, N, P, Ṣ) leicht abgewandelte Final-
buchstaben. Daß es eine bewußte „Neuerung“ 3.1.2.  dem Aramäischen, dessen altaramäi-
war, läßt sich daran ablesen, daß der althe- sche Sprachstufe beso nders in No rdsyrien be-
bräische Go ttesname YHWH zeitweilig no ch legt ist, das sich als Verwaltungssprache des
ehrfürchtig mit den althebräischen Zeichen Achämenidenreiches (so g. Reichsaramäisch)
im so nst quadratschriftlichen Text erscheint. über den ganzen Vo rderen Orient vo m 1. Ka-
Schließlich verdient Erwähnung, daß kulti- tarakt in Ägypten bis zu den Dardanellen,
sche Texte in aramäischer Sprache auch in nach Armenien und Iran verbreitete. Auch
demo tischer Schrift (→ Art. 20, Zf. 1.1.3.) Teile des AT (Dan. 2,4—7,28; Ezra 4,8—6,18;
niedergeschrieben sein können (Vleeming & 7,12—26; Jer. 10,11) und viele Texte vo m To -
Wesselius 1982; 1983/84; Nims & Steiner ten Meer (Beyer 1984) gehören dazu. Aus
1983). hellenistisch-römischer Zeit sind z. B. das Pal-
myrenische, Jüdisch-Aramäische und Naba-
täische zu nennen. Das Syrische und weitere
3. Textkorpus jüngere Sprachstufen bleiben hier außer Be-
tracht;
Info lge der o ben geschilderten Umstände ist
das Textko rpus der Alphabetschriftkulturen 3.1.3.  dem Arabischen mit dem Altsüdarabi-
bis in hellenistisch-römische Zeit hinein recht schen (Sabäisch, Minäisch, Qatabanisch, Ha-
schmal. Es besteht im wesentlichen aus Stein- dramautisch, Ausanisch; → Art. 21) und dem
inschriften und Ostraka, in geringem Umfang vo rklassischen No rdarabischen, das sich z. T.
auch in (in Ägypten gefundenen) Papyrus- im Nabatäischen, so nst im Thamudischen,
und Lederdo kumenten, die sich zu Archiven Lichjanischen und Safaitischen fassen läßt.
zusammenfassen lassen. Die sehr zahlreichen Hierfür ist allerdings der Bestand an Denk-
punischen Weihinschriften aus No rdafrika — mälern extrem schmal. Da diese Denkmäler
beso nders Karthago — und vo n den Inseln zwar dem gleichen Schrifttyp angehören,
Malta, Sizilien und Sardinien sind wegen ihrer sprachlich aber vo m No rdwestsemitischen zu
zweckgebundenen Stereo typie nur vo n be- trennen sind, werden sie nur am Rande be-
schränktem Wert. Ein So nderfall ist das he- rücksichtigt.
bräische (und aramäische) Alte Testament
(AT), das umfangreichste Do kument der frü- 3.2. Kanonbildung
hen Alphabetschriftkultur, das aber in der uns
vo rliegenden Fo rm recht jung und das Pro - Während die meisten alphabetschriftlichen
dukt tiefgreifender redaktio neller Verände- Texte keine Redaktio nsarbeit erkennen las-
rungen ist (s. 3.2.). Da es jedo ch Textgattun- sen, hat das AT eine lange und nur no ch
gen erhalten hat, die in allen übrigen Kulturen teilweise rek
o nstruierbare Textgeschichte.
Diese war erst mit der Arbeit der Maso reten
506 IV. Schriftkulturen

ca. 750—1000 n. Chr. beendet, bei der der für dergelegten Textes, der wegen seines sakralen
den jüdischen Go ttesdienst verbindliche he- Charakters nur partielle Veränderungen zu-
bräische Text des AT in seinem Ko nso nanten- ließ. Ähnliches gilt auch vo n pro phetischen
text mit Vo kalzeichen, diakritischen Punkten, Texten. So ist das dem Pro pheten Jesaja, der
Lesezeichen, Hinweisen zur Rezitatio n usw. im 8. Jahrhundert v. Chr. wirkte, zugeschrie-
definitiv fixiert wurde, wo bei no ch unter- bene Buch aus mindestens 4 Quellen zusam-
schiedliche Schulen (Maso reten des Ostens mengestellt: 1. Der eigentliche Jesaja mit sei-
bzw. des Westens, Kahle 1913; 1927—1930) nen pro phetischen Sprüchen (Kap. 1—35), 2.
nachweisbar sind. Diese so g. Maso ra legte den Erzählungen (Kap. 36—39), die einen
aber bereits einen Text zugrunde, der als Er- Bericht aufnehmen, der bereits in 2. Reg.
gebnis eines langen Entstehungspro zesses ca. 18,13 bis 20,19 zu finden ist, 3. Deutero jesaja
um 200 v. Chr. festgelegt war. Das zeigt die (Kap. 40—55), der erst in der Achämeniden-
griechische Übersetzung der so g. Septuaginta, zeit geschrieben haben kann, und 4. Trito je-
die seit ca. 280 v. Chr. angefertigt wurde und saja (Kap. 56—66), dessen Wirken um die
die im wesentlichen, wenn auch mit manchen Zeit des Exils (d. h. nach 587) angesetzt wird.
Umstellungen und Zusätzen, bereits den uns Viele Bücher des AT sind unter textkriti-
bekannten Text enthielt. Das gilt auch vo n schen Gesichtspunkten also zunächst ganz
den in Qumran gefundenen hebräischen uneinheitlich gewesen. Sie wurden aber in
Manuskripten des 1. Jahrhunderts v. Chr. einem theo lo gischen und literarischen Fo r-
Vo rangegangen ist aber eine umfangreiche mungspro zeß allmählich zu den Einheiten
Redaktio nsarbeit, in die wir nicht in allen verschmo lzen, als die sie bereits in hellenisti-
Einzelheiten Einblick haben (Smend 1978). So scher Zeit den Kano n bildeten. Abgesehen
wird angeno mmen, daß bei der Ausfo rmung vo n Apo kryphen gibt es aber in den kano -
des Pentateuch am Anfang Einzelerzählungen nischen Texten selbst genügend Hinweise auf
standen, die teils als Sagen, teils als ätio lo gi- ursprünglich vo rhandene Quellen, die völlig
sche Deutungen vo n Namen und Begriffen, ausgemerzt o der nur in stark verkürzter Fo rm
teils auch als Bruchstücke vo n Stammes- o der überliefert wurden. All dies ist nur denkbar
Familiengeschichten überliefert und erst nach auf dem Hintergrund einer breiten schriftli-
Überführung in die Schriftfo rm zu größeren chen Überlieferung, die vo n priesterlichen
K
o mp o siti
o nen unter übergreifenden Ge- Schreibern weitergeführt, exzerpiert und re-
sichtspunkten (Erwählungstraditio n; Exo dus; digiert wurde. Schriftlichkeit der Vo rlagen er-
Landnahme usw.) zusammengefaßt wurden. weist sich auch an zahlreichen „Verbesserun-
Bei der Zusammenstellung ergaben sich Über- gen“ und daraus fo lgenden Uminterpretatio -
schneidungen und Brüche, die es uns ermög- nen vo n o ffenbar ko rrupten Passagen einer
lichen, einzelne Erzählko rpo ra (im Penta- Vo rlage, die vo n den jeweiligen Abschreibern
teuch z. B. Jahwist, Elo hist und Priester- vo rgeno mmen wurden. Sie lassen sich u. a. an
schrift) zu iso lieren, deren jeweilige Zielset- Textvarianten ablesen, die in der griechischen
zung sich no ch wiedergewinnen läßt. Im Ver- Übersetzung des AT (so g. „Septuaginta“) er-
lauf der Redaktio nsarbeit kam es natürlich scheinen, fo lglich einen Text repräsentieren,
zu Diskrepanzen in den Aussagen, die die der um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr.
Redakto ren wieder durch z. T. erklärende Zu- zumindest zum Teil niedergeschrieben wurde
sätze auszugleichen suchten. Ferner scheinen (Würthwein 1988).
manche Texte im Verlauf häufiger Abschrei-
barbeit verstümmelt und dann interpretierend
verbessert o der vo n einzelnen Schreibern 4. Schule
durch Glo ssen ko mmentiert wo rden zu sein,
die danach in den Text einflo ssen und ihrer- 4.1 Schreiber
seits Erläuterungen erfuhren. Schließlich
wurde der so entstandene Text im Rahmen Die allenthalben feststellbare Unifo rmierung
einer Kultrefo rm, die König Jo sia vo n Juda der Schriftfo rm und der Graphie setzt eine
im Jahre 621 v. Chr. mit zentralistischer Ten- Schulung vo raus, die durch Schreiber, die als
denz (einziger Tempel ist jetzt der in Jerusa- eigener Berufsstand existierten (Bo nnet 1991),
lem) vo rnahm, in dem gro ßen „deutero no - vermittelt wurde. Die Funde vo n Abecedarien
mistischen Geschichtswerk“ no chmals vo n (bereits in Ugarit) und typischen „Schul-
priesterlicher Seite überarbeitet. All das ist texten“ in Linearschrift belegen eine so lche
nur vo rstellbar auf der Basis eines schriftlich Praxis scho n für das 13. Jahrhundert v. Chr.
fixierten, wo hl in einzelnen Schriftro llen nie- Verschiedene Anspielungen im AT lassen ein
System der Erziehung, zu dem auch Lesen
36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 507

und Schreiben gehörte, erschließen (Lemaire sen; der König vo n Byblo s läßt im Reisebe-
1981). Danach gab es zumindest bestimmte richt des Ägypters Wen-Amun (um 1100
Berufszweige (u. a. Priester und Pro pheten), v. Chr.). „die Tagesro llen seiner Väter“ ho len,
die des Lesens und Schreibens kundig waren. um zurückliegende Zahlungen der Ägypter
Obgleich die Alphabetschrift gegenüber der festzustellen; ganze zusammengehörige Ko m-
Keilschrift o der den Hiero glyphen sicher plexe vo n Ostraka sind z. B. in Samaria, Arad
leichter zu erlernen war, ist do ch keine Ge- und Lachisch gefunden wo rden, wo bei die
wißheit darüber zu gewinnen, in welchem Fundsituatio n nahelegt, daß die entsprechen-
Umfang sie allgemein gelesen und geschrieben den Vo rgänge zwar gemeinsam „abgelegt“
werden ko nnte. Die beachtliche Zahl vo n „öf- waren, dann aber weggewo rfen wurden. Die
fentlichen“ Inschriften, d. h. königlichen Ver- jüdische Militärko lo nie in Elephantine (Ober-
lautbarungen (Meša-Stele KAI Nr. 181; Ka- ägypten) hatte so wo hl private als auch o ffi-
ratepe-Inschrift KAI Nr. 26 usw.) o der juri- zielle Archive; in letzteren wurden auch die
stischen Do kumenten, z. B. Verträgen (Sfire- Abschriften und Entwürfe vo n Schreiben auf-
Inschrift KAI Nr. 222—224) o der Steuer- bewahrt, die nach Jerusalem gegangen waren
tarifen (Palmyra, CIS II 3913) läßt allerdings (Po rten 1968). In Karthago wurde unlängst
darauf schließen, daß die Zahl der möglichen in der Nachbarschaft eines Tempels ein rie-
Leser nicht klein war. Zumindest unter den siges Lager vo n To nbullen mit Siegelabdrük-
höheren Beamten war, nach den auf Ostraka ken entdeckt, die zu einem verbrannten Ar-
erhaltenen Briefen zu urteilen, die Lesefähig- chiv vo n Papyrusurkunden gehört haben
keit verbreitet und wurde auch in Schulen müssen, das über mehrere Jahrhunderte lief.
gelehrt. Regelrechte Biblio theken, d. h. systematisch
gesammelte und thematisch geo rdnete Be-
4.2. Graphische und sprachliche Formung stände an Büchern bzw. Schriftro llen, lassen
sich für vo rhellenistische Zeit nicht nachwei-
Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß sen. Wenn z. B. in 2. Reg. 22,8 die Rede davon
gewisse Schreibgewo hnheiten allgemein ver- ist, daß „das Gesetzbuch im Tempel des Herrn
breitet sind. Die Texte werden fast immer gefunden“ wurde, so deutet dieser o ffenbar
of rtlaufend geschrieben. W o rttrenner als „zufällige“ Fund darauf hin, daß es auch do rt
Punkte (und selten auch kurze Striche zur keine Biblio thek gab, wo hl aber Archive, die
Abteilung vo n Phrasen) sind nur sehr früh auch für den Kultus angelegt wurden (evtl.
und dann wieder spät (unregelmäßig) in Ge- im Sinne einer Geniza). Für achämenidische
brauch, Spatien zur Trennung vo n Wörtern und spätere Zeit sind wieder im AT Hinweise
sind zunächst unbekannt, Wo rtende und Zei- auf Büchersammlungen erhalten (Kellermann
lenende müssen nicht übereinstimmen. Gele- 1982). Die umfangreiche punische Literatur
gentlich werden Absätze (o der Zwischenstri- (Huss 1985, 504 ff) war in Tempelbiblio theken
che) zur Gliederung längerer Texte verwendet. gesammelt und wurde nach der Ero berung
Vo r allem Verwaltungstexte haben einen Karthago s vo n den Römern den numidischen
streng eingehaltenen Aufbau, sie sind, je nach Fürsten übergeben (Plinius, Hist. nat. 18,22).
Inhalt, z. B. in Ko lumnen gegliedert, setzen
eine gen o rmte Verwaltungspraxis ov raus.
Dasselbe gilt vo n Briefen, die meist einem 5. Funktionen der Schrift
festen Fo rmular fo lgen (Pardee 1982). Auch
die Bittschrift eines Erntearbeiters (KAI Nr. 5.1 Wirtschaft und Verwaltung
200) läßt erkennen, daß bestimmte juristische
Vo rgänge fo rmalisiert waren und in Schrift- Wenn das AT scho n für die Zeit Davids und
fo rm erledigt werden mußten. An einen Leser Salo mo s eine differenzierte Beamtenschaft an
allein wenden sich Texte des AT (Ps. 9 + 10, der Staatsspitze nennt (2. Sam. 8,16—18;
25, 34, 37, 111, 112, 119, 145. Klagelieder 20,23—26; 1. Chro n. 27,25—34; 1. Reg. 4,7—
1—4), die nach dem System des Akro stich 19), so dürfen wir annehmen, daß dem eine
aufgebaut sind, die hebräische Alphabetfo lge wo hl unter ägyptischem Einfluß in Kanaan be-
als Zeilenbeginn erkennen lassen. reits früher entstandene Organisatio n ent-
sprach, die auch verschriftete Verwaltungsakte
4.3. Archive und Bibliotheken vo raussetzt. Ein Gro ßteil der uns als Ostraka
erhaltenen D o kumente frühen Schriftge-
Die Existenz vo n Archiven für Texte der Ver- brauchs betrifft denn auch Vo rgänge wie den
waltung o der der Jurisdiktio n ist scho n früh Eingang und Ausgang vo n Waren als Liefe-
nachweisbar: In Ugarit sind zusammengehö- rungen (teilweise vo n Kro ngütern) an den Pa-
rige Vo rgänge an einer Stelle gelagert gewe-
508 IV. Schriftkulturen

last o der Vergabe vo n Ratio nen. Sie haben Erhalten sind so nst nur wenige Bau- o der
eine knappe, dem Sachverhalt angemessene Grabinschriften vo n Herrschern (z. B. Bau-
Diktio n, nennen selten mehr als das Quan- inschr.: KAI Nr. 4 [Jehimilk v. Byblo s], Nr. 7
tum, das Gut (gelegentlich no ch mit Quali- [Šipiṭba‛al I.], Nr. 10 [Jehaumilk], Nr. 15. 16
tätsmerkmalen), den Lieferanten o der Emp- u. a. [Bo daštart], Nr. 24 [Kilamuwa], Nr. 26
fänger, manchmal no ch den Herkunfts- o der [Azatiwada]; Grabinschr.: KAI Nr. 1 [Aḥīrōm
Bestimmungso rt und ein Datum. Daneben v. Byblo s], Nr. 9 [So hn des Šipiṭba‛al III.],
können diese Texte auch als reine Perso nen- Nr. 11 [Batno ‛am], Nr. 13 [Tabnit], Nr. 14 [Eš-
listen gestaltet sein. Zunächst aus Ugarit, munazar] usw.). Diese sind durchaus litera-
dann wieder aus dem Elephantine-Archiv des risch gefo rmt: Auf Nennung des Objekts fo lgt
6. Jahrhunderts v. Chr. (Po rten 1968) sind der Name des Stifters, Angabe des Zwecks
Urkunden über Grundstückstransakti
o nen, bzw. Hinweis auf eine Weihung, Segensfo rmel
Erbschaften, Mitgift, Testamente usw. be- für den Stifter und Fluchfo rmel gegen einen
kannt, die bereits eine sehr spezifische Ter- möglichen Veränderer des Bauwerks. Die Ki-
mino lo gie verwenden. Das läßt darauf schlie- lamuwa-Inschrift (→ Abb. 20.4 auf Tafel V)
ßen, daß sie in einer längeren Traditio n ste- hat darüber hinaus eine durchaus po etische
hen, die uns nicht überliefert ist. Dabei ist Struktur (O’Connor 1977).
daran zu erinnern, daß in den Keilschriftkul-
turen Recht prinzipiell der Schriftfo rm be- 5.3. Mythos, Ritus und Kultus
durfte, so daß Ähnliches auch in Kanaan
gego lten haben wird. — In den gleichen Ko n- Hier ist der Textbestand, gemessen etwa am
text gehören die meisten Briefe, die in der benachbarten Ägypten o der Meso po tamien,
Regel keine persönlichen Anliegen zum Inhalt wieder sehr beschränkt. Während Mythen
haben, so ndern Wirtschaft, Verwaltung o der z. B. aus Ugarit in beachtlicher Zahl bekannt
auch (z. B. KAI Nr. 266) po litisch-histo rische sind (Caquo t, Sznycer & Herdner 1974), ist
Fragen betreffen. das vergleichbare Material der Phönizier un-
ter dem Namen des Priesters Sanchuniatho n
5.2. Geschichte und Tradition nur in vielfach gebro chener Traditio n ganz
bruchstückhaft nach Philo vo n Byblo s bei
„Was so nst no ch vo n PN zu sagen ist, alles Euseb vo n Caesarea erhalten (Ebach 1979).
was er getan hat, siehe, das steht geschrieben Während vo n althebräischer Mytho lo gie sich
in der Chro nik der Könige vo n Israel (bzw. Reste im AT erhalten haben (Schöpfungsge-
vo n Juda)“. Dieser in den Königsbüchern schichte(n), Sintflut, Götterkampf), sind kei-
häufige Satz verweist auf eine Ho fchro nik, nerlei vergleichbare Texte aus dem aramäi-
die o ffenbar den Büchern der Könige bzw. schen und arabischen Kulturkreis erhalten ge-
Chro nik des AT zugrunde gelegen hat, uns blieben. Religiöse Riten hat es, fo lgt man
aber nicht erhalten ist. Vergleichbares wird Anspielungen in antiken Auto ren, viele ge-
vo n dem Phönizier Sanchuniato n (bei Euseb geben, z. B. um Ado nis, Melqart usw., do ch
vo n Caesarea, Praep. Evang. I 9,20) gesagt, sind auch hier o riginale Aufzeichnungen ver-
nämlich daß er „die ganze alte Geschichte aus lo ren. Für den gro ßen Bereich der Magie sind
den Überlieferungen der einzelnen Städte und lediglich zwei Beschwörungen (KAI Nr. 27
den in den Heiligtümern vo rhandenen Auf- und Teixido r 1983) und einige Fluchtäfelchen
zeichnungen zusammengestellt“ habe. Die hi- (z. B KAI Nr. 89) bekannt. Sie unterstreichen
sto rische Traditio n war also zumindest in den magischen Charakter des geschriebenen
einer Art Annalistik niedergeschrieben. Ana- Wo rtes, da sie, amulettartig ins Grab und
lo gien liefern babylo nische und assyrische hi- damit in die Unterwelt gebracht, vo n do rt aus
sto rische Berichte, die als Epo nymen- o der no ch lebenden namentlich genannten Perso -
Königslisten in Kurzfo rm, als jährliche Chro - nen Unglück bringen so llten. — Zum Kult
niken wesentlich ausführlicher die für wichtig gehören die zahllo sen stark fo rmalisierten
gehaltenen Ereignisse verzeichnen (vgl. Gray- Weihinschriften auf Steinstelen, vo r allem aus
so n 1975). Vermutlich nehmen die histo ri- No rdafrika (bes. Karthago ), die mit Hinweis
schen Texte des AT jedo ch eine So nderstel- auf ein Opfer (o ft eines Kindes o der seines
lung ein. Sie erheben sich weit über die reine Ersatzes) die göttliche Hilfe erflehen (Bei-
Annalistik, sind mit ihren vielerlei Kunstmit- spiele KAI Nr. 61. 63. 64. 84—88. 102—112).
teln und Reflektio nsebenen, mit ihrer bewußt Grabstelen enthalten z. T. Fo rmeln, die sich
theo lo gischen Begründung bzw. Ko mmentie- auf den To tenkult beziehen (Schmuck der To -
rung vo n Handlungen bereits Geschichts- ten, Gesichtsmasken, Libatio nen). Außero r-
schreibung in unserem Sinne (Cancik 1976). dentlich reich ist dagegen die kultische Über-
36.  Die nordwestsemitischen Schriftkulturen 509

lieferung des AT, auch wenn durch die deu- lich, daß die anderen Schriftkulturen der Re-
tero no mistische Redaktio n nachträglich eine gio n nichts davo n bewahrt haben. Anders
Bereinigung und Ausrichtung lediglich auf verhält es sich mit Weisheitstexten, die in
den Kult vo n Jerusalem vo rgeno mmen wurde. Ägypten und Meso po tamien selbstverständ-
Die kultischen Vo rschriften beso nders des Bu- licher Bestandteil der schriftlichen Traditio n
ches Leviticus regeln nicht nur den Tempel- waren (→ Art. 20, 2.3.2.) und natürlich reich-
dienst, so ndern auch die Bestallung vo n Prie- lich im AT (Hio b-Dichtung; Qo helet; Sapien-
stern, die gro ßen Festlichkeiten und selbst das tia Salo mo nis) vertreten sind, aber auch in
individuelle Verhalten bei bestimmten tägli- Fo rm des so g. Achiqar-Ro mans mit Rahmen-
chen Verrichtungen (Speisegebo te usw.). Viele handlung und Spruchsammlung eine reichs-
der im AT überlieferten Psalmen und Lieder aramäische Überlieferung kennt (Lindenber-
haben ihren festen Sitz in diesen Festtagsli- ger 1983).
turgien besessen. Vergleichbares ist vo n den
Nachbarkulturen anzunehmen, aber verlo - 5.5. Repräsentation
ren. — Pro phetische Texte, wiederum im AT
reichlich erhalten, hat es auch in den Nach- Fragen wir nach den Mo tiven vo n Schrift-
barkulturen gegeben. Ein leider schlecht er- lichkeit in den frühen Jahrhunderten der Ver-
haltener Text ist das Bileams-Orakel aus Dēr wendung der Alphabetschrift, so ist das Be-
‛Allā (Weippert 1991). dürfnis zur Selbstdarstellung, zur Verewigung
der eigenen Taten sicher ein bevo rzugter An-
5.4. Erzählung, Lied, Spruch laß gewesen. Zahllo se Felsinschriften einfach-
und Texte zur Weisheit ster Fo rm — beso nders im arabischen
Sprachraum — enthalten selten mehr als den
Erzählliteratur hat wieder nur das AT erhal- Namen und Vatersnamen des Schreibenden,
ten, z. B. in den Patriarchen-Erzählungen, gelegentlich mit der Anrufung einer Go ttheit
den Geschichten über Jo seph, über Mo se und verbunden, o ft aber lediglich mit dem Hinweis
— in etwas abgewandelter Fo rm — im Buch auf kurzzeitiges Verweilen an diesem Ort.
Esther. Sie sind auch in den eher histo risch Diese Bekundung hat dann spätere Besucher
o rientierten Büchern zu finden, so etwa die veranlaßt, sich in die Nachfo lge zu einer so l-
Geschichte vo n der Thro nfo lge Davids (2. chen Präsenz einzureihen. Umfangreicher als
Sam. 13—20 und 1. Reg. 1—2). Sie sind, wie diese Privatinschriften sind die vergleichbaren
etwa die Jo sephsgeschichten, in der überlie- vo n Königen, die o ft no ch best. Bauten, Wei-
ferten Fo rm ko mpliziert gebaute literarische hungen und andere Taten zu ihrem Ruhme
Ko mpo sitio nen (Schweizer 1991), gehen aber und zur Erinnerung für die Nachfahren an-
im Kern auf mündliche Berichte zurück, die führen. Auch Grabinschriften verfo lgen ähn-
erst im Pro zeß der Verschriftlichung ihre an- liche Ziele. Der magische Charakter des Ge-
spruchsvo lle Fo rm erhielten. Darüber hinaus schriebenen wird dabei auch eine Ro lle ge-
hat das AT in unterschiedlichen Textzusam- spielt haben, do ch wird dies nur in dem Ver-
menhängen Lieder erhalten, die o ffenbar in bo t der Namenstilgung in der Fluchfo rmel
den Nachbarkulturen nicht verschriftet wo r- spürbar. Ein beso nderer Typ der Schrift ist
den sind, vo n denen sich jedenfalls so nst in zur Repräsentatio n z. B. auch auf Siegeln
den Zeugnissen der frühen Alphabetschrift (Sass & Uehlinger 1993) nicht geschaffen wo r-
keine Reste gefunden haben. Es sind dies Ar- den.
beits-, Ernte- und Trinklieder (Num. 21,17 f;
Jes. 22,16; Sap. Sal. 2,1—20); Ho chzeits- und
Liebeslieder (So g. Ho helied); Wächterlied (als 6. Schrift und Bild
Anspielung in Jes. 52,8 f); Spo ttlieder (Num.
21,27—30; Jes. 37,22—29) und Leichenlieder Die Alphabetschrift hat aufgrund des gerin-
(2. Sam. 1,19—27; 3,33 f; Jes. 14,4—21). Auch gen deko rativen Charakters ihrer Zeichen im
Klagelieder und Danklieder (Ps. 66,2—12 Gegensatz zu ägyptischen Hiero glyphen, chi-
bzw. 13—20 u. ö.) sind Gattungen, die nur nesischen Wo rtzeichen usw. im allgemeinen
im AT in die Schriftlichkeit überführt wo rden keine spezifisch künstlerische Verwendung ge-
sind. Sie setzen einen „Literaturbetrieb“ vo r- funden. Lediglich altsüdarabische Inschriften
aus, der aus inhaltlichen und ko mpo sito ri- treten gelegentlich auch als Gebäudeschmuck
schen Gründen literarische Gattungen in die hervo r. Andererseits lassen sich kurze Alpha-
Schriftfo rm überführte, die ursprünglich nicht bettexte leicht auf kleinen Schriftträgern (z. B.
für eine schriftliche Tradierung bestimmt Münzen) anbringen, o hne die Darstellung zu
waren. Es ist deshalb auch nicht verwunder- stören o der indem sie deren Ko mpo sitio n ab-
runden. Als Beischriften z. B. auf Grabdenk-
510 IV. Schriftkulturen

mälern (u. a. in Palmyra), auf den So ckeln Orientalis 39. Fribourg/Göttingen.


vo n Bildnissen, neben Darstellungen auf —. 1985. Vo m Ostrako n zur Schriftro lle, in: W.
Wandgemälden usw. machen sie mit wenigen Röllig (ed.), Zeitschr. der Dt. Mo rgenländ. Gesell-
Zeichen die Identifikatio n des Dargestellten schaft, Suppl. 6, 110—123.
möglich, so daß für den Schriftkundigen Lindenberger, J. M. 1983. The Aramaic Pro verbs
neben die iko no graphische Charakterisierung of Ahiqar. Baltimore — London.
noch die durch die Schriftsprache tritt. Naveh, Jo seph. 1982. Early Histo ry o f the Alpha-
bet. Jerusalem/Leiden.
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Bo nnet, Co rinne. 1990. La termino lo gie phénico - Inscriptio n. Bull. American Scho o ls o f Oriental
punique relative au métier de lapicide et à la gra- Research 226, 15—29.
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de la Bible dans l’Ancien Israel. Orbis Biblicus et Wolfgang Röllig, Tübingen (Deutschland)
37.  Die griechische Schriftkultur der Antike 511

37. Die griechische Schriftkultur der Antike

1. Vorgeschichte 2. Die Übernahme des phönizischen


2. Die Übernahme des phönizischen Alphabets Alphabets
3. Beschreibstoffe
4. Lautes und stilles Lesen Die zweite, ungleich fo lgenreichere Aneig-
5. Die Entwicklung bis zum 4. Jahrhundert nung der Schrift durch die Griechen erfo lgte
v. Chr. im 8. Jahrhundert Seit dem ausgehenden 9.
6. Hellenismus und Kaiserzeit Jahrhundert intensivierten sich die Ko ntakte
7. Literatur zwischen Griechen und Phöniziern, den see-
fahrenden Bewo hnern der südsyrischen Kü-
stenregio n mit den Städten Byblo s, Sido n und
1. Vorgeschichte Tyro s (Heubeck 1979, 80 ff; Burkert 1984,
15 ff). Diese drängten nach Westen, zeitweilig
Die Griechen haben sich zweimal eine Schrift unter assyrischem Expansio nsdruck, der sich
angeeignet. Die erste griechische Schrift war im fo lgenden Jahrhundert wiederho lte; do ch
eine Silbenschrift, das Linear B. Sie war aus gewann dieser Vo rgang im Zeichen sich ver-
dem Linear A entwickelt, einer nichtgriechi- stärkenden Handelsverkehrs auch eine eigene
schen Silbenschrift (1650 [o der früher] — Dynamik. Phönizier setzten sich bereits im 9.
1450), vo n der Funde aus Kreta, aber auch Jahrhundert auf Zypern fest (Kitio n), grün-
vo n verschiedenen Inseln der Ägäis vo rliegen. deten Karthago ; frühe Verbindungen bestan-
(Zeitgleich mit den frühen Zeugnissen vo n den auch mit Kreta. Orientalische Impo rt-
Linear A ist der berühmte Disko s vo n Phai- stücke aus dem 8. und 7. Jahrhundert bezeu-
sto s, dessen Eino rdnung ein ungelöstes So n- gen den Ko ntakt für viele Plätze der griechi-
derpro blem darstellt.) Nach dem Niedergang schen Welt. Insbeso ndere wurde Euböa zur
des mino ischen Reiches und der mino ischen Drehscheibe griechisch-phönizischen Han-
Kultur um 1450 wurde Kreta vo n mykeni- dels, welcher sich auch in den westlichen Mit-
schen Griechen eingeno mmen. Es ist eine telmeerraum ausdehnte. Griechen ihrerseits
plausible Hypo these (Heubeck 1979, 32 ff), stießen nach Syrien vo r, siedelten sich an der
daß diese hier, aus der Ko nfro ntatio n mit dem Oro ntes-Mündung an (griechische Ortsbe-
mino ischen Erbe heraus, zur Schaffung einer zeichnung: Po sideio n, heute Al Mina). Par-
für die eigene Sprache verwendbaren Schrift allel zu den Handelsbeziehungen etablierte
veranlaßt wurden (die weitaus meisten erhal- sich die Ko o peratio n auf dem Gebiet künst-
tenen Texte stammen aus dem Palast vo n lerischen Handwerks, wo bei die Griechen vo r
Kno sso s). Linear B gewann in der Fo lgezeit allem die Lernenden waren; Ergebnis war die
Verbreitung auch auf dem griechischen Fest- ‘Orientalisierende Epo che’ der griechischen
land (wichtigste Fundo rte: Pylo s, Mykene, Kunst im 7. Jahrhundert.
Tiryns, Theben). Freilich blieb der Gebrauch Im Rahmen des intensiven Ko ntakts er-
der Schrift — sie wurde 1952 vo n M. Ventris lernten die Griechen auch die Schrift vo n den
und J. Chadwick entziffert — auf Verwal- Phöniziern und paßten sie ihrer Sprache an.
tungszwecke beschränkt (Bestandsaufnah- Die phönizische Ko nso nantenschrift (→ Art.
men, Do kumentatio n vo n Verpflichtungen, 20) enthielt freilich Zeichen, die für das Grie-
Lieferungen u. dgl.; Schriftträger sind To n- chische nicht benötigt wurden. Dieser Rest-
tafeln). Daß es ihr nicht gelang, sich weiter- bestand wurde nun in einer Weise umfunktio -
gehende Funktio nen zu erschließen, ist darin niert, die den Erfo lg der griechischen Schrift
begründet, daß sie eine Wiedergabe der grie- als eines perfekten Instruments zur Fixierung
chischen Sprache nur äußerst mangelhaft ge- vo n Sprache begründete: Die überschüssigen
stattet: Sie bietet Zeichen nur für Vo kale und Zeichen wurden zu Vo kalzeichen. Weiterhin
o ffene Silben, differenziert weder zwischen wurden zu den 22 Zeichen des phönizischen
Tenues, Aspiratae und Mediae (Ausnahme: t Alphabets vier zusätzliche hinzugefügt. Dies
und d) no ch zwischen l und r no ch zwischen ergab einen Gesamtbestand vo n 26 Zeichen,
langen und kurzen Vo kalen. Mit der Zerstö- wo bei allerdings Schwankungen und auch un-
rung der mykenischen Kultur um 1200 v. Chr. terschiedliche Zuo rdnungen in den verschie-
verschwand die Kenntnis vo n Linear B, die denen lo kalen Alphabeten auftreten. Diese
o ffenbar auch nie über den Bereich der Für- Unterschiede auf der einen und die Kalku-
stenhöfe hinausgedrungen war. Was fo lgte,
waren die sog. ‘Dunklen Jahrhunderte’.
512 IV. Schriftkulturen

liertheit der Anpassung auf der anderen Seite sto n 1983), ebenso eingeschlo ssen wie metri-
lassen die Frage, o b ein einzelner ‘Erfinder’ sche Dedikationsinschriften.
o der mehrere parallele Adaptatio nen anzu-
setzen sind, in der Apo rie enden (Heubeck
1979, 87 ff; Burkert 1984, 29 ff; Heubeck 3. Beschreibstoffe
1986, 16 ff). Der ursprüngliche Zeichenbe- Gegen eine anfängliche ko mmerzielle Nut-
stand reduzierte sich im so g. io nischen Ein- zung der Schrift wird eingewandt, daß sie
heitsalphabet, das sich in den fo lgenden Jahr- durch Funde nicht belegt ist. Im Gegenzug
hunderten durchsetzte, auf 24 Zeichen. Athen wird die Beweiskraft dieses Arguments durch
übernahm dieses Alphabet durch Vo lksbe- den Hinweis darauf bestritten, daß die
schluß im Jahre 403/2 (Pöhlmann 1986; vgl. aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit erhaltenen
auch Immerwahr 1990, 179 ff). Schriftträger nicht repräsentativ sind. In der
Als Reflex der Übernahme des phönizi- Tat bezeichnen Inschriften auf Keramik, Stein
schen Alphabets erhielt sich im Io nischen der o der Metall nur einen Teilbereich der Schrift-
Begriff phoinikéia für Schriftzeichen, den He- verwendung, nicht nur in materieller, so ndern
ro do t für eine in den Grundzügen zutreffen- auch in inhaltlicher Hinsicht. Dabei ist zu
de Reko nstruktio n des Vo rgangs auswertete berücksichtigen: Der Traditio nsbruch zwi-
(5,58; vgl. Heubeck 1979, 105 ff). Anso nsten schen Linear B und der griechischen Alpha-
gab es jedo ch keinerlei Erinnerung. So muß betschrift fand unter anderem darin seinen
mo derne Fo rschung Antwo rten auf die o ffe- Ausdruck, daß To ntafeln — in mykenischer
nen Fragen finden. Für den Ort der Über- Zeit das bevo rzugte Material für Aufzeich-
nahme werden in erster Linie die Plätze früher nungen, die aus den Bedürfnissen vo n Wirt-
Berührungen zwischen Griechen und Phöni- schaft und Verwaltung erwuchsen — nun
ziern diskutiert: Zypern, Kreta, Po sideio n nicht mehr Verwendung fanden. Deshalb hat
(Heubeck 1979, 84 ff; Burkert 1984, 30 f; sich dieser Ko mplex vo n Schriftlichkeit nur
Wachter 1989, 64 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, aus der älteren, der mykenischen Zeit erhal-
5 ff; 425 f). Als Zeitraum, innerhalb dessen die ten. Do ch hat es ihn gewiß nicht minder in
Übernahme erfo lgte, ist die erste Hälfte des der frühen Phase der Alphabetschrift gege-
8. Jahrhunderts anzusetzen (Heubeck 1979, ben. Die üblichen Beschreibsto ffe waren nun-
75 ff; 86 f; Burkert 1984, 30 f; Wachter 1989, mehr die fo lgenden (Heubeck 1979, 152 ff;
69 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 12 ff; 426 f). Burkert 1984, 32 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990,
Dies ergibt sich daraus, daß Textfunde über 50 ff; 429 f): Es gab einfache Ho lztafeln o der
die Jahrhundertmitte nicht hinausreichen so lche mit Wachseinlage (déltoi [semitisches
(Jo hnsto n, in: Jeffery & Jo hnsto n 1990,426: Lehnwo rt], pínakes), auch in zusammenge-
„no Greek alphabetic texts befo re c. 740“; die klappter Fo rm, die für kürzere Texte benutzt
Frühdatierung [770] einer naxischen Schale wurden. Sie hatten eine wichtige Funktio n
ist ungesichert [ebd. 466 f, zu A]), während die nicht zuletzt im Schreibunterricht. Für län-
Häufigkeit danach rasch zunimmt. Für die gere Texte war im Orient die Lederro lle eta-
vo rausliegende Zeit hat so mit das argumen- bliert. Daß sie vo n den Griechen zusammen
tum ex silentio erhebliches Gewicht (gegen mit der Schrift überno mmen wurde, ist darin
Versuche vo n semitistischer Seite, den Zeit- manifest, daß sich bei den Io niern die Bezeich-
punkt der Übernahme bis ins 11. Jahrhundert nung diphthéra (‘Leder’) für Buch auch dann
hinaufzudatieren: Burkert 1984, 31; Wachter no ch hielt (Hero do t 5,58), als sich die Papy-
1989, 69 ff; Jeffery & Jo hnsto n 1990, 426). rusro lle (bíblos, biblíon) längst durchgesetzt
Diskutiert werden schließlich die der Über- hatte (wo hl seit dem späten 7. Jahrhundert).
nahme zugrunde liegenden Mo tive. Waren sie Diese war in den fo lgenden Jahrhunderten
ko mmerzieller Natur (Heubeck 1979, 94 f; das zentrale Medium der griechischen Schrift-
150 ff; Lo mbardo 1988), o der stand so gleich kultur. Erst in nachchristlicher Zeit wurde sie
die Absicht dahinter, metrische, d. h. po eti- durch den Pergamentko dex abgelöst (Hunger
sche Texte zu fixieren (Ro bb 1978; Schnapp- 1961, 47 ff; Roberts & Skeat 1983; → Art. 8).
Go urbeillo n 1982)? Man entgeht dieser Al-
ternative, wenn man annimmt, daß es alltags-
praktische Bedürfnisse in einem allgemeinen 4. Lautes und stilles Lesen
und umfassenden Sinne waren, die den Er-
werb einer Schrift attraktiv erscheinen ließen. Das Erbe der Mündlichkeit blieb die ganze
Darin sind beispielsweise Besitzervermerke, Antike hindurch inso fern wirksam, als laut
wie sie gerade die frühen Funde bieten (Jo hn- gelesen wurde (Sammlung der Testimo nien
37.  Die griechische Schriftkultur der Antike 513

bei Balo gh 1927): Der Leser inszenierte the fo urth century bo o ks have established
gleichsam für sich selbst eine mündliche Ko m- themselves [...]“).
munikatio nssituatio n. Do ch hat es auch eine In Anbetracht der dargestellten Entwick-
Praxis stillen Lesens gegeben, die sich mit dem lung läßt sich die vo n Havelo ck vertretene
Fo rtschreiten der Literarisierung ausbildete Annahme (1963; vgl. auch 1982), die Einfüh-
und spätestens für das 5. Jahrhundert v. Chr. rung der Schrift sei außerhalb vo n Handel
anzusetzen ist (Kno x 1968; Rösler 1992). und Gewerbe bis weit ins 5. Jahrhundert hin-
Diese Entwicklung wurde vo m 3. Jahrhundert ein relativ fo lgenlo s geblieben, nicht aufrecht
v. Chr. an dadurch unterstützt, daß Akzente, erhalten (Nieddu 1982; Pöhlmann 1988,
Spiritus und Elemente vo n Interpunktio n, 14 ff). Tatsächlich hat es o ffenbar bereits im
welche die gebräuchliche scriptio continua 6. Jahrhundert, beso nders gegen dessen Ende
gliederten, in die Texte Eingang fanden (Rai- hin, eine erhebliche Ausbreitung der Schrift-
ble 1991; zu o ptischen Hilfen bei der Gliede- lichkeit gegeben (zum athenischen Befund Im-
rung größerer Texteinheiten Cancik 1979). merwahr 1990, 176: „The last third o f the
sixth century sees a great o utburst o f writing
activity [...]“; vgl. auch Harris 1989, 52 ff).
5. Die Entwicklung bis zum Auf der anderen Seite wird man vo n einer
4. Jahrhundert v. Chr. wirklich umfassenden, auch ländliche Regio -
nen einschließenden Literalität der griechi-
5.1. Verbreitung der Schrift schen Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt spre-
chen können (Canfo ra 1989; Harris 1989,
Merkmal der Entwicklung im antiken Grie- 3 ff). Selbst im Hinblick auf das Athen des 5.
chenland ist die gro ße Dynamik, mit der die
neue Errungenschaft, die Buchstabenschrift, und 4. Jahrhunderts wird vo r Überschätzun-
gen gewarnt (Tho mas 1989, 15 ff; vgl. Harris
eine ehedem mündliche Kultur durchdrang 1989, 93 ff; über Sparta: Cartledge 1978; Bo -
und schließlich, im 4. Jahrhundert, in eine ring 1979).
Buchkultur überführte, in der man sich der
ov rausliegenden Verhältnisse dann kaum
mehr bewußt war. Mit vo llem Recht ist hier 5.2. Dichtung und Literatur
vo n einer kulturellen ‘Revo lutio n’ gespro chen Als die Griechen im 8. Jahrhundert das phö-
wo rden (Havelo ck 1982). Offenbar verbrei- nizische Alphabet übernahmen, gab es bei
tete sich die Schriftkenntnis vo n Anfang an ihnen eine ho chentwickelte mündliche Dich-
über einen engeren Zirkel vo n Experten hin- tung. Es war zwangsläufig, daß die Schrift
aus: Die frühesten Inschriften sind durchweg auf diesen Bereich übergriff. Mit ihrer Hilfe
privater Natur (vgl. Heubeck 1979, 109 ff); ließen sich auch po etische Texte fixieren und
vo m 7. Jahrhundert an wird über erklärende ko nservieren; signifikant ist, daß die Überlie-
Vasenbeischriften so wie Töpfer- und Maler- ferung der griechischen Dichtung spätestens
signaturen (Simo n 1981, 21 ff) eine verbreitete mit dem 7. Jahrhundert, wenn nicht scho n im
Schriftbenutzung durch Handwerker faßbar. letzten Drittel des 8. Jahrhunderts, einsetzt
Erst sekundär, in der zweiten Hälfte des 7. (Pöhlmann 1990; ko ntro vers ist die Datierung
Jahrhunderts, setzen öffentliche Inschriften der Ilias). Darüber hinaus veränderte die
ein (die Texte bei Meiggs & Lewis 1988), Schrift vo n Grund auf den po etischen Schaf-
beginnend mit einer Rechtsinschrift aus Dre- fenspro zeß. Der Text mußte nicht mehr ex-
ro s, wie überhaupt die Fixierung vo n Recht tempo rierend herv o rgebracht werden. Er
eine der wichtigen frühen Funktio nen der ko nnte nun in einem Akt der Abfassung ent-
Schrift war (Gagarin 1986; Detienne 1988; stehen, der vo n der Darbietungssituatio n ab-
Lo raux 1988). Ein eigentliches Schulwesen geko ppelt war und dessen Tempo der Auto r
scheint sich freilich erst im späten 6. Jahrhun- selbst bestimmte. Zu ko nstatieren ist freilich
dert entwickelt zu haben (Pöhlmann 1988, keine abrupte Veränderung, so ndern ein lan-
11 f; 14 ff; Harris 1989, 57 ff; zur Methode des ger Ablösungsvo rgang. Bei aller Verfeine-
Schreibunterrichts Pöhlmann 1986, 54 f), und rung, die die schriftliche Abfassung ermög-
erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts lichte, bewahrten sich Elemente der Münd-
begann sich ein o rganisierter Buchvertrieb lichkeit (grundsätzlich dazu Andersen 1987):
herauszubilden (Erler 1987, 51 ff). Hieraus er- so die epischen ‘Fo rmeln’ (traditio nelle, zum
wuchs wiederum die Praxis, Büchern Titel zu Reperto ire der Gattung gehörende Fo rmulie-
geben (Schmalzriedt 1970). Dieser Pro zeß rungen, deren Funktio n es gewesen war, den
vo llendete sich im frühen 4. Jahrhundert (vgl. Sänger in der Streßsituatio n des Impro visie-
Turner 1954, 23: „By the first thirty years o f rens zu entlasten) o der die Hinwendung zu
514 IV. Schriftkulturen

einem o der zu mehreren Adressaten in Lyrik wicklung der Histo rio graphie verbunden (wo -
und Lehrgedicht. Vo r allem — das zuletzt bei hinzuzufügen ist, daß sich zuvo r bereits
genannte Merkmal verweist darauf — blieb die Herausbildung eines Geschichtsbewußt-
die Zweckbestimmung für den mündlichen seins als Auswirkung der Schrift darstellt, vgl.
Vo rtrag einstweilen unangefo chten (Gentili Rösler 1980 b, 302 ff). Im letzten Drittel des
1984; speziell zur Lyrik: Rösler 1980a; vgl. 5. Jahrhunderts war die Literarisierung so
auch Rösler 1983). Wo hl erst im späten 5. weit fo rtgeschritten, daß nun die Möglichkeit
und dann im 4. Jahrhundert verdrängte in- in den Blick trat, sich mit Gro ßtexten vo n
dividuelles Lesen allmählich das ko llektive bislang ungekannter Ausdehnung dezidiert an
Zuhören als Regelfall der Rezeptio n (zur künftige Leser zu wenden. Thukydides ent-
Situatio n im 5. Jahrhundert Mastro marco schied sich zu Beginn des Pelo po nnesischen
1984). Aristo teles faßt diese Entwicklung in Krieges, ein so lches Werk in Angriff zu neh-
zugespitzter Weise zusammen, wenn er so gar men, und er bediente sich bei der Ausführung
im Hinblick auf dramatische Dichtung die eines dezidiert unmündlichen Stils. Aber auch
Ansicht vertritt, für eine Tragödie sei die Auf- scho n das Geschichtswerk Hero do ts war in
führung ein äußerlicher Aspekt; sie entfalte der Fo rm, in der es sein Verfasser in den ersten
ihre Wirkung vielmehr unabhängig vo n der Jahren desselben Krieges niederschrieb, nicht
Anschauung durch das Auge, eben im Akt mehr für Vo rträge, so ndern zur Lektüre be-
des Lesens (Po etik 26, 1462 a 11 ff; vgl. 6, stimmt (Rösler 1985, 20 ff).
1450 b 16 ff; 14, 1453 b 1 ff). Die kulturelle Veränderung nötigte über-
Ein beso nders zukunftsweisendes Pro dukt haupt zu beständiger Überprüfung, Anpas-
der Literarisierung war das Pro sabuch. Pro - sung und Neuentwicklung vo n Ko nzeptio nen
saschriften kamen in der zweiten Hälfte des und Theo rien. Ein ho chbedeutsamer Pro zeß
6. Jahrhundert im Umkreis vo rso kratischer war die Ablösung der alten, in der Mündlich-
Theo riebildung auf. Sie do kumentieren, daß keit wurzelnden Vo rstellung, Dichtung sei am
sich zu dieser Zeit eine auf Schriftlichkeit ba- Wahrheitskriterium zu messen, durch eine
sierende Ko mmunikatio n in einem beträcht- Sicht, derzufo lge die Faktizität des in einem
lichen Ausmaß entwickelt hatte, was mit an- po etischen Text Mitgeteilten irrelevant ist
deren Befunden übereinstimmt (vgl. 5.1.). (Rösler 1980b). Do ch schlo ß die Auseinan-
Zwar bestand eine frühe, namentlich für das dersetzung mit dem Vo rdringen der Schrift-
5. Jahrhundert bezeugte Funktio n der Pro - lichkeit auch Widerstand ein. Der ko mpro -
saschrift darin, als ein hypómnema (zur eige- mißlo se Verzicht des So krates auf schriftliche
nen Erinnerung gemachte Aufzeichnung) dem Äußerungen zugunsten gelebter Gesprächs-
Verfasser als Grundlage für mehr o der minder bereitschaft fand seine Weiterentwicklung in
öffentliche Lesungen zu dienen (Thukydides der Schriftkritik Plato ns, der im Phaidro s fo l-
1, 21 f; Plato n, Parmenides 127 a—d; vgl. Er- gende Mängel benennt (274 b—277 a): die ne-
ler 1987, 34 ff). Vo rrangig war freilich die gative Wirkung auf das Gedächtnis und die
Bestimmung, dem Text eine nicht an die Per- in der Unfähigkeit der Schrift zur Antwo rt
so n des Auto rs gebundene Verbreitung zu er- begründete mangelhafte Tauglichkeit, das-
möglichen (Nieddu 1984; Pöhlmann 1990, jenige, was vermittelt werden so ll, auch tat-
23 f). Die Ko härenz der unter den Vo rso kra- sächlich zu vermitteln (Szlezák 1985; Erler
tikern geführten Auseinandersetzung zeigt, 1987, 21 ff; 38 ff; Heitsch 1987; Kullmann
daß dieses Ziel auch erreicht wurde. Auch ist 1990).
darauf zu verweisen, daß die vo rso kratischen
Texte mindestens teilweise, und zwar gerade
auch da, wo die Darstellung in der traditio - 6. Hellenismus und Kaiserzeit
nellen Versfo rm erfo lgt, sich aufgrund ihrer
gedanklichen und sprachlichen Ko mpliziert- Ein auf Schriftlichkeit aufbauender Wissen-
heit einer blo ß hörenden Aufnahme entzo gen schaftsbetrieb wurde im späten 4. Jahrhun-
(krasses Beispiel: das Lehrgedicht des Par- dert durch Aristo teles und seine Schule be-
menides [erstes Drittel des 5. Jahrhunderts]). gründet (Wehrli 1983, 462 ff). Damit begann
Im 5. Jahrhundert kam es zu einer explo sio ns- die letzte Etappe im Pro zeß der Literari-
artigen Ausweitung der Pro saschriftstellerei. sierung (zusammenfassend Easterling 1985;
Im beso nderen sind so phistische Traktate und Reyno lds & Wilso n 1991, 5 ff), in der nun die
Fachschriften, etwa medizinischen Inhalts, zu Fähigkeit der Schrift, Wissen zu akkumulie-
nennen (Pigeaud 1988; Pöhlmann 1990, 24 ff). ren und eben dadurch Wissensfo rtschritt in
Schließlich war mit dem Pro sabuch die Ent- Gang zu setzen, in gro ßem Umfang realisiert
wurde. Bezeichnend ist, daß die Grundlage
37.  Die griechische Schriftkultur der Antike 515

der in der Schule des Aristo teles betriebenen denen Wissens mit Erkenntnisfo rtschritt ver-
Wissenschaft zahlreiche schriftliche Material- banden, entfaltete sich in der Mathematik
sammlungen waren, die Aristo teles selbst zu (Euklid, Archimedes, Apo llo nio s vo n Perge),
systematischen Zwecken angelegt hatte (Pfeif- der Astro no mie (Aristarch vo n Samo s, Hip-
fer 1970, 91 ff). Zentrum hellenistischer Wis- parcho s, Klaudio s Pto lemaio s), der Geo gra-
senschaft wurde Alexandrien, wo Pto lemaio s phie (Erato sthenes [bereits als Philo lo ge er-
I. eine Fo rschungsstätte, das Mouseîon, mit wähnt], Po seido nio s, Klaudio s Pto lemaio s),
einer angeschlo ssenen, in der Fo lgezeit auf der Mechanik (Archimedes, Hero n), schließ-
das üppigste ausgebauten Biblio thek errich- lich in Bio lo gie und Medizin (Hero philo s,
tete (grundlegend Pfeiffer 1970, 125 ff; le- Erasistrato s, Galen). Hero n, Klaudio s Pto le-
senswert die belletristische Fiktio n mit wis- maio s und Galen gehören bereits in die Kai-
senschaftlicher Rek o nstrukti
o n verbindende serzeit. Das gewaltige Œuvre Galens — er
Darstellung vo n Canfo ra 1988). Diese Grün- selbst bezifferte es auf 153 Werke in über 500
dung erfo lgte nicht unabhängig vo n der Büchern; die letzte, aus dem 19. Jahrhundert
Schule des Aristo teles in Athen; Demetrio s stammende Gesamtausgabe umfaßt 21 statt-
vo n Phalero n und Strato n vo n Lampsako s, liche Textbände — do kumentiert den Stand
die mit dieser Schule in Verbindung standen, der griechischen Schriftkultur im 2. Jahrhun-
waren Berater vo n Pto lemaio s I. (Wehrli dert n. Chr. Die Grundlage bildete ein Un-
1983, 559 f; 569). Die neue Institutio n setzte terrichtswesen, das den jungen Menschen vo n
sich das Ziel, die literarische Traditio n Grie- der Elementarschule über die Unterweisung
chenlands in umfassender Weise zu sammeln beim ‘Grammatiker’ (Dichterlektüre und -er-
und aufzuarbeiten (Pfeiffer 1970, 135 ff). klärung) bis hin zur Rheto rikausbildung
Hierfür mußten ebenso die metho dischen führte (Marro u 1977, 273 ff). In der Fo lgezeit
Grundlagen wie die erfo rderlichen Verfahren erlo sch die evo lutio näre Dynamik, die vo n
und Techniken entwickelt werden: kritische der Literarisierung ausgegangen war. Nach
Editio n und K o mmentar, Katal o gisierung der Ko nstituierung des Oströmischen Rei-
(Blum 1977) und Lexiko graphie (Alpers ches, spätestens mit der Schließung der Pla-
1990); daneben entfaltete sich ein reiches to nischen Akademie durch Justinian im Jahre
Spektrum kultur-, literatur- und sprachge- 529, mündete die griechische in die byzanti-
schichtlicher Sekundärliteratur. Ein neuer Ge- nische Schriftkultur (Hunger 1989).
lehrtentypus verkörperte sich in Männern wie
Zeno do t, Kallimacho s, Apo llo nio s vo n Rho -
do s, Erato sthenes, Aristo phanes vo n Byzanz 7. Literatur
und Aristarch vo n Samo thrake. Kallimacho s Alpers, Klaus. 1990. Griechische Lexiko graphie in
und Apo llo nio s waren zugleich Dichter; ihre Antike und Mittelalter. In: Ko ch, Hans-Albrecht
Dichtung reflektiert, auf durchaus unter- (ed.). Welt der Information. Stuttgart, 14—38.
schiedliche Weise, das Verhältnis zu jener Tra-
ditio n, mit der sie sich als Philo lo gen beschäf- Andersen, Øivind. 1987. Mündlichkeit und Schrift-
tigten (Pfeiffer 1970, 157 ff; 177 ff; Bing 1988). lichkeit im frühen Griechentum. Antike und
Eine mit Alexandrien ko nkurrierende Insti- Abendland 33, 29—44.
tutio n entstand in Pergamo n (Pfeiffer 1970, Balo gh, Jo sef. 1927. Vo ces Paginarum. Philo lo gus
286 ff). Auswirkung des bestimmenden Ein- 82, 84—109; 202—240.
flusses der sto ischen Philo so phie war einer- Bing, Peter. 1988. The Well-Read Muse. Göttingen.
seits die allego rische Interpretatio n vo n Dich- Blum, Rudo lf. 1977. Kallimacho s und die Litera-
tung (im Unterschied vo n Alexandrien), an- turverzeichnung bei den Griechen. Frankfurt a. M.
dererseits das Interesse an Sprachtheo rie und Bo ring, Terrence A. 1979. Literacy in Ancient
Grammatik (Schmidt 1979). Seit dem 2. Jahr- Sparta. Leiden.
hundert v. Chr. bildeten sich weitere Zentren Burkert, Walter. 1984. Die o rientalisierende Epo che
(Pfeiffer 1970, 306 ff). So ließ sich Dio nysio s in der griechischen Religio n und Literatur (Sit-
Thrax, aus Alexandrien ko mmend, in Rho do s zungsberichte der Heidelberger Akademie der Wis-
nieder; seine Grammatikè téchne ist ein Werk, senschaften, Phil o os phisch-hist
o rische Klasse. Jg.
das die weitere Entwicklung dieser Disziplin 1984, Bericht 1). Heidelberg.
in nicht zu überschätzender Weise geprägt Cancik, Hubert. 1979. Der Text als Bild. In: Brun-
hat. Das Aufblühen der Wissenschaften be- ner, Hellmut, Kannicht, Richard & Schwager,
schränkte sich indes keineswegs auf den Be- Klaus (ed.). Wort und Bild. München, 81—100.
reich der Philo lo gie (Llo yd 1973). Eine über-
Canfo ra, Luciano . 1988. Die verschwundene Bi-
aus reiche Fachliteratur, in der sich Bestands-
bliothek. Berlin.
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516 IV. Schriftkulturen

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38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike 517

Pho enician to Greek. In: Havelo ck, Eric A. & Schmidt, Rudo lf T. 1979. Die Grammatik der Sto i-
Hershbell, Jackso n P. (ed.). Co mmunicatio n Arts ker. Braunschweig/Wiesbaden.
in the Ancient World. New York, 23—36. Schnapp-Go urbeillo n, Annie. 1982. Naissance de
Ro berts, Co lin H. & Skeat, Theo do re C. 1983. The l’écriture et fo nctio n po étique en Grèce archaïque:
Birth of the Codex. London. quelques po ints de repère. Annales (Eco no mies,
Rösler, Wo lfgang. 1980a. Dichter und Gruppe. Sociétés, Civilisations) 37, 714—723.
Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur Simo n, Erika. 1981. Die griechischen Vasen. Mün-
histo rischen Funktio n früher griechischer Lyrik am chen. [2. Auflage]
Beispiel Alkaios. München. Szlezák, Tho mas Alexander. 1985. Plato n und die
—. 1980b. Die Entdeckung der Fiktio nalität in der Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin/New York.
Antike. Poetica 12, 283—319. Tho mas, Ro salind. 1989. Oral Traditio n and Writ-
—. 1983. Über Deixis und einige Aspekte mündli- ten Record in Classical Athens. Cambridge.
chen und schriftlichen Stils in antiker Lyrik. Würz- Turner, Eric G. 1954. Athenian Bo o ks in the Fifth
burger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft and Fourth Centuries B. C. London. [2. Auflage]
N. F. 9, 7—28. Wachter, Rudo lf. 1989. Zur Vo rgeschichte des grie-
—. 1985. Alte und neue Mündlichkeit. Der alt- chischen Alphabets. Kadmos 28, 19—78.
sprachliche Unterricht 28/4, 4—26. Wehrli, Fritz. 1983. Der Peripato s bis zum Beginn
—. 1992. Besprechung vo n Jesper Svenbro : Phra- der römischen Kaiserzeit. In: Flashar, Hellmut
sikleia. Anthro po lo gie de la lecture en Grèce an- (ed.). Ältere Akademie — Aristo teles — Peripato s
cienne. Paris 1988. Gnomon 64, 1—3. (Die Philo so phie der Antike, Bd. 3). Basel/Stutt-
Schmalzriedt, Egidius. 1970. Peri Physeo s. Zur gart, 459—599.
Frühgeschichte der Buchtitel. München.
Wolfgang Rösler, Konstanz (Deutschland)

38. Die lateinische Schriftkultur der Antike

1. Die Übernahme des Alphabets Wachter 1987, 14 ff): Wenn F, das griechische
2. Die ‘vorliterarische’ Periode Zeichen für Digamma [w], im Lateinischen [f]
3. Die ausgebildete Schriftkultur der Republik ausdrückt, so ist das nur als Vereinfachung
und frühen Kaiserzeit der südetruskischen Schreibweise FH für [f]
4. Wandel in der Spätantike zu erklären. Zum zweiten wird im südetrus-
5. Literatur kischen Schriftsystem C, das westgriechische
Gamma, für [k] benutzt, da der Lautwert [g]
nicht benötigt wird, wo bei die o rtho graphi-
1. Die Übernahme des Alphabets sche Regelung gilt, vo r i/e Gamma (C), vo r a
Kappa (K) und vo r u/(o ) Qo ppa (Q) zu
Die Römer selbst setzten die Einführung der schreiben. Diese Ko nventio n hat das Latei-
Schrift in mythische Vo rzeit. Nach der ver- nische überno mmen, o bgeich sie seiner pho -
breitetsten Versio n so ll der arkadische Hero s netischen Struktur nicht gemäß ist; ein eigenes
Euander das Alphabet mitgebracht haben, als Graphem G ist erst im 3. Jahrhundert v. Chr.
er zwei Generatio nen vo r dem tro janischen durch Zufügen eines Strichs zu C geschaffen
Krieg als erster auf dem Gebiet des späteren wo rden. Schließlich ist auch die Etymo lo gie
Ro m siedelte (Briquel 1988). Tatsächlich hin- vo n littera jüngst als Indiz für die Ro lle Etru-
gegen lernen die Römer in der ersten Hälfte riens in der lateinischen Alphabetgeschichte
des 7. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge des Aus- in Anspruch geno mmen wo rden (Sando z
tauschs mit ihren etruskischen Nachbarn und 1991). Ungeachtet so lcher Abhängigkeit be-
den Westgriechen Kampaniens schreiben. zeugt jedo ch einen direkten Einfluß des Grie-
Hierbei übernehmen sie das Alphabet nicht chischen die Verwendung vo n B D O X, die
direkt vo n den Griechen, so ndern vermittelt anders als im Etruskischen die gleichen Laut-
über die Etrusker, die sich um 700 v. Chr. das werte wie die westgriechischen β δ ο ξ wieder-
westgriechische Alphabet angeeignet haben, geben: zu erklären aus Vermittlung durch
das über die euböische Ko lo nie Kyme nach griechische Schreiblehrer (Rix 1985, 214) o der
Italien gelangt war. Dieser Vermittlungsweg als griechisch beeinflußte Wiederbelebung
geht aus zweierlei hervo r (Rix 1985, 214;
38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike 517

Pho enician to Greek. In: Havelo ck, Eric A. & Schmidt, Rudo lf T. 1979. Die Grammatik der Sto i-
Hershbell, Jackso n P. (ed.). Co mmunicatio n Arts ker. Braunschweig/Wiesbaden.
in the Ancient World. New York, 23—36. Schnapp-Go urbeillo n, Annie. 1982. Naissance de
Ro berts, Co lin H. & Skeat, Theo do re C. 1983. The l’écriture et fo nctio n po étique en Grèce archaïque:
Birth of the Codex. London. quelques po ints de repère. Annales (Eco no mies,
Rösler, Wo lfgang. 1980a. Dichter und Gruppe. Sociétés, Civilisations) 37, 714—723.
Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur Simo n, Erika. 1981. Die griechischen Vasen. Mün-
histo rischen Funktio n früher griechischer Lyrik am chen. [2. Auflage]
Beispiel Alkaios. München. Szlezák, Tho mas Alexander. 1985. Plato n und die
—. 1980b. Die Entdeckung der Fiktio nalität in der Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin/New York.
Antike. Poetica 12, 283—319. Tho mas, Ro salind. 1989. Oral Traditio n and Writ-
—. 1983. Über Deixis und einige Aspekte mündli- ten Record in Classical Athens. Cambridge.
chen und schriftlichen Stils in antiker Lyrik. Würz- Turner, Eric G. 1954. Athenian Bo o ks in the Fifth
burger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft and Fourth Centuries B. C. London. [2. Auflage]
N. F. 9, 7—28. Wachter, Rudo lf. 1989. Zur Vo rgeschichte des grie-
—. 1985. Alte und neue Mündlichkeit. Der alt- chischen Alphabets. Kadmos 28, 19—78.
sprachliche Unterricht 28/4, 4—26. Wehrli, Fritz. 1983. Der Peripato s bis zum Beginn
—. 1992. Besprechung vo n Jesper Svenbro : Phra- der römischen Kaiserzeit. In: Flashar, Hellmut
sikleia. Anthro po lo gie de la lecture en Grèce an- (ed.). Ältere Akademie — Aristo teles — Peripato s
cienne. Paris 1988. Gnomon 64, 1—3. (Die Philo so phie der Antike, Bd. 3). Basel/Stutt-
Schmalzriedt, Egidius. 1970. Peri Physeo s. Zur gart, 459—599.
Frühgeschichte der Buchtitel. München.
Wolfgang Rösler, Konstanz (Deutschland)

38. Die lateinische Schriftkultur der Antike

1. Die Übernahme des Alphabets Wachter 1987, 14 ff): Wenn F, das griechische
2. Die ‘vorliterarische’ Periode Zeichen für Digamma [w], im Lateinischen [f]
3. Die ausgebildete Schriftkultur der Republik ausdrückt, so ist das nur als Vereinfachung
und frühen Kaiserzeit der südetruskischen Schreibweise FH für [f]
4. Wandel in der Spätantike zu erklären. Zum zweiten wird im südetrus-
5. Literatur kischen Schriftsystem C, das westgriechische
Gamma, für [k] benutzt, da der Lautwert [g]
nicht benötigt wird, wo bei die o rtho graphi-
1. Die Übernahme des Alphabets sche Regelung gilt, vo r i/e Gamma (C), vo r a
Kappa (K) und vo r u/(o ) Qo ppa (Q) zu
Die Römer selbst setzten die Einführung der schreiben. Diese Ko nventio n hat das Latei-
Schrift in mythische Vo rzeit. Nach der ver- nische überno mmen, o bgeich sie seiner pho -
breitetsten Versio n so ll der arkadische Hero s netischen Struktur nicht gemäß ist; ein eigenes
Euander das Alphabet mitgebracht haben, als Graphem G ist erst im 3. Jahrhundert v. Chr.
er zwei Generatio nen vo r dem tro janischen durch Zufügen eines Strichs zu C geschaffen
Krieg als erster auf dem Gebiet des späteren wo rden. Schließlich ist auch die Etymo lo gie
Ro m siedelte (Briquel 1988). Tatsächlich hin- vo n littera jüngst als Indiz für die Ro lle Etru-
gegen lernen die Römer in der ersten Hälfte riens in der lateinischen Alphabetgeschichte
des 7. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge des Aus- in Anspruch geno mmen wo rden (Sando z
tauschs mit ihren etruskischen Nachbarn und 1991). Ungeachtet so lcher Abhängigkeit be-
den Westgriechen Kampaniens schreiben. zeugt jedo ch einen direkten Einfluß des Grie-
Hierbei übernehmen sie das Alphabet nicht chischen die Verwendung vo n B D O X, die
direkt vo n den Griechen, so ndern vermittelt anders als im Etruskischen die gleichen Laut-
über die Etrusker, die sich um 700 v. Chr. das werte wie die westgriechischen β δ ο ξ wieder-
westgriechische Alphabet angeeignet haben, geben: zu erklären aus Vermittlung durch
das über die euböische Ko lo nie Kyme nach griechische Schreiblehrer (Rix 1985, 214) o der
Italien gelangt war. Dieser Vermittlungsweg als griechisch beeinflußte Wiederbelebung
geht aus zweierlei hervo r (Rix 1985, 214;
518 IV. Schriftkulturen

vo n im Alphabetmerkspruch mitüberlieferten privat, o ft Besitz-, Geschenk- o der Wid-


‘to ten’ Buchstaben (Wachter 1987, 20). Nach mungsinschriften auf Prestigegegenständen
der Mitte des 6. Jahrhunderts verläuft die (gesammelt jetzt bei Rix & Meiser 1991). Da-
lateinische Entwicklung unabhängig. Es dau- her wird vermutet, es gebe im 7. Jahrhundert
ert indes no ch einige Jahrhunderte, bis durch v. Chr. eine Aristo kratie, die eine Geschenk-
o rtho graphische Refo rmen, so die Anfügung kultur pflege und mit auf Gegenständen ge-
der Buchstaben Y und Z am Ende der Reihe, schriebenen kurzen Billetten gleichsam Ko n-
aus dem archaischen das klassische lateinische versatio n treibe. In jedem Fall ist die anfäng-
Alphabet entstanden ist (Desbo rdes 1990, liche Verwendung des Alphabets ebenso wenig
147 ff). wie in Griechenland auf administrative o der
merkantile Zwecke begrenzt (→ Art. 37), viel-
mehr hat die Schrift ko mmunikative Funk-
2. Die ‘vorliterarische’ Periode tion (Cristofani 1978, 20).
Ein bes
o nders auffälliger Unterschied
Die Übernahme des Alphabets hat in Ro m Ro ms gegenüber Griechenland besteht darin,
nicht vergleichbar dynamisierend gewirkt wie daß der Bereich der Dichtung nicht in der
in Griechenland. Die Zeit bis zur Mitte des Weise vo n Verschriftlichung erfaßt wird, daß
3. Jahrhunderts v. Chr. wird, ungeachtet der größere Fo rmen hervo rgebracht werden. Dies
Schriftkenntnis, als vo rliterarische Perio de erklärt sich zum Teil aus dem Fehlen eines
bezeichnet. Genauer ist Ro m in dieser Phase,
in der es Italien unterwirft, aber no ch nicht Kriegeradels mit hero ischer Überlieferung, so
über das italische Festland ausgreift, eine tra- daß Ro m nicht über eine vo n Rhapso den
ditio nale Gesellschaft mit begrenzter Litera- gepflegte epische Traditio n verfügt, die ge-
lität (vgl. die Merkmale bei Go o dy 1981, wissermaßen zur Literalisierung gedrängt
21 ff). Das dynamische Po tential der Schrift hätte. Gleichwo hl sind die Römer nicht o hne
entfaltet sich erst, als Ro m, im Zuge seines Dichtung. Untersuchungen zur altlateini-
Eintritts in die hellenistische Staatenwelt, er- schen Metrik erweisen die Ausbildung einer
neut und verstärkt griechische Kultur rezi- Dichtersprache (Rix 1989; Blänsdo rf 1989;
piert, dann jedo ch in rapider Entwicklung. Maurach 1989), die vo rnehmlich in dramati-
Die Gründe für diesen anderen Verlauf wer- schen Gattungen so wie im Bereich des
den v. a. in der so zio lo gischen Struktur Ro ms Brauchtums gepflegt wird (Überblick bei
gesucht: Für ein ‘Bauernvo lk’ spielt das Fest- Vo gt-Spira 1989) und dabei überwiegend
mündlich bleibt.
halten am Überko mmenen, dem mos maio- Die Do mänen des Schriftgebrauchs im
rum, eine elementare Ro lle (Marro u 1977,
426 ff). Ro m der nächsten Jahrhunderte sind dagegen
Staatsverwaltung, Recht und Religio n, die
Für die Übernahme des Alphabets braucht hauptsächlichen Träger Priesterschaft und
kein spezielles Mo tiv gesucht zu werden: Ro m Aristo kratie (inso fern ist vo n begrenzter Li-
gewinnt in dieser Phase sein Pro fil in der teralität zu sprechen). Die pontifices etwa
Auseinandersetzung mit den Etruskern und schaffen eine Staatschro nik, indem sie auf
ihren kulturellen Errungenschaften. Die latei- einer jährlich an ihrem Amtssitz angebrachten
nischen Zeugnisse setzen mit dem ausgehen- geweißten Ho lztafel (album) die für bedeut-
den 7. Jahrhundert ein und sind so wo hl pri- sam erachteten Begebenheiten eintragen. So l-
vaten als auch öffentlichen Charakters, dabei che schriftlichen Do kumente (auch: ein Ver-
vo n einiger Vielfalt (das älteste lateinische zeichnis der alljährlichen Oberbeamten Ro ms
Sprachdenkmal ist die so g. Fibula Praene- [Fasti]; Senatsbeschlüsse, die vo n Beginn der
stina, deren Echtheit allerdings aufgrund vo n Republik an archiviert werden etc.) begrün-
Unregelmäßigkeiten in der Fundgeschichte den indes nur zu einem geringen Teil späteres
stark umstritten ist [Guarducci 1980; Wachter Wissen über die ersten 500 Jahre Ro ms: Da-
1987, 55 ff; zu den frühesten Inschriften zu-
letzt Eichner 1988—1990; zur lateinischen neben tritt wesentlich mündliche Überliefe-
Epigraphik jetzt zusammenfassend Almar rung (v. Ungern-Sternberg 1988). Eine bedeu-
1990]). Die ersten Schriftzeugnisse auf römi- tende Ro lle spielt Schriftlichkeit ferner in der
schem Bo den sind freilich etruskisch; die Religio n. Sie hat v. a. die Funktio n, wörtliche
Schriftlichkeit ist bereits im 7. Jahrhundert in Genauigkeit sicherzustellen (certa verba): Ein
Latium und Südetrurien weit verbreitet, je- Gebet „[...] muß in fest vo rgeschriebener Fo r-
do ch auf die Aristo kratie beschränkt, wo bei mulierung schriftlich abgefaßt und wörtlich
Frauen und Männer o ffenbar gleichen Anteil übereinstimmend mit dem Fo rmular laut und
haben. Die Inschriften dieser Zeit sind alle deutlich vo rgetragen werden, jedes Abirren in
38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike 519

einem Wo rte o der jedes Versprechen o der Schwerlich wird man vo n einer verbreiteten
Sto cken macht den ganzen Akt rechtsungül- Mentalität sprechen können, nach der die na-
tig“ (Wisso wa 1912, 397). Für die legenden- türlichste Übermittlungs- und Fixierungs-
umwo benen libri Sibyllini (im übrigen der äl- fo rm des Gedankens auf jeglicher so zialen
teste Fall, daß in Ro m vo n Büchern die Rede Stufe die des Geschriebenen gewesen sei (Pe-
ist) ist daneben ein Höchstmaß vo n Geheim- trucci 1969, 160). Der Vo rstellung, daß die
haltung charakteristisch (Radke 1987, 57). Si- Fähigkeit zu lesen und zu schreiben außerhalb
cherheitsleistende Funktio n übernimmt die der Landbewo hnerschaft weitgehend selbst-
Schrift schließlich auch im Recht. Im Zusam- verständlich gewesen sei (repräsentativ: Dihle
menhang des so zialen Ständekampfs zu Be- 1989, 25), wird neuerdings energisch wider-
ginn der Republik so ll das Argument aufge- spro chen. Zahlen stehen naturgemäß nicht
ko mmen sein, nicht das bisherige, vo n den zur Verfügung; daher mag die Schätzung der
Patriziern manipulierbare mündliche Recht, Alphabetisierung in Italien auf unter 15%, in
so ndern nur geschriebene Gesetze sicherten den westlichen Pro vinzen auf 5—10%, in den
das Leben der Plebeier: Das Ergebnis ist das östlichen auf wenig mehr (Harris 1989, 259 ff)
12-Tafel-Gesetz aus der Mitte des 5. Jahrhun- vielleicht zu skeptisch sein, do ch in der Ten-
derts (Wieacker 1988, 287 ff; Zlinszky 1993, denz dürfte sie zutreffen (Petersmann 1989,
31). Charakteristisch ist für die Fo lgezeit 425).
ein Nebeneinander vo n Mündlichkeit und Dabei ist scharf zu trennen zwischen einer
Schriftlichkeit: Seine ko nstitutive Wirkung rudimentären Schriftbeherrschung zu alltags-
bezieht das Recht vo m ‘Aussagen’ (dicere), praktischen Zwecken und Literarisierung im
do ch die „Schrift wird immer mehr zum Be- Sinne höherer Bildung. Ludi litterarii, in de-
weis der mündlichen Rechtsgeschäfte zuge- nen auch Kinder der unteren Schichten lesen,
zogen“ (Zlinszky 1993, 32). schreiben und rechnen lernen, sind zu Beginn
Ab dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. der Kaiserzeit allenthalben verbreitet (erst-
setzt ein Entwicklungsschub ein: „[...] the mals so ll 234 v. Chr. ein Sp. Carvilius Ele-
functio ns o f the written wo rd were enlarged mentarunterricht gegen Bezahlung gegeben
in Latin Italy o f the mid-republican perio d“ haben). Indes handelt es sich um eine private
(Harris 1989, 157). Aufschlußreich ist das Institutio n, die wenig Ansehen und miserable
Münzwesen. Die frühesten Legenden — sie Einkünfte aus Schülerho no raren bietet. Eine
sind no ch griechisch — zeugen vo n geringem öffentlich getragene allgemeine Alphabetisie-
Interesse am geschriebenen Wo rt, ab 300 rung bleibt außer Betracht; im Gegenteil:
v. Chr. wird die Aufschrift hingegen lateinisch „[...] l’une des causes de la stabilité so ciale
(Burnett 1977). durable do nt a jo ui [...] l’Etat ro main, c’est
précisément l’absence de l’alphabétisatio n des
masses libres“ (Canfo ra 1989, 928). So ist die
3. Die ausgebildete Schriftkultur der Entscheidung zum Schulbesuch individuellen
Republik und frühen Kaiserzeit Erwägungen überlassen. Daraus erklärt sich
im übrigen, daß außerhalb der Oberschicht
3.1. Verbreitung der Schrift die Alphabetisierung unter Frauen gering ist
(Cavallo 1983, 176). Ferner werden hier al-
Mit der po litisch-militärischen Expansio n in lenfalls rudimentäre Fähigkeiten vermittelt,
die hellenisierte Oikumene ab der Mitte des man gelangt kaum über mühseliges Buchsta-
3. Jahrhunderts v. Chr. ist Ro m auf dem Weg bieren hinaus (zur Metho de Marro u 1977,
zu einer literalisierten Gesellschaft. Es handelt 364—6; zu den technischen Schwierigkeiten
sich indes nicht wie in Griechenland um eine des Lesens Vo gt-Spira 1990, 184). Inso fern ist
Evo lutio n, innerhalb derer neue intellektuelle für den Regelfall besser vo n Semialphabeti-
Möglichkeiten der Schrifttechno ol gie ‘ent- sierung zu sprechen (das Griechische kennt
deckt’ würden, so ndern um einen Rezep- dafür den Ausdruck ‘die langsam Schreiben-
tio ns- und Adaptatio nspro zeß: Die römische den’), eine Stufe, die durch eine gro ße Zahl
Schriftkultur bildet sich zum gro ßen Teil nach vo n einfachen, o ft unko rrekten Graffiti be-
griechischem Muster. Die Griechen gelten für zeugt wird (Cavallo 1983, 174 f). Die höhere
den gesamten weiteren Verlauf der Antike als Bildung hingegen, zunächst beim Gramma-
die Kulturnatio n. Der Höhepunkt der Lite- tiklehrer, dann in der Rheto renschule erwo r-
rarisierung ist in den ersten nachchristlichen ben, wird nur vo n einer schmalen Schicht
Jahrhunderten erreicht. Man pflegt deren durchlaufen. Das System ist im wesentlichen
Ausmaß allerdings meist zu überschätzen. aus Griechenland überno mmen, was auch die
520 IV. Schriftkulturen

Praxis vo n Zweisprachigkeit mit sich bringt v. Chr. vo n Asinius Po llio eingerichtet, erhält
(Marrou 1977, 468 ff). durch Augustus bald darauf ein Gegenstück
Darf man einerseits das Ausmaß der Al- im Apo llo -Tempel auf dem Palatin. Für die
phabetisierung nicht überschätzen, so ist an- Zeit um 320 n. Chr. nennt eine Stadtbeschrei-
dererseits der Terraingewinn der Schriftlich- bung Ro ms 29 öffentliche Biblio theken;
keit auf allen Gebieten unübersehbar. Indiz darüberhinaus verfügen viele Privathäuser
für ihren Rang im Staatswesen ist die Stellung über Büchersammlungen. Der Prestigewert
der scribae. Als Staatsschreiber bilden sie die des Buchs ist ho ch: Scho n Seneca klagt, daß
o berste Stufe des Apparats, der den römi- selbst Leute, die kaum die Anfangsgründe der
schen Beamten für ihre Amtsgeschäfte bei- Schrift beherrschten, sich eine Biblio thek zu-
gegeben ist. Sie werden so ho ch bezahlt, daß legten — nicht um zu lesen, so ndern als
der Po sten auch für Ritter attraktiv ist, zumal Wanddeko ratio n des Speisezimmers (De tran-
sie als ständige Beamte durch Akten- und quillitate an. 9,5). Vo raussetzung, um den Be-
Rechtskenntnis o ft über gro ßen Einfluß ver- darf zu befriedigen, ist ein Verlags- und Buch-
fügen. Augustus führt dann eine differenzierte handelswesen, das erstmals vo n Atticus, dem
Büro kratie zur Verwaltung des gesamten Im- Freund und wichtigsten Briefpartner Cicero s,
perium ein, was zur Ausbildung einer vo ll in fabrikmäßigem Umfang betrieben wird.
literalisierten bürgerlichen Schicht in der Gleichwo hl darf man sich die Verbreitung
Kaiserzeit beiträgt. Auch in der Po litik greift nicht nach mo dernen Maßstäben vo rstellen:
der Schriftgebrauch aus. Cäsar begründet 59 Die Zahl der Leser ist so begrenzt, daß ein
v. Chr. die Acta urbis, eine amtliche Tageszei- Cicero o der Fro nto (2. Jh. n. Chr.) versuchen
tung, in der durch Anschlag u. a. die vo ll- können, einen Text nach seiner Publikatio n
ständigen Pro to ko lle vo n Senatssitzungen (bis zu reto uchieren (Canfo ra 1989, 934; zum
hin zu Zwischenrufen) publiziert werden; in Buchwesen Kleberg 1975, 40 ff und jetzt um-
der Kaiserzeit verko mmt der Staatsanzeiger fassend Blanck 1992).
dann zum Organ für Gesellschaftsnachrichten
und ausgewählte Bekanntmachungen. Er- 3.2. Das Literatursystem
wähnenswert ist schließlich die Einführung
schriftlicher Wahlen in Ro m 139 v. Chr., wo - Bei der lateinischen Literatur handelt es sich
bei diskutiert wird, inwieweit daraus Schlüsse erstmals in Euro pa um die pro duktive Rezep-
auf den Literarisierungsgrad der Gesellschaft tio n einer fremden Literatur. Dies erkennen
zu ziehen sind (po sitiv Best 1974, anders Har- auch die Römer selbst an: „Griechenland
ris 1989, 168 ff). — Parallel dringt die Schrift wurde ero bert, indes es seinerseits den wilden
zunehmend in den privaten Alltag. Neben Sieger ero berte und die Künste ins bäurische
anderem entwickelt sich eine ausgedehnte Latium brachte“ (Ho raz, Epist. 2,1,156 f; eine
Praxis des Briefverkehrs. Das eindrucksvo ll- weiter zurückreichende italisch-römische Tra-
ste Beispiel liefert Cicero , vo n dem hunderte ditio nslinie pflegt daneben nur schwächer
privater Briefe erhalten sind (zur Episto lo gra- ausgezo gen zu werden: dazu Schmidt 1989 a).
phie Cugusi 1983). Einen vo rzüglichen Ein- Hieraus entspringt die Beso nderheit eines da-
blick in den Stellenwert der Schrift im Alltag tierbaren Beginns, nämlich auf das Jahr 240
des 1. Jahrhunderts n. Chr. bietet, bei aller v. Chr., als erstmals eine lateinische Tragödie
artistischen Verzerrung, der Ro man des Pe- und Ko mödie nach griechischer Vo rlage bei
tron. den Ludi Romani aufgeführt werden. Der
Eine Buchkultur größeren Umfangs be- Dichter, der griechische Freigelassene Livius
ginnt sich in Ro m im 1. Jahrhundert v. Chr. Andro nicus, wird kurz darauf mit einer Über-
zu etablieren, als man ein Äquivalent zur ‘un- setzung der ho merischen Odyssee auch zum
endlichen Menge vo n Büchern’ bei den Grie- Begründer des lateinischsprachigen Epo s. Die
chen (Cicero , Tusc. 2,2,6) zu schaffen sucht. Etablierung der Literatur in Ro m steht so in
Eine nennenswerte Büchersammlung ist erst- Zusammenhang mit der Übernahme zweier
mals überhaupt nach 168 v. Chr. nach Ro m kultureller Institutio nen der Griechen: des
geko mmen, als L. Aemilius Paullus die Bi- Theaterwesens und des Schulsystems; denn
blio thek der Makedo nenherrscher als Kriegs- die Odusia dient wie ihr griechisches Vo rbild
beute mitbringt. Ab dem Ende der Republik als Schulbuch für den Unterricht beim Gram-
werden dann bedeutende Privatbiblio theken maticus.
zusammengetragen (berühmt die des Lucull Der Bezug auf griechische Muster, der für
nach dem Vo rbild des Museio n). Die erste die Anfangsphase charakteristisch ist, bleibt
öffentliche Biblio thek, vo n Cäsar geplant, 39 ein beherrschendes Merkmal der gesamten rö-
mischen Literatur (vo n römischer als Spezies
38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike 521

der lateinischen Literatur ist bis ca. 250 Lateinische in dieser v. a. vo n der Senats-
n. Chr. zu sprechen, so lange sich die Literatur aristo kratie gepflo genen Gattung endgültig
auf das po litische Gebilde Ro m bezieht [Fuhr- durchsetzt. Das 1. Jahrhundert v. Chr. ist
mann 1974, 1]). Freilich wandelt sich das Ver- dann überaus reich an Pro sapro duktio n auf
hältnis (Zintzen 1975). Die archaische Perio de allen Gebieten. Cicero wird mit seiner Dar-
bis etwa 100 v. Chr. ist ein Pro zeß der Aneig- stellung sämtlicher Disziplinen der griechi-
nung. Gerade in den dramatischen Gattungen schen Philo so phie zum Begründer der philo -
werden o ft griechische Vo rlagen benutzt, mit so phischen Kunstpro sa in lateinischer Spra-
denen man jedo ch äußerst frei umgeht und che und markiert zugleich den Höhepunkt der
die man tiefgreifenden Strukturänderungen Rede. Ausgiebig betreibt man auch Fach-
unterzieht (Lefèvre 1978). Vielfach gelingt zu- schriftstellerei: Philo lo gie, Architektur, Land-
dem eine wirkungsvo lle Verschmelzung mit wirtschaft etc. Dabei betrachten die Römer
auto chtho nen Traditio nen (Lefèvre, Stärk & den Wissenssto ff in der Regel als etwas Fer-
Vo gt-Spira 1991). Für die fo lgende Perio de tiges, das es zu übernehmen und darzustellen
der Klassik (1. Jahrhundert v. Chr.) ist ae- gilt. Exemplarisch für diese Haltung ist die
mulatio, ein Wetteifern und sto lzes Sich-Mes- 37 Bücher umfassende Naturgeschichte des
sen an den griechischen Mustern kennzeich- älteren Plinius, eine aus riesigen Exzerptmas-
nend. Das ok nzepti o nelle o P tential der sen zusammengetragene Enzyklo pädie des
Schrift wird hierbei pro grammatisch genutzt: Wissens: Schriftlichkeit dient so weniger als
Man kritisiert die nachlässige, rasche Ko m- Instrument des Erkenntnisfo rtschritts denn
po sitio nsweise der alten Dichter und bekennt als Wissensspeicherung. Eine Ausnahme bil-
sich zum alexandrinischen Kunstideal des un- det die Rechtsliteratur, für die es kein Vo rbild
ablässigen Feilens. Vergil so ll beim Verfassen im Griechischen gibt und die die größte fach-
der Georgica mo rgens eine gro ße Zahl vo n wissenschaftliche Leistung der Römer dar-
Versen diktiert und den Rest des Tages daraus stellt (Liebs 1974). Neben so lcher literarischen
einige wenige herausgefiltert haben (Vita Do- und wissenschaftlichen Schriftstellerei exi-
nati 22 ff). Die dritte Phase, die als silberne stiert schließlich ein Stratum o ffenbar an-
Latinität etikettiert zu werden pflegt und sich spruchslo serer Unterhaltungsliteratur, die je-
selbst als Dekadenz empfindet, steht erstmals doch restlos verloren ist.
hingegen auch einer eigenen als musterhaft Die Literatur wird vo n den Römern seit
erkannten Vergangenheit gegenüber (dazu Anfang auch als Machtinstrument einge-
Döpp 1989). — Die Abhängigkeit vo n der schätzt. Man nutzt den vo n den Griechen
griechischen Literatur manifestiert sich scho n überno mmenen Mytho s als Gewand für na-
im Bereich der Fo rm. Das gesamte Gattungs- tio nale und po litische Argumentatio n. Ge-
system ist überno mmen — allein die Satire rade Augustus sucht die Unterstützung dieses
wird vo n den Römern als eigene Schöpfung Mittels zur Vertiefung seiner Legitimatio n. L.
begriffen (satura [...] tota nostra Quintilian Varius Rufus erhält etwa für die bei dem
10,1,93) —, wenngleich innerhalb des vo rge- Festspiel zur Feier des Sieges vo n Actium
gebenen Rahmens durchaus neue Spielarten aufgeführte Tragödie Thyestes das immense
geschaffen werden. Do ch insgesamt handelt Ho no rar vo n 1 Millio n Sesterzen (zum ty-
es sich um einen Pro zeß, in dem im Laufe der po lo gischen Umgang mit dem Mytho s Le-
Zeit alle wichtigen griechischen Gattungen in fèvre 1989, 25 ff). Wie hier zu panegyrischem
Ro m eingebürgert werden. Die Entwicklung Zweck wird Literatur auch in o ppo sitio neller
verläuft indes sehr unterschiedlich in Dich- Funktio n eingesetzt, so im frühen Prinzipat
tung und Pro sa, die sich auch durch die so - (Raaflaub 1987).
ziale Stellung der Schriftsteller unterscheiden
(als Faustregel gilt zunächst: Mitglieder der 3.3. Schriftlichkeit und Mündlichkeit
führenden Schicht nehmen sich v. a. der Pro sa,
die der übrigen Schichten eher der Dichtung In der späten Republik wird Schriftlichkeit
an, was sich jedo ch seit der Klassik lo ckert zu einem unabdingbaren Bestandteil der Zi-
und nur no ch als Tendenz spürbar bleibt vilisatio n („[...] the Ro man wo rld was no w
[Fuhrmann 1974, 21 ff]). Die römische Pro sa dependent o n writing“ [Harris 1989, 232]);
setzt mit der Geschichtsschreibung gegen gleichwo hl behauptet die Mündlichkeit ihren
Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. auf grie- Rang. In vielen Bereichen, wie Recht o der
chisch ein; die eigene Sprache wird o ffenbar Religio n (s. o . 2), herrscht Ko existenz; auch
als no ch nicht entwickelt genug empfunden: für die Literatur im engeren Sinne gilt: „Les
Es dauert mehr als 80 Jahre, bis sich das o euvres écrites [...] restent en effet étro itement
liées à des conduites orales“ (Hadot 1983, 28).
522 IV. Schriftkulturen

Dies betrifft zum einen die Pro duktio nsseite: zu diesem Zeitpunkt geschieht, nicht geklärt
Oft diktiert man einem Steno graphen (Do - sind (Ro berts & Skeat 1983). Der Perga-
randi 1991; in der Spätantike vo rherrschend: mentko dex birgt eine Reihe vo n erheblichen
Hagendahl 1971). Beso nders rührt dieses Vo rteilen: Er ist widerstandsfähiger, leichter
Nahverhältnis jedo ch vo n der Rezeptio ns- auf Reisen mitzunehmen, erlaubt rasches
weise: Lesen ist nahezu gleichbedeutend mit Nachschlagen vo n Stellen und speichert das
lautem Lesen. Auf dem Hintergrund dieser 6-fache an Text. Darüberhinaus eröffnet er
selbstverständlichen Praxis erscheint leises der Buchmalerei neue Möglichkeiten, die bald
Lesen als Ausnahmefall (Balo gh 1927; zur zu einem führenden Kunstzweig avanciert
Kritik vo n Kno x 1968 Lefèvre 1990, 14 f). (Weitzmann 1977; Geyer 1989). Für die Um-
Der materiale Grund liegt im Schreibsystem: schrift der früheren Literatur auf Ko dizes ist
Das herrschende o rth o graphische Prinzip die Metapher des ‘Flaschenhalses’ der Über-
‘Schreibe, wie du sprichst’ findet sein Ko rrelat lieferung geprägt wo rden. Eine Schlüsselro lle
in der Anweisung ‘Lies, indem du sprichst’ ko mmt hierbei dem heidnisch-senato rischen
(Raible 1991, 22 ff; 36). Hinzu ko mmt seit Symmachuskreis (um 400) zu, der durch sy-
augusteischer über die Kaiserzeit hinweg ein stematisches Ko pieren viele Werke der römi-
ausgedehntes Rezitatio nswesen, o ft der Ort schen Literatur rettet (zur Überlieferungsge-
des Erpro bens no ch unfertiger Werke o der schichte Reynolds & Wilson 1991).
dann der ‘Erstpublikatio n’ (Lefèvre 1990). Die Spätantike wird insgesamt durch die
Dem Umstand, daß Dichtung wie Pro sa auf Spannung zwischen Ko ntinuität und Über-
lautliche Realisierung hin angelegt sind, ent- gang charakterisiert. Dies gilt auch für die
springen daher vielerlei mündliche Strukturen Schriftkultur. Zum einen dient ein zähes Fest-
der Literatur. Allgemein läßt sich sagen, daß halten an der Traditio n als Garant kulturel-
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Praxis ler Identität (Herzo g 1989, 10). Entsprechend
nicht als miteinander ko nkurrierend, so ndern tritt die Tätigkeit des Exzerpierens und Sam-
als ko mplementär begriffen werden. Ein auf- melns in den Vo rdergrund: Literarische Leit-
schlußreiches Indiz bildet die Termino lo gie fo rmen sind etwa Kurzfassungen, Auszüge
für den Buchstaben, in der die Unterschei- und Antho lo gien, ferner Scho lien und Ko m-
dung ‘pho nisch/graphisch’ sich nicht durch- mentare (Herzo g 1989, 32). Eine der größten
setzt, littera vielmehr im Regelfall als Ober- und fo rtdauerndsten Leistungen ist die Ko -
begriff beide Seiten umfaßt (Vogt-Spira 1991). difizierung des Rechts, die in Iustinians Ge-
setzgebungswerk gipfelt, dem später so g.
‘Co rpus Iuris Civilis’: Es umfaßt den Codex
4. Wandel in der Spätantike Iustinianus, das Rechtslehrbuch der Institutio-
Der überko mmene schriftliche Nachlaß der nes sowie die Digesten in 50 Büchern, Auszüge
Spätantike (zu Perio disierung und Deutungs- aus ca. 2000 Schriften römischer Juristen seit
geschichte Demandt 1989, 470 ff) ist umfang- der Republik (Kunkel 1980, 146 ff). Ein we-
reicher als der des gesamten vo rangehenden sentlicher Fakto r der Ko ntinuitätsstiftung ist
Altertums. Dies hängt v. a. mit zwei Fakto ren ferner die traditio nelle Bildung: Die Gram-
zusammen: den Christen als neuen Pro duzen- matik, die hier ihre Blütezeit erlebt, leistet
ten und Trägern der weiteren Überlieferung die „Reko nstitutio n der sprachlichen Kultur“
so wie der ‘Buchrevo lutio n’ des Ko dex mit der (Schmidt 1989 b, 101) — ihre Vertreter Do nat
Fo lge einer Selektio n des Älteren. Die Ko - und Priscian bewahren bis in die Neuzeit ka-
dexfo rm ist bei mittels Ringen zusammenge- no nische Geltung — und vermittelt zugleich
fügten klappbaren Ho lztäfelchen scho n lange einen Klassikerkano n. Auf diese Klassiker
in Gebrauch; auch in Verbindung mit Perga- sind auch Praxis und Selbstverständnis der
ment wird sie früh erwähnt. Sie findet v. a. im Dichtung ausgerichtet. Gleichwo hl vo llzieht
Geschäftsleben Verwendung, do ch gilt sie sich hier eine Verschmelzung mit Neuem. Ge-
etwa bei den Juristen des 3. Jahrhunderts rade für die literarische Blütezeit 374—430
n. Chr. no ch als nicht vo rnehm (Hunger 1961, (Fuhrmann 1967) ist eine Mischung traditio -
47). Bevo rzugter Schriftträger für die Litera- neller Gattungen und z. T. die Verbindung mit
tur ist die Papyrusro lle (zu den gebräuchli- biblisch-exegetischen Verfahrensweisen cha-
chen Beschreibst o ffen insgesamt Hunger rakteristisch. Denn das Christentum ist die
1961, 27; → Art. 8). Im 4. Jahrhundert setzt andere kulturelle Macht: Dies schlägt sich in
sich dann rasch, parallel zum Siegeszug des der Schriftkultur scho n darin nieder, daß der
Christentums, der Ko dex gegenüber der Ro lle größte Teil der spätantiken Literatur vo n den
durch, wo bei die Gründe, warum dies gerade Kirchenvätern stammt. Ferner hat der Wan-
38.  Die lateinische Schriftkultur der Antike 523

del der kirchlichen Kultsprache zum Latein della scrittura nell’Italia antica. Scrittura e Civiltà
Ende des 3. Jahrhunderts eine Fülle vo n 2, 5—33.
Übersetzungen zur Fo lge, darunter die Bibel- Cugusi, Pao lo . 1983. Evo luzio ne e fo rme dell’ epi-
übertragung des Hieronymus. stolografia latina. Roma.
Bei all dieser gewaltigen literarischen Pro - Demandt, Alexander. 1989. Die Spätantike. Mün-
duktio n ist freilich ein allgemeiner Rückgang chen.
der Alphabetisierung nicht zu übersehen (zur Desbo rdes, Franço ise. 1990. Idées Ro maines sur
Entwicklung des Verhältnisses vo n schriftli- l’écriture. Lille.
cher und mündlicher Ko mmunikatio n in Dihle, Albrecht. 1988. Die griechische und lateini-
Spätantike und frühem Mittelalter Banniard sche Literatur der Kaiserzeit. München.
1992). Indiz ist die fo rtschreitende Abnahme
vo n Zahl und Bedeutung der Inschriften; Dilke, O. A. W. 1977. Ro man Bo o ks and their
auch das Schulwesen erlebt einen allmähli- Impact. Leeds.
chen Niedergang (Cavallo 1983, 181; De- Döpp, Siegmar. 1989. Nec o mnia apud prio res me-
mandt 1989, 6; Harris 1989, 287). Die Trä- liora. Rheinisches Museum 132, 73—101.
gerschicht antiker Bildung wird immer dün- Do randi, Tiziano . 1991. Den Auto ren über die
ner. Traditio nswahrung und Buchpro duktio n Schulter geschaut. Arbeitsweise und Auto graphie
gehen in die Obhut vo n Klöstern und diesen bei den antiken Schriftstellern. Zeitschrift für Pa-
angeschlo ssenen Schreibschulen über (Ca- pyrologie und Epigraphik 87, 11—33.
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524 IV. Schriftkulturen

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39.  Die arabische Schriftkultur 525

39. Die arabische Schriftkultur

1. Ursprung und Zentrum der arabischen Die Offenbarungen, die Muhammad vo n


Schriftkultur: Die Schreibung des Korans 610 an erhielt, wurden vo n einigen seiner An-
2. Die Kursivschriften hänger niedergeschrieben, wo bei man sich der
3. Stilarten der Kursivschriften; geographische verschiedensten Materialien bediente — glatte
Verbreitung weiße Steine, Pergament, Leder, Kno chen,
4. Buchstabenmystik Palmblätter usw. Diese Fragmente, die wahr-
5. Kalligraphie scheinlich im Hause vo n Muhammads To ch-
6. Das Aljamiado-Phänomen ter, der Frau des zweiten Kalifen Omar (r.
7. Ausblick 634—644) bewahrt wurden, wurden unter
8. Literatur dem dritten Kalifen, ‛Uthmān (r. 644—656)
in einem Ko dex, muṣḥaf, zusammengestellt,
in dem nach einer kurzen Einleitungssura, der
Fātiḥa, die Kapitel, sūra, in absteigender
Länge angeo rdnet sind; nach dem Einheits-
bekenntnis, Sura 112, fo lgen no ch zwei kurze
Suren, Gebete um Schutz. Diese Ano rdnung
wurde maßgeblich für alle Zeiten, und Ko pien
des ersten mushaf wurden in die Pro vinz-
hauptstädte geschickt, um eventuell umlau-
fende Abweichungen zu vereinheitlichen.
Abb. 39.1: Basmala in tauqī‛-Schrift; Ahmed Ka-
rahisari, ca. 1540 Scho n bald waren die Fro mmen der bis heute
herrschenden Meinung, daß alles, „was zwi-
schen den beiden Buchdeckeln steht“, Go ttes
ungeschaffenes Wo rt ist; deshalb darf man
1. Ursprung und Zentrum der den Ko ran nur im Zustand körperlicher ri-
arabischen Schriftkultur: tueller Reinheit berühren und rezitieren.
Die Schreibung des Korans Das Ko ranexemplar, das für ‛Uthmâns
Original gehalten wird, ist in eckigem, un-
Das ‘Buch’ ist ein beso nderes Kennzeichen schönem Stil geschrieben. Die Funde vo n frü-
der islamischen Kultur. Im Ko ran wird die hen Ko ranfragmenten, die seit 1971 im Dach
Offenbarung in erster Linie mit diesem Na- der Gro ßen Mo schee vo n Sanaa, Jemen, ge-
men, kitāb, bezeichnet, und diejenigen, die ein macht wo rden sind, können möglicherweise
Buch besitzen, ahl al-kitāb (Juden, Christen, mehr Aufschluß über die Stilentwicklung ge-
Sabier) werden anderes behandelt als die Völ- ben. Der Fund in Sanaa erklärt sich daraus,
ker o hne Offenbarungsschrift. Das führt daß man Ko ranexemplare wegen ihrer Heilig-
dazu, daß die Schrift eine beso ndere Ro lle im keit nicht vernichten darf — daher auch die
islamischen Raum erhält. Tendenz, beschriebenes Papier zumindest
so rglich aufzuheben, weil ja der Name Go ttes
1.1.  Die arabische Schrift hat sich aus dem darauf stehen könnte, und weil die Buchsta-
west-semitischen Alphabet entwickelt und ben baraka, Segenskraft, in sich tragen.
läuft, wie dieses, vo n rechts nach links. Daß Die eckige Schrift erscheint in verschiede-
Schreiben im vo rislamischen Mekka und Me- nen Varianten, wo bei ein mā’il genannter
dina, zwei Handelsmetro po len, bekannt war, Duktus, wie der Name sagt, „geneigt“, d. h.
geht aus dem Ko ran hervo r, der darauf be- rechtsschräg ist. Die ältesten Ko ranfragmente
steht, daß Verträge schriftlich fixiert und dann sind auf Pergament geschrieben und fast
vo n zwei Zeugen bestätigt werden. Dieses Ne- ausschließlich im Breitfo rmat gehalten; o ft
beneinander vo n schriftlicher Aufzeichnung stehen nur wenige — drei bis sieben — Zeilen
und mündlicher Verifizierung blieb lange ty- auf der Seite. Diese Exemplare so llten mehr
pisch für die islamische Welt und ist bis heute o der minder als Gedächtnisstütze dienen, da
z. B. in den Kreisen der Mystiker zu finden, die Rezitato ren den Text auswendig kannten.
die — mit Recht — darauf bestehen, daß das Punkte in verschiedener Farbe, um die in
lebendige Wo rt des Meisters zum Verständnis vielen Fällen einander gleichenden Ko nso -
der schriftlichen Traditio n unbedingt no twen- nanten zu unterscheiden, und Vo kalzeichen,
dig sei: „Man muß auch das Weiße zwischen ebenfalls durch Farben vo m Textgerippe un-
den Buchstaben lesen!“ terschieden, kamen gegen Ende des 7. Jahr-
hunderts auf. Da das Arabische ein geradezu
526 IV. Schriftkulturen

mathematisch gegliedertes grammatisches Sy- nahmen, entwickelte sich der Schreibstil. Ko -


stem hat, kann man die kurzen Vo kale ent- rane wurden freilich no ch eine lange Zeit im
behren. Pro fane Texte werden bis heute o hne
Vo kalzeichen geschrieben bzw. gedruckt, wo -
bei man natürlich hin und wieder falsch vo -
kalisieren und damit den Sinn verdrehen
kann.
Da aber nicht nur die Vo kalisatio n, so n-
dern auch die diakritischen Punkte nicht im-
mer richtig gesetzt wurden, kann man hand-
schriftliche, nicht-ko ranische Texte auch miß-
verstehen; eine spezielle Literaturgattung be-
faßt sich mit histo risch bezeugten Verlesun-
gen: es ist ja ein Unterschied, o b man ein
sibbūr ‘Täfelchen’ im Ärmel trägt o der
ein sinnaur, eine Katze ...
Obgleich es in der Frühzeit lo kale, vo nein-
ander leicht abweichende Stilarten gab, faßt
man die frühen eckigen Schriften gewöhnlich
unter dem Sammelnamen Kufi (nach der ira- Abb. 39.3: Iranisches Kufi, ca. 12. Jahrhundert
kischen Stadt Kufa) zusammen. Diese steile
Schrift entwickelte sich in kurzer Zeit zu gro -
ßer Schönheit — die frühen Ko dices in kufi- Breitfo rmat auf Pergament geschrieben, do ch
scher Schrift haben, wie Martin Lings (1976) gegen Ende des 10. Jahrhunderts erscheinen
mit Recht sagt, eine „iko nische“ Qualität — ho chfo rmatige Ko dices, in denen die Hasten
denn Go ttes Wo rt so ll so schön wie möglich lang nach o ben ausgezo gen sind, während die
geschrieben werden (s. Abb. 39.2 auf Tafel anderen Buchstaben eher kriechend wirken
VI). Ko ranko dices auf farbigem Papier o der (Abb. 39.3). Die meisten dieser Ko rane, die
Pergament, wie der in Go ldschrift auf blauem nun auf kräftigem Papier geschrieben werden,
Pergament, dessen Hauptteil in Tunesien liegt stammen o ffenbar aus der östlichen islami-
und vo n dem zahlreiche Blätter in Museen zu schen Welt (Iran, Afghanistan), da sich ge-
finden sind, heben sich beso nders hervo r. naue Parallelen zu in der Epigraphie verwen-
Zum Schreiben benutzte und benutzt man deten Formen feststellen lassen.
no ch eine Ro hrfeder, deren Breite je nach dem Das Kufi wurde nämlich nicht nur für Ko -
Buchfo rmat wechselt; die verschiedenen Re- rane verwendet, so ndern vo n früh an auch
zepte, braune, schwarze, blaue o der ro te Tinte für Grabsteine und Bauninschriften, so wie zu
herzustellen, waren wahrscheinlich, wie heute einem etwas späteren Zeitpunkt zur Verzie-
no ch, Berufsgeheimnisse der Kalligraphen. rung vo n Keramik und Metallwerk. An den
Miniaturko rane (der bekannteste hat ein Fo r- Grabsteinen vo m frühen 8. Jahrhundert an
mat vo n 3 × 8 cm mit 14 Zeilen pro Seite) erkennt man die Entwicklungsmöglichkeiten
dürften für reisende Gelehrte bestimmt ge- dieser Schrift: die Hasten werden in palmet-
wesen sein, und im späteren Mittelalter wur- tenartige Endungen ausgezo gen, so daß „blü-
den Ko ranexemplare geschrieben, die unter hende“ Fo rmen entstehen; die aus Raum-
einen Siegelring paßten. Do ch im ganzen hielt gründen o ft weit auseinandergez
o genen
man sich an die Mahnung, Go ttes Wo rt gro ß Buchstaben sind mit Deko ratio nen gefüllt,
und feierlich zu schreiben. Da kaum vo llstän-
dige Ko rane aus der Frühzeit o der Ko lo pho ne
erhalten sind, ist es fast unmöglich, Ur-
sprungso rt o der Schreibernamen festzustel-
len. Sicher scheint, daß ein kufischer Stil mit
weiten Ausschwingungen der runden End-
buchstaben im Westen verwendet wurde, da
er eine Vo rstufe zum Maghribi bilden dürfte
(s. 4.1.2.). Mit der Einführung des Papiers, Abb. 39.4: Das Wort Allah in Flechtkufi (Ost-Iran,
das die Muslime 751 vo n den Chinesen über- 12. Jh.)
39.  Die arabische Schriftkultur 527

und schließlich entwickelt sich neben dem Flechtkufi und die anderen verfeinerten Fo r-
„blühenden“ Kufi, das seinen Höhepunkt in men dieses Stils nie in die eigentliche Kalli-
der Epigraphik des 10. bis 12. Jahrhunderts graphie überno mmen, da der Text, in die-
hat, das so genannte Flechtkufi, bei dem die sem Falle der heilige Text des Ko rans, les-
langen Hasten in ko mpliziertem geo metri- bar bleiben mußte. Interessanterweise tauch-
schen Flechtwerk verbunden sind (Abb. 39.4). ten höchst ko mplizierte „blühende“ Fo rmen
Meisterwerke des Flechtkufi entstanden im scho n vo r dem Jahr 1000 auf Keramiken aus
frühen 13. Jahrhundert in Anato lien, Ost-Iran Ost-Iran auf (Abb. 39.5). Keramik-Inschrif-
und Indien (die Inschrift an Iltutmischs Grab ten bieten z. T. interessante Texte vo n Sprich-
in Delhi; Inschriften vo n Diyarbekir, Sivas wörtern und, später, persischen Gedichten.
und Ko nya). Diese äußerst reizvo lle Schrift- Die Ko mbinatio n des schlanken Typs mit
fo rm war aber kaum mehr leserlich; do ch ho chragenden Hasten auf lebhaftem Palmett-
wußte man, daß sie, als Trägerin vo n baraka, grund taucht fast gleichzeitig, um 1200, in
auch einfach als Iko ne betrachtet, Segen Handschriften und Inschriften in Ost-Iran
übermittelte. Verständlicherweise wurde das auf.

Abb. 39.5: Blühendes Kufi auf Keramik, Nischapur, ca. 900


528 IV. Schriftkulturen

Kufische Lettern wurden fast ausschließ- der Analphabeten war es eindrucksvo ll genug,
lich für arabische Texte verwendet; nur ganz wenn ein Mystiker o der Arzt „ein Buch mit
wenige persische Texte in Kufi sind bekannt, arabischen Lettern“ öffnete: der Glaube an
so in Nachtschewan im Araxestale und in die Buchstaben allein wirkte Wunder, und
Ghazna (Afghanistan). Die Verfeinerung des einfache Leute in Bengalen mo chten wo hl
epigraphischen Kufi war in der zweiten Hälfte Steine, auf denen sie arabische Buchstaben
des 13. Jahrhunderts jedo ch so weit fo rtge- sahen, mit Öl begießen und für heilig halten.
schritten, daß es nur no ch zu Zierzwecken
verwendet wurde, und wie sich auch in der
Epigraphik jener Zeit bereits die leserlichere 2. Die Kursivschriften
Kursivschrift allgemein durchgesetzt hatte, so
erscheint das Kufi in verschiedenen raffinier- Während Kufi die feierliche Schrift par excel-
ten Fo rmen nur no ch als Deko ratio nselement lence war, bestand natürlich daneben eine
Kursive. Briefe und frühe Urkunden wurden
für Überschriften in Büchern o der, in mo der- in flüchtiger Schrift, o ft auf Papyrus, gekrit-
ner Zeit, als Auszeichnungsschrift. Das so - zelt, do ch bereits in den Kanzleien der ersten
genannte quadratische Kufi, das zunächst in islamischen Dynastien scheint es verschiedene
Ziegelbauten des frühen Mittelalters auf- Fo rmen der Kursive gegeben zu haben, vo n
taucht, weil es sich mit Hilfe vo n rechteckigen denen man jedo ch keine Beispiele kennt. Sie
Lehmziegeln leicht herstellen ließ, ko mmt sind nur aus der Literatur belegbar. Gro ße
vo m 14. Jahrhundert an vo r allem in Fliesen- Maße waren o ffenbar für wichtige Urkunden
werk vo r und bedeckt die Wände und Mina- üblich (man hört scho n um 715 vo n der Ab-
rette iranischer und zentralasiatischer Sakral- neigung eines Kalifen gegen die in seinem
bauten. Es wird jetzt vo n mo dernen Künst- Büro übliche Materialverschwendung). Die
lern gern als Grundlage für künstlerische Ex- Schriftnamen thuluth, „ein Drittel“ und thu-
perimente benutzt. luthain, „zwei Drittel“ beziehen sich auf das
In der mittelalterlichen Epigraphik, vo r al- Fo rmat des Schreibmaterials, dem entspre-
lem auf Metall, wurde die Schrift gelegentlich chend Schriftgrad und Federbreite gewählt
amüsant umgefo rmt; es gibt „redende“ Al- wurden. Urkunden wurden o ffenbar meist ge-
phabete, deren Buchstaben alle in Menschen- ro llt, wie no ch in späterer Zeit, und in o ft
köpfen enden (Abb. 39.6), und die verschie- ko stbaren Hüllen aufbewahrt. Die Einfüh-
densten zo o mo rphen Fo rmen, beso nders für rung des Papiers erleichterte das Schreiben,
Segenswünsche für den künftigen Besitzer und vo m späten 8. Jahrhundert wurden dank
eines Gefäßes. dem neuen Schreibmaterial in wachsender
In all diesen Fällen ist es die Heiligkeit der Anzahl Bücher geschrieben. Waren die klas-
Schrift — selbst der unleserlichen —, die den sischen arabischen Gedichte in der Regel
Betrachter bewegte, und für die gro ße Anzahl mündlich überliefert wo rden, eventuell mit ein

Abb. 39.6: Segensinschrift auf Bronzegefäß in zoomorpher und anthropomorpher Form. Mosul, 11. Jahr-
hundert
39.  Die arabische Schriftkultur 529

paar No tizen zur Gedächtnisstütze, so waren scho n im 8. Jahrhundert bis an die fernsten
nun die Kalifen und Gro ßen des sich aus- Enden der damaligen islamischen Welt getra-
dehnenden Reiches daran interessiert, Biblio - gen — in Westen bis nach Spanien, im Osten
theken aufzubauen, und bald beginnt eine nach Zentralasien und dem westlichen Teil
erstaunliche Buchpro duktio n so wo hl in Po e- des indischen Subkontinents.
sie als in Pro sa: histo rische und geo graphi- Die persischen Muslime, die ihre wissen-
sche Werke, die zahlreichen Übersetzungen schaftlichen Werke zunächst größtenteils auf
aus dem Griechischen, die vo m Anfang des Arabisch schrieben (das eine ähnliche Funk-
9. Jahrhunderts verfertigt wurden; religiöse tio n wie Latein im euro päischen Mittelalter
Texte wurden ko piert, und man liest vo n fast hatte), begannen auch für ihre Muttersprache
unglaublichen Leistungen einiger Auto ren, die arabische Schrift anzuwenden, o bgleich
die bis zu 30 Seiten an einem Tage geschrieben das arabische Alphabet durch die Vieldeutig-
haben so llen. Die Sekretäre, die für den Ho f keit seiner Buchstabenfo rmen und den Man-
arbeiteten, spielten eine beso ndere Ro lle in gel an kurzen Vo kalen für nicht-semitische
der Entwicklung eines eleganten Pro sastiles, Sprachen nicht gerade geeignet ist. Do ch be-
der die arabische Sprache no ch geschmeidiger reits im 10. Jahrhundert wurde es auch für
machte. Die einfachen Abschreiber, meist persische Werke verwendet, und zwei Jahr-
schlecht bezahlt, taten die Kärrnerarbeit. hunderte später werden türkische Texte mit
Do ch no ch immer galt es, daß etwa die Tra- arabischen Buchstaben geschrieben. Im Per-
ditio nen, ḥadīth, die auf den Pro pheten zu- sischen wurden im Laufe der Zeit vier Zu-
rückgehen, primär mündlich überliefert wur- satzbuchstaben eingeführt; in anderen Gebie-
den, und erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts ten versuchte man durch zusätzliche diakri-
werden die ḥadīthe, die zum Teil schriftlich tische Punkte emphatische, nasalierte o der
fixiert waren (wiederum als Gedächtnis- andere im Arabischen unbekannte Laute wie-
stütze), in vo llständige Bücher zusammenge- derzugeben. Wenn man im Osmanisch-Tür-
faßt. Das gleiche gilt vo n Ko ranko mmenta- kischen die Zeichen sieht, wird man
ren. das nicht, wie für den Araber zu erwarten, als
Vo n der Menge des schriftlich niedergeleg- kūk( a)l aussprechen, os ndern gönül. Im
ten Sto ffes erhält man einen Eindruck durch Sindhi ist nicht munhunǧū, sondern
das Werk eines Bagdader Buchhändlers, Ibn
an-Nadīm (gest. 995), das schlicht Fihrist, mũǧō.
„Katalo g“ betitelt ist und nicht nur die zu Do ch die arabische Schrift stellt für die
seiner Zeit verfügbaren Bücher auflistet und islamische Welt ein Zeichen der Zusammen-
analysiert, so ndern auch vo n den verschie- gehörigkeit dar, und selbst Länder, die ihre
denen Kursivstilen spricht, die damals im eigenen Alphabete beibehalten haben, wie
Umlauf waren. Leider fehlen Bilder, nach de- etwa das muslimische Bengalen, haben da-
nen man sich die Fo rmen vo rstellen kann. neben eine Literatur in arabischen Buchsta-
Nur eines ist vo n früh an sicher: die Schrift- ben gehabt, die man in den fünfziger Jahren
arten, die in den Kanzleien verwendet wur- des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben trach-
den, zeichneten sich durch beso ndere Schwie- tete, um durch die ḥurūfal-qur’ān, die „Buch-
rigkeit aus, damit keine Fälschungen vo rko m- staben des Ko rans“, die Einheit des damals
men ko nnten. Das musalsal, die ineinander- Ost-Pakistan bildenden Landes mit West-Pa-
geschlungene „Kettenschrift“, war so ko m- kistan zu betonen.
pliziert, daß Dschalāladdīn Rūmī (gest. 1273)
in einem persischen Gedicht klagt:
Du schreibst mir in musalsal — 3. Stilarten der Kursivschriften;
Das heißt, ich soll es nicht lesen können ... geographische Verbreitung
In späterer Zeit waren tauqī‛ und dīwānī im Die arabische Schrift, die sich überall ver-
arabischen und no ch mehr im persisch-tür- breitete, war kurz nach 900 bestimmten Re-
kischen Bereich als beso nders schwer zu ent- geln unterwo rfen wo rden. Der Wezir Ibn
ziffernde Kanzleischriften bekannt. Muqla (hingerichtet 940) war der erste, der
Denn die arabische Schrift breitete sich die Buchstaben mit Hilfe eines höchst verfei-
aus, wo immer Muslime lebten, da das reli- nerten geo metrischen Prinzips maß und ihnen
giöse Ritual auf Arabisch gehalten, der Ko ran ihre Idealfo rmen gab. Der erste Buchstabe
in arabischen Buchstaben geschrieben wird; des Alphabets, alif (in seiner einfachsten
und die Verwaltungssprache war für lange Fo rm ein senkrechter Strich), wurde zum
Zeit Arabisch. So wurde die arabische Schrift Maß für alle Buchstaben, die entsprechend
530 IV. Schriftkulturen

der Dicke der Ro hrfeder und in genauen Pro - gerundete Fo rmen aufweist und vo r allem in
po rtio nen mit Hilfe vo n Kreisen, Halbkreisen der Epigraphik verwendet wurde o der auch
und Dreiecken gestaltet wurden (Abb. 39.7). als Auszeichnungsschrift in nasḫ-Texten (Abb.
Zur gleichen Zeit entwickelte sich in der is- 39.9). Riqā ‛ und tauqī‛ sind größere und ko m-
lamischen Mystik eine kabbalistische Buch- pliziertere Fo rmen, die o ft in Kanzleien ver-
stabenmystik, so daß beide Aspekte der isla- wendet wurden. Jede dieser Stilarten hat no ch
mischen Kultur sich begegneten, ja sich zahlreiche Nebenfo rmen (s. Abb. 14.16 für
durchdrungen haben. Ibn Muqlas System der eine Synopse verschiedener Stilarten).
Kreise und Punkte wurde vo n Ibn al-Bawwāb Die sechs Stilarten blieben für die gesamte
(gest. um 1022) verfeinert; der ihm zugeschrie- islamische Welt das Idealgerüst, aber es gab
bene Ko ran (in der Chester Beatty Library auch Gegenden, in denen sie sich nur bedingt
Dublin) zeigt bereits die Eleganz der arabi- durchsetzten. Eine davo n ist der Maghreb
schen Kursive, die uns vertraut ist. Nach einer (No rdafrika und Spanien), wo es zwar genug
Reihe weiterer Meisterkalligraphen im zen- Meister der klassischen Stilarten gab, wo man
tralislamischen Raum, unter denen auch eine aber im allgemeinen das so genannte Maghribi
Kalligraphin, Šuhda, herausragt, wurde das vo rzo g, eine sichtlich aus dem westlichen Kufi
Ideal erreicht durch Jāqūt al-Musta‛şimī abgeleitete Schrift, auf die die Refo rm Ibn
(gest. 1298), dessen sechs Meisterschüler sich Muqlas nicht angewendet wurde. Die Buch-
in den sechs Stilarten ausgezeichnet haben staben sind dünner, die runden Endaus-
so llen. Neben der no rmalen Schreibschrift, schwingungen gro ß und ziemlich unregelmä-
nasḫ, die der heute im Buchdruck verwende- ßig, und die Schrift ermangelt der Harmo nie
ten Fo rm zugrunde liegt, wurde im Mittelalter der klassischen Kursive. Ibn Chaldun, der
vo r allem für Ko ranexemplare das gro ße mu- tunesische Geschichtsphilo so ph (gest. 1406),
ḥaqqaq verwendet, dessen alif sehr ho ch ist erklärt das damit, daß die Schreiber, nicht so
und bei dem die Endungen der Buchstaben gut gebildet wie ihre Ko llegen im Zentralge-
in scharfe Spitzen ausgehen (s. Abb. 39.8 auf biet, gleich ganze Wörter schreiben und nicht,
Tafel VII). Der größte in diesem Stil bekannte wie die klassischen Regeln es verlangen, die
Ko ran (aus der Zeit um 1400) mißt 107 zu Buchstaben einzeln üben, bis Buchstaben und
177 cm, mit sieben Zeilen pro Seite. Eine no ch Ligaturen genau dem Idealschema entspre-
heute gebräuchliche Fo rm dieser „tro ckenen“ chen. — Ko rane wurde im Maghreb bedeu-
Schrift ist das rīḥānī, ebenfalls gern für Ko - tend länger als im Osten auf Pergament ge-
rane und wichtige Bücher verwendet. Diesen schrieben, häufig in Go ldtinte, und die Manu-
Fo rmen mit ziemlich flachen Unterlängen skripte sind o ft sehr reizvo ll farbig deko riert
steht das weiche thuluth gegenüber, das stark (Abb. 39.10). Spanisch-arabische Handschrif-

Abb. 39.7: Messung der Buchstaben nach Ibn Muqla


39.  Die arabische Schriftkultur 531

Abb. 39.9: Schmuckblatt mit religiösen Texten in nasḫ und thuluth, Ahmed Karahisari, ca. 1540
532 IV. Schriftkulturen

Abb. 39.11: Buchstabenverbindungen in nasta‛liq,


Iran, 17. Jahrhundert

wurde, der zwischen zwei Lagen Schreibma-


terial gepreßt wurde). Entsprechend den Ge-
gebenheiten der persischen Sprache herrsch-
ten nach links ausschwingende Endungen vo r
und gaben der Schrift ein gewisses Schwer-
gewicht, so daß die Schrift etwas stärker vo n
rechts o ben nach links unten bewegt ist. Die-
ser „hängende“ Stil, ta‛līq, wurde dann — so
heißt es — um 1400 vo n Mīr ‛Alī vo n Täbriz
den Regeln Ibn Muqlas unterwo rfen, so daß
die Lettern genaue Abmessungen erhielten,
denen entsprechend der persische und türki-
sche Kalligraph auch heute no ch seine Buch-
staben fo rmt. Dieser nasta‛līq genannte Stil
errreichte seine Vo llendung am Timuridenho f
Abb. 39.10: Seite aus einem Koran, Gold auf Per-
in Herat, wo Sultan ‛Ali Maschhadī (gest.
gament, Maghribi-Schrift, Spanien-Nordafrika ca. 1519) und sein Schüler Mīr ‛Alī Harawī (gest.
11. Jahrhundert in Buchara um 1550) Meisterwerke eleganter
Kalligraphie schufen, die bald im gesamten
Orient, so weit er unter persischer Kulturvo r-
ten verwenden eine engere, kleine und sehr herrschaft stand (o smanische Türkei, Indien)
elegante Variante des Maghribi. bewundert wurde (Abb. 39.11). In Iran selbst
Vo n No rdafrika aus verbreitete sich das war es Mīr ‛Imād (ermo rdet 1615), dessen
Maghribi nach Westafrika, wo sich eine etwas Beispiel bis heute als richtunggebend gilt. Für
starrere, kräftige Fo rm herausbildete, do ch das Arabische eignet sich der „hängende“ Stil
hat die kulturelle Aktivität der nahöstlichen nicht. Man hat das schwingende, elegante na-
Länder und die zahllo sen in Ägypten ge- sta‛līq als „Braut der Schriften“ bezeichnet,
druckten und nach Afrika impo rtierten Bü- weil es vo r allem für Po esie geeignet ist. In
cher auch do rt das no rmale klassische nasḫ späterer Zeit wird nasta‛līq in Iran und Indien
immer mehr gestärkt. auch in der Epigraphik verwendet. Im no r-
Am anderen Ende der islamischen Welt, in malen Schreibgebrauch entwickelte sich do rt
Indien, entwickelte sich das Bihari, ähnlich im 17. Jahrhundert die šikasta, „gebrochene
dem Maghribi durch weite Endungen und Schrift“, die bis heute die persische Hand-
verhältnismäßig unregelmäßige Buchstaben- schrift do miniert, den Leser aber vo r schwie-
fo rmen charakterisiert; auch hier sind die be- rige Probleme der Entzifferung stellt.
sten Ko ranexemplare — und Bihari wurde Mehr als in anderen islamischen Gebieten
o ffenbar ausschließlich für Ko rane verwendet wurden im persisch beeinflußten Raum nicht
— mit kühnen farbigen Motiven verziert. nur Bücher verschiedenster Art geschrieben,
Die klassischen Regeln wurden nach eini- so ndern die Kunst der Einzelblätter entwik-
ger Zeit auch auf das Persische angewandt. kelte sich zu ungeahnten Höhen. Man schrieb
Altere persische Handschriften weisen ein Wo rte des Pro pheten o der fro mme Sprüche,
ziemlich steifes nasḫ auf; andere Texte, vo r kleine Liebesgedichte o der Chro no gramm-
allem Kanzleitexte, sind in einem „hängen- Verse auf Einzelblätter, o ft aus feiner Pappe,
den“ Stil geschrieben, d. h. die Schriftrichtung die dann mit Arabesken verziert o der mit
ist nicht abso lut waagerecht (was durch An- vegetabilischem Deko r, ja mit Miniaturen-
wendung eines „Lineals“, d. i. eines Rahmens, Bo rten umgeben o der auf Marmo rierpapier
auf den feine Fäden gespannt waren, erreicht
39.  Die arabische Schriftkultur 533

geklebt wurden — Gedicht und Deko r bil- fliegenden Spekulatio nen anregte, sahen die
deten eine Einheit. Dichter in den einzelnen Buchstaben des Al-
Dasselbe gilt für das nasḫ, das in der Türkei phabetes auch menschliche Fo rmen — das
durch Scheich Hamdullah (gest. 1519) weiter- schlanke alif gleicht der schlanken Gestalt
entwickelt wurde. Seine Albumblätter wie des/der Geliebten, das kleine runde m war
auch die seiner Schüler sind berühmt, und dem Mündchen vergleichbar, die sich lang
seine Tradition lebt bis heute fort.
Oft wurden im persischen Gebiet im 15. streckenden Buchstaben wie l o der ‛ain
und 16. Jahrhundert Verse in so genannte sa- ko nnten als Symbo l für die langen Lo cken
fīna „Bo o t“, geschrieben, kleine Hefte, die an dienen. Oder umgekehrt: lange schwarze Lo k-
der Schmalseite zusammengeheftet waren und ken um ein schönes Gesicht, das häufig mit
die man leicht im Ärmel o der im Turban mit einem fehlerlo s geschriebenen Ko ranexemplar
sich führen ko nnte, (also „Taschenbücher“). verglichen wird, sehen aus wie Marginalien,
Fragmente so lcher fein geschriebener safina an den Rand des ‘Buches der Schönheit’ ge-
wurden später, wenn das Büchlein zerlesen schriebene Erläuterungen. Das Wo rt ḫaṭṭ,
war, o ft ausgeschnitten und als Randdeko - „Schrift“ hat auch die Bedeutung „erster
ratio n für Miniaturen auf Buchseiten aufge- Bartflaum“, und so erfanden die Dichter un-
klebt. gezählte, und unübersetzbare, Wo rtspiele, in
denen sie den sprießenden Flaum des jungen
Geliebten als wunderbare Schrift ansahen, die
4. Buchstabenmystik ko stbarer als Jāqūt („Rubin“, auch Name des
Meisterkalligraphen) ist.
Kalligraphie war ein wichtiger Teil der Kultur. Der Ko ran bo t ebenfalls zahlreiche Ver-
Zwar gibt es nur wenige Gedichte, die beso n- gleiche mit und Anspielungen auf die Schrift.
ders schöne kalligraphische Pro dukte lo ben Würde man nicht am Jüngsten Tag das Buch
(so die persischen Verse des Mo ghul-Dichters der Taten in die Hand gelegt beko mmen, das
Kalīm, gest. 1551, der die berühmten Alben die Schreiberengel im Laufe des Lebens mit
der Mo ghulkaiser po etisch besang), aber un- ihren Aufzeichnungen gefüllt hatten? So ist
gezählte Dichter verglichen den Garten mit das Buch der Sünder ganz schwarz; aber da
einem Buch, o der ein Buch mit einem Ro sen- o rientalische Tinte wasserlöslich ist (und das
garten (der Titel vo n Sa‛dīs, gest. 1292), Gu- Abwaschen ungewünschter Bilder nicht selten
listān, „Ro sengarten“ war für so lche Sinn- war), ho fften die Dichter, diese Schwärze mit
spiele beso nders geeignet), und die hundert Tränen der Reue abwaschen zu können. Der
Blätter der Ro se ko nnten als Buch erscheinen, Gedanke der wo hlverwahrten Tafel, auf der
aus dem die Nachtigall den Text ihrer Lieder alles Künftige geschrieben ist, und der urewi-
las. Die ganze Welt erschien als ein Buch; gen Feder bo t ungeahnte Möglichkeiten zur
denn die arabische Schrift wurde nicht nur Verwendung vo n Schriftsymbo lik, und man
als das einzige Mittel angesehen, Go ttes ur- zögerte nicht, die Anfangswo rte vo n Sura 68,
ewiges Wo rt festzuhalten, o der als eine beso n- Nūn wa‛l-qalam, „N, und bei der Feder!“ auf
ders wichtige künstlerische Ausdrucksfo rm das urewige Tintenfaß, dem das n in seiner
(da Bilder mit menschlichen Darstellungen
verpönt waren), so ndern diente auch Mysti- iso lierten Fo rm ähnelt und die Feder des
kern und Dichtern als Inspiratio nsquelle. Geschicks anzuwenden. Ja, spätere Dichter
Man fand Parallelen zwischen den 28 Buch- mo chten behaupten, daß jeder Buchstabe (=
staben des Alphabets, den 28 Mo ndstatio nen Mensch) gegen den göttlichen Kalligraphen
und den 28 Pro pheten, die im Ko ran als Mu- Klage führt, da er ein Papierhemd trägt, d. h.
hammad vo rausgehend erwähnt sind. Die Li- auf Papier geschrieben ist (das Papierhemd
war im Mittelalter das Gewand des Klägers
gatur lām-alif , paßte (als 29. „Buch- bei Gericht) — d. h., alle Menschen sind mit
stabe“) zwar nicht in dieses Schema, diente ihrer Stellung auf dem „Blatt des Zeit“ o der
aber zu mannigfachen Vergleichen, die vo m ihren Nachbarn (die schlecht geschriebenen
lā des Glaubensbekenntnisses als eines zwei- Lettern ähneln) unzufrieden.
schneidigen Schwertes, das alles außer Go tt Neben dem „no rmalen“ symbo lischen Sinn
„abschneidet“, bis zum Sinnbild enger Um- der Buchstaben gab es no ch einen weiteren,
armung reichen. Und wenn die ganze Welt eso terischen Sinn. Alif, als erster Buchstabe
als Buch angesehen wurde, in dem sich Go ttes des Alphabetes mit seinem Zahlwert 1 ist das
Zeichen o ffenbarten, so ko nnte man die Men- Symbo l für den einen und einzigen Go tt; das
schen als Buchstaben darin ansehen. Wäh- alif zu kennen bedeutet bei den mystischen
rend dieser Gedanke die Mystiker zu ho ch- Dichtern, das göttliche Wesen zu erkennen.
534 IV. Schriftkulturen

Zeit o ft inspiriert, da man auf diese Weise


eine typisch „islamische“ Kunst zu schaffen
hoffte.

5. Kalligraphie
Die Ausbildung des Kalligraphen, der in all
diese Geheimnisse eingeweiht wurde, war lang
und mühselig. Der Anwärter mußte die rich-
tige Art des Sitzens lernen, das Papier mit
Stärke und einem Achat glätten, seine eigene
Tinte zubereiten und, das wichtigste Erfo r-
dernis, seine Feder entsprechend dem ge-
wünschten Stil mehr o der minder schräg an-
schneiden, mit einem kleinen Einschnitt nahe
der Mitte der Schnittkante, und er mußte
Mo nat um Mo nat jeden einzelnen Buchsta-
ben üben, bis er am Ende seine iǧāza, das
Diplo m, erhielt, das ihn o der sie ermächtigte,
Abb. 39.12: Sura 105, „Der Elefant“, in Elefanten- ein Schriftstück mit eigenem Namen zu zeich-
form. Indien, 19. Jahrhundert nen.
Da die Kalligraphen, wie die Gelehrten und
Künstler allgemein, einer bestimmten Tradi-
Man braucht dazu nicht die ungezählten tio nskette fo lgten, kann der Kenner beim An-
theo lo gischen Traktate, no ch die gewaltigen blick eines schönen Schriftstückes rasch er-
Biblio theken — e i n Buchstabe genügt. Ferner kennen, welcher Schule der Kalligraph ange-
hat jeder Buchstabe einen Zahlwert, und zwar hört hat. Während man nur wenige Namen
in der Reihenfo lge des alten semitischen Al- vo n Miniaturmalern kennt, ist die Anzahl der
phabetes. Dadurch ko nnte man geistreiche Kalligraphen, deren Lebensdaten einigerma-
Chro no gramme für beso ndere Ereignisse bil- ßen bekannt sind, sehr gro ß, und die Muslime
den, die zu einer eigenen Literaturgattung haben vo n früh an Fachbücher über die
wurden, vo r allem in den persisch beeinfluß- Kunst des Schreibens — sei es für die Kanz-
ten Gebieten. Indien dürfte das Land sein, leisekretäre, sei es für Spezialisten auf anderen
wo diese „spinnwebige“ Kunst zur höchsten Gebieten — verfaßt. In allen islamischen Län-
Entfaltung kam. Ein Beispiel: das Wo rt wāḥid, dern gibt es umfangreiche Sammlungen vo n
‘eins’ hat den Zahlwert 19 ( w = 6, a = 1; Bio graphien berühmter Kalligraphen. Legen-
ḥ = 8, d = 4), und wurde zur heiligen Zahl den haben sich um einige der größten vo n
der Bahais. Nach mystischer Lehre so llen ihnen gebildet, und ihre Namen ko mmen
Go ttes Namen in der Meditatio n entspre- auch in der Literatur in mehr o der weniger
chend ihrem Zahlwert wiederho lt werden, um verschlüsselter Form vor.
zu wirken, so Allāh 66 Mal, raḥmān ‘Barm- Zahlreiche islamische Herrscher waren
herzig’ 299 Mal usw. Aus dieser vielfachen gute Kalligraphen, seien es die timuridischen
religiösen Verwendung der arabischen Buch- Prinzen Ibrahim and Bayso nghur in Schiraz
staben erklärt sich die Neigung, aus bestimm- bzw. Herat im frühen 15. Jahrhundert o der
ten Fo rmeln Schriftbilder zu schaffen, in de- Mo ghulprinzen und -kaiser; seien es o smani-
nen man z. B. aus den Namen der Panǧtan sche Herrscher o der, im 12. Jahrhundert, der
(Muhammad, seine To chter Fāṭima, deren no rdafrikanische Fürst Ibn Bādīs. Auch
Gatten ‛Alī und ihrer beiden Söhne Ḥasan Frauen erscheinen als Kalligraphen und ko -
und Ḥusain) Gesichter o der andere Fo rmen pierten Ko ranexemplare o der fro mme Texte,
gestaltete, o der aus Ko ranversen und fro m- wie etwa die ḥilya, ein „Bild“ des Pro pheten,
men Anrufungen Tier- und Menschengestal- das, in feinster nasḫ Kalligraphie in einer be-
ten fo rmte (Abb. 39.12). Der Vetter und stimmten Ano rdnung geschrieben, die schö-
Schwiegerso hn des Pro pheten, ‛Alī, hatte den nen äußeren und inneren Qualitäten des Pro -
Beinamen „Löwe Go ttes“; Anrufungen an pheten Muhammad darstellt und vo r allem
ihn werden daher gern in Löwengestalt ge- in der o smanischen Kunst verwendet wurde.
schrieben. So lche Kalligramme haben die mo - (Mädchen wurden o ft nur im Lesen, nicht
dernen Maler der islamischen Welt in jüngster aber im Schreiben unterwiesen, „damit wir
39.  Die arabische Schriftkultur 535

keine Liebesbriefe schreiben ko nnten“, wie schen den verschiedenen islamischen Völkern
mir eine alte Türkin schelmisch versicherte.) darstellt, ist es natürlich, daß sich auch Spra-
Es ist nicht überraschend, daß Biblio the- chen, die der Struktur nach dem Arabischen
ken vo n früh an in der islamischen Welt blüh- ganz fern stehen, dieser Schrift bedienten. Die
ten, und mancher Literat hat seine Erfahrun- gro ße Zahl arabischer Lehnwörter, die durch
gen, seine Freude und sein Leid, mit Büchern Ko ran und ḥadīth in die islamischen Sprachen
niedergeschrieben, denn allzuleicht ko nnten einflo ssen, machte einen in arabischen Lettern
Ungeziefer o der Mäuse die ko stbaren Schätze geschriebenen Text in Türkisch o der Urdu, in
zerstören. Auto graphen wurden so rgfältig ge- Paschto o der Suaheli einigermaßen entziffer-
sammelt, und biblio phile Gelehrte o der Für- bar. Umgekehrt, wenn eine früher in arabi-
sten ließen eher ein Buch no chmals abschrei- schen Buchstaben geschriebene Sprache wie
ben, als es zu verleihen. Die theo lo gischen das Türkische aus po litischen Gründen (Eu-
Ko llegien ebenso wie die Mo scheen hatten ro päisierung, Bruch mit der islamischen Ver-
eine mehr o der weniger reich bestückte Bi- gangenheit) jetzt in Lateinschrift geschrieben
blio thek für die Studenten. Eine der gro ßar- wird, hat der des Arabischen Kundige gro ße
tigsten Biblio theken der islamischen Welt war Mühe, arabische o der persische Wörter zu
die des ‛Abdur Raḥīm Khānkhānān (gest. erkennen, da weder die verschiedenen s-Laute
1627), des Generalissismus vo n Kaiser Akbar no ch die drei h-Laute des Arabischen, ganz
in Indien, der in seiner Biblio thek fast hundert zu schweigen vo m gutturalen ‛ain, in der
Menschen beschäftigte und dem zahlreiche Schrift erscheinen. So wird aus dem Namen
Dichter ihre eigenen Dichtungen widmeten. der Gattin des Pro pheten, Ḫadīǧa, Hatçe. Die
Viele der aus so lchen Biblio theken erhal- klassische Literatur mit ihren unzähligen
tenen Bücher tragen Siegel o der No tizen der Wo rt- und Buchstabenspielen ist zum ver-
Besitzer. Die Fürsten hatten ihr kunstvo lles schlo ssenen Buch gewo rden. In einer Reihe
Namenssiegel und die tughra, die man seit vo n Sprachen werden arabische und lateini-
alters an den Anfang eines o ffiziellen Do ku- sche bzw. kyrillische Schrift nebeneinander
mentes setzte. Dieser Schriftzug ko nnte aus verwendet. Zum Teil bilden die arabischen
dem Handdruck des — manchmal illiteraten Lettern auch eine Art Geheimsprache, wie im
— Herrschers abgeleitet sein, do ch ist sein Aljamiado, jenem Spanisch in arabischen
Ursprung unklar. Die Sekretariate, dīwān, be- Buchstaben, dessen sich die Mo risko s nach
schäftigten beso ndere Kalligraphen, die die- der spanischen Reco nquista bedienten. So lche
sen Schriftzug schrieben und, vo r allem im Phäno mene, die auch in slavischen und an-
o smanischen Reich, mit den verschiedensten deren Sprachen vo rko mmen, ermöglichen es,
Deko ratio nen umgaben (s. Abb. 39.13 auf ältere Sprachfo rmen durch die Art, wie sie in
Tafel VIII). Heute wird das Wo rt tughra für arabischen Lettern transkribiert werden, zu
jedes Kalligramm verwendet. Münzen trugen erkennen. Das so genannte Aljamiado -Phä-
vo m Ende des 7. Jahrhunderts an arabische no men findet sich im Balkan, unter den Mus-
Schriftzeichen, so die einfachen Zeichen des limen Zentralasiens und in Afrika. Umge-
Glaubensbekenntnisses, das an die Stelle der kehrt macht Arabisch in chinesischen Zeichen
antiken Götterbilder trat (s. Abb. 22.2). Spä- dem Leser die größten Schwierigkeiten. Eine
ter wurde der Deko r ko mplizierter, und Tendenz, vo n den aufgezwungenen westlichen
tughra-artige Embleme erschienen. Aus diesen Schriftsystemen zum Arabischen zurückzu-
entwickelten sich im 19. Jahrhundert die kehren, wird nach der Auflösung der So wjet-
kunstvo llen Schriftf o rmen auf Bankn o ten unio n in Zentralasien sichtbar, wo bei es das
und Briefmarken, deren Fo rm vo n den in der Pro blem gibt, daß beispielsweise das Özbe-
Verwaltung tätigen Kalligraphen ausgebildet kische im Laufe der Zeit mehrere arabische
wurde (s. Abb. 61.5). Auch jetzt, da die tughra Umschriften (mit piene o der Defektivschrei-
im o ffiziellen Gebrauch durch andere Fo rmen bungen) gehabt hat. Selbst in Ländern, in
ersetzt ist, versucht man die kalligraphische denen die arabische Schrift aus po litischen
Traditio n in Do kumenten zu einem gewis- Gründen vo r einigen Jahrzehnten abgeschafft
sen Grade weiterzuführen, o bgleich manche wo rden war, macht sich wieder ein reges In-
mo dernen Ausführungen ov n arabischer teresse an ihr bemerkbar, sei es auch nur um
„Kunst“-Schrift die Harmo nie der klassischen der ästhetischen Möglichkeiten des arabi-
Kalligraphie vermissen lassen. schen Alphabetes willen, das auch Künstler
aus der Türkei o der Malaysia (beide latein-
schriftlich) zu Kalligrammen o der zur Ver-
6. Das Aljamiado-Phänomen wendung arabischer Buchstaben in Bildern
Da die arabische Schrift das Bindeglied zwi- oder sogar in Plastiken anregt.
536 IV. Schriftkulturen

7. Ausblick 8. Literatur
Da die Schrift Träger der Offenbarung ist, Flury, Samuel. 1920. Islamische Schriftbänder:
gab es gro ße Widerstände, als die erste Druk- Amida-Diyarbekir, XI. Jahrhundert. Basel.
kerpresse in der Türkei zu Beginn des 18. Gro hmann, Ado lf. 1967/1971. Arabische Paläo gra-
Jahrhunderts eingeführt wurde, und man phie. Wien, 2 Bände.
zieht es immer no ch vo r, ein Exemplar des Hegyi, Othmar. 1979. Mino rity and Restricted Uses
Ko rans in der Handschrift eines Meisterkal- o f the Arabic Alphabet: The Aljamiado Pheno -
ligraphen fo to mechanisch o der in ähnlichen menon. JAOS 99, 262—69.
Pro zessen zu vervielfältigen. Inzwischen hat Huart, Clément 1908. Les calligraphes et les minia-
sich auch die Co mputer-Industrie daran ge- turistes de l’Orient musulman. Paris (repr. 1972).
macht, Entwürfe schöner und interessanter
„Khatt“, Encyclo pedia o f Islam, 2nd. ed. vo l. IV,
arabischer Zeichen in allen erdenklichen Aus-
1973, columns 1112—30.
formungen zu entwickeln.
Der vielfache Sinn der arabischen Schrift Krenko w, Fritz. 1922. The Use o f Writing fo r the
— vo m Aussagewert über die unerschöpfli- Preservatio n o f Ancient Arabic Po etry. Ajabnama,
chen künstlerischen Gestaltungsmöglichkei- Studies in Ho no ur o f E. G. Bro wne, Cambridge,
ten zu kabbalistischen Spielen o der als inte- 261—68.
graler Bestandteil der literarischen Bilderspra- Lings, Martin. 1976. The Quranic Art o f Calligra-
che — gibt ihr eine zentrale Stellung in der phy and Illumination. London.
islamischen Kultur, und man ist geneigt, dem Mino rsky, Vladimir. 1989. Calligraphers and Paint-
angeblichen Wo rt des Pro pheten Glauben zu ers. A Treatise by Qadi Ahmad so n o f Mir-Munshi
schenken, daß jemand, der die basmala, d. i. (ca. AH 1015/AD 1606) Translated fro m the Per-
die Fo rmel „Im Namen Go ttes des Allbarm- sian. Washington DC.
herzigen des Allerbarmers“ schön schreibt, Ro senthal, Franz. 1971. Fo ur Essays o n Art and
ins Paradies ko mmen werde, und hört gern Literature in Islam. Leiden.
die persische Behauptung, daß die Tinte des Schimmel, Annemarie. 1984. Calligraphy and Is-
Kalligraphen ihm, wie das legendäre Lebens- lamic Culture. New Yo rk (mit umfangreicher Bi-
wasser, ewiges Leben schenkt. bliographie).
Scho eler, Grego r. 1992. Schreiben und Veröffentli-
chen. Zur Verwendung und Funktio n der Schrift
in den ersten islamischen Jahrhunderten. Der Islam
69, 1—43.
Sellheim, Rudo lf. 1968. Die Mado nna mit der ša-
hāda. In Graef, Erich (ed.), Festschrift für Werner
Caskel. Leiden.
Vo lo v, Lisa. 1966. Plaited Kufic o n Samanid Epi-
graphic Pottery. Ars Orientalis 7, 10—33.
Abb. 39.14: Die Formel „Im Namen Gottes des
Allbarmherzigen des Allerbarmers“ (basmala) in
dīwānī Schrift. Türkei, 1967 Annemarie Schimmel, Bonn (Deutschland)

40. Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur

1. Vorbemerkung 5. Methoden, Ergebnisse und Desiderate der


2. Manu hominibus praedicare. Wesen und Wert Forschung
lateinischer Sprachkultur und Schriftlichkeit 6. Literatur
im Mittelalter
3. Traditio, correctio und innovatio. Von der Ka-
rolingerzeit zum Hochmittelalter 1. Vorbemerkung
4. Zwischen Wissenschaft, Gottverlangen und
Ein Abriß der lateinischen Schriftkultur des
Weltgetriebe. Wandlungen im Hoch- und
abendländischen Mittelalters (500—1500)
Spätmittelalter
kann scho n auf Grund ihrer unvergleichlich
536 IV. Schriftkulturen

7. Ausblick 8. Literatur
Da die Schrift Träger der Offenbarung ist, Flury, Samuel. 1920. Islamische Schriftbänder:
gab es gro ße Widerstände, als die erste Druk- Amida-Diyarbekir, XI. Jahrhundert. Basel.
kerpresse in der Türkei zu Beginn des 18. Gro hmann, Ado lf. 1967/1971. Arabische Paläo gra-
Jahrhunderts eingeführt wurde, und man phie. Wien, 2 Bände.
zieht es immer no ch vo r, ein Exemplar des Hegyi, Othmar. 1979. Mino rity and Restricted Uses
Ko rans in der Handschrift eines Meisterkal- o f the Arabic Alphabet: The Aljamiado Pheno -
ligraphen fo to mechanisch o der in ähnlichen menon. JAOS 99, 262—69.
Pro zessen zu vervielfältigen. Inzwischen hat Huart, Clément 1908. Les calligraphes et les minia-
sich auch die Co mputer-Industrie daran ge- turistes de l’Orient musulman. Paris (repr. 1972).
macht, Entwürfe schöner und interessanter
„Khatt“, Encyclo pedia o f Islam, 2nd. ed. vo l. IV,
arabischer Zeichen in allen erdenklichen Aus-
1973, columns 1112—30.
formungen zu entwickeln.
Der vielfache Sinn der arabischen Schrift Krenko w, Fritz. 1922. The Use o f Writing fo r the
— vo m Aussagewert über die unerschöpfli- Preservatio n o f Ancient Arabic Po etry. Ajabnama,
chen künstlerischen Gestaltungsmöglichkei- Studies in Ho no ur o f E. G. Bro wne, Cambridge,
ten zu kabbalistischen Spielen o der als inte- 261—68.
graler Bestandteil der literarischen Bilderspra- Lings, Martin. 1976. The Quranic Art o f Calligra-
che — gibt ihr eine zentrale Stellung in der phy and Illumination. London.
islamischen Kultur, und man ist geneigt, dem Mino rsky, Vladimir. 1989. Calligraphers and Paint-
angeblichen Wo rt des Pro pheten Glauben zu ers. A Treatise by Qadi Ahmad so n o f Mir-Munshi
schenken, daß jemand, der die basmala, d. i. (ca. AH 1015/AD 1606) Translated fro m the Per-
die Fo rmel „Im Namen Go ttes des Allbarm- sian. Washington DC.
herzigen des Allerbarmers“ schön schreibt, Ro senthal, Franz. 1971. Fo ur Essays o n Art and
ins Paradies ko mmen werde, und hört gern Literature in Islam. Leiden.
die persische Behauptung, daß die Tinte des Schimmel, Annemarie. 1984. Calligraphy and Is-
Kalligraphen ihm, wie das legendäre Lebens- lamic Culture. New Yo rk (mit umfangreicher Bi-
wasser, ewiges Leben schenkt. bliographie).
Scho eler, Grego r. 1992. Schreiben und Veröffentli-
chen. Zur Verwendung und Funktio n der Schrift
in den ersten islamischen Jahrhunderten. Der Islam
69, 1—43.
Sellheim, Rudo lf. 1968. Die Mado nna mit der ša-
hāda. In Graef, Erich (ed.), Festschrift für Werner
Caskel. Leiden.
Vo lo v, Lisa. 1966. Plaited Kufic o n Samanid Epi-
graphic Pottery. Ars Orientalis 7, 10—33.
Abb. 39.14: Die Formel „Im Namen Gottes des
Allbarmherzigen des Allerbarmers“ (basmala) in
dīwānī Schrift. Türkei, 1967 Annemarie Schimmel, Bonn (Deutschland)

40. Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur

1. Vorbemerkung 5. Methoden, Ergebnisse und Desiderate der


2. Manu hominibus praedicare. Wesen und Wert Forschung
lateinischer Sprachkultur und Schriftlichkeit 6. Literatur
im Mittelalter
3. Traditio, correctio und innovatio. Von der Ka-
rolingerzeit zum Hochmittelalter 1. Vorbemerkung
4. Zwischen Wissenschaft, Gottverlangen und
Ein Abriß der lateinischen Schriftkultur des
Weltgetriebe. Wandlungen im Hoch- und
abendländischen Mittelalters (500—1500)
Spätmittelalter
kann scho n auf Grund ihrer unvergleichlich
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 537

breiten und vielfältigen Überlieferung und ih- nicht überbewertet werden. Denno ch bleibt
rer fo lgenreichen Entwicklungen kaum in ver- festzuhalten, daß sich spätestens mit ihr
nünftige Relatio n zu Darstellungen anderer grundlegende Veränderungen in antiker Bil-
Schrift- und Kulturräume der Menschheits- dung und Schriftlichkeit abzuzeichnen began-
geschichte gebracht werden. Eine vo rläufige nen. Nicht nur verlo ren die freien Künste ihre
Schätzzahl vo n allein etwa einer ½ Millio n Funktio n, der Lebensbewältigung draußen zu
lateinischer Handschriften dürfte nicht zu dienen, und ‛verinnerlichten’ gleichsam zu
ho ch gegriffen sein, wo bei wir davo n ausge- Hilfswissenschaften theo ol gischen Verständ-
hen können, daß nur ein minimaler Bruchteil nisses. Viel mehr no ch gewann das Schreiben
der gesamten lateinischen Schriftpro duktio n christlicher Werke, ja selbst die blo ße Ab-
die Wirren der Jahrhunderte überstanden hat schreibetätigkeit im Klo ster einen nie zuvo r
und vielleicht nur no ch ein Pro mille des ur- gekannten Eigenwert. Wie ein ro ter Faden
sprünglich Pro duzierten erhalten ist. Demge- zieht sich daher durchs Mittelalter die Vo r-
genüber fällt der bis ins Ho chmittelalter ver- stellung vo m anstrengenden Schreiben als
schwindend geringe Anteil vo lkssprachlicher Go ttesdienst, ja als Mittel der Askese, wo -
Handschriften so gut wie nicht ins Gewicht, durch sich der Schreiber selbst vo n Sünden
auch wenn man bedenkt, daß in allen Zahlen reinigen und den Lesern mit seinen Händen
no ch nicht einmal die Hinterlassenschaften das ewige Heil predigen ko nnte. Diese Hal-
der überwiegend lateinischen Urkunden- tung finden wir nach Cassio do r in den mo -
schriftlichkeit, v. a. der gro ßen mittelalterli- nastischen Consuetudines der Refo rmo rden,
chen Kanzleien, wie etwa der päpstlichen, mit die die eigens abgestellten Schreibermön-
eingerechnet sind. Inso fern können für unse- che vo m Offiziumsdienst befreiten (z. B. in
ren Zeitraum nur wenige spezifische Züge und Cluny; Fichtenau 1946, 155 ff), aber ebenso
ausgewählte, für uns heute no ch bedeutungs- ausdrücklich in den Statuten der beso nders
ov lle Charakteristika der abendländischen schreibfreudigen Orden des Ho ch- und Spät-
Schrift- und Buchkultur aufgezeigt werden. mittelalters (z. B. Kartäuser, Devotio-moder-
Ihre Bedeutung mag allein daraus ersichtlich na-Bewegung, Windesheimer Ko ngregatio n)
werden, daß die karo lingische Minuskel als und selbst no ch im 15. Jahrhundert in Jo han-
die wo hl wesentlichste Schriftentwicklung des nes Gerso ns Werk De laude scriptorum (a.
gesamten Mittelalters in ihrer humanistischen 1423).
Nachbildung bis in die Gegenwart in Fo rm Der Stellenwert und die Tiefenwirkung der
unserer heutigen Druckschrift ausstrahlt (→ do minierenden lateinischen Schriftlichkeit in
Art. 12, 13). Sie wird spätestens im nächsten der abendländischen Kultur des Mittelalters
Jahrtausend die eigentliche Weltschrift sein. ist nicht zu überschätzen. Latein war Aus-
gangssprache in den unterschiedlich stark ro -
manisierten Pro vinzen des Imperium Ro ma-
2. Manu hominibus praedicare. Wesen num, die eine mehr o der weniger ungebro -
und Wert lateinischer Sprachkultur chene lateinische Schrift- und Sprechtraditio n
und Schriftlichkeit im Mittelalter aufwiesen, und unterlag do rt in seinen vulgär-
sprachlichen Varianten einer sprachgeschicht-
Das Christentum als Buch- und Offenba- lichen Regio nalisierung (Iberische Halbinsel,
rungsreligio n verlangte eine intensive Ausein- Italien, No rdafrika; Löfstedt, 1975), der für
andersetzung mit dem geschriebenen Wo rt die frühmittelalterliche Zeit eine bemerkens-
v. a. der Heiligen Schrift, um in die Geheim- werte schriftgeschichtliche Parallele zur Seite
nisse des Glaubens tiefer eindringen zu kön- gestellt werden kann, inso fern sich die vo rka-
nen, die etwa in Typo lo gie und mehrfachem ro lingischen ‛Schrifttypen’ (nicht: ‘Natio nal-
Schriftsinn der Bibel verbo rgen waren. So mit schriften’) aus der einen römischen Schrift her-
waren Lesen und Schreiben unverzichtbare auskristallisierten, was ausdrücklich zum er-
Vo raussetzungen für die Praxis der christli- sten Mal vo n Scipio ne Maffei (1675—1755)
chen Wissenschaft, in deren Dienst Augustin gezeigt wurde. Als Träger unterschiedlicher la-
in seinem Werk De doctrina christiana die teinischer K o mmunikatio nssituatio nen (zum
heidnischen artes liberales gestellt hatte, wel- Wesen des Mittellateins: Traube 1911, 31—
che in seiner Nachfo lge Cassio do r († 583) in 121; vo n den Steinen 1957) nahmen die nach
seinen pro grammatischen Institutiones mit Zeit und Raum unterschiedenen lateinischen
einem beso nderen philo lo gischen Akzent ver- Schriftsysteme auch verschiedene Funktio nen
sehen hatte. Die geistesgeschichtliche Wir- wahr. Während sich lateinische Sprache und
kung dieser Schrift auf das Mittelalter so llte Schrift in den germanischen Nachfo lgestaaten
538 IV. Schriftkulturen

des untergegangenen weströmischen Reiches So entwickelte Irland, das wo hl bereits im


in ihrer ko mmunikativen und schriftlichen 5. Jahrhundert mit einer unko mplizierten
Traditio n o rganisch fo rtentwickelten und ins- Schrift in Berührung geko mmen sein dürfte
beso ndere in der no ch unter alter Herrschaft (Patrick), im Laufe des 6. Jahrhunderts ein
entstandenen römischen Kirche seit dem 6. eigenes lateinisches Schrifttum. Vo m ur-
Jahrhundert ihren Hauptträger fanden, aber sprünglichen römisch-lateinischen Schriftwe-
do ch nicht nur Klerikerschrift und -sprache sen in Britannien war durch die Einwanderung
waren, gerieten sie durch Impo rt in die Rand- der Angeln, Sachsen und Jüten (5. Jh.) kaum
bereiche und Länder außerhalb des Imperiums etwas übriggeblieben, so daß wir erst seit der
zur ausschließlichen o V rbildsprache und zweiten, diesmal kirchlichen Latinisierung
-schrift. Eindrücke vo n insularer Schriftlichkeit gewin-
Vo r allem in Oberitalien erhielten sich bis nen können. Die irische Missio n vo n No rden
weit ins Frühmittelalter hinein alte Schrift- (seit 634) und die grego rianische Missio n vo n
und Sprachtraditio nen. Auch auf der Ibe- Süden (seit 597) ero berten die Insel mit ihren
rischen Halbinsel war bis zum Untergang jeweils eigenen Schriften (irische Halbunziale
des Westgo tenreiches (711) ein Spätlatein in und Minuskel, so wie römische Unziale, die
außero rdentlicher Gepflegtheit in Gebrauch, sich nach Verbreitung vo n Italien und No rd-
und selbst die spätantiken Buchschriften wur- afrika her auf dem gesamten Festland etabliert
den no ch weiterverwendet. Auch dürften sich hatte; Lo we 1960). Die darauf erfo lgte irische
die Reste der in den byzantinischen und ara- und angelsächsische Missio n auf dem Ko nti-
bischen Ero berungsstürmen des 6. und 7. Jahr- nent hingegen hinterließ ihrerseits in den in-
hunderts untergegangenen Schrift- und Lite- sularen Schriftinseln und Literaturzentren
raturpro vinz No rdafrika, die als letzte Schrift- Spuren, die sich o ftmals bis ins Ho chmittelal-
erfindung der Antike die westliche Halbun- ter verfolgen lassen.
ziale hervo rgebracht hatte (litterae affrica- Am spätesten wurden die slawischen und
nae, Bischo ff 1966, 2—4), nach Spanien geret- skandinavischen Siedlungsgebiete als lateini-
tet haben. So entstand im multikulturellen sche Schrift- und Literaturpro vinzen erschlo s-
Schmelztiegel der Iberischen Halbinsel die seit sen (Önnerfo rs 1970). So mit können wir
dem frühen 8. Jahrhundert nachweisbare west- im Frühmittelalter eine Vermittlung fremder
go tische (mo zarabische) Schrift, die bis ins Schriften in andere Länder beo bachten, die in
Ho chmittelalter lebenskräftig blieb. In Gallien ähnlicher Weise im Spätmittelalter durch die
hingegen ist v. a. im 7. und 8. Jahrhundert par- Schriftverbreitung des universitären Buchhan-
allel zum Verfall der Bildung (Annäherung der dels und seiner internatio nalen Kundschaft
Schriftsprache an die gespro chene Sprache) (ausländische Studenten) gewährleistet war.
ein Fo rmverlust in der lateinischen Schrift Im Übergang vo n der Spätantike zum Mit-
festzustellen. telalter veränderte sich zusehends die Bil-
Das Latein der nichtro manisierten Länder dungssituatio n. Nicht nur, daß im Zuge des
war hingegen vo n Anfang an fast ausschließ- steigenden Analphabetismus die Privatlektüre
lich eine reine Kirchen- und Verwaltungsspra- u. a. der Bibel und der heiligen Schriften im
che, weil es erst mit der Missio n Einzug hielt. Laienstand allgemein zurückging; auch das
Dabei entschied die Zeit der Christianisierung Bildungsniveau der Bevölkerung sank be-
als die Zeit der jeweils im Mutterland vo rherr- trächtlich und die bislang allgegenwärtige
schenden Haupttextschrift über die Art und Schriftlichkeit reduzierte und verlagerte sich
Weise, in der die aktuellen lateinischen Buch- immer mehr auf die neuen so zialen Gruppen
stabensysteme der wesentlichen ersten Schrift- in Kirche und Mönchtum, die das traditio -
träger (Bibel, Psalter, Offiziumstexte und pa- nelle Schulschrifttum und die Metho den des
tristisches Schrifttum) die Schriftkultur der spätantiken Schul- und Schreibunterrichts —
einzelnen Länder beeinflußten. Da die westli- wenn auch durchsetzt mit christlichen Unter-
che Kirche seit der zweiten Hälfte des 4. Jahr- richtsidealen — ins Mittelalter hinüberretteten
hunderts weitgehend lateinisch war, zudem in (Riché 1981; Illmer 1979). Hieraus ergaben
Kult und Liturgie eine heilig gewo rdene Spra- sich zwei fo lgenreiche Entwicklungen: Zwar
che verwandte und es scho n deshalb in den zu verengte sich einerseits das Latein auf eine all-
missio nierenden Ländern keine gleichwertige, gemeine Bildungs- und Gebildeten-, Urkun-
geschweige denn überlegene Literalität geben den- und Fo rmularsprache, do ch gewannen
ko nnte, wurde das Erlernen der lateinischen andererseits Bibel und andere heilige Schriften
Sprache durch die heranzubildende einheimi- durch die christliche Ko nzeptio n vo m inspi-
sche Geistlichkeit unabdingbar. rierten Wo rt Go ttes einen sakralen, ja o ft ma-
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 539

gischen Charakter, den Bücher zuvo r kaum im Vierlinienschema das bis heute gültige Sy-
besaßen. Gerade in der Vo rstellung, daß man stem vo n Majuskel, Minuskel und Kursive,
mit der Schrift Go ttes Wo rt bannen o der zu- und selbst die antiken Schriftentwicklungen
mindest verstehen helfen ko nnte, ferner im Kapitalis, Unziale (ca. ½ Tausend Hand-
Buch Go tt o der den Heiligen unmittelbar prä- schriften) und Halbunziale (über 200 Hand-
sent wähnte, war die Verehrung der Bibel, des schriften) wurden o ft bis ins 9. Jahrhundert
Evangelien- o der Heiligenbuches begründet. weiterverwendet, auch wenn sich im Frühmit-
Natürlich erwuchs nun ein Spannungsverhält- telalter scho n eigenständige Minuskelfo rmen
nis zwischen älteren spätantiken Schrifttradi- herausgebildet hatten (→ Art. 12). Bemer-
tio nen und jüngeren kirchlichen Buchwün- kenswert ist auch die häufig zu beo bachtende
schen, aus dem neue lateinische Textfo rmen Interdependenz zwischen Text-, Buch- und
hervo rgingen, die man als gruppenspezifische Schrifttypen, in der die nach Herko mmen und
Erscheinungsfo rmen bezeichnen könnte und Anwendungsbereich unterschiedenen Buch-
in denen die mittelalterliche Buchkultur be- typen der jeweiligen Gruppe (Mönche, Ge-
reits in entscheidenden Zügen angelegt war. lehrte, Juristen etc.) ihren Ausdruck fanden,
Selbstverständlich do minierten die auf der Bi- eine Erscheinung, die bei der eno rmen Vielfalt
bel aufbauenden kirchlichen Text- und Buch- der spätmittelalterlichen Text- und Schriftar-
fo rmen für Liturgie, Predigt und Exegese (z. B. ten no ch deutlicher zutage treten so llte. Ab-
Evangeliar, Sakramentar, Ho miliar, Bibel- gesehen vo n außergewöhnlichen Buchfo rma-
ko mmentar), aber ebenso Gattungen, die dem ten, bei denen Bücher vo n geradezu mo nu-
gemeinschaftlichen Leben (Regel-Handschrif- mentalen Ausmaßen scho n rein äußerlich ein
ten) und To tengedächtnis ( memoria) der Ta- kultur- o der kirchenp o litisches Pr o gramm
gesheiligen, später auch der Versto rbenen entwerfen ko nnten (spätantike Vergil-Hand-
einer Ko mmunität dienten (Kalendarien bzw. schriften; Purpurevangeliare; kar
o lingische
Martyr o ol gien: Dub o is 1978; Nekr o ol ge: Bibelpandekten: Bischo ff 1986, 43, n. 38; ita-
Huyghebaert 1972). Dabei spielte für die Le- lienische Riesenbibeln des Investiturstreits:
sung im öffentlichen Go ttesdienst wie im mo - Cahn 1982, 101—7), sind insbeso ndere be-
nastischen Kapitel die ebenso no ch in der stimmte Schriftarten lange Zeit auch für be-
Spätantike entstandene hagio graphische Lite- stimmte Buchtypen reserviert geblieben. So
ratur eine überragende Ro lle während des ge- wurden biblische Texte selten in Kapitalis ge-
samten Mittelalters, v. a. weil sie wie kaum schrieben, da sich die Schrift scho n zu Hier-
eine andere Gro ßgattung zahlreichen inno va- o nymus’ Zeiten aus der römischen Buchkalli-
tiven Wandlungen hinsichtlich Fo rmgebung graphie zurückzo g und im Übergang vo n der
und Stilisierung unterwo rfen wurde (zum Spätantike zum Frühmittelalter gegenüber
Epo chenstil vo n Passio, Vita, Miracula, Trans- den jüngeren Textschriften zur Auszeich-
latio: Berschin 1986—1991). Sie wird in der nungsschrift wurde (5./6. Jh.). Daher sind die
Karo lingerzeit so gar eine eigene Buchgattung spätantiken Luxushandschriften, die aus ech-
hervorbringen. tem Purpurpergament mit Go ld- und Silber-
Zu den wesentlichsten materiellen Verän- tinte hergestellt wurden und stets dem Evan-
derungen zählte sicherlich der Übergang zu geliums- o der Psaltertext vo rbehalten blieben,
neuen Beschreibst o ffen und Buchf o rmen: alle in Unziale geschrieben. Auch christliche
Während seit dem 4. Jahrhundert der Perga- Pro satexte haben sich auffallenderweise nicht
mentco dex im ganzen Abendland gegenüber in Kapitalis, so ndern nur in Unziale und Halb-
der Papyrusro lle im Vo rdringen begriffen war, unziale erhalten. Und selbst für die klassische
wurde das Papyrusbuch immer seltener und Literatur wurde seit dem 4. Jahrhundert häu-
auch die Pergamentro lle als buchgeschichtli- fig die Unziale als Textschrift gewählt, wäh-
ches Spezifikum verlo r an Bedeutung, o hne im rend Vergilexemplare mit Ausnahme weniger
Mittelalter aber ganz außer Gebrauch zu ko m- Ostpro dukte nur in Kapitalis hergestellt wur-
men. Ebenso dürfte die Schreibtafel für flüch- den.
tige No tizen weiterhin keine geringe Ro lle ge- Auch visuelle Hilfen, die das Lesen der
spielt haben, was sich jedo ch aus den wenigen Texte und die Suche vo n Textstellen erleichtern
Überresten kaum belegen läßt (→ Art. 8). Im so llten, wurden in der Spätantike durch eine
Bereich vo n Textschrift, Textstrukturierung gezielte äußere und innere Strukturierung der
und Seitenaufbau wurden zahlreiche spätan- Texte entwickelt (Martin & Vezin 1990,
tike Entwicklungen bis weit in das Mittelalter 439—55). Zu denken ist etwa an die Entwick-
fo rtgeführt. No ch die Spätantike entwickelte lung vo n Ko nko rdanztabellen zu den Evan-
spätestens mit der Erfindung der Halbunziale gelien durch Eusebius, an Hiero nymus’ über-
540 IV. Schriftkulturen

sichtliche Gliederung des Vulgata-Textes per tes hervo rzuheben (Papst- bzw. Königsurkun-
cola et commata, an marginale Titel in der pa- den). Ebenso wurde über längere Zeit traditio -
tristischen Literatur und natürlich an Inhalts- nelles Fo rmelgut in der Empfängernennung
bzw. Kapitelverzeichnisse vo r den einzelnen ( inscriptio) und natürlich die persönliche Na-
Büchern eines Werkes ( capitulatio), deren mensunterschrift als wesentliches spätantikes
Überschriften im Frühmittelalter in redun- Mo ment der privaturkundlichen Beglaubi-
danter Weise auch in den Text eingearbeitet gung weitergetragen. Die Papsturkunden sind
wurden, wo mit im Grunde unsere heutige fo rmal gesehen so gar die unmittelbaren Nach-
Buchstruktur (Inhaltsverzeichnis + geglieder- fahren des antiken römischen Briefes. Erst der
ter Text) erfunden war. Ebenso kennzeichne- allmähliche Schriftlichkeitsverlust bei den spä-
ten die teilweise no ch vo n den Papyrusro llen teren Mero wingerkönigen, insbeso ndere der
herrührenden Anfangs- und Schlußfo rmeln Übergang in den Präzepten vo n der eigenhän-
(Incipit < incipere = beginnen; Explicit < ex- digen Unterschrift zur blo ßen Ergänzung
plicare = entro llen) Textanfang und -ende, eines Kreuzes (Pippin der Jüngere) und später
vergrößerte Textbuchstaben (> Initialen) zum Vo llziehungsstrich im Mo no gramm des
einen Seiten- o der Ko lumnenbeginn, später Königsnamens (Karl der Gro ße; Erben 1907,
auch Sinneinschnitte, so wie mennigefarben 145 ff) darf ebenso wie der so ziale Wandel im
ausgezeichnete Textzeilen den Beginn eines Kanzleiperso nal (vo m Laienreferendar zum
Werkes, den zu ko mmentierenden Text u. v. m. Geistlichen) als sympto matisch für den allge-
(Lo we 1972, 273), wo rin der Ursprung der meinen Mangel an Schriftkenntnis in den so -
mittelalterlichen Rubrizistik zu sehen ist. Auch zialen Oberschichten des Frankenreichs gel-
die Mehrspaltigkeit vo n Texten, die Hierarchi- ten, wie ja überhaupt das weltliche Bildungs-
sierung vo n Schriften und die Unterscheidung system im Verschwinden begriffen war (Kirn
im Schriftgrad bei Text und Ko mmentar 1928, 132—4). Gleichzeitig aber gewann die
waren spätantike Entwicklungen, die ins Mit- Besiegelung in der karo lingischen Urkunde als
telalter überno mmen wurden. Eine verbesserte wesentliche Beglaubigungsf o rm zunehmend
rheto rische Interpunktio n und die allmähliche an Bedeutung. Ob allein aus der sehr schmalen
Einführung der Trennung der einzelnen Wör- Materialgrundlage, wie sie zwangsläufig W.
ter untereinander (Verlust der scriptura conti- Schlögl in seiner Arbeit (1978) über die nach-
nua) gehören dann zu den einzigartigen Ent- weislich auto graphen herrscherlichen Unter-
wicklungen des früheren Mittelalters, die dem fertigungen bis zum Interregnum hatte, auch
nicht mehr muttersprachlichen Lateinleser das nur andeutungsweise Schlüsse auf eine tat-
laute Lesen vereinfachen sollten. sächlich vo rhandene allgemeine Schriftbeherr-
Ko ntinuitäten römischer Fo rmen hinsicht- schung o der gar Bildung des jeweiligen (deut-
lich Schriftträger, Schrift, innerer und äußerer schen) Königs gezo gen werden können, muß
Fo rmen sind natürlich auch im frühmittelal- zweifelhaft bleiben. Eine verstärkte Wiederer-
terlichen Urkundenwesen festzustellen (Clas- langung vo n Schriftlichkeit in laikalen Kreisen
sen 1983). So wurde Papyrus als typisch anti- ist freilich erst wieder seit dem 13. Jahrhundert
ker Beschreibsto ff no ch für die berühmten Ra- zu ko nstatieren. Im Gegensatz zu den o bersten
vennater Urkunden, die Ausfertigungen der Kirchenvertretern (zur Schriftlichkeit der Päp-
mero wingischen Königskanzlei (bis in die ste und Kardinäle: Katterbach & Peitz 1924)
2. Hälfte des 7. Jahrhunderts) und der päpst- blieben die weltlichen Herrscherkreise über
lichen Kanzlei (Urkunden bis 1057 und amt- das gesamte Mittelalter hinweg weitgehend il-
liche Bücher bis zum Ende des 11. Jahrhun- literat. In der Regel sind eher Latein- und Le-
derts) verwendet (Santifaller 1953, 32 ff). Die sekenntnisse, weniger aber Schriftbeherr-
traditi
o nalistische Haltung der Kanzleien schung v. a. im buchschriftlichen Sinne zu er-
zeigte sich zudem in der Fo rtführung der warten (cf. Karl der Gro ße; Grundmann 1958,
spätantiken Behördenschriften in Papst- und Thompson 1960).
Königskanzlei des Frühmittelalters (Kresten
1966), so daß z. B. die päpstliche Kuriale erst
nach einem langewährenden Verdrängungs- 3. Traditio, correctio und innovatio.
pro zeß um 1123 zugunsten der mo derneren Von der Karolingerzeit zum
kurialen Minuskel aufgegeben wurde (Frenz Hochmittelalter
1986, 14 f). Auch hielt sich traditio nell der
Brauch, die erste Zeile der Urkunden teilweise In der Karo lingerzeit vo llziehen sich im Be-
(später ganz) durch eine verlängerte bzw. ver- reich der Buch- und Urkundenschrift die we-
größerte Schrift gegenüber dem Rest des Tex- sentlichsten mittelalterlichen Veränderungen
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 541

überhaupt, die jedo ch zu unterschiedlichen ben ersetzt und harmo nisiert, so wie Abkür-
Zeiten stattfanden und mit verschiedenen Ziel- zungen und Interpunktio nszeichen differen-
setzungen behaftet waren. Durch den sittli- ziert wurden (1. Austausch vo n cc-a, das als
chen und kulturellen Niedergang der mero - do ppeltes c gelesen werden ko nnte, durch a. 2.
wingischen Kirche war auch das allgemeine Parallele Bildung vo n n zu m gegenüber bisher
Sprach- und Bildungsniveau so weit gesunken, N. 3. Scheidung einer neuen ur-Kürzung vo n
daß eine umfassende Refo rm des Bildungssy- der früher identischen us-Kürzung; Erfindung
stems an Klo ster- und Do mschulen no twendig des Fragezeichens). Die karo lingische Minus-
wurde. Denn nur ein gestiegenes kirchliches kel ist also gewissermaßen das Ergebnis einer
Bildungsniveau ko nnte gewährleisten, daß der im allgemeinen Ko nsens der Zeit gefundenen
Klerus die zugleich gefo rderten fehlerfreien Schrift-Co rrectio (→ Art. 12). Daher läßt sich
Texte richtig verstehen ko nnte (Bibel, exegeti- das Ziel dieser karo lingischen Schriftentwick-
sche und liturgische Literatur etc.), zumal man lung auch kaum unter der Fo rmel der norma
glaubte, nur mit den richtigen Wo rten auch rectitudinis subsumieren, deren Stellenwert
richtig Go ttesdienst feiern zu können (Brun- und Tragweite J. Fleckenstein (1953) sichtlich
hölzl 1965). Deshalb wurde zur Hebung des überschätzte, da sie nicht der Kernbegriff für
Sprach- und Schriftniveaus so ausnehmend die allumfassende karo lingische Bildungsre-
auf Grammatik und Ortho graphie Wert ge- fo rm gewesen sein dürfte. Die ‛lebendige Viel-
legt, und deshalb auch wurden verbindliche heit und Freiheit der Prägungen’ (Bischo ff
No rmalexemplare der Bibel, des Sacramenta- 1981, 1), aus der wir karo lingische Schriftpro -
rium Hadrianum, der Benediktsregel, eines vinzen herauslesen können — eine geradezu
Ho miliars, ja selbst der Klassiker hergestellt erstaunliche Parallele zu den sich allmählich
und in der Ho fbiblio thek aufbewahrt (Bi- erschließenden Literaturlandschaften — ist
scho ff 1981, 149 ff). Wenn auch einzelne Fäden eher das Spiegelbild zahlreicher früherer lo -
der Refo rm scho n vo n Pippin und Bo nifatius kaler Entwicklungen, die sich in unterschied-
angespo nnen wo rden waren, so gelang es do ch lichem Rhythmus vo llzo gen. Erst im Zuge
erst Karl dem Gro ßen, sie in dem Mo ment zum einer allgemeinen kalligraphischen Stilsuche
kraftvo llen Ganzen der karo lingischen Cor- wurden die früheren Ansätze zur relativen
rectio zu verflechten (Schramm 1968), als er Einheitlichkeit geführt. Do ch vo llzo g sich die
sich nach der Perio de der o ffensiven Kriegspo - völlige Durchsetzung der karo lingischen Mi-
litik einer Phase der mehr nach innen gerich- nuskel zur alleinigen Textschrift ähnlich wie
teten Kulturpo litik zuwandte, um das entstan- die Sprachhebung über Generatio nen hinweg,
dene Riesenreich auch in seinem inneren Be- so daß etwa in den alemannischen o der insu-
stand zu festigen. laren Schriftzentren erst einige Zeit nach Karls
Das Bemühen um größere Klarheit und Ge- des Gro ßen Ableben († 814) der alte Schrifttyp
fälligkeit in Fo rm und Stil der ebenso herun- aufgegeben wurde (Abb. 40.1).
tergeko mmenen lateinischen Schriften fügt Die Ausbreitung der karo lingischen Minus-
sich zwar in den allgemeinen Willen zur Ko r- kel gehört damit zu den gro ßen Schriftver-
rektur und Niveauhebung ein, do ch ist es nicht drängungspro zessen des Mittelalters, die sich
ausdrücklicher Bestandteil des umfassenden o ft im Zuge einschneidender Veränderungen
Bildungsauftrags der kar o lingischen H o f- im abendländischen Herrschaftsgefüge vo ll-
schule gewesen, was allein scho n daraus er- zo gen. Zu erinnern ist etwa an die Verdrän-
hellt, daß Mo delle früher karo lingischer Mi- gung der insularen Minuskel durch die ko nti-
nuskel bereits existierten, als das übrige Re- nentale karo lingische Minuskel, die sich seit
fo rmpro gramm no ch gar nicht ins Leben ge- der no rmannischen Ero berung 1066 no ch ver-
rufen war. Daher können wir auch keineswegs stärkte und mit der ein eno rmer Auftrieb im
vo n einer ‛karo lingischen Schriftrefo rm’ spre- angelsächsischen Bibli
o thekswesen einher-
chen, da es unter den Karo lingern zu keiner hing, indem die alten Bestände aufgesto ckt
zentral vo n o ben gelenkten Verbreitung eines und aktualisiert wurden (Ker 1960; Tho mso n
no rmativen Musters geko mmen ist. Ebenso - 1986). Zu denken ist auch an die Ablösung der
wenig wird man dem Entwicklungsgang der westgo tischen Minuskel in Spanien durch die
Schrift zur karo lingischen Minuskel gerecht, inzwischen allgemein gebräuchliche karo lin-
wenn man sich die Vo rstellung zurechtlegt, die gische Minuskel, die eine gezielte kirchenpo li-
Schrift sei nach einem guten alten Vo rbild wie- tische Maßnahme der grego rianischen Refo rm
derhergestellt wo rden; denn u. W. ist eine par- war, was erklärt, warum sich das Schriftverbo t
tiell neue Schrift entstanden, indem zur Ver- des Ko nzils vo n León (1090) ausschließlich auf
meidung früherer Zweideutigkeiten Buchsta- das Buchwesen der mo zarabischen Liturgie
542 IV. Schriftkulturen

Abb. 40.1: Generationswechsel im Spiegel des Schriftwechsels.


Die regionale alemannische Minuskel des Reichenauer Kalligraphen Reginbert († 846) wird Mitte der sechsten
Zeile durch die jüngere karolingische Minuskel eines Schülers abgelöst. Um 820. «Bibliothek der Symbole»,
Karlsruhe, Bad. Landesbibliothek, Aug. XVIII, fol. 42r (aus: A. Chroust, Monumenta Palaeographica II. Ser.,
10. Fasz., Taf. 8, München 1912).
ko nzentrierte (Millares Carlo 1983, 140—3). 1980). Ein eindeutiges Indiz dafür, wie sehr
Hingegen entsprang das vo n Friedrich II. für man den allmählich auftauchenden pro so di-
Sizilien erlassene Verbo t der unlesbar gewo r- schen Unsicherheiten entgegentreten mußte,
denen No tarskursive und das gleichzeitige die beim lauten Vo rlesen vo n lateinischen Tex-
Verbo t vo n Papier für No tariatsinstrumente ten in Liturgie, Kapitel- und Refekto riumslek-
(1231: Bresslau & Klewitz t. 2, 1968, 500) dem türe auftraten, sind die eigens entwickelten
gestiegenen Bedürfnis nach Ordnung und Lehrbücher zur Lesekunst, mit deren Hilfe
Rechtssicherheit im Staate. man wieder die rechte Beto nung der lateini-
Der vo rbildhafte Charakter und der maß- schen Wörter erlernen ko nnte (Kneepkens &
gebliche Einfluß, den der karo lingische Schul- Reijnders 1979). Was die Rezeptio n der spät-
und Schreibunterricht, das kar o lingische antiken Grammatiken (Do nat, Priscian), die
Buch- und Biblio thekswesen, so wie die damals Tradierung innerer und äußerer Buchfo rmen
geleistete Literaturrezeptio n und -inno vatio n der Spätantike, so wie die Ausgewo genheit im
auf die Kultur bis zum Ho chmittelalter hatten, Mit- und Gegeneinander vo n heidnischen und
rechtfertigt vo r dem Hintergrund der sich christlichen auctores in der Schullektüre an-
gleichzeitig verändernden Latein- und Schrift- belangte, so setzte das karo lingische 9. Jahr-
lichkeitsakkulturati
o n eine ausführlichere hundert Maßstäbe, an denen sich der Kultur-
Darstellung. Latein hörte auf, eine alltäglich betrieb der fo lgenden Jahrhunderte messen
gesprochene Sprache zu sein, seitdem es die ge- lassen mußte.
zielte Niveauhebung der karo lingischen Cor- Da freilich bis zum Spätmittelalter der
rectio vo n seiner lebendigen, gespro chenen Va- Schreibunterricht weitestgehend mündlich er-
riante (= sprachliches Regulativ) abgeho ben fo lgte und man es deshalb nicht für nötig er-
hatte und damit der Ablösungspro zeß vo n den achtete, die völlig selbstverständlichen Unter-
sich herausbildenden ro manischen Sprachen richtsregeln aufzuzeichnen, ist ein eklatanter
beschleunigt wo rden war (Skizze: Berschin Mangel an schriftlichen Zeugnissen zum mit-
1991, 147 f). Damit wurde Latein selbst im ro - telalterlichen Schul- und Schreibbetrieb zu be-
manischen Raum immer mehr zur Fremdspra- klagen, der allenfalls durch die Interpretatio n
che, die erst mühsam zu erlernen war (Murphy vo n diesbezüglichen Äußerungen der mo na-
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 543

stischen Consuetudines (Dressler 1988), vo n nicht zum Elementarsto ff der Klo ster- und
Schulhandschriften und materiellen Hinterlas- Do mschule, da er erst nach dem Lesen- und
senschaften in Handschriften wie Federpro - Auswendiglernen des Psalters erfo lgte und
ben o . ä. (Bischo ff 1966, 74—87) einigerma- o hnehin zumeist nur befähigten Schülern zu-
ßen ausgeglichen werden kann. Zudem ver- teil wurde, die der Skripto riumsleiter, der o ft
danken wir v. a. der Karo lingerzeit zahlreiche zugleich Schulleiter und Kanto r war, eigens
Quellen, die vo n einer bewußten und intensi- ausgesucht hatte. In der Regel wurde schritt-
ven Auseinandersetzung mit Schrift, ihrem ge- weise an die Buchkalligraphie herangeführt,
schichtlichen Ursprung und ihrer jeweiligen bis auch die anspruchsvo llsten Aufgaben über-
Ausdeutung innerhalb des Grammatik- und no mmen werden ko nnten. Arbeitsteilung im
Schreibunterrichts zeugen und vo rbildhaft für Klo ster zwischen mehreren Mönchen und Il-
das ganze Mittelalter gewo rden sind. Zu nen- luminato ren (später auch im Berufsskripto -
nen sind etwa Alphabetverse (Bischo ff 1966, rium), so wie lagenweises Schreiben, das da-
79 ff), weiterhin Buchstabenbeschreibungen durch ermöglicht wurde, daß die Handschrif-
o der Alphabettraktate, in denen der kalligra- ten üblicherweise aus No rmallagen mit meh-
phische Aufbau vo n Buchstaben aus Einzel- reren Do ppelblättern bestanden (z. B. Quater-
bestandteilen o der die allego risch-mystische nio > frz. cahier), so rgten für eine Beschleu-
Erklärung der Buchstaben als heilsgeschicht- nigung des Schreibvo rgangs, was v. a. in be-
liche Symbo le für das Erlösungswerk Go ttes deutenden Skripto rien wichtig war, die eine
thematisiert wurden; zudem Ko mmentare zur Art mittelalterliches ‛Verlagswesen’ betrieben:
so g. Inventio litterarum in den wiederbenutz- Im 8. Jahrhundert wurden z. B. im no rthum-
ten spätantiken Grammatiken und so gar ei- brischen o D ppelkl
o ster Wearm
o uth/Jarro w
genständige Traktate. Die häufiger anzutref- wichtige Werke des Hausauto rs und zeitgenös-
fenden Aufzählungen der genera scripturarum sischen Bestsellers Beda Venerabilis für engli-
o ffenbarten nicht allein ein Bewußtsein für sche und ko ntinentale Interessenten massen-
den sich vo llziehenden Schriftwandel (antiqua- weise vervielfältigt (Parkes 1982, 12—20) o der
ria/coaequaria manus), so ndern brachten auch ein Jahrhundert später die berühmten Alkuin-
schriftästhetische, -technische und funktio nale Bibeln und Martinsschriften ( Martinelli) in
Aspekte zum Ausdruck (z. B. litterae tunsae = Saint-Martin/To urs in ‛Fließbandpro duktio n’
gescho ren wirkende irische Halbunziale; lit- hergestellt (Lesne 1938, 159 ff.; McKitterick
tera epistolaris/capitularis), die teilweise anti- 1989, 141). Geschrieben wurde zunächst laut,
kem Gedankengut entno mmen waren (littera nach Diktat bzw. Selbstdiktat, später aber im-
longa/uncialis/epistolaris). Auch war nun die mer häufiger leise, wie es uns no ch heute ver-
über das ganze Mittelalter gültige Gliederung traut ist. Waren an der Erstellung einer Hand-
in Buch-, Auszeichnungs- und Gebrauchs- schrift mehrere ‛Hände’ beteiligt, so besteht
schrift in der Zuo rdnung zu den genera allge- für den Paläo graphen heute die Chance, neben
mein gebräuchlich. Überhaupt scheint sich bis der Entstehungsgeschichte einer Handschrift
ins Ho chmittelalter das allgemeine Schriftbe- auch die etwaige Größe eines Skripto riums zu
wußtsein kaum gewandelt zu haben, o hne daß reko nstruieren. Ebenso gut ermöglichen die
freilich das menschliche Grundbedürfnis nach Erzeugnisse junger, wenig gefestigter Skripto -
ov rstellungskräftigen, griffigen Kateg
o rien rien Einblicke in die regio nal höchst unter-
fehlte (Gasparri 1989, 103), welches den zu- schiedliche Ausbildung ihrer Schreiber (z. B.
meist fremden Schriftbetrachter veranlaßte, Einsiedeln, 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts). Im
die Herkunft der regio nal verschiedenen latei- o ftmals strengen Schreibunterricht spielte frei-
nischen Buchstabensysteme mit spezifischen lich die ‛Zucht’ (Fo rmhaltung in der Schrift)
geo graphischen Namen zu versehen. Beispiels- eine ungleich größere Ro lle als heute, wo mit
weise erhielt die wegen ihrer selbstverständli- zwar die Individualität des einzelnen Schrei-
chen Anwendung im ganzen Abendland weit- bers generell weniger zum Ausdruck kam, sich
gehend unbenannte karo lingische Minuskel dafür aber ein lo kaler Schulstil über Genera-
ausgerechnet in Süditalien (Benevent) und in tio nen hinweg erhalten ko nnte, der charakte-
Spanien, wo sie zunächst keine Ro lle spielte, ristisch für ein bestimmtes Skripto rium war
den Namen littera francisca bzw. littera gal- (Garand 1980). Do ch läßt sich bei ausgepräg-
lica. Auch Namen wie littera scottica/beneven- ter Eigenwilligkeit o der -ständigkeit o ft gera-
tana/langobardica waren letztendlich Prägun- dezu die paläo graphische Physio gno mie eines
gen auswärtiger Schriftbetrachtung. Schreibers studieren (Fichtenau 1946, 48 ff),
Der Schreibunterricht, auch der Frauenklö- was beso nders reizvo ll ist, wenn es gelingt, Au-
ster (Bischo ff 1966, 26—34), zählte allerdings ot graphe berühmter Auto ren zu ermitteln
544 IV. Schriftkulturen

(Lehmann 1941; Garand 1981). Denn im Un- hunderts.


terschied zur Antike besteht im Mittelalter Daneben kam der karo lingische Ordnungs-
zum ersten Mal die Chance, die Diktier- und wille, den wir scho n bei der Schrift-Co rrectio
Herausgebertätigkeit eines Gelehrten o der Li- beo bachten ko nnten, auch in der intensiven
teraten im Spiegel der Handschriften zu ver- Wiederbelebung des Biblio thekswesens, so wie
fo lgen, ja ihm geradezu auf sein Schreibpult zu in der Tendenz zum Ausdruck, ho mo gene
sehen, wenn sich Entwürfe, erste Fassungen, Buchtypen zu schaffen. Die frühen karo lingi-
Reinschriften mit Ko rrekturen usw. erhalten schen Biblio theksinventare, die vo r dem 9.
haben. Zudem läßt sich dann feststellen, o b Jahrhundert no ch kaum anzutreffen sind (De-
der Auto r eher eine flüchtige Gelehrten- o der ro lez 1979, 27; Bischo ff 1981, 213 ff) dürften
gefestigte Kalligraphenhand pflegte. Auch ge- ein Spiegel der auch durch legislative Maßnah-
währen Vademecum-Handschriften os wie men gelenkten Neuo rdnung der karo lingi-
Hand- und Lehrbücher pro minenter Persön- schen Klo sterbiblio theken sein (MBK 1932,
lichkeiten des Mittelalters o ft Einblick in ihre 164; Go ttlieb 1890, 322). Zum ersten Mal sind
individuelle Lektüre- und Lehrgewohnheiten. nun auch zahlreiche Privatsammlungen karo -
Für das Rezeptio nsverhalten der Fo lgezeit lingischer Intellektueller und so gar einige
wurde ebenso die bewußte karo lingische An- Adelsbiblio theken nachweisbar (Th o mpso n
knüpfung an spätantike Auszeichnungsge- 1939, 54 ff. passim; Riché 1981, nr. VIII).
wo hnheiten und Buchf o rmen maßgeblich. Gleichsam als Gegenbild zur äußeren Ord-
Während sich z. B. die Unziale bezeichnen- nung war der nun stark aufko mmende Ty-
derweise nur no ch in Teilen Italiens und in pus des Sammelko dex Ausdruck der inneren
Ro m bis zum beginnenden 9. Jahrhundert Ordnung, die im karo lingischen Buchwesen
in lebendiger Anwendung befand (Bischo ff herrschte. Er ermöglichte es, Gleichartiges zu-
1981, 28 ff) und die spätantiken Majuskeln sammenzufassen, reduzierte aber gleichzeitig
(Kapitalis und Unziale) anso nsten aber nur durch die feste Bindung lo ser Pergamentheft-
no ch für herausragende Schriftzeugen (v. a. chen ( libelli) ganz erheblich die Gefahr des
Evangeliare) herangezo gen wurden (zum tra- Verlustes vo n Lagen. Die vergrößerte Überlie-
ditio nsbedingten Fo rtleben einer leblo sen und ferungssicherheit, die die Verdrängung des
gekünstelten Unziale in spätkaro lingischen spätantiken/mer
o wingischen Heiligenlibellus
und o tto nischen Prachthandschriften: Lo we durch den im 8. Jahrhundert entstandenen
1972, 399—416), rangen sie im No rden bis ins Buchtyp des Passio nals (> ‛Legendar’) er-
12. Jahrhundert als Auszeichnungsschriften zielte, könnte man geradezu als ’buchge-
um den pro minentesten Platz innerhalb der schichtliche Wende vo n der Mero winger- zur
Schriftenhierarchie. Klassische Fo rmgebung Karo lingerzeit’ bezeichnen (älteste Hand-
im Kano n der Kapitalis, die sich so gar an kai- schriften: Philippart 1977, 31; Ko rrektur und
serzeitlichen Inschriften o rientieren ko nnte, Ergänzung: Berschin 1986, 5 f, n. 10). Das Pas-
so wie Ausbau und Beherrschung vo n bis zu sio nale, das in mo nastischen Kreisen ganz we-
drei- o der vierfachen Schriftsystemen waren sentlich das gemeinschaftliche wie individuelle
dabei Kennzeichen qualitätvo ller Skripto rien Bedürfnis nach Erbauungsliteratur befrie-
(z. B. To urs). Auch war für bestimmte karo lin- digte, begann scho n damals ein gro ßer
gische Zentren die Wiederbelebung spätanti- Bucherfo lg zu werden, der in den mehrbändi-
ker Buchfo rmate sympto matisch (Lo rsch/Fer- gen Co rpo ra des 12. Jahrhunderts seinen Hö-
rières), zu denen das quadratische Fo rmat und hepunkt erreichte, in denen Heiligenviten für
das dypticho nartige Buchfo rmat (schmales das ganze Kirchenjahr vereinigt waren (Ber-
Ho chrechteck) zählten; letzteres erfuhr allein schin 1986, 7 f). Daß man auch in anderen Be-
scho n aus ästhetischen und praktischen Grün- reichen geneigt war, inhaltlich geschlo ssene
den intensive Weiterverwendung bis ins Spät- Handschriften herzustellen, zeigen die etwa
mittelalter (Christ 1943, 56), insbeso ndere weil zur gleichen Zeit entstandenen 30 Grammati-
sich sein Fo rmat bestens für Rechnungsbücher kersammelhandschriften vo m Ende des 8. bis
eignete, die sich zum Transpo rt bequem in tiefe ins erste Drittel des 9. Jahrhunderts (Bischo ff
Manteltaschen stecken ließen. Demgegenüber 1981, 219), die zahlreichen Handbücher zu den
war der Wiederbelebung der antiken Tachy- artes liberales und die Kapitulariensammlun-
graphie (tiro nische No ten) zur alltäglichen, gen des 9. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist
schnellen schriftlichen Fixierung vo n No tizen überhaupt die gewaltige Steigerung der Buch-
etc. nur kurze Lebensdauer beschieden. Ihre pro duktio n, die mit dem 9. Jahrhundert ein-
Beherrschung und Anwendung verflüchtigte setzte (2000 Handschriften bis 800, 9000
sich no ch im Laufe des ausgehenden 9. Jahr-
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 545

Handschriften im 9. Jh.), dann aber im ‛dunk- einem herausragenden Jahrhundert der Über-
len’ 10. Jahrhundert so wo hl in der Verwal- lieferung antiker Texte gewo rden (Munk Ol-
tungs- und Rechtsschriftlichkeit wie in der li- sen 1982—1989).
terarischen Buchpro duktio n einen erheblichen Über ein halbes Jahrhundert nach der Ent-
Einbruch erlitt, um im 11. und v. a. im 12. wicklung der Buchminuskel hatte sich die
Jahrhundert wieder enorm anzusteigen. zweite of lgenreiche Schriftentwicklung der
Diese materiellen Gegebenheiten hatten na- Karo lingerzeit vo llzo gen, als die Kanzlei Lud-
türlich einen nicht zu unterschätzenden Ein- wigs des Deutschen seit 859 ihre traditio nelle
fluß auch auf den Lektüreplan der Schulen, Urkundenschrift durch die diplo matische Mi-
dessen allmählicher Wandel im Laufe des Mit- nuskel zu ersetzen begann. Der Schriftwechsel
telalters hier nicht skizziert werden kann (zur ist jedo ch nicht das Ergebnis einer weiteren
Änderung und Erweiterung des Klassiker- Schrift-Co rrectio , so ndern vielmehr sichtbarer
kano ns: Glauche 1970). Festzuhalten bleibt Ausdruck eines Generatio nswechsels in einer
aber, daß die o hnehin traditio nell verschiede- eher minderbemittelten Kanzlei, vielleicht
nen Ausbildungsziele an Klo ster- und Do m- auch im Kleinen das augenfälligste Zeugnis
schule auch zu verschiedenen Literaturschwer- für den Zerfall des Karo lingerreiches, in dem
punkten führten, die sich bisweilen auch in der nur der kulturell führende Westen unter Karl
unterschiedlichen Struktur vo n Do m- und dem Kahlen das karo lingische Erbe weiter-
Klo sterschulbiblio theken widerspiegelten. Oft trug, während sich der germanische Osten aus
helfen klo ster- und biblio theksgeschichtliche dem Gesamtreich zu verabschieden begann
Nachrichten, die o riginäre Handschriften- (Kehr 1932, 21). Die Idee, eine Buchschrift im
Überlieferung und Literaturpro duktio n so wie Urkundenwesen zu verwenden, erwies sich al-
Mitteilungen aus Biblio thekskatalo gen und lein scho n wegen ihrer leichten Erlernbarkeit
so nstigen Bücherverzeichnissen, einen tieferen und bequemen Handhabung als tragfähig und
Einblick in das Lehr- und Lektürepro gramm dauerhaft: Die diplo matische Minuskel wurde
der Schulen zu gewinnen. Sicherlich haben zur wesentlichsten Urkundenschrift der ho ch-
sich etwa die Ideen des Investiturstreits und mittelalterlichen Kanzleien. Seit dem 10. Jahr-
der Klo sterrefo rmen im 11./12. Jahrhundert hundert ko mmt sie auch in der westfränki-
im Lektüreplan der Schulen niedergeschlagen, schen Kanzlei zur Anwendung.
auch wenn es zu katego risch geurteilt sein
dürfte, daß sich die jeweiligen mo nastischen
Refo rmrichtungen ebenso gut durch ein eige- 4. Zwischen Wissenschaft,
nes Literaturpro fil ausgezeichnet hätten, wie Gottverlangen und Weltgetriebe.
sie sich etwa nach Habit o der Liturgiegewo hn- Wandlungen im Hoch- und
heiten unterschieden hätten (so Ko ttje 1969). Spätmittelalter
Unbestritten wird man in den Massenklöstern
des Cluniazenser- o der Zisterziensero rdens zu- In der vielgestaltig gewo rdenen Welt des
nächst nur vo n einem gewachsenen Bedarf an Ho chmittelalters, die ähnlich schrift- und gat-
liturgischen Texten ausgehen dürfen. Das so n- tungsinno vativ wie die Karo lingerzeit wurde,
stige Lektürepro gramm v. a. hinsichtlich der vo llzo g sich im Übergang zur go tischen Zeit
Klassiker wird in ganz erheblichem Maße des Spätmittelalters auf breiter Fro nt eine
auch durch die Kulturfeindlichkeit bzw. -be- abendländische Kultur- und Bildungsrevo lu-
jahung des Abtes o der Schulleiters, durch die tio n, die die einschneidendsten Veränderungen
lo kale Schultraditio n und letztendlich auch im Schrift- und Buchwesen überhaupt be-
durch die individuelle Ausstattung der Klo - wirkte. So ziale, wirtschaftliche, geistige und
sterbiblio thek bestimmt gewesen sein. Die geistliche Entwicklungen, die sich freilich
Grundlagen hierfür waren natürlich ebenso in größtenteils scho n im 11./12. Jahrhundert an-
der Karo lingerzeit gelegt wo rden, die uns zahl- gekündigt hatten, erschlo ssen dem wichtigen
reiche Archetypen hinterließ und überhaupt kulturellen Aspekt der Schriftlichkeit völlig
neue Haltungen und Trägerschichten. Lesen
erst das Überleben so manches Klassikertextes und Schreiben begannen sich nach ihren tra-
ermöglichte. Erst wieder das Ho chmittelalter
brachte es innerhalb der allgemein gestiegenen ditio nellen Gebrauchsfeldern und -fo rmen im-
Ko piertätigkeit zu einer beso nders starken mer mehr zu differenzieren und wurden zu-
Klassikerüberlieferung, wo bei freilich den gleich lebensbestimmende Funktio nen für den
auctores maiores gegenüber früher ein merk- einzelnen wie für die Gesellschaft (Hajdu
lich größeres Eigengewicht in der Bildung bei- 1931), seitdem der wirtschaftliche und so ziale
gemessen wurde. So ist das 12. Jahrhundert zu Aufstieg neuer Schichten das Alltagsleben
546 IV. Schriftkulturen

ko mplexer gestaltete und die tiefgreifenden Wechselverhältnis zu den Wandlungen der Bil-
Wandlungen in Kirche und weltlicher Herr- dungsstrukturen zu verstehen: Ebenso wie
schaft seit dem Investiturstreit die Lebensfo r- südlich der Alpen, wo es z. B. stets ein laikales
men stärker zu reglementieren begannen. Da- No tariatswesen gegeben hatte, wurde nun
mit setzte im Spätmittelalter eine beispiello se auch in den anderen Teilen des Abendlandes
Verschriftlichung und Verrechtlichung der Ge- der Laienstand mit wachsender Schriftlichkeit
sellschaft ein, in der die do kumentierende, ar- zunehmend lese- und schreibkundig. So blieb
gumentierende und legitimierende Schriftfo rm die Fähigkeit schreiben zu können nicht mehr
immer erheblicher wurde und ihrem Besitzer alleine dem geistlichen Stand vo rbehalten,
entscheidende Rechtsvo rteile verschaffte (zur so ndern ero berte sich neben den alten kirchli-
explo sio nsartigen Ausbreitung der allgemei- chen Einrichtungen (Klo ster/Do mschule) als
nen Schriftlichkeit seit dem Beginn des 13. neue schreibintensive Bereiche die z. T. hieraus
Jahrhunderts: Keller 1990). Ein gutes Beispiel hervo rgegangenen Universitäten und Ko m-
dafür, wie sehr die Schriftlichkeit in den Dien- munalschulen samt ihrem berufsgebundenen
ste vo n Rechtsgleichheit und No rmenko n- Umfeld. Damit ging dem Klerus das frühmit-
tro lle gestellt wurde, liefern etwa die neuen telalterliche Bildungs- und Schriftmo no po l
mo nastischen Gro ßo rganisatio nen des Ho ch- verlo ren: War die Schriftlichkeit bislang nur
und Spätmittelalters: Um die permanente Re- auf wenige Gebrauchsfelder beschränkt ge-
fo rm, ja überhaupt die no rmative Leitung des wesen (liturgische und theo lo gische Bücher;
jeweiligen Ordens und die Ko mmunikatio ns- Urkunden), so wurde sie nun aus ihrem relativ
fähigkeit unter den einzelnen Gliedern auf- iso lierten Dasein in neue Bereiche getragen,
rechterhalten zu können, waren verschrift- deren Bedürfnisse mit z. T. völlig neuen
lichte No rmen nötig gewo rden, die auf völlige Schrift- und Buchfo rmen befriedigt werden
Einheitlichkeit drängten (Melville 1991, mußten. Da in den aufstrebenden Städten seit
Schreiner 1992). Ebenso war das Bedürfnis dem 13. Jahrhundert der Bedarf an Schreib-
nach schriftlicher Ko mmunikatio n gestiegen, und Lesekundigen in Kanzlei-, Verwaltungs-
was sich z. B. in den zahlreichen ho ch- und und Buchführungswesen, in Handel (Pirenne
spätmittelalterlichen Briefsammlungen nie- 1951, 22 ff: Kaufmanns- und Rechungsbücher,
derschlug. Natürlich wurde die Schrift in zu- Handelsko rrespo ndenz) und Handwerk im-
nehmenden Maße auch der städtischen und mer mehr Bedeutung gewann, entstanden
landesherrlichen Verwaltung und Kanzleihal- zahlreiche kleine Schulen, an denen die no t-
tung dienstbar gemacht, die im Pro zeß der wendigen Grundkenntnisse im Lesen, Schrei-
spätmittelalterlichen Verstädterung und Ter- ben und Rechnen vermittelt wurden (Ennen
rito rialisierung v. a. im 14. Jahrhundert zahl- 1976). So sind z. B. scho n früh (12./13. Jh.)
reiche neue Fo rmen vo n Geschäftsschriftgut Kaufmannsschulen im blühenden flandri-
hervo rbrachten (Pitz 1959; Patze 1970: Stadt- schen Raum und in der wichtigen Ostseestadt
bücher, Rats- und Gerichtspro to ko lle, Steu- Lübeck (St. Jako bi, 1252/62) zu beo bachten.
erlisten, Verwaltungsunterlagen, Register, lo - No ch früher hatte freilich das traditio nelle
kale Rechtsgewo hnheiten etc.). Und selbst bei Laiengelehrtentum in den o beritalienischen
traditi
o nell mündlichen o F rmalhandlungen Ko mmunen Schreib- und Grammatikschulen
wie etwa der Beeidung beim Vertragsabschluß für Laien eingerichtet. Eine ebenso neue schu-
zweier Herrscher erhielt die schriftliche Beur- lische Einrichtung bildeten die pro fessio nellen
kundungsfo rm seit dem 12. Jahrhundert im- Schreibmeister, die o ftmals vo n einem Ort zum
mer mehr Eigengewicht (Heinemeyer 1936, andern wanderten, um jeweils ihren Schul-
356 f). Daneben förderte freilich auch der spät- und Schreibunterricht an po tentielle Kunden
mittelalterliche Hang zum Theo retisieren die verschiedenen Alters zu vermitteln (zu ABC-
Verschriftlichung verschiedenster Lebensbe- Schulen: Bischo ff 1966, 76). Bemerkenswert
reiche in nicht unerheblichem Maße, so daß erscheint uns die Akzentverschiebung im Er-
z. B. völlig neue Fo rmen der pragmatischen ziehungsplan dieser Schulen, die den ehemals
Traktatliteratur, v. a. in Fo rm der flo rierenden kirchlichen Unterrichtssto ff zugunsten einer
Artes-Literatur, schriftliche Anleitung in allen berufsbezo generen Ausbildung im Sinne bür-
nur erdenklichen Betätigungsfeldern gaben gerlicher Interessen aufgaben und einer Säku-
(ars dictandi: Briefwesen; ars notaria: Kanzlei- larisierung der Bildung Raum bo ten, wie sie
und Beurkundungspraxis; modus scribendi: das ganze Mittelalter nicht gekannt hatte. So
Schriftwesen; ars praedicandi: Predigtwesen). ist auch zu verstehen, warum sich die o ft geist-
Diese tiefgreifenden Veränderungen im Be- lichen Lehrer heftig gegen die neuen Lehrin-
reich der Schriftlichkeit sind nur in ihrem halte wehrten und die Stadtschulen no ch lange
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 547

Zeit reine Lateinschulen blieben (Lucas 1969, mittelalter aber immer mehr vo n gelehrten
78 ff). Laien. Deshalb verdankten die vo lkssprachli-
Der Stellenwert, den die Schriftlichkeit in- chen Werke ihre Literaturfähigkeit in der Re-
zwischen erlangt hatte, mag allein daraus er- gel der mittellateinischen Grundlage, die gat-
sichtlich werden, daß zum ersten Mal seit der tungs-, stil-, ja buchspezifisch vo rbildhaft
Antike wieder Berufsschreiber dem Laien- wirkte. Ein gutes Beispiel alleine aus dem Be-
stand entstammten und sich das öffentliche reich der Buchgattungen sind etwa die deut-
Schreibwesen in immer spezifischere Berufe schen Liederhandschriften des ausgehenden
auffächerte (scribae cathedrales, notarii publici 13. und 14. Jahrhunderts, die in den viel älte-
etc.). Neben den weltlich-pro fanen Erfo rder- ren lat. Lieder- und Gedichtsammlungen (z. B.
nissen der neuen ‛bürgerlichen’ Gesellschaft den Carmina Burana, ca. 1230) ihr Vo rbild ge-
so rgten im geistlichen Bereich die gesteigerte habt haben dürften. Als Urkunden- und Ge-
Predigttätigkeit und vertiefte Religio sität der schäftssprache jedo ch setzte sich die deutsche
neuen Orden (D
o minikaner/Franziskaner; Sprache im Gegensatz zu anderen Natio nal-
Mystik), so wie die tiefe Vo lksfrömmigkeit für sprachen wie Angelsächsisch o der Pro venza-
einen eno rmen Buchbedarf. Den o rdensinter- lisch erst spät in den mittelalterlichen Kanz-
nen, aber auch individuellen meditativen wie leien durch — letztendlich erst in dem Augen-
erbaulichen Lesebedürfnissen des Vo lkes, die blick, als es vo r dem Hintergrund der zuneh-
übrigens auch das traditio nelle Leseverhalten menden Rechts- und Urkundfähigkeit der un-
grundlegend veränderten (statt lautem leises teren Bevölkerungsschichten on twendig
Lesen: Saenger 1982), trug eine gewaltige la- wurde, den Urkundentext in der Vo lkssprache
teinische, später auch vo lkssprachliche Pro - zu verlesen und zu erklären, weil Latein in die-
duktio n vo n Brevieren und Stundenbüchern sen Kreisen nicht verstanden wurde (seit der
(seit 13. Jh.), Armenbibeln (seit Mitte des 13. ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Hirsch
Jahrhunderts, Schmidt 1959), Specula (z. B. 1938, 233; Kirchho ff 1957). Daher sind die äl-
Speculum humanae salvationis = Heilsge- testen Zeugnisse einerseits beim niederen Adel
schichte in Reimpro sa, seit Anfang des 14. zu finden, der keine eigenen Kanzleien unter-
Jahrhunderts), und Legendaren Rechnung. halten ko nnte und gezwungen war, Urkunden
Insbeso ndere ist an die verschiedenen Legen- in einfacher Fo rm herzustellen, und anderer-
dae zu erinnern, vo n denen die des Jaco bus de seits in den Urkunden der Städte und in den
Vo ragine wegen ihrer euro paweiten Überlie- Geschäftsurkunden des aufstrebenden Bür-
ferung und zahlreichen ov lkssprachlichen gertums, wo die Nutzung der Vo lkssprache
Übersetzungen die erfo lgreichste wurde (über den praktischen Bedürfnissen entgegenkam.
1000 mittelalterliche Handschriften). Dementsprechend langsam zo gen die latei-
Das Interesse an lateinischen Texten und nisch geprägten Klöster nach (zum städtischen
v. a. auch an vo lkssprachlichen Übersetzun- Bereich: Merkel 1930, Skrzypczak 1956).
gen lateinischer Werke o der so gar an o riginär Neben der weltlich-materiellen Nutzanwen-
vo lkssprachlichen Texten, die bislang aus- dung vo n Schrift und ihrer Indienstnahme für
schließlich dem mündlichen K o mmunika- religiöse und erbauliche Zwecke eröffnete sich
tio nsbereich angehört hatten und erst in ihrer mit dem Studienbetrieb der entstehenden Uni-
verschrifteten Fo rm literaturfähig gewo rden versitäten ein dritter gro ßer Bereich der spät-
waren (→ Art. 41), war aber nicht allein nur in mittelalterlichen Schrift- und Buchkultur. Vo r
den adeligen Kreisen gewachsen. Die Schicht allem seitdem sich der Fächerkano n an den
der Rezipienten derartiger Texte war v. a. brei- Ho hen Schulen gewandelt hatte und an die
ter gewo rden, seitdem auch das geho bene Bür- Stelle des traditio nellen Artes-Studiums ver-
gertum in den Besitz vo n Handschriften ge- mehrt philo os phische Lehrinhalte getreten
langte. Hierin ko mmt ein eno rmer Gesin- waren (Köhn 1986), hatte sich die Buchland-
nungswandel zum Ausdruck, weil sich zum er- schaft der wissenschaftlichen Literatur ent-
sten Mal eine blo ße Hilfssprache zur Eigen- scheidend verändert. Insbeso ndere in den
ständigkeit emp o rgeschwungen hatte und Städten der gro ßen alten Universitäten ent-
nicht mehr nur dem Erlernen und Verständnis wickelte sich daraufhin im 13. und 14. Jahr-
vo n Latein und lateinischen, v. a. theo lo gi- hundert das so g. Pecienwesen, das eine o rga-
schen Texten diente. Latein hatte mit anderen nisierte und ko ntro llierte Vervielfältigung vo n
Wo rten seine Mo no po lstellung als Literatur- studienrelevanter juristischer, kan o nistischer
sprache verlo ren. Freilich wurde die neue Lite- und the o ol gischer Literatur ermöglichte.
ratur no ch häufig vo n lateinisch gebildeten Dazu wurden ko rrigierte No rmalexemplare
Klerikern geschrieben und verfaßt, im Spät- der Universität bei den beauftragten stationa-
548 IV. Schriftkulturen

rii verwahrt, die alleine die Aufgabe hatten, die cher, die sympto matisch für die Akzentverla-
Texte zum Abschreiben an die Studenten ‛pe- gerung in der Bildung der spätmittelalterlichen
cienweise’ auszuteilen (Destrez 1935; Po llard Gesellschaft waren, müssen reißenden Absatz
1978). Im 15. Jahrhundert jedo ch verschwand gefunden haben. Um vo n Anfang an eine mög-
diese Einrichtung, da sich der Studienbetrieb lichst gro ße Einheitlichkeit der Texte und eine
gewandelt hatte und die Studenten ihre Vo r- schnellere und damit zugleich ko stengünsti-
lesungsmitschriften z. B. nach Diktat des Ma- gere Fertigung zu gewährleisten, wurden be-
gisters anfertigten. Auf jeden Fall flo rierte das so nders die Texte der vielbenutzten, vo n An-
im Dienste der universitären Buchbedürfnisse fang an auf Verschleiß angelegten Stunden-
stehende Schreibgewerbe ganz außergewöhn- bücher, Breviere, Regelbücher, und v. a.
lich und wurde in den wichtigsten Zentren Schulbücher o ft nach Art der späteren Druck-
bald so bedeutend, daß es seine Buchpro duk- bo gentechnik auf gro ße Pergamentblätter ge-
tio n nach dem jeweils beso nderen Schwer- schrieben, die anschließend gefaltet und auf-
punkt der Lehre abstimmte. So brachte es geschnitten wurden (Samaran 1976). Über-
etwa in Paris, dem Zentrum der Theo lo gie, haupt scheinen im ko mmerziellen Bereich grö-
und in Bo lo gna, dem der Rechtsstudien, spe- ßere Schnelligkeit und höhere Pro duktio nslei-
zifische Buchtypen wie die Pariser Taschenbi- stungen und natürlich die allgemein gestiegene
bel (13. Jh.: Bischo ff 1986, 44; zu glo ssierten Schriftlichkeit die auch so nst feststellbaren
Pariser Bibeltexten, 12. Jh.: De Hamel 1984) Öko no misierungstendenzen kräftig gefördert
o der den Bo lo gneser Rechtsko dex hervo r. Oft zu haben. Häufig wurden nun kleinere und en-
wurden diese Bucherzeugnisse so gar in einem gere Schriften verwendet, die zugleich ein klei-
eigens entwickelten lo kalen Schrifttyp ge- neres Buchfo rmat ermöglichten, das o hnehin
schrieben, der fo rmbildend für andere Schrif- wegen seiner Handlichkeit sehr beliebt war
tausprägungen war und o ft nach seinem Ent- (Taschenevangeliare, Ordensregeln, No tizbü-
stehungso rt benannt wurde (lo kale Schriftter- cher, Glo ssare o . Erbauungsschriften). Oder
mini im 13. Jh. z. B. littera Bononiensis/Pari- man versuchte, Platz auf dem teuren Perga-
siensis). Zweifello s erreichte die gewerbliche ment zu sparen, indem man den Zeilenabstand
und in diesem Maße nie zuvo r pro fito rientierte verringerte und die Zeilenzahl vermehrte.
Buchherstellung in den herausragenden Uni- Außerdem gelang es durch eine o ft extreme
versitätsstädten ihren Höhepunkt. Allein Steigerung der Abkürzungen, erheblich mehr
scho n die allenthalb neu entstehenden Aufga- Text auf der gleichen Seitenzahl unterzubrin-
benfelder im Buchmetier führten zu einer ge- gen, o der man wählte einfach dünnere Perga-
waltigen Ko mmerzialisierung der Schriftlich- mentso rten, die es erlaubten, mehr Blätter in
keit und zu einer außero rdentlichen Speziali- einem gleichstarken Buch unterzubringen. Die
sierung der damit verbundenen Berufe (statio- Vielschreiberei und das Bedürfnis nach
narius — pro fessio neller Verleger: Widmann Schnelligkeit etwa bei Vo rlesungsmitschriften
1975, 32 f; Buchhändler — ca. 1170 zum ersten förderte freilich seit dem 13. Jahrhundert die
Mal erwähnt: Kirchho ff 1853; Buchverleiher, Wiederentstehung einer praktischen Kursive,
-binder und -illuminato r). Das berufsmäßige nachdem das Mittelalter bis auf kleinere Glo s-
Schreiben erfaßte letztendlich so gar geistliche senschriften ganz o hne Gebrauchsschrift aus-
Gemeinschaften wie die der Brüder vo m Ge- geko mmen war. Im 14. Jahrhundert gehörten
meinsamen Leben, die sich mit dem Schreiben dann Kursive und der sich seit dem 13. Jahr-
vo n Büchern ihren Lebensunterhalt verdien- hundert allgemein ausbreitende Beschreibsto ff
ten. Papier, der neben dem Papyrus der zweite o ri-
Freilich hatte unterdessen die spätmittel- entalische Beschreibst o ff war (Santifaller
alterliche Lesewut in so lchem Maße Kirche, 1953, 133—52), gewissermaßen zusammen (→
Mönchtum und Wissenschaft, aber ebenso Art. 8, 12). Da Papier leichter zu handhaben
weite Teile der Bevölkerung ergriffen, daß sich und billiger in der Anschaffung war, förderte
die Buchpro duzenten gezwungen sahen, ihre es no chmals in erheblichem Maße die Viel-
Schreibtätigkeit zu mechanisieren und öko - schreiberei.
no misieren. Nach eher zögerlichen Versuchen Das Spätmittelalter hatte aber nicht nur
ging man scho n bald zu einer Massenpro duk- eine neue Haltung zum Schreibpro zeß gewo n-
tio n der aktuellen Literaturen über, mit der nen, so ndern ebenso im Hinblick auf die Fo r-
das Buch zum ersten Mal eine Öffentlichkeit mung der Schriften sein Schriftbewußtsein ra-
und Gleichartigkeit erreichte, die erst der dikal verändert. Im Zuge eines allmählichen,
Buchdruck übertreffen so llte. Beso nders juri- ganz unmerklichen Stilwandels, der an den
stische Texte, aber auch elementare Schulbü- Stilwechsel der bildenden und darstellenden
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 549

Kunst erinnert (kar o lingische/o ott nische/r


o - gleichwertigen Teilen. Wie in der gespro che-
manische/go tische Kunst) hatte sich die vo n nen Anwendung des scho lastischen Lateins,
Schreibergeneratio n zu Schreibergenerati o n war auch bei der schriftlichen Niederlegung
weitergegebene karo lingische Minuskel in der dialektischen Gedankenführung, die im-
ähnlicher Weise verändert. Zum ersten Mal mer ko mplizierter wurde, Überschaubarkeit
hatte sich mit der neuen go tischen Minuskel o berste Pflicht. So entwickelte man v. a. in der
eine Schriftentwicklung allein auf der ko n- wissenschaftlichen theo lo gischen und juristi-
struktiven Grundlage einer kalligraphischen schen Literatur neben der eben angespro che-
Minuskel vo llzo gen, während bislang die Neu- nen inneren Gedanken- und Sprachstruktur
entwicklungen im lateinischen Schriftsystem ( forma tractatus) eine darauf abgestimmte äu-
(Unziale, Halbunziale, karo lingische Minus- ßere Textstruktur ( forma tractandi), durch die
kel) stets Kalligraphisierungen vo n jeweils wei- dem Leser der Denkpro zeß in derselben Weise
terentwickelten flüchtig geschriebenen kur- erläutert wurde, wie seinem Intellekt das
siven o der halbkursiven Schriften waren, eine eigentliche Wesen des Glaubens o der des je-
schriftgeschichtliche Erscheinung, die erst wie- weiligen Rechtsinhalts verdeutlicht werden
der bei der spätmittelalterlichen Bastarda als so llte (zur spätmittelalterlichen Buch‘archi-
kalligraphisierter go tischer Kursive zu beo b- tektur’: Palmer 1989; Abb. 40.2). Das neue
achten sein wird (→ Art. 12—14). An die Stelle Buchlayo ut war natürlich auch inso fern ein
vo n Harmo nie und Ausgewo genheit in der Spiegel der neuen Lese- und Studiergewo hn-
Raumaufteilung zwischen Buchstaben und heiten, als dadurch die o ptische Memo rierfä-
Zeilen trat die Tendenz zur Verdichtung der higkeit gesteigert wurde und sich wichtige
Schrift, deren Buchstaben in systematischer Textstellen schneller finden ließen, was viel-
Weise o rganisiert wurden. Damit strebte man leicht in den lo gisch strukturierten und hier-
in der visuellen Präsentatio n der go tischen archisierten Summen (Dempf 1925) und En-
Schrift nach einer Verdeutlichung (manifesta- zyklo pädien des Spätmittelalters am deutlich-
tio) der geo rdneten, lo gischen Struktur der sten zum Ausdruck kam. So mit hatte alles
Buchstaben, wie man im scho lastischen Den- menschlich Wahrnehmbare seine ihm allein
ken der Zeit die geo rdnete und lo gische Ge- zugewiesene Stelle im mittelalterlichen Ko s-
dankenführung als die allein gültige Denkge- mo s, dessen rechte Ordnung sich in der Buch-
wo hnheit ( modus operandi) und als vo rnehm- und Textstruktur widerspiegelte: Während im
stes Ordnungsprinzip verstand (Fichtenau Makro ko smo s der lateinischen Schriften der
1946, 186 ff., Marichal 1963, 231—41). Denn jeweilige Schrifttyp nur mit dem ihm zugehö-
auch die menschliche Perzeptio n vo n Schrift rigen Buch- und Urkundentyp als ein harmo -
auf der Ebene der reinen Sinneswahrnehmung nisches Ganzes empfunden wurde, hatte selbst
galt als eine Fo rm vo n Ratio nalität, so wie sich der jeweilige Buchstabentyp im Mikro ko smo s
die Erklärung des Glaubens aus reiner Ver- des lateinischen Textes die ihm gemäße Stelle
nunft — als einem geschlo ssenen, unabhängi- einzunehmen. Nur so wird es verständlich,
gen, aber nicht geo ffenbarten Gedankensy- warum zum ersten Mal in der Zeit, die die ge-
stem — in ratio naler Ordnung vo llzo g. Auf samte erfaßbare Welt zu systematisieren und
diese Weise fand die scho lastische Gedanken- summieren versuchte, die vielgestaltig gewo r-
struktur ihre Widerspiegelung in einer ihr art- dene eine lateinische Schrift in ein festeres Na-
verwandten graphischen Darstellung: Wie mensschema gefügt und eine der spätmittelal-
auch die similitudines im Gedankenschematis- terlichen Schriftenvielfalt entsprechend gro ße
mus eine innere Parallelität der Gedanken o f- Namensvielfalt entwickelt wurde.
fenbarten (Ho mo lo gie), so fand sich dieses ra- Die ungeheure Starre, die sich freilich mit
tio nale Prinzip im Rahmen der mo rpho lo gi- der go tischen Schriftfo rmung anbahnte, ver-
schen, lexikalen und sprachlichen Umgestal- mo chte erst das 15. Jahrhundert durch klarere
tung des nach äußerster Prägnanz strebenden Fo rmen zu überwinden. Do ch hatte gerade
sch
o lastischen Lateins (Anal
o giebildungen der Humanismus in seiner ganzen Antikense-
durch Anhängung gleicher Suffixe, parallele ligkeit die bislang o rganisch verlaufene Ent-
Neubildungen, V o rliebe für parallelismus wicklung der lateinischen Schrift künstlich un-
membrorum und Reimpro sa) und zudem terbro chen, als er mit der Rezeptio n der ka-
durch die Gleichbehandlung der Buchstaben- ro lingischen Minuskel versucht hatte, eine ver-
schäfte in einer äußeren Parallelität der die Ge- meintlich antike Schrift wiederzubeleben, um
danken und Wo rte umfassenden Fo rmen wie- sie zur internatio nalen Kulturschrift zu ma-
der. Damit wurde die go tische Schrift in ihrer chen. Die hieraus hervo rgegangene humani-
reifen Ausprägung zu einem System vo n stische Minuskel war gegenüber den stets mit
550 IV. Schriftkulturen

Abb. 40.2: Gotischer modus operandi .


Das vielleicht ausgeklügeltste Seitenlayout in den hochmittelalterlichen Kommentarhandschriften plaziert die
allein wichtige Glosse in das Zentrum der Seite, während die Textgrundlage (in größerer Schrift) an den Rand
wandert. Zitate im Kommentar sind rot unterstrichen, theologische Autoritäten sentenzenhaft zitiert und mit
einem Verweissystem aus roten Punkten und Strichen über die marginal angeführten Siglen erschließbar (ag =
Augustinus, ca = Cassiodor, IeR = Hieronymus, Rem = Remigius v. Auxerre). Petrus Lombardus, Commen-
tarii super Psalmos . Oxford, Bodleian Library, Ms. Auct. D.2.8 (S. C. 2337), fol. 105 r , England, saec. XIIex.
(aus: M. B. Parkes, „The Influence of the Concept of Ordinatio and Compilatio on the Development of the
Book“, Medieval Learning and Literature . Essays presented to Richard William Hunt, Oxford 1976, Taf. 9).
Leben erfüllten mittelalterlichen Schriften eine (1681) zu einem Wissenschaftssystem gebün-
ähnlich leblo se Hülle (vgl. Abb. 12.29) wie die delt, aus dem unsere mo dernen Disziplinen
wiedererschaffenen humanistischen Sprach- Diplo matik und Paläo graphie hervo rgegan-
und Stilmo delle ein Gegenbild zur Lebendig- gen sind.
keit des bis zur Scho lastik anpassungsfähig ge-
bliebenen mittelalterlichen Lateins waren.
Beide humanistischen Ausdrucksfo rmen zeu- 5. Methoden, Ergebnisse und
gen vo n einer ähnlich entseelten Künstlichkeit, Desiderate der Forschung
die immer dann eintritt, wenn eine Kultur- Die paläo graphische Ordungsgröße ‘Skripto -
entwicklung zu ihrem Ende geko mmen ist und rium’, die sich für die frühmittelalterliche
zum Objekt erster wissenschaftlicher Betrach- Schriftlichkeit als griffige Katego rie kunstge-
tungen wird: Denn schließlich setzten sich die schichtlicher wie paläo graphischer Untersu-
Humanisten nicht nur mit der klassischen an- chungen erwiesen hat (Delisle 1885, Chro ust
tiken Grammatik und Sprache auseinander, 1902—1940, Bruckner 1935—1978, Bischo ff
so ndern rezipierten ebenso antike Buch- und 1974 und 1980) und erst jüngst auch auf die
Inschriftenschriften und begannen, über die o tto nische und frühsalische Zeit Anwendung
Geschichte des lateinischen Schriftsystems gefunden hat (Ho ffmann 1986), dürfte selbst
nachzudenken (Casamassima 1964). Do ch für die zunächst sehr einheitlich wirkende
wurden die humanistischen Ansätze zur Schriftlandschaft des Ho chmittelalters nutz-
Schriftbetrachtung erst in Jean Mabillo ns epo - bar sein. Allerdings fehlen no ch weitgehend
chalem Wissenschaftswerk De re diplomatica
40.  Das Mittelalter in Europa: Lateinische Schriftkultur 551

umfassende paläo graphische und biblio theks- scho ff (†) in Aussicht gestellter Katalo g sämt-
geschichtliche Untersuchungen zu den gro ßen licher Handschriften des 9. Jahrhunderts
ho chmittelalterlichen Skripto rien, in denen (Schätzzahl ca. 9000 Handschriften), der vo r
etwa auch spezifische Charakteristika der seiner Veröffentlichung steht, wird in seiner
neuen Orden systematisch herausgearbeitet mannigfachen Katalysato rwirkung kaum zu
werden müßten. Im schriftgeschichtlichen Be- überschätzen sein. Wir dürfen mit maßgeben-
reich wäre mit der Geschichte der Halbunziale den Präzisierungen und Ko rrekturen in der
no ch grundlegende Arbeit zu leisten. Ebenso - Schriftlichkeits- und Skript o riumsf
o rschung
sehr würde sich eine Geschichte der Go tisie- rechnen, die v. a. wegen der Rückdatierung
rung des älteren lateinischen Schriftsystems zahlreicher Textträger auf das 9. Jahrhundert
lo hnen, da sie zahlreiche Wanderungsbewe- in der Überlieferungsgeschichte klassischer
gungen der neuen Schrift etwa vo n West nach und mittellateinischer Auto ren etliche ältere
Ost aufzeigen könnte. Unter den Hilfsmitteln Textstemmata in Frage stellen werden. In die-
zur genaueren zeitlichen und örtlichen Eino rd- sem Zusammenhang kann nur erneut mit
nung vo n Handschriften sind neben zahlrei- Nachdruck die No twendigkeit überlieferungs-
chen älteren Tafelwerken (Übersicht: Bischo ff geschichtlicher Studien zu bedeutenden mit-
1986, 333—6), den natio nalen und lo kalen Ka- tellateinischen Texten unter quantitativen,
talo gisierungsunternehmungen so wie den Edi- chr
o on ol gischen und ge o graphischen Ge-
ti
o nen mittelalterlicher Bücherverzeichnisse sichtspunkten beto nt werden. Ebenso eröff-
(z. B. MBK, MBKÖ) in beso nderer Weise die nen sich neue Fo rschungsfelder, in denen no ch
Katalo ge der datierten Handschriften/Ma- intensive Studien zur Buchgestaltung, letz-
nuscrits datés (Bischo ff 1986, 12 und 14) zu tendlich zum ‛Funktio nieren’ mittelalterlicher
erwähnen. Zunehmend treten auch ko diko lo - Handschriften betrieben werden müssen.
gische Studien v. a. zur Einbandkunde in den Hierbei so llten Fragen im Mittelpunkt stehen,
Vo rdergrund, die o ftmals wesentliche neue Er- die sich mit dem Wechselverhältnis vo n Text
kenntnisse zur Pro venienz vo n Handschriften und Bild, dem Sinn und Zweck der Ano rdung
ermöglichen. Es ist u. a. der Geschichte der und Stellung vo n Bildern in verschiedenarti-
Paläo graphie als Wissenschaftsfach seit Jean gen Texthandschriften u. ä. beschäftigen
Mabillo n (1632—1707) und ihren ursprüngli- (Meier & Ruberg 1980, 9—18). Im Rahmen
chen — und nach wie vo r gültigen — Zielset- der Kulturhisto rio graphie wäre zudem eine
zungen zuzuschreiben, daß die Fo rschungs- Geschichte des sich wandelnden abendländi-
lage ein eindeutiges Mißverhältnis aufweist: schen Schriftbewußtseins im Spiegel seiner
So ist eine zunehmend nachlassende Intensität Schrifttermini zu schreiben. Eine umfassende
der sto fflichen Durchdringung bei fo rtschrei- Darstellung des Werdens und Wirkens der la-
tend jüngerem Material und zugleich wach- teinischen Paläo graphie schließlich bleibt am
sender Sto ffmenge zu ko nstatieren, zumal die Ende unseres Jahrhunderts eines der dringend-
seit dem Humanismus zögerlich einsetzende sten Fo rschungsdesiderate der mo dernen Wis-
schriftgenetische Sichtweise zur chro no lo gi- senschaftsgeschichte.
schen Betrachtung des Materials zwang und
zudem die ersten paläo graphischen Metho den
ausschließlich dazu entwickelt wurden, um di- 6. Literatur
plo matische Echtheitskritik üben zu können Arts libéraux et philo so phie au mo yen âge. Actes du
und die ältesten patristischen und histo rio gra-
4e Co ngrès internatio nal de philo so phie médiévale
phischen Textzeugen für Ausgaben zu erschlie-
1967. Montréal/Paris 1969.
ßen. Wie überall übten naturgemäß auch bei
den Schriftdenkmälern die ältesten Hand- Berschin, Walter. 1986, 1988, 1991. Bio graphie und
schriften einen beso nderen Reiz aus. Schätz- Epo chenstil im lateinischen Mittelalter t. 1—3,
zahlen zum Umfang der uns heute no ch erhal- Stuttgart.
tenen Denkmäler mittelalterlicher Schriftlich- Bischo ff, Bernhard. 1954/55. Rezensio n zu Flecken-
keit sind mit größter Vo rsicht zu handhaben. stein 1953. Zeitschrift für Kirchengeschichte 66,
Alleine bei den frühmittelalterlichen Hand- 176—180.
schriften, die bis zum Jahre 800 durch das epo - —. 1966, 1967, 1981. Mittelalterliche Studien. Aus-
chale Oeuvre der Codices Latini Antiquiores gewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literatur-
erschlo ssen werden, dürfte sich die Ziffer auf geschichte t. 1—3, Stuttgart (im Text nach Jahr und
etwa 2000 überlieferte Handschriften (und Seiten der Bände zitiert).
-fragmente, die auch als Handschriften zäh- —. 1967. Rezensio n zu Lo we 1960. In: Bischo ff
len) einpendeln. Ein seit langem vo n B. Bi- 1967, 328—339.
552 IV. Schriftkulturen

—. 1974, 1980. Die südo stdeutschen Schreibschulen Ennen, Edith. 1976. Stadt und Schule in ihrem
und Biblio theken der Karo lingerzeit. Teil 1: Die wechselseitigen Verhältnis vo rnehmlich im Mittel-
bayrischen Diözesen. Teil 2: Die vo rwiegend öster- alter. In: Haase, Carl (ed.), Die Stadt des Mittelal-
reichischen Diözesen. Wiesbaden. ters t. 3, Wege der Fo rschung vo l. 245, Darmstadt,
—. 21986. Paläo graphie des römischen Altertums 455—79 [zuerst Rheinische Vierteljahrsblätter 22,
und des abendländischen Mittelalters. Berlin. 1957, 56—72].
Erben, Wilhelm. 1907. Die Kaiser- und Königsur-
Bresslau, Harry & Klewitz, Hans-Walther. 41968/69.
kunden des Mittelalters in Deutschland, Frankreich
Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und
und Italien. Handbuch der mittelalterlichen und
Italien t. 1—2. Berlin.
neueren Geschichte, Abt. 4, Teil 1. München/Berlin
Bruckner, Albert. 1935—1978. Scripto ria medii aevi [repr. München 1967].
Helvetica t. 1—14. Genf.
Fichtenau, Heinrich. 1946. Mensch und Schrift im
Brunhölzl, Franz. 1965. Der Bildungsauftrag der Mittelalter, Veröffentlichungen des Instituts für
Ho fschule. In: Karl der Gro ße. Lebenswerk und Österreichische Geschichtsforschung vol. 5. Wien.
Nachleben t. 2, Das geistige Leben. Düsseldo rf,
Fleckenstein, Jo sef. 1953. Die Bildungsrefo rm Karls
28—41.
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scher Könige vo n der Karo lingerzeit bis zum Inter- Mein beso nderer Dank gilt Herrn Pro f. Dr. W. Ber-
regnum durch Kreuz und Unterschrift. Beiträge zur schin/Heidelberg, der mich als Auto r für diesen Ar-
Geschichte und zur Technik der Unterfertigung im tikel vo rgeschlagen hat. Wesentliche Züge gehen auf
Mittelalter, Münchener Histo rische Studien, Abt. den bei ihm geno ssenen Paläo graphieunterricht zu-
Geschichtliche Hilfswissenschaften vol. 16, Kallmünz. rück und verstehen sich als eine Art eigene Zwi-
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41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 555

41. Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa

1. Allgemeines gemacht.
2. Irland Um die anderen Abschnitte vo n Wieder-
3. England ho lungen zu entlasten, seien scho n in dieser
4. Deutschland Einleitung einige die Oppo sitio n vo n Latein
5. Island und Vulgärsprache betreffenden Mo delle vo r-
6. Frankreich gestellt. Sie haben zwar sämtlich das Deutsche
7. Spanien im Blick, dürften jedo ch genügend repräsen-
8. Italien tativ sein. Haug (1983, 142) sieht fünf grund-
9. Rückblick und Ausblick legende Oppo sitio nen: (1) Latein vs. Vulgär-
10. Literatur sprache, (2) Schriftlich vs. Mündlich, (3)
Geistlich vs. Pro fan, (4) Klerikal vs. Laikal,
(5) Gelehrt vs. Ungelehrt. So nderegger (1985,
1. Allgemeines 65) faßt das Spannungsverhältnis — anders
Einige Wo rte zur Begriffsklärung vo rweg als bei Haug steht auf der einen Seite immer
scheinen angebracht, zunächst zum Terminus das Latein, auf der andern immer das (ge-
‘Schriftkultur’. Das Vo rhandensein eines ela- schriebene) Altho chdeutsche — in sieben
bo rierten Systems pragmatischer Schriftlich- Aspekte: (1) Bildungssprache vs. Vo lksspra-
keit genügt allein nicht, um einen Zustand der che, (2) Buchsprache vs. Glo ssensprache, (3)
Schriftkultur zu ko nstituieren, es müssen Ele- Urkunden- und Fo rmularsprache vs. Ergän-
mente einer Schriftlichkeit hinzuko mmen, die zungs- und Zusatzsprache, (4) Ausgangsspra-
über den Lebensalltag hinausreicht und den che vs. Übersetzungssprache, (5) Vo rbildspra-
Namen ‘literarisch’ verdient. Do ch auch hier che vs. Nachahmungssprache, (6) Schriftspra-
wird man nicht scho n beim Auftauchen eini- che vs. Schreibdialekt, (7) Klerikersprache vs.
ger versprengter Erstlinge vo n Schriftkultur Laiensprache. Bei Kartscho ke (1990, 19) fin-
reden können, so ndern erst dann, wenn die det sich inso fern eine Reduktio n des Haug-
schriftliterarische Pro duktio n eine gewisse schen Mo dells, als er zwar Haugs Paare
Quantität erreicht hat. Im fo lgenden wird da- (1)—(3) übernimmt, die beiden letzten aber
her vo n pragmatischer Schriftlichkeit zwar zu auf den Gegensatz Gelehrsamkeit-Laizität
sprechen sein, aber meist nur am Rande, im verkürzt. Es darf im Vo rgriff behauptet wer-
Zentrum wird die literarische Schriftlichkeit den, daß in so lchen Kulturen, deren Schrift-
stehen. — Der englische Ausdruck literacy ist lichkeit im Zuge der Christianisierung ent-
ins Deutsche nur annähernd übersetzbar steht, die Inhaltso ppo sitio n Geistlich vs.
(Fro mm 1986, 99, der ihn denn auch unüber- Weltlich eine weit größere Ro lle spielt als in
setzt stehen läßt; → Vo rwo rt, Zf. 3.2.). Ver- jenen, die erst spät zur geschriebenen Litera-
tur finden.
einzelt begegnen die Übersetzungen ‘Litera- Gesamteuro päische Phäno mene sind die
rität’ (Bandle 1988, 191) und ‘Literazität’,
häufiger ‘Literarizität’ (Curschmann 1984, Klo sterrefo rmen, die in verschiedenen Län-
221; vgl. auch Kartscho ke 1990, 17 ‘Illite- dern die Gesellschaft in Bewegung geraten
rarizität’) und v. a. ‘Literalität’, ein Termi- lassen und auch eine Umo rientierung der
Laien in Richtung Schriftlichkeit mit sich
nus, der sich namentlich durch Übersetzun- bringen, und die Initiative vo n studierten
gen englischsprachiger Werke einzubürgern Männern im Hinblick auf Neuansätze in der
scheint und auch in den Überschriften einiger Schriftkultur (vgl. Keller 1990, 185 f). Ver-
Artikel dieses Handbuchs zu finden ist. Gegen stärkt hat sich die Fo rschung in den letzten
‘Literarizität’ ist, wenn man den Begriff ge- Jahrzehnten den Ro llen des Ho fklerikers und
nügend absichert, nichts einzuwenden (Grub- des miles litteratus zugewandt (vgl. bes. 4.2.,
müller 1989, 43 ff hat ihn im Wechsel mit 4.3., 4.4., 6.1., 6.4.) so wie dem Wandel, dem
‘Literalität’), pro blematisch dagegen ist ‘Li- die inhaltliche Besetzung der Begriffe littera-
teralität’, und das nicht nur deshalb, weil (so tus und illitteratus im Laufe des Mittelalters
Schaefer 1992, 15 Anm. 21) damit englisch unterwo rfen war. Die Ergebnisse der Pio nier-
literal anklingt, so ndern auch, weil der Ter- arbeit vo n Grundmann (1958) wurden seit-
minus mit dem vo n der Typo lo giefo rschung dem in mancherlei Hinsicht differenziert und
gebrauchten ‘Literalsinn’ ko llidiert. Man wird relativiert, Nuancen und Zwischenf o rmen
das Rad kaum zurückdrehen können, aber zwischen beiden Begriffen herausgearbeitet
auf das Pro blem sei wenigstens aufmerksam (vgl. bes. Clanchy 1979, 177 ff; Scho lz 1980,
556 IV. Schriftkulturen

228; Wehrli 1984, 47 ff; Zumtho r 1985, 2; kaum standhalten. Der Akt der Fiktio nalisie-
Bumke 1986, 607 ff; Fro mm 1986, 104; Green rung und die Geburt des eindeutig vo m Auto r
1990 b, 274 f; und den Fo rschungsbericht vo n geschiedenen Erzählers aber (vgl. 4.4., 6.4.)
Bäuml 1986, passim). Zu beachten ist das sind Inno vatio nen, die vo n nun an die Gat-
allmähliche Ineinandergreifen der Gegensatz- tung begleiten (vgl. Scho lz 1980, 1 ff; Paden
paare litteratus-illitteratus, Klerikal-Laikal 1983, 93 ff). Der gegenüber den bis dahin
und Schriftlich-Mündlich. Bereits im Ho ch- existierenden narrativen Genres weit höhere
mittelalter trifft die Gleichung laicus = illit- Grad an Ko mplexität des Dargestellten, die
teratus nicht mehr zu (vgl. Henkel 1991; vgl. andersartige Erzähltechnik, die — den ein-
auch Keller & Wo rstbro ck 1988, 394). Wie zelnen Text überschreitend — den Vertretern
auch innerhalb des lateinischen Bereichs der neuen Gattung, zuerst und namentlich
Mündliches und Schriftliches in eine Wech- Chrétiens Ro manen, den Charakter der Inter-
selbeziehung tritt, hat für die kirchliche La- textualität verleiht (Uitti 1985 a, 250), zeugt
tinität in gro ßem Rahmen Sto ck (1983) ge- nicht nur für ein Stadium pro gressiver Schrift-
zeigt; für ein Teilgebiet wie die Interaktio ns- lichkeit, so ndern bringt zugleich einen radi-
technik des Briefschreibens vgl. etwa Köhn kalen Wandel in der Art der literarischen Er-
(1986 a) und v. Mo o s (1991); zu Bildungswe- fahrung, ein verändertes Rezeptio nsverhalten
sen und Unterricht vgl. Grubmüller (1989, mit sich (Vinaver 1963/64, 488).
46 ff). Die Beziehung Mündlichkeit-Schrift- Vo n überregio naler Bedeutung sind auch
lichkeit wird aber vo r allem innerhalb der die Ro lle der Lyrik in der Schriftkultur (eine
ov lkssprachlichen Schriftkultur zum Pr o - Relatio n, die man nicht o hne weiteres erwar-
blem, wie die einzelnen Abschnitte dieses Ar- tet, vgl. 4.5, 5, 6.6), das Verhältnis vo n Vers
tikels do kumentieren. Literatur dieses ge- und Pro sa (vgl. 5, 6.5) und das in vielen
mischt-kulturellen Zustands, in dem Münd- Literaturen zu beo bachtende Streben nach
lichkeit no ch herrscht und Schriftlichkeit einer Ko iné, nach (zumindest tendenzieller)
scho n auftritt und den man mit ‘seco ndary Standardisierung und No rmierung der Lite-
literacy’ (Co nquergo o d 1983, 128) o der ‘Vo - ratursprache (vgl. 3.2, 4.5).
kalität’ (Schaefer 1992) bezeichnet hat, ist
stets auch auf das Ausmaß ihres o ralen An-
teils hin zu analysieren, und so wo hl in sehr 2. Irland
frühen Ko ntaktzo nen als auch in recht späten Aus dem keltischen Bereich so ll hier nur das
Stadien, in denen die Schriftkultur scho n fest Irische behandelt werden. Wegen der extrem
etabliert ist, begegnen wir in fast allen Lite-
raturen einer fingierten, mit Elementen der frühen und überaus reichhaltigen Überliefe-
Oralität als Versatzstücken spielenden Münd- rung stellt Irland einen Mo dellfall mittelalter-
lichkeit (vgl. Scho lz 1975; 1980, 84 ff; Schlie- licher Schriftkultur dar (die frühesten kym-
ben-Lange 1987, 787; so wie einzelne Ab- rischen Schriftzeugnisse gehören erst dem 9./
schnitte dieses Artikels). 10. Jahrhundert an; vgl. Tristram 1989, 13).
Auch auf der Seite der Rezipienten beginnt Das traditio nelle Bild ist das einer alten,
das Pro blem mündlich-schriftlich im Mittel- illiteraten Gedächtniskultur, der mit der Chri-
alter — in den einzelnen Literaturen in ver- stianisierung zunächst eine lateinische, dann
schieden starkem Grad und zu unterschied- eine vo lkssprachliche Schriftkultur an die
lichen Zeiten — virulent zu werden. Die Auto - Seite getreten sei. Die Träger der alten Kultur
ren fangen an, mit dem Leser zu rechnen als und Hüter der heimischen Traditio n, die
einem Pendant zu ihrer eigenen Literarizität, Druiden und, nachdem diese ihre Hauptfunk-
wie zahlreiche Zeugnisse beweisen. Ob ihre tio n, das Priesteramt, durch die Ko nversio n
Werke auch tatsächlich gelesen wurden, ist Irlands verlo ren hatten, ihre Nachfo lger, die
eine angesichts der schmalen Bezeugung filid (‘Dichter’, ‘Seher’), beides Vertreter eines
schwerer zu beantwo rtende Frage (vgl. u. a. straff o rganisierten und ko mpliziert struk-
Scholz 1980; Wendehorst 1986; Illich 1991). turierten Systems mündlicher Bildung, seien
Einen bedeutenden Schritt in der Qualität nach der Begegnung mit der christlichen
mittelalterlicher Schriftkultur stellt das Er- Schriftlichkeit in einen fruchtbaren Austausch
scheinen des Ro mans dar. Gerade er rechnet mit dieser getreten und hätten mit ihrem
auch mit dem Leser, do ch dürfte die These, Fundus o raler Dichtungstraditio n zur eigen-
das neue Genre wo lle nicht mehr eine Dich- tümlichen Prägung der irischen vo lkssprach-
tung für Hörer sein (de Riquer 1959, 78 f; lichen Literatur beigetragen (zur Gedächtnis-
Vinaver 1963/64, 479), in dieser Allgemeinheit und zur Schriftkultur vgl. zusammenfassend
Gaechter 1970, zu den filid neuerdings Tris-
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 557

tram 1989, 34 ff). — Dieses gängige Bild ist mit geht dieses Land jeder anderen westeuro -
in letzter Zeit wesentlich nuanciert und z. T. päischen Literatur um mindestens ein Jahr-
auch ko rrigiert wo rden, o hne daß ein Ko n- hundert vo ran (Stevenso n 1989, 127). Ins 7.
sens erreicht wo rden wäre zwischen den eher Jahrhundert — o der früher — werden heute
harmo nisierenden ‘Nativisten’ und den einen ca. drei Dutzend Werke unterschiedlicher Art
beim Zusammentreffen der beiden Kulturen und Länge datiert (Stevenso n 1989, 158).
entstandenen Traditi o nsbruch verfechtenden Über die diversen Gattungen der irischen
‘Latinisten’ (vgl. Tristram 1989, 37 f). — Seit Literatur info rmiert man sich heute am
der Missio nierung im 5. Jahrhundert ist fast schnellsten anhand der tabellarischen Über-
vo n Anfang an ein Nebeneinander, wenn sicht bei Tristram (1989, 28 ff). — Die auf die
nicht gar eine enge Symbio se vo n literater altirische Perio de (Anfang 7.—Ende 9. Jh.)
Mönchskultur und filid-Kultur zu beo bach- fo lgende mittelirische (ca. 900—ca. 1200)
ten. Letztere scheint freilich nicht in dem kennzeichnet ein rascher sprachlicher Wandel
Maße illiterat gewesen zu sein, wie man bis so wie eine verstärkte Hinwendung zur Ver-
vo r kurzem annahm. Gewiß sind auch in Ir- gangenheit: Man widmet sich der Aufgabe,
land Dichtung und Recht lange o ral tradiert Altes zu bewahren, legt Sammelhandschriften
wo rden, do ch dürften die Iren die Schriftlich- an, schafft neue Werke aus traditio nellen
keit — zumindest als Hilfstechnik — bereits Sto ffen (Gaechter 1970, 26 ff; Ó Co ileáin
im 2. o der 3. Jahrhundert, zunehmend dann 1985, 531). An Texten aus diesen beiden Pe-
im 4. und 5. Jahrhundert entwickelt und die rio den v. a. lassen sich die Pro bleme vo n
filid dabei eine entscheidende Ro lle gespielt Mündlichkeit und Schriftlichkeit studieren;
haben (Stevenso n 1989, 143 ff). D. h., daß die als Beispiel für das Erzählgenre sei der Auf-
römische Kultur auch an Irland nicht spurlo s satz vo n Edel (1989) genannt. — In der zwei-
vo rübergegangen ist. Frühe Inschriften (spä- ten Hälfte des 12. Jahrhunderts schaffen Be-
testens 5. Jh.) in der eigentümlichen Ogam- rufsdichter eine präskriptive Grammatik, die
Schrift, die nicht o hne lateinisches Vo rbild für Jahrhunderte die Basis der Literaturspra-
entstanden sein kann, zeigen, daß die Iren che werden so llte (Ó Co ileáin 1985, 531). In
vo n den Römern, mit denen sie in Handels- der Zeit zwischen 1100 und 1200 kulminiert
beziehungen standen, auch die ersten Ansätze die lange und enge Verbindung zwischen den
einer Schriftkultur geerbt haben (Stevenso n Klöstern und der irischen Schriftkultur. Die
1989, bes. 128; 139 ff; Tristram 1989, 14 ff). — einschneidende Kirchenrefo rm im 12. Jahr-
Die ersten Zeugnisse lateinischer Pro sa stam- hundert — es werden Diözesen eingerichtet,
men aus dem 5. Jahrhundert, do ch müssen die do minierende Ro lle der einzelnen Klöster
die Anfänge lateinischer Schriftlichkeit in Ir- schwindet — bringt auch für die Schriftkultur
land ebenfalls vo r der Christianisierung, spä- einen Wandel mit sich, indem die Pro duktio n
testens für das 4. Jahrhundert angesetzt wer- vo n Handschriften an gebildete Laienfami-
den (Stevenso n 1989, 120; 165). Institutio na- lien, die das Erbe weiter verwalten, übergeht
lisiert wird sie dann durch die Klöster, vo ll (Ó Co ileáin 1985, 521 f). Die Verantwo rtung
durchgesetzt hat sie sich um 600 (Stevenso n für die irische Schriftkultur wird, wenn man
1989, 152 f). Scho n im 7. Jahrhundert haben so will, den filid zurückgegeben.
die Klöster reiche Bestände an Handschriften
(Gaechter 1970, 20). — Sehr früh scho n wird
auch die vo lkssprachliche Schriftkultur in den 3. England
Klöstern heimisch. Es gibt Anzeichen dafür,
daß es gerade Angehörige der gebildeten 3.1.  Als die in den letzten Jahren des 6. Jahr-
Schicht der filid waren, die als erste den hunderts bego nnene Christianisierung Eng-
Schritt zum Christentum vo llzo gen haben lands gegen 700 so gut wie abgeschlo ssen
(Stevenso n 1989, 151). Bereits für das späte war, kam der Schriftlichkeit vo rerst nur für
6. Jahrhundert kann man vo n so etwas wie missio narisch-religiöse Zwecke Relevanz zu
einer durch die filid standardisierten Litera- (Schaefer 1992, 27). Bes. für das späte 7. und
tursprache reden (Ó Co ileáin 1985, 530; Ste- das 8. Jahrhundert ist zwar ein ho her Bil-
venso n 1989, 129 f). U. a. dieser Umstand läßt dungsstand und eine quantitativ wie qualita-
es ratsam erscheinen, den Beginn einer vul- tiv beachtliche Buchpro duktio n zu registrie-
gärsprachlichen Schriftkultur nicht erst wie ren, do ch die Zahl der erhaltenen Handschrif-
Gaechter (1970, 24) auf den Anfang des 7. ten aus dem 7./8. Jahrhundert ist sehr gering
Jahrhunderts anzusetzen. Literatur in der (Gneuss 1992, 105; 124). — Die Ausbreitung
Vo lkssprache ist in Irland spätestens im 6. der lateinischen Schriftkultur bewegte sich
Jahrhundert aufgeschrieben wo rden, und da-
558 IV. Schriftkulturen

(evtl. wie in Irland, vgl. 2.) mehr im Rahmen Sammelco dex früherer Gesetze habe erstellen
vo n Anpassung und Angleichung, als daß sie lassen, war Schriftlichkeit nicht Teil der an-
vo n einer radikalen Ausmerzung der Tradi- gelsächsischen Gesetzgebung (Vo llrath 1979,
tio n begleitet gewesen wäre (vgl. Po nert 54; vgl. auch Wo rmald 1977, 112); erst im 11.
1975, 11; Co nquergo o d 1983, 108; 131 ff). Die Jahrhundert wird sie zum maßgebenden Fak-
berühmte Entstehungsgeschichte vo n Caed- tor englischen Rechts (Vollrath 1979, 53).
mo ns ‘Hymnus’ (anno 737, die älteste erhal-
tene altenglische Dichtung) zeigt am deutlich- 3.2.  Entscheidend hat die Refo rm der Bene-
sten die Traditio nsvermischung und ihre Bil- diktinerklöster (940 Wiedererrichtung der
ligung durch die Kirche (Co nquergo o d 1983, Abtei Glasto nbury, Bischo f Dunstan) Bil-
135). Eine Ko existenz beider Kulturen prägt dung und Buchgelehrsamkeit vo rangebracht.
das gesamte englische Frühmittelalter (vgl. Ein Hauptziel war die Refo rm des Pfarrkle-
Schaefer 1992). — Dem Verfall der Bildung rus, und so entstanden v. a. praktische Werke
und dem starken Rückgang der Pro duktio n religiöser Unterweisung (Brunner 1964, 604).
vo n Handschriften im 9. Jahrhundert, einset- Do ch erstreckten sich die Bestrebungen dar-
zend scho n vo r der Wikingerinvasio n, fo lgt über hinaus auf alle Aspekte weltlicher Kultur
ganz am Ende des Jahrhunderts die radikale, und berührten auch die Ethik der Krieger-
zumindest der Intentio n nach revo lutio när kaste, deren kulturellem Selbstverständnis
zu nennende Wende in Gestalt des Bildungs- man die Auto rität und den Wahrheitsan-
und Übersetzungspro gramms König Alfreds spruch des geschriebenen Wo rtes entgegen-
(Gneuss 1992, 105). Der vo n Alfred ausge- zusetzen hatte (Busse 1988, 29 ff). Vo rausset-
hende dreifache Impetus — Ausfo rmung des zung dafür, daß diese Kreise auch erreicht
Altenglischen als Übersetzersprache; Stabili- werden ko nnten, war ein gewisses Niveau lai-
sierung der christlichen Lehre durch Weiter- kaler Kultur. Die Vo lkssprache hat sich nicht
bildung des Klerus; Schulbildung für Ho ch- nur fast aller Bereiche des religiösen und welt-
wie Niedriggebo rene — hat die Verschriftli- lichen Lebens bemächtigt (Wo rmald 1977,
chung der Vo lkssprache einen entscheidenden 107), auch die Rezeptio n der Schriftkultur
Schritt vo rangebracht. Unklar bleibt, welchen durch die Laien war beträchtlicher als früher
Nutzen die Nicht-Lateinkundigen daraus zu angeno mmen (Kelly 1990, 51; Gneuss 1992,
ziehen vermo chten. Fo lgt man Assers Zeug- 112). Rezeptio nsstimulierend war gewiß auch
nis, so war vo lkssprachliche Literatur in ge- die seit dem 10. Jahrhundert erfo lgende No r-
schriebener Fo rm scho n vo r Alfreds Zeit ver- mierung und Standardisierung des Altengli-
fügbar (vgl. Wo rmald 1977, 103; Kelly 1990, schen (auch des Vo kabulars) in Gestalt des
61). Auch zeigt die Zahl vulgärsprachlicher Spätwestsächsischen (Kelly 1990, 52; Gneuss
Urkunden und anderer Do kumente im 9. 1992, 120 f), einhergehend mit einer Differen-
Jahrhundert, daß bestimmte Laienkreise über zierung der Schrift: lateinische Texte schrieb
die Schrift zu verfügen wußten (Kelly 1990, man in der karo lingischen, englische in einer
61). Do ch Alfred beklagt selbst den deso laten Fo rm der insularen Minuskel (Gneuss 1992,
Zustand der Bildung in der zweiten Hälfte des 120). Scho n seit dem frühen 10. Jahrhundert
Jahrhunderts, und so ist es zweifelhaft, o b nimmt die Zahl der Handschriften zu, in Re-
sein Plan einer breit angelegten Erziehung der latio n stehend zur Einrichtung gro ßer Bil-
Laien wirklich Erfo lg hatte (skeptisch Vo ll- dungs- und Biblio thekszentren in Benedikti-
rath 1979, 50; Gneuss 1992, 111). Jedenfalls ner- und v. a. Kathedralklöstern (Gneuss
hat die Bildungsrefo rm stärker die Geistlichen 1992, 124). Daß nur vier gro ße Co dices des
als die Laien erreicht (Parkes 1973, 555), wie 10./11. Jahrhunderts den größten Teil der alt-
scho n der primär gelehrte und kirchliche Cha- englischen po etischen Werke überliefern, muß
rakter der vo n und unter Alfred übersetzten auch, wenn vielleicht nicht nur, der Wikin-
Texte vermuten läßt (Auerbach 1958, 203). Je gerinvasio n des 9. Jahrhunderts angelastet
ein Exemplar seiner Übersetzung der ‘Cura werden. Kurz sei auf zwei Beispiele aus diesem
pasto ralis’ Grego rs d. Gr. ließ Alfred an je- Co rpus eingegangen, an denen sich die Span-
den Bischo fssitz senden, wenigstens ein Indiz nung vo n Mündlichkeit und Schriftlichkeit in
für die Existenz bischöflicher Biblio theken unterschiedlicher Weise zeigt. Der ‘Beo wulf’-
(Gneuss 1992, 124). Ob der Aufschwung Dichter, der lange als Pro to typ eines o ralen
pragmatischer und ‘ho chliterarischer’ Schrift- Po eten galt, verfügt so wo hl über das ganze
lichkeit im 10./11. Jahrhundert letztlich Al- Arsenal mündlicher Traditio n wie über die
freds Bemühungen zu verdanken ist, bleibt Errungenschaften der christlichen Schriftkul-
o ffen. Tro tz Alfreds Zeugnis, daß er einen tur. Heute überwiegt die Ansicht, daß die
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 559

Dichtung so , wie wir sie vo r uns haben, wo hl schaft — werden Auto ren und Texte auf den
nie mündlich existiert hat, so ndern ein rein Ko ntinent expo rtiert, und der Austausch mit
schriftliches Pro dukt ist (vgl. Opland 1980, der festländischen Literatur erreicht ein no ch
43). Das Beispiel Cynewulfs (zweite Hälfte des nie dagewesenes Maß (Tho mso n 1986, 40). —
8. o der erste des 9. Jahrhunderts) zeigt aber, Zwar wurde das Altenglische nach 1066 eine
daß dieser Befund nicht no twendig für Spät- archaische Sprache, und bald nach 1200
datierung spricht. Auch er benutzt zwar Fo r- ko nnte man altenglische Handschriften nicht
meln — aus o raler wie aus christlich-schrift- mehr lesen (Brunner 1964, 608; Clanchy 1979,
licher Traditio n (Schaefer 1992, 161) —, do ch 261), do ch blieb die stabreimende Langzeile
erweist er sich mit seinen durch Runen si- während der ganzen mittelenglischen Perio de
gnierten Gedichten, die geistliche Schriftlich- bekannt, wurde im 12. und 13. Jahrhundert
keit zum Thema haben, als „ein extrem lite- in einigen kleineren Gedichten verwendet,
rater Dichter“ (Schaefer 1992, 161 ff; das und Layamo ns ‘Brut’, der die Alliteratio n
Zitat 175), der einen radikalen Schritt aus z. T. gebraucht, trägt als bedeutendster Be-
der altenglischen Dichtungstraditio n vo llzieht wahrer des Alten evtl. dazu bei, daß der Vers
(Opland 1980, 35). Je nach Standpunkt des vo m ‘alliterative revival’ im 14. Jahrhundert
Interpreten und der Einschätzung der kultu- wieder aufgeno mmen wird (Überblick bei
rellen Situatio n im 8./9. Jahrhundert wird Brunner 1964, 613 ff). Diese po etische Rich-
man sich Cynewulfs Publikum als Leser tung, Pro dukt einer neuen laikalen Schrift-
(Opland 1980, 38 f) o der als „literate Hörer“ kultur, diskutiert Co leman (1981, 162 ff) unter
(Schaefer 1992, 163) vo rstellen. Fraglich ist, dem Aspekt vo n Mündlichkeit und Schrift-
o b man ihn als „ein ... — vielleicht so gar lichkeit. Am reichsten überliefert unter diesen
verfrühtes — Exempel des Einflusses der Texten ist Langlands ‘Piers the Plo wman’
Schriftlichkeit“ auffassen (Schaefer 1992, 176) (dessen Leser auch Latein können muß) mit
o der nicht do ch eine reicher entwickelte 50 Handschriften, singulär dagegen ‘Sir Ga-
Schriftkultur po stulieren muß, deren Spuren wayn and the Greene Knight’. Hieran und an
nur durch Mißlichkeiten der Überlieferung dem am häufigsten abgeschriebenen Text der
weithin getilgt sind. — Eine derartige, ho he mittelenglischen Perio de, ‘The Prick o f Co n-
Schriftkultur haben wir für die Zeit um 1000 science’ (Reimpaare; 114 Handschriften),
anzunehmen, wie das Beispiel Aelfrics zeigt. einem Lehrgedicht religiöser Unterweisung,
War sein Ziel und das seiner Zeitgeno ssen scheint deutlich zu werden, wo nach der vul-
auch primär die Klerikerbildung (Wo rmald gärsprachliche Leser im 14. Jahrhundert ver-
1977, 109), so will seine, heute no ch in vier- langte. Auch zwei Werke des Eremiten Ri-
zehn Exemplaren erhaltene, Grammatik nicht chard Ro lle ko mmen auf je ca. 40 Hand-
nur in die lateinische, auch in die englische schriften. Zwar hörte das Französische nach
Sprache einführen (Gneuss 1992, 113 f). Sei- 1300 auf, die erste Vo lkssprache zu sein (Par-
ne Leistung als Verfasser vo lkssprachlicher kes 1973, 564), do ch der nicht nachlassende
Pro sa — Predigten, Legenden, Genesis-Über- französische Einfluß zeigt sich in vielen der
setzung — bleibt für Jahrhunderte in Euro pa meist erst in Handschriften des 14. und 15.
ohne Pendant (Wormald 1977, 108). Jahrhunderts o der no ch später überlieferten
‘ro mances’ und in der Rezeptio n des ‘Ro man
3.3.  Insgesamt sind aus angelsächsischer Zeit de la Ro se’ o der der neuen französischen Ly-
ca. 1000 Handschriften und Fragmente er- rik. Der vo llendetsten Fo rm der Aneignung
halten (Gneuss 1992, 123). Die no rmannische des französischen Vo rbilds begegnen wir dann
Ero berung vo n 1066 setzte der englischen bei Jo hn Go wer und Geo ffrey Chaucer. Des-
Schriftkultur zwar kein Ende, do ch mußte sen ‘Canterbury Tales’ (über 80 Handschrif-
diese wieder ins zweite, ja dritte Glied hinter ten) sind ebenso ein Ziel- und Höhepunkt der
das Lateinische und die neue Herrschafts- mittelenglischen Schriftkultur, wie sie no ch
sprache Französisch zurücktreten. Die neue einmal, in einem ko mplexen und raffinierten
Dreisprachigkeit wird v. a. für den Bereich Wechselspiel vo n Mündlichkeit und Schrift-
der pragmatischen Schriftlichkeit bedeutsam lichkeit (Brewer 1988; Fichte 1988), auf die
(umfassend dazu Clanchy 1979). Für die erste Anfänge der englischen Literatur zurück-
Hälfte des 12. Jahrhunderts ist ein dramati- schauen lassen.
scher Anstieg der Zahl der Handschriften,
eine intensive Ko piertätigkeit und ein An-
wachsen der Büchersammlungen zu verzeich- 4. Deutschland
nen (Tho mso n 1986, 32 ff). Nach 1150 —
auch dies eine Fo lge der No rmannenherr- 4.1.  Die deutsche Schriftkultur beginnt mit
Karl d. Gr. Zwar besitzen wir (außer dem
560 IV. Schriftkulturen

Isido r-Co rpus) keine größeren vo lkssprach- 4.2.  Eine deutsche Literatur gibt es, abgese-
lichen Werke aus seinen Lebzeiten, do ch hat hen vo n einfachsten Typen, vo n da an für 150
er mit seiner Bildungsrefo rm (vgl. Gentry Jahre — nimmt man No tker (um 1000) als
1988, 56 ff), die über die Kleriker in begrenz- So nderfall, so gar für 50 Jahre länger — nicht
tem Umfang auch die no ch nicht glaubens- mehr. Für diese ‘gro ße Lücke’ gibt es mehrere
festen Laien erreichte, mit der o hne die be- Gründe. Die altho chdeutsche Literatur ver-
nediktinische Anerkennung des Schreibens als lischt mit dem Ende der Karo linger, weil sie
asketischer Übung undenkbaren (Haubrichs nur einer zentralen Willensbildung ihre Exi-
1988, 213; Kartscho ke 1990, 65 f) Vervielfäl- stenz verdankte. Der vo lkssprachliche Impe-
tigung m o nastischer Schreibstuben (vgl. tus Karls und Ludwigs d. Dt. weicht einer
Riché 1981, 249; Haubrichs 1988, 210 ff; Orientierung auf das Lateinische unter den
McKitterick 1989, 135 ff, auch zu Besitzern Otto nen (vgl. Haug 1983, 145). Zudem waren
vo n Handschriften), dem reparare der ge- die Auto ren des 9. Jahrhunderts scho n rein
schriebenen lateinischen Sprache (vgl. Feld- geo graphisch vereinzelt, die literarische Pro -
busch 1985, 216 ff) und der Fo rcierung des duktio n vo n Disko ntinuität gekennzeichnet.
Übersetzens aus dem Lateinischen, mit der Ein schriftliches Deutsch war no ch keines-
Errichtung und dem Ausbau klösterlicher Bi- wegs Usus, ein adäquates, auch quantitativ
blio theken (vgl. Riché 1981, 252 f, z. T. regel- nennenswertes Publikum fehlte; hinzu ko mmt
rechte ‘Verlagshäuser’; McKitterick 1989, der rasche Sprachwandel und das Veralten
166 ff) wesentliche Anstöße gegeben, die letzt- ov lkssprachlicher Werke (vgl. Haubrichs
lich auch zu einer gewissen Literarizität hö- 1988, 437 f; Ehlers 1989, 314; Green 1989,
herer Laienschichten geführt haben (vgl. zu 13 ff). — Nach dem Neubeginn um 1060 kann
Karls Bedeutung für die altho chdeutsche man spätestens seit 1000 vo n einer Ko ntinui-
Schriftlichkeit Feldbusch 1985, 222 ff; Green tät vo lkssprachlicher Schriftlichkeit sprechen.
1989, 11 ff; zur laikalen Schriftkultur Mc- Die Gründe sind wiederum vielfältig. Die
Kitterick 1989, 21 ff). Ohne diese Impulse Klo sterrefo rmen bringen die Gesellschaft in
wäre es für Otfrid kaum möglich gewesen, die Bewegung; der Investiturstreit hat ein wach-
Vo lkssprache für gleichwertig mit den ‘heili- sendes Selbstgefühl des Adels zur Fo lge; die
gen’ Sprachen zu erklären (zu ihm vgl. Haug Kirche blickt zunehmend auf das Diesseits,
1985, 25 ff; Kartscho ke 1990, 153 ff; zu- pro pagiert das Ideal des miles christianus; die
sammenfassend Haug 1983, 144 ff; zu Otfrids Ro lle des Laien in der christlichen Welt wird
Publikum — Hörer und Leser — Green 1986, neu definiert; der Ministerialenstand entsteht.
144). Otfrids Versuch landet in einer „Sack- Nicht mehr ein zentraler Wille regiert die Li-
gasse“, weil er zu stark am Lateinischen ge- teraturpro duktio n, Kräfte vo n innen und vo n
schult war (Günther 1985, 52 f), do ch ko m- unten werden maßgebend. Die Bedürfnisse
men no ch andere, übergreifende Ursachen der Kirche und der Laien wirken ineinander,
hinzu (vgl. 4.2.). — Das Pro blem mündlich- Publikumsnachfrage wird ein wichtiger Fak-
schriftlich wird akut beim ‘Hildebrandslied’ to r. Laienprediger v. a. helfen die Strecke vo n
(Zwischenstellung zwischen o raler Traditio n der Kirche zur Welt zu überbrücken. Das Ich
und Schriftlichkeit; vgl. Kartscho ke 1990, des Laien meldet sich zu Wo rt, und seine
128 f) und beim ‘Heliand’, dessen Dichter Stimme wird vo n Mal zu Mal kräftiger (vgl.
nicht als oral poet gelten kann, da sein Her- zu diesen vielfältigen Entwicklungen Auer-
angehen an die Fo rm theo lo gisch-gelehrt fun- bach 1958, 205; Haug 1983, 146 ff; Vo llmann-
diert ist (Curschmann 1967, 50; Kartscho ke Pro fe 1986, 15 ff; Gentry 1988, 77 f; Green
1990, 146 ff). — Die karo lingischen Refo rmen 1989, 15 ff).
dürften insgesamt für die Kleriker effektiver
gewesen sein als für die Laien (Parkes 1973, 4.3.  Prägen die erste Phase der frühmittel-
555). Ob vo n einer literaten Laiengesellschaft oh chdeutschen Literatur Kleriker-Aut
o ren
in dieser Zeit gespro chen werden kann (so und eine primär kirchliche Sicht, so treten in
McKitterick 1989, 270), muß eine intensive der zweiten (ca. ab 1150) als Literaturträger
Auseinandersetzung mit der ersten umfassen- immer mehr Laien auf, und die Werke tragen
den Darstellung karo lingischer Schriftlichkeit ein zunächst gemischt kirchlich-weltliches,
durch McKitterick (1989) erweisen. — Zu- später ein zunehmend pro fanes Gepräge. —
sammenfassend kann das Altho chdeutsche Die ‘Renaissance des 12. Jahrhunderts’ hat
mit So nderegger (1985, 72) als die Experi- vo m Westen aus auch auf Deutschland aus-
mentiersprache einer ersten deutschen Schrift- gestrahlt. Man weiß vo n deutschen Scho laren
lichkeit bezeichnet werden. in Frankreich, vo m Impo rt vo n Büchern und
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 561

Wissen nach Deutschland (Bumke 1986, Vo rangang vo n Green (1978) und Scho lz
93 ff). Die Bedeutung der Ho fkleriker, tätig (1980) gleichfalls stärkeres Interesse. Bes.
in Kanzlei o der Verwaltung o der im geistli- Green hat sich, Scho lz’ Fragestellungen und
chen Amt, als Erzieher und intellektuelle Be- Ergebnisse o rdnend, kritisch sichtend und
rater, als Übersetzer und Schreiber für die vermehrend, mit unermüdlichem Eifer auf das
illitterati und nicht zuletzt — für die Schrift- Thema eingelassen (Green 1984; 1990 a;
kultur am wichtigsten — als Vermittler der 1990 b; z. T. mit Verweis auf weitere eigene
Ideale vo n chevalerie et clergie ist nicht zu Spezialstudien; vgl. auch Wehrli 1984, 55 ff;
unterschätzen (vgl. Bumke 1986, 446 ff; Green Bumke 1986, 721 ff zum Hören und Lesen der
1986, 146; 1989, 19 ff; Köhn 1986 a; 1986 b, Epik; Müller 1985, 21 ff zum Spätmittelalter).
215; Henkel 1991, 336). Kleriker sind es, die Den Fakto r ‘Sehen’ — wieder eine beide Be-
seit 1150 Buchwerke in der Vo lkssprache ver- reiche, Mündlichkeit wie Schriftlichkeit, tan-
fassen, eine Geschichtsdichtung wie die ‘Kai- gierende Katego rie, bringt Curschmann ver-
serchro nik’, Spielmannsepen, hero ische Epik stärkt ins Spiel (Curschmann 1984, zu den
(‘Nibelungenlied’), Antikenro mane. — In der Funktio nen der Bebilderung bes. 254 f; 1992;
Spielmannsepik — die Bezeichnung hat sich vgl. auch Bumke 1986, 729 ff zu Wo rt und
eingebürgert, und Spielleute waren wo hl zu- Bild; Erfen 1991, 39 ff zu Lesen/Hören/Sehen
mindest als Vo rtragsinstanzen beteiligt — und im Spätmittelalter). Einen spezifischen Ansatz
der Heldenepik tritt die Spannung mündlich- verfo lgt jetzt, im Anschluß an eigene frühere
schriftlich aufs neue vo r Augen. Der Typus Studien, Wenzel (1992), der am Beispiel des
ist irgendwo zwischen den beiden Po len an- ‘Nibelungenliedes’ die visuelle Imaginatio n in
zusiedeln, ein ‘transitio nal text’ (vgl. Cursch- der Spannung vo n Mündlichkeit und Schrift-
mann 1967, 45 ff). Die Verschriftlichung der lichkeit untersucht.
Spielmannsepen, erstes Beispiel ‘König Ro - Auch der höfische Ro man setzt sich an-
ther’, erfo lgt über die Reflexio n der mündli- fangs mit traditio nell-mündlichen F o rmen
chen Erzählschemata und der traditio nellen auseinander, die in die Reflexio n geraten und
Sinngebung; es sind Schriftwerke, die die Ora- für ko mplexere Strukturen und eine neue
lität gewissermaßen zitieren (Haug 1983, Sinngebung genutzt werden (Haug 1983,
151 f; Vo llmann-Pro fe 1986, 129 f; 215). Auch 152 f). Die Kunstmittel des regieführenden
das ‘Nibelungenlied’ ist als schriftlicher Text, Erzählers und ausgeklügelter Strategien der
als Literarisierung heimischer Heldensage Fiktio nalisierung sind scho n in den ersten
eine inhaltliche und fo rmale Auseinanderset- deutschen Ro manen, stärker als im Franzö-
zung mit der hero isch-mündlichen Traditio n sischen, vo ll entwickelt. Als den Pro to typ
(Haug 1983, 153 f; vgl. als ausführlichen kri- eines clerc lisant und miles litteratus, eines
tischen Fo rschungsbericht Bäuml 1986; ferner Ritters, der seine Quellen in der Originalspra-
Ho ffmann 1974, 53 ff; Haymes 1986, 21 ff; che (Latein und Französisch) zu nutzen ver-
Ehrismann 1987, 75 ff). Der Auto r der ‘Ni- steht (‘Der arme Heinrich’ v. 1 ff; ‘Iwein’
belungenklage’, die eigene Literarizität reflek- v. 21 f), sehen wir Hartmann vo n Aue vo r uns
tierend und zu einer schriftbeto nten Entste- (vgl. Scho lz 1980, 44 f Anm.; 212 f; Cursch-
hungsfiktio n greifend (vgl. Curschmann 1984, mann 1984, 231; Haug 1985, 126; Green 1986,
228; Grubmüller 1989, 43), bindet sich an eine 148; Henkel 1991, 338, der die Dreisprachig-
Traditio n an, für die schriftliche Fixierung des keit fast aller literaten Auto ren hervo rhebt).
Textes Garant der Wahrheit ist und die — Auf Hartmann reagiert der miles Wo lfram mit
etwa in Geschichtswerken, aber auch im hö- seiner vo rgescho benen Abwehr der Buchge-
fischen Ro man — sich vehement gegen die lehrsamkeit (vgl. Green 1978; Scho lz 1980,
Zeugenschaft des Oralen richtet (vgl. Schmid- 214 ff), auf diesen wiederum der clericus Gott-
Cadalbert 1984, 90; 101; Jaeger 1985, 230; zu fried mit seinem dezidiert schriftkulturellen
mündlich-schriftlichen Überlagerungen in all- Anspruch (vgl. Green 1978).
gemeinerem Rahmen vgl. Scho lz 1980, 98 ff;
Curschmann 1984, 221 f; 251 ff; Haug 1988, 4.5.  Daß der ritterliche Ro manauto r später
148; breitere Info rmatio n über Mündlichkeit auftritt als der Lyriker, wurde (Wo lf 1986,
und Schriftlichkeit bieten Knapp 1976, pas- 275 f) so gedeutet, daß das Abfassen erzäh-
sim und v. a. Green 1978; Wehrli 1984, 47 ff; lender Gro ßfo rmen o hne klerikale Schulung
Bumke 1986, 596 ff). nicht möglich gewesen sei. Das mag sein, do ch
ist auch die Lyrikpro duktio n, spätestens vo n
4.4.  Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf der der ro manisierenden Phase an, kaum o hne
Rezeptio nsebene finden neuerdings nach dem eine gelehrt-literarische Ausbildung der Dich-
562 IV. Schriftkulturen

ter denkbar. Welche Bedeutung die Lyrik Fo rm der Schriftlichkeit dar und kann nicht
selbst in der Schriftkultur einnimmt, zeigen für eine frühe altno rdische Schriftkultur in
nicht nur die späten gro ßen Sammelhand- Anspruch geno mmen werden. — Island ist
schriften um und nach 1300, so ndern auch um die Jahrtausendwende christlich. Auch im
ihre no twendig zu erschließenden Vo rstufen No rden sind die Klöster mit ihren Schulen
in Gestalt vo n Einzelblättern, Liederheften und Biblio theken die ersten Träger der
und -büchern (vgl. Schweikle 1977, 16 ff; Schriftkultur. Wo hl scho n im 11. Jahrhundert
Bumke 1986, 758 ff; 769 ff). Ulrich vo n Lich- begegnen wir den Anfängen einer religiösen
tenstein endlich (Mitte 13. Jh.) ist ein wichti- Übersetzungsliteratur. Der zwischen 1125
ger Zeuge dafür, daß Lieder scho n zur Zeit und 1175 entstandene so g. ‘Erste grammati-
ihrer Entstehung auch zum Lesen gedacht sche Traktat’, der ein für das Isländische mo -
sein ko nnten (vgl. Scho lz 1980, 219 ff; Heinen difiziertes lateinisches Alphabet und ein ge-
1984; Bumke 1986, 755 ff; 771 f). — Gerade naues, pho no ol gisch begründetes o rtho gra-
auch die Überlieferung der Lyrik und Epik phisches System bereitstellt, um Schreiben
der mittelho chdeutschen Blütezeit um 1200 und Lesen, die, wie es heißt, in diesem Land
verrät eine anderen Literatursprachen ver- jetzt üblich gewo rden seien, zu erleichtern,
gleichbare Tendenz zur sprachlichen No rmie- nennt vier Arten vo n schriftlich existierender
rung und Überregionalität (Wolf 1986, 246). Literatur in der Vo lkssprache: Gesetze, Ge-
nealo gien, Predigten und die gelehrten ge-
4.6.  Viele das Spätmittelalter kennzeichnende schichtlichen Werke des Ari Tho rgilsso n. Be-
Tendenzen sind bereits in den vo rangehenden merkenswert ist, daß die Verschriftlichung
Jahrzehnten angelegt (vgl. Schnell 1978). Der hier wie in einer Reihe anderer Texte vo n
Territo rialisierungspro zeß und das Aufko m- Reflexio nen über das Verschriftlichen beglei-
men neuer religiöser Strömungen wie der Bet- tet wird (Wolf 1988).
telo rden fördern die Verschriftlichungsten- Die drei gro ßen Sto ff-, Fo rm- und Gat-
denzen (Green 1989, 21 ff; 24 f). Die deutsche tungsbereiche der altno rdischen Literatur, die
Schriftlichkeit bemächtigt sich einer zuneh- (Lieder-)Edda mit Götter- und Heldenliedern
mend größeren Zahl vo n ihr bisher verschlo s- so wie Spruchdichtung, die Skaldendichtung
sen gebliebenen Bereichen, die Ansprüche des (bis zum 10. Jh. in No rwegen, seit dem 11.
Publikums werden vielfältiger, dieses wird he- v. a. in Island; Preisgedichte, auch Gelegen-
tero gener, breitere Leserschichten entstehen heitsgedichte und Liebeslyrik) und die Saga-
(vgl. Haug 1983, 155). Der Übergang zur literatur (Pro sa) machen Island zum wichtig-
Pro sa erfo lgt merklich später als in Frank- sten Literaturland des No rdens. Für jeden
reich (vgl. Schnell 1978, 71 ff; Müller 1985, dieser literarischen Typen nimmt die neuere
15 ff). Hingewiesen sei no ch auf die Institutio n Fo rschung mündliche Vo rstufen an, während
vo n Lateinschulen und deutschen Schreib- in den Jahrzehnten zuvo r meist der Schrift-
schulen (vgl. Erfen 1991, 37 ff), die wachsende lichkeitsaspekt akzentuiert wurde. So sieht
Bedeutung der Stadt für die pragmatische und man in den ano nym überlieferten eddischen
literarische Schriftlichkeit (vgl. Skrzypczak Liedern (vgl. die Übersicht zur Überlieferung
1956; Green 1989, 23 f; Erfen 1991, 42 f, zu der einzelnen Lieder bei So nderegger 1964,
den Schreibstuben) und das Aufko mmen vo n 741 ff) Zeugnisse einer schriftlo sen Dichtung
Papiermühlen (vgl. Erfen 1991, 41 f). der Wikingerzeit, und auch für die bis ins
9./10. Jahrhundert zurückreichende Skalden-
dichtung (vgl. So nderegger 1964, 755 ff), v. a.
5. Island die größeren Texte, muß — tro tz ihrer ko m-
plizierten, artistisch ausgefeilten Fo rm, o ft als
Aus Raumgründen und aufgrund der Tatsa- untrügliches Indiz o riginärer Schriftlichkeit
che, daß es an direkten Schriftzeugnissen aus gewertet — mündliche Tradierung angesetzt
Schweden und Dänemark weitgehend fehlt werden. Bei der Verschriftlichung dieser bei-
und die auto chtho ne Literatur No rwegens so den po etischen Gattungen dürfte es sich mehr
recht erst mit dem 13. Jahrhundert einsetzt o der weniger um ein auf Bearbeitung verzich-
(vgl. So nderegger 1964, 735 ff), ko nzentriert
sich die Behandlung der Schriftkultur des tendes Festhalten des Überko mmenen han-
deln (Wolf 1988, 186 f).
No rdens auf Island. Die Runenschrift, seit Daß es nicht statthaft ist, vo n der Differenz
dem 2. Jahrhundert bezeugt und durch ins- zwischen Vers und Pro sa auf eine Differenz
gesamt ca. 5000 Inschriften, davo n allein 3000 mündlich vs. schriftlich zu schließen, zeigt das
in Schweden, vertreten, stellt eine beschränkte Beispiel der Saga (Andersso n 1975, 164), auf
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 563

die hier etwas näher eingegangen werden so ll Jahre, bevo r vo n einer eigentlichen Schrift-
(vgl. die Übersicht zur Überlieferung und kultur in Frankreich die Rede sein kann. Vo n
Textgeschichte der wichtigsten Sagas bei So n- den ‘Straßburger Eiden’ 842 über die ‘Eulalia-
deregger 1964, 749 ff). Anders freilich als bei Sequenz’ aus den achtziger Jahren desselben
Edda und Skaldik dürfte dabei zwischen Jahrhunderts zum ‘Leo degarlied’ um 1000 be-
Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein mehr gegnen wir nur ganz punktuell Zeugen einer
o der minder tiefgreifender Verwandlungspro - französischen Schriftliteratur. Erst mit dem
zeß stattgefunden haben. In der Ko ntro verse, ‘Alexiusleben’ (um 1050 o der erst Anfang des
o b es bereits im o ralen Stadium Sagas in 12. Jahrhunderts?), dessen Dichter einen er-
relativ fester Fo rm gegeben hat (Freipro sa- staunlichen Grad an literarischer Fertigkeit
Theo rie) o der o b diese erst der Verschriftli- aufweist, beginnt der schriftliterarische Stro m
chung (frühestens im 12. Jh.) zu verdanken reicher zu fließen, und nun melden sich neben
ist (Buchpro sa-Lehre), neigt man heute zur der hagio graphischen Gattung zunehmend
Differenzierung. So sieht man die Durchdrin- auch andere Genres zu Wo rt. Daß sie auf
gung vo n Gelehrtem und Vo lkstümlichem, starke Reso nanz rechnen ko nnten, zeigt sich
wie z. B. in den frühen Bischo fssagas (Bandle in einer erheblichen Zunahme der Hand-
1991, 213), o der die Verbindung vo n Hagio - schriftenpro duktio n während des 12. und
graphie, Hist o ri
o graphie und mündlichen dann v. a. des 13. Jahrhunderts. Zweifello s
Überlieferungen, wie in Sno rris ‘Heims- trägt die vielberedete ‘Renaissance des 12.
kringla’ (Wo lf 1990, 490; 512), macht auf Jahrhunderts’ auch zur vo llen Entfaltung
spezifisch mündliche o der schriftliche Stilzüge einer ov lkssprachlichen Schriftkultur Ent-
aufmerksam (Bandle 1988 und 1991) und er- scheidendes bei. Mittelbar waren die Bi-
kennt in der Gro ßsaga die eigentliche Lei- scho fshöfe mit ihrem Reservo ir an schulge-
stung des Verschriftlichungspro zesses, die für bildeten Klerikern maßgebend an der För-
die weitere Literarisierung m o dellbildend derung der kulturellen Entwicklung beteiligt;
wirkt (Wo lf 1990, 512). Fraglo s ist mit dem je mehr aber die Vo lkssprache den Status
Übertritt aus der Mündlichkeit die Chance zu einer Bildungssprache erreicht, übernehmen
einem entscheidenden „Qualitätssprung“ ge- die weltlichen Fürstenhöfe die Führung und
geben (Wo lf 1988, 186). Träger der gesamten brechen damit das bis dahin bestehende Mo -
literarischen Pro duktio n ist die Aristo kratie, no po l der Kirche auf die Schriftkultur (vgl.
beim Verfassen und Aufschreiben vo n Sagas Karnein 1988, 108; 122 ff).
handelt es sich um ein „Oberklassenphäno -
men“ (Glauser 1983, 70). Die einzig nach- 6.2.  Zwei epische Gattungen haben sich vo n
weisbare Vermittlungsfo rm für die Sagas ist französischsprachigem Bo den aus über fast
das mündliche Vo rtragen o der das Vo rlesen ganz Euro pa ausgebreitet: das hero ische Epo s
aus einer Handschrift vo r versammeltem Pu- und der höfische Ro man. Mit ersterem, der
blikum (Glauser 1983, 61 ff; 1985). Abendli- Chanson de geste, tritt die französische Lite-
ches Vo rlesen vo n Sagas ist in Island bis ins ratur recht eigentlich in die Schriftkultur ein.
19. Jahrhundert bezeugt. Schriftlich überliefert ist das Genre seit dem
Eine Ausdifferenzierung der vier no rdi- ausgehenden 11. Jahrhundert, breite Ver-
schen Natio nalsprachen wird in den Hand- schriftlichung erreicht es aber erst am Ende
schriften um 1300 greifbar. Zunehmende sti- des 12. Jahrhunderts (Micha 1964, 203), ver-
listische Verfeinerung im Spätmittelalter, so treten wird es durch ca. 100 Werke in mehr
das Aufko mmen des ‘flo rissanten Stils’, u. a. als 300 Handschriften. Mit dem ‘o ffenen’
mit einer ko mplizierten Syntax, steht dann Textcharakter der Chansons, die ausgeprägte
für eine vo llends ausgebildete Schriftkultur Phäno mene des remaniement, der mouvance
der altnordischen Literatur. zeigen, was einen eher vo n Fassungen, Ver-
sio nen sprechen läßt, hängt es zusammen, daß
sie scho n immer einen pro minenten Platz in
6. Frankreich der Diskussio n um Mündlichkeit und Schrift-
lichkeit eingeno mmen haben. Heute sieht
6.1.  Kann man für den Beginn einer vo lks- man die Verfasser weder ausschließlich in den
sprachlichen gallo ro manischen Literatur gro b wo hl meist illiteraten Spielleuten (jongleurs)
das Datum 813 ansetzen — das Ko nzil vo n no ch ausschließlich in gebildeten Klerikern,
To urs spricht erstmals vo n der lingua Romana so ndern stellt den Einschlag des klerikalen
rustica und pro pagiert Predigten im Vulgär- Milieus in die Kultur des Spielmanns in Rech-
idio m —, so vergehen do ch no ch 200 bis 300 nung (Christmann 1965, 52; Gumbrecht 1983,
167). Auch auf der Rezeptio nsseite nimmt
564 IV. Schriftkulturen

man eine recht weite so ziale wie intellektuelle histo rische Schwelle überschritten zu haben,
Streuung des Publikums an (Uitti 1985 a, indem er die bislang mündlich kursierenden
240). breto nischen Sto ffe zur Würde der Schriftli-
teratur erho b, die Möglichkeiten schriftlichen
6.3.  Beim anglo no rmannischen Ho chadel Ko nzipierens reflektierte und über eine struk-
finden wir die klaren Anzeichen einer extensiv turelle Ko nzeptio n dem Erzählten Sinn ver-
kultivierten Schriftlichkeit, und bis zur Mitte lieh (Haug 1985, 103). Er wird zum eigentli-
des 12. Jahrhunderts ist im französischspra- chen Schöpfer des europäischen Romans.
chigen England ein dramatisches Anwachsen
der Zahl der Handschriften und des Umfangs 6.5.  Wenn um 1200 die verschiedenen Arten
der Büchersammlungen zu vermerken (Parkes der Pro saliteratur (Chro niken, Pro saauflö-
1973, 556; Tho mso n 1986, 32 ff). Nicht zuletzt sungen vo n Versro manen, auto chtho ne Pro -
dem Mäzenatentum des Königshauses ist die saro mane) zum Durchbruch ko mmen, so hat
‘preco city’ der anglo no rmannischen Literatur das nichts mit dem Schritt vo m Vo rlesen zum
zu verdanken (Legge 1963, 7; 362 ff), und Selbstlesen zu tun (vgl. Scho lz 1980, 184 ff).
neben Benedeit (‘Vo yage de Saint Brendan’, Vielmehr ist der Vers selbst in der Krise. Seine
kurz nach 1100) gehören zu den Pio nieren Kritiker (o ft zugleich Kritiker der o ralen
Philippe de Thao n, Auto r eines Co mputus, Überlieferung) machen ihm den Vo rwurf der
eines Bestiariums und zweier Lapidarien Lüge und der Verfälschung durch ausschmük-
(Legge 1963, 18 ff), der Chro nist Gaimar kende Hinzufügungen (vgl. Uitti 1985 b, 256;
(Legge 1963, 27 ff) o der der Verfasser des Schlieben-Lange 1987, 771 f). In der Pro sa
‘Adamsspiels’ (Legge 1963, 312 ff). Den ent- dagegen sah man, gestützt auf die lateinische
scheidenden Schritt zur Fiktio nalität in der Histo rio graphie, den Garanten sachlich-ge-
Schrifttraditi
o n des ‘Tristan’-R o mans hat nauer Wiedergabe (vgl. die Textzeugnisse und
Tho mas de Bretagne (um 1170) getan (Legge deren Interpretatio n bei Haug 1985, 241 ff).
1963, 45 ff). Mit dem Ho f und dem Umkreis Der französische Ro man hat mit dem Wechsel
Heinrichs II. (vgl. Legge 1963, 44 ff) und sei- zur Pro sa (freilich gibt es weiterhin Versro -
ner Nachfo lger werden neuerdings wieder die mane) einerseits die Wahrheitsfo rderung der
Artusro mane Chrétiens und anderer Auto ren Geschichtsschreibung beherzigt, andererseits
in Verbindung gebracht (Schmo lke-Hassel- aber gerade die Fiktio nalität des Versro mans
mann 1980, 184 ff; zu Chrétiens ‘Erec et herübergerettet.
Enide’ 190 ff). An all dem wird die ho he Be-
deutung der anglo no rmannischen Sphäre für 6.6.  Am Ende dieses Abschnitts so ll die o k-
das Pano rama der französischen Schriftkultur zitanische Lyrik stehen. In schriftlicher Fo rm
ersichtlich. begegnen wir ihr erst ca. 150 Jahre nach der
Schaffenszeit ihres ersten Meisters, Wilhelm
6.4.  Da die Chro no lo gie sehr eng ist, könnte vo n Po ito u, do ch deutet die relativ unver-
es durchaus sein, daß dem anglo no rmanni- sehrte Tradierung (auch der Melo dien) auf
schen Publikum als erstem die Gro ßfo rm des frühe Niederschrift. Die Frage einer schrift-
Ro mans bekannt wurde; i. a. jedo ch nimmt lichen Fixierung der Lieder ist scho n seit län-
man an, daß die Antikenro mane um Theben, gerem in der Diskussio n. Wer sie po sitiv be-
Aeneas und Tro ja, die auf lateinische Texte antwo rtet, argumentiert meist mit der tech-
zurückgreifen, vo r den Artusro manen Chré- nisch-f
o rmalen o K mplexität (vgl. Avalle
tiens anzusetzen sind. Mit der Aneignung der 1964, 275; Rieger 1983, 78). Im letzten Jahr-
Antike durch Frankreich wird implizit auch zehnt hat die Ro manistik auch das Pro blem
dem Gedanken der translatio studii Rechnung des gelesenen Tro ubado ur- (und Tro uvère-)
getragen, wie er dann pro grammatisch in Liedes in Angriff geno mmen (Rieger 1983;
Chrétiens ‘Cliges’-Pro lo g fo rmuliert wird (zu Gruber 1985; Rieger 1987). Die Verstehbar-
diesem vgl. Haug 1985, 115 f). Das Ideal der keit des trobar clus und trobar ric scheint
clergie, der gelehrten Bildung, ist systematisch letztlich nur durch die Lektüre vo ll gewähr-
in diese Texte eingebaut (Uitti 1985 a, 243), leistet gewesen zu sein (Rieger 1987, 10 ff). —
aber erst in seiner Verbindung mit dem Ideal Nach Auto ren angeo rdnete französische und
der chevalerie tritt es im Werk Chrétiens, der pro venzalische Liedersammlungen (chanson-
als erster die matière de Bretagne für schrift- niers) begegnen seit dem ausgehenden 13.
würdig erachtet, in eine traditio nsbildende Jahrhundert, gleichzeitig auch vo n den Dich-
Symbio se ein (Haug 1985, 116 f; Uitti 1985 a, tern selbst angelegte, z. T. chro no lo gisch ver-
244). Chrétien war sich bewußt, eine literar- fahrende Liederco rpo ra (vgl. Avalle 1964,
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 565

291; Huo t 1987). — Vo n den pro venzalischen tung (vgl. Steiger 1964, 560) — in dieser Spra-
Liederhandschriften stammt nur ca. ein Fünf- che.
tel aus dem französischen Süden selbst, mehr
als die Hälfte ist italienischer, ein Teil kata- 7.3.  Beim Epo s liegen die Dinge ähnlich wie
lanischer o der no rdfranzösischer Herkunft in Frankreich: Auch hier stehen sich die Fo r-
(Avalle 1964, 273). schungsrichtungen der Individualisten und
der (Neo -)Traditio nalisten gegenüber, und
der derzeitige o F rschungsstand entspricht
7. Spanien dem des Nachbarlandes. Anders als die Chan-
sons de geste aber sind die spanischen Epen
7.1.  In Spanien standen die Vo lksidio me nicht nur sehr schmal überliefert und können meist
einer allein od minierenden lateinischen nur sekundär aus lateinischen und vo lks-
Schriftsprache gegenüber, es herrschte jahr- sprachlichen Chro niken reko nstruiert wer-
hundertelang Mehrsprachigkeit, und eine be- den. Als ältester Cantar (ca. 1000) gilt die
ginnende Schriftkultur in der Vo lkssprache dem ‘Nibelungenlied’ ähnelnde Geschichte
sah sich scho n etablierten Schriftkulturen des vo n den ‘Siete infantes de Lara’, mit starker
Lateinischen, Arabischen und Hebräischen Nähe zur Mündlichkeit. Der ‘Cantar de mio
ko nfro ntiert, wo bei bald und anhaltend In- Cid’ wird heute i. a. einem gelehrten, um 1207
terferenzen auftraten. Nach der arabischen in der Gegend vo n Burgo s tätigen Auto r zu-
Invasio n vo n 711 verlagerte sich das kultu- geschrieben, der sich (auch) auf schriftliche
relle Leben zunächst ganz nach dem musli- Quellen stützt und eine Technik der Münd-
mischen Süden. lichkeit quasi zitierend anwendet. Hält man
dem ‘Cid’ in dieser neuen Sicht das ‘Po ema
7.2.  Als älteste Zeugnisse einer literarischen de Fernán Go nzález’ (ca. 1250?) entgegen, das
vo lkssprachlichen Schriftlichkeit kennt man nicht wie andere Epen in Laissen mit asso -
seit einem knappen halben Jahrhundert kurze nierenden Versen, so ndern in der gelehrten
po etische Stücke im Mo zarabischen, der cuaderna vía (gleichreimende Alexandriner-
archaischen ro manischen Mundart Andalu- Vierzeiler) verfaßt ist, dann zeigt sich, daß der
siens, über mehrere Jahrhunderte die Sprache no ch vo n Flasche 1977, 67 ff — wenn auch
der christlichen Mehrheit. Diese so g. jarchas mit kritischer Zurückhaltung — verwendete
(auch khardjas), vulgärsprachliche Schluß- Typengegensatz ‘Vo lksepo s’ vs. ‘Kunstepo s’
verse hebräischer und arabischer Gedichte nicht mehr greift. Eine o ffene Frage ist, o b
(Muwashshaḥas), vo n denen bisher ca. 60 be- der ‘Go nzalez’ (dessen Verfasser Mönch war)
kannt sind, zeigen, daß die spanische Litera- dem mester de clerecía zugerechnet werden
tur nicht, wie man früher geglaubt hat, mit kann (so Flasche 1977, 53), einer gelehrten,
dem Epo s einsetzt (vgl. Steiger 1964, 543 ff; an Klöster und Universitäten vo n Altkastilien
Gier 1991, 4 ff). Sie lassen sich z. T. bis in die und das Grenzgebiet vo n León gebundenen
erste Hälfte des 11. Jahrhunderts datieren, Bewegung mit einem dezidiert literarischen
sind also älter als die frühesten pro venzali- Pro gramm und Beziehungen der Auto ren un-
schen Stro phen; eine vo rausliegende mündli- tereinander, deren wesentliche Basis die Lek-
che Verbreitung ist wahrscheinlich. Daß die türe war (Flasche 1977, 108 ff; Deyermo nd
jarchas im Vergleich zu den villancicos und 1988, 411 ff). 1212 o der 1214 wird in Palencia
den cántigas de amigo, mit denen sie Berüh- ein estudio general gegründet, eine Art Uni-
rungspunkte aufweisen, viel früher aufge- versität, an der Franzo sen o der Männer, die
schrieben wo rden sind, hängt mit dem Kul- in Frankreich studiert haben, als Lehrer tätig
turgefälle vo n Süden nach No rden zusam- werden. Vielleicht ist der Alexandriner ihr
men: Nur gebildete Dichter ko nnten diese Mitbringsel, das Versmaß, das zuerst das ‘Li-
Verse aufzeichnen, und so lche gab es im mus- bro de Alexandre’ (Ende der zwanziger Jahre)
limischen Süden früher als im christlichen verwendet, ein vo n Elementen des Epo s
No rden (Deyermo nd 1988, 408). — Kurz vo r durchzo gener Ro man und eine Summe welt-
1200 setzt eine umfangreiche lyrische Pro duk- licher Gelehrsamkeit (Flasche 1977, 150 ff;
tio n in der Sprache des No rdwestens, dem Deyermond 1988, 412).
Galego po rtugiesischen, ein, die bis zur Mitte
des 14. Jahrhunderts die Ko iné der Lyrik 7.4.  Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts ver-
bleibt. Selbst Alfo ns X. und seine Mitauto ren lagert sich das Zentrum des literarischen Le-
schrieben ihre ‘Cántigas de Santa María’ — bens vo m No rden Kastiliens in die Gegend
in prunkvo llster handschriftlicher Ausstat- um To ledo , das scho n seit dem 12. Jahrhun-
566 IV. Schriftkulturen

dert im Colegio de Traductores eine Überset- haben, bleibt unbestritten, eine in Euro pa ein-
zerakademie besaß, die Gelehrte aus ganz zigartige sprachschöpferische Leistung (Dey-
Euro pa anzo g. To ledo , der erste islamische ermond 1988, 414).
Kulturmittelpunkt, der 1085 im Zuge der
christlichen Wiederero berung zu Kastilien 7.5.  Als gesamtro manisches Fazit und als
kam, pflegte im 12. Jahrhundert no ch die Übergang zum letzten, Italien behandelnden
scho lastische Übersetzung ganz in Latein Abschnitt sei die Feststellung Flasches (1977,
(Adelard ov n Bath, Petrus Venerabilis). 15) festgehalten: „Der Beginn der spanischen
Durch o T led
o wurden dem christlichen Literatur ist beträchtlich vo r den der italie-
Euro pa Aristo teles und seine Ko mmentato ren nischen, sicher neben den der französischen,
Averro es und Avicenna auf Lateinisch ver- nach o der vielleicht so gar vo r den der pro -
mittelt. Als Brücke zwischen der hebräischen venzalischen Literatur anzusetzen.“
(z. B. Maimo nides) und der arabischen Welt
auf der einen, der lateinischen auf der anderen
Seite leistete Spanien so lchermaßen einen 8. Italien
wertvo llen Beitrag zur kulturellen Renais-
sance des 12. Jahrhunderts (Steiger 1964, 8.1.  Wenn davo n gespro chen werden kann,
564 ff; Deyermo nd 1988, 410). Im 13. Jahr- daß im italienischen Mittelalter die Bildung
hundert ging To ledo dann zum Kastilischen der Laien weiter entwickelt war als anderswo ,
als der neuen Übersetzersprache über. — We- dann gilt das in erster Linie für die pragma-
sentlich am Aufstieg des Kastilischen zur tische Schriftlichkeit vo n Lehrern, Juristen,
Ko iné beteiligt war König Alfo ns X., der No taren und Ärzten, dann auch Kaufleuten
Weise (reg. 1252—1284). Er, den man den o der Beamten des Ho fes und der städtischen
literarischsten aller Könige des mittelalterli- Verwaltung. Diese Schriftlichkeit im Ho ch-
chen Euro pa genannt hat (Steiger 1964, 554), mittelalter untersucht ein Teilpro jekt des
hat seinen Ho f zum wichtigsten kulturellen Münsterer SFB 231. Eine eigentliche litera-
Zentrum des spanischen Mittelalters gemacht. rische Schriftkultur in der Vo lkssprache aber
In der vo n ihm 1254 gegründeten Übersetzer- gibt es in Italien (darin ist es der Nachzügler
akademie vo n Sevilla wurden arabische (und in Euro pa) erst ab dem zweiten Viertel des
z. T. hebräische) Texte ins Kastilische über- 13. Jahrhunderts. Vo n da an aber zeigen sich
setzt. Obwo hl Alfo ns, wie gesehen, den Vers vielerlei Beziehungspunkte zwischen beiden
nicht verschmäht hat, liegt seine geradezu re- Spielarten der Schriftlichkeit: Die meisten
vo lutio när zu nennende Leistung do ch in der Dichter der Sizilianischen Schule um Fried-
Ausbildung der vulgärsprachlichen Pro sa. Als rich II. waren Ho fbeamte; in Bo lo gna, v. a.
Auto r und als Anreger, der Berater, Gelehrte, im letzten Viertel des 13. und im ersten des
Übersetzer, Ko mpilato ren und Ko pisten um 14. Jahrhunderts, füllen No tare freibleiben-
sich scharte, Anteil nahm am Entwerfen und den Raum in Originalregistern und Ko pien
Planen der Werke, das Redigieren der sprach- mit Gedichten (Fo lena u. a. 1964, 397), und
lichen Fo rm überwachte, Prachthandschrif- auch unter den ersten Ko pisten der Werke
ten als Vo rlagen für weitere Abschriften im Dantes treffen wir No tare an (Fo lena u. a.
königlichen Skripto rium verwahren ließ und 1964, 422). In der seit dem frühen 12. Jahr-
über eine reiche persönliche Biblio thek ver- hundert, v. a. in Bo lo gna, sich zunehmend
fügte (vgl. Steiger 1964, 554 ff), ist Alfo ns so ausbreitenden Lehre der ars dictandi, zuerst
etwas wie der Mo dellfall des rex litteratus. als Anleitung zum kunstgerechten Abfassen
Mögen seine Initiativen auch nicht uneigen- vo n Briefen gedacht, bald aber sich auch auf
nützig gewesen sein — die Wahl der Vo lks- literarische Pro sa und auf alle Arten amt-
sprache für die beiden Riesenwerke einer spa- lichen Schriftguts ausweitend (Wo rstbro ck
nischen Chro nik und einer Weltchro nik wird 1989, 1 ff), ist ein anderer Berührungspunkt
als flankierende Maßnahme im Sinne einer zwischen beiden Schriftlichkeitstypen zu
kulturpo litischen Offensive zu seinen Hege- fassen. Zweifello s wurde durch den Lehrbe-
mo nieansprüchen auf der Halbinsel und in trieb der ars dictandi auch die Herausbildung
ganz Euro pa verstanden (Gumbrecht 1983, einer vulgärsprachlichen Kunstpro sa vo ran-
170; Deyermo nd 1988, 415) —, sein Verdienst, gebracht (Fo lena u. a. 1964, 349 ff). — Eine
das Kastilische zum unangefo chtenen Me- eindeutige Diglo ssie, eine nicht mehr über-
dium gelehrter Pro sa gemacht und zu einer brückbare Trennung zwischen der gespro che-
Anreicherung des Vo kabulars so wie zu grö- nen Sprache und derjenigen der Schrift macht
ßerer Flexibilität der Syntax beigetragen zu sich im Ursprungsland des Lateinischen sehr
viel später als in den anderen Ländern der
41.  Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa 567

Ro mania bemerkbar (Meno cal 1985, 622; zu schen Gedichte Dantes, und dank Bo ccaccio s
diesem und anderen Gründen vgl. auch Prestige fand die auf ihn zurückgehende
Schnell 1978, 55 f). Verantwo rtlich für die Ver- Überlieferung im 14./15. Jahrhundert viele
spätung vo lkssprachlicher Schriftkultur sind Leser (Fo lena u. a. 1964, 469 f). Petrarcas
auch die fehlende po litische Einheit Italiens ‘Rime sparse’ zeigen ein ho hes Selbstbewußt-
und in ihrer Fo lge die andauernde dialektale sein des Auto rs als Schreibenden und Arran-
Zersplitterung. Selbst als — scho n früh im geurs, der geschriebene Text erscheint als
13. Jahrhundert — das To skanische führende Spiegel der Erfahrung des Dichters (Huo t
Literatursprache wurde, war dies eher eine 1987, 332). Dieser Canzoniere ist, Fo lge des
zufällige Entwicklung. Hinzu ko mmt, daß we- Entschlusses, seine lyrischen Gedichte in einer
der die Kirche no ch der weltliche Adel, im authentischen Sammlung anzulegen, im Au-
No rden ganz nach Frankreich o rientiert, eine ot graph erhalten, zusätzlich existieren 20
Mo tivatio n hatte, die Vo lkssprache zu för- Werkblätter, meist Vo rlagen dafür (Fo lena
dern (der Stauferho f in Sizilien ist ein So n- u. a. 1964, 486 ff), so wie eigene Sammlungen
derfall). Die ersten Schritte zur eigentlichen ausgewählter Briefe. Bo ccaccio , der uns be-
Ausbildung ov lkssprachlicher Schriftkultur reits als Ko pist vo n Dantes ‘Co mmedia’ be-
unternehmen die Ko mmunen, und nach dem gegnet ist, hat auch so nst klassische und mit-
Ende der Staufer geht die kulturelle Initiative telalterliche Texte abgeschrieben und ko m-
ganz an die neue Elite, das städtische Bürger- mentiert, auch Auto graphen eigener Werke
tum über (Fo lena u. a. 1964, 323; 350; 370; sind uns erhalten. Zuerst durch Schreibzen-
Cardini 1978). — Das Auftreten vo n troba- tren im Dienst der gro ßen flo rentinischen
dors und jongleurs und der Impo rt französi- Handelsgesellschaften in bürgerlich-merkan-
scher Pro saro mane haben gewiß zu den An- tilen Kreisen verbreitet, fanden seine in un-
fängen italienischer Literatur das Ihre beige- terschiedlicher Dichte tradierten Werke nach
tragen; v. a. aber ist es die Sizilianische Schule, und nach auch außerhalb des to skanischen
die die westlichen Errungenschaften der Lyrik Raums gro ße Beachtung. Der vo n Bo ccaccio
vermittelt. Ihre eigenen Pro dukte sind scho n gesetzte literarische Standard wurde letztlich
früh in Sammelhandschriften geo rdnet, Vo r- auch für die Fixierung der italienischen
läufern der gro ßen to skanischen, nach Au- Schriftsprache entscheidend (Fo lena u. a.
to renco rpo ra arrangierten Canzonieri (Folena 1964, 503 ff).
u. a. 1964, 370; 372; 381; Huot 1987, 330 f).

8.2.  Daß der ‘So nnengesang’ des Franz vo n 9. Rückblick und Ausblick
Assisi (1225/26) das erste Gedicht in italieni- Wenn Gumbrecht (1983, 166 f; 170 f), ausge-
scher Sprache ist, das wir kennen, mag dem hend vo n der seiner Meinung nach überzo -
Zufall der Überlieferung zuzuschreiben sein; genen These vo n den zwei nebeneinander exi-
immerhin darf diese lauda als der erste Mei- stierenden Kulturen (Kleriker- und Laienkul-
lenstein in der Geschichte der italienischen tur), die Ko nstituierung der Vo lkssprache als
Literatur bezeichnet werden, ein Text, der Schriftsprache ins 15. Jahrhundert verlegt und
wo hl scho n früh schriftliche Verbreitung ge- die Verschriftlichungsleistungen vo rausliegen-
funden hat (Fo lena u. a. 1964, 335 ff), wie der Jahrhunderte nur als jeweils punktuelle
dann später auch ganze Laudensammlungen Ansätze versteht, so trägt er zwar der Tatsa-
zwischen den Bruderschaften einzelner Städte che Rechnung, daß in nahezu allen Ländern
ausgetauscht werden. — Nur einige wenige viele — wenn auch nicht alle — der ersten
Aspekte der Bedeutung der drei gro ßen Auto - Zeugnisse vulgärsprachlicher Schriftliteratur
ren für die italienische Schriftkultur können auf einen klerikalen Impetus zurückzuführen
hier berührt werden. Die Verbreitung vo n sind, beachtet aber weder, daß manche Gat-
Dantes ‘De vulgari elo quentia’, der ersten tungen wie z. B. die höfische Lyrik (sieht er
theo retischen Erörterung des Pro blems der sie nur in der Mündlichkeit angesiedelt?) vo n
Wahl der Dichtungssprache, setzte erst einige Anfang an in der Trägerschaft vo n Laien
Zeit nach seinem To d ein und war insgesamt standen, no ch, daß andere Genres, wie z. B.
o ffenbar sehr beschränkt (Fo lena u. a. 1964, der höfische Ro man, sich scho n sehr bald aus
441); am anderen Ende der Skala stehen die dem Klerikermilieu gelöst und eine vo n der
über 600 erhaltenen Handschriften der ‘Co m- lateinischen Kultur fast gänzlich abgetrennte
media’ (Fo lena u. a. 1964, 458). Wertvo ll sind Existenz geführt haben. Er erkennt auch nicht
bes. drei auto graphische Ko pien Bo ccaccio s, — um bei den Verhältnissen in Frankreich
Teile eines Editio nspro gramms der italieni- und Deutschland zu bleiben — die mannig-
568 IV. Schriftkulturen

fachen Anstöße im 11. und v. a. im 12. Jahr- Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zur Entstehung
hundert, die zu einer Emanzipatio n der lai- und Entwicklung der Örvar-Odds Saga. In: Raible,
kalen Kultur geführt und eine Entwicklung Wo lfgang (ed.). Zwischen Festtag und Alltag. Zehn
in Gang gesetzt haben, vo n der es kein Zurück Beiträge zum Thema ‘Mündlichkeit und Schrift-
gab. Der vo lkssprachliche Ro man des Mit- lichkeit’. Tübingen (ScriptOralia 6), 191—213.
telalters, wieder z. B., mündet, nachdem er —. 1991. Deshalb die Mündlichkeit der Saga. In:
einige Metamo rpho sen durchgemacht hat, di- Raible, Wo lfgang (ed.). Symbo lische Fo rmen —
rekt in den Ro man der Neuzeit. Anders als Medien — Identität. Jahrbuch 1989/90 des So n-
Gumbrecht will, hat der vo rliegende Über- derf
o rschungsbereichs „Übergänge und Span-
blick gezeigt, daß die Vo lkssprache als Schrift- nungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
sprache in Frankreich und Deutschland im keit“. Tübingen (ScriptOralia 37), 195—216.
12., in Island, Spanien und selbst in Italien Banniard, Michel. 1992. Viva vo ce. Co mmunica-
im 13. Jahrhundert (in England widriger Um- tio n écrite et co mmunicatio n o rale du IVe au IXe
stände wegen wo hl endgültig erst im 14. Jh.) siècle en Occident latin. Paris (Co llectio n des Étu-
festen Fuß gefaßt hatte, ja in Irland scho n des Augustiniennes. Série Mo yen-Âge et Temps
viele Jahrhunderte früher etabliert war. Modernes. 25).
Ob es, hier no ch ganz auf das Lateinische Brewer, Derek. 1988. Orality and Literacy in Chau-
bezo gen, der „Umbruch der Lesekultur“ um cer. In: Erzgräber, Willi & Vo lk, Sabine (ed.).
1150 war, basierend auf technischen Neue- Mündlichkeit und Schriftlichkeit im englischen
rungen, die „die Buchseite vo n einer Partitur Mittelalter. Tübingen (ScriptOralia 5), 85—119.
zum Textträger“ machten (Illich 1991, 10 f),
o b es, jetzt in der Vo lkssprache, am Ende des Brunner, Karl. 1964. Überlieferungsgeschichte der
Jahrhunderts die Geburt des Erzählers, die alt- und mittelenglischen Literatur. In: Geschichte
Entdeckung der Fiktio nalität o der das Auf- der Textüberlieferung 2 (s. Avalle), 599—640.
treten des Einzellesers waren, o b der Sieges- Bumke, Jo achim. 1986. Höfische Kultur. Literatur
zug der Schriftpro sa im 12./13. Jahrhundert und Gesellschaft im ho hen Mittelalter. 2 Bde. Mün-
in Island o der Frankreich, um nur einiges zu chen (dtv 4442).
nennen — Errungenschaften wie diese mar- Busby, Keith. 1988. The Illustrated Manuscripts o f
kieren jeweils einen epo chalen Wendepunkt Chrétien’s Perceval. Zeitschrift für französische
in der Entwicklung der euro päischen Schrift- Sprache und Literatur 98, 41—52.
kultur, und man wird zu fragen haben, o b Busse, Wilhelm G. 1988. Bo ceras. Written and o ral
vo r diesem Hintergrund die Wendemarke der traditio ns in the late tenth century. In: Mündlich-
Erfindung des Buchdrucks nicht in ihrem keit und Schriftlichkeit (s. Brewer), 27—37.
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Parkes, Malco lm B. 1983. The Literacy o f the Laity. Rezeptio n der Literatur im 12. und 13. Jahrhun-
In: Daiches, David & Tho rlby, Antho ny (ed.). The dert. Wiesbaden.
Mediaeval Wo rld. Lo ndo n (Literature and Western Schreiner, Klaus. 1992. Verschriftlichung als Fak-
Civilization), 555—577. to r mo nastischer Refo rm. Funktio nen vo n Schrift-
Po nert, Dietmar Jürgen. 1975. Deutsch und Latein lichkeit im Ordenswesen des ho hen und späten
in deutscher Literatur und Geschichtsschreibung Mittelalters. In: Pragmatische Schriftlichkeit (s.
des Mittelalters. Stuttgart etc. (Studien zur Po etik Curschmann), 37—75.
und Geschichte der Literatur 43). Schweikle, Günther. 1977. Die mittelho chdeutsche
Riché, Pierre. 1981. Die Welt der Karo linger. Stutt- Minnelyrik. Bd. 1: Die frühe Minnelyrik. Texte und
gart. Übertragungen, Einführung und o K mmentar.
Darmstadt.
572 IV. Schriftkulturen

Skrzypczak, Henryk. 1956. Stadt und Schriftlich- Vo llrath, Hanna. 1979. Gesetzgebung und Schrift-
keit im deutschen Mittelalter. Beiträge zur So zial- lichkeit. Das Beispiel der angelsächsischen Gesetze.
geschichte des Schreibens. Diss. [masch.] FU Ber- Historisches Jahrbuch 99, 28—54.
lin. Wehrli, Max. 1984. Literatur im deutschen Mittel-
o
S nderegger, Stefan. 1964. Überlieferungsge- alter. Eine op et o ol gische Einführung. Stuttgart
schichte der frühgermanischen und altno rdischen (Universalbibliothek 8038).
Literatur. In: Geschichte der Textüberlieferung 2 Weijers, Olga (ed.). 1989. Vo cabulaire du livre et
(s. Avalle), 703—761. de l’écriture au mo yen âge. Actes de la table ro nde
—. 1985. Latein und Altho chdeutsch. Grundsätz- Paris 24—26 septembre 1987. Turnho ut (Études sur
liche Überlegungen zu ihrem Verhältnis. In: Va- le Vocabulaire Intellectuel du Moyen Age 2).
rio rvm Mvnera Flo rvm. Latinität als prägende Wendeho rst, Alfred. 1986. Wer ko nnte im Mittel-
Kraft mittelalterlicher Kultur. Festschrift für Hans alter lesen und schreiben? In: Schulen und Studium
F. Haefele zu seinem sechzigsten Geburtstag. Sig- (s. Köhn), 9—33.
maringen, 59—72. Wenzel, Ho rst. 1992. Szene und Gebärde. Zur vi-
Steiger, Arnald. 1964. Überlieferungsgeschichte der suellen Imaginatio n im Nibelungenlied. Zeitschrift
spanischen Literatur des Mittelalters. In: Ge- für deutsche Philologie 111, 321—343.
schichte der Textüberlieferung 2 (s. Avalle), Wilhelm, Friedrich. 1920/21. Zur Geschichte des
539—597. Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des
Stevenso n, Jane. 1989. The beginnings o f literacy 13. Jahrhunderts. I. Vo n der Ausbreitung der deut-
in Ireland. In: Pro ceedings o f the Ro yal Irish Aca- schen Sprache im Schriftverkehr und ihren Grün-
demy 89 C, 127—165. den. II. Der Urheber und sein Werk in der Öffent-
Sto ck, Brian. 1983. The Implicatio ns o f Literacy. lichkeit. München (Münchener Archiv für Philo -
Written Language and Mo dels o f Interpretatio n in logie des Mittelalters und der Renaissance 8).
the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton. Wo lf, Alo is. 1986. Deutsche Kultur im Ho chmit-
Tho mso n, R. M. 1986. The No rman co nquest and telalter 1150—1250. Essen (Handbuch der Kultur-
English libraries. In: The Ro le o f the Bo o k (s. geschichte, neu hrsg. v. Eugen Thurnher).
Fromm). Bd. 2 (Bibliologia 4), 27—40. —. 1988. Altisländische theo retische Äußerungen
Tristram, Hildegard L. C. 1989. Die Fragestellung: zur Verschriftlichung und die Verschriftlichung der
Pro blembereich und Spannungsbreite der Media- Nibelungensagen im No rden. In: Zwischen Festtag
lität im älteren irischen Schrifttum. In: Early Irish und Alltag (s. Bandle), 167—189.
Literature (s. Edel), 13—38. —. 1990. Ro land — Byrhtno d — Olafr helgi. Sno r-
Turner, Ralph V. 1978. The Miles Literatus in ris Schriftkultur und die Entwicklung der Saga zur
Twelfth- and Thirteenth-Century England: Ho w ko mplexen epischen Gro ßfo rm. In: Reichert, Her-
Rare a Pheno meno n? American Histo rical Review mann & Zimmermann, Günter (ed.). Helden und
83, 928—945. Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag.
Uitti, Karl D. 1985 a. French Literature: To 1200. Wien (Philologica Germanica 11), 483—512.
In: Dictionary of the Middle Ages, Bd. 5, 232—254. Wo rmald, C. P. 1977. The Uses o f Literacy in An-
—. 1985 b. French Literature: After 1200. Ibid., glo -Saxo n England and its Neighbo urs. In: Trans-
254—280. actio ns o f the Ro yal Histo rical So ciety, 5th series,
Vinaver, Eugène. 1963/64. Fro m Epic to Ro mance. 27, 95—114.
Bulletin o f the Jo hn Rylands Library 46, 476—503. Wo rstbro ck, Franz Jo sef. 1989. Die Anfänge der
Vo llmann-Pro fe, Gisela. 1986. Wiederbeginn vo lks- mittelalterlichen Ars dictandi. Frühmittelalterliche
sprachiger Schriftlichkeit im oh hen Mittelalter Studien 23, 1—42.
(1050/60—1160/70) (= Heinzle, Jo achim [ed.] Ge- Zumth o r, Paul. 1985. Litteratus/illitteratus. Re-
schichte der deutschen Literatur vo n den Anfängen marques sur le co ntexte vo cal de l’écriture médié-
bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1: Vo n den An- vale. Romania 106, 1—18.
fängen zum ho hen Mittelalter, Teil 2). Königstein/
Ts. Manfred Günter Scholz, Tübingen
(Deutschland)

42. Der Buchdruck und seine Folgen

Redaktioneller Hinweis: Aus terminlich-technischen Gründen muß der an dieser Stelle vorgese-
hene Artikel leider entfallen.
572 IV. Schriftkulturen

Skrzypczak, Henryk. 1956. Stadt und Schriftlich- Vo llrath, Hanna. 1979. Gesetzgebung und Schrift-
keit im deutschen Mittelalter. Beiträge zur So zial- lichkeit. Das Beispiel der angelsächsischen Gesetze.
geschichte des Schreibens. Diss. [masch.] FU Ber- Historisches Jahrbuch 99, 28—54.
lin. Wehrli, Max. 1984. Literatur im deutschen Mittel-
o
S nderegger, Stefan. 1964. Überlieferungsge- alter. Eine op et o ol gische Einführung. Stuttgart
schichte der frühgermanischen und altno rdischen (Universalbibliothek 8038).
Literatur. In: Geschichte der Textüberlieferung 2 Weijers, Olga (ed.). 1989. Vo cabulaire du livre et
(s. Avalle), 703—761. de l’écriture au mo yen âge. Actes de la table ro nde
—. 1985. Latein und Altho chdeutsch. Grundsätz- Paris 24—26 septembre 1987. Turnho ut (Études sur
liche Überlegungen zu ihrem Verhältnis. In: Va- le Vocabulaire Intellectuel du Moyen Age 2).
rio rvm Mvnera Flo rvm. Latinität als prägende Wendeho rst, Alfred. 1986. Wer ko nnte im Mittel-
Kraft mittelalterlicher Kultur. Festschrift für Hans alter lesen und schreiben? In: Schulen und Studium
F. Haefele zu seinem sechzigsten Geburtstag. Sig- (s. Köhn), 9—33.
maringen, 59—72. Wenzel, Ho rst. 1992. Szene und Gebärde. Zur vi-
Steiger, Arnald. 1964. Überlieferungsgeschichte der suellen Imaginatio n im Nibelungenlied. Zeitschrift
spanischen Literatur des Mittelalters. In: Ge- für deutsche Philologie 111, 321—343.
schichte der Textüberlieferung 2 (s. Avalle), Wilhelm, Friedrich. 1920/21. Zur Geschichte des
539—597. Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des
Stevenso n, Jane. 1989. The beginnings o f literacy 13. Jahrhunderts. I. Vo n der Ausbreitung der deut-
in Ireland. In: Pro ceedings o f the Ro yal Irish Aca- schen Sprache im Schriftverkehr und ihren Grün-
demy 89 C, 127—165. den. II. Der Urheber und sein Werk in der Öffent-
Sto ck, Brian. 1983. The Implicatio ns o f Literacy. lichkeit. München (Münchener Archiv für Philo -
Written Language and Mo dels o f Interpretatio n in logie des Mittelalters und der Renaissance 8).
the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton. Wo lf, Alo is. 1986. Deutsche Kultur im Ho chmit-
Tho mso n, R. M. 1986. The No rman co nquest and telalter 1150—1250. Essen (Handbuch der Kultur-
English libraries. In: The Ro le o f the Bo o k (s. geschichte, neu hrsg. v. Eugen Thurnher).
Fromm). Bd. 2 (Bibliologia 4), 27—40. —. 1988. Altisländische theo retische Äußerungen
Tristram, Hildegard L. C. 1989. Die Fragestellung: zur Verschriftlichung und die Verschriftlichung der
Pro blembereich und Spannungsbreite der Media- Nibelungensagen im No rden. In: Zwischen Festtag
lität im älteren irischen Schrifttum. In: Early Irish und Alltag (s. Bandle), 167—189.
Literature (s. Edel), 13—38. —. 1990. Ro land — Byrhtno d — Olafr helgi. Sno r-
Turner, Ralph V. 1978. The Miles Literatus in ris Schriftkultur und die Entwicklung der Saga zur
Twelfth- and Thirteenth-Century England: Ho w ko mplexen epischen Gro ßfo rm. In: Reichert, Her-
Rare a Pheno meno n? American Histo rical Review mann & Zimmermann, Günter (ed.). Helden und
83, 928—945. Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag.
Uitti, Karl D. 1985 a. French Literature: To 1200. Wien (Philologica Germanica 11), 483—512.
In: Dictionary of the Middle Ages, Bd. 5, 232—254. Wo rmald, C. P. 1977. The Uses o f Literacy in An-
—. 1985 b. French Literature: After 1200. Ibid., glo -Saxo n England and its Neighbo urs. In: Trans-
254—280. actio ns o f the Ro yal Histo rical So ciety, 5th series,
Vinaver, Eugène. 1963/64. Fro m Epic to Ro mance. 27, 95—114.
Bulletin o f the Jo hn Rylands Library 46, 476—503. Wo rstbro ck, Franz Jo sef. 1989. Die Anfänge der
Vo llmann-Pro fe, Gisela. 1986. Wiederbeginn vo lks- mittelalterlichen Ars dictandi. Frühmittelalterliche
sprachiger Schriftlichkeit im oh hen Mittelalter Studien 23, 1—42.
(1050/60—1160/70) (= Heinzle, Jo achim [ed.] Ge- Zumth o r, Paul. 1985. Litteratus/illitteratus. Re-
schichte der deutschen Literatur vo n den Anfängen marques sur le co ntexte vo cal de l’écriture médié-
bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1: Vo n den An- vale. Romania 106, 1—18.
fängen zum ho hen Mittelalter, Teil 2). Königstein/
Ts. Manfred Günter Scholz, Tübingen
(Deutschland)

42. Der Buchdruck und seine Folgen

Redaktioneller Hinweis: Aus terminlich-technischen Gründen muß der an dieser Stelle vorgese-
hene Artikel leider entfallen.
43.  Perspektiven der Schriftkultur 573

43. Perspektiven der Schriftkultur

1. Einleitung Gesellschaft kaum no ch kano nische Texte


2. Zum Begriff der Kultur und zur Rolle der gibt, die einen einheitlichen Bezugsrahmen für
Schrift Bildungsbio graphien liefern und wenn die
3. Differenzierung von Schriftkulturen Fo rmen schriftlicher Ko mmunikatio n so viel-
4. Universalisierung der Kommunikation fältig gewo rden sind, daß sie kaum no ch An-
5. Neue Formen des Schreibens schlußmöglichkeiten untereinander gewähr-
6. Anforderungen an eine neue Schriftkultur leisten. Angesichts der vielfältigen Zugänge
7. Literatur zu Schrift erscheinen glo bale Bestimmungen
ihrer kulturellen Funktio n z. B. als repräsen-
tativ, kano nisierend o der evo lutiv, wie sie
1. Einleitung etwa Assmann (1992) für ältere Kulturen fo r-
Die vielleicht wichtigste Kennzeichnung mo - mulierte, für die heutige Gesellschaft nicht
derner Gesellschaften und ihrer Perspektiven mehr tragfähig.
läßt sich in dem Begriff der Offenheit zusam- Die Feststellung einer Offenheit der Ent-
menfassen. Mit einem in die Vergangenheit wicklungsperspektiven ermöglicht in einem
gerichteten Blick wird damit die Auflösung zweiten Schritt die Idee der Planung vo n Ent-
überlieferter no rmativer Orientierungen und wicklungen. Erst in einer nicht mehr deter-
stabilisierter Deutungsmuster festgestellt: Die ministischen und schicksalso rientierten Auf-
Bewertungen vo n Handlungen und Ereignis- fassung vo n histo rischer Entwicklung macht
sen so wie ihr Verständnis haben sich für es Sinn, über eine absichtsvo lle Gestaltung
verschiedenste, miteinander ok nkurrierende der Gesellschaft nachzudenken. Man kann
Sichtweisen geöffnet. Die üblicherweise dem no ch weitergehen und vermuten, daß die
Bereich der Kultur zugerechnete Funktio n, durch die Offenheit erzeugte Unsicherheit
einen für alle Mitglieder einer Gesellschaft hinsichtlich der Frage, wie es weitergeht, die
mehr o der weniger eindeutigen und verbind- Idee der Planung so gar erzwingt, da sie die
lichen Bezugsrahmen des Handelns zu liefern, Ho ffnung auf Gewißheit über die Grundlagen
verliert an Substanz. Der Blick in die Zukunft des Handelns und die Zukunft liefert. Wie
erlaubt, nachdem die Katego rie des Fo rt- realistisch diese Ho ffnung allerdings ist, bleibt
schritts brüchig gewo rden ist, keine siche- abzuwarten. Eine Ko nkretisierung der Idee
ren Pro gno sen über künftige Entwicklungen der Planung unsicher gewo rdener gesell-
mehr. Die Ho ffnung, Zukunft aus der Gegen- schaftlicher Entwicklungen findet sich in dem
wart zu extrapo lieren, mußte der Einsicht wei- Ko nzept der Informations- und Kommunika-
chen, daß die Perspektiven der Gesellschaft tionsgesellschaft. Die Einheitlichkeit der aus-
durch Offenheit und nicht durch die Selbst- einanderstrebenden Bereiche der Gesellschaft
verständlichkeit einer linearen Weiterentwick- so ll durch ein universelles Ko mmunikatio ns-
lung gekennzeichnet sind. Damit entsteht die system gesichert werden, das in der Lage ist,
Unsicherheit, auf welche künftigen Ereignisse einerseits die Offenheit der Gesellschaft zu
man sich einzustellen hat. „Der Vekto r der gewährleisten, andererseits aber die damit
Geschichte ist abhanden geko mmen.“ (Sie- verbundene Unsicherheit und die Gefahr, daß
ferle 1984, 264) zu viele Ko mmunikatio nspro zesse mißlingen,
Eine Ursache für diese Offenheit kann in zu vermindern. Im Unterschied zu der histo -
dem als Differenzierung beschriebenen histo - risch gescheiterten Idee, die gesamte Gesell-
rischen Pro zeß gesehen werden: Die mo derne schaft auf der Grundlage einer bestimmten
Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl unter- Ideo lo gie zu planen, so ll hier ein fo rmales
schiedlicher Handlungsbereiche, die nach je o
K mmunikati o nsinstrument ein Bindeglied
und ein Steuerungsmedium liefern. In diesem
eigenen Überzeugungssystemen arbeiten. Aus Pro jekt wird sich die Ro lle der Schrift und
ihrem Zusammenwirken ergibt sich eine ihr Beitrag zur Kultur wesentlich ändern.
Ko mplexität, die für die Mitglieder der Ge- In diesem Beitrag werden zunächst einige
sellschaft kaum no ch überschaubar ist und Aspekte traditio neller Begriffe vo n Kultur
ihnen daher als Offenheit und als Auflösung und Schriftkultur diskutiert. Im dritten Ab-
kultureller Bindungen erscheint. Die Funk- schnitt wird das Ko nzept der differenzierten
tio n der Schrift als einem zentralen kulturellen Gesellschaft und anschließend im vierten Ab-
Bindeglied scheint in diesem Pro zeß ebenfalls schnitt die Idee der Universalisierung der
an Bedeutung zu verlieren, wenn es in der
574 IV. Schriftkulturen

Ko mmunikatio n in den mo dernen Techno lo - ist und was in den Kreis des Vertrauten ein-
gien vo rgestellt. Im fünften Abschnitt werden bezo gen werden kann. Die Auszeichnung
einige der neueren Schrifttechno lo gien im e i n e r Kultur wird damit unvermeidlich, und
Spannungsfeld vo n Differenzierung und Uni- ein pluralistischer Kulturbegriff, wie er einer
versalisierung untersucht. Abschließend wer- in Subkulturen zerfallenden Gesellschaft an-
den Pro bleme, die sich aus diesen Entwick- gemessen wäre, wird immer eine Idealvo rstel-
lungen ergeben, diskutiert. Die Beschleuni- lung bleiben.
gung der medientechnischen Entwicklungen Eine der wichtigsten Ausgrenzungen, die
bringt es mit sich, daß pro gno stische Aussa- mit dem Begriff der Kultur vo rgeno mmen
gen in diesem Bereich immer etwas riskant wird, drückt sich in der Oppo sitio n vo n Kul-
sind. tur und Natur aus. Dazu gehört auch die
Auffassung, bezo gen auf die Weitergabe vo n
Fähigkeiten innerhalb einer Spezies, die Tra-
2. Zum Begriff der Kultur und ditio n dem Bereich der Kultur zuzuo rdnen,
zur Rolle der Schrift während die Vererbung als das Natürliche
Der Kulturbegriff und die Ro lle, die der ausgegrenzt wird (Po sner 1991, 39). Lange
Schrift darin zugedacht wird, unterliegen gro - Zeit galt als kulturelle Traditio n insbeso ndere
ßen histo rischen Wandlungen, die einem je- das, was schriftlich weitergegeben wurde. Erst
weils spezifischen Abgrenzungsbedürfnis ge- relativ spät wurde die Bedeutung mündlicher
schuldet sind. Kultur umreißt zunächst den Traditionsbildung erkannt (Nevins 1932).
Bereich der Welt, der für eine Gesellschaft Eine weitere Oppo sitio n bildet diejenige
durch Vertrautheit und Sicherheit gekenn- zwischen Kultur und Technik (z. B. Benjamin
zeichnet ist. Vo r der Etablierung eines uni- 1963). Vo r diesem Hintergrund führte die
versalen Menschenbegriffes wurde mit dem Technisierung der Kultur in der Ko mmuni-
Gegensatz vo n Kultur und Barbarei jegliches katio nsgesellschaft zu einem tiefgreifenden
fremde menschliche Verhalten als kulturlo s Ko nflikt des Kulturbegriffes. Gerade die
ausgegrenzt. Als Beschreibungsmerkmal bar- Sprache und die Schrift als wichtigste Medien
barischen Verhaltens diente auch dessen Spra- der Kultur stehen im Zentrum des gegenwär-
che und das Fehlen einer Schrift. Erst die tigen Technisierungsschubes: Kulturelle Pro -
Kulturanthr o op ol gie erkannte die Vielfalt zesse sind nun weitgehend auf technische Me-
menschlicher, also auch fremder und nicht- dien angewiesen. Damit entsteht die Frage,
schriftlicher Verhaltensweisen als Kulturen an wie angesichts dieser Entwicklungen die Op-
und ermöglichte so eine Verwendung des Kul- po sitio n zwischen Kultur und Technik rede-
turbegriffes im Plural (→ Art. 30). Auch wenn finiert werden kann. Ein Versuch besteht
die damit erreichte Dezentrierung der Per- darin, eine Binnendifferenzierung zwischen
spektiven eine wichtige Fähigkeit in der mo - techniko rientierten und humanistischen Sub-
dernen Gesellschaft bedeutet, wurde der Kul- kulturen innerhalb einer Gesellschaft (z. B.
turbegriff nie frei vo n der unterschiedlichen Sno w 1967) einzuführen. Dabei wird der er-
Bewertung des Vertrauten und des Fremden. sten Gruppe ein regelo rientierter und axio -
Diese Auszeichnung der eigenen Kultur matischer Diskursstil zugeo rdnet und der
hängt mit zwei weiteren begrifflichen Oppo - zweiten ein eher narrativer Stil. Mit dieser
sitio nen zusammen. Einmal kann Kultur als Unterscheidung wird allerdings die Tatsache
fa k t i s c h gegebenes Verhalten o der aber verdeckt, daß die mo derne Technisierung alle
n o r m a t i v als Leitvo rstellung des Handelns Bereiche der Gesellschaft erfaßt.
gedacht werden. Ihren Orientierungswert er- Eine weitere Binnendifferenzierung des
hält sie insbeso ndere unter der no rmativen Kulturbegriffes wurde neuerdings vo n Ass-
Perspektive. Damit verbindet sich allerdings mann & Harth (1991) thematisiert: Kultur als
auch immer ein Gegensatz zu den No rmen Lebenswelt und Mo nument. In zeitlicher Per-
anderer Kulturen. Weiterhin liegt gerade die spektive zeichnet sich die Lebenswelt durch
identitätsstiftende Funktio n vo n Kultur dar- Nähe zu den Zeitgeno ssen und das Mo nu-
in, einen Bereich als einheitlich gegenüber ment durch Verbindung mit den Vo rfahren
einer als different angesehenen Umwelt aus- aus; der Gestus der Lebenswelt ist weniger
zugrenzen. Die begriffliche Auseinanderset- stilisiert als jener des Mo numentes; sprachlich
zung darüber, was zu einer Kultur gehört und besitzt die Lebenswelt eher dialo gischen und
was nicht, richtet sich, niemals emo tio nslo s, das Mo nument eher mo no lo gischen Charak-
darauf, was als völlig Anderes zu betrachten ter. Anknüpfend an den Histo riker R. Ko sel-
leck spricht Assmann (1991, 22) vo n einer
43.  Perspektiven der Schriftkultur 575

Krise des Mo numents in der mo dernen Ge- stimmter Schriften bzw. Texte und die ge-
sellschaft durch Pro fanisierung, raschen hi- meinsame Referenz auf sie die Weltsicht einer
sto rischen Wandel, Auflösung traditio neller Kultur. Dabei wurde die erste Fähigkeit eher
Herrschaftssymbo lik etc. Die Schrift wird nun als Mittel zum Zweck angesehen, während
auch vo n dieser Krise betro ffen: In allen gän- die bedeutendere Vo raussetzung für die Mit-
gigen Auffassungen wird sie, im Unterschied gliedschaft in einer Kultur in der Kenntnis
zur eher mündlich-dialo gisch ko nzipierten kano nischer Texte bestand. Diese Funktio nen
Lebenswelt, eher als Mo nument gedacht: Der vo n Schriftkultur, ein Band für verschiedenste
schriftliche Text als stabiler Referenzpunkt Ko mmunikatio nsfo rmen innerhalb der Ge-
einer Kultur. Gerade auf die Unveränderlich- sellschaft zu liefern, steht in der Ko mmuni-
keit der älteren Fo rmen der Schrift zielen aber kati
o ns- und Inf o rmati
o nsgesellschaft ov r
die neuesten technischen Entwicklungen des einer gänzlich neuen Herausforderung.
Schreibens. Sie so llen die Veränderbarkeit des
Geschriebenen erleichtern und vermindern
damit seinen Monumentcharakter. 3. Differenzierung von Schriftkulturen
Eine weitere Frage in der Diskussio n des Begreift man Kultur als Bezugsrahmen jegli-
Kulturbegriffes bezieht sich darauf, o b Kultur cher Ko mmunikatio n, dann wird auch für ein
einen ausgegrenzten Bereich der Gesellschaft Verständnis vo n Schriftkultur unterstellt, eine
ausmacht o der eine übergeo rdnete Struktur. Gesellschaft ließe sich unter dem Aspekt der
Dabei geht es um eine Klärung des Verhält- Schriftverwendung als einheitlich beschrei-
nisses der Begriffe Kultur und Gesellschaft. ben. In jüngerer Zeit findet man dagegen im-
So sieht z. B. Wehler (1987) Kultur als eine mer mehr Untersuchungen, die vo n Brüchen
relativ auto no me Dimensio n der Gesellschaft in dem Bild e i n e r (Schrift-)Kultur berichten.
neben den Dimensio nen Arbeit und Herr- Man kann eine Ausdifferenzierung unter-
schaft. Diese Auto no mie drückt sich z. B. in schiedlicher Kulturen entlang mehrerer Ach-
bestimmten kulturellen Institutio nen aus wie sen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen
Schule, Kirche o der Veröffentlichungswesen. verschiedenen Gesellschaften beo bachten. In
Tro tz dieser Auffassung wird auch bei Wehler den So zialwissenschaften bezieht sich diese
deutlich, daß Kultur ein Band für die gesamte Differenzierungsthese zunächst nicht auf die
Gesellschaft darstellt und nicht in einem dif- Schrift, so ndern auf die Entwicklung der mo -
ferenzierten Teilbereich aufgeht: dernen Gesellschaft insgesamt. Es erscheint
„Kultur so ll, dem weiten Begriff der Kul- jedo ch plausibel, daß vo n der Differenzierung
turanthro po lo gie fo lgend, die ideellen und in- auch die schriftliche Ko mmunikatio n betro f-
stitutio nellen Traditio nen, Werte und Einstel- fen ist und künftige Schriftkulturen immer
lungen, die Denkfiguren, Ideo lo gien und Aus- weniger in der o hnehin scho n pro blemati-
drucksfo rmen, jene symbo lisch verschlüsselte schen Weise als einheitlich beschreibbar sein
Erfassung und Deutung vo n Wirklichkeit um- werden.
fassen, mit deren Hilfe nicht nur sprachlich-
schriftliche, so ndern schlechterdings jede Art
vo n Ko mmunikatio n unterhalten und gespei- 3.1. Funktionale Differenzierung
chert wird, so daß alles Verhalten und Han- In einer bestimmten so zialwissenschaftlichen
deln in diesen Ko mplex symbo lischer Inter- Auffassung wird die Entwicklung mo derner
aktio n eingebettet bleibt, durch ihn angeleitet Gesellschaften als ein fo rtschreitender Diffe-
wird.“ (Wehler 1987, 10). renzierungspro zeß beschrieben (z. B. Luh-
Dieses Leitbild vo n Kultur als einem ge- mann 1985, 1986; Mayntz 1988; Jo as 1990).
meinsamen Rahmen der Ko mmunikatio n so ll Danach bilden sich innerhalb der Gesellschaft
mit den zuvo r aufgeführten Unterscheidun- immer mehr auto no me Teilbereiche — Recht,
gen nun als Ausgangspunkt für die Diskus- Po litik, Öko no mie, Wissenschaft, Religio n
sio n der möglicherweise veränderten Ro lle etc. — heraus, die nach eigenen Prinzipien
vo n Kultur geno mmen werden. In diesem strukturiert sind und über eigene Medien
Kulturbegriff ko mmen der Schrift zweierlei verfügen. Einen weitreichenden Differenzie-
Funktio nen zu, die zur Ko nstitutio n der rungsbegriff findet man in der so zio lo gischen
Schriftkultur beitragen: Die Fähigkeiten des Systemtheo rie. Danach geht die Gesellschaft
Schreibens und Lesens vermitteln erstens die weitgehend in verschiedenen Teilsystemen
Teilhabe an einem Zeit und Raum übergrei- auf, und insbeso ndere gibt es keine privile-
fenden K o mmunikati o nssystem, das neue gierten Po sitio nen, vo n denen aus ein integra-
ko gnitive Strukturen der Gesellschaft ermög- tiver Blick auf die Gesellschaft möglich wäre.
licht. Zweitens stabilisieren die Kenntnis be-
576 IV. Schriftkulturen

Mit dieser Auffassung verbindet sich ein man vo n den theo retischen Bezugsrahmen, so
„Steuerungspessimismus“, der besagt, daß erscheint die Diagno se der gesellschaftlichen
aufgrund der Auto no mie der Teilsysteme ein Entwicklung in diesem Punkt übereinzustim-
no rmativer Zugriff auf gesamtgesellschaftli- men.
che Pro zesse nicht möglich sei. Gegenläufige Betrachtet man die verschiedenen Differen-
Bestrebungen in den verschiedenen neuen po - zierungsko nzepte, so bleibt bei all ihrer un-
litischen Bewegungen erscheinen als „illusio - terschiedlichen Ko nzeptio n wenig Raum für
näre Entdifferenzierungsträumerei“. eine glo bale Kennzeichnung einer Gesell-
Der Schrift ko mmt damit auch keine be- schaft als Schriftkultur. Vielmehr zerfällt sie,
so ndere, integrative Ro lle zu; für eine über- zumindest in den funktio nal differenzierten
greifende Schriftkultur, wenn sie gar als no r- Bereichen der Gesellschaft wie Recht, Po litik,
matives Ko nzept gedacht wird, gibt es in der Wissenschaft, Wirtschaft etc., in eine Vielzahl
differenzierten Gesellschaft keinen Platz. auto no mer Schriftkulturen mit nur begrenz-
Schriftverwendung findet man zwar praktisch ten Verständigungsmöglichkeiten unterein-
in allen Teilsystemen der Gesellschaft, diese ander.
ko nstituieren sich aber über je beso ndere Ar-
ten des Schreibens: über spezifische Typen 3.2. Individuelle Differenzierung
schriftlicher Texte, spezifische Fo rmen der
Verbindung vo n Schriftlichkeit und Münd- Nicht nur die verschiedenen Funktio nsberei-
lichkeit, spezifische mediale Fo rmen des che der Gesellschaft erfahren eine Differen-
Schreibens. Die Tatsache, daß geschrieben zierung, so ndern auch die individuellen Le-
wird, mag als verbindendes Element bestehen bensentwürfe und Bio graphien. Der rasche
bleiben. Wie jedo ch geschrieben wird, unter- so ziale Wandel erfo rdert vo n den Gesell-
scheidet sich so weitgehend, daß damit nur schaftsmitgliedern ein extrem ho hes Maß an
wenige K o mmunikatio nsmöglichkeiten zwi- geo graphischer, so zialer und kultureller Mo -
schen den Teilsystemen eröffnet werden. bilität und die Fähigkeit, sich in verschieden-
In der Gesellschaftstheo rie vo n Jürgen Ha- sten Funktio nsbereichen zu bewegen. Der So -
bermas bleibt mit dem Lebenswelt-System- zio lo ge Ulrich Beck beschreibt dies als eine
Dualismus (Habermas 1981) zunächst ein Re- of rtschreitende Individualisierung und die
siduum für einen nichtdifferenzierten Hand- Herausbildung ov n „Lebensstil-Enklaven“
lungsbereich innerhalb der Gesellschaft. Die (Beck 1988). Jedes Individuum lebt in unter-
Lebenswelt erscheint als der Bereich der schiedlichen „Kulturen“ und muß sich aus
Gesellschaft, der Möglichkeiten sinnvo llen ihren „Schnittmengen“ eine eigene, spezifi-
Handelns über Partialinteressen hinweg bie- sche Identität schaffen. Für die schriftliche
tet. Der Begriff der Lebenswelt wurde vo n So zialisatio n bedeutet dies, daß die Mitglieder
Habermas dabei nach dem Mo dell mündli- der differenzierten Gesellschaft sich indivi-
cher, dial o gischer K o mmunikatio n ok nzi- duell beso ndere Mo delle der Schriftverwen-
piert. Schriftlichkeit spielt hier nur eine un- dung erarbeiten müssen.
tergeo rdnete Ro lle. Die Differenzierung der
Gesellschaft bleibt auf diejenigen Bereiche be- 3.3. Generationsmäßige Differenzierung
grenzt, die nach systemischen Mechanismen Mit dem immer schneller werdenden gesell-
funktio nieren. Allerdings bildet die Bedro - schaftlichen Wandel werden die Lernbio gra-
hung der Lebenswelt durch systemische Me- phien einzelner Generatio nen immer unter-
chanismen eine Kernannahme dieser Überle- schiedlicher. Dies betrifft auch die Techno lo -
gungen: Durch zunehmende Technisierung gien des Schreibens. Die Apparate, mit denen
und Industrialisierung schrumpfen die Berei- eine Generatio n das Schreiben lernt so wie die
che lebensweltlichen Handelns, die Lebens- damit verbundenen Ko mmunikatio ns- und
welt wird technisiert bzw., metapho risch ge- Textfo rmen, werden nicht mehr die gleichen
sprochen, „kolonialisiert“. sein wie in einer nachfo lgenden Generatio n.
Die Technisierung des Schreibens müßte So mit wird es in einer Gesellschaft immer
nach dieser Theo rie ebenfalls als Variante generati
o nsabhängig unterschiedliche oF r-
der Ko lo nialisierung der Lebenswelt gedeutet men des Zuganges zu den jeweils aktuellen
werden. Die Phäno mene, die anderno rts als Medien des Schreibens geben. Die jüngere
Differenzierungspro zesse beschrieben wer- Generatio n hat dabei immer den unbefange-
den, erscheinen hier als Systemisierung bzw. neren Zugang, da sie in die jeweils neuesten
Ko lo nialisierung der Lebenswelt. Abstrahiert Medien sozialisiert ist.
43.  Perspektiven der Schriftkultur 577

3.4. Ethnische Differenzierung greifenden Ko mmunikatio n in der Lage sind,


ko nstatiert die Herausbildung eines glo balen
Ein weiterer To po s zur Beschreibung mo der- Ko mmunikatio nssystems. Diese These baut
ner Gesellschaft besagt, daß sie zunehmend auf drei Beo bachtungen auf, die sich auf die
multiethnisch o der multikulturell werden wirtschaftliche Entwicklung, die Ko nzeptio n
(Rehbein 1985). Dies bedeutet, daß die Na- einer Info rmatio ns- und Ko mmunikatio ns-
tio nalsprachenideo ol gie pro blematisch wird, gesellschaft und den Mo dernisierungspro zeß
da in einer Gesellschaft mehrere Sprachen beziehen.
gespro chen und auch geschrieben werden. Beginnend mit der Diagno se Daniel Bells
Durch unterschiedliche ethnische Herkünfte (1975), daß die Industriegesellschaft durch
können damit unterschiedliche Arten des eine „po stindustrielle Gesellschaft“ abgelöst
Schreibens, der Schriftko mpetenz und ihrer werde, erfuhr Ko mmunikatio n eine ständig
Verteilung über die Geschlechter und Alters- wachsende Aufmerksamkeit. Die Güter pro -
gruppen verbunden sein. duzierende Industrie verliert danach ihre
Ro lle als wichtigster Wirtschaftsfakto r und
3.5. Internationale Differenzierung Mo ot r der gesellschaftlichen Entwicklung,
Möglicherweise no ch radikaler als die Diffe- und der Dienstleistungsbereich tritt an die
renzierungen innerhalb einer Gesellschaft erste Stelle. Damit erhält Ko mmunikatio n
bzw. eines Staates erscheinen die divergieren- eine ganz neue Bedeutung, da sie im Zentrum
den Entwicklungen unterschiedlicher Staaten, des Ratio nalisierungsinteresses steht. In einer
wie sie vereinfacht mit der Dicho to misierung ähnlichen Ko nzeptio n wurde dem Wissen und
Erste Welt — Dritte Welt zum Ausdruck ge- den (auch schriftlichen) Medien des Wissens
bracht wird. Damit verbinden sich auch dra- eine so zentrale Ro lle zugemessen, daß der
stische Unterschiede in der Ro lle der Schrift Begriff der Wissensgesellschaft eingeführt
und insbeso ndere bei den neuen Techno lo gien wurde (Kreibich 1986).
des Schreibens. Im Bereich der Teleko mmu- Ein wichtiger Unterschied zur Differenzie-
nikatio n und der Datenverarbeitung hat sich rungstheo rie zeigt sich darin, daß ein parti-
der Abstand zwischen den so g. entwickelten kulare Bereiche der Gesellschaft und deren
und den sich entwickelnden Ländern in den Eigenlo gik übergreifendes Ko mmunikatio ns-
achtziger Jahren vermutlich verdo ppelt (Rada system festgestellt wird. Diese Auffassung
1985). Die Entwicklung der technischen ko mmt auch in dem Mo dell der „pro gram-
Ko mmunikatio nskultur stellt weitgehend eine mierten Gesellschaft“ vo n To uraine (1972)
Angelegenheit der Industriestaaten dar. Nur zum Ausdruck, wo mit ganz im Gegensatz
eine schmale gesellschaftliche Schicht in der zum Steuerungspessimismus Luhmanns die
übrigen Welt kann sich an sie anschließen. Lenkbarkeit der Gesellschaft durch übergrei-
So mit erzeugt diese Technik zwar ein inter- fende Kommunikation angenommen wird.
natio nales Band, es besteht aber die Gefahr, Die These der po stindustriellen Gesell-
daß im Ergebnis die wirtschaftliche und kul- schaft ließ sich bisher nicht wesentlich über
turelle Kluft zwischen den Staatengruppen No rdamerika hinaus verallgemeinern. Den-
noch größer wird. no ch erhielt sie eine mo difizierte Fo rm in dem
Nach den Diagno sen der Differenzierungs- Ko nzept der „Info rmatio ns- und Ko mmuni-
theo rien bleibt wenig Raum für eine Kultur, katio nsgesellschaft“ (z. B. Wersig 1985; Ku-
die für alle Bereiche der Ko mmunikatio n in- bicek & Ro lf 1985). Mit der Entwicklung der
nerhalb einer Gesellschaft einen gemeinsamen C
o mputer- und der Telek o mmunikati o ns-
Hintergrund abgeben könnte. Die Gesell- techno lo gie entstanden umfassende Pläne zur
schaft zerfällt in eine Vielzahl vo n Kulturen, Technisierung der Ko mmunikatio n, die mitt-
auch so lche der Schrift. Der Bezug auf ka- lerweile keinen Bereich der Gesellschaft mehr
no nische Texte und gleichartige Deutungs- unberührt lassen. In diesem weltumspannen-
muster verschwindet weitgehend, und es den Technisierungspro jekt entsteht ein Zwang
bleibt als Gemeinsamkeit lediglich das zur No rmierung der Fo rmen und Mittel der
Schriftsystem. Ko mmunikatio n, der histo risch o hne Vo rläu-
fer ist. Der technische Begriff der Ko mpati-
bilität der Systeme deutet bereits an, daß es
4. Universalisierung der um die Schaffung universaler Strukturen
Kommunikation geht. Die Angleichung betrifft zunächst zwar
nur die Betriebssysteme, die Datennetze und
Der Gegenentwurf zu einer Gesellschaft aus die Ko dierungsverfahren. Für ein internatio -
Teilsystemen, die kaum no ch zu einer über- nales Netzwerk der Ko mmunikatio n wird je-
578 IV. Schriftkulturen

do ch auch die No rmierung der technisch ver- auch bei der Einführung der Schrift beo bach-
mittelten Ko mmunikatio nsfo rmen no twendig tet werden, wo Fo rmen mündlicher Ko m-
(→ Art. 9, 11). Damit entsteht ein universales munikatio n wie Reim und Rhythmus in der
Ko mmunikatio nssystem, das partikulare Be- literalen Gesellschaft no ch lange Verwendung
reiche der Gesellschaft und der Gesellschaften fanden. Erst allmählich stabilisieren sich Text-
überschreitet. typen, die den spezifischen Bedingungen und
Eine weitere glo bale Entwicklung wird in Möglichkeiten eines neuen Mediums Rech-
dem Pro zeß der Mo dernisierung (Wehler nung tragen.
1975) gesehen, der, so Münch (1991, 13), nicht Eines der zentralen Merkmale der Ko m-
zuletzt nach den po litischen Umwälzungen in munikatio nsgesellschaft wird darin liegen,
Osteuro pa „endgültig die Weltherrschaft an- daß die Menge der zu verarbeitenden Info r-
getreten“ hat. Go o dy (1990) stellt nun auch matio nen gewaltig steigen wird. Die Techno -
einen Zusammenhang zwischen der Mo der- lo gie kann ihre spezifischen Po tentiale zur
nisierung und der histo rischen Schriftentwick- Bewältigung dieser Aufgabe erst dann entfal-
lung her. Danach liegt eine der wichtigsten ten kann, wenn die Texte ein höheres Maß an
Fo lgen der Schrift in der Herausbildung uni- Strukturiertheit aufweisen. Damit wird ein
verseller Strukturen des Rechts, der po liti- sprachhisto rischer Trend of rtgesetzt, der
schen Verfassung eines Staates, der Wissen- scho n mit der Schrift begann und z. B. zu
schaft, der Religio n, des Geschichtsbewußt- einem relativ festen Kano n an syntaktischen
seins etc. Die nicht-schriftlichen Kulturen be- Mustern auf der Satzebene geführt hat (vgl.
sitzen nach Go o dy dagegen einen partikula- Givón 1979). Die Veränderungen des Schreib-
ren Charakter. Diese Universalisierung be- pro zesses so llen nun in vier Bereichen unter-
trifft nun nicht nur die innere Lo gik der mo - sucht werden:
dernen Schriftkultur, os ndern auch ihre — die Einführung neuer Texttypen;
weltweite Verbreitung. Damit wird der Schrift — neue Formen der Vernetzung schriftlicher
eine zentrale Ro lle in dem Pro zeß der Mo - Kommunikation;
dernisierung zugedacht. Der Siegeszug der — verschiedene Formen der Unterstützung
Mo derne wird begleitet, wenn nicht bedingt des Schreibprozesses;
durch eine Glo balisierung der technisch ver- — neue Formen des Erwerbs der Schriftspra-
mittelten Kommunikationssysteme. che.
Ganz anders als die Differenzierungstheo -
rien ko mmt das Szenario der Info rmatio ns- 5.1 Texttypen
und Ko mmunikatio nsgesellschaft zu dem Er-
gebnis, daß durch die Vernetzung und inter- Die Einführung der neuen Typen elektro ni-
natio nale Angleichung der Ko mmunikatio ns- scher Texte läßt sich in zwei Dimensio nen
fo rmen eine Universalisierung der Schriftkul- beschreiben: der Ebene, auf der ein Text be-
tur entsteht und partikularisierende Tenden- trachtet werden kann und der Struktur der
zen an Bedeutung verlieren. Vo r einer Dis- Texte.
kussio n dieser beiden Perspektiven werden
nun die neuen Fo rmen des Schreibens, die 5.1.1. Textebenen
das Fundament der Ko mmunikatio nsgesell- Eine der wesentlichen Neuerungen, welche die
schaft liefern sollen, dargestellt. Info rmatio nsverarbeitung mit einem Co m-
puter brachte, besteht darin, daß eine einzelne
Info rmatio nseinheit, z. B. eine Datei, in un-
5. Neue Formen des Schreibens terschiedlicher Weise visualisiert werden
Schreiben in der Ko mmunikatio nsgesellschaft kann. Die gängigen Bezeichnungen für diese
wird sich in vielen Aspekten vo n herkömm- Verfahren lauten Edito r-, Masken- o der Fen-
lichem Schreiben auf der Grundlage der stertechnik. Termino lo gisch läßt sich dieses
Handschrift und der Drucktechnik unter- Phäno men durch die Unterscheidung zwi-
scheiden. Die Fo rmen, die sich dabei heraus- schen Textbasis und Textdarstellung fassen.
bilden, sind überwiegend nicht gänzlich neu, Faktisch handelt es sich allerdings in den mei-
so ndern basieren auf bereits entwickelten sten Fällen um eine Schichtung aus mehr als
Texttypen. So werden zahlreiche Fo rmen des zwei Ebenen. Die Funktio n dieser Auflösung
Buchdruckzeitalters zunächst erhalten blei- der Einheit zwischen dem wahrnehmbaren
ben. Diese zeitlichen Verschiebungen zwi- Text und seiner materiellen Fo rm besteht
schen Textstruktur und Textmedium ko nnten darin, für unterschiedliche Perso nengruppen
und für unterschiedliche Zwecke angepaßte
43.  Perspektiven der Schriftkultur 579

Darstellungen einer einzelnen Textbasis zu er- darf. Generell läßt sich für die meisten Sy-
möglichen. steme sagen, daß Operatio nen auf den ma-
Auf der physikalischen Ebene lassen sich schinennäheren Ebenen weitere Eingriffsmög-
alle Daten des Co mputers im binären Code lichkeiten bieten als Operatio nen auf der Pe-
o ffener o der geschlo ssener Schaltkreise be- ripherie der Benutzeroberfläche.
schreiben. Während bei der herkömmlichen Die Techno lo gie, unterschiedliche Darstel-
Schrift die physikalische mit der visuellen lungen für eine einzelne Textbasis zu ermög-
Ebene identisch ist, kann die materielle Seite lichen, macht in beso nderer Weise die der
der Daten im Co mputer nicht eingesehen wer- Inf
o rmati o nstechnik zugedachte Funkti
o n
den; sie bleibt unsichtbar, da der binäre Co de deutlich, ein universelles Band für die diffe-
bereits ihre Symbo lisierung darstellt. Aber renzierten Bereiche der Gesellschaft zu liefern.
selbst auf dieser Ebene o periert praktisch kein Ein einheitlicher Referenztext bleibt erhalten,
Benutzer. Die Zusammenfassung einzelner bi- wo mit Ko mmunikatio nspro zesse einen ge-
närer Einheiten zu Gruppen, so g. Bytes, führt meinsamen Bezugspunkt besitzen. Spezifi-
zu höherstufigen Co des wie dem Hexadezi- schen K o mmunikati o nsweisen, Wissensv o r-
mal-Co de o der dem ASCII-Co de. Diese wie- aussetzungen, Interessen o der auch Zugangs-
derum können zu speziellen Darstellungen berechtigungen kann mit der Einführung ver-
gruppiert werden, in denen die sequentielle schiedener Textebenen Rechnung getragen
Ano rdnung der Zeichen auf einer tieferliegen- werden. Betrachtet man diese Zugangsweisen
den Ebene aufgeho ben wird: bei der Darstel- zu Texten allerdings als Ausdruck spezifischer
lung vo n Bildern o der bei Buchstaben mit Schriftkulturen, so kann man sagen, daß die
Mo difikatio nen wie Kursiv- o der Fettdruck. Einführung unterschiedlicher Textebenen die
Diese Techno lo gien der Operatio n mit unter- Differenzierung der Kultur und die Indivi-
schiedlichen Textebenen betrifft alle Ausga- dualisierung weiter vo rantreiben wird. Nach-
bemedien: insbeso ndere die Bildschirmdar- dem durch die Repro duktio nstechniken des
stellung und die Druckausgabe bzw. die Pa- Buchdruckes o der auch der handschriftlichen
rallelisierung beider Ausgabeverfahren im Ko pie der authentische Text zum schwierigen
Deskto p-Publishing. Eine Textbasis so ll auf Pro blem philo ol gischer Editio nstechnik ge-
verschiedenste Weise darstellbar sein. No ch wo rden ist, wird er nun hinter den Benutzer-
weiter geht die Trennung zwischen Textbasis o berflächen no ch weniger sichtbar. Schrift-
und Textdarstellung bei der Verwendung vo n so zialisatio nen, die über die gemeinsame Lek-
Masken und Fenstern, wie sie für mo derne türe bestimmter Werke entstehen, werden zu-
Datenbank- und Hypertextsysteme üblich ist. nehmend individualisiert durch einen je be-
Hier erhält der Benutzer eine Sicht auf die sonderen Zugang zu einer Textbasis.
Textbasis, die evtl. nur einen Ausschnitt dar-
stellt, die unterschiedliche Elemente speziell 5.1.2. Textstrukturen
für sein Interesse zusammenstellt o der in einer
bestimmten Weise verständlich macht, etwa Unterschiedliche Textebenen lassen sich ins-
bei der Verwendung vo n iko nischen Zeichen beso ndere dadurch kennzeichnen, daß die
o der bei so g. natürlichsprachlichen Schnitt- Textdarstellungen do rt in der Regel verschie-
stellen. Da hier ein einfacher Überblick über dene Strukturen besitzen. Dies bedeutet zum
die Textbasis nicht mehr möglich ist, bedarf einen, daß nicht mehr ein bestimmter Struk-
es spezieller Orientierungssysteme: so g. Bro w- turtyp, der lineare Text, die do minierende
ser o der Navigatio nshilfen. Der Auto r des Darstellungsart ist. Zum anderen heißt dies,
elektro nischen Textes bietet mit der Auflö- daß die Zuo rdnung eines Strukturtyps zu
sung der linearen Textstruktur dem Leser ver- einer Textbasis varieren kann: Ein und die-
schiedene Wege o der Orientierungen an, wie selbe Textbasis kann auf unterschiedlichen
er sich durch den Text bewegen kann. Textebenen in unterschiedlichen Textstruktu-
Mit unterschiedlichen Sichten auf eine ren dargestellt werden. Für elektro nische
Textbasis, also Edito ren o der Masken, sind Texte so llen sechs Strukturtypen unterschie-
in den meisten Fällen auch unterschiedliche den werden: lineare, listenförmige, mo dulare,
Zugriffsrechte und -verfahren verbunden: hierarchische, regelbasierte und multimediale
Textstrukturen. Bei den meisten elektro ni-
Möglichkeiten der Änderung der Textbasis schen Texten handelt es sich um Mischungen
und der mehr o der weniger umfassenden Ein-
sichtnahme. Damit wird in gewissem Umfang aus mehreren Strukturtypen.
eine so ziale Ordnung dadurch definiert, auf Lineare Texte lassen sich dadurch kenn-
welcher Textebene ein Benutzer o perieren zeichnen, daß sie einen definierten Anfang
und ein definiertes Ende besitzen und die da-
580 IV. Schriftkulturen

zwischenliegende Strecke mehr o der weniger einfache Menge sein. Die einzelnen Felder für
ko ntinuierlich und in einem Zeitverlauf zu- Listeneinträge können vo rstrukturiert sein,
rückgelegt werden kann. Pro ot typisch für indem etwa die Zeichenlänge o der der Zei-
diese Struktur ist der klassische schriftliche chentyp festgelegt werden. Klassische Fo rmen
Text. Mo derne Verfahren der Textverarbei- listenförmiger Texte sind Karteikartensysteme
tung, einzelne Datensätze vo n Vo lltextdaten- o der Listendarstellungen auf einzelnen Pa-
banken o der elektro nische Texte z. B. auf CD- pierbögen. Die wichtigsten listenförmigen
ROM stellen Beispiele linearer Texte mit der Texte in elektro nischen Medien sind Daten-
neuen Technologie dar. banken o der spezielle Anwendungen wie elek-
Die mit diesen Metho den pro duzierten tronische Formulare (→ Art. 11).
Texte ähneln in ihrer Struktur derzeit no ch Modulare Texte lassen sich dadurch kenn-
den mit älteren Verfahren pro duzierten Tex- zeichnen, daß einzelne Textelemente bzw.
ten. Sie besitzen die Syntax der herkömmli- Textmo dule netzwerkartig durch ein Refe-
chen Schriftsprache, und sie weisen innertex- renzsystem miteinander verknüpft sind. Der
tuelle Beziehungen auf, die über den einzelnen gesamte Texte besteht aus Kno ten, die in einer
Satz hinausreichen. So findet man Texte mit vo m Auto r festzulegenden Weise durch Kan-
narrativen Strukturen, d. h. unter anderem ten verbunden sind. Die einzelnen Kno ten
mit gro ßen Spannungsbögen, die sich no ch bzw. Mo dule können selber wieder eine un-
kaum vo n herkömmlichen Texten unterschei- terschiedliche Textstruktur besitzen. Es kön-
den. Nur eine sehr eingehende Phäno men- nen lineare Texte sein, Listen o der auch ver-
analyse vermag in den Texten Spuren zu fin- schiedene Medien. Weiterhin enthält jedes
den, die auf die geänderte Pro duktio nsfo rm Mo dul eine bestimmte Anzahl vo n Verweisen
hinweisen. Insbeso ndere zwei Aspekte der auf andere Mo dule, wo durch die Kanten des
veränderten Textpro duktio n seien hier ge- Netzwerkes erzeugt werden. Der Leser kann
nannt: Die Nicht-Linearität und die Nicht- mit einem bestimmten Mo dul beginnen, das
Abgeschlossenheit der Textproduktion. er über das Eingangsmenü herausfinden
Die mit diesen Verfahren hergestellten kann. Mit der Unterstützung eines Naviga-
Texte weisen, wie bereits gesagt, im Ergebnis tio nsinstrumentes kann er sich dann vo n do rt
no ch Merkmale der Linearität auf, auch wenn aus einen Weg entlang der vo rhandenen Kan-
sie in einem nicht-linearen Pro zeß entstanden ten durch den gesamten Text frei wählen.
sind. Man könnte aber die These aufstellen, Fo rmen mo dularer Texte in Printmedien
daß die Texte sich langfristig stärker den Be- gibt es nur in Ansätzen. So könnte man das
dingungen und Möglichkeiten der Pro duk- Verweissystem mit Fußno ten in wissenschaft-
tio n anpassen werden und die aus älteren lichen Texten als eine Vo rfo rm mo dularer
Textpro duktio nsverfahren hergeleiteten N o r- Texte bezeichnen, das allerdings den do minie-
men der Gestaltung an Bedeutung verlieren rend linearen Charakter des Haupttextes
werden. Wenn dies zutrifft, so könnten ver- nicht aufbricht. Die wichtigste Fo rm in den
schiedene Entwicklungen eintreten: elektro nischen Medien bildet der Hypertext
— Die Texte werden stärker durchkonstru- (Barrett 1989; Co nklin 1987; Co y 1989; Rie-
iert und weisen weniger innertextuelle Va- ger 1991; Kuhlen 1991). Als eine Funktio n
riation (des Stils, der Lexik, der Syntax, vo n Hypertexten wird immer wieder ange-
der Argumentationspositionen etc.) auf; führt, daß sie den Leser vo n dem Zwang einer
— die Spannungsbögen bzw. Makrostruk- linearen Abarbeitung eines gesamten Textes
turen werden sich bzgl. Größe und Glie- befreien so llen. Sie erfo rdern keine speziellen
derung weniger an der kognitiven Lei- Lesetechniken wie Querlesen, wenn man sich
stungsfähigkeit einer Planung „in einem einen Überblick über einen Text verschaffen
Guß“ orientieren, sondern vielfältigste will. Vielmehr stellt das System frei, in wel-
Formen und Dimensionen annehmen; cher Reihenfo lge und in welcher Gründlich-
— die Texte greifen stärker auf Routinefor- keit man einen Text durcharbeitet. Ähnlich
meln (Coulmas, 1981) und „Textbau- wie bei den anderen Merkmalen elektro ni-
steine“ zurück. scher Texte wird auch hier eine Individuali-
sierung der Textrezeptio n angestrebt. Damit
Listenförmige Texte lassen sich dadurch so ll auch dieses System auf die Ausdifferen-
kennzeichnen, daß einzelne Einträge einer zierung vo n Lesekulturen reagieren. So llte
vo rdefinierten Liste zugeo rdnet werden. Da- sich diese Textstruktur durchsetzen, so wird
bei kann die Liste eine interne Struktur be- sie zu einer weiteren Individualisierung vo n
sitzen, z. B. eine Rangfo lge o der sie kann eine
43.  Perspektiven der Schriftkultur 581

Bildungsbio graphien führen, da jeder Leser den Leser höhere Anfo rderungen an Ko ntex-
seinen eigenen Weg durch den Text sucht. tualisierung und Analyse der Randbedingun-
Hierarchische Texte lassen sich dadurch gen für die Anwendung bestimmter Verfahren
kennzeichnen, daß einzelne Textelemente in stellen. Diese Situatio n änderte sich mit dem
der Relatio n übergeo rdnet-untergeo rdnet zu- Aufk o mmen der Co mputerpro gramme als
einander stehen. Die Textelemente selber kön- einem ersten Typ streng regelbasierter Texte.
nen wiederum unterschiedliche Strukturen be- Diese haben allerdings nur die Funktio n der
sitzen. Damit unterscheiden sich hierarchi- Maschinensteuerung, also der Erfassung einer
sche Texte vo n mo dularen Texten dadurch, o hnehin sch o n oh chgradig or utinisierten
daß die einzelnen Elemente nicht gleichwertig Operatio nenfo lge im Regelfo rmat. Eine wei-
nebeneinander stehen, so ndern durch die tergehende Bedeutung erhielten regelbasierte
Kanten eine feste Ordnungsstruktur definiert Texte mit der Idee so g. Expertensysteme
wird. (Jackso n 1987). Intuitives Expertenwissen
Fo rmen hierarchischer Texte in den Print- o der Wissen in Fo rm eines schriftlichen Tex-
medien findet man überall do rt, wo gro ße tes so ll mit dieser Techno lo gie in einer Weise
Mengen an Info rmatio nen bereits einen ho - verfügbar gemacht werden, daß es in einem
hen Grad an Geo rdnetheit besitzen, bzw. in Co mputer gespeichert und aus ihm wieder
einer akzeptierten Taxo no mie erfaßt wurden, abgerufen werden kann. Dazu muß es no r-
wie z. B. die Fachsystematiken der Biblio the- malerweise als explizite Regel fo rmuliert wer-
ken o der auch wissenschaftliche Systemati- den. Z. B.: Immer wenn A vorliegt, tue B. Der
ken. Beispiele für hierarchische Texte in den Experte kann z. B. ein Fachmann für die Re-
elektro nischen Medien sind die Suchsysteme, paratur einer ko mplizierten Maschine sein.
wie man sie etwa bei Video text o der Bild- Dessen Wissen so ll Perso nen zugänglich ge-
schirmtext findet. macht werden, die nicht über den gleichen
Anders als mo dulare Texte tragen hierar- Erfahrungshintergrund verfügen wie der Ex-
chische Texte nicht unmittelbar zur Indivi- perte. Zur Entwicklung so lcher Systeme be-
dualisierung vo n Lesekulturen bei. Jede er- fragt ein so g. Wissensingenieur den Experten
fo lgreiche Arbeit mit einem hierarchischen z. B. nach Strategien der Fehlerdiagno se und
Text erfo rdert in gewissem Umfang eine versucht sie in Wenn-dann-Regeln zu übertra-
Kenntnis der Taxo no mie, nach der die Hier- gen. In der Wissensakquisitio n wird also ver-
archie gebildet wurde. Die Einführung dieses sucht, das intuitive Wissen und die prakti-
Texttypes trägt daher eher zur intersubjekti- schen Fähigkeiten des Experten zu elizitieren
ven Durchsetzung von Systematiken bei. und in eine verbale und schließlich algo rith-
Regelbasierte Texte lassen sich dadurch mische Form zu bringen.
kennzeichnen, daß sie aus einer Fo lge vo n Nach den Vo rstellungen ihrer Entwickler
Regeln bestehen, die üblicherweise die Fo rm so llen Expertensysteme eines Tages ein zen-
wenn ... dann ... sonst besitzen. Ein wichtiges trales Medium zur Erfassung verschiedenster
Strukturmerkmal regelbasierter Texte kann Arten vo n Wissen werden. Die damit stattfin-
darin gesehen werden, daß sie in so g. Schlei- dende Umko dierung des Wissens hätte weit-
fen abgearbeitet werden: Eine Regel findet so reichende Fo lgen (vgl. z. B. Weingarten 1993).
lange Anwendung, bis ein Abbruchkriterium Dies kann man an den Unterschieden zwi-
erreicht wird und ein anderer Vo rgang ein- schen regelbasierten Texten und linearen Tex-
geleitet wird. ten verdeutlichen. Lineare Texte besitzen eine
Regelbasierte Texte findet man in Print- stärkere Orientierung auf paradigmatische
medien do rt, wo ho chgradig or utinisierte Einzelfälle und streben eher eine Berücksich-
Operatio nen o der kausale Theo rien über tigung möglichst vieler Fakto ren an. Sie be-
einen Gegenstandsbereich entwickelt wurden: sitzen auch eine größere Widerspruchsto le-
Technische Handbücher o der Anleitungen, ranz. Sie lassen dem Leser einen größeren
Gesetzestexte o der Verwaltungsvo rschriften, Interpretatio nsraum, indem sie mehrere Les-
bestimmte wissenschaftliche Theo rien. Es arten eröffnen und zu ko ntextuellen Spezifi-
handelt sich in diesem Medium jedo ch prak- katio nen veranlassen. Generell kann man sa-
tisch nie um vo llständig regelbasierte Texte, gen, daß lineare Texte eine größere Abhän-
so ndern um überwiegend lineare Texte mit gigkeit vo n ihren po tentiellen Nutzern besit-
Regelelementen. Nur wenige Handlungs- und zen. Regelbasierte Texte hingegen bewirken
Wissensbereiche besitzen dieses ho he Maß an immer die Festlegung e i n e r Lesart und den
Fo rmalisiertheit. Ihre schriftliche Darstellung Ausschluß anderer Lesarten. Zur Ko nstruk-
erfo lgt überwiegend in linearen Texten, die an tio n so lcher Texte muß ihr Gegenstandsbe-
582 IV. Schriftkulturen

reich in diskrete Einheiten zerlegt werden, und To n, für ein einzelnes Medium erfo rderlich
es muß ein Mo dell entwickelt werden, daß sind. Es können aber auch schriftliche und
einen vo n seinen Benutzern unabhängigen iko nische Zeichen in einem Element in un-
Wirkungszusammenhang darstellt. Es wird mittelbarem Zusammenhang auftreten.
versucht, glo bale Darstellungen zu entwik- Vo rläufer multimedialer Systeme in den
keln, die in allen möglichen Ko ntexten Gül- Printmedien hat es nur in dem Zusammen-
tigkeit besitzen. Sie erzeugen so mit einen An- hang vo n Standbild und Text gegeben. An-
schein größerer Objektivität und Wider- so nsten wurden hier nur Zeichensystemen ge-
spruchsfreiheit; die Eintragungen in den Text mischt, so fern diese im Printmedium no tier-
erscheinen als Fakten. Regelbasierte Texte bar waren, wie z. B. musikalische Zeichensy-
sind weniger argumentativ strukturiert und steme. Mit den ständig sinkenden Ko sten für
verdeutlichen gegenüber dem Leser nicht eine Speicherplatz auf dem Co mputer wurden die
Überzeugungsabsicht. Das Abwägen vo n Ar- ersten umfassenderen multimedialen Systeme
gumenten, das Offenlassen verschiedener entwickelt, so g. Hypermedia o der Multime-
Möglichkeiten und der Hinweis auf Zweifel diasysteme (Jo nasso n & Mandl 1990). Die
bilden keine Eigenschaften regelbasierter meisten ok mmerziellen Hypertextsysteme
Texte: Sie entscheiden immer, o hne Zweifel stellen gleichzeitig auch Hypermediasysteme
und meist auch o hne Begründung. (Letzteres dar, die als mo dulare Verknüpfungen zwi-
wird gelegentlich versucht, durch den Einbau schen den verschiedenen Medien strukturiert
vo n Erklärungsko mpo nenten zu berücksich- sind.
tigen.) Im Zusammenhang vo n Multimediasyste-
Ändert sich auf diese Weise die Struktur men stellt sich am nachhaltigsten die Frage,
dessen, was in der Gesellschaft als Wissen o b ein Ende traditio neller Mo delle der
verstanden wird, so wird dies weitreichende Schriftkultur zu erwarten ist, wenn die Schrift
Fo lgen haben. Die Verfügbarkeit über Wissen ihren ausgezeichneten Platz verliert und nur
ändert sich, wenn es als regelbasierter Text in no ch ein Medium in einem Netzwerk mit
ein technisches Medium gebracht wird. Damit anderen darstellt. Bereits in Zusammenhang
müssen neue gesellschaftliche Fo rmen der mit der Bilderflut vo n Fernsehen und Video
Steuerung des Zugangs zu Wissen erarbeitet wurde die Frage aufgewo rfen, o b die sprach-
werden. Insbeso ndere stellt sich in diesem Zu- lich-schriftliche Ko mmunikatio n mit ihrer ar-
sammenhang die letztlich juristische Frage, gumentativen Orientierung durch eine bild-
wer für Fo lgen aus Handlungen, die sich an hafte Erfassung der Welt abgelöst wird (Po st-
den Regeln eines Expertensystems o rientie- man 1987). Mit neuer Ko nsequenz könnte
ren, haftungsrechtlich verantwo rtlich ist. Wei- diese These vertreten werden, wenn nun die
terhin werden Qualifikati o nsanf
o rderungen Schrift selber einen auto no men Bereich ver-
an alle, die auf das so ko dierte Wissen zu- liert und in einem Hypermedium aufgeht. Die
rückgreifen müssen, neu definiert. Hierzu ge- neueren Entwicklungen vo n nichtschriftlichen
hören auch neue Anfo rderungen an Ko m- Eingabemedien wie Maus, Jo ystick, berüh-
munikatio nsfähigkeit. Eine neue Auslegungs- rungssensitiver Bildschirme, o der auch Ge-
kunst wird no twendig. Dabei erhebt sich auch räten zur Erkennung gespro chener Sprache
die Frage, o b die Auslegungsko mpetenz der verstärken diesen Trend der Ersetzung der
Menschen in gleichem Umfang wachsen kann zeichenhaften Erfassung der Welt durch eine
wie die Komplexität der neuen Technologien. bildhafte und kinästhetische. Die technische
Multimediale Texte lassen sich dadurch Zukunftsvisio n der virtual realities (vgl. z. B.
kennzeichnen, daß der Text als enger Verwei- Waffender 1991), das sind Systeme, mit denen
sungszusammenhang zwischen Schrift, be- der „Leser“ auf verschiedenen Sinneskanälen
wegtem o der stehendem Bild und anderen in einen künstlichen Raum versetzt wird und
Zeichensystemen ko nzipiert wird. Ein multi- sich do rt „bewegen“ kann, könnte mit der
medialer Text kann so strukturiert sein, daß Funktio n, mögliche Welten zu erzeugen, zu
die einzelnen medialen Elemente mo dular einer weiteren Alternative zu Sprache und
miteinander verknüpft sind: Jedes Medium Schrift werden.
wird in einem speziellen Mo dul angeo rdnet
und enthält einen Verweis auf andere Me- 5.2. Interaktionsstruktur
dienmo dule, mit denen es in einem inhaltli-
chen Zusammenhang steht. Dies wird insbe- Der zweite Bereich des Schreibens, der durch
so ndere do rt der Fall sein, wo auch beso ndere die elektro nischen Medien tiefgreifend beein-
Hardwareko mpo nenten, etwa für Bild und flußt wird, betrifft die Interaktio nsstruktur
schriftlicher Ko mmunikatio n, die durch das
43.  Perspektiven der Schriftkultur 583

Zusammenwachsen der o C mputertechn


o ol - kulturwissenschaftlicher Perspektive zu ver-
gie mit der Teleko mmunikatio nstechno lo gie nachlässigen wäre. Vielmehr werden insbe-
weitreichend verändert wird. Unter dieser Ka- so ndere hierüber wesentliche Eigenschaften
tego rie so llen drei Aspekte betrachtet werden: der Ko mmunikatio nsbeziehung definiert. Die
die Vernetzung der an der schriftlichen Ko m- Möglichkeit, sich an das Netzwerk anzu-
munikatio n beteiligten Perso nen, die Zugriffs- schließen, hängt vo n zahlreichen Fakto ren ab:
möglichkeiten auf die schriftlichen Pro dukte dem Zugang zu den entsprechenden Ko m-
und verschiedene Anwendungsformen. munikatio nsgeräten; der Fähigkeit, sie tech-
nisch zu bedienen; der Fähigkeit, Ko mmuni-
5.2.1. Vernetzung katio nsabsichten mit den technischen Mög-
lichkeiten auszudrücken. Dabei wird es si-
Unter Vernetzung so ll hier die durch eine cherlich kein deterministisches Verhältnis zwi-
Hardwareko mpo nente und ein spezielles Pro - schen technischer No rmierung und so zialer
gramm hergestellte Beziehung zwischen min- o der sprachlicher No rmierung geben: Viele
destens zwei Statio nen der Eingabe bzw. technische No rmierungen betreffen die unte-
Ausgabe schriftlicher Info rmatio n verstanden ren Ebenen der Datenübertragung und sind
werden. Beispiele für so lche Netzwerke sind für den no rmalen Benutzer nicht wahrnehm-
der Datenaustausch zwischen mindestens bar. Denno ch wird durch die technischen Ein-
zwei Co mputern o der einem Co mputer und richtungen ein Rahmen abgesteckt, an dem
einem Ausgabegerät, Telefaxgeräte, Btx, sich die ko mmunikativen Ausdrucksmöglich-
Mailbo x, Telebo x, Teletex, das Datexnetz etc. keiten orientieren müssen.
(Buba 1991). Die Netzwerke können unter-
schiedliche Reichweiten besitzen: LAN (Lo cal 5.2.2. Zugriffsverfahren
Area Netwo rk), MAN (Metro po litan Area
Netw o rk), WAN (Wide Area Netw o rk), Eine der wichtigsten Erfahrungen der Mo -
GAN (Gl o bal Area Netw o rk). Dadurch derne betrifft die ständige Veränderung aller
werden jeweils unterschiedlich ausgedehnte Dinge des Alltags in der Zeitspanne eines
o K mmunikatio nsgemeinschaften aufgebaut. Menschenlebens:
Außerdem können sie unterschiedliche Netz- „Alles gerät in Bewegung, nicht nur die Wertvo r-
strukturen besitzen: Sternnetz, Ringnetz, vo ll- stellungen, die po litischen Strukturen, die mo rali-
vermaschtes Netz, Busnetz. Diese Netzstruk- schen und gesetzlichen No rmierungen, die Inhalte
turen können weiter dadurch gekennzeichnet der Arbeitsleistungen, os ndern auch die Land-
sein, daß sie einen wechselseitigen o der einen schaft, die Siedlungen, die Ausstattung der Wo h-
einseitigen Info rmatio nsfluß erlauben. Durch nungen, die Ernährungsgewo hnheiten, die Art der
diese Netzstrukturen werden in beso nderer Kleidung und so gar die Fo rmen, in denen Empfin-
Weise so ziale Strukturen definiert (Weingar- dungen und Emo tio nen ausgedrückt werden.“ (Ca-
ten 1989). So bedeutet ein Sternnetz eher eine valli 1991,201)
hierarchische o K mmunikatio nsstruktur, da Eine Kultur, die aus dauerhaften, auch
alle Info rmatio n über eine Zentrale fließt. Ein schriftlichen Mo numenten (Assmann 1991)
ov llvermaschtes Netz dagegen ermöglicht besteht, scheint damit den Anfo rderungen der
eher eine vo n jedem Teilnehmer selbst zu steu- Mo derne nicht mehr gewachsen zu sein. Eine
ernde Fo rm der Ko mmunikatio n. Im No r- Fo rm der Schrift, die das einmal Geschrie-
malfall wird damit auch eine Interaktio nsbe- bene unveränderbar läßt, wäre angesichts des
ziehung zwischen mindestens zwei an der raschen Wandels zum Untergang verurteilt.
schriftlichen Ko mmunikatio n beteiligten Per- Auf diesem Gebiet kann der Co mputer seine
so nen aufgebaut. Die Planung, ein für alle größten Stärken entfalten: Alle mo dernen
Zwecke der o K mmunikati
o n geeignetes Datenträger erlauben eine nahezu beliebige
Übertragungsnetz, das so g. ISDN (Integrated Veränderung des einmal Geschriebenen. So
Service Digital Netwo rk), zu entwickeln, bil- wird z. B. durch die Unterscheidung zwischen
det das Herzstück der Visio n, für die ausein- ROM (read-only-memory) und RAM (ran-
anderstrebenden Bereiche der mo dernen Ge- dom-access-memory) versucht, im ROM ein
sellschaft ein gemeinsames Band zu schaffen. letztes Residuum für das Feststehende zu er-
Das größte Pro blem bei der Einrichtung halten. Immer no ch gibt es Info rmatio nen,
eines Netzwerkes bildet die Ko mpatibilität die zumindest für einen bestimmten Benut-
o der No rmierung der für den Übertragungs- zerkreis unveränderbar bleiben so llen. Eine
pro zeß wichtigen Hardware- und So ftware- der schwierigsten Aufgaben der Info rmatio ns-
einrichtungen. Diese No rmierung stellt nicht und Ko mmunikatio nsgesellschaft wird darin
nur ein technisches Pro blem dar, das unter bestehen, zu regeln, wie der Zugriff auf In-
584 IV. Schriftkulturen

fo rmatio nen gesteuert wird: Wer darf welche medien wie CD-ROM, Disketten o der Ma-
Info rmatio nen einsehen und ggf. verändern? gnetbändern. In beiden Fällen erfo rdert auch
Über diese Zugriffsverfahren werden letztlich diese Etappe des Elektro nischen Publizierens
die Interaktio nsstrukturen einer Kultur und die Durchsetzung vo n No rmen für die Hard-
ihr soziales Gedächtnis festgelegt. ware und die Software.
Neben Versuchen, traditio nelle Drucker-
5.2.3. Anwendungsformen zeugnisse in elektro nischen Medien zu ver-
treiben, so etwa die Hamburger Go ethe-
Die Möglichkeiten der neuen Ko mmunika- ausgabe auf Disketten, werden auch gänz-
tio nssysteme werden derzeit in verschiede- lich neue Publikatio nsstrukturen entstehen.
nen größeren Anwendungspro jekten erpro bt Durch Benutzergruppen vo n Mailbo xen o der
(einen Überblick findet man in Fo rester 1985 des Deutschen Fo rschungsnetzes werden z. B.
und Williams 1991): auto matische Fertigung, neue Fo rmen „grauer Literatur“ entstehen,
Büro aut
o matisierung, Electr
o nic Banking, die nur für ein spezielles Publikum zugänglich
co mputerunterstütztes Lernen (Jo nasso n und sind (Böhle 1990; Nake, Heinze & Oeltjen
Mandl 1990), Elektro nisches Publizieren etc. 1990). All diese Entwicklungen werden eine
Der letzte Bereich so ll exemplarisch heraus- gänzlich neue rechtliche Aufarbeitung des Pu-
gegriffen werden, da sich mit ihm in beso n- blikatio nswesens erfo rdern. Das Elektro ni-
derer Weise kulturelle Leitvo rstellungen ver- sche Publizieren wird zu einer weiteren Aus-
binden (s. a. Art. 9, 90). differenzierung vo n Lese- und Schreibkultu-
Elektro nisches Publizieren (EP), Co mputer ren führen. Die Printmedien werden nicht er-
Aided Publishing (CAP), Co rpo rate Electro - setzt, so ndern ergänzt werden. Jeder Leser
nic Publishing (CEP), Deskto p Publishing wird aus der Vielzahl der auch elektro nisch
(DTP) lauten die Stichwo rte für das Pro jekt, angebo tenen Texte eine individuelle Auswahl
verschiedene Etappen des Publikatio nspro - treffen. Der für einen langen Zeitraum nach
zesses inf
o rmati
o nstechnisch abzuwickeln Fo rm, Inhalt, Materie und Leserkreis festste-
(Böhle 1990; Kist 1988). Beispiele für Elek- hende Text wird eher die Ausnahme bilden.
tro nisches Publizieren sind „elektro nische Einen weiteren neuen Bereich vernetzter
Zeitschriften“, Online-Datenbanken, Bild- schriftlicher Ko mmunikatio n wird das so g.
schirmtext, Video text o der elektro nische Lite- kooperative Schreiben darstellen (vgl. z. B.
ratur. Elektro nisches Publizieren kann einmal Williams 1991): eine Textpro duktio n, an der
den Weg vo m Auto r zum Verlag betreffen: mehrere Perso nen, die über ein elektro nisches
Der Auto r übermittelt dem Verlag sein Manu- System miteinander vernetzt sind, beteiligt
skript auf einem elektro nischen Datenträger. sind. Damit werden ganz neue Mo delle der
Dazu bedarf es standardisierter Übergabefo r- Textplanung erfo rderlich, die zwangsläufig zu
mate. Ein so lches Fo rmat ist strukTEXT, das stärker durchk o nstruierten Texten führen
der Börsenverein des Deutschen Buchhandels werden.
gemeinsam mit dem Bundesverband Druck
erarbeitete und das auch als DIN-No rm ver- 5.3. Unterstützung des Schreibens
abschiedet werden so ll. Mit diesem Fo rmat
so llen Strukturinfo rmatio nen, z. B. Textge- Mit dem neuen Werkzeug des Schreibens wer-
staltungsanweisungen, geräteunabhängig als den auch vielfältigste Fo rmen der Unterstüt-
Text im Text ausgedrückt werden. Jeder Auto r zung des Schreibpro zesses verbunden sein, die
wird sich dann an diesen Vo rgaben o rientieren sich gegenwärtig allerdings erst in Umrissen
müssen. Die verlegerische Arbeit kann einen abzeichnen (vgl. Williams 1991). Pro gramme
weiteren Bereich des Elektro nischen Publizie- zur Rechtschreibprüfung sind scho n praktisch
rens darstellen, der als Grundlage nicht mehr mit jedem Textverarbeitungssystem verbun-
das Manuskript und die Druckfahne besitzt, den. Thesauri sind ebenfalls verbreitet, aller-
so ndern den flexibleren elektro nischen Daten- dings no ch in sehr rudimentärer Fo rm. Text-
träger. Damit ergeben sich neue Möglich- bausteine werden in allen fo rmalisierten Ko n-
keiten der differenzierten Gestaltung o der texten schriftlicher Ko mmunikatio n einge-
auch Aktualisierung vo n Veröffentlichungen. setzt und werden auch den Trend zur Ver-
Schließlich betrifft diese Entwicklung den wendung feststehender Textmuster verstär-
Weg vo m Verlag zum Leser. Dieser kann vo n ken. Weiterhin kann der Schreibpro zeß indi-
einer zentralen Datenbank über Teleko m- rekt unterstützt werden, wenn der Schreiber
munikatio nseinrichtungen zu einzelnen Nut- eine Zugriffsmöglichkeit auf Datenbanken
zern o der Nutzergruppen erfo lgen o der über o der verschiedene Hilfesysteme besitzt. Ein
die traditio nellen Vertriebswege auf Speicher- weiterer Schritt zur unmittelbaren Unterstüt-
43.  Perspektiven der Schriftkultur 585

zung des Schreibpro zesses ist erst zu erwarten, liegt. Die mo dernen Ko mmunikatio nstech-
wenn die Parsertechno lo gie, die maschinelle no lo gien werden damit auch nicht einfach
Satzgenerierung und -analyse, einen relevan- eine Basis einer universalen Schriftkultur lie-
ten Teil der Grammatik erfaßt hat. Dann wird fern, vielmehr werden sich neben dem glo -
z. B. in einem gewissen Rahmen die auto - balen Netz der Ko mmunikatio ntechno ol gie
matische Erzeugung eines Textes aus einer eine Vielzahl vo n Subkulturen des Schreibens
Wissensbasis möglich sein. entlang verschiedener Achsen herausbilden.
Diese Subkulturen werden sich durch ver-
5.4. Schriftspracherwerb schiedene Stile des Umgangs mit den Ko m-
munikatio nstechno ol gien und ihren Pro ble-
Der elementare Schriftspracherwerb stellt men auszeichnen. Mit der Vermehrung und
eine der letzten Do mänen der Handschrift Zersplitterung der verfügbaren Info rmatio n
dar, während ein Gro ßteil der gesellschaftli- und ihrer damit einhergehenden zunehmen-
chen Umwelt maschinenschriftlich ko mmu- den Irrelevanz werden sich insbeso ndere dif-
niziert, insbeso ndere auf der Basis des Co m- ferenzierte Strategien entwickeln müssen, aus
puters. Im Unterschied zu den angelsächsi- der Flut der verfügbaren Inf o rmati
o nen
schen Ländern (s. z. B. Strickland, Feeley & handlungspraktisch relevante herauszufiltern.
Wepner 1987) herrscht in Deutschland no ch Dazu werden auch spezifische Fo rmen einer
die Auffassung vo r, der Schriftspracherwerb neuen Auslegungskunst gehören. So ziale Be-
sei no twendig mit der Handschrift, ihren mo - wegungen für Info rmatio nsverzicht o der -as-
ot rischen, kinästhetischen und ok gnitiven kese werden immer wieder eine Reaktio n auf
Aspekten verknüpft. Bereits jetzt kann man das Massenangebo t sein. Quer zu den Diffe-
aber erkennen, daß der Druck vo n außen, renzierungen der Ko mmunikatio n bleibt der
auch hier die neuen Schreibtechno lo gien in Versuch der Aufrechterhaltung vo n Argu-
der einen o der anderen Weise zu berücksich- mentatio ns- und Verständigungsbereitschaft.
tigen, zunimmt: Immer mehr Pro gramme er- Die o K mmunikatio nstechn
ool gien werden
scheinen auf dem Markt, die für den elemen- keinen unmittelbaren kulturellen Zusammen-
taren Schriftspracherwerb ko nzipiert wurden; halt der Gesellschaft liefern, so ndern vielmehr
immer mehr Kinder besitzen Vo rerfahrungen einen gemeinsamen Bezugspunkt darstellen,
mit den co mputerbasierten Schreibtechno lo - demgegenüber Individuen und Gruppen sich
gien. abgrenzen oder öffnen.

6. Anforderungen an 7. Literatur
eine neue Schriftkultur
Assmann, Aleida. 1991. Kultur als Lebenswelt und
Eine glo bale Tendenz der gesellschaftlichen Monument. In: Assmann & Harth (ed.), 11—25.
Entwicklung im natio nalen und internatio - Assmann, Aleida & Harth, Dietrich (ed.). 1991.
nalen Rahmen kann darin gesehen werden, Kultur als Lebenswelt und Mo nument. Frankfurt/
daß es einerseits eine fo rtschreitende Diffe- M.
renzierung der Gesellschaften auf verschie-
denen Achsen gibt: funktio nal, individuell, Assmann, Jan. 1992. Das kulturelle Gedächtnis.
generati o nsbez
o gen, ethnisch, internatio nal. Schrift, Erinnerung und po litische Identität in frü-
Mit diesen Differenzierungen werden auch je- hen Hochkulturen. München.
weils unterschiedliche K o mmunikati o nsstile Barrett, Edward (ed.). 1989. The so ciety o f text.
und damit Schriftkulturen verbunden sein. Hypertext, Hypermedia, and the so cial co nstruc-
Auf der anderen Seite steht eine Universali- tion of information. Cambridge Mass./London.
sierung der Ko mmunikatio nsmittel in den Beck, Ulrich. 1988. Gegengifte. Die o rganisierte
neuen Techno lo gien. Durch die Vernetzung Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M.
der Techno lo gien des Ko mmunizierens und Bell, Daniel. 1975. Die nachindustrielle Gesell-
auch des Schreibens werden sich internatio nal schaft. Frankfurt/M.
und in den ausdifferenzierten Bereichen einer Benjamin, Walter. 1963. Das Kunstwerk im Zeit-
Gesellschaft überall ähnliche Ko mmunika- alter seiner technischen Repr
o duzierbarkeit.
tio nsfo rmen finden lassen. Dies wird aller- Frankfurt/M.
dings nur eine bestimmte Schicht der Ko m- Böhle, Knud. 1990. Elektro nisches Publizieren. In:
munikatio n betreffen, die insbeso ndere inner- Buder, M., Rehfeld, W. & Seeger, Th. (ed.), Grund-
halb der funktio nal differenzierten Bereiche lagen der praktischen Info rmatio n und Do kumen-
wie Wirtschaft, Po litik, Wissenschaft, Recht tation. Bd. 1. 3. Ausgabe. München, 275—290.
586 IV. Schriftkulturen

Buba, Eike-Manfred. 1991. Co mputernetze. Daten- ergo no mische Beurteilung zweier Hypertexte aus
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587

V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur


Functional Aspects of Literacy

44. Schriftlichkeit und Sprache

1. Theoretische Grundlagen wie ‘familiäres G espräch’, ‘Privatbrief’, ‘G e-


2. Universale Aspekte schriftlicher Sprache und setzestext’ etc., wie sie auf Abb. 44.1 tentativ
Konzeption angesetzt sind (zu diesem Schema genauer
3. Diskurstraditionelle Aspekte schriftlicher Koch & Oesterreicher 1985). Der wissen-
Sprache und Konzeption schaftliche Vortrag ist also beispielsweise trotz
4. Einzelsprachliche Aspekte schriftlicher seiner Realisierung im phonischen Medium
Sprache und Konzeption konzeptionell ‘schriftlich’, während der Pri-
5. Primat der Schriftlichkeit? vatbrief trotz seiner Realisierung im graphi-
6. Literatur schen Medium konzeptioneller ‘Mündlich-
keit’ nähersteht.
Die prinzipielle Unabhängigkeit von Me-
1. Theoretische Grundlagen dium und Konzeption steht nicht im Wider-
spruch dazu, daß einerseits zwischen dem pho-
1.1. Schriftlichkeit: Medium und nischen Medium und konzeptionell mündli-
Konzeption chen Äußerungsformen, andererseits zwischen
Wer sich mit der Problematik der Schriftlich- dem graphischen Medium und konzeptionell
keit im Hinblick auf Sprache und Sprachen schriftlichen Äußerungsformen eine ausge-
beschäftigt, stößt unweigerlich auf begriff- prägte Affinität besteht (die Dreiecke in Abb.
liche Schwierigkeiten, die damit zusammen- 44.1 symbolisieren die Stärke der Affinitäten).
hängen, daß die Termini ‘mündlich/schrift- Ein familiäres G espräch verbleibt eben nor-
lich’ in doppeltem Sinne verwendet werden: malerweise im phonischen Medium, ein G e-
zum einen beziehen sie sich auf das Medium setzestext wird in aller Regel graphisch ge-
speichert.
der Realisierung sprachlicher Äußerungen, Nichtsdestoweniger sind für kulturge-
wo ‘mündlich’ = ‘phonisch’ und ‘schriftlich’
= ‘graphisch’ ist; zum anderen meinen die schichtliche, pragmatische und sprachge-
beiden Termini oft den Duktus, die Modalität schichtliche Umbrüche gerade die gegenläu-
figen Kombinationen (medial graphisch/kon-
der Äußerungen sowie die verwendeten Va- zeptionell mündlich; medial phonisch/konzep-
rietäten, kurz: die Konzeption, die die Äuße- tionell schriftlich) von besonderem Interesse
rungen prägt (vgl. insbes. Söll 1985, 17—25; (vgl. 3.1.). Ohnehin besteht ja für alle Kom-
auch Behaghel 1927, 24, 27; De Mauro 1970; munikationsformen grundsätzlich die Mög-
Chafe 1982). Der Begriff ‘konzeptionelle lichkeit der „medium-transferability“ (Lyons
Mündlichkeit/Schriftlichkeit’ zielt also auf 1981, 11); dies alles gilt selbstverständlich nur
Aspekte der sprachlichen Variation, die in der für G esellschaften, die über eine Schrift ver-
Forschung häufig unscharf als ‘Umgangs- fügen.
sprache/Schriftsprache’, ‘informell/formell’, Die rein mediale Umsetzung vom phoni-
‘Grade der Elaboriertheit’ usw. erfaßt werden. schen ins graphische Medium bezeichnen wir
Beim Medium sind die Begriffe ‘mündlich/ als Verschriftung. Ihr steht die Verschriftli-
schriftlich’ dichotomisch zu verstehen (unbe- chung gegenüber, die rein konzeptionelle Ver-
schadet der Tatsache, daß jederzeit ein Me- schiebungen in Richtung Schriftlichkeit meint
dienwechsel, sei es beim Vorlesen, sei es beim (vgl. 2. und 4.2.); Oesterreicher 1993.
Diktieren, stattfinden kann). Bei der Konzep-
tion bezeichnen die Begriffe ‘mündlich/schrift- 1.2. Distanz und Schriftlichkeit
lich’ demgegenüber die Endpunkte eines Kon-
tinuums. Man vergleiche in dieser Hinsicht Hinter dem, was hier als konzeptionelle
die Abstufungen zwischen Äußerungsformen, Mündlichkeit/Schriftlichkeit bezeichnet wird,
verbergen sich fundamentale Charakteristika
588 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Abb. 44.1: Schematische Anordnung verschiedener Äußerungsformen im Feld medialer und konzeptioneller
Mündlichkeit/Schriftlichkeit (a = familiäres Gespräch, b = Telefongespräch, c = Privatbrief, d = Vorstel-
lungsgespräch, e = Zeitungsinterview, f = Predigt, g = wissenschaftlicher Vortrag, h = Leitartikel, i =
Gesetzestext)

von Kommunikationssituationen. Sie lassen universale Kommunikationshaltungen. Sie


sich fassen mit Hilfe von Parametern wie sind prominentester Ausdruck des typischer-
‘raum-zeitliche Nähe oder Distanz der Kom- weise gestaffelten Wirklichkeitsbezugs des
munikationspartner’, ‘Öffentlichkeit’, ‘Ver- Menschen (vgl. Schütz & Luckmann 1979/84;
trautheit der Kommunikationspartner’, G raumann 1964). Die entsprechenden Kom-
‘Emotionalität’, ‘Situations- und Handlungs- munikationsbedingungen sind in pragma-
einbindung’, ‘Verhältnis des Referenzbezugs tisch-soziolinguistischer Perspektive auch als
zur Sprecher-origo’ (vgl. Bühler 1965, 102 ff), ‘Redekonstellationstypen’ beschrieben wor-
‘kommunikative Kooperation’, ‘Dialog/ den (vgl. Steger et al. 1974). Das Voranschrei-
Monolog’, ‘Spontaneität’, ‘Themenfixierung’ ten vom Nähe- zum Distanz-Pol kann in we-
usw. Bis auf den erstgenannten sind alle diese sentlichen Punkten sogar als Interpretations-
Parameter skalar zu denken; ihr Zusammen- maßstab für den phylo- und ontogenetischen
wirken und ihr ‘Mischungsverhältnis’ ergeben Auf- und Ausbau menschlicher Sprachfähig-
das Relief der verschiedenen Äußerungsfor- keit dienen (vgl. Ochs 1979; G ivón 1979,
men, die sich damit auf dem in 1.1. beschrie- 207—233, 290—309).
benen konzeptionellen Kontinuum situieren Diese universale Perspektive und die Ter-
lassen (→ Art. 1). Dem Schriftlichkeits-Pol minologie ‘Nähe/Distanz’, die keinerlei me-
entsprechen dabei die Parameterwerte ‘raum- diale Assoziationen mehr weckt, rückt im
zeitliche Distanz’, ‘öffentlich’, ‘fremde Part- übrigen die Tatsache in den Blick, daß selbst
ner’, ‘emotionslos’, ‘situations- und hand- in oralen, also schriftlosen G esellschaften
lungsentbunden’, ‘wenig Referenz auf origo’, (vgl. etwa Ong 1982) Äußerungsformen ein
‘keine Kooperationsmöglichkeit seitens des wie auch immer geartetes kommunikativ-
Rezipienten’, ‘monologisch’, ‘reflektiert-ge- konzeptionelles Relief aufweisen, das sich von
plant’, ‘fixes Thema’ usw. extremer Nähe hin zu stärker distanzsprach-
Ausgehend von ‘raum-zeitlicher Nähe/Di- lichen Formen erstreckt. Den medial nur pho-
stanz’ läßt sich metaphorisch auch von ‘so- nisch realisierbaren Distanzbereich in oralen
zialer’, ‘emotionaler’, ‘referentieller’ Nähe G esellschaften kann man auch als elaborierte
und Distanz sprechen. Das Kontinuum zwi- Mündlichkeit bezeichnen (vgl. Koch & Oe-
schen ‘Nähe’ und ‘Distanz’ im so definierten sterreicher 1985, 29—31; genauer unten 3.1.;
Sinne steht für anthropologisch begründbare, → Art. 30).
44.  Schriftlichkeit und Sprache 589

1.3. Schriftlichkeit und die Ebenen des 2. Universale Aspekte schriftlicher


Sprachlichen Sprache und Konzeption
Für die Erforschung und Darstellung der Pro- Aus 1.2. ergibt sich, daß — zunächst einmal
bleme von Schriftlichkeit ist — wie für alles ganz unabhängig von der Existenz einer
Sprachliche — die sprachtheoretische Unter- Schrift — ein Mehr oder Weniger an kom-
scheidung von drei Ebenen grundlegend (vgl. munikativer Distanz in a l l e n Sprachgemein-
Coseriu 1981, 7, 35—47), die auch die G lie- schaften notwendig ist. Die Versprachli-
derung des vorliegenden Artikels bestimmt: chungsanforderungen, denen im Distanzbe-
— Die universale Ebene betrifft das Spre- reich genügt werden muß, sind oft genug be-
chen, also die allgemein-menschlichen schrieben worden (vgl. Ludwig 1980; Schlie-
Sprachvollzüge. Hinsichtlich der konzep- ben-Lange 1983, 46 ff; Chafe 1985; → Art. 2).
tionellen Schriftlichkeit geht es hier um Es geht vor allem um Kommunikation über
die Anforderungen, die unter den Bedin- große Zeiträume und weite Entfernungen hin-
gungen kommunikativer Distanz ohne weg sowie um die Möglichkeit, die Äuße-
jede historische Spezifikation für lexika- rungen aus der Einmaligkeit der Sprechsitua-
lisch-semantische, syntaktische und tex- tion zu lösen, ihnen eine gewisse Stabilität, ja
tuell-pragmatische Versprachlichungslei- ‘Endgültigkeit’, und damit mehrfache Verfüg-
stungen gelten und denen sich alle Spra- barkeit zu sichern (‘Wiedergebrauchsrede’ im
chen bei der Verschriftlichung zu unter- Sinne Lausbergs 1979, 10—19).
werfen haben (Kap. 2.). Die Schrift qua graphisches Medium ist
— Auf der historischen Ebene sind zwei Be- nicht notwendige Bedingung — wenn auch
reiche zu unterscheiden. Zum einen müs- ideales Instrument — zur Realisierung der
sen hier die Diskurstraditionen behandelt kommunikativen Anforderungen der Di-
werden (Textsorten, Gattungen, Stilrich- stanz. Eine Sprachgemeinschaft besitzt nicht
tungen, Gesprächsformen). Diese von schon allein dadurch, daß sie ein Schriftsy-
Sprachgemeinschaften im Prinzip unab- stem nutzen kann, bereits eine konzeptionell
hängigen Traditionen weisen ein jeweils vollwertige Schreibsprache. Eine solche ist
historisch zu bestimmendes und unter nämlich jeweils Produkt eines langwierigen
Umständen auch wandelbares konzeptio- historischen Prozesses, den wir mit Heinz
nelles Profil auf (Kap. 3.). — Zum ande- Kloss als Ausbau bezeichnen können (1978,
ren interessieren natürlich vor allem die 37 ff). Ausbauprozesse begegnen uns immer
historischen Einzelsprachen, die schrift- dann, wenn Sprachen aus eigener Kraft oder
liche Varietäten besitzen bzw. ausbilden unter dem Einfluß existierender Kulturspra-
müssen, was bedeutet, daß sie bestimmte chen in die Schriftlichkeit hineinwachsen (vgl.
Sprachmittel auf den Gebrauch im Di- 2.2.); solche Prozesse können aber auch in-
stanzbereich — im Prinzip willkürlich und stitutionell initiiert und gesteuert werden,
daher wandelbar — festlegen (Kap. 4.). etwa in der Sprachplanung (vgl. Haugen
Charakteristisch für die Einzelsprachen 1983; zahlreiche Beiträge in Fodor & Hagège
und ihre Entwicklung sind auch be- 1983—1990). Der G rad des Ausbaus eines
stimmte Optionen im Bereich des gra- Idioms ist nach Kloss (1978, 55 ff) sogar ein
phischen Mediums: Schriftsysteme, Pho- Kriterium dafür, ob diesem Idiom der Status
nie-Graphie-Korrespondenzen, Verschrif- einer ‘Sprache’ oder eines ‘Dialekts’ zukommt
tungsprobleme, Orthographie und Nor- (vgl. auch Coseriu 1980; Muljačić 1985).
mierung. Auf diese wichtigen medialen Der sprachliche Ausbau eines Idioms hat
Aspekte der Schriftlichkeit ist hier jedoch zwei Aspekte. Zum einen muß das Idiom suk-
nicht einzugehen (→ Kap. III dieses zessive ein Maximum an kommunikativen
Handbuchs). Funktionen und Diskurstraditionen im Di-
— Die dritte Ebene ist diejenige des aktuellen stanzbereich übernehmen. Diese Probleme
Diskurses, der als einmalige Äußerung zu des extensiven Ausbaus behandeln wir in
betrachten ist. Diese Ebene ist für die Kap. 3. Zum anderen muß das betreffende
Sprachwissenschaft nicht per se wichtig, Idiom in seinen sprachlichen Ausdrucksmit-
sondern bietet gerade nur das Material teln so ausgestaltet werden, daß es den uni-
für Erkenntnisse auf den anderen genann- versalen Anforderungen konzeptioneller
ten Ebenen (Corpora). Schriftlichkeit genügen kann: wir sprechen
hier von intensivem Ausbau. (Im G egensatz
590 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

zu Haarmann 1988 beziehen wir die rein ein- che Variation bei der Substitution koreferen-
zelsprachlich orientierten Aspekte der Selek- ter Ausdrücke möglich ist, etwa Renominali-
tion und der Kodifizierung (4.3.2./3.) nicht in sierungen des Typs Heine ... Er ... Der Dich-
den Begriff ‘Ausbau’ mit ein). ter ... (vgl. Raible 1972, 160—166).
In 2.1. sollen nun zunächst die universalen Ein wichtiges Mittel der Verkettung sind
Merkmale zusammengestellt werden, die das ferner die Satzverknüpfungen: in den schrift-
Profil (konzeptionell) schriftlicher Sprache lichen Varietäten der verschiedensten Spra-
prägen und typische Zielvorgaben von inten- chen wird — mit diskurstraditionellen
siven Ausbauprozessen darstellen. Wir kön- Schwankungen — die sog. Asyndese, aber
nen dieser Skizze ein schärferes Relief verlei- auch die Häufung bloßer UND-Verknüpfun-
hen, indem wir jeweils die universalen Merk- gen möglichst selten eingesetzt, vielmehr wird
male (konzeptionell) mündlicher Sprache die Differenzierung und Präzisierung der lo-
kontrastierend dagegensetzen. gischen Relationen zwischen Sätzen bei allen
Ausbauprozessen vorangetrieben (Konjunk-
2.1. Konzeptionell schriftliche Sprache: tionen; vgl. auch 2.1.2.).
Profil und intensiver Ausbau Bezüglich der Makrostruktur distanz-
sprachlicher Texte fällt auf: typisch mündliche
2.1.1. Textuelle und pragmatische Aspekte Verfahren wie das Präsens als Erzähltem-
pus werden aufgegeben; die Redewiedergabe
Ein Charakteristikum konzeptioneller Münd- durch die direkte Rede weicht der wesentlich
lichkeit stellen auf textueller und pragmati- planungsintensiveren indirekten Rede usw.
scher Ebene die sog. G esprächswörter und (vgl. Koch & Oesterreicher 1990, 73—81).
verwandte Verfahren dar, die auf Situations- G erade auf der Ebene des Textes treten
einbettung, geringe Planung, Dialogizität und nun allerdings auch die medialen Aspekte der
Emotionalität zugeschnitten sind: G liede- Kommunikation deutlich hervor. In G esell-
rungssignale, turn-taking-Signale, Sprecher-/ schaften, die zwar über Schrift verfügen, aber
Hörer-Signale, hesitation phenomena, Korrek- die schriftliche Speicherung weithin nur als
tursignale, Interjektionen und Abtönungsver- Bindeglied zwischen Diktieren und Vorlesen/
fahren (vgl. etwa Burkhardt 1982; Rath 1985, Vortragen nutzen (zu Antike und Mittelalter
1657—1660; Koch & Oesterreicher 1990, vgl. etwa Balogh 1926/27; Saenger 1982), wer-
51—76). In der situationsentbundenen, stark den die Modelle zur Formulierung komplexer
geplanten, eher monologischen und schwach Textstrukturen vorrangig durch eine leben-
emotionalen schriftlichen Sprache sind G e- dige G edächtniskultur bereitgestellt, aber na-
sprächswörter entweder überflüssig oder müs- türlich durch einen beträchtlichen Schematis-
sen durch aufwendigere Elemente und Ver- mus erkauft (Formeln, Stereotype usw.).
fahren ersetzt werden, die dieselben Funktio- Demgegenüber ermöglicht eine Textproduk-
nen erfüllen. Was die Textgliederung angeht, tion und -rezeption, die sich ausschließlich im
so kann sich schriftliche Sprache nicht mit graphischen Medium vollzieht, eine wesent-
der linear-reihenden und vorläufigen Artiku- lich komplexere und langfristigere Planung
lation durch typisch mündliche G liederungs- und Lektüre mit vielfältigen, sich wiederho-
signale begnügen, sondern bevorzugt eine lenden Korrektur- und Kontrollvorgängen,
hierarchisch komplexe Textgliederung mit ex- die den Zugriff auf externe Wissensspeicher
plizit-eindeutigen Signalen. Diese gilt es im erlauben (‘Sekundärliteratur’, Kommentare,
Ausbauprozeß von Idiomen bereitzustellen Enzyklopädien, Lexika; G rammatiken). Die-
(z. B. einerseits ... andererseits ...; erstens ... se Bedingungen setzen eine erhöhte Kreati-
zweitens ... drittens ...; schließlich ...; zwar ... vität und Individualität frei und lassen die
aber ...). Produktion und Rezeption — natürlich auch
G enerell zeichnet sich Schriftlichkeit durch syntaktisch und semantisch — hochkomple-
einen nahezu ausschließlich mit sprachlichen xer und doch variabler Texte zu (vgl. Eigler
Mitteln hergestellten Typ von Textkohärenz et al. 1990).
aus (Fritz 1982; Beaugrande & Dressler 1981,
50—117), der eine durchstrukturierte seman- 2.1.2. Syntaktische Aspekte
tische Progression und eine explizite Verket-
tung zwischen Sequenzen im Text erfordert. Es ist bekannt, daß unter den Bedingungen
Besondere Bedeutung kommt hier einer pla- kommunikativer Nähe nicht-‘wohlgeformte’
nungsintensiven Textphorik zu, bei der einer- oder nicht-satzförmige Äußerungen ihre
seits Kongruenzregeln strikt beachtet werden Funktion dank der schon in 2.1.1. erwähnten
müssen, andererseits aber auch eine erhebli- Kontextstützung und Redundanz uneinge-
44.  Schriftlichkeit und Sprache 591

schränkt erfüllen (vgl. Koch & Oesterreicher duellen Wissenskontexten ab — weit weniger
1990, 82—101; Sornicola 1981; auch Havers wirksam werden können und wo auch die
1931, passim; Hofmann 1951, 103 ff; 163 f). Redundanz mündlicher Kommunikation dys-
Im Distanzbereich, wo die Last der Infor- funktional wäre, ist es notwendig, durch Dif-
mation in stärkstem Maße auf dem sprachli- ferenzierung des lexikalischen Materials die
chen Anteil ruht, müssen die syntaktische fehlenden außersprachlichen Kontexte zu
Wohlgeformtheit und das explizite, aber zu- kompensieren und eine Vielzahl lexikalischer
gleich kompakte Satzformat respektiert und Einheiten für einen raschen, präzisen Zugriff
ausgebaut werden (vgl. Pawley & Syder 1983). auf Referenzobjekte bereitzustellen. Nur so
Nicht zufällig vermeiden die schriftlichen Va- können die gesamte gesellschaftliche Realität
rietäten der verschiedensten Sprachen Kon- und die Vielfalt der in ihr distribuierten Wis-
gruenzschwächen, Fehlstarts, Anakoluthe, sensbestände flächendeckend erfaßt werden.
Nachträge sowie holophrastische Äuße- Der Ausbauprozeß umfaßt daher gerade auch
rungen (Typ E inmal mit, bitte!) und Aposio- eine Verfeinerung der lexikalischen Paradig-
pesen (Typ Wenn der kommt, ...!), die nur matik (Wortschatzerweiterung, konsequente
‘empraktisch’ verständlich sind (vgl. Bühler Nomenklaturen, reflektierte Synonymen-
1965, 154—168; Hofmann 1951, 53—55). scheidung usw.), eine Intensivierung der
G leiches gilt für Segmentierungsphänomene, Wortbildung bzw. Entlehnung (vgl. 2.2.) so-
die eine beträchtliche Lockerung der syntak- wie eine systematischere Nutzung von Ab-
tischen Integration darstellen (vgl. etwa Re- straktionsmöglichkeiten (mehr Sachverhalts-
staurants, the situation is helpless in Chapel abstrakta, konsequentere Begriffshierarchien:
Hill; Mit dem kann ja keiner arbeiten, mit so vgl. hierzu Bossong 1979, 87—164). Zu un-
’nem Hammer). tersuchen wäre auch die Rolle, die bestimmte
G efördert wird die syntaktische Integra- Typen von Metaphern und Metonymien bei
tion und Präzision hingegen durch folgende der polysemischen Steigerung der Funktio-
Phänomene, die regelmäßig G egenstand des nalität des Fachwortschatzes spielen (vgl.
syntaktischen Ausbaus sind und die in frühen etwa Hahn 1980, 393).
Phasen der Verschriftlichung zu Unsicherhei- Darüber hinaus ist eine derartige Diversi-
ten führen: Differenzierung von Präpositio- fikation des lexikalischen Materials im Ver-
nen und hypotaktischen Konjunktionen, Re- bund mit intensiver Planung Bedingung der
gularisierung von Tempus- und Modusge- Möglichkeit lexikalischer Variation im Text
brauch (z. B. consecutio temporum), Intensi- und der in schriftlicher Kommunikation häu-
vierung der Möglichkeit von Subordination fig zu beobachtenden hohen type:token-Re-
und Hypotaxe, z. B. vorgeschaltete und mehr- lation (vgl. Söll 1985, 63—65).
fache Hypotaxe, Partizipialkonstruktionen Mündliche Sprache weist nun in bestimm-
(vgl. etwa Bossong 1979, 165—196; Raible ten durch Emotionalität gekennzeichneten
1992, 78—111). Zu denken ist hier auch an Sinnbezirken durchaus einen beachtlichen le-
den in der Schriftlichkeit teilweise extrem xikalischen Reichtum auf: verstärkende und
praktizierten ‘Nominalstil’, bei dem durch drastische Metaphern, Hyperbeln usw. (vgl.
syntaktische und lexikalische Mittel eine ma- Koch & Oesterreicher 1990, 114—120). Was
ximale Kondensierung der Information er- diesen Punkt betrifft, so orientiert sich die
reicht wird (vgl. Bally 1965, 365 f; Polenz schriftliche Sprache bei ihren eher flächen-
1988, 24—48). deckenden lexikalischen Differenzierungen
gerade nicht am Kriterium der Emotionalität,
2.1.3. Lexikalisch-semantische Aspekte sondern an dem einer versachlichten kontext-
unabhängigen Nutzung des in lexikalischen
Unter den Bedingungen kommunikativer Einheiten komprimierten gesellschaftlichen
Nähe ist das in der Äußerung verwendete Wissens.
Wortmaterial nur e i n Faktor, der — neben
Situations- und Wissenskontext, Anwesenheit 2.2. Spontaner und fremdinitiierter Ausbau
der Partner usw. — zur Bedeutungsgebung
beiträgt. Dies erklärt auch die häufige Ver- Die Überlegungen zum Ausbau dürfen kei-
wendung sogenannter passe-partout-Wörter nesfalls in dem Sinne mißverstanden werden,
und Präsentative sowie die geringe Variation daß mündliche Varietäten etwa per se ‘defi-
in der Wortwahl (vgl. Koch & Oesterreicher zitär’ wären (vgl. etwa Bernstein 1960/61); sie
1990, 102—114). sind nämlich im Nähebereich voll funktions-
Im Distanzbereich, wo textexterne Fakto- fähig, aber natürlich im Distanzbereich nicht
ren — sieht man einmal von den überindivi- einsetzbar (übrigens gilt dies umgekehrt auch
592 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

für die schriftlichen Varietäten im Nähebe- Das weitere Schicksal der Luxus-Entleh-
reich!). Solche funktionellen Begrenzungen nungen in der akkulturierten Sprache kann
werden in all jenen historischen Situationen sehr unterschiedlich sein. Sie können wieder
spürbar, wo bislang rein mündliche Idiome aufgegeben oder in diaphasisch sehr hohe Re-
sich den Distanzbereich eröffnen müssen. gister abgedrängt werden (z. B. der dem La-
Dies geht nie ohne tiefgreifende Veränderun- teinischen nachgebildete AcI im Französi-
gen der entsprechenden Idiome im universa- schen und Italienischen seit der Renaissance).
len (vgl. 2.2.) wie auch im einzelsprachlichen Wenn sie sich halten, findet entweder eine
Bereich ab (vgl. 4.2.; 4.3.2./3.). mehr oder minder deutliche — etwa quasi-
Bestimmte Sprachen haben den intensiven synonymische — Funktionsdifferenzierung
Ausbauvorgang weitestgehend ‘aus eigener statt (z. B. engl. G allizismen wie mutton oder
Kraft’, d. h. im Rahmen der Vorgaben des liberty neben sheep oder freedom), oder aber
eigenen Sprachsystems geleistet (Altägyp- die Entlehnung marginalisiert oder verdrängt
tisch, Altgriechisch, Chinesisch, Arabisch das autochthone Element (z. B. der G allizis-
u. a.). In allen Kulturkreisen und Epochen mus tanzen für dt. walzen oder die Monats-
tritt uns allerdings viel häufiger der Fall der namen lateinischer Herkunft für dt. Hartung,
Akkulturation entgegen, bei der eine Sprach- Hornung usw.). Zu betonen ist, daß keines-
gemeinschaft im Kontakt mit einer überlege- wegs alle Entlehnungsprozesse zwischen
nen Schriftkultur in einen ‘Ausbausog’ gerät. Sprachen im Kontext des Ausbaus zu sehen
Dabei ist es unvermeidlich, daß aus der ak- sind. Auch im Bereich der Mündlichkeit
kulturierenden Sprache lexikalische Elemente kommt es selbstverständlich zu Sprachkon-
entlehnt oder durch calque nachgebildet wer- takten mit Übernahmen (Latinismen in ger-
den (G räzismen im Latein; Latinismen in manischen Sprachen; lexikalischer Austausch
europäischen Sprachen; Arabismen im Spa- in den Sprachen des Balkanbunds; viele der
nischen, Türkischen, Persischen usw.). Auch heute weltweit verbreiteten Anglizismen).
syntaktische Konstruktionstypen werden imi-
tiert, in Extremfällen sogar Präpositionen und 2.3. System, Norm und Ausbau
Konjunktionen direkt übernommen (vgl. Rai-
ble 1992, 203 f). Es wurde bereits hervorgehoben, daß nicht-
Eine derartige Sprachmischung manife- ausgebaute Idiome nicht ‘minderwertig’ sind
stiert sich, zumindest in der Anfangsphase der und den Ausbau im Prinzip auch aus eigener
Akkulturation, auch auf der Textebene: in Kraft bewerkstelligen können.
bestimmten Passagen, ja sogar in ganzen Im G egensatz zu den Verhältnissen auf ein-
Textteilen, kann einfach die akkulturierende zelsprachlicher Ebene (vgl. 4.1.1.) sind auf der
Sprache verwendet werden. So erscheint etwa hier betrachteten universalen Ebene die Un-
das Latein in frühen romanischen und deut- terschiede zwischen mündlichen und schrift-
schen juristischen und religiösen Texten (Ur- lichen (ausgebauten) Varietäten bzw. Spra-
kunden, Predigten, Dichtungen usw.), das chen nämlich vielfach nicht sehr tiefgreifend.
Altkirchenslawische in frühen rumänischen Weithin betreffen sie nur Frequenzunter-
Dokumenten (vgl. Windisch 1993). Be- schiede in der Verwendung bestimmter Ele-
stimmte textuell relevante Elemente verfesti- mente oder Verfahren oder die mehr oder
gen sich sogar langfristig als Versatzstücke in weniger starke Nutzung von im Sprachsystem
diastratisch/diaphasisch hohen Sprachvarie- angelegten Möglichkeiten, also nur Fakten
täten der akkulturierten Sprache (ergo, item; der Norm im Sinne von Coseriu 1979 (vgl.
frz. primo, secundo, tertio; engl. i. e. = id est, Koch & Oesterreicher 1985, 28 f). Die fun-
e. g. = exempli gratia usw.). damentalen Kategorien von Einzelsprachen
In bestimmten Fällen ist unbezweifelbar, werden also von entsprechenden Ausbaupro-
daß durch Ausbauübernahmen ‘Lücken’ in zessen nicht tangiert.
den Ausdrucksmitteln der akkulturierten Echte Systemveränderungen könnte man
Sprache geschlossen werden (vgl. etwa Joseph am ehesten dort erwarten, wo neue lexikali-
1987, 93 f). Nicht selten jedoch ergibt sich bei sche, eventuell sogar grammatikalische Ele-
derartigen Übernahmen ein gewisser ‘Über- mente hinzukommen, da sich hierdurch die
schuß’: es werden aus der akkulturierenden paradigmatische Binnenstruktur und damit
Sprache Elemente übernommen, deren Funk- der Systemwert der Elemente ändert. Die
tion in der akkulturierten Sprache eigentlich Komplexität der Verhältnisse zeigt sich bei-
schon abgedeckt ist (’Luxus-Entlehnungen’; spielsweise an den hypotaktischen Konjunk-
vgl. Koch 1987). tionen der romanischen Sprachen. Es wäre
verfehlt anzunehmen, daß die Möglichkeiten
44.  Schriftlichkeit und Sprache 593

der Hypotaxe als solcher im Vulgärlatein/ Verfall einer Kultur des Privatbriefs als Folge
Frühromanischen qua gesprochener Sprache einer medialen Innovation, des Telefons, be-
stark geschrumpft und erst in der Periode der klagt worden.
Akkulturation dieser Sprachen durch das La- — Trotz ihrer Benennung als ‘Redekunst’ ist
teinische wieder aufgeblüht seien (so Tekavčić die abendländische Rhetorik letztlich immer
1980, 859, 912). Nicht einmal die Bildungs- auf distanzsprachliche Kommunikation im
typen der hypotaktischen Konjunktionen er- phonischen Medium ausgerichtet gewesen
fahren eine grundsätzliche Innovation (vgl. (vgl. Ong 1982, 9 f; 108—111; 116). Mühelos
etwa zum Altfranzösischen Stempel 1964, konnten daher Regeln der Rhetorik zur Ab-
385—459). Zu konzedieren sind allenfalls Er- fassung — je schon graphisch gespeicherter
weiterungen des Inventars der Konjunktionen — distanzsprachlicher literarischer Texte her-
und damit kleinräumige Veränderungen im angezogen werden und damit in die Poetik
Oppositionsgefüge eines Subsystems. Eingang finden (vgl. Ueding & Steinbrink
1986, 23; 36 f; 66—69; 84—86; 91 ff; 138—
140; Lausberg 1973, §§ 35, 1156—1242). Bis
3. Diskurstraditionelle Aspekte in die Neuzeit hinein wurden die poetischen
schriftlicher Sprache und Regeln (Topik, Stilfiguren usw.) genutzt. Der
Konzeption dadurch häufig entstandenen distanzsprach-
lichen Artifizialität stellten sich ‘antirhetori-
Die eben dargestellten Zusammenhänge, die sche’ literarische Strömungen im Namen von
sehr allgemeine Kennzeichen konzeptioneller Natürlichkeit, Spontaneität, Individualität
Schriftlichkeit betreffen, müssen nun selbst- und Authentizität entgegen (Empfindsamkeit,
verständlich historisch konkretisiert werden,
und zwar in der Perspektive der jeweils ge- Sturm und Drang, Romantik usw.). Ähnliche,
wählten oder erwarteten Sinngebungen und immer auch als konzeptionell zu verstehende
Zielsetzungen der Kommunikationsakte. Sie Argumente kommen regelmäßig bei der er-
manifestieren sich in den Diskurstraditionen bitterten Diskussion um literarische Strömun-
(G attungen, Textsorten, Stilen, G esprächsfor- gen und Stile zum Tragen (vgl. etwa den Ma-
men, Sprechakten usw.; vgl. 1.3.). nierismus, bes. Marinismus, Kulteranismus,
Konzeptismus in Italien und Spanien; dazu
Hauser 1964, bes. 268—352; ferner Ueding &
3.1. Konzeptionelle Dynamik von Steinbrink 1986, 95—98).
Diskurstraditionen — Die elaborierte Mündlichkeit in oralen Ge-
Diskurstraditionen als historische G rößen un- sellschaften (vgl. 1.2.) umfaßt distanzsprach-
terliegen notwendigerweise dem Wandel: Her- liche Diskurstraditionen: Spruchweisheiten,
ausbildung und Ausdifferenzierung neuer Beschwörungs- und Zauberformeln, Rätsel,
Diskurstraditionen und ihre (Ver-)Festigung, Sagen, Heldenlieder (vgl. Schlieben-Lange
G eneralisierung bestehender Traditionen, 1983, 78—80; Chafe 1982, 49—52; Akinnaso
Marginalisierung und Absterben von Tradi- 1985, 333—346). Es handelt sich hier um
tionen. Hierbei spielen gerade konzeptionelle einen ganz spezifischen, gedächtniskulturell
und mediale Veränderungen eine wichtige und situationell verankerten Typ von Di-
Rolle. Dazu nur drei Beispiele: stanzsprachlichkeit, der nicht einfach mit dem
— In der Antike kultivierte der Privatbrief uns vertrauten, letztlich schriftgestützten Typ
eine nähesprachliche Orientierung im graphi- identifiziert werden darf. In der Regel liegen
schen Medium (vgl. etwa Cicero, Ad Quintum uns heute, wenn überhaupt, Reflexe elabo-
fratrem, I, 1, 45: „[...] cum tua lego, te audire rierter Mündlichkeit nur in graphischer Fixie-
et [...], cum ad te scribo, tecum loqui vi- rung vor. Am Beispiel der mittelalterlichen
deor[...]“). Im Mittelalter gerieten demgegen- Heldenepik (vgl. das ahd. Hildebrandslied;
über nahezu alle Briefgattungen in den Sog den aengl. Beowulf; die air. Táin Bó Cuailnge;
des auch in den Urkunden praktizierten ex- die afrz. Chanson de Roland; den sp. Cantar
trem distanzsprachlichen Schemas des dicta- de Mio Cid) läßt sich zeigen, daß bei der
men (salutatio — exordium — narratio — Aufzeichnung, die ohnehin bereits einen Vi-
petitio/dispositio — conclusio; vgl. Koch talitätsverlust signalisiert, das jeweilige kon-
1987). Eine Wiederbelebung der Formel ‘Brief zeptionelle Profil der Diskurstraditionen
als G espräch’ erleben wir im 18. Jahrhundert, durch schriftgestützte Elaborierung verändert
etwa bei G ellert und Lessing (vgl. G auger wird (vgl. etwa Zumthor 1983; Wolf 1988;
1986, 28 f). In jüngster Zeit ist nun gar der Schaefer 1992; Tristram 1988; Duggan 1973;
Montgomery 1977).
594 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

In ähnlicher Weise ließen sich natürlich die gegeben. Mehr und mehr sind von diesem
konzeptionellen und medialen Aspekte zahl- Prozeß sogar Sprachen wie das Deutsche und
reicher anderer diskurstraditioneller Verschie- das Französische betroffen (vgl. etwa Kalver-
bungen diskutieren: im juristischen Bereich kämper & Weinrich 1986; Hagège 1987,
(G ewohnheitsrecht, G erichtsurteil, Urkunden 149—163; Gauger 1991).
usw.), in den dramatischen G enera (Komödie,
Lesedrama, Theaterdialog/Filmdialog usw.),
im Bannkreis des Konversationsideals des 4. Einzelsprachliche Aspekte
16.—18. Jahrhunderts. (Literatur, Predigt, schriftlicher Sprache und
Wissenschaftsprosa) usw. Konzeption
Das Nähe/Distanz-Kontinuum, das in
3.2. Diskurstraditionen und Zf. 1. als universales G rundprinzip sprachli-
extensiver Ausbau cher Variation vorgestellt wurde, muß not-
In 2.2. haben wir den extensiven Ausbau be- wendigerweise in irgendeiner Form in allen
schrieben als zunehmende Befähigung eines Sprachgemeinschaften wirksam sein. Dies be-
Idioms, auch in Diskurstraditionen im Di- deutet, daß auf der historischen Ebene das
stanzbereich verwendet zu werden. G enau- Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Di-
genommen gilt sogar, daß der Prozeß der stanz sich nicht nur in den praktizierten Dis-
Verschriftlichung schubweise nach Di- kurstraditionen (vgl. 3.), sondern auch in den
stanzdiskurstraditionen erfolgt und nie Ein- einzelsprachlichen Fakten ausprägt. Diese
zelsprachen oder einzelne Idiome (vgl. 4.) als konzeptionelle Relevanz der entsprechenden
ganze erfaßt (vgl. fürs Italienische etwa Kre- einzelsprachlichen Phänomene liegt jedoch
feld 1988). So ist beispielsweise unverkennbar, nicht immer offen zutage, da sie vielfach als
daß bei der Verschriftlichung in der Romania disiecta membra in Disziplinen wie der
ganz bestimmte Distanzdiskurstraditionen — Sprachgeschichte, Dialektologie, Soziolingui-
quer durch die einzelnen Idiome — eine ‘Vor- stik, Varietätenlinguistik, Lexikographie,
reiterrolle’ spielen (Eide, Predigten, Heiligen- Sprachdidaktik und Sprachkritik thematisiert
viten, weltliche Lyrik usw.; vgl. Koch 1993) werden.
und daß demgegenüber andere diskurstradi-
tionelle Domänen mit deutlicher ‘Verspätung’ 4.1. Schriftlichkeit und Sprachvariation
folgen, in diesem Fall also länger dem Latein
vorbehalten bleiben (literarische Prosa, Histo- Die Historizität von Einzelsprachen impli-
riographie, Wissenschaftsprosa usw.; vgl. ziert, daß diese keine homogenen G ebilde
Stempel 1972). Nicht zufällig bemißt Kloss darstellen, sondern eine interne Variation auf-
(1978, 37—63) den Ausbaugrad einer Sprache weisen, die mit einer Vielzahl deskriptiver
an diskurstraditionell gestaffelten Parame- Normen korrespondiert. Individuen und
tern. In dieser Sicht lassen sich etwa Idiome G ruppen partizipieren an dieser Variation in
wie das Färöische, Irische oder Sorbische nur der Weise, daß sie über eine gestaffelte Kom-
als teilausgebaut ansehen (vgl. Haarmann petenz verfügen, die aber natürlich nie die
1988, 45), da ihnen ausgeprägt schriftliche G esamtheit aller in der Sprachgemeinschaft
Domänen wie kultur- bzw. naturwissenschaft- vorhandenen Varietäten umfaßt.
liche Forscherprosa und naturwissenschaft-
lich-technische Zweckprosa fehlen, die von 4.1.1. Dimensionen der Sprachvariation
vollausgebauten Schriftsprachen abgedeckt Die Frage ist nun, w i e sich diese einzel-
werden (in diesen Fällen: Dänisch, Englisch sprachlichen Varietäten zu dem universalen
und Deutsch). konzeptionellen Nähe/Distanz-Kontinuum
Extensiver Ausbau und Ausbaudefizite verhalten. Normalerweise unterscheidet man
sind jedoch nie endgültig. So drängen be- drei Varietätendimensionen: Diatopik, Dia-
stimmte Sprachen, z. B. das heutige Katala- stratik und Diaphasik (vgl. Coseriu 1980).
nisch, in die letzten ihnen noch zum vollen Jede dieser Dimensionen weist eine interne
Ausbau fehlenden Domänen. Umgekehrt Skalierung auf: starke ↔ schwache diatopi-
haben heute schon einige voll ausgebaute klei- sche Markierung, niedrige ↔ hohe diastrati-
nere europäische Schriftsprachen, etwa das sche bzw. diaphasische Markierung. Diese
Niederländische oder das Ungarische, ihren Skalierungen spiegeln jeweils die Abstufungen
extensiven Ausbau, vor allem in der natur- des konzeptionellen Kontinuums wider (vgl.
wissenschaftlich-technischen Forscherprosa, den Anfang von Zf. 2.). Es ist kein Zufall,
zugunsten des Englischen weitestgehend auf- daß in allen Sprachgemeinschaften diatopisch
44.  Schriftlichkeit und Sprache 595

stark markierte Varietäten konzeptioneller Für bestimmte Sprachen wird inzwischen


Schriftlichkeit fernstehen. Der enge Kom- auch im einzelsprachlichen Bereich eine
munikationsradius von Mundarten und Dia- eigene Varietätendimension ‘gesprochen-ge-
lekten steht im Widerspruch zu der für kon- schrieben’ anerkannt (vgl. etwa zum Fran-
zeptionelle Schriftlichkeit definitorischen ma- zösischen: Martinet 1980, 158—163; Söll
ximalen Reichweite (daher bleibt Dialektlite- 1985, 34—43; zum Deutschen: Ludwig 1980,
ratur marginal und versteht sich auch oft so; 323 f; zum Italienischen: Holtus 1983). Die
vgl. jedoch unten 4.2.2. zum Altgriechischen). hier relevanten sprachlichen Unterschiede
G leichermaßen ist die Verwendung diastra- sind keineswegs alle als „Stil“, als „Abwahl-
tisch und diaphasisch als niedrig markierter regularitäten“ (Steger 1987, 57) anzusehen,
sprachlicher Erscheinungen im Bereich der sondern tangieren zum Teil sogar das System
auf Formalität, Prestige usw. angelegten kon- der Sprache (vgl. im Frz.: gesprochen nur il
zeptionellen Schriftlichkeit nicht opportun. a chanté, aber geschrieben il a chanté/il
Zugeschnitten auf distanzsprachliche Kom- chanta; ähnlich im Dt.: gesprochen machst du/
munikation ist somit eine minimal diatopisch machste, aber geschrieben nur machst du
markierte und diastratisch/diaphasisch als usw.).
hoch markierte Varietät: die ‘Schriftsprache’. Vielfach wird versucht, derartige Fakten in
Wenn man nun aber das Verhältnis der drei der diaphasischen Dimension (2 in Abb. 44.2)
Varietätendimensionen zueinander betrach- unterzubringen (vgl. Albrecht 1986/90, I, 81;
tet, so ist unübersehbar, daß sie in einer ge- III, 69—71; auch Hunnius 1988). Zum einen
richteten Beziehung zueinander stehen: in besteht hier jedoch die G efahr, daß man die
Form einer ‘Varietätenkette’ funktionieren Unterscheidung Medium vs. Konzeption ganz
diatopisch stark markierte Elemente sekun- auf die Unterscheidung Medium vs. Diapha-
där auch als diastratisch niedrig, und diastra- sik reduziert. Zum anderen wird übersehen,
tisch niedrig markierte Elemente können ih- daß, wie Söll (1985, 190 ff) gezeigt hat, die
rerseits sekundär in die niedrige Diaphasik diaphasischen Registermarkierungen den
einrücken (so werden Dialekte in der Regel sprachlichen Phänomenen gar nicht fest an-
signifikant häufiger von Unterschichtspre- haften, sondern sich, entsprechend der kon-
chern, aber durchaus auch als informelles ‘Re- zeptionellen Ausrichtung der Kommunika-
gister’ gebildeter, sozial höherstehender Spre- tion, jeweils verschieben: z. B. rückt bei dt.
cher verwendet). kriegen-bekommen-erhalten die Markierungs-
Letztlich ‘hängt’ die gesamte Varietäten- skala des G eschriebenen (‘familiär’ — ‘neu-
kette, wie schon angedeutet, an den Abstu- tral’ — ‘gewählt’) im G esprochenen nach
fungen des konzeptionellen Nähe/Distanz- oben (etwa ‘neutral’ — ‘gewählt’ — ‘gestelzt’).
Kontinuums. Nachdem es in universaler Hin- Die sprachtheoretisch fundamentale Bezugs-
sicht einen ganz eigenen Typ konzeptionell größe ist in der Tat das in Zf. 1. beschriebene
geprägter Variation gibt (1a in Abb. 44.2; kommunikative Nähe/Distanz-Kontinuum.
vgl. 2.1.), ist es naheliegend anzunehmen, daß Es ist methodisch nicht akzeptabel, dieses ter-
sich die konzeptionelle Variation auch in ein- tium seinerseits einer partikulären Varietäten-
zelsprachlicher Hinsicht nicht nur aus den dimension — hier der Diaphasik — unter-
drei ‘Dia’-Dimensionen speist. zuordnen.

Abb. 44.2: Dimensionen der Sprachvariation


596 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Mithin spricht alles dafür, eine eigene Va- derartige Diglossiesituation liegen vor in der
rietätendimension ‘gesprochen-geschrieben’ arabischen Sprachgemeinschaft, im latei-
auch im einzelsprachlichen Bereich anzuset- nisch-romanischen Mittelalter (vgl. 4.3.3.),
zen (vgl. Oesterreicher 1988, 376—378; Koch ferner in der deutschen Schweiz. In diesen
& Oesterreicher 1990, 13—15); sie ist in Abb. Zusammenhang kann man auch die Sprach-
44.2 als Ebene 1b wiedergegeben. situation in G ebieten wie Jamaica, Haïti oder
Cabo Verde stellen, in denen ein kreolischer
4.1.2. Ausgestaltungen des Varietätenraums ‘Basilekt’ einer damit verwandten europä-
ischen Schriftsprache gegenübersteht, die als
Diese sprachtheoretische Modellierung des ‘Akrolekt’ fungiert (vgl. Romaine 1988,
‘Varietätenraums’ ist im Prinzip auf alle hi- Kap. 5 passim; Holm 1988, 9); allerdings muß
storischen Einzelsprachen anwendbar (zur hi- man sich hier bereits fragen, ob es sich über-
storischen Konstitution solcher Varietäten- haupt noch um Varietäten ‘einer’ Sprache
räume s. u. 4.3.), wobei sich allerdings zum handelt. Die von Ferguson beschriebene
Teil erhebliche Unterschiede in der ‘Ausla- Funktionstrennung von H und L kann aller-
stung’ der einzelnen Varietätendimensionen dings auch bei sehr verschiedenen, sogar nicht
ergeben. G anz unterschiedlich kann etwa das direkt miteinander verwandten Sprachen be-
Profil des Distanzbereichs sein: rigorose Aus- obachtet werden: französisch-basiertes créole
grenzung diatopischer Variation etwa im und Englisch in St. Lucia; Althochdeutsch
Französischen gegenüber größerer Toleranz und Latein vor 800; dakoromanische Volks-
etwa im Deutschen und Italienischen; homo- sprache und Altkirchenslawisch im Mittelal-
gene vs. polyzentrische Norm der ‘Schrift- ter. In diesen Fällen sollte man nicht von
sprache’ (vgl. etwa Französisch vs. Englisch ‘Diglossie’ sprechen, sondern von ‘Bilingua-
und Spanisch mit ihren europäischen, ameri- lismus’, der als gesellschaftlich geregelter Bi-
kanischen u. a. Standards). Was den Nähe- lingualismus mit Funktionstrennung natür-
bereich betrifft, so denke man an das unter- lich sowohl vom gesellschaftlichen Bilingua-
schiedliche Relief der Varietätendifferenzen: lismus ohne Funktionstrennung, z. B. in der
etwa an die starke dialektale Differenzierung heutigen mehrsprachigen Schweiz, als auch
(4 in Abb. 44.2) im Deutschen, Italienischen, vom bloß individuellen ‘Bilinguismus’ zu un-
Finnischen und Japanischen gegenüber der terscheiden ist (vgl. Schlieben-Lange 1991,
relativen (!) Einheitlichkeit im Isländischen 37—41; → Art. 60).
oder auch im Russischen oder an die ver-
gleichsweise geringere Auslastung der Varie- 4.2. Prozesse der Verschriftlichung
tätendimension 1b im Deutschen und erst
recht im Spanischen gegenüber der schon er-
wähnten besonders starken Auslastung im 4.2.1. Typisierung
Französischen (vgl. zu den genannten Spra- Der Einstieg in die Verschriftlichung von
chen die Angaben in Haarmann 1975; Comrie Sprachformen, d. h. das Eindringen von bis-
et al. 1987; Koch & Oesterreicher 1990, her auf den Nähebereich beschränkten
235—237). Sprachformen in den Distanzbereich, ist ein
Die extremste Konstellation im Bereich 1b vielgestaltiger historischer Prozeß, der nichts-
ist von Ferguson (1959) unter dem Stichwort destoweniger bestimmte Typisierungen er-
Diglossie beschrieben worden: In bestimmten laubt (vgl. zu 4.2. insgesamt: Haarmann 1975,
Sprachgemeinschaften besteht eine strikte 140—207, 249—219; 1988; Scaglione 1984;
Funktionstrennung zwischen einer ‘high-va- Joseph 1987). Folgende Aspekte sind dabei
riety’ und einer ‘low-variety’, die zwar mitein- zu berücksichtigen: (1) Die frühen Formen
ander verwandt sind, sich aber auf allen Ebe- der Verschriftlichung sind nicht unbedingt mit
nen der Sprache außerordentlich stark unter- den späteren Schriftsprachen zu identifizieren
scheiden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, und werden deshalb als ‘Schreibtraditionen’
daß die H-Varietät genau nur als Varietät der (scriptae) bezeichnet (vgl. G ossen 1967; G eue-
konzeptionellen Schriftlichkeit fungiert (Pre- nich 1985, 984 f). (2) Derartige scriptae sind
digt, Parlamentsrede, Universitätsvorlesung, in der Regel von kleinräumiger G ültigkeit,
Zeitungsartikel, Dichtung usw.), während die können aber in der historischen Entwicklung
L-Varietät gerade die Varietät der konzeptio- geographisch expandieren; dieser Vorgang,
nellen Mündlichkeit ist (G espräch mit Ver- bei dem andere Idiome — mit oder ohne
wandten, Freunden und Kollegen, Anweisun- scripta-Ansätze — in den Nähebereich ver-
gen an Dienstboten, Worte in politischen Ka- wiesen werden, kann mit Kloss (1978, 60 f)
rikaturen usw.; → Art. 60). Beispiele für eine als ‘Überdachung’ bezeichnet werden; das
44.  Schriftlichkeit und Sprache 597

Produkt dieses Prozesses wird häufig als griechische Κοινή war also gerade keine
‘Koiné’ bezeichnet (im folgenden ‘Koiné1’). Koiné2!). In Fällen wie dem des Ungarischen
(3) Scriptae, die freilich nie mit einem lokalen bildet sich demgegenüber eine Koiné2 erst
nähesprachlichen Idiom völlig gleichgesetzt spät, im 16. Jahrhundert, aus schwankenden,
werden dürfen, können direkt auf einer dia- regional beeinflußten, aber nicht polyzentri-
topisch mehr oder weniger klar lokalisierten, schen Schreibtraditionen.
einheitlichen Sprachform basieren (nach Bei all dem ist zu bedenken, daß auch
Haarmann 1975, 149: ‘monodialektal’; besser Schriftsprachen auf monotopischer G rund-
wohl: ‘monotopisch’), oder aber sie können lage im Laufe der Sprachgeschichte durch
eine Misch- und Ausgleichsform darstellen; eine mehr oder weniger große Zahl diatopi-
auch dies wird häufig als ‘Koiné’ bezeichnet scher Elemente nicht zuletzt zum Zwecke des
(im folgenden ‘Koiné2’). lexikalischen Ausbaus angereichert werden.
Beispiel für den seltenen Fall einer mono-
topischen scripta, die keiner Überdachung 4.2.2. Instabilitäten und Komplikationen
mehr bedurfte, ist die altisländische Schrift-
sprache bis in die 1. Hälfte des 16. Jahrhun- Vor einer endgültigen Überdachung und Koi-
derts. Häufiger sind monotopische scriptae, neisierung ergeben sich teilweise instabile
die in einem Überdachungsprozeß geogra- Konstellationen, in denen sich diatopisch
phisch weit expandieren zu einer Koiné1 (z. B. oder diachronisch markierte scriptae diskurs-
traditionell bestimmte Nischen bzw. beson-
die hellenistisch-griechische Κοινή auf at- dere Entfaltungsräume sichern. So war im
tisch-ionischer G rundlage im östlichen Mit- Altgriechischen zunächst die archaische, ho-
telmeerraum, die ja dem Phänomen ‘Koiné1’
merische (im wesentlichen ionisch geprägte)
den Namen gegeben hat, oder das Latein, Dichtersprache auf Epik und Hexameter-
Sprache Roms, in der Westhälfte des Impe- Dichtung, der äolische Dialekt auf monodi-
rium Romanum). Eine solche überdachende sche Lyrik und der dorische auf chorische
scripta kann sich im Kontakt mit ihr ver- Dichtung spezialisiert (vgl. Hiersche 1970,
wandten regionalen Sprachformen des Nä- 77 f). In Schweden konkurrierten im 13./14.
hebereichs geographisch diversifizieren und Jahrhundert eine altertümlichere (G esetzes-
letztlich in mehrere eigenständige scriptae sammlungen), eine progressivere (Ritterdich-
übergehen (z. B. das Altkirchenslawische auf tungen, Eriks-Chronik) und eine teilweise
makedobulgarischer G rundlage, das sich in noch nordisch geprägte, dann zunehmend la-
eine russische, bulgarische und serbische Kir- tinisierende Sprachform (religiöse Überset-
chensprache differenziert). Eine völlig andere, zungsprosa) (vgl. Wessén 1968, 100—103).
polyzentrische Konstellation treffen wir in Auf dem Weg von der scripta zur vollaus-
G ebieten an, in denen sich eine ganze Reihe gebildeten (und ausgebauten: vgl. 2.1.; 3.2.)
ursprünglich gleichberechtigter, jeweils mehr Schriftsprache ist mit einer Fülle von Kom-
oder weniger monotopischer scriptae heraus- plikationen zu rechnen. Ein bemerkenswerter
bildet, z. B. in althochdeutscher Zeit Aleman- Fall diatopischer Diskontinuität liegt im
nisch, Bairisch, Ostfränkisch usw. (vgl. G eue- Deutschen vor, wo, abgesehen von der an-
nich 1985). In der Regel verdrängt jedoch eine fänglichen Polyzentrik in althochdeutscher
dieser scriptae aus politischen und/oder sozio- Zeit (vgl. 4.2.1.), die weiteren Etappen
kulturellen G ründen sukzessive mehrere an- der Schriftsprachentwicklung unterschiedlich
dere scriptae und überdacht schließlich als zentriert sind: eher ober- und mitteldeutsch
Schriftsprache (Koiné1) ein größeres G ebiet im Mittelhochdeutschen (vgl. Rautenberg
(besonders markant im mittelalterlichen 1985), eher ostmitteldeutsch im Neuhoch-
Nordfrankreich: das Franzische der Ile-de- deutschen (vgl. Eggers 1985). Bestimmte
France, das sich gegenüber Pikardisch, Nor- Sprachformen bleiben auf halbem Wege zur
mannisch, Champagnisch, Lothringisch usw. Selbständigkeit stehen, wobei es Unterschiede
ab dem 13. Jahrhundert durchsetzt und gibt im ‘Selbstbewußtsein’ der Sprecherge-
G rundlage der französischen Schriftsprache meinschaft sowie im ‘Abstand’ (vgl. 4.3.1.)
wird). Völlig anders verläuft die Entwicklung, zur nächstverwandten Schriftsprache, die
wenn am Anfang der Verschriftlichung bereits als ‘Überdachungskonkurrentin’ auftreten
eine Misch- und Ausgleichssprache, also eine kann, aber nicht muß (vgl. G alegisch — Por-
Koiné2, steht, wo demnach weder Monotopik tugiesisch/Spanisch; Sardisch — Italienisch;
noch Polyzentrik der scriptae vorliegt (z. B. Letzeburgisch — Hochdeutsch). Bestimmte
bei der mittelalterlichen kymrischen Schrift- Sprachformen sinken aus der schon mehr
sprache; die im wesentlichen attisch-ionische oder weniger erreichten Schriftsprachlichkeit
598 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

in den Nähebereich (und in die Dialektlite- sche Dialekte, andererseits aber zwei so ähn-
ratur) zurück, z. B. Niederdeutsch, das noch liche Sprachformen wie das leonés und das
bis ca. 1500 einen dem Niederländischen ver- nordportugiesische transmontano Dialekte
gleichbaren Status hatte (vgl. Peters 1985; zweier verschiedener Einzelsprachen (Spa-
Sodmann 1985). In einzelnen Fällen erleben nisch und Portugiesisch) sind. Der ‘Sog’, den
wir nach dem Absterben der schriftsprachli- die Überdachung durch eine Schriftsprache
chen Tradition einen späteren Neuansatz (vgl. auch auf nur mäßig mit ihr verwandte nähe-
Haarmann 1975, 202—204, 320; 1988, 42 f), sprachliche Idiome ausübt, wird deutlich an
so etwa beim Weißrussischen eine erste Phase dem Phänomen, das Kloss als ‘Scheindialek-
im 15.—18. Jahrhundert und dann eine ganz tisierung’ bezeichnet (1978, 67—70; vgl. auch
neue Schriftsprache auf der Basis nähesprach- Muljačić 1985, 47, 52—55; Haarmann 1988,
licher Varietäten ab Mitte des 19. Jahrhun- 21): in den Nähebereich zurückgefallene
derts. Einzig in seiner Art dürfte der Fall des Idiome wie Ostfriesisch, Kaschubisch oder
in der Antike im Nähe- wie im Distanzbereich okzitanische parlers werden von den Spre-
voll entwickelten Hebräisch sein, das schon chern durchaus wie diatopische Varietäten
ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. im Nähebe- der sie überdachenden Standardsprache
reich ausgestorben war (dafür dann Arabisch, (Deutsch, Polnisch, Französisch) empfunden.
Romanisch, v. a. Judenspanisch, Jiddisch
usw.). Allein das Hebräische als Schriftspra- 4.3.2. Standardisierung: Selektion
che stellt die Kontinuität zum modernen He-
bräisch des 20. Jahrhunderts her, das als ge- Die Herausbildung einer Schriftsprache be-
sprochene Sprache nach 1880 in Rußland und inhaltet einen Prozeß der Standardisierung
Polen und dann vor allem bei den jüdischen (dazu etwa Joseph 1987; Beiträge in Scaglione
Siedlern in Palästina auf der G rundlage eben 1984). Es erfolgt in jedem Fall eine Selektion
dieser Schriftsprache wiederbelebt wurde (vgl. aus der G esamtheit der Sprachmittel, die zu
Rabin 1988, 49—52). einem bestimmten Zeitpunkt in der sich kon-
stituierenden Sprachgemeinschaft vorhanden
4.3. Verschriftlichung, Varietätenraum und sind (hinzu kommt häufig die Kodifizierung:
Standardisierung vgl. 4.3.3.). Bei der Selektion werden zusätz-
lich zu den diatopischen Festlegungen (vgl.
4.3.1. Konstitution des Varietätenraums 4.2.1.) auch Abwahlen getroffen, die den so-
zialen und situativ-kommunikativen Anfor-
Die in 4.2. angedeuteten historischen Prozesse derungen der Distanzsprache Rechnung tra-
der Verschriftlichung haben nun massive gen (vgl. 4.1.1.): dadurch erhalten a l l e
Rückwirkungen auf den Varietätenraum, wie Sprachmittel überhaupt erst ihren Stellenwert
er in 4.1. zunächst in sprachtheoretischer Per- im Varietätenraum, nämlich ihre Position auf
spektive charakterisiert wurde. Streng genom- den diatopischen, diastratischen und diapha-
men ist sogar davon auszugehen, daß sich der sischen Skalen im Sinne von Abb. 44.2.
einer historischen Einzelsprache entspre- Die Faktoren, die derartige Selektionspro-
chende Varietätenraum überhaupt erst durch zesse in unterschiedlicher gegenseitiger G e-
Zentrierung auf bestimmte distanzsprachliche wichtung auslösen und steuern, sind durch-
Varietäten hin konstituiert (vgl. Muljačić weg außersprachlicher Natur: politischer
1989). Man darf sich nicht der Illusion hin- Machtzuwachs, ethnische Selbstbehauptung,
geben, daß das Kriterium der Interkompre- Zentralismus, ökonomische Stärke, kulturelle
hension oder überhaupt des Abstandes, d. h. Strahlkraft, religiöses Engagement, Einfluß
der rein sprachlichen Ähnlichkeit zwischen gesellschaftlicher G ruppen und Schichten
Idiomen (vgl. Kloss 1978, 24 ff, 63 ff), die usw.: vgl. bei der Konsolidierung des Früh-
G renzen zwischen den historischen Einzel- neuhochdeutschen die Rolle der Reformation
sprachen bereits vorzeichnete (man denke nur (vgl. Bach 1985; Eggers 1985); beim Franzö-
an die extremen Unterschiede zwischen Dia- sischen die diatopische Zentrierung auf die
lekten des Chinesischen und andererseits an Hauptstadt Paris ab dem 13. Jahrhundert und
die Interkomprehensibilität zwischen den die endgültig sehr hohe diastratische Festle-
skandinavischen Sprachen). Vielmehr ist es gung des bon usage im Absolutismus des 17.
allein die — letztlich kontingente — Über- Jahrhunderts (vgl. Settekorn 1988, 46—64;
dachung durch eine Schriftsprache, die etwa Winkelmann 1990, 336—342). Das sprach-
festlegt, daß einerseits zwei so verschiedene interne Kriterium, nach dem als Schriftspra-
Sprachformen wie das Holsteiner Platt und che diatopische Kompromißvarietäten bevor-
das Hochalemannische gleichermaßen deut- zugt werden, ist daher nirgendwo zwingend
44.  Schriftlichkeit und Sprache 599

(vgl. den Aufstieg diatopisch randständiger neuen Vervielfältigungs- und Verbreitungs-


Varietäten wie des Londoner Dialekts bzw. möglichkeiten einen ökonomisch motivierten
des Kastilischen zur jeweiligen Standardspra- Standardisierungsbedarf schufen (vgl. G ie-
che auf G rund politischer Faktoren: Königs- secke 1991).
hof bzw. Reconquista; dazu Joseph 1984, 89). Es ist unbestreitbar, daß erst die Kodifizie-
Die sprachexternen Faktoren sind natür- rung die zu Beginn von 2. und in 4.1. be-
lich auch für das unterschiedliche Tempo und schriebenen universalen Anforderungen an
die divergierenden Prinzipien von Selektions- die Distanzsprache (maximaler Kommuni-
prozessen verantwortlich zu machen (im Rah- kationsradius, Stabilität, Prestige usw.) opti-
men der europäischen Schriftsprachentwick- mal zu erfüllen erlaubt. Insofern ist es nicht
lungen vergleichsweise mühsam und langwie- zufällig, daß Modelle der Sprachplanung die
rig etwa die genaue Festlegung der italieni- Aspekte ‘Selektion’ und ‘Kodifizierung’,
schen Schriftsprache im Verlauf der sog. Que- neben dem Ausbau (vgl. 2.2.), in den Vorder-
stione della lingua (vgl. Vitale 1984; Muljačić grund stellen (vgl. Haugen 1983; Beiträge in
1988), noch krasser der Fall des Litauischen Fodor & Hagège 1983—1990).
(vgl. Haarmann 1975, 345 f)). Andererseits liegt in der Standardisierung,
Dadurch daß Selektionsprozesse der ge- insbesondere aber der Kodifizierung auch
schilderten Art bestimmte Sprachmittel fa- eine beträchtliche G efahr (→ Art. 56, 59). Die
vorisieren, beinhalten sie immer auch ein Mo- an sich positiv zu bewertende Stabilität von
ment der Bewertung, das für die Herausbil- Schriftsprachen schlägt häufig in Konserva-
dung der präskriptiven Norm als Norm des tismus, ja Purismus um. Es kommt dann zu
Distanzbereichs entscheidend ist. Eine solche einer Erstarrung im Distanzbereich; Raum
präskriptive Norm pendelt sich häufig schon für ungehemmte Innovation bleibt nur noch
dort ein, wo bestimmte Diskurstraditionen im Nähebereich. Die Haltung der Selektions-
der Distanz (Urkunden, G esetzestexte, Lite- und Kodifizierungsinstanzen in den einzelnen
ratur, öffentliche Rede usw.; vgl. 3.) auf ein- Sprachgemeinschaften kann in dieser Hin-
zelsprachlicher Ebene Modellcharakter ent- sicht jedoch sehr unterschiedlich sein. Unter
wickeln (Kanonbildung, imitatio usw.). Sol- diatopischem Aspekt (4 in Abb. 44.2) ist die
che Konstantisierungsprozesse ohne institu- Kodifizierung in den einzelnen Sprachen un-
tionelle Eingriffe und metasprachliche Akti- terschiedlich rigoros (vgl. zu Ausgrenzung vs.
vitäten beobachten wir etwa bei der Heraus- Toleranz und Homogenität vs. Polyzentrik
bildung des klassischen Lateins als Norm der oben 4.1.). Auch was die Durchlässigkeit der
lateinischen Distanzsprache ab ca. 100 v. Chr. präskriptiven Norm für diastratisch und dia-
(vgl. die — meist impliziten — Hinweise dazu phasisch niedrige sowie ‘gesprochene’ Ele-
in Palmer 1961, 95—147). Man muß übrigens mente betrifft (Ebenen 1b, 2 und 3 in Abb.
davon ausgehen, daß auch dort, wo es keine 44.2), so reicht das Spektrum der Möglich-
Schrift gibt, mit normativen Verfestigungen keiten etwa vom liberalen Spanisch (vgl. Butt
in Varietäten der elaborierten Mündlichkeit & Benjamin 1988, VI—VIII) über das im-
(vgl. 1.2.) zu rechnen ist (vgl. Ong 1982, 23, merhin noch flexible Deutsch bis zum nach
47; Zumthor 1983, 137 ff; Akinnaso 1985, wie vor rigoros kodifizierten Französisch (vgl.
339 f). Settekorn 1988, 99—134; Winkelmann 1990,
346—352).
4.3.3. Standardisierung: Kodifizierung Wo die präskriptive Norm eine jahrhun-
dertelange Immobilität aufweist, führt die
In schriftlichen G esellschaften gehört zur wachsende Diskrepanz zwischen Distanz- und
Standardisierung neben der Selektion vielfach Nähebereich früher oder später unweigerlich
auch die Kodifizierung der Selektionsergeb- zu einer Diglossiesituation (vgl. 4.1.). Dies ist
nisse (zum Sonderfall metasprachlicher Richt- z. B. im romanisch-lateinischen Mittelalter zu
linien in einer noch mündlichen Kultur in beobachten, wo das Schriftlatein schließlich
Indien vgl. Falk 1990, bes. 116—118). An als mehr oder weniger erstarrte H-Varietät
dieser Stelle setzen, teilweise sogar im Rah- von den romanischen Volkssprachen als L-
men von Institutionen, Akademien, Sprach- Varietäten absticht (vgl. Pulgram 1950; Koch
gesellschaften usw., die metasprachlichen Ak- & Oesterreicher 1990, 129 f).
tivitäten der normativen G rammatikographie Bekannt ist in der heutigen Zeit der Ex-
und Lexikographie sowie der Orthoepie ein. tremfall der arabischen Sprachgemeinschaft,
Bei den europäischen Schriftsprachen hat hier in der das Arabische des Korans sich seit dem
die technische Innovation des Buchdrucks in 7. Jahrhundert starr kodifiziert erhalten hat
starkem Maße als Katalysator gewirkt, da die
600 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

und insofern seit Jahrhunderten als H-Varie- Durch all diese im Nähebereich jetzt ein-
tät zahllosen diatopisch extrem differenzier- setzbaren neuen Varietäten wird der Funk-
ten L-Varietäten zwischen Marokko und dem tionsbereich der Dialekte erheblich einge-
Irak gegenübersteht (vgl. Comrie et al. 1987, schränkt. Dieser Vorgang erklärt auch das
666 f, 674—677; → Art. 123, 131). punktuell schon feststellbare völlige Abster-
ben echter Dialekte (Kernzone Nordfran-
4.3.4. Reorganisation des Nähebereichs kreichs um Paris: vgl. Müller 1975, 110 f; Teile
Norddeutschlands: vgl. Mattheier 1980, 166).
Man muß sich klarmachen, daß in all jenen Eine Reorganisation des Nähebereichs kann
Sprachgemeinschaften, in denen eine Schrift- im übrigen auch dort auftreten, wo eine
sprache stark abweichende diatopische Varie- Schriftsprache eine ihr nicht unmittelbar
täten überdacht, zunächst eine diglossische verwandte Sprachform überdacht (z. B.
Situation mit Schriftsprache = H und Dia- Englisch: Irisch/Kymrisch/Schottisch-
G älisch
lekten = L entsteht. Dies muß etwa für die usw.; Französisch: Bretonisch/Elsässisch/Ok-
Sprachsituation in den niederdeutschen, mit- zitanisch usw.; Spanisch: Baskisch/Indianer-
teldeutschen und alemannisch-bairischen Tei- sprachen in Amerika usw.). Hier entstehen in
len des deutschen Sprachgebiets ab dem 17. ganz analoger Weise Regiolekte auf der Basis
Jahrhundert angesetzt werden; ähnlich in Ita- der Schriftsprache (vgl. etwa zum Englischen
lien ab dem 16. Jahrhundert außer in den in den ursprünglich keltischsprachigen G e-
sprachlich der toskanisch basierten Schrift- bieten: Leisi 1974, 179 f; zum sog. francitan:
sprache näherstehenden G ebieten Mittelita- Kremnitz 1991, 31; zum español andino:
liens. Von Diglossie kann man in solchen Fäl- Pozzi-Escot 1972); diese können sogar die
len allerdings nur so lange sprechen, wie die autochthonen Sprachformen aus nähesprach-
strikte Funktionstrennung zwischen Schrift- lichen Funktionen verdrängen und sie damit
sprache = H und Dialekten = L aufrecht unter Umständen dem Sprachtod preisgeben
erhalten bleibt, d. h. solange der Dialekt den (vgl. zum Manx-G älischen: Haarmann 1975,
Nähebereich vö l l i g beherrscht. 418 f; nicht zu vergessen zahlreiche Indianer-
In vielen Sprachgemeinschaften — übri- sprachen in Nord- und Südamerika: vgl. Mi-
gens auch in solchen ohne diglossische Aus- gliazza & Campbell 1988).
gangssituation — läßt sich nun aber folgender
Prozeß beobachten (vgl. Koch & Oesterrei-
cher 1990, 138—141, 172—176, 206—208): 5. Primat der Schriftlichkeit?
bedingt durch sprachexterne Faktoren wie
politische Einigung, Industrialisierung und Nicht selten werden in der linguistischen, vor
Migration, Alphabetisierung und Massen- allem aber in der gesellschaftlichen Diskus-
medien (Presse, Radio, TV), beeinflußt die sion Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegen-
Distanzsprache den Nähebereich direkt und einander ‘ausgespielt’: einerseits pflegt die ge-
massiv. In diesem typisch neuzeitlichen Pro- bildete Öffentlichkeit und eine ihr zuarbei-
zeß der Reorganisation des Nähebereichs ent- tende Sprachkritik Mündlichkeit als nachläs-
stehen durch Assimilation von Elementen der sig, verderbt, ja primitiv abzutun. Anderer-
Schriftsprache neue nähesprachliche Varietä- seits wird in sozialromantischer Verklärung
ten, die Regiolekte, die die eigentlichen Dia- die Mündlichkeit als unverdorben, natürlich
lekte zurück- oder sogar verdrängen: Modi- und unmittelbar gesehen, wird in einer anti-
fied Standard, ‘Regionaldeutsch’, français ré- puristischen Sprachnormenkritik Schriftlich-
gional, italiano regionale oder z. B. auch kyo- keit als repressiv abgewertet. Unabhängig von
otuu-go in Japan (vgl. Comrie et al. 1987, derartigen Wertungen betont man einerseits
860). Auf der anderen Seite differenzieren sich den entwicklungsgeschichtlichen Primat der
aus der Schriftsprache diatopisch nicht mar- Mündlichkeit; andererseits setzt man schon
kierte und diastratisch/diaphasisch niedrige seit jeher ganz selbstverständlich den Vorrang
Varietäten aus: z. B. ‘Volkssprache’, italiano der Schriftlichkeit voraus (‘Skriptismus’: vgl.
popolare (‘unitario’), español popular usw.; Harris 1980, 6); neuerdings wird aber auch
‘Umgangssprache’; français familier, collo- wieder der Primat der Schriftlichkeit aus-
quial E nglish, español coloquial. Teilweise ent- drücklich vertreten (vgl. Derrida 1967).
steht sogar eine einzelsprachliche Varietät ‘ge- Pauschalisierungen dieser Art halten einer
sprochen’ in dem in 4.1.1. definierten Sinne: sprachtheoretisch fundierten Überprüfung
das français parlé, aber auch italiano parlato, nicht stand. Zunächst einmal zwingt das in
spoken English, ‘gesprochenes Deutsch’ usw. 1.1./2. anthropologisch begründete konzep-
tionelle Kontinuum zur vorbehaltlosen An-
44.  Schriftlichkeit und Sprache 601

erkennung der gesamten Skala zwischen Nähe Stefan (ed.). 1984/85. Sprachgeschichte. Ein Hand-
und Distanz. buch zur G eschichte der deutschen Sprache und
Sodann stellt sich das Verhältnis von ihrer Erforschung. 2 Bde. Berlin/New York.
Schriftlichkeit zu Mündlichkeit anders dar, je Bossong, G eorg. 1979. Probleme der Übersetzung
nachdem, ob es um den konzeptionellen oder wissenschaftlicher Werke aus dem Arabischen in
den medialen Aspekt geht, ob man auf uni- das Altspanische zur Zeit Alfons des Weisen. Tü-
versaler, diskurstraditioneller oder einzel- bingen.
sprachlicher Ebene diskutiert. So ist in me- Bühler, Karl. 1965. Sprachtheorie. Die Darstel-
dialer Hinsicht der Primat der Mündlichkeit lungsfunktion der Sprache. Stuttgart [2. Aufl.].
unmittelbar evident. In konzeptionell-einzel- Burkhardt, Armin. 1982. G esprächswörter. Ihre le-
sprachlicher Hinsicht ist bei den oben be- xikologische Bestimmung und lexikographische Be-
schriebenen sprachgeschichtlichen Prozessen schreibung. In: Mentrup, Wolfgang (ed.), Konzepte
der Verschriftlichung mündlicher Sprachfor- zur Lexikographie. Studien zur Bedeutungserklä-
men (4.2.) und der Reorganisation des Nä- rung in einsprachigen Wörterbüchern. Tübingen,
hebereichs (4.3.4.) eine jeweils völlig gegen- 138—171.
läufige Dynamik zwischen Mündlichkeit und
Butt, John & Benjamin, Carmen. 1988. A New
Schriftlichkeit wirksam. In konzeptionell-uni-
Reference G rammar of Modern Spanish. London
versaler Hinsicht schließlich ist der phylo- und
et al.
ontogenetische Primat der Mündlichkeit qua
kommunikativer Nähe ebenso unbestritten Chafe, Wallace L. 1982. Integration and Involve-
wie der kommunikative und soziokulturelle ment in Speaking, Writing and Oral Literature. In:
Primat der Schriftlichkeit qua kommunikati- Tannen, Deborah (ed.), Spoken and Written Lang-
ver Distanz. uage: Exploring Orality and Literacy. Norwood,
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604 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. Begrün- Vitale, Maurizio. 1984. La questione della lingua.
dung einer Forschungshypothese. In: G esprochene Palermo [3. Aufl.].
Sprache. Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Wessén, Elias. 1968. Die nordischen Sprachen. Ber-
Sprache. Düsseldorf, 39—97. lin.
Stempel, Wolf Dieter. 1964. Untersuchungen zur Windisch, Rudolf. 1993. Le passage à l’écrit et la
Satzverknüpfung im Altfranzösischen. Braun- constitution d’une identité nationale: l’exemple du
schweig. roumain. In: Selig et al 1993, 149—156.
—. 1972. Die Anfänge der romanischen Prosa. In: Winkelmann, Otto. 1990. Französisch: Sprachnor-
G rundriß der romanischen Literaturen des Mittel- mierung und Standardsprache. In: LRLV, 1,
alters. Bd. I. Heidelberg, 585—601. 324—353.
Tekavčić, Pavao. 1980. G rammatica storica dell’ Wolf, Alois. 1988. Die Verschriftlichung von euro-
italiano. II: Morfosintassi. Bologna. päischen Heldensagen als mittelalterliches Kultur-
Tristram, Hildegard L. C. 1988. Aspects of Tradi- problem. In: Beck, Heinrich (ed.), Heldensage und
ton and Innovation in the Táin Bó Cuailnge. In: Heldendichtung in G ermanien. Berlin/New York,
Matthews, Richard & Schmole-Rostosky, Joachim 305—328.
(ed.), Papers on Language and Medieval Studies Zumthor, Paul. 1983. Introduction à la poésie
Presented to Alfred Schopf. Frankfurt a. M., orale. Paris.
19—38.
Ueding, G ert & Steinbrink, Bernd. 1986. G rundriß Peter Koch, Berlini
der Rhetorik. G eschichte. Technik. Methode. Stutt- Wulf Oesterreicher, München
gart [2. Aufl.]. (Deutschland)

45. Writing and Religion

1. Oral and written language transmit the word in G od’s name. One con-
2. Religion and language cept in the ancient Near Eastern-Mediterra-
3. Sacred texts nean world was that of a heavenly book. One
4. References version held that there was a celestial book
i n which human deeds were recorded. An-
other held there was a book of wisdom or
1. Oral and written language laws, which in some cases was given to a
Written language is not simply spoken lan- messenger figure, for example Moses at Sinai
guage written down. Writing, rather than sim- or Muhammed on his Ascension. Related to
ply reflecting oral language, is in fact a fun- this is the concept of an authoritative revealed
damentally different form of communication. book, the word of G od as revealed to human
The point is relevant in considering writing beings. This book became the locus of au-
and religion since the role of sacred texts in thority for the individual and the society.
a culture differs fundamentally from that of To introduce some of the aspects of the
oral sacred language. relation of writing to religion, it is necessary
to begin by describing briefly the role that
language in general, especially certain socio-
2. Religion and language linguistic aspects, plays in religion. — Lan-
guage varies. Speakers have more than one
Important to the religious life of most cultures way to say what they want to say. This is one
is an awareness at some level of a relationship of the fundamental observations of sociolin-
between language and the supernatural. For guistics. A second tenet is that speakers use
example, Jews, Christians and Muslims be- language for at least two purposes: to convey
lieve G od created the cosmos by speaking; information, and to define the social situation
some cultures have myths about the gods they are engaged in, that is, to make state-
giving humankind the power of speech; most ments about group loyalties, about the par-
cultures maintain that revelation is through ticular speech situation, or about the rela-
human language. Besides cases of divinities tionship to whomever is being addressed.
speaking directly to individuals, religions Speakers can carry out these two functions
commonly hold that G od calls persons to
604 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. Begrün- Vitale, Maurizio. 1984. La questione della lingua.
dung einer Forschungshypothese. In: G esprochene Palermo [3. Aufl.].
Sprache. Jahrbuch 1972 des Instituts für deutsche Wessén, Elias. 1968. Die nordischen Sprachen. Ber-
Sprache. Düsseldorf, 39—97. lin.
Stempel, Wolf Dieter. 1964. Untersuchungen zur Windisch, Rudolf. 1993. Le passage à l’écrit et la
Satzverknüpfung im Altfranzösischen. Braun- constitution d’une identité nationale: l’exemple du
schweig. roumain. In: Selig et al 1993, 149—156.
—. 1972. Die Anfänge der romanischen Prosa. In: Winkelmann, Otto. 1990. Französisch: Sprachnor-
G rundriß der romanischen Literaturen des Mittel- mierung und Standardsprache. In: LRLV, 1,
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Tekavčić, Pavao. 1980. G rammatica storica dell’ Wolf, Alois. 1988. Die Verschriftlichung von euro-
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45. Writing and Religion

1. Oral and written language transmit the word in G od’s name. One con-
2. Religion and language cept in the ancient Near Eastern-Mediterra-
3. Sacred texts nean world was that of a heavenly book. One
4. References version held that there was a celestial book
i n which human deeds were recorded. An-
other held there was a book of wisdom or
1. Oral and written language laws, which in some cases was given to a
Written language is not simply spoken lan- messenger figure, for example Moses at Sinai
guage written down. Writing, rather than sim- or Muhammed on his Ascension. Related to
ply reflecting oral language, is in fact a fun- this is the concept of an authoritative revealed
damentally different form of communication. book, the word of G od as revealed to human
The point is relevant in considering writing beings. This book became the locus of au-
and religion since the role of sacred texts in thority for the individual and the society.
a culture differs fundamentally from that of To introduce some of the aspects of the
oral sacred language. relation of writing to religion, it is necessary
to begin by describing briefly the role that
language in general, especially certain socio-
2. Religion and language linguistic aspects, plays in religion. — Lan-
guage varies. Speakers have more than one
Important to the religious life of most cultures way to say what they want to say. This is one
is an awareness at some level of a relationship of the fundamental observations of sociolin-
between language and the supernatural. For guistics. A second tenet is that speakers use
example, Jews, Christians and Muslims be- language for at least two purposes: to convey
lieve G od created the cosmos by speaking; information, and to define the social situation
some cultures have myths about the gods they are engaged in, that is, to make state-
giving humankind the power of speech; most ments about group loyalties, about the par-
cultures maintain that revelation is through ticular speech situation, or about the rela-
human language. Besides cases of divinities tionship to whomever is being addressed.
speaking directly to individuals, religions Speakers can carry out these two functions
commonly hold that G od calls persons to
45.  Writing and Religion 605

simultaneously precisely because language closing lines, as well as by rules of perform-


varies. The selections they make among var- ance.
ious alternatives define a social situation.
Thus sociolinguists speak of social dialects 2.2. Rituals
which depend on factors such as social class,
ethnicity, and religion. Wardhaugh (1986, 46) An important aspect of religion and language
cites the example of Baghdad where the Chris- relates to ritual. Fitzgerald (1975, 206) defines
tian, Jewish, and Muslim inhabitants all speak a ritual event as “a human undertaking in-
different varieties of Arabic. However, for the volving a complex of words and actions aimed
first two groups the variety they speak is at communication with spiritual entities or
solely within their own group, but the Muslim motivation of cosmic principles, whose pur-
variety is the lingua franca among the groups. pose is transformative and whose manner of
Christians and Jews, therefore, are likely to performance is culturally prescribed.” But not
use two varieties of Arabic: their own at only is language used in ritual, the language
home, and the Muslim variety for trade and itself becomes ritualized and embellished, as
other inter-group situations. Language can described in 2.1. with the development of
also be used to establish membership in a specialized word combinations and genres.
group by the specialized use of certain forms. Also common are a variety of cult languages
In certain religious traditions of Protestant wherein archaic or borrowed forms may be
Christianity, for example, frequent use of ex- used.
pressions such as “Thank you, Jesus” and When writing is introduced into a culture,
“Praise G od,” as well as praying and preach- one major effect is to stabilize the verbatim
ing in highly identifiable intonation patterns ritual words. Ong (1982, 64 ff.) cites Chafe’s
would mark group membership. work on the Seneca language (1982), and
suggests that ritual language as compared
2.1. Religious language with colloquial language is like writing be-
cause it has a certain permanence which col-
Of course, it is clear that in any religious loquial language does not. An oral ritual can
context, it is not the words themselves that be presented again and again, and even if it
are important as much as the combination of is not verbatim, the content, style, and for-
words and how they are used. An example mulaic structure may well remain constant
would be from the early church, where from performance to performance. An ex-
“brother” came to mean a fellow believer and ample is the Christian Eucharist. The exact
“saved” came to refer to a specific religious words attributed to Jesus in establishing this
experience, while “blood” and “lamb” came ritual do not appear in the exact same way
to carry highly symbolic values. These spe- in any two places where they are cited in the
cialized meanings persist, to the extent that New Testament. The oral traditions varied. I t
one modern English translation of the Bible took writing to stabilize the verbatim ritual
was bitterly criticized for substituting “death” words. Even in the Indian Vedas where inten-
and “suffering” for “blood” in contexts where sive effort was devoted to verbatim memori-
this was clearly the meaning. Further, relig- zation, it was only the creation of the written
ious groups often develop special uses of cer- texts which allowed for some stabilization of
tain genres. The forms and intonation pat- word-for-word consistency and for the total-
terns of Christian prayers are so well devel- ity of hymns in a collection to persist over
oped that it is not uncommon at all for be- many generations.
lievers travelling and worshiping in a lan-
guage they do not know at all to be able say
“Amen” at the correct moment. Michelle Ro- 3. Sacred texts
saldo (1975, 177—203) gives examples from The most significant aspect of the introduc-
magical spells among the Ilongot people of tion of writing relates to the formation and
the Philippines. Certain phrases, using ordi- use of sacred texts or scriptures. The expres-
nary words, are limited to spells. In addition, sion “scripture” normally refers to religious
these words are spoken with stress patterns texts which have been committed to writing.
unique to spells. Similarly, Dale Fitzgerald In the West the word “Scripture” traditionally
(1975, 205—234) describes genres which have was reserved for the Christian or Jewish Bible,
developed for use in certain rituals among the but more recently “scripture” or “the scrip-
G a of G hana. The genres can be identified tures” is used to refer to the sacred or religious
by the use of various formulae such as set
606 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

writings or books in any cultural or religious a cumulative communal tradition” (G raham


context. Westerners tend to think that these 1987, 5). That is, no text, written or oral, can
scriptures of other religions have the same be seen as sacred or authoritative in isolation
significance as the Christian or Jewish scrip- from a community. Similarly, it is within a
tures do in their contexts. This is not the case. community that scriptures are interpreted.
To begin with, there is a radical diversity in The point is often made that the Jewish Bible
form and content among the scriptures of and Christian Old Testament are identical as
different religions or even within the same far as their words, but their interpretation
scriptural text or body of material. Thus one varies. And although the Christian Bible and
finds myth and legend, historical narrative, the Qur’ān are both called word of G od,
ritual books, legal codes, ecstactic or mystical Muslims see the Qur’ān as literally G od’s
poetry, apocalyptic visions, utterances of word, while Christians see much of the Bible
prophets and teachers, divine revelations, and as descriptive accounts of the early stages of
hymns and prayers to a deity. It is also dif- their religion. Few feel bound by the laws of
ficult to delimit what texts constitute scripture Leviticus, for example. So it is that a text
since there are many marginal texts which which is seen as scripture by one group may
have certain spiritual qualities. For example, be seen as perfectly ordinary text in another,
G raham (1987, 3) cites the “classics” (ching) or even taken as meaningless, nonsensical, or
and the four “books” (shu) in Chinese tra- false. Consequently Jews would reject the
ditional culture, the Sanskrit epics of the Ma- Christian New Testament, Christians would
hābhārata and the Ramayana in India, and reject the Qur’ān, and Muslims would reject
the Nihongi and the Kojiki in Japan as books the writings of the Buddhists and the Hindus.
which inspire veneration and reverence and
deal with the faith, morals, and values they 3.1. Oral origins of scripture
sustain. But none is closely tied to liturgy or
to more traditional religious contexts. An- Writing is a recent phenomenon, and most
other problem for Westerners is that in some sacred texts began as oral compositions. As
other religions certain scriptures are more a result, they frequently retain oral charac-
highly regarded than others, even within the teristics. Ong (1982, 37 ff) gives many exam-
same religious tradition. In Mahayana Bud- ples from the Christian and Jewish scriptures.
dhism, an enormous number of texts are The oral features in the written texts range
treated as sacred. But in some segments of from formal features, such as the “ands” of
the tradition one sūtra is given more impor- the waw consecutive construction in much
tant status than it is in other segments. — Hebrew narrative, to the use of clusters of
Another problem with understanding “scrip- features (when, for example, in oral literature
ture” is related to the medium. For in most a soldier is always a brave soldier, and the
traditions the texts were originally transmit- oak is always the sturdy oak, or when set
ted orally and only written down relatively expressions are used such as birds of the air
recently. In particular in the Hindu tradition, or lilies of the field). Boomershine (1987, 146)
the Vedas have been orally transmitted for has written that in the oral age, the medium
three millennia, and even now that they have was exclusively sound. For the Jews, writing
been committed to writing, the oral text is was appropriated merely as a servant of oral
given primacy (→ art. 33). In other religions, hermeneutics until the late first century. But
too, reducing the oral traditions to writing when in the Hellenistic world writing became
was accepted only reluctantly. For example, the dominant communication system, oral
Kelber (1983, 92 ff.) reports that the early traditions were collected and organized in
church Fathers did not see the production of manuscripts, and multiple biblical manu-
written texts as a process which would sta- scripts were produced. There was a formation
bilize oral impermanence. As long as words of a canon, cantillation was developed for the
were still in the oral medium, the speaker reading of manuscripts in public worship, the
could control to some degree the context and synagogue and congregation became the main
the message. But once the words were written, places for public readings, and oral forms
then they could be interpreted by readers in of commentary on the written manuscripts
a variety of ways, and so stability was lost. evolved. In both the Pharisaic and Christian
— It is important to note that a text only Judaism traditions, the primary form for the
becomes “scripture” through an “active, sub- experience of the written tradition was the
jective relationship to persons, and as part of reading aloud of manuscripts, which were
read exactly as written. Thus not only did
45.  Writing and Religion 607

these texts retain their oral characteristics, but schools almost as a foreign language. He
great importance continued to be given to the called the two varieties “high dialect” (or H)
oral. Pharisaic Judaism did adopt a writing and “low dialect” (or L). Joshua Fishman
system as an integral part of biblical inter- (1967) expanded these terms to refer to cases
pretation, but the oral law remained primary. where two different languages served the H
The oral tradition which produced the Mish- and L functions, as for example in Paraguay
nah and the Talmud was organized around where G uarani is the L and Spanish is the H.
memorization of this oral law. Rabbinic Ju- This is significant for religion in cases where
daism did not develop written theological literacy is seen as a high status event, but the
texts, and only appropriated writing in sub- high status language form, whether a variety
ordination to orality. of the L language or a different language, is
one that must be learned in school. Religious
3.2. Texts and social status authority is then achieved through learning
to read this high language form, not through
Writing affects the assignment of authority the traditional channels of the society. I t also
and power among individuals in a society, means that converts to Islam or Christianity
including religious authority. For one thing, must learn a new language form to be prop-
almost every society which acquires writing erly initiated into the mysteries of the religion,
immediately assigns great prestige to the writ- all because of the introduction of writing.
ten word. Priests and others who have access
to it can control religious practice, and those 3.3. Assimilation of texts
who are literate use it for social and economic
advantage. The Tonga people of the Zambezi In purely oral societies, traditions are learned
River valley in Zambia provide a vivid ex- and passed on through oral means. Specialist
ample. As it was primarily the younger people priests, singers or historians memorize and
who were educated and literate, it was they repeat the traditions in oral performances.
who achieved not only political power at the Many devices aid this memorization, such as
time of independence, but also religious the use of formulas and set phrases, and
power, because as literates, only they had repetition or parallelism. But as writing pen-
direct access to the Christian Bible. They etrates a society, the mnemonic systems for
therefore could claim positions of authority preserving these traditions give way to phys-
in the church which normally would have ical texts that can be referred to independently
been reserved for their elders. The entire of individual human transmitters. The quali-
structure of society was thereby altered. — It tative differences of written from oral texts
is well documented that in many formerly are especially evident in the treatment of
illiterate societies a primary motivation for ideas, which are subject to different kinds and
learning to read has been to be able to read levels of analysis once they have been reduced
the Bible. The massive Christian missionary to fixed words on a page. Ong (1982, 8) points
efforts of the nineteenth and twentieth cen- out that literacy makes the study of texts
turies had as a major result the translation of possible, and with it, the “abstractly sequen-
the Bible in hundreds of previously unwritten tial, classificatory, explanatory examination
languages, and consequent literacy programs. of phenomena or of stated truths that is im-
But it is not always clear that people want to possible without writing and reading.” This
read and write in their own languages since means that writing changes not only the
often the vernacular has a lower status than amounts and kinds of information and ideas
one of the European languages or a major a culture collects and generates, but its fun-
lingua franca. The term “diglossia” is used by damental modes of assimilating and using
the sociolinguist Charles Ferguson (1959) and them as well. Furthermore, when a cultural
others to describe societies where two distinct tradition is transmitted orally, the texts can
varieties of language exist, one of which is be transformed to make them relevant to a
used only on formal and public occasions particular situation. But literate societies have
while the other is used by everybody under permanently recorded versions of the past
normal everyday circumstances (→ art. 60). and its beliefs.
For example, in most Arabic speaking com-
munities, the language used at home is a local 3.4. Authority of texts
version of Arabic, but the language used for
lecturing or preaching and praying in the With the exception of classical G reece and
mosque is a standard form that is sufficiently India, the writing down of texts imbues them
different from the vernaculars to be taught in with authority, even veneration. Somehow the
608 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

written word seems to bespeak authority and attempts to resolve the finality of the text by
reliability. Perhaps it is its anonymity and decoding its historical effects. It is this which
independence of particular persons which allows the message to convert persons to the
gives it this aura. Certainly the very perma- faith. The third type of meaning has more of
nence and fixity of the written page lends an eschatological thrust. Instead of perpetu-
credence to the idea that the sacred word has ating the meaning, this type of exegesis as-
always existed and always will exist. For the sumes the task of discerning a totally inno-
believers, the written sacred text becomes vative meaning of the text, normally seen to
solid and immutable. — It is interesting to be revelatory, which is actively revealing the
observe the process by which authority is society to itself under the liberating shock of
perpetuated and expanded. Revelation is al- the message. — One result of this is that the
ways the Word of G od in human language. believers look back to certain sources of their
That is, G od does not speak or write as hu- faith even though those sources may not have
mans do, but calls on persons to transmit the much in common with the currently under-
word in G od’s name. In every religious soci- stood meaning. For example, the Christian
ety based on an inaugural event, the text is New Testament quotes extensively from the
the only means of becoming contemporary G reek translation of the Hebrew Old Testa-
with the initial event, which in turn recalls ment, the Septuagint, but in many cases gives
for believers the transcendent mystery of those texts an interpretation so radically dif-
G od. The original text gradually gives birth ferent from what they had in their original
to a collection of rereadings, glosses, com- context that knowledge of the Septuagint
mentaries, and normative texts. But those in does not help interpret a quoted passage in
authority always hark back to the founder’s the New Testament.
message. Doing so exercises a function of
legitimation and reproduction for the faith 3.4.2. Indian and Zoroastrian texts
group in its exchanges with other symbolic
systems and other systems of social organi- Not all written texts acquire authority. For
zation. Thus for Christianity, in the begin- example, until the coming of Islam stimulated
ning, the rule of faith was the preaching by the writing down of the Avesta as a book,
the early witnesses of how Christ came as the most sacred Zoroastrian texts, those in
messenger of G od. Later, regulation was im- Old Persian, were transmitted and used only
posed through the ministry of the college of orally, in recitation, whereas the less sacred
Bishops and through the regulatory pro- commentaries (Zand) and other religious
nouncement of theologians. In the case of books in Pahlavi had long been written. But
Islam, a small community grew up which it is Hinduism which offers the most striking
sought to apply the Qur’ānic precepts with example of a highly developed scriptural tra-
reference to the prophetic teachings which dition in which the importance of the oral
explained them. But with the rapid expansion word has been so central as to dominate and
of the religion, there developed quickly the largely even to exclude the written word al-
need within the community for a particular together over most of its long history. Instead
social class competent in exegesis, jurispru- of being primarily a written document con-
dence, and the transmission of hadith (the taining or conveying sacredness, the Hindu
tradition other than the Qur’ān). Thus the scripture is somehow an embodiment of sa-
ecclesiastical authorities of the Roman Cath- credness itself. The Vedas are neither human
olic Church or the ’Ulama of Islam came to accounts nor tools of communication. They
possess the virtual power of defining ortho- are not seen to be “inspired,” having a deity
doxy. In Protestantism the interpreters do not as their author. Nor could the term “holy”
have such a recognized authority, but even be applied since they do not express the word
they can fulfill their function only in the of G od. They are apauruseya — authorless.
framework of a socio-historic context. The Vedas themselves declare they are Nitya
Vac — “the eternal word,” eternal not be-
3.4.1. Textual interpretation cause no author has written them nor because
no mind has thought them, but eternal be-
A community attempts different kinds of cause they are what is truly alive. Their value,
reading of their scripture. One could be called then, is experienced only through hearing
archaeological, whereby exegesis attempts to them. The numerous Vedic texts that have
indicate the original meaning, the absolutely come down to the present in apparently
normative meaning. A second type of reading highly accurate transmission date from per-
45.  Writing and Religion 609

haps as early as the end of the second millen- in Arabic is G od’s direct discourse, in Islam
nium B. C., possibly earlier. To Hindus, they there has been a consistent rejection of the
had been viewed as too holy to be committed notion of translation into other languages.
to writing at all until very recently. In fact, it This contrasts with Judaism where although
was only Max Müller’s six volumes of the there has been a tenacious insistence upon the
Rig Veda in the nineteenth century which study and use of the Hebrew language, the
permitted the text to be considered a book in pragmatic need for the congregations who do
any way. Thus the Veda text is explicitly not not know Hebrew to understand the content
a written text, but an oral one. The written of the Torah led first to the translation into
texts which a student might have are mean- G reek, the Septuagint, and the further devel-
ingless without the accompanying authorita- opment of the post-exilic targums, which are
tive, oral transmission from a qualified Aramaic paraphrases of the Torah. Christi-
teacher. The living words are only valid when anity for its part translated the sacred texts
pronounced by those who have been given into the vernacular languages from the very
authority from a valid teacher to use them. beginning, believing that the word of G od
Both their authoritative and functional form was compatible with the speech of everyday
is that of the orally recited word. life in any culture. — Another contrast is in
the attention lavished upon the physical text
3.4.3. Islamic, Jewish and Christian of the scriptural word. In all three traditions,
scriptures calligraphic art developed, but “only in Islam
has the calligraphic scriptural word become
The situation in the Islamic tradition is quite not merely the major expression of religious
different. It is probably fair to say that the art, but the dominant visible motif in the art
importance of the Qur’ān in Muslim faith of the entire surrounding culture” (G raham
and practice is especially closely related to, 1987, 86). — An important contrast relates
and in significant part derived from, the em- to the understanding of canon. The notion of
phasis on holy writ in Islam’s older sibling a canon of scriptures collected over a period
traditions of Judaism and Christianity. It is of time as G od dealt with his people in dif-
clear that Islam is not just one of the three ferent ways is peculiar to Jews and Christians,
major “book religions,” but in many ways for Muslims see revelation as having been
the most radical of the three in terms of the sent in one final culminating time in the
exalted place that it assigns to its book, both course of one prophetic career. Thus they do
ritually and theologically. — A major point not understand a process of gradual com-
of view of the Qur’ān is that throughout munal canonization as do the Jews and Chris-
history G od has sent to nation after nation tians. — Jews, Christians and Muslims all
either a prophet or apostle to lead people to believe that scripture contains the word of
a correct understanding, and the apostles in G od, but there are differences. For Muslims
particular are mentioned as genuinely having the Qur’ān is seen as the verbatim speech of
been given a divine revelation in the form of G od given once and for all through a single
a book of scripture which is to be proclaimed chosen prophet. The very word Qur’ān is a
to the people. These include the Torah given verbal noun derived from the Arabic root
to Moses, the psalms given to David, and the Q-R-’, the basic sense of which is “to recite,
G ospel sent to Jesus, as well as the Qur’ān read aloud.” The Qur’ān is the recitation G od
revealed to Muhammed. The view is that in gave to Muhammed. As followers recite it,
the earlier cases the community strayed even- they are reminded constantly of G od’s pres-
tually from the right path and allowed its ence. — For Jews, the prime medium of en-
scripture to be either lost, changed or de- counter between G od and humans is the To-
based. Consequently, the Qur’ān is a final rah, but as G raham (1987, 87) points out,
divine revelation, the last in the scriptural “Torah not understood simply as scriptural
series, the culmination and completion of the text but as divine will, cosmic order, and
revelation of G od. The Qur’ān is the Kitab human responsibility, to which the scriptural
“writing” given by G od to humankind. This Torah is the guide.” For Christians, the en-
view is distinct from that of the Christian or counter comes first and foremost through the
Jewish tradition where the generic idea of person and life of Christ (which are accessible,
scripture developed relatively late in the his- but not exclusively so, in scripture). In Islam,
tory of the religion. For Islam it is part and on the other hand, it is in the concrete text,
parcel of the history of prophecy and reve- the very words of the Qur’ān, that Muslims
lation from the beginning. Because the Qur’ān
610 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

most directly experience G od. Scripture for guage: exploring orality and literacy. Norwood,
Muslims is itself the divine presence as well N. J., 35—53.
as the mediator of divine will and divine Ferguson, Charles. 1959. Diglossia. Word 15,
grace. In the Qur’ān, G od speaks with his 325—40.
own voice, not through inspired human writ- Fishman, Joshua. 1967. Bilingualism with and
ers. Thus it is not an exaggeration to compare without diglossia; diglossia with and without bilin-
Qur’ān recitation with the Christian Eucha- gualism. Journal of Social Issues 32, 29—38.
rist, nor to say that the closest equivalent to Fitzgerald, Dale K. 1975. The language of ritual
the Qur’ān for the Christian is not the Bible events among the G a of southern G hana. In:
but the person Jesus Christ, who is the word Sanches & Blount, 205—234.
of God incarnate in the Christian tradition.
G raham, William A. 1987. Beyond the written
It is clear that one of the primary results
word: Oral aspects of scripture in the history of
of introducing writing in a religion has to do
religion. Cambridge.
with the assignment of authority. Either the
written word itself becomes authoritative, or Kelber, Werner H. 1983. The Oral and the Written
its existence sets the stage for authority to be G ospel: The Hermeneutics of speaking and writing
assigned to those who have access to it and in the synoptic tradition, Mark, Paul, and Q. Phil-
interpret it for the community. adelphia.
Ong, Walter J. 1982. Orality and literacy: The tech-
nologizing of the word. London.
4. References Rosaldo, Michelle Z. 1975. It’s All Uphill: The
creative metaphors of Ilongot magical spells. In:
Boomershine, Thomas E. 1987. Biblical Mega-
Sanches & Blount, 177—203.
trends: Towards a paradigm for the interpretation
of the Bible in electronic media. In: Seminar Papers, Sanches, Mary & Blount, Ben G . (ed.). 1975. So-
Society of Biblical Literature. ciocultural dimensions of language use. New York.
Chafe, Wallace L. 1982. Integration and involve- Wardhaugh, Ronald. 1986. An Introduction to so-
ment in speaking, writing, and oral literature. In: ciolinguistics. Oxford.
Tannen, Deborah (ed.). Spoken and written lan-
Philip C. Stine, Reading (England)

46. Schriftlichkeit und Recht

1. Überblick dellen des Schriftrechts erklären wollen. Weite


2. Objektivierung und Vergegenständlichung Teile der Bedeutung der Verschriftlichung von
3. Gesetzespositivismus Recht können wir uns nur schwer anschaulich
4. Rechtsvereinheitlichung machen (vgl. Knoop 1983, 162). Am ehesten
5. Funktionen der Urkunden- und Schriftform gelingt der Versuch, indem wir uns die Kon-
6. Publizitätsfunktion sequenzen eines gänzlich schriftlos gelebten
7. Gestaltungsfunktionen des Privatrechts Rechts erarbeiten. G rundsätzlich leistet die
8. Rechtswissenschaft Schrift die Verstetigung und Bewahrung von
9. Rechtsprechung Regeln und Absprachen durch deren Verge-
10. Rechtsbewußtsein genständlichung (2). Indem das Recht als Text
11. Literatur von der es tragenden Rechtsgemeinschaft ab-
lösbar und der nur noch von Technik und
Organisation abhängigen massenhaften Ver-
1. Überblick breitung zugänglich wird, dient es zunächst
einmal der Darstellung und Umgestaltung,
Die Schriftform prägt das Recht in grundle- der Vereinheitlichung und Intensivierung von
gender und vielgestaltiger Weise. Die Selbst- Herrschaft: Schriftlichkeit ermöglicht G esetz-
verständlichkeit, mit der wir diese Prägungen gebung (3) und Rechtsvereinheitlichung (4).
leben, stand der Aufarbeitung des Phänomens Die Schriftform führt verbesserte Beweis- und
auch in der Rechtswissenschaft lange entge- Publizitätsfunktionen herauf (5, 6). Sie erwei-
gen. Die Rechtstheorie hat es ignoriert. Die tert das G estaltungspotential auch in außer-
Rechtsgeschichte hat die Rechtsgewohnheiten herrschaftlichen Lebensbereichen (7). Ohne
(custom, coutume) des Mittelalters mit Mo-
610 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

most directly experience G od. Scripture for guage: exploring orality and literacy. Norwood,
Muslims is itself the divine presence as well N. J., 35—53.
as the mediator of divine will and divine Ferguson, Charles. 1959. Diglossia. Word 15,
grace. In the Qur’ān, G od speaks with his 325—40.
own voice, not through inspired human writ- Fishman, Joshua. 1967. Bilingualism with and
ers. Thus it is not an exaggeration to compare without diglossia; diglossia with and without bilin-
Qur’ān recitation with the Christian Eucha- gualism. Journal of Social Issues 32, 29—38.
rist, nor to say that the closest equivalent to Fitzgerald, Dale K. 1975. The language of ritual
the Qur’ān for the Christian is not the Bible events among the G a of southern G hana. In:
but the person Jesus Christ, who is the word Sanches & Blount, 205—234.
of God incarnate in the Christian tradition.
G raham, William A. 1987. Beyond the written
It is clear that one of the primary results
word: Oral aspects of scripture in the history of
of introducing writing in a religion has to do
religion. Cambridge.
with the assignment of authority. Either the
written word itself becomes authoritative, or Kelber, Werner H. 1983. The Oral and the Written
its existence sets the stage for authority to be G ospel: The Hermeneutics of speaking and writing
assigned to those who have access to it and in the synoptic tradition, Mark, Paul, and Q. Phil-
interpret it for the community. adelphia.
Ong, Walter J. 1982. Orality and literacy: The tech-
nologizing of the word. London.
4. References Rosaldo, Michelle Z. 1975. It’s All Uphill: The
creative metaphors of Ilongot magical spells. In:
Boomershine, Thomas E. 1987. Biblical Mega-
Sanches & Blount, 177—203.
trends: Towards a paradigm for the interpretation
of the Bible in electronic media. In: Seminar Papers, Sanches, Mary & Blount, Ben G . (ed.). 1975. So-
Society of Biblical Literature. ciocultural dimensions of language use. New York.
Chafe, Wallace L. 1982. Integration and involve- Wardhaugh, Ronald. 1986. An Introduction to so-
ment in speaking, writing, and oral literature. In: ciolinguistics. Oxford.
Tannen, Deborah (ed.). Spoken and written lan-
Philip C. Stine, Reading (England)

46. Schriftlichkeit und Recht

1. Überblick dellen des Schriftrechts erklären wollen. Weite


2. Objektivierung und Vergegenständlichung Teile der Bedeutung der Verschriftlichung von
3. Gesetzespositivismus Recht können wir uns nur schwer anschaulich
4. Rechtsvereinheitlichung machen (vgl. Knoop 1983, 162). Am ehesten
5. Funktionen der Urkunden- und Schriftform gelingt der Versuch, indem wir uns die Kon-
6. Publizitätsfunktion sequenzen eines gänzlich schriftlos gelebten
7. Gestaltungsfunktionen des Privatrechts Rechts erarbeiten. G rundsätzlich leistet die
8. Rechtswissenschaft Schrift die Verstetigung und Bewahrung von
9. Rechtsprechung Regeln und Absprachen durch deren Verge-
10. Rechtsbewußtsein genständlichung (2). Indem das Recht als Text
11. Literatur von der es tragenden Rechtsgemeinschaft ab-
lösbar und der nur noch von Technik und
Organisation abhängigen massenhaften Ver-
1. Überblick breitung zugänglich wird, dient es zunächst
einmal der Darstellung und Umgestaltung,
Die Schriftform prägt das Recht in grundle- der Vereinheitlichung und Intensivierung von
gender und vielgestaltiger Weise. Die Selbst- Herrschaft: Schriftlichkeit ermöglicht G esetz-
verständlichkeit, mit der wir diese Prägungen gebung (3) und Rechtsvereinheitlichung (4).
leben, stand der Aufarbeitung des Phänomens Die Schriftform führt verbesserte Beweis- und
auch in der Rechtswissenschaft lange entge- Publizitätsfunktionen herauf (5, 6). Sie erwei-
gen. Die Rechtstheorie hat es ignoriert. Die tert das G estaltungspotential auch in außer-
Rechtsgeschichte hat die Rechtsgewohnheiten herrschaftlichen Lebensbereichen (7). Ohne
(custom, coutume) des Mittelalters mit Mo-
46.  Schriftlichkeit und Recht 611

die Schrift als einem Außenspeicher für rung des Sinngehaltes einer Aussage ist aller-
G edächtnisinhalte (Klein 1985, 10, 33) gibt es dings auch im Schriftrecht ein großes Pro-
keine Wissenschaft vom Recht (8). G esetztes, blem.
wissenschaftlich vermitteltes und bearbeitetes Die Objektivierung von Recht in der
Recht führt zu spezifischen Formen der Schrift bedeutet nicht, daß den Produkten der
Rechtsprechung (9). Schließlich bestimmt Verschriftlichung notwendigerweise G esetzes-
Schriftlichkeit das allgemeine Rechtsbewußt- charakter zukommen müsse. Zu unterschei-
sein (10). den sind vielmehr Rechtsaufzeichnung und
Die nachfolgend erörterten Ausprägungen G esetzesrecht nach ihrem G eltungsgrund.
der Schriftlichkeit im Recht sind weder ab- Das G esetz gilt nicht kraft Schriftform, son-
schließend gemeint, noch können sie in der dern allein kraft einer entsprechenden Wil-
ganzen Vielfalt ihrer Wechselbezüglichkeit lensäußerung eines irdisch-gegenwärtigen G e-
und ihrer Verschränkungen mit anderen Kul- setzgebers. Dessen Wille bringt es als Norm
turelementen erfaßt und dargestellt werden. ebenso zur Entstehung wie zum Erlöschen.
Zudem bleiben sie — was ohne Abstriche klar- Es entzieht sich allen außerhalb dieses Willens
gestellt sein soll — trotz aller erstrebten Aneig- liegenden Legitimationen. Dieser G esetzes-
nung weltumspannend angelegter anthropo- positivismus führt eine besondere Qualität des
logisch-linguistischer Erkenntnisse über Ver- Schriftrechts herauf. Das nur aufgezeichnete
schriftlichung dem Erfahrungshorizont des Recht hingegen bleibt seinen schriftlosen An-
kontinentaleuropäischen Rechts und seiner fängen zumindest teilweise verhaftet. Die
Geschichte verhaftet. Rechtsaufzeichnungen werden in unterschied-
licher Weise partiell autoritativ angereichert.
Und zwar ist gerade die Schriftform des ehe-
2. Objektivierung und dem schriftlosen Rechts der Rezeptor, von
Vergegenständlichung dem her die Autorität längst verblichener G e-
Als G edankeninhalt bedarf das Recht der Ob- setzgeber oder die zunächst außerrechtliche
jektivierung in einem Medium. Als solches Ordnungs- und Befehlsgewalt gegenwärtiger
kommen in Betracht: das ritualisierte oder Herren die Rechtsgewohnheiten in einem
schlicht einvernehmlich-konsensuale Handeln langwierigen und langandauernden Prozeß
(Levy-Bruhl 1963, 325; Weitzel 1985, 42 f), durchdringt und letztendlich zum G esetzes-
das Wort und die Schrift. Das gesprochene recht umgestaltet. Theoretisch kann man sich
Wort ist flüchtig, an den Sprechenden und wohl ein durch das gesprochene Wort eines
die Situation gebunden. Zur Objektivierung G ewalthabers existierendes, in diesem Sinne
des „nur in den Köpfen der Mitglieder der positives Recht schriftloser G esellschaften
G emeinschaft“ (Klein 1985, 30) lebenden vorstellen. Realiter aber hat das Wort allein
Rechts bedarf es deshalb des wiederholten, — jedenfalls in der nachantiken europäischen
meist formalisierten Rechtsgesprächs, typi- G eschichte und trotz gegenteiliger Ambitio-
scherweise der Sühne- oder G erichtsverhand- nen von Naturrecht und totalitärer Diktatur
lung. Die Notwendigkeit zur Objektivierung — dem Wollen von Einzelnen Rechtsgeltung
des Rechts im Wort erwächst dabei grund- nicht vindizieren können. Das Wort allein ist
sätzlich erst aus dem Rechtskonflikt und der offenbar nur sehr schwer so zu organisieren,
Unklarheit über das Recht. Außerhalb dieser daß es den G eltungsanspruch des individuel-
punktuell bleibenden Objektivierungen ist das len Wollens gegen die im G emeinschaftsbe-
schriftlose Recht oft noch in der Selbstver- wußtsein religiös-sittlich und/oder traditio-
ständlichkeit des G emeinschaftsbewußtseins nal-konsensual begründeten Rechtsvorstel-
verborgen. Es unterliegt mehrheitlich unbe- lungen durchsetzen könnte.
Das in der Schrift vergegenständlichte,
wußtem Wandel, selten bewußter Änderung. doch nicht herrschaftlich-staatlich gesetzte
Die Schrift hält eine rechtliche Aussage auf Recht kennt viele Erscheinungsformen. I n der
Dauer fest und fixiert den Aussagewert stär- europäischen G eschichte sind die meisten von
ker als das gesprochene Wort es tut. Die Aus- ihnen durch das Vorbild der römischen Kai-
sage wird nicht aus dem sich ständig aktua- sergesetzgebung beeinflußt, das nur für zwei
lisierenden kollektiven G edächtnis der schrift- oder drei Jahrhunderte verblaßt war. Das an-
losen G esellschaft ausgeschieden. Es bleibt tike Vorbild ist eine nicht zu unterschätzende
auch das Unzeitgemäße gegenwärtig. Die Besonderheit der zur Moderne hinführenden
Schrift ermöglicht so einen von den Realien europäischen Entwicklung. Die frühmittelal-
abgelösten Sinngehalt von Recht. Die Bewah- terlichen Volksrechte (Schott 1988) sind —
612 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

von ein paar Satzungsversuchen abgesehen — aber konnte dieser G esetzgeber nur, daß die
ebenso Rechtsaufzeichnungen wie die Rechts- letztlich naturrechtlichen Normen in der je-
bücher des hohen Mittelalters und die seit weiligen societas als ius civile oder ius positi-
1454 auf königlichen Befehl hin niederge- vum gelten sollten, daß ihre Verletzung mit
schriebenen französischen coutumes. Im Zuge irdischen Sanktionen bedroht sei und daß die
der Aufzeichnung wurde das bislang schrift- Gerichte dieses Recht anzuwenden hätten.
lose nordfranzösische Recht bereinigt und ge-
sichert, es wurde für gelehrte Juristen an-
wendbar und es konnte gelehrt traktiert wer- 3. Gesetzespositivismus
den — doch es blieb coutume. Die Autorität Das heutige Recht ist das Endprodukt jenes
des Rechts verlagerte sich allmählich aus dem langwierigen Prozesses der Anreicherung von
Wort der rechtskundigen Laien in den wis- Schriftrecht mit autoritativen Elementen.
senschaftlich behandelten Text, doch blieb Seine wesentlichste Erscheinungsform ist das
man sich dieses Zusammenhangs bewußt; die- G esetz, d. h. dieses Recht gilt auch und ge-
ses Recht unterlag nicht dem Befehl des Kö- rade inhaltlich kraft seiner Setzung durch
nigs (Levy-Bruhl 1963, 326). Der um 1220 einen G esetzgeber, nicht kraft Religion, Sit-
von einem rechtskundigen Laien (Schöffen) te, Moral, Tradition oder gesellschaftlicher
abgefaßte Sachsenspiegel galt dem 14. und
15. Jahrhundert als ein von Karl dem G roßen Übung, die es gleichfalls stützen mögen. Es
den Sachsen gewährtes privilegiales Sonder- ist abstraktes, per definitionem von der An-
recht. Dahinter steht der auch sonst im Spät- erkennung durch die Rechtsunterworfenen
mittelalter verbreitete G edanke einer unvor- unabhängiges Recht. Die Anerkennung ist ein
denklichen G esetzgebung. Kraft ihrer Schrift- Problem des politischen Systems, im übrigen
form gewann die Rechtsaufzeichnung An- etwas Faktisches. Das Recht ist generell und
schluß an das als G esetzesrecht geltende Cor- umfassend durch G esetz machbar, jederzeit
pus Iuris Civilis und dessen gelehrte Bearbei- änderbar und aufhebbar. All dies muß prin-
tung (Classen 1977, 349 ff). Die Berufung auf zipiell durch bewußte Entscheidung des G e-
einen unvordenklichen G esetzgeber, der das setzgebers geschehen. Der Prototyp dieses
ihm zugeschriebene Recht bestimmt nicht Rechts ist die Kodifikation seit dem ausge-
mehr ändern würde, schützte die gewohn- henden 18. Jahrhundert. Für frühere Zeiten
heitsrechtliche G eltung dieser Normen: auch ist der Begriff Kodifikation meist fehl am
ein gegenwärtiger G esetzgeber konnte sie ge- Platze. Im Extremfall ist alles ältere, ent-
gen eine seit Jahrhunderten anerkannte Au- gegenstehende wie gleichlautende (G ewohn-
torität und Tradition nicht ändern. Dies galt heits-)Recht abgeschafft, werden gewohn-
im Prinzip auch für das Corpus Iuris Civilis heitsrechtliche und richterrechtliche Rechts-
selbst. Andere Rechtsaufzeichnungen entstan- bildung ausdrücklich verboten. In system-
den durch das Sammeln, Bereinigen und Sy- theoretischer Sicht spricht Luhmann 1988
stematisieren von Rechtssprüchen. G enerell von der Positivität als der „Selbstbestimmt-
gesehen war das weltliche Recht nördlich der heit“ des Rechts, die sich in einer sonstige Le-
Alpen zwischen 1450 und 1750 ein auf der gitimationsgrundlagen ignorierenden „Ent-
Schriftform von Rechtsaufzeichnungen beru- scheidungsbestimmtheit“ zeige. Das Konzept
hendes Wissenschaftsrecht. Noch das Natur- des G esetzespositivismus wirft die Frage nach
recht im sogenannten Absolutismus räumte dem Stellenwert der Rechtsbildung durch
dem Herrscher keine umfassende G esetzge- Rechtsprechung im gewaltenteilenden Rechts-
bungsmacht ein. Indem die naturrechtlichen staat auf. Sie findet unterschiedliche Antwor-
Systeme das wissenschaftlich-positiv geltende ten, kann jedoch das G esamtbild, ebenso wie
gemeine Recht ignorierten und die G eltung das gelegentlich noch auftretende G ewohn-
des Rechts philosophisch begründeten, sahen heitsrecht, nur am Rande verändern.
sie sich zur Unterscheidung von Inhaltsbefehl Der grundlegende Wandel des Rechts durch
und G eltungsbefehl veranlaßt (Weitzel 1983). Schriftlichkeit wird deutlich dann, wenn man
Die Inhalte des Rechts waren mit wenigen den G esetzespositivismus direkt mit der G el-
Ausnahmen in der Natur oder Vernunft, d. h. tungsweise des nur im Wort objektivierbaren
sittlich-moralisch oder auch empirisch-ver- Rechts konfrontiert. Das schriftlose Recht des
Mittelalters war herrschafts- und staatsfern.
gleichend vorgegeben. Über sie konnte der Es lebte überwiegend in genossenschaftlich
Herrscher nicht verfügen. Er konnte sie nur strukturierten Personenverbänden. Der Herr-
interpretierend gestalten (lassen), was in der scher konnte in konkreten Zusammenhängen
Praxis eine ganze Menge bedeutete. Befehlen gebieten, nicht aber abstrakt geltende Nor-
46.  Schriftlichkeit und Recht 613

men hervorbringen. Seine G ebotsgewalt war schriftlichung des Rechts durchaus nicht an-
zudem gegenständlich beschränkt. Er konnte geschlossen, sie haben das Schriftrecht viel-
gebieten in militärischen und wohl auch in mehr bewußt ignoriert, ja bekämpft (vgl. Ong
gewissen administrativen Angelegenheiten. Er 1987, 97). Erst spät waren sie bereit, ihre
konnte begünstigende Rechtsakte in Form Sprüche schriftlich mitzuteilen. Sie haben kei-
von Privilegien erlassen und er konnte das nerlei Anstrengungen unternommen, ihr
von der — bei ihm versammelten — G erichts- Recht schriftlich und in verwissenschaftlichter
gemeinde gefundene Urteil gebieten, d. h. sei- Weise darzustellen oder zu lehren. Es waren
nen Vollzug anordnen und notfalls mit G e- gelehrte Juristen und außerhalb der Spruch-
walt durchsetzen. Das Recht selbst aber stand verbände stehende Rechtskundige, die sich
in der Kompetenz der jeweiligen Rechtsge- in interpretierender und systematisierender
meinschaft, die es auch im Konflikt — als Weise des einheimischen Rechts konkurrie-
G erichtsgemeinde unter dem verfahrenslei- rend annahmen. Es lag die Enthaltsamkeit
tenden Vorsitz eines Herrn — handhabte. Das der Schöffen nicht darin begründet, daß sie
Recht gründete im Konsens, in der jeweils sich nicht hätten schriftkundig machen kön-
konkreten (Vollrath 1981, 583) Anschauung nen. Man wird vielmehr von einer mentalen
darüber, was rechtens sei. Waren sich die Par- Distanz zur Schrift ausgehen müssen. Das
teien einig, so bestimmte ihr Konsens, was — Oberbayerische Landrecht von 1346 dachten
ihr — Recht sei. Lagen sie im Streit, so galt sich Kaiser Ludwig der Baier und seine Söhne
der im gerichtlichen Verfahren gewonnene wohl als G esetz. Nach ihm sollte von wort ze
Konsens der Rechtsgemeinde. Außerhalb des wort, von stuk ze stuk gerichtet und bei Un-
konkreten Konsenses gab es grundsätzlich klarheiten am Hof nachgefragt werden. So-
keine Rechtsgeltung. Die Zwangsstruktur des bald aber die zu entscheidende Frage nicht
Rechts war eine mittelbare, auf das Wollen wortwörtlich im Text geregelt war, klappten
der Rechtsunterworfenen angewiesene. Wer die Richter das Buch zu und befragten nach
sich dem Wort der G erichtsgemeinde nicht altem Stil die Urteiler. Im Buch sah man
stellte oder es nicht akzeptierte, gegen den offenbar die Aufzeichnung eines durch Her-
konnte das Recht nicht positiv gestaltend, renwort festgelegten Auszuges aus dem (G e-
sondern „nur noch“ durch Ausschluß aus der wohnheits-)Recht. Das Herrenwort konnte
Rechtsgemeinschaft vorgehen. — Das Urteil aber allenfalls dem exakt benannten, nicht
war sowohl konkrete Fallösung als auch dem nächstbenachbarten Fall gelten. Die
punktuelle Objektivierung des Rechts. Recht Magdeburger Schöffen erklärten noch im 15.
und Urteil gründeten häufig in religiösen und Jahrhundert, die Autorität des Rechts liege
sittlichen Wertungen sowie in Traditionen. Im allein in ihrem Wort, nicht in irgendwelchen
Konflikt aber galt das Recht nur deshalb, weil Rechtstexten (Weitzel 1991). Bei welchem
die G erichtsgemeinde im formalisierten Ver- G rade von Verschriftlichung der G esellschaft
fahren eine entsprechende Überzeugung ge- die mitteleuropäischen Laienurteiler von sich
bildet hatte. Auch Präjudizien spielten keine aus zum Schriftrecht gefunden hätten, läßt
aus der Tradition herausragende Rolle. Man sich nicht sagen. Historisch konkret wurden
mochte sich gelegentlich früherer Urteile er- die Schriftform des Rechts und der schließli-
innern. Blieb der Fall gleichwohl im Streit, so che Übergang zum G esetz aus dem der Antike
mußte erneut, also jeweils konkret, das ge- näherstehenden Italien rezipiert. Dort hatte
genwärtige Recht im Wort objektiviert wer- man sich im 12. Jahrhundert die Denkfiguren
den. Mangels wissenschaftlicher Auswertung des ius positivum und des legem ponere wieder
nahmen Urteile durchweg am Prozeß des kol- angeeignet. In Mitteleuropa eilte trotz gün-
lektiven Vergessens und an der Umformung stiger Allgemeinbedingungen der Rezeption
der Überlieferung teil, selbst wenn sie oder — nämlich zunehmender Verschriftlichung
jedenfalls der Ausgang des Streites aufge- und Kaisertradition — der G esetzesgedanke
zeichnet wurden. Allein die Schriftform von für Jahrhunderte der Wirklichkeit voraus,
Entscheidungen führt also ein Präjudizien- weil die gesellschaftlich-politischen Verhält-
recht nicht herauf (G oody 1986, 141 ff). Des- nisse, denen der Positivismus aufgesetzt wer-
sen Anfänge liegen im 12. und 13. Jahrhun- den sollte, ihn nicht trugen. Es gab allenfalls
dert. — Das Recht bezog also seine Autorität im engen Raum einiger Städte die Ansamm-
aus dem konsentierten Wort je konkreter lung politischer Macht, die die im herkömm-
Rechtsgemeinden und Urteilergremien. Diese lichen G erichtsverfahren festgelegte G ewal-
Laienurteiler nun haben sich der im 14. und tenteilung, das Ständewesen sowie das am
15. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Ver- Corpus Iuris Civilis orientierte Richter- und
614 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Wissenschaftsrecht hätte überwinden können. sie ist ausnahmsweise gesetzlich vorgeschrie-


Erst das 18. Jahrhundert hat entsprechende ben. Soweit das G esetz die Schriftform ver-
Instrumente in der Hand von Landesherren langt, können mit ihr mehrere Ziele verfolgt
hervorgebracht. Das 19. Jahrhundert wurde werden. Neben die Beweisfunktion der Schrift
dann die hohe Zeit des Positivismus. tritt ihre Warnfunktion. Der weniger spon-
tane, gravierenden Rechtsfolgen vorbehaltene
Schriftakt soll vor übereilten Festlegungen
4. Rechtsvereinheitlichung schützen. Das Erfordernis der Schriftlichkeit
Das heutige Recht gilt, verglichen mit dem dient ferner dazu, umfangreiche Rechtshand-
der Vergangenheit, zumeist großräumig. In lungen, an denen möglicherweise etliche
Europa stellt es sich grundsätzlich als ein in- Rechtssubjekte beteiligt sind, abschließend zu-
nerhalb der G renzen der Nationalstaaten ein- sammenzufassen (Sammlungsfunktion), den
heitliches Recht dar. Es ist dies das Ergebnis maßgeblichen Text exakt festzustellen (Klar-
mehrerer Schübe der Vereinheitlichung von stellungsfunktion), ihn zu sichern, beweisfä-
Recht. Eine wesentliche Voraussetzung für de- hig und gegebenenfalls publikationsfähig zu
ren Erfolg war die Schriftform des Rechts machen (Kirchhof 1987). Entwickelte Schrift-
(vgl. G oody 1986, 134 f). Mit ihrer Hilfe kulturen kennen nicht nur die Beweisurkun-
konnten die auf Erfahrung und mündlich de, sondern erkennen der Urkunde oder einer
vermittelter Rechtstradition beruhenden und Registereintragung auch dispositive (konsti-
deshalb meist kleinräumigen Recht-(Spre- tutive) Wirkungen zu. Sie bezeugt in diesem
chung-)skreise überwunden werden. Fall nicht den außerhalb ihrer selbst vollzo-
genen Rechtsakt, sondern ihre Errichtung als
solche stellt den verfügenden, die Rechtszu-
5. Funktionen der Urkunden- und ständigkeit ändernden Rechtsakt dar. Die dis-
Schriftform positive Urkunde ist in Europa seit dem 13.
Jahrhundert (wieder) bekannt. Im Mittelalter
Schriftliche Formen der Beweisführung sind hat, ganz abgesehen davon, daß die Privat-
vertrauenswürdiger, können auch leichter urkunde für Jahrhunderte verschwand, selbst
Räume und Zeiten überwinden als mündliche. die Beweisfunktion Einbußen erlitten. Die
Zeugenaussagen unterliegen Mängeln schon Urkunde wurde anderen zu symbolischen
aus fehlerhafter Wahrnehmung. Soweit dieses Handlungen benutzten G egenständen (Erd-
Risiko bei G eschäftszeugen — im G egensatz scholle, Strohhalm u. a.) gleichgeachtet. Und
zu Zufalls- oder Augenzeugen — einge- sicher wurden Schrift und Rechtstext gele-
schränkt werden kann, ist die Leistungsfähig- gentlich auch zu Objekten magischer Vorstel-
keit von Zeugen doch an ihre Lebenszeit und lungen (Rörig 1953; Ong 1982, 98).
ihr Erinnerungsvermögen gebunden. Hinzu
kommt, daß das schriftliche Zeugnis leichter
organisiert und verwaltet werden kann. Ur- 6. Publizitätsfunktion
kunden sind schriftliche, unter Beachtung be-
stimmter Formalien aufgezeichnete Erklärun- Bestimmte Rechtsverhältnisse, insbesondere
gen, die dazu bestimmt sind, als Zeugnis über Eigentum, G rundpfandrechte, Verwaltungs-
Vorgänge rechtlicher Art zu dienen. Für das und Vertretungsbefugnisse, müssen im In-
Strafrecht kann jedes Schriftstück beweiser- teresse des Rechtsverkehrs offengelegt wer-
heblich sein. In voll entwickelten Schriftkul- den. Das Recht bedarf ferner in Zweifelsfäl-
turen werden Urkunden durch die Unter- len einer Vermutungsbasis, aufgrund deren
schrift des Ausstellers, durch Unterschriften es vornehmlich Eigentumsrechte zuordnen
weiterer am G eschäft beteiligter Personen kann. Zu diesem Zwecke werden die verschie-
oder gar durch Unterschrift und Siegel einer densten öffentlichen Register geführt (G oody
in amtlicher Weise mit der Ausstellung be- 1986, 154 ff). Solche Register kannten schon
trauten Person, im Privatrechtsverkehr des Ägypten und die römische Antike. In Mittel-
Notars, als authentisch ausgewiesen. G rund- europa kann das G rundbuch inzwischen auf
sätzlich aber werden im Privatrecht Rechts- eine 800jährige G eschichte zurückblicken. In
wirkungen schon durch mündliche Erklärun- der hoch- und spätmittelalterlichen Stadt hat
gen erzeugt. Die Schrift hat also prinzipiell man Register und Bücher auch über Verpfän-
nur eine das Wort unterstützende Funktion. dungen, Schulden, Handelsgesellschaften, den
Die Urkunden- oder Schriftform von G e- ehelichen G üterstand und anderes mehr ge-
schäften wird folglich freiwillig beachtet oder führt. Zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert
wurde die Publizität von G rundstücksge-
46.  Schriftlichkeit und Recht 615

schäften dadurch gewahrt, daß entsprechende Rechtsinstituten selbst ergänzenden Lehrge-


förmliche Rechtshandlungen öffentlich, meist bäude oder Normensystem unschwer plausi-
vor öffentlicher G erichtsversammlung vor- bel machen läßt. Wissenschaftspositivismus
genommen werden mußten. Die Publikation und G esetzespositivismus sind in solchen sel-
von G esetzestexten war über viele Jahrhun- ten vollends eingelösten, doch gerade als Sim-
derte hin ein Problem, das erst durch die volle plifizierung breitenwirksamen Denkmodellen
Literalität der G esellschaft angemessen gelöst benachbarte Optionen. Rechtswissenschaft
werden konnte. war schon in der Antike eine an Schrift ge-
bundene Erscheinung. Restbestände eines an
der Schriftform orientierten Verständnisses
7. Gestaltungsfunktionen des von Recht und von Rechtswissenschaft über-
Privatrechts lebten in Italien. Die neue Wissenschaftlich-
Die Schriftform des Rechts ermöglicht nicht keit des Rechts ging dann aus der Wiederent-
nur den jeweiligen Herrschaftsträgern eine deckung des vollständigen Corpus Iuris Ci-
teilweise abundante normative Regelungstä- vilis und der sich diesem Text in mehreren
tigkeit. Sie eröffnet auch dem Rechtsverkehr Stufen der Verständnisgewinnung, Harmoni-
unter Privaten die Möglichkeit, das Instru- sierung und Exegese widmenden Rechtsschule
ment des Vertrages in einer ohne die exter- von Bologna hervor. Um 1140 stellte, eben-
nalisierenden Wirkungen der Schrift undenk- falls in Bologna, G ratian sein berühmtes De-
baren Häufigkeit und Differenziertheit zu cretum, eine Sammlung von Regeln des Kir-
nutzen (vgl. G oody 1986, 147 ff). Sowohl in chenrechts, zusammen. Rechtswissenschaft ist
der massenhaften Nutzung als auch in der in europäischer Tradition also von vornherein
durch die Schrift ermöglichten Komplexität Textwissenschaft. — Es kann nachfolgend
der einzelnen Vertragswerke ist ein gewaltiges nicht darum gehen, sämtliche Konsequenzen
soziales G estaltungspotential angelegt. Das der Verwissenschaftlichung des Rechts auf-
private Schriftrecht organisiert wesentliche zulisten. Die wichtigsten sind die Ausbildung
Lebensbelange eines jeden Individuums, das eines gelehrten Berufsstandes der Juristen und
gesamte Wirtschaftleben, die gesellschaftli- die damit einhergehende Rechtsferne des
chen Großverbände. Durchschnittsbürgers; die Überantwortung
des Rechts an einen fachkundigen, in Dien-
sten stehenden Stab. Ferner: die Entwicklung
8. Rechtswissenschaft abstrakter Rechtsfiguren und begrifflich ge-
faßter Zusammenhänge in allgemeinen Lehr-
Wissenschaftlicher Bearbeitung ist nur das sätzen, deren Ausbau zu einem auf Wi-
Schriftrecht zugänglich. Die G egenständlich- derspruchsfreiheit angelegten Lehrgebäude
keit der Rechtsregeln und Rechtsmeinungen, (Dogmatik). Es geschah dies zuerst in etlichen
ihre „Speicherung“ außerhalb des G edächt- den römisch-kanonischen Texten verpflichte-
nisses lassen das Recht in einem ganz neuen ten Rechtsschulen, die den Text zunächst als
Umfang zum G egenstand der Reflexion und „Offenbarung“ nahmen, ihn späterhin aber
Kritik sowie theoretisch-systematischer Über- auch mit der Praxis konfrontierten und so ein
legungen werden (vgl. Klein 1985, 29 ff). Da den realen Lebensbedingungen genügendes
jede Schicht der Reflexion über Recht wie- Wissenschaftsrecht ausbildeten. Das auf ari-
derum schriftförmig zur Verfügung steht, stotelisch-thomistischer G rundlage räsonie-
wird das das Recht betreffende Wissen stän- rende Naturrecht verabschiedete das Recht
dig erweitert oder doch zumindest umge- seinem G eltungsgrund nach von der Religion.
schichtet und umgestaltet. Die Konsequenzen Auch suchte es nach dem absoluten System.
der durch Verschriftlichung ermöglichten Das bürgerliche Zeitalter hat dann in der Aus-
Rechtswissenschaft sind ebenso grundstür- bildung eines allgemeinen Verkehrsrechts Ab-
zend wie es die Verlagerung der Autorität des straktion und Systemdenken weiter ver-
Rechts aus dem gesprochenen Wort in Texte schärft, so daß eine Fülle konkreter Lebens-
ist. Beide Bereiche, Wissenschaft und G esetz- erscheinungen unter höchst systemfunktio-
gebung, sind zudem in ihrer Entwicklung und nalen Allgemeinbegriffen (wie Rechtssubjekt
in ihrem jeweiligen Selbstverständnis vielfältig und Rechtsgeschäft) erfaßt und „gedacht“
miteinander verbunden, wie sich z. B. an der werden. Die Lehrgebäude setzen Außerjuri-
Ausbildung der Vorstellung von der Rechts- stisches zunächst noch stillschweigend voraus,
ordnung als einem geschlossenen, sich selbst meinen dann aber zunehmend, alles Relevante
tragenden und sich aus G rundnormen oder „eingefangen“ zu haben und der Berücksich-
616 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

tigung außerrechtlicher Faktoren nicht mehr schaftlichten Schriftrechts zu erwehren.


zu bedürfen. Das Recht beschränkt sich nun In England hingegen, wo das Kaiserrecht
nicht mehr darauf, das Leben zu ordnen, es keine Legitimationsgrundlage abgab, bildete
verselbständigt sich ihm gegenüber und droht, sich unter dem zentralisierenden Einfluß des
es zu verfehlen. Es kommt gewissermaßen zu Königtums ein einheimischer Juristenstand
einer Überfunktion der externalisierenden aus, der das überkommene Recht als Präju-
Wirkungen der Schrift. Ausdruck der Bestim- dizienrecht bewahrte und seinen Nachwuchs
mung des juristischen Denkens allein durch in zunftgebundenen Rechtsschulen, also
allgemeine Begriffe und System ist die sog. außerhalb der Universitäten, heranzog.
Subsumtion des Rechtsfalles unter das G e-
setz, d. h. die — als Simplifikation wieder
besonders breitenwirksame — Vorstellung, 9. Rechtsprechung
daß sich jeder konkrete Lebenssachverhalt Der kontinentaleuropäische Jurist versteht
den abstrakten Rechtsregeln durch rein logi- unter Rechtsprechung die „Anwendung“ des
sche Operationen unterordnen lasse und die G esetzes auf den zu entscheidenden Einzel-
Lösung des Falles auf diese Weise zwingend fall, d. h. ein Staatsfunktionär setzt einen ab-
vom Regelsystem vorgezeichnet sei. In diesem strakt geltenden Befehl für einen konkreten
Modell begegnen sich Rechtswissenschaft und Sachverhalt in Wirkung, nachdem er selbst
Rechtsprechung. — Wo ein „Außenspeicher“ festgestellt hat, der Sachverhalt passe unter
des Denkens fehlt, sind logische Schlußfor- die Norm. Erkenntnis und Zwang sind in
men nur in praktischer Anwendung, nicht zur einem Akt, dem Urteil, zusammengefaßt.
Lösung theoretischer Fragen ausgebildet Schulmäßig ergeht die Entscheidung nach den
(Klein 1985, 31 f; G oody 1986, 143 ff, 182; Regeln der Methodenlehre, vornehmlich nach
Vollrath 1990, 101 f). Die frühesten Schrift- Maßgabe des dem Rechtsanwender durch
zeugnisse aus dem Umkreis der Laienurteiler langjährige Ausbildung vermittelten Subsum-
weisen einen assoziativ-konkreten Denkstil tionsverfahrens. Die kritische Methodenlehre
auf. Das Rechtsdenken ist beiordnend, nicht weist freilich zu Recht darauf hin, daß das
über- und unterordnend, nicht auf die Aus- Subsumtionsmodell die Realität des richter-
bildung und Anwendung verallgemeinernder lichen Entscheidens nicht voll erfasse (Hart-
Obersätze gerichtet, sondern additiv, an- wieg & Hesse 1981; Behrends 1990, 35 ff,
schauungsgebunden zusammenstellend. So- 69 ff). Rechtsanwendung ist partiell Rechts-
weit das vergleichende Zuordnen spezifische (fort)bildung. Das Richterrecht ist ein metho-
Rechtsworte ausbildet, entwickeln diese kei- disch umstrittenes, gleichwohl erforderliches
nen Eigenwert gegenüber den von ihnen be- Instrument, um G esetzesrecht, vornehmlich
schriebenen Vorgängen. Sie treten nicht in die langlebigen Kodifikationen, den Erfor-
einer das Rechtsdenken lenkenden und fort- dernissen des sozialen, technischen und wirt-
bildenden Weise zueinander in Beziehung, schaftlichen Fortschritts anzupassen. Schon
sondern drücken schlicht den aus unmittel- insofern ist das G esetzesrecht von einer „her-
barer Anschauung eines Lebenssachverhalts meneutischen Textdynamik“, die der Rechts-
gewonnenen Rechtsgehalt, einen eher sum- laie eher unterschätzt (Schott 1988, 77). Die
marischen Unrechtsvorwurf oder ein prozes- Auslegung oder Ausdeutung soll nach den
sual gerichtetes Streitprogramm aus. Die Regeln anerkannter Methodenlehre erfolgen
Rechtssprache ist wenig trennscharf, zeigt und in den Entscheidungen ausgewiesen wer-
vielmehr einen Hang zur Anschaulichkeit und den, um der öffentlichen und der wissen-
zu pleonastischen Worthäufungen (Schmidt- schaftlichen Kritik zugänglich zu sein. Weicht
Wiegand 1986). Ansätze zur Wissenschaft- die Richterschaft unter politischem Druck
lichkeit wird man den Produkten des spät- und/oder Indoktrination von diesen Regeln
mittelalterlichen Laienrechts gleichwohl nicht ab, so kann auch die Schriftform des G esetzes
absprechen können. Zu dieser Zeit aber er- die Perversion ganzer Rechtsordnungen nicht
wies sich die Schrift sofort als Träger eines verhindern (Rüthers 1968). Vor dem Hinter-
bereits verwissenschaftlichten römisch-kano- grund entsprechender Erfahrungen wird man
nischen Rechts. Da sich dieses als Kaiser- und dem von den Herrschenden über Jahrhun-
Kirchenrecht legitimieren konnte, fehlten derte hin ins Feld geführten Argument mit
dem zersplitterten Stand der deutschen Zurückhaltung begegnen, daß das Recht
Rechtshonoratioren Zeit und Kraft, sich des durch Verschriftlichung sicherer werde. Daß
methodisch so überlegenen Fremdrechts
durch den Aufbau eines eigenen verwissen- ein Übermaß an (Schrift-)Recht der Rechts-
46.  Schriftlichkeit und Recht 617

sicherheit nur Abbruch tut, ist heute nach bener Unklarheiten. Zudem korrespondieren
langjährigen Diskussionen um die „G esetzes- der Mündlichkeit zwei weitere wichtige
flut“ ein G emeinplatz. Aber auch sonst ist die G rundsätze rechtsstaatlicher Verfahren: Öf-
Verschriftlichung eine zweischneidige Sache. fentlichkeit und ein unmittelbarer Eindruck
Sie führt nämlich nicht nur die relativ stärkere des Richters von Parteien, Zeugen und son-
Bindung des Richters durch den Text herbei, stigen Beweismitteln. Daß sich im Prozeß (wie
sondern auch jene Komplexität und herr- auch in anderen Verfahren der G esetzgebung
schaftsnahe Fungibilität des Rechts herauf, und Verwaltung) die Schriftlichkeit nicht voll-
die den Richter fachlich und moralisch zu ends durchsetzen konnte, läßt etwas von den
überfordern drohen — mit nicht selten mas- in reiner Schriftlichkeit angelegten G efahren
senhaften Konsequenzen. Selbstverständlich für Recht und Rechtlichkeit erahnen.
sind Schriftlosigkeit und Kleinräumigkeit
keine Heilmittel für heutige Probleme. Ab-
schied aber sollte man nehmen von jener so 10. Rechtsbewußtsein
selbstgewissen Vorstellung, daß Schriftlich-
keit, positiviertes Recht und Methodenlehre Die heutige Allgemeinvorstellung vom Recht
den heutigen Prozeßparteien das Recht siche- entspricht dem Positivismus und Legalismus
rer machten als Rechtsgewohnheit, G emein- im Bereich der Normsetzung. Nicht nur der
schaftsgebundenheit der Urteiler und langfri- Jurist, auch der Rechtslaie wird auf die Frage,
stige Wertekonstanz den Mitgliedern oraler was denn nun „das Recht“ sei und wo man
G esellschaften das ihrige. — Schriftloses es finden könne, auf G esetzbuch und G esetz-
Recht kann nicht „angewandt“ werden. Es blatt verweisen. Der Bürger wird im Zweifel
gilt nur im konkreten Konsens. Im Konflikt erklären, daß er sich mit dem statuierten
stellt das G erichtsverfahren diesen Konsens Recht oft nicht identifizieren wolle, und daß
durch Einigungszwang wieder her (Weitzel die Verwirklichung des Rechts im Prozeß eine
1985, 1992). Für eine Zeit, deren Rechtsregeln höchst unsichere Angelegenheit sei. Diese Di-
nicht schriftlich fixiert sind, läßt sich die Be- stanz zum Recht ist heute nicht mehr auf die
hauptung des eigenen als des richtigen und Rezeption von „Fremdrecht“ zurückzufüh-
wahren Rechts nicht als Auflehnung gegen ren. Prägend sind vielmehr die Verwaltung
ein fortgeltendes „objektives“ Recht deuten. des Rechts durch Juristenstand und Bürokra-
Erst die Schriftlichkeitserfahrung führt die tie, die Weitläufigkeit und Komplexität der
Vorstellung herauf, Rechtsnormen seien zwin- Materie, die nur sehr mittelbare Teilhabe am
gend heteronom und bestünden auch im Kon- Zustandekommen von G esetzen und in
flikt fort. In der Praxis des Mittelalters be- Europa wohl auch die in etlichen „Reichen“
hauptet die aufbegehrende Partei, schlechthin gemachte Erfahrung, daß morgen Unrecht
das Recht auf ihrer Seite zu haben (Vollrath sein kann, was heute noch Recht ist. Bei den
1990). Sie kann deshalb ihr Recht auch im meisten dieser dem Bürger das Recht entfrem-
Wege der Fehde durchzusetzen suchen — je- denden Erscheinungen spielt dessen Erschei-
denfalls dann, wenn ihr vom G egner das ge- nungsform als Schriftrecht eine Rolle. Ein
richtliche Verfahren verweigert wurde. besonders häufig traktierter Ausschnitt aus
Ein besonderer Problemkreis ist das Ver- diesem Problemkreis ist die Klage über die
hältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit „Unverständlichkeit“ des Rechts, die meist
im Prozeß. Während allgemein von einem und in erster Linie an der Rechtssprache fest-
Siegeszug der Schrift im Recht gesprochen gemacht wird (Raible 1981; Herberger 1983;
werden kann, setzten die meisten Prozeß- G roßfeld 1984). Dabei fällt auf, daß die ein-
rechte auf die Mündlichkeit des Verfahrens schlägigen Erörterungen keineswegs die ge-
oder auf Mischformen, wobei jedoch die zen- sprochene Sprache zum G egenstand haben —
tralen Teile des Erkenntnisvorgangs allenfalls dieser Aspekt fällt vielmehr unter das Stich-
in Absolutismus und Polizeistaat der Schrift- wort „Kommunikationsprobleme vor G e-
lichkeit überantwortet wurden. Heute dient richt“ —, sondern von der Schrift- und G e-
Schriftlichkeit prinzipiell der Vorbereitung setzessprache handeln. Es geht also um
einer mündlichen Verhandlung, die gerade Schwierigkeiten, die nicht ausschließlich, aber
aufgrund guter Vorbereitung das zu beurtei- doch in spezifischer Weise dem Schriftrecht
lende G eschehen konzentriert erfaßbar ma- eigen sind, erst von ihm her in die Kommu-
chen soll. Die mündliche Verhandlung ermög- nikation vor G ericht übergreifen und auch
licht die kompaktere Rekonstruktion der entwicklungsgeschichtlich gesehen in der Ver-
Tatfragen und eine zügige Erörterung verblie- schriftlichung von Recht angelegt sind. Teils
ist dabei die sprachliche Fassung als solche
618 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

G egenstand der Kritik, teils geht es um Ver- Ausrichtung des Rechtsbewußtseins auf das
ständlichkeitspostulate, die aus der Sicht G ericht ist keine ausschließliche. So wie für
des Juristen mit der Leistungsfähigkeit der uns das Recht auch noch eine schriftlose, vor-
Rechtssprache als einer Fachsprache kollidie- und übergesetzliche Dimension hat, so kannte
ren. Die Forderung nach Betroffenennähe, der mittelalterliche Mensch — vornehmlich
Anschaulichkeit und Überzeugungskraft der in der Bibel — auch Bereiche des Rechts, die
Rechts-, G esetzes- und Amtssprache steht er mit Buch, Text und Schrift assoziierte. Die
dann gegen Prägnanz, Sachlichkeit und G ewichtung freilich war der heutigen genau
Knappheit des Ausdrucks als Erfordernissen entgegengesetzt, und es kam zur Verformung
einer Fachsprache, die einer vorwiegend mit von Schriftrecht. Denn: überwiegende Münd-
dem Mittel der Abstraktion arbeitenden Wis- lichkeit deutet Schriftrecht nach den für die
senschaft und einem sich auf Imperative be- Mündlichkeit geltenden Regeln (um). Und
schränkenden G esetzesstil dient (Schmidt- überwiegende Schriftlichkeit (miß-)versteht
Wiegand 1986, 355 f; Schröder 1989, 46 ff, Mündlichkeit des Rechts nach den für das
56). — Dem positivierten Recht bleibt das Schriftrecht geltenden Regeln.
Rechtsbewußtsein auch im Rechtskonflikt
verhaftet. Auch hier rekurriert jedenfalls der
Kontinentaleuropäer auf G esetz, Rechtsbuch 11. Literatur
und Kommentar. Durch Lektüre und Ausle- Behrends, Okko et al. (ed.). 1990. Rechtsdogmatik
gung eines Textes hofft er, „sein Recht“ be- und praktische Vernunft. Göttingen.
stätigt zu finden. Schlußendlich müssen die
Classen, Peter (ed.). 1977. Recht und Schrift im
Richter den Willen des G esetzestextes vollzie-
Mittelalter. Sigmaringen.
hen. In einer Epoche grundsätzlicher Schrift-
losigkeit ist Bezugspunkt und Bewältigungs- G oody, Jack. 1986. La logique de l’écriture. Aux
mittel des Rechtskonfliktes nicht der inter- origines des sociétés humaines. Paris.
pretierbare Text eines G eltung beanspruchen- G roßfeld, Bernhard. 1984. Sprache und Recht. Ju-
den Schriftrechtes, sondern das gerichtliche ristenzeitung 39, 1—6.
Verfahren selbst, die dort im Wort offenge- Hartwieg, Oskar & Hesse, Hans Albrecht. 1981.
legte Rechtsauffassung der G erichtsgemeinde. Die Entscheidung im Zivilprozeß. Königstein.
Die allgemeine Vorstellung vom Recht und Herberger, Maximilian. 1983. Unverständlichkeit
die Strategie der Konfliktbewältigung ist folg- des Rechts. In: Recht und Sprache (Schriften der
lich eine ganz andere als in literaten G esell- Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 199).
schaften. Der Blick richtet sich auf das das Bonn, 19—39.
Recht objektivierende Verfahren und — wird Kirchhof, Paul. 1987. Die deutsche Sprache. In:
das Recht, d. i. der gerichtliche Austrag ver- Isensee & Kirchhof (ed.), Handbuch des Staats-
weigert — auf die Fehde. Das G ericht findet rechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1.
und schafft in diesem Sinne das Recht, es ist Heidelberg, 745—771.
das Recht, dort, wo es sich im Streitfall zu Klein, Wolfgang. 1985. G esprochene Sprache —
bewähren hat. Es bezeichnet konsequenter- geschriebene Sprache. Zeitschrift für Literaturwis-
weise das Wort recht (subst.) während des senschaft und Linguistik 59, 9—35.
Mittelalters mit Ausläufern bis weit in das 17. Knoop, Ulrich. 1983. Zum Status der Schriftlich-
Jahrhundert hinein in erster Linie nicht das keit in der Sprache der Neuzeit. In: G ünther, Klaus
objektive Recht, sondern subjektive Rechts- & G ünther, Hartmut (ed.), Schrift — Schreiben —
positionen und — worauf es hier ankommt Schriftlichkeit. Arbeiten zur Struktur, Funktion
— das G ericht und das gerichtliche Verfahren und Entwicklung schriftlicher Sprache. Tübingen,
(Weitzel 1985, 1333 ff). Dem mittelalterlichen 159—167.
Sprachgebrauch war es völlig geläufig, daß
der Richter „im Recht“ saß, und niemand Levy-Bruhl, Henri. 1963. L’écriture et le droit. In:
war erstaunt, wenn es hieß, der Kläger reite L’écriture et la psychologie des peuples (XXXIIe
„auf das Recht“. Daß eine Sache „rechtshän- sémaine de synthèse). Paris, 325—333.
gig“ sein kann, davon sind wir noch allemal Luhmann, Niklas. 1988. Positivität als Selbstbe-
überzeugt. Die G leichsetzung von Recht und stimmtheit des Rechts. Rechtstheorie 19, 11—27.
G ericht ist eine G estimmtheit des Rechtsbe- Ong, Walter J. 1987. Oralität und Literalität. Die
wußtseins, der Verfahrensaspekt des schrift- Technologisierung des Wortes. Opladen. [Engl. Ori-
losen Rechts. Heute ist er durch die Beziehung ginal 1982].
des Rechts zum G esetzestext verdrängt. Die Raible, Wolfgang. 1981. Rechtssprache. Von den
Tugenden und Untugenden einer Fachsprache. In:
47.  Schriftlichkeit im Handel 619

Radtke, I. (ed.), Die Sprache des Rechts und der Vollrath, Hanna. 1981. Das Mittelalter in der Typik
Verwaltung. Stuttgart, 20—43. oraler G esellschaften. Historische Zeitschrift 233,
Rörig, Fritz. 1953. Mittelalter und Schriftlichkeit. 571—594.
Die Welt als Geschichte 13, 29—41. —. 1990. Konfliktwahrnehmung und Konfliktdar-
Rüthers, Bernd. 1968. Die unbegrenzte Auslegung. stellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhun-
Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Natio- derts. In: Raible, Wolfgang (ed.), Erscheinungsfor-
nalsozialismus. Tübingen. men kultureller Prozesse. Tübingen, 83—102.
Schott, Clausdieter. 1988. Zur G eltung der Lex Weitzel, Jürgen. 1983. Merkantilismus und zeitge-
Alamannorum. In: Fried, P. & Sick, W.-P. (ed.), nössische Rechtswissenschaft. In: Press, V. (ed.),
Die Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Augs- Merkantilismus und Städtewesen i n Mitteleuropa.
burg, 75—105. Köln, 45—81.
Schröder, Jan. 1989. Das Verhältnis von Rechts- —. 1985. Dinggenossenschaft und Recht. Zum
dogmatik und G esetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsverständnis im fränk.-deutschen Mittelalter.
Rechtsgeschichte (am Beispiel des Privatrechts). In: Köln.
Behrends, O. & Henckel, W. (ed.), G esetzgebung —. 1992. G ewohnheitsrecht und fränkisch-deut-
und Dogmatik. Göttingen, 37—66. sches G erichtsverfahren. In: Dilcher, G erhard et al.
Schmidt-Wiegand, Ruth. 1986. Rechtssprache. In: (ed.), G ewohnheitsrecht im Mittelalter. Berlin,
Erler, A. & Kaufmann, E. (ed.), Handwörterbuch 67—86.
zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 4. Berlin,
345—360. Jürgen Weitzel, Würzburg (Deutschland)

47. Schriftlichkeit im Handel

1. Einleitung und Übersicht der Kaufmannsstand das Schreiben früh für


2. Die Bedeutung des Schreibens für den Kauf- weltliche und berufliche Zwecke eingesetzt
mannsstand in älterer Zeit (vgl. 2.). — Wissenschaftsgeschichtlich kann
3. Die Kaufmannssprache aus der Perspektive die Beschäftigung mit dem Thema ausgehen
der Fachsprachenforschung von Publikationen zur Kaufmannssprache
4. Schreiben im Handel in der heutigen Zeit aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
5. Literatur Es handelt sich dabei um Beschreibungen von
Wortschatz und Syntax, die sich normaler-
weise auf Texte der internen Kommunikation
1. Einleitung und Übersicht von Kaufleuten mit anderen Kaufleuten stüt-
zen, sich mit normativen G esichtspunkten
Der Begriff des Handels meint entweder den auseinanderzusetzen haben und dabei versu-
gesamten G üteraustausch einer Volkswirt- chen, adäquate Beschreibungs- und Beurtei-
schaft (Handel im funktionellen Sinn) oder lungskriterien zu entwickeln. Für den Ver-
alle Institutionen, die Handel betreiben (vgl. gleich mit der heutigen Situation „Schreiben
G abler 1988, 2303). Aus der Perspektive von im Handel“ sind Aspekte der Professionali-
heutzutage interessierenden linguistischen sierung der Handelskorrespondenz im Laufe
Forschungsfragen, wie denjenigen nach dem des 19. und 20. Jahrhunderts interessant. Die
faktischen Alphabetisierungsgrad der G esell- Charakteristika dieser Professionalisierung
schaft und nach dem Stellenwert schriftlicher unterscheiden heute die geschriebenen Texte
Fähigkeiten im Alltag, ist von einem weiten von Handelsfirmen von denjenigen privater
Handelsbegriff auszugehen, der nicht nur das Handelskunden (vgl. 3.1.). — Die neuere all-
Schreiben der institutionellen oder professio- gemeiner ausgerichtete Fachsprachenfor-
nellen Verkäufer, sondern auch dasjenige der schung geht in ihren Forderungen über die
privat schreibenden Kunden und Kundinnen genannten Beschränkungen (auf Wortschatz
zu berücksichtigen erlaubt. Dadurch kommen und Syntax, auf interne Kommunikation und
auch die Kommunikationszusammenhänge in auf normative G esichtspunkte) hinaus. Fach-
den Blick, in denen die geschriebenen Texte kommunikation und fachliche Verständigung
stehen, sowie die Funktionen, die sie darin treten ins Zentrum. Für das Thema „Schrift-
übernehmen. — Handel und Schreiben sind lichkeit im Handel“ relevant sind Überlegun-
seit jeher verbunden. Historisch gesehen hat gen zu verschiedenen Arten der Exaktheit von
47.  Schriftlichkeit im Handel 619

Radtke, I. (ed.), Die Sprache des Rechts und der Vollrath, Hanna. 1981. Das Mittelalter in der Typik
Verwaltung. Stuttgart, 20—43. oraler G esellschaften. Historische Zeitschrift 233,
Rörig, Fritz. 1953. Mittelalter und Schriftlichkeit. 571—594.
Die Welt als Geschichte 13, 29—41. —. 1990. Konfliktwahrnehmung und Konfliktdar-
Rüthers, Bernd. 1968. Die unbegrenzte Auslegung. stellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhun-
Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Natio- derts. In: Raible, Wolfgang (ed.), Erscheinungsfor-
nalsozialismus. Tübingen. men kultureller Prozesse. Tübingen, 83—102.
Schott, Clausdieter. 1988. Zur G eltung der Lex Weitzel, Jürgen. 1983. Merkantilismus und zeitge-
Alamannorum. In: Fried, P. & Sick, W.-P. (ed.), nössische Rechtswissenschaft. In: Press, V. (ed.),
Die Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Augs- Merkantilismus und Städtewesen i n Mitteleuropa.
burg, 75—105. Köln, 45—81.
Schröder, Jan. 1989. Das Verhältnis von Rechts- —. 1985. Dinggenossenschaft und Recht. Zum
dogmatik und G esetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsverständnis im fränk.-deutschen Mittelalter.
Rechtsgeschichte (am Beispiel des Privatrechts). In: Köln.
Behrends, O. & Henckel, W. (ed.), G esetzgebung —. 1992. G ewohnheitsrecht und fränkisch-deut-
und Dogmatik. Göttingen, 37—66. sches G erichtsverfahren. In: Dilcher, G erhard et al.
Schmidt-Wiegand, Ruth. 1986. Rechtssprache. In: (ed.), G ewohnheitsrecht im Mittelalter. Berlin,
Erler, A. & Kaufmann, E. (ed.), Handwörterbuch 67—86.
zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 4. Berlin,
345—360. Jürgen Weitzel, Würzburg (Deutschland)

47. Schriftlichkeit im Handel

1. Einleitung und Übersicht der Kaufmannsstand das Schreiben früh für


2. Die Bedeutung des Schreibens für den Kauf- weltliche und berufliche Zwecke eingesetzt
mannsstand in älterer Zeit (vgl. 2.). — Wissenschaftsgeschichtlich kann
3. Die Kaufmannssprache aus der Perspektive die Beschäftigung mit dem Thema ausgehen
der Fachsprachenforschung von Publikationen zur Kaufmannssprache
4. Schreiben im Handel in der heutigen Zeit aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.
5. Literatur Es handelt sich dabei um Beschreibungen von
Wortschatz und Syntax, die sich normaler-
weise auf Texte der internen Kommunikation
1. Einleitung und Übersicht von Kaufleuten mit anderen Kaufleuten stüt-
zen, sich mit normativen G esichtspunkten
Der Begriff des Handels meint entweder den auseinanderzusetzen haben und dabei versu-
gesamten G üteraustausch einer Volkswirt- chen, adäquate Beschreibungs- und Beurtei-
schaft (Handel im funktionellen Sinn) oder lungskriterien zu entwickeln. Für den Ver-
alle Institutionen, die Handel betreiben (vgl. gleich mit der heutigen Situation „Schreiben
G abler 1988, 2303). Aus der Perspektive von im Handel“ sind Aspekte der Professionali-
heutzutage interessierenden linguistischen sierung der Handelskorrespondenz im Laufe
Forschungsfragen, wie denjenigen nach dem des 19. und 20. Jahrhunderts interessant. Die
faktischen Alphabetisierungsgrad der G esell- Charakteristika dieser Professionalisierung
schaft und nach dem Stellenwert schriftlicher unterscheiden heute die geschriebenen Texte
Fähigkeiten im Alltag, ist von einem weiten von Handelsfirmen von denjenigen privater
Handelsbegriff auszugehen, der nicht nur das Handelskunden (vgl. 3.1.). — Die neuere all-
Schreiben der institutionellen oder professio- gemeiner ausgerichtete Fachsprachenfor-
nellen Verkäufer, sondern auch dasjenige der schung geht in ihren Forderungen über die
privat schreibenden Kunden und Kundinnen genannten Beschränkungen (auf Wortschatz
zu berücksichtigen erlaubt. Dadurch kommen und Syntax, auf interne Kommunikation und
auch die Kommunikationszusammenhänge in auf normative G esichtspunkte) hinaus. Fach-
den Blick, in denen die geschriebenen Texte kommunikation und fachliche Verständigung
stehen, sowie die Funktionen, die sie darin treten ins Zentrum. Für das Thema „Schrift-
übernehmen. — Handel und Schreiben sind lichkeit im Handel“ relevant sind Überlegun-
seit jeher verbunden. Historisch gesehen hat gen zu verschiedenen Arten der Exaktheit von
620 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Fachsprachen, zur Ablösung der Fachtexte hat, fordert schon „die örtliche Verwaltung
von der Erfahrung der fachlich Handelnden mit ihrem Steuererhebungswesen, ihren Re-
und der Erfahrungstradition, Überlegungen gistern und sonstigem Schreibwerk ... fort-
zur Unterscheidung von interner und externer gesetzt schreibkundige Laien. In der Wirt-
Kommunikation und zur Unterscheidung von schaft waren es die seefahrenden Fernkauf-
schriftlichen Medien mit kommunikativer leute, die ... mit Schriftlichkeit arbeiteten.“
Funktion und solchen mit der Funktion in- (Rörig 1953, 30). Demgegenüber wird das
dividueller G edächtnisstützen (vgl. 3.2.). — Kanzleiwesen der Karolinger von geistlichen
Heute führt u. a. die zunehmende Verbreitung Händen geführt, und der aus der Spätanti-
des Versandhandels zu vermehrter schriftli- ke stammende, schriftgewohnte Kaufmanns-
cher externer Kommunikation, Kommuni- stand schwindet. Der Handel wird übernom-
kation also, die sich an Nicht-Fachleute rich- men von nordeuropäischen Wanderhändlern,
tet und auch von Nicht-Fachleuten ausgehen die die Schrift weder kennen noch brauchen.
kann. Zentrale Textsorten in dieser externen G enerell wird weltliches Schreiben seltener
Kommunikation sind Briefe und Notizen, wie (ibd.). Erst im 12. Jahrhundert bemühen sich
sie im Rahmen des schriftlichen Einkaufs über die Kaufmannsgilden wieder um eine Schu-
den Versandhandel ausgetauscht werden. Zur lung, die ihren Bedürfnissen entspricht. Um
schriftlichen Kommunikation im Handel lie- die Mitte des 13. Jahrhunderts beginnt die
gen allerdings keine Arbeiten vor. Empirische kaufmännische Oberschicht Schriftlichkeit
Untersuchungen in diesem Bereich stellen ein zur Rationalisierung der Handelsbetriebe zu
Forschungsdesiderat dar. Es soll hier nur ver- nutzen (39). Kaufleute verfügten über eine
sucht werden, mögliche Richtungen solcher gute Allgemeinbildung und eine gute Berufs-
Untersuchungen exemplarisch mithilfe von ausbildung, „sie konnten lesen und schreiben
Ergebnissen aus einem Pilotprojekt anzudeu- und hatten so Zugang zu einem Netz von
ten, dessen Ergebnisse durch (hier nicht wichtigen mündlichen und schriftlichen In-
referierte) Daten aus den Bereichen „Ver- formationen.“ (Tenenti 1990, 223, vgl. 226;
sicherungen“, „Fahrradwerkstatt“, „Elektro- ähnlich auch Maas 1985, 60 f., und Maschke
industrieprodukte — Einkauf“ und „Einkauf 1964, 332).
und Verkauf in einer Apparateproduktions- I n dieser Zeit, in der die Kaufleute das
firma“ gestützt werden. Die Erhebungen sind Schriftmonopol des Klerus (wieder) brechen
in der deutschen Schweiz gemacht worden (Rörig sieht in der Beendigung der auf den
und umfassen Beobachtungsdaten an Texten Klerus begrenzten Schriftlichkeit auch das
und Kommunikationsvorgängen sowie Befra- Ende das Mittelalters, vgl. 1953, 41), tritt der
gungsdaten aus schriftlichen und mündlichen Typus Kaufmann in den Vordergrund, der am
Interviews. Zitierte Ausschnitte aus den Ort in seinem Kontor arbeitet und von da aus
mündlichen Interviews sind aus dem Schwei- sein G eschäft betreibt (39). In der Schreib-
zerdeutschen ins Hochdeutsche übertragen stube entstehen als eine große G ruppe von
worden (vgl. 4.) Texten Briefe, die den kaufmännischen
G eschäftsverkehr betreffen (kommunikative
Funktion, vgl. Tenenti 1990, 230, Maschke
2. Die Bedeutung des Schreibens für 1964, 237 u. 307). Eine andere große G ruppe
den Kaufmannsstand in älterer Zeit von frühen Handelstexten sind sogenannte
„einfache Aktaufzeichnungen“ als G edächt-
Die Frage nach der Bedeutung des Schreibens nishilfen (mnemotechnische Funktion), die in
für den Handel kann nicht generell beant- Perioden der Entwicklung von begrenzter
wortet werden. Die Nutzung und Ausgestal- Schriftlichkeit zu allgemeiner Schriftlichkeit
tung des Schreibens ist für jeden geschichtli- (in denen alle Mitglieder der G esellschaft an
chen Kaufmannsstand und jeden Kulturbe- der Schriftlichkeit teilhaben) zu maßgeblichen
reich eine spezifische. — Das ist am Beispiel Beweisurkunden und schließlich als schriftli-
der Entwicklung von Handel und Verwaltung che Akte konstitutiv werden z. B. für den
in der Merowinger- und der Karolingerzeit rechtswirksamen G runderwerb der Stadt, der
für die Teile des fränkischen G roßreiches ge- ohne G rundbucheintrag nicht gültig ist. Um
zeigt worden (vgl. Pirenne 1929, Rörig 1953, die Mitte des 15. Jahrhunderts werden Hand-
der sich in wesentlichen Punkten auf Pirenne lungsbücher und Journale angelegt mit No-
bezieht): I n G allien, wo die römische Kultur tierungen über Schulden aus Waren und G eld-
und ihre weltliche Bildung Fuß gefasst haben geschäften und über deren Abtragung (vgl.
und der Klerus kein Bildungsmonopol inne Wendelstein 1952, 24). Die Buchführung hat
47.  Schriftlichkeit im Handel 621

allerdings noch nicht „das rechenhafte Aus- Kaufmannsdeutsch schon Jahrhunderte alt
sehen“, „das wir von modernen Bilanzen ken- sei. Was die neuere Kritik betrifft, so geht sie
nen, sondern erfolgt „ungeschieden von der vom Deutschen Sprachverein aus. Es ist ver-
Registrierung familialer Probleme und Tage- schiedentlich dargestellt worden, wie der 1885
buchnotizen“ (Maas 1985, 61 f). — Standar- von Hermann Riegel begründete Deutsche
disierte Texte als Entsprechung einer Typik Sprachverein eine Art behördlicher Einrich-
der G eschäftsfälle, wie sie für die heutige tung geworden ist, die namentlich auf dem
Handelskorrespondenz typisch sind, entwik- G ebiete der Handelssprache eine maßgebende
keln sich gemäß den Korrespondenzlehrbü- Tätigkeit entfaltete. I n seinem Auftrag hat
chern erst seit der Mitte des 19. Jahrhun- Alfred Schirmer das Verdeutschungswörter-
derts. — Wenn auch Briefe das Hauptthema buch „Der Handel“, das zuerst 1889 von Karl
sowohl der älteren als auch der jüngeren For- Magnus herausgegeben wurde, auf den neuen
schung sind, so darf doch nicht übersehen Stand nach der Jahrhundertwende ge-
werden, daß es daneben andere Texte im Um- bracht. — Aus wissenschaftlicher Perspektive
kreis des Handels gibt: Die „Fachausdrücke sieht Wendelstein 1912 die Problematik bis-
des Verkehrs und Handels“ nennen zum Bei- heriger Beurteilung darin, daß man die Kauf-
spiel den Frachtbrief, Anlagen zum Fracht- mannssprache als Ableger der G emeinsprache
brief, das Frachtbriefdoppel, das Havariezer- gesehen und deshalb alle Abweichungen von
tifikat, den Heimatzettel, das Journal, das der allgemein üblichen Schriftsprache verur-
Kai-Receipt, Kreideanschriften an G üterwa- teilt hat (vgl. 2 f). Demgegenüber will Wen-
gen, den Lieferschein und viele andere mehr. delstein die Kaufmannssprache als Berufs-
Diese Texte sind durch ihre Formularstruktur sprache von ihrer Funktion und G eschichte
nicht nur in ihrem Aufbau standardisiert, son- her beschreiben und denkt dabei vor allem an
dern auch auf Stichwörter reduziert und sind die differenzierte Terminologie und die Ver-
eben deshalb bisher kaum ins Bewußtsein der änderung der Wortbedeutungen durch die be-
Forschung gedrungen, obwohl sie für die ruflichen Vorstellungsinhalte (vgl. 12). Die
Konzeption von alltäglicher beruflicher Beurteilung der Kaufmannssprache bleibt
Schriftlichkeit wichtig sind (vgl. Häcki Bu- dennoch auch aus wissenschaftlicher Sicht
hofer 1985). ambivalent. Die vielgeschmähten kaufmän-
nischen Fremdwörter und Formeln zeugen
historisch und funktional betrachtet von der
3. Die Kaufmannssprache aus der schriftsprachlichen Orientierung des Kauf-
Perspektive der mannsstandes an lateinischen Mustern: G e-
Fachsprachenforschung schäftliche Schreiben traten als Kanzleibriefe
neben die Urkunde im engeren Sinne. Nach
3.1. Ältere Untersuchungen zur ihrem Muster und mit denselben Formelbü-
Kaufmannssprache und ihre aktuelle chern wurde um G eleit gebeten, Schadener-
Bedeutung satz verlangt sowie der Kontrahent verklagt
etc. (vgl. Wendelstein 1912, 18). „Korrespon-
Die Kaufmannssprache gilt (zusammen mit denz und Buchführung (wurden) zunächst in
der Bergmannssprache) als ein Beispiel für der Schriftsprache des Mittelalters, dem La-
eine historische Fachsprache (vgl. Fluck 1985, tein, geführt“, wodurch Wörter wie „quitt“,
150). Eine breitere linguistische Beschäftigung „Rente“, „Datum“, „Register“, „per“, „pro“,
mit den „Berufssprachen“, wie Fachsprachen „Facit“, „Summa“, „Nota“, „minus“, „plus“,
oft genannt werden, setzt um 1900 ein. Wen- „Kopie“, „Termin“ eindrangen (Schirmer
delstein schreibt 1912, während die Studen- 1911, 31). — Die Entwicklung der Handels-
tensprache, die Soldatensprache etc. ihre Be- sprache im 19. Jahrhundert wird als ein Pro-
arbeiter gefunden hätten, harre die Sprache zeß des kontinuierlichen Verfalls dargestellt.
des Kaufmanns noch der Darstellung. Soweit Erst gegen Endes des Jahrhunderts vollziehe
bisher kleinere Arbeiten erschienen seien und sich eine „sowohl in der Wortwahl wie im
ihre Ergebnisse den Weg in die allgemeinen Satzbau durchwirkende Sprachreinigung“
Einleitungen gefunden hätten, würden dem (Siebenschein 1936, 175). Siebenschein nennt
Kaufmannsstande „gar arge Versündigungen das Sprachtempo, die Entpersönlichung des
an der deutschen Muttersprache“ vorgehalten Briefstils und die Affektausschaltung als we-
(1). Die Kritik nenne überflüssige Fremdwör- sentliche Aspekte, unter denen sich schriftli-
ter und hohle, nichtssagende Worte und sei che Handelstexte verändert haben, und illu-
sich zum Teil durchaus bewußt, daß der striert die Entwicklung an Sammlungen von
„Kampf gegen das sprachliche Unwesen“ im
622 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Handelsbriefstellern von 1835, 1858 und persönliche Mitteilungen und emotionale


1888. Seit 1835 werde allgemein das Sprach- Äußerungen in vielen Fällen auffällige Cha-
tempo höher und Kürze demzufolge immer rakterzüge heutiger individueller Handels-
wichtiger: Man enthält sich bereits Mitte des briefe dar, mit denen sich KundInnen an eine
Jahrhunderts in Briefen der bloßen Vermu- Handelsfirma richten. Diese Merkmale sind
tungen, „der gemütlich erzählenden Mittei- jedoch nicht mehr Ausdruck von persönlichen
lung über die beabsichtigte Verwendung der Lebensbeziehungen der G eschäftsfreunde und
Ware, der selbstverständlichen Motivenschil- insofern funktionslose Relikte bzw. Zeichen
derung der Bestellung“ und sagt nichts, „was nicht entwickelter Professionalität. Ihre typi-
für den Bestellungsempfänger und für seine sche Verwendung ist die Kombination mit
Ausführung zu wissen nicht von Belang wäre“ sachlichen und formelhaften Ausdruckswei-
(Siebenschein 1936, 151). Der Handelsbrief sen, wie sie im Handel üblich sind, so daß die
verliert auch „die Wärme persönlicher Le- von privater Seite entstehenden Texte häufig
bensbeziehungen der G eschäftsfreunde“ (157). durch diese Mischung, diese Kombination
Die Entpersönlichung geht einher mit der Her- charakterisiert sind. Die „Affekte“ haben sich
ausbildung der konventionellen Redeformel gewandelt: Keine „überfließende Herzens-
(vgl. 160). Als Formeln eignen sich vor allem güte“, auch kein belehrender Affektton, son-
Satzäußerungen, die für viele gleichartige dern der Ausdruck von Ärger, Empörung und
Sprachhandlungen, wie Warenbestellungen Frustration steht im Zentrum und stellt oft
oder Mahnungen gebraucht werden können, den Anlaß des Schreibens dar. Daneben spie-
die man sich vorgedruckt vorstellen kann len aber auch Sprechakte wie Loben, Ent-
(183). Die Entwicklung geht also schon da- schuldigen und Vertrösten eine Rolle (vgl.
mals in Richtung Standardisierung — weg 4.3.).
von situationsabhängigen Texten wie dem fol-
genden: 3.2. Schreiben im Handel aus der Sicht
„Ich bekenne mich zum Empfang Ihres Briefes vom neuerer fachsprachlicher Forschung
30. Juli und danke Ihnen für das mir gemachte
Anerbieten. Obgleich ich noch einen ziemlichen Schreiben im Handel hat einen fachsprachli-
Vorrat von Kokosgarn auf Lager habe, so will ich chen Aspekt, entspricht aber nicht dem Pro-
dennoch die mir offerierte Partie von 57 Ballen toyp des fachsprachlichen Textes, wie er von
acceptieren, falls ...“ (Siebenschein 1936, 183) der Forschung skizziert wird. Man führt für
Die zunehmende „Affektausschaltung“ Fachsprachen üblicherweise auf, daß sie (1.)
zeigt sich an der Entwicklung der Mahnbriefe eine andere Art von Semantik hätten als
und der Briefe rund um das Konkursverfah- natürliche Sprachen, indem sie sich an der
ren. Schon zwischen 1835 und 1858 ver- außersprachlichen Wirklichkeit orientierten,
schwindet der Stil „überfließender Herzens- währenddem die natürlichen Sprachen mit
güte“ (164). Affekte werden in wenigen kur- einzelsprachlichen Bedeutungen operierten,
zen Floskeln abgetan (ibd.). Im Bankwesen, daß sie (2.) charakterisiert würden durch die
in dem „die Mahnung zu einem ständigen explizite Setzung und Definition fachsprach-
Korrespondenzfall“ wird, bilden sich For- licher Termini und daß ihre Ausdrücke (3.)
meln heraus, die zu Standardbriefen kombi- als eindeutig gälten gegenüber der Vagheit
niert und aus G ründen der Zeitersparnis ge- und Mehrdeutigkeit der Ausdrücke der na-
druckt werden (167). Mit der Verschickung türlichen Sprachen (vgl. Schlieben-Lange &
von Rechnungsauszügen, auf denen eine Kle- Kreuzer 1983, 7 f). — Die undifferenzierte
betikette „Unsere Bank wartet“ angebracht Sicht von der generellen Exaktheit der Fach-
wird, sieht Siebenschein einen „Null- und sprache wird heute allerdings relativiert (vgl.
Schwundpunkt“ des Mahnbriefes erreicht v. Hahn 1983, 99). Stattdessen adaptiert v.
(170). — Aus der Sicht heutiger schriftlicher Hahn eine Unterscheidung von Pinkal 1980/
Kommunikation im Handel ist die skizzierte 81, die die Fachsprachenforschung, wie es
Entwicklung aus folgendem G rund interes- generell dem Trend entspricht, auf die Ver-
sant: Währenddem die „gemütlich erzählende ständigung hin öffnet. Exaktheit in der Fach-
Mitteilung“ auf dem Hintergrund der „per- kommunikation kann demnach gesichert sein
sönlichen Lebensbeziehungen“ und die Ver- durch kommunikative Wohlbestimmtheit der
balisierung von Emotionen aus der professio- illokutiven Rolle — gleichgültig ob sie durch
nellen Handelskorrespondenz — soweit sie präzise oder vage Ausdrücke im Sinne seman-
keinen Werbecharakter hat — verschwunden tischer Unbestimmtheit hergestellt wird —
sind (vgl. z. B. G rossmann 1927, 4.3.), stellen oder durch Situationseinbettung (vgl. v. Hahn
1983, 99 ff). Diese Relativierungen der Rede
47.  Schriftlichkeit im Handel 623

von der Exaktheit der Fachsprachen sind ge- (vgl. 4.5.). Solche Texte dienen eben einerseits
rade auch bei schriftlichen Fachtexten zu be- der Kommunikation, fungieren aber ander-
rücksichtigen, die oft fälschlicherweise (vgl. seits auch als objektiviertes kollektives G e-
4.5.) nur als ex p l i z i t e Texte — ohne alltags- dächtnis, auf das sich alle Beteiligten bezie-
sprachlich vage oder deiktische Elemente — hen, wenn es aus irgend einem G rund not-
gesehen werden, weil sie fachsprachlich und wendig wird. Sie haben also sowohl kom-
schriftlich sind (vgl. Häcki Buhofer 1985). munikative als auch mnemotechnische Funk-
So verweisen Schlieben-Lange & Kreuzer tion. Auch Kunden fordern einen detaillierten
(1983, 13) bei schriftlichen Fachtexten einsei- Kontoauszug an, wenn sie das Hin und Her
tig nur auf die zunehmende Explizitheit: „Erst von Lieferungen und Retouren im Versand-
Schriftlichkeit macht die Ausformulierung handel nicht mehr überblicken (vgl. 4.4.).
bislang deiktischer und ostentativer Akte not- Zwar fordert G iesecke 1983 in methodischer
wendig und ermöglicht damit eine neue Form Hinsicht, die zwei Funktionstypen von
der W i s s e n s ve r a r b e i t u n g, die sich von der Schriftlichkeit klar auseinanderzuhalten. Für
Erfahrung des fachlich Handelnden abkop- einen Teil der Texte, wie sie im Handel ent-
peln kann.“ Daß die Schriftlichkeit neue For- stehen, ist aber gerade typisch, daß sie beide
men der Wissensverarbeitung ermöglicht, die Funktionen vereinen (vgl. 4.4.).
sich von der Erfahrung der fachlich Handeln-
den ablösen, ist allerdings ein wesentlicher
G esichtspunkt auch für die Abwicklung von 4. Schreiben im Handel
Kaufs- und Verkaufsverhandlungen (vgl. in der heutigen Zeit
4.3.). Dieser Effekt der Ablösung der Wis- Hauptsächlich am Beispiel des Versandhan-
sensverarbeitung von der Erfahrung der fach- dels sollen im folgenden einige Aspekte der
lich Handelnden beruht jedoch nicht nur auf schriftlichen Kommunikation im Handel an-
individuellen Leistungen der Ausformulie- hand von Beobachtungs- und Befragungsda-
rung bisher deiktischer oder ostentativer Akte ten beleuchtet werden. — Handel per Post
(der Herstellung expliziter Texte), sondern wird typischerweise schriftlich abgewickelt.
auch auf einmalig ausgearbeiteten standardi- Die Charakteristika der Versandhandels-
sierten Computerformularen, deren Struktur Kommunikation ergeben sich aus einer Reihe
den MitarbeiterInnen bekannt ist und deren von Situationsmerkmalen, die die Verkäufer-
Leerstellen von Datatypistinnen (nach vor- situation auf der einen und die Käufersitua-
liegenden Unterlagen) gefüllt werden, sowie tion auf der anderen Seite betreffen, nicht
auf dem Zugriff, den die verschiedensten aber einer gemeinsamen Situation entstam-
MitarbeiterInnen auf diese Daten haben. — men. Die trennenden Aspekte der Situation
Einen anderen G rund für die Explizitheit von sind — nicht zuletzt durch die zeitlich-räum-
Fachtexten sieht G iesecke 1983 in den An- liche Trennung der schriftlichen Situation —
forderungen, die an ein Kommunikations- wesentlich prägender als die gemeinsamen Si-
medium zu stellen sind, in Sozialsystemen mit tuationsfaktoren: Die Anonymität wird auch
anonymen, indirekten Rollenbeziehungen. kurzzeitig nicht aufgehoben, wie dies in einem
G iesecke, der Veränderungen der gesellschaft- mündlichen Verkaufsgespräch der Fall sein
lichen Rollenbeziehungen am Beispiel des Re- kann; der Aufbau persönlicher Beziehungen
zepts studiert, ist der Auffassung, daß fach- wird dadurch verhindert, daß die Kommuni-
sprachliche Texte heute als Folge anonymer kationspartner auf Seiten der Verkaufsfirma
indirekter Rollenbeziehungen wesentlich ex- ständig wechseln. (Das System, daß jede(r)
pliziter und kohärenter sind (vgl. 175 ff). Ob- Sachbearbeiter(in) den eigenen Kundenkreis
wohl die Rollenbeziehungen heute im schrift- betreut, wird nur bei sehr viel größeren Han-
lich abgewickelten Handel zweifelsohne an- delsgeschäften — G roßkunden bei Banken —
onym und indirekt sind — auch wenn die angewandt). Die spezielle Verkaufssituation
nicht-professionellen KundInnen sich dar- birgt die G efahr von Enttäuschungen. Eine
über nicht immer im klaren sind —, sind Bearbeiterin von zurückgeschickten Waren
wichtige schriftliche Texte im Handel nicht meint: „Die Leute sind sehr oft enttäuscht,
explizit und nicht kohärent: Im Versandhan- weil sie sich nach dem Katalog bestimmte
del enthalten beispielsweise sowohl Bestellun- Vorstellungen machen, in bezug auf Farbe, in
gen als auch Kontoauszüge viele Angaben, bezug auf Form, nicht wahr, daß sie das G e-
die alle für den Handel notwendigen Infor- fühl haben, ja das ist doch nicht das, was ich
mationen darstellen, ohne aber zu expliziten gerne hätte, wenn sie’s im Laden grade sehen,
und kohärenten Texten verbunden zu sein
624 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

würden sie’s überhaupt nicht in die Finger sie bestellen möchten, umgehen sie den Ver-
nehmen ... da sind dann die Leute eben ent- weis auf die zahlenmäßig konstruierte und für
täuscht.“ Diese Ausgangslage führt — zusam- sie absolut unmotivierte Wirklichkeit, die
men mit der Nicht-Professionalität der pri- einem System folgt, das nur die Eingeweihten
vaten Kunden — zu spezifischen Kommuni- durchschauen. Die meisten Kundinnen und
kationsproblemen. Dabei spielen die auf den Kunden lassen sich aber in Richtung dieses
ersten Blick auffälligsten Charakteristika der streng standardisierten schriftlichen Bestel-
privaten Kundentexte — die Fehler — keine lens disziplinieren. — Weil die Bestellnummer
Rolle (vgl. dazu 4.6.). Die folgenden Analysen das A und O darstellt, müssen für die Daten-
sind nach Kommunikationssituationen ge- erfassung, die außer Haus im Akkord ge-
ordnet; im Titel ist jeweils einer der wesent- schieht, im Bestellbüro die Zahlen lesbar ge-
lichen Aspekte der Analyse genannt. macht werden. Nur wenn es eine Nummer
nicht gibt, dann müssen die Bearbeiterinnen
4.1. Die Ansprache der KundInnen im versuchen, den gewünschten Artikel mithilfe
Katalog: Illusion einer persönlichen der übrigen verbalen Angaben zu identifizie-
Kommunikationssituation ren — erst dann spielen Angaben wie „Trä-
gerkleid“ auf der Bestellung eine Rolle. Wenn
Kataloge stellen den allgemeinen Ausgangs- diese Angaben auch nicht weiterhelfen, z. B.
punkt der Kommunikation dar: Sie versuchen weil nicht nur eine, sondern 11 verschiedene
— wie es in der Werbung üblich ist — eine weiße Jacken im Katalog sind, kommen wei-
persönliche herzliche Atmosphäre zu schaf- tere schriftliche und zum Teil mündliche
fen, beispielsweise indem für den Quelle-Ka- Kommunikationsakte in G ang; die Kunden
talog Frau Schickedanz persönlich die Kun- bekommen einen Formbrief und schreiben
den und Kundinnen anspricht oder indem ein noch einmal oder telefonieren.
beiliegender Brief davon spricht, daß Blü-
tenträume wahr werden: „Sollten sie uns noch 4.3. Kundenbriefe nach der Bestellung: oft
nicht kennen, dann möchten wir Sie jetzt persönlich und emotional bestimmt
herzlich einladen, einer reizvollen Moden-
schau beizuwohnen.“ Daß diese persönliche Nach den verbalen Intitialhandlungen von
Kommunikation in der weiteren Korrespon- beiden Seiten — Katalog und Bestellung —
denz gegenüber der sachorientierten zurück- findet weitere verbale Kommunikation nur
tritt, ist für einen Teil der Kunden und Kun- dann statt, wenn das G eschäft nicht problem-
dinnen, die in briefliche Korrespondenz mit los abgewickelt werden kann. — Wenn bei-
der Handelsfirma treten, mit ein G rund für spielsweise die Firma nicht liefern kann,
eine emotionale Verstimmung, die sie zum schickt sie den KundInnen einen Brief mit der
eigenen Schreiben veranlaßt. Bitte um G eduld. Wenn deren G eduld jedoch
erschöpft ist oder wenn eine Sendung bzw.
4.2. Die Bestellung: die Rechnung dazu nicht ihren Vorstellungen
entspricht, melden sich die KundInnen sehr
Die Nummer im Zentrum oft, indem sie anrufen oder schreiben und
In den Interviews zur Rolle der Schriftlichkeit ihrem Ärger darüber Ausdruck geben, daß
im Arbeitsalltag des Versandhandelsbetriebs die Ware nicht termingerecht geliefert wurde
(Befragungsdaten) wird ein roter Faden oder daß die Firma Lieferschwierigkeiten an-
schnell sichtbar. An den verschiedensten Ar- führt, die bestellten Kleider aber gleichzeitig
beitsplätzen geht es immer wieder darum, daß billiger im Ausverkaufskatalog führt etc. In-
die Zahlen richtig geschrieben werden: „Das wieweit die Merkmale, die professionelle
ganze Versandsystem basiert ja nicht auf der Handelsbriefe charakterisieren, auch für pri-
Sprache, sondern auf Zahlen“ — sagt der vate Briefe zutreffen, zeigen Kundenbriefe,
Chef. Die wichtigste Zahl in diesem Zusam- die in bezug auf folgende Merkmale analysiert
menhang ist die Bestellnummer. Im Bestell- worden sind: 1. Formalität der Briefstruktur,
büro wird darauf hingewiesen: „Sagen wir 2. Entpersönlichung, 3. Ausschaltung der
eine Bestellnummer, das ist ja die G röße und Emotionen, 4. Elemente der gesprochenen
die Farbe alles drin enthalten.“ Die Num- Sprache, 5. handelssprachliche Fremdwörter
mern, die für die Bestellung verwendet wer- und Formeln, 6. Maschinenschrift. Von 35
den, zeigen nicht auf die wahrnehmbare Um- Briefen aus einem Korpus von 100 Briefen,
welt, sondern verweisen auf eine zahlenmäßig die die Abteilung Kundendienst beantwortet,
konstruierte und durchgebildete Wirklichkeit. entsprechen ca. zwei Drittel der traditionellen
Wenn KundInnen Bilder aus dem Katalog Briefstruktur. Ein Drittel besteht aus Mit-
ausschneiden und auf diese Weise zeigen, was
47.  Schriftlichkeit im Handel 625

teilungen, die ohne Anrede großenteils auf Eine Detailanalyse von 30 Briefen aus einem
Rechnungs- oder Bestellformularkopien ge- größeren Korpus von 300 (nicht identisch mit
schrieben werden. Etwa ein Drittel der Briefe dem ebenfalls in 4.3. angesprochenen) ergibt
enthält gesprochensprachliche Merkmale. folgende Verhältnisse: Ein Viertel der Kun-
Der weitaus größere Teil der Briefe enthält dInnen spricht neben der G rundangabe für
handelssprachliche Fremdwörter und For- die Retouren (kaufmannssprachlich für: zu-
meln, und etwa die Hälfte ist maschinenge- rückgeschickte Waren) auch ein Lob (für die
schrieben. Etwa die Hälfte der Briefe ist nicht Kleider im allgemeinen) aus, ebenfalls ein
persönlich gehalten (insofern professionell). Viertel entschuldigt sich oder vertröstet auf
In der anderen Hälfte finden sich persönliche, ein anderes Mal. Wenige schlagen einen iro-
häusliche Schilderungen wie die folgenden, nischen oder spöttischen Ton an, um ihre
deren Orthographie und Interpunktion den Kritik anzubringen. Die professionell tönende
Originalen entsprechen: Handelsphraseologie ist bei diesen Briefen
— „Mein Mann bekam einen Lachkrampf, als er eher schwächer vertreten als beispielsweise in
die Söckli sah!!“ Reaktionen auf Mahnungen. Ein wesentlicher
— „Also ich rief an, um ein Dutzend Handtücher G rund dafür dürfte darin liegen, daß dafür
zu bestellen, weil ich sie gerne zum Geburtstag keine Wendungen und Äußerungen aus Brie-
am 12. Juni hätte, dachte ich, es geht schneller.“ fen der Verkäuferseite als Vorbild dienen und
— „(...) denn Sie wissen genau, dass es für Pri- direkt übernommen werden können.
vatleute sehr schwierig ist, Gürtel für Gr. 52/54
im Detail zu erhalten“ 4.4. Mahnungen (sog. „Kontoauszüge“):
Texte mit kommunikativer und
Ebenfalls etwa die Hälfte der Briefe enthält mnemotechnischer Funktion
sehr emotionale Passagen oder Elemente.
Meistens beklagen sich die KundInnen, Wenn die Firma Mahnungen verschickt und
manchmal ist das auch der ausschließliche die KundInnen nicht mehr wissen, wofür sie
Zweck ihres Briefes. Der Ärger bildet jeden- diesen Betrag schulden, resp. der Aufassung
falls den Anlaß ihres Schreibens. sind, daß sie die Rechnung schon bezahlt
— „Ums Himmels willen!“ haben oder nicht zur Zahlung verpflichtet
— „(...) ich finde, dass man als Kunde schon etwas sind, müssen sie sich telefonisch oder schrift-
besseres verdient hätte.“ lich melden. Die KundInnen fordern in sol-
— „Ich schreibe diesen Brief, weil ich nun endlich chen Fällen manchmal telefonisch oder in der
genug habe von Eurem Personal.“ Mehrzahl der Fälle schriftlich einen detail-
— „Warum kann dies Bader und Sie nicht?????“ lierten Kontoauszug an, auf dem sichtbar ist,
— „(...) bitte verzeihen sie, wenn ich Ihnen wann was geliefert, wann was zurückge-
schreibe, aber ich bin erbost, enttäuscht und schickt wurde und woraus sich der aktuelle
verärgert.“ Kontostand zusammensetzt. Der Kontoaus-
— „Ich finde es schon eine Gemeinheit (...)“ zug enthält Adresse, Datum, „Unser Zei-
— „Die Schreibfehler sin ein Ausdruck meines Är- chen“, öfters eine maschinenschriftlich ange-
gers.“ fügte Zeile „Wir bitten um Überprüfung und
danken im voraus bestens“ oder „gemäß Te-
Wenn man als Versandhandelskunde die Ware lefon“ u. ä. Auf jedem Auszug heißt es auch
nicht behalten will, so braucht man dies nicht „Im Falle einer Unstimmigkeit, wollen Sie uns
zu begründen: Umtausch und Rückgaberecht bitte den G rund auf diesem Auszug mittei-
innert 3 Tagen (in einwandfreiem Zustand len.“ Die Kontoauszüge haben kommunika-
und Originalverpackung) sind Vertragsbedin- tive Funktion, indem sie die Kunden und
gungen. 50% der Waren werden zurückge- Kundinnen darüber orientieren, daß sie mit
schickt. Dabei sehen sich viele KundInnen zu den Zahlungen in Verzug sind. Wenn sie mit
einer Erklärung veranlaßt oder wollen ihre kommentierenden Notizen versehen werden,
Meinung kundtun. Ihre Briefe oder Notizen informieren sie ihrerseits wiederum die Firma
enthalten (neben Unmutsäußerungen) häufig über den KundInnenstandpunkt. Sie haben
auch Entschuldigungen, Lob und Bedauern aber auch mnemotechnische Funktion, indem
und sehen folgendermaßen aus: sie das gespeicherte Wissen der Verkaufsfirma
— „Ich habe nur 1 Ledercile und eine Hose bestellt über bestellte Artikel, Bestell- und Rücksen-
und zweitens ist es zu klein. Ich bitte Sie um dungsdaten, Preise etc. enthalten und ein aus-
Verständniss, daher ich finanziell es gar nicht gelagertes G edächtnis darstellen, das nicht an
leisten kann. Ich werde bestimmt wieder mal
was bei ihrem Versand bestellen. Nochmals
viellmals Entschuldigung, vielen Dank für Ihre
Bemühungen. Es grüsst Sie Hochachtungsvoll.
P. S. Das andere passt ganz genau, vielen Dank.
626 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

einzelne Personen gebunden ist. Allenfalls Frist“, „es muß ein Fehler unterlaufen sein“,
kann die eine oder andere der Funktionen „um genaue Angaben bitten“, „meines Erach-
durch einen Zusatz akzentuiert werden — tens“, „zu meiner Entlastung“, „und verbleibe
wenn der detaillierte Kontoauszug nicht kom- mit freundlichen G rüßen“, „Verständnis
mentarlos geschickt, sondern der Computer- haben“, „Bitte prüfen Sie die Sache noch ein-
ausdruck nachträglich noch einmal in die mal“, „Ich hoffe, die enstandenen Mißver-
Schreibmaschine eingespannt und oben an- ständnisse lassen sich somit beseitigen.“,
gefügt wird: „Wie telefonisch besprochen „Hiermit schicke ich Ihnen eine Kopie von
schicken wir Ihnen zur Überprüfung“. Durch Ihrem Schreiben“, „Ich hoffe auf Ihr Ver-
diesen — wenn auch stichwortartigen und ständnis und danke Ihnen zum voraus.“, „Be-
anredelosen-kommunikativen Bezug zum sten Dank im voraus“. — Die Beziehungen
Empfänger wird der kommunikative Zweck zwischen Verkäufer und Käufer sind anonym.
in den Vordergrund gestellt. Ähnlich ist auch Währenddem die KundInnen in jedem Fall
das Bearbeiten von Kontoauszügen mit einen individuellen Brief (oder eine individu-
Leuchtstiften zu beurteilen: Es werden zuhan- elle Notiz) schreiben, den sie von A bis Z für
den der Kunden die wichtigen Positionen für diesen Anlaß produziert haben, verfügt die
das aktuelle kommunikative Problem mar- Versandhandelsfirma über eine ganze Reihe
kiert. Ohne diese kommunikativ ausgerichtete von Standardbriefen, die photokopiert vorlie-
Hilfe entsteht manchmal die Situation, daß gen, weder in bezug auf Anrede noch Unter-
diese Blätter voller Daten zwar exakt sind, schrift ergänzt werden und in Fällen, wie sie
kommunikativ aber nicht wohlbestimmt, in- immer wieder auftauchen, verschickt werden
dem die Kunden nicht wissen, welche der für können. Beispiele für solche Standardbriefe
alle Zwecke gespeicherten Daten für sie in der sind Bitten um eine genauere Adresse oder
jetzigen Situation relevant sind. Adreßänderungsangabe („Aus administrati-
ven G ründen benötigen wir neben Namen
4.5. KundInnen-Reaktionen auf und Ortschaft auch eine Straßen- oder Haus-
Mahnungen: Der individuelle Umgang bezeichnung.“), Anforderungen von schrift-
mit anonymen, indirekten lichen Bestätigungen und Erklärungen, in
Rollenbeziehungen Fällen, in denen Lieferungen bei den Kunden
resp. Rücksendungen bei Quelle nicht ange-
Dreißig ausgezählte Korrespondenzereignisse kommen sind, Erläuterungen zum Zahlungs-
(aus einem Korpus von 200), in denen die modus im Falle von Teilretouren („G emäß
KundInnen auf Mahnungen reagieren und Beilage wird bei einer Teilretoure immer eine
mit der Buchhaltung Kontakt aufnehmen, neue Rechnung mit Einzahlungsschein für die
weisen folgende Charakteristika auf: Obwohl behaltene Ware erstellt.“) etc. — Nicht alle
die Kunden explizit dazu aufgefordert wer- Kunden realisieren aber diese Anonymität in
den, ihre Bemerkungen zum Kontoauszug auf der Beziehung der Firma zu ihnen. Sie schrei-
demselben Blatt anzufügen, schreibt die ben in der Anrede ihrer Briefe: „Sehr geehrte
Hälfte der KundInnen einen Brief mit Datum, Frau Schickentanz“ (wobei zu sagen ist, daß
Adresse, Anrede, G rüßen und Unterschrift. sich Frau Schickedanz im Katalog mit Bild
Die andere Hälfte schreibt eine Notiz ohne „persönlich“ an die Kundinnen wendet). An-
Anrede, ohne G rüße, die lediglich meistens dere schreiben von „Ihrer Telefonistin oder
unterschrieben wird. Etwa ein Drittel der No- sind es zwei?“ — obschon es sich um eine
tizen wird ganz oder teilweise im Telegramm- größere G ruppe von Telefonistinnen handelt.
stil abgefaßt. Das folgende Beispiel entspricht Eine Telefonistin erzählt: „Eben, eine Kundin
in Orthographie und Interpunktion dem Ori- hat ja einmal geschrieben, ich glaube, eure
ginal: Telefonistin ist verliebt, es sei immer besetzt,
„Jup rot hat leider schwarze Flecken und Striche die sei sicher verliebt, hat sie geschrieben. Die
überall, vorne und hinten. Ich behalte ihn für die können sich das natürlich nicht vorstellen,
Hausarbeiten und bezahle nur Fr. 70. — dafür, an- daß es so viele (Kunden) hat, eigentlich aus
sonst retour.“ der ganzen Schweiz nicht wahr.“ Kommuni-
Phraseologische Wendungen oder Äußerun- kationsprobleme ergeben sich vor allem dar-
gen, die für die Handelskorrespondenz ty- aus, daß die KundInnen sich dieser anonymen
pisch sind und häufig auch von KundInnen- Rollenbeziehungen nicht genügend bewußt
seite gebraucht werden, sind: „Vor geraumer sind, viel seltener aus G ründen unangepaßter
Zeit“, „auf meinen Wunsch hin“, „da diese Fachterminologie o. ä. Obwohl die Rollen-
meinen Wünschen nicht entsprach“, „diesen beziehungen anonym und indirekt sind, sind
Fehler zu berichtigen“, „innert angegebener
47.  Schriftlichkeit im Handel 627

große schriftliche Textgruppen im Handel Berücksichtigung der neuesten Zeit. Neuphilologi-


nicht explizit und nicht kohärent: Beispiels- sche Mitteilungen 65, 332—360.
weise enthalten sowohl Bestellungen als auch Fachausdrücke des Verkehrs und Handels. Der
Kontoauszüge zwar viele Details, sind jedoch Weg der Ware von A—Z. Hg. vom Zentralverband
weder explizit noch kohärent, wie man das der deutschen Seehafenbetriebe. 1955. Aumühle.
von der Theorie der schriftlichen Texte her Kreuzer, Helmut (ed.). 1983. Fachsprache und
erwarten könnte. G ründe dafür liegen darin, Fachliteratur. Zeitschrift für Literaturwissenschaft
daß solche Texte sowohl der kommunikativen und Linguistik 51/52.
Übermittlung von Informationen dienen und Fluck, Hans-R. 1985. Fachsprachen. Tübingen. [3.
bestimmte Sprechakte realisieren als auch Aufl.].
gleichzeitig als kollektives, „ausgelagertes“ G abler. 1988. Wirtschaftslexikon. Wiesbaden [12.
(objektiviertes) G edächtnis aufgebaut wer- Aufl.].
den, auf das sich alle Beteiligten beziehen,
wenn es aus irgend einem G rund notwendig G iesecke, Michael. 1983. Überlegungen zur sozia-
wird. Sie haben sowohl kommunikative als len Funktion und zur Struktur handschriftlicher
auch mnemotechnische Funktionen. Wichtig Rezepte im Mittelalter. Zeitschrift für Literatur-
ist aber, zu sehen, daß diese Texte alle Daten wissenschaft und Linguistik 51/52, 167—184.
für alle denkbaren Probleme enthalten. Sie G rossmann, Hermann. 1927. Handbuch für Kauf-
können deshalb auch gar nicht explizit sein, leute. Berlin, Wien.
weil Explizitheit immer auf eine bestimmte Häcki Buhofer, Annelies. 1985. Schriftlichkeit im
kommunikative Problematik ausgerichtet Alltag. Theoretische und empirische Aspekte — am
ist. — Wer handschriftliche Notizen von Ver- Beispiel eines Schweizer Industriebetriebs. Bern [=
sandhandelspersonal und KundInnen sowie Zürcher Germanistische Studien 2].
Kundenbriefe analysiert, stößt auf mehr als v. Hahn, Walther (ed.). 1981. Fachsprachen. Darm-
bloß vereinzelte Fehler. Diese Sicht auf die stadt.
Fehler dominiert auch die Sicht derjenigen, —. 1983. Fachkommunikation. Berlin.
die als Angestellte des Versandhauses mit Hauschild, O. 1927. Sprache und Stil des Kauf-
Kundennotizen oder -briefen zu tun haben. manns. Ein Ratgeber auf sprachwissenschaftlicher
Das geht aus G esprächen immer sehr schnell Grundlage. Berlin/Bonn.
hervor. Für die Bewertung der Fehler sollte Hoberg, Rudolf. 1990. Sprachverfall? Wie steht es
aber nicht nur in die üblichen Sprachverfalls- mit den sprachlichen Fähigkeiten der Deutschen?
klagen eingestimmt werden, sondern folgen- Muttersprache. 100, 233—243.
des mit bedacht werden: Fehler sind nicht nur,
Kleiber, Wolfgang. 1984. Deutsche Sprachge-
aber auch Ausdruck individueller Textpro-
schichte und Wirtschaftsgeschichte. In: Besch, Wer-
duktion von A bis Z. Professionelle Texte sind
ner, Reichmann, Oskar & Sonderegger, Stefan
zum großen Teil entweder standardisiert und
(ed.). Sprachgeschichte — Ein Handbuch zur G e-
werden kopiert — an ihrer Form wird von
schichte der deutschen Sprache. Berlin, 1. Band,
mehreren Personen und in mehreren Durch-
70—85.
gängen gearbeitet oder sie werden von ge-
übten, ausgebildeten Mitarbeitern geschrie- Kolb, Stefan. 1989. Verfällt die Sprache? Meta-
ben. Deshalb entstehen in diesen Texten we- phern für die Deutung von sprachlichen Sympto-
niger Fehler, resp. sie werden im Laufe des men des kulturellen Wandels. Osnabrücker Bei-
mehrstufigen Produktionsverfahrens ausge- träge zur Sprachtheorie 40, 177—185.
merzt. — Andere als die hier besprochenen Kübler, Hans-Dieter. 1985. Ende der Schriftkultur?
Handelssituationen zeigen ähnliche Funktio- Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Mode-
nen und Merkmale des Schreibens (vgl. 1.). thema. Wirkendes Wort 6, 338—362
Weitere Untersuchungen in diesem Bereich Maas, Utz. 1985. Lesen — Schreiben — Schrift.
müßten aber weiterführende Erkenntnisse Die Demotisierung eines professionellen Arkanums
über alltagssprachliche und fachsprachliche im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zeit-
Aspekte des privaten und beruflichen Schrei- schrift für Linguistik und Literaturwissenschaft 59,
bens ermöglichen. 55—80.
Maschke, Erich. 1964. Das Berufsbewußtsein des
mittelalterlichen Fernkaufmanns. In: Wilpert, Paul
5. Literatur (ed.). Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelal-
Alanne, Eero. 1964. Das Eindringen von Fremd- terlichen Menschen. Berlin. 306—335.
wörtern in den Wortschatz der deutschen Handels- Pirenne, Henri. 1929. L’instruction des marchands
sprache des 20. Jahrhunderts — mit besonderer au moyen age. Annales de l’ histoire économique
et sociale 1, 13—28.
628 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Rörig, Fritz. 1953. Mittelalter und Schriftlichkeit. Siebenschein, Hugo. 1936. Abhandlungen zur Wirt-
Die Welt als Geschichte 13, 29—41. schaftsgermanistik. Prag.
Schirmer, Alfred. 1911. Wörterbuch der deutschen Sieber, Peter. 1990. Untersuchungen zur Schreib-
Kaufmannssprache auf geschichtlichen G rundlagen fähigkeit von Abiturienten. Muttersprache 100,
— mit einer systematischen Einleitung. Straßburg. 346—358.
—. 1952. Der Sprach- und Schriftverkehr der Wirt- Tenenti, Alberto. 1990. Der Kaufmann und der
schaft. Wiesbaden. [2. Aufl.]. Bankier. In: G arin, Eugenio (ed.). Der Mensch in
Schlieben-Lange, Brigitte & Kreuzer, Helmut. der Renaissance, 215—250.
1983. Probleme und Perspektiven der Fachspra- Wendelstein, Ludwig. 1912. Die Sprache des Kauf-
chen- und Fachliteraturforschung. Zur Einleitung. manns und seiner Korrespondenz. Leipzig.
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
51/52, 7—26. Annelies Häcki Buhofer, Basel (Schweiz)

48. Schriftlichkeit und Technik

1. Einleitung nen je nach den spezifischen Verwendungs-


2. Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und zwecken und -situationen nebeneinander exi-
Technik bis zum Ende der Antike stieren (z. B. heute: Toilettenmännchen vs.
3. Schriftlichkeit und Technik bis zum 16. Jahr- deutsche geschriebene Sprache).
hundert Sowohl die Vorformen als auch die ge-
4. Schriftlichkeit und Technik bis zum 17. Jahr- schriebene Sprache selbst besitzen für den
hundert Menschen gleichermaßen die Funktion, sich
5. Schriftlichkeit und Technik in der Gegenwart kommunikativ und kognitiv mit realen Sach-
6. Ausblick verhalten auseinanderzusetzen, diese Erfah-
7. Literatur rungen zu strukturieren und entsprechend den
individuellen und gesellschaftlichen Bedürf-
nissen nutzbar zu machen.
1. Einleitung Schlägt man heute ein Lexikon oder ein
„Schriftlichkeit“ soll hier als Oberbegriff für Handbuch der Technik auf, so fällt allen
zwei unterschiedliche markierende Tätigkei- Nichttechnikern sofort der geringe Anteil ge-
ten auf beständigem Material verstanden wer- schriebener Sprache auf; in den Büchern über-
den. Zum einen beinhaltet der Begriff ein voll wiegen eindeutig Piktogramme, G raphiken,
ausgebildetes geschriebenes Repräsentanten- Zeichnungen und Abbildungen. Weiterhin be-
system, bei dem sinnentleerte Elementarzei- stimmen mathematische Formeln und Tabel-
chen bedeutungstragende sprachliche Einhei- len das Bild. G eschriebener Sprache scheinen
ten konventionell konstituieren (alphabeti- lediglich Hilfsfunktionen wie Überschriften,
sches Repräsentantensystem), die sich über Quellenangaben und kurzen Erläuterungen
das Denken auf die außersprachliche Reali- vorbehalten zu sein. Die eigentlichen techni-
tät beziehen. Dieses System nenne ich im schen Inhalte sind durch andere graphische
Anschluß an Feldbusch 1985 „geschriebene oder numerische Zeichen dargestellt. Der Zu-
Sprache“. Zum anderen beinhaltet „Schrift- sammenhang von geschriebener Sprache und
lichkeit“ solche Repräsentantensysteme, die Technik stellt sich also zunächst als sehr lose
durch graphische und zeichnerische Markie- dar.
rungen auf reale Sachverhalte referieren, ohne
aber alle Kennzeichen des voll ausgebildeten
Systems aufzuweisen. Bei diesen „Vorformen“ 2. Der Zusammenhang von
geschriebener Sprache ist die Zuordnung zur Schriftlichkeit und Technik bis zum
Realität zum Teil nicht konventionell, son- Ende der Antike
dern erfolgt über Analogie (z. B. Bauzeich- Historisch gesehen bestätigt sich dieser Ein-
nungen, Piktogramme). Zudem ist ihr An- druck. Technik im Sinne der Ursprungsbedeu-
wendungsbereich eingeschränkt. Vorformen tung (griech. technikos ‘Handwerk, Kunst-
und geschriebene Sprache selbst lösen sich werk’) entwickelte sich wahrscheinlich lange
nicht genetisch voneinander ab, sondern kön- Zeit unabhängig von geschriebener Sprache.
628 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Rörig, Fritz. 1953. Mittelalter und Schriftlichkeit. Siebenschein, Hugo. 1936. Abhandlungen zur Wirt-
Die Welt als Geschichte 13, 29—41. schaftsgermanistik. Prag.
Schirmer, Alfred. 1911. Wörterbuch der deutschen Sieber, Peter. 1990. Untersuchungen zur Schreib-
Kaufmannssprache auf geschichtlichen G rundlagen fähigkeit von Abiturienten. Muttersprache 100,
— mit einer systematischen Einleitung. Straßburg. 346—358.
—. 1952. Der Sprach- und Schriftverkehr der Wirt- Tenenti, Alberto. 1990. Der Kaufmann und der
schaft. Wiesbaden. [2. Aufl.]. Bankier. In: G arin, Eugenio (ed.). Der Mensch in
Schlieben-Lange, Brigitte & Kreuzer, Helmut. der Renaissance, 215—250.
1983. Probleme und Perspektiven der Fachspra- Wendelstein, Ludwig. 1912. Die Sprache des Kauf-
chen- und Fachliteraturforschung. Zur Einleitung. manns und seiner Korrespondenz. Leipzig.
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
51/52, 7—26. Annelies Häcki Buhofer, Basel (Schweiz)

48. Schriftlichkeit und Technik

1. Einleitung nen je nach den spezifischen Verwendungs-


2. Der Zusammenhang von Schriftlichkeit und zwecken und -situationen nebeneinander exi-
Technik bis zum Ende der Antike stieren (z. B. heute: Toilettenmännchen vs.
3. Schriftlichkeit und Technik bis zum 16. Jahr- deutsche geschriebene Sprache).
hundert Sowohl die Vorformen als auch die ge-
4. Schriftlichkeit und Technik bis zum 17. Jahr- schriebene Sprache selbst besitzen für den
hundert Menschen gleichermaßen die Funktion, sich
5. Schriftlichkeit und Technik in der Gegenwart kommunikativ und kognitiv mit realen Sach-
6. Ausblick verhalten auseinanderzusetzen, diese Erfah-
7. Literatur rungen zu strukturieren und entsprechend den
individuellen und gesellschaftlichen Bedürf-
nissen nutzbar zu machen.
1. Einleitung Schlägt man heute ein Lexikon oder ein
„Schriftlichkeit“ soll hier als Oberbegriff für Handbuch der Technik auf, so fällt allen
zwei unterschiedliche markierende Tätigkei- Nichttechnikern sofort der geringe Anteil ge-
ten auf beständigem Material verstanden wer- schriebener Sprache auf; in den Büchern über-
den. Zum einen beinhaltet der Begriff ein voll wiegen eindeutig Piktogramme, G raphiken,
ausgebildetes geschriebenes Repräsentanten- Zeichnungen und Abbildungen. Weiterhin be-
system, bei dem sinnentleerte Elementarzei- stimmen mathematische Formeln und Tabel-
chen bedeutungstragende sprachliche Einhei- len das Bild. G eschriebener Sprache scheinen
ten konventionell konstituieren (alphabeti- lediglich Hilfsfunktionen wie Überschriften,
sches Repräsentantensystem), die sich über Quellenangaben und kurzen Erläuterungen
das Denken auf die außersprachliche Reali- vorbehalten zu sein. Die eigentlichen techni-
tät beziehen. Dieses System nenne ich im schen Inhalte sind durch andere graphische
Anschluß an Feldbusch 1985 „geschriebene oder numerische Zeichen dargestellt. Der Zu-
Sprache“. Zum anderen beinhaltet „Schrift- sammenhang von geschriebener Sprache und
lichkeit“ solche Repräsentantensysteme, die Technik stellt sich also zunächst als sehr lose
durch graphische und zeichnerische Markie- dar.
rungen auf reale Sachverhalte referieren, ohne
aber alle Kennzeichen des voll ausgebildeten
Systems aufzuweisen. Bei diesen „Vorformen“ 2. Der Zusammenhang von
geschriebener Sprache ist die Zuordnung zur Schriftlichkeit und Technik bis zum
Realität zum Teil nicht konventionell, son- Ende der Antike
dern erfolgt über Analogie (z. B. Bauzeich- Historisch gesehen bestätigt sich dieser Ein-
nungen, Piktogramme). Zudem ist ihr An- druck. Technik im Sinne der Ursprungsbedeu-
wendungsbereich eingeschränkt. Vorformen tung (griech. technikos ‘Handwerk, Kunst-
und geschriebene Sprache selbst lösen sich werk’) entwickelte sich wahrscheinlich lange
nicht genetisch voneinander ab, sondern kön- Zeit unabhängig von geschriebener Sprache.
48.  Schriftlichkeit und Technik 629

Skizzen und Zeichnungen, also Vorformen, experimentelle, sondern philosophisch-ma-


dagegen müssen bereits von einem frühen Sta- thematische Verfahren bevorzugte, sich dem-
dium der Technikentwicklung an bei der Pla- nach also auf einer qualitativ höheren Stufe
nung und Arbeit zur Verfügung gestanden mit den realen Sachverhalten auseinander-
haben. Überliefert davon ist kaum etwas. Ent- setzte. Die Erfindungen des Archimedes
weder wurden sie nicht für Wert befunden, auf (287—212 v. Chr.) — z. B. die Wasserschraube
einem materiellen und dauerhaften Träger und der Flaschenzug — sowie die mechani-
aufbewahrt zu werden, oder sie wurden als G e- schen Vorrichtungen — z. B. Uhren — des
heimnisse gehütet. Es waren primär die Erfor- Hero von Alexandria (Lebensdaten unbe-
dernisse des Handels, der Verwaltung, der Po- kannt, aber nach Archimedes) dagegen waren
litik usw., die zur Herausbildung der geschrie- praktischer orientiert, die konkreten Anwen-
benen Sprache führten (vgl. Feldbusch 1985), dungsmöglichkeiten und damit der Umgang
nicht die der Technik. Die gegenseitige Be- mit den realen Sachverhalten selbst, standen
dingtheit von Schrift- und Technikentwick- bei ihnen im Vordergrund. Infolgedessen tre-
lung, wie sie z. B. von Leroi-G ourhan (1964) ten die geschriebenen theoretischen Abhand-
angenommen wird, läßt sich anhand der lungen gegenüber Zeichnungen und Plänen
Quellen nicht belegen. Möglicherweise kann deutlich zurück.
von einer Parallelentwicklung gesprochen In Rom (→ Art. 38) diente die geschriebene
werden, denn tatsächlich entwickelte sich ge- Sprache im Bereich der Technik besonders zur
schriebene Sprache bevorzugt in technisch Aneignung, Verbreitung und Übertragung des
hochstehenden G esellschaften. Dies ist leicht in G riechenland entstandenen technischen
zu erklären, da aufwendige technische Pro- Wissens. Viele technische Schriften können
jekte naturgemäß einen erheblichen Wirt- als „Lehrbücher“ angesehen werden. Dios-
schafts- und Verwaltungsaufwand bedingen, korides (1. Jh. n. Chr.) behandelt in seiner
der ohne dauerhaft gespeicherte Organisation „Materia medica“ umfassend das chemische
nicht bewältigt werden kann. und physikalische Wissen seiner Zeit. Er
Über die gewaltigen technischen Leistun- stellte u. a. Anleitungen zur G ewinnung bzw.
gen der Ägypter, die beeindruckende natur- Herstellung von Zinkoxyd, Kupfervitriol und
wissenschaftliche Kenntnisse voraussetzten, Bleiweiß vor. Noch ausführlicher in ihrer
existieren nur indirekte geschriebene Zeug- Darstellungs- und Themenbreite war die 37—
nisse (z. B. die Aufzeichnungen des griechi- bändige „Naturalis historia“ des Cajus Plinius
schen Schriftstellers Herodot). Es ist eigent- Secundus (gestorben 79 n. Chr.). Sie kann als
lich unvorstellbar, daß z. B. der Bau der Py- naturwissenschaftliche Enzyklopädie der Zeit
ramiden ohne geschriebene Reflexionen von- angesehen werden und diente allen Anschein
statten gegangen sein soll, doch ist ja der hohe nach Zwecken der kaufmännischen Allge-
Stand der ägyptischen Technik insgesamt ei- meinbildung. Dies kommt u. a. darin zum
gentlich unvorstellbar. Es kann deshalb nicht Ausdruck, daß die Arbeit sich nicht auf
völlig ausgeschlossen werden, daß die ägyp- die technischen und naturwissenschaftlichen
tischen Baumeister und Priester ihre Kennt- Sachverhalte beschränkte, sondern z. B. kauf-
nisse und Fertigkeiten als G eheimwissen- männisch interessante Informationen über
schaft ausschließlich mündlich tradierten. Preise und Verkehrswege enthielt. Beide Ar-
Etwas enger gestaltete sich der Zusammen- beiten waren in erster Linie rezeptiv; selbstän-
hang von Schriftlichkeit und Technik in G rie- dige Forschungsbeiträge sind nicht enthal-
chenland (→ Art. 37). Die Aufzeichnungen ten (sieht man von einigen Erlebnisberichten
des Empedokles aus Agrigent (492—432 v. ab). Eigenständige geschriebene Beiträge zur
Chr.) sowie die Arbeiten des Aristoteles dien- Technik entstanden in Rom vor allem auf dem
ten in hohem Maße der Entwicklung einer G ebiet der Architektur. Marcus Vitruvius
physikalischen Naturanschauung, waren also Pollios (um 27. v. Chr.) zehn Bücher „De Ar-
in erster Linie theoretisch orientiert. Aristo- chitectura“ stellten die G rundsätze des Bau-
teles beschrieb und begründete die Wirkung ens dar, behandelten Materialien, Pläne, Ma-
des Hebels und beschleunigte dadurch die schinenbau und Ingenieurwesen. Seine Werke
Verbreitung dieser Technik. Erfunden hatte er erlangten ebenfalls Lehrbuchgeltung, die über
diese Technik nicht; sie wurde schon lange Jahrhunderte andauerte.
vor ihm angewendet, ist also nicht an Schrift- Bis zum Ende der Antike bleibt festzuhal-
lichkeit gebunden. Die Art seiner Darstellung ten, daß die Technik offenbar nicht direkt auf
und Beweisführung konnte jedoch kaum ohne geschriebene Sprache angewiesen war. Ihre
geschriebene Sprache auskommen, da er nicht Rolle beschränkte sich auf technische Rand-
630 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

bereiche wie Verwaltung, Ökonomie und Di- der den gesamten Bau über mehrere Jahre
daktik. Darüber hinaus diente sie der Ver- hinweg leitete. Seine Tätigkeiten den Bauher-
breitung technischer und naturwissenschaft- ren gegenüber waren mündliches Erklären
licher Kenntnisse. Der technischen Anwen- und Beruhigen; anscheinend hatte er nicht
dung dienten maßgeblich Vorformen ge- einmal einen Bauplan vorgelegt, denn die
schriebener Sprache wie Skizzen und Zeich- Bauherren wußten lange Zeit nicht, was er
nungen. Es muß jedoch einschränkend be- denn eigentlich plante. Seine Tätigkeiten den
merkt werden, daß diese Aussagen auf einer Handwerkern gegenüber waren Anleiten, An-
problematischen Quellenlage beruhen. So ordnen, Zeigen, Delegieren und Vormachen.
sind beim Brand der alexandrinischen Biblio- Lediglich an einer Stelle bleibt unklar, ob
thek zumindest viele der physikalischen Auf- er den Steinmetzen graphische Vorlagen gab
zeichnungen von Aristoteles verloren gegan- oder ob er ihnen Muster vorlegte. Der Kon-
gen. Und Wilsdorf (1977) weist darauf hin, text läßt jedoch letzteres vermuten. Der Bau-
daß gerade das „technische Schrifttum“ stär- meister verfügte offenbar über das bautech-
ker als das literarische untergegangen sei, da nische Wissen seiner Zeit, was auf die inten-
es „nicht zur pädagogisch ausgenutzten Lite- sive Auseinandersetzung mit bereits verarbei-
ratur gehörte“. tetem Wissen schließen läßt. Um es in die
Praxis umzusetzen, mußte er sich jedoch aus-
schließlich der gesprochenen Sprache bzw.
3. Schriftlichkeit und Technik bis zum körperlicher Demonstrationen bedienen. Die
16. Jahrhundert Kenntnis und Reflexion geschriebener Erfah-
rungen existierte also somit allenfalls auf einer
Nach dem allgemeinen Niedergang der Tech- hohen und schmalen Ebene der technischen
nikentwicklung durch den Untergang des rö- Hierarchie.
mischen Reiches und die Völkerwanderung Die Erfindung und Verbreitung des Buch-
kamen den technischen Schriften Roms und drucks verbesserte die Quellenlage erheblich,
G riechenlands in den mittelalterlichen Staa- da ja die Drucker streng nachfrageorientiert
ten neue Funktionen zu. Sie dienten nun nicht arbeiteten. Der Druck eines Buches zeigt so-
mehr als Lehrbücher, die die Erklärungen und mit den gesellschaftlichen Bedarf an. Die er-
Erläuterungen der Meister erleichterten bzw. sten gedruckten Titel belegen, daß die gesell-
überflüssig machten, sie waren nun die allei- schaftlichen Bedürfnisse zunächst weniger auf
nigen Übermittler wichtiger Bereiche techni- technische als auf religiöse, moralische, poli-
scher Kenntnisse und Fertigkeiten. Es ist zwar tische Schriften orientiert waren. Das erste
schwer zu sagen, inwieweit die Schriften tat- gedruckte technische Buch ist wahrscheinlich
sächlich von den Technikern (Baumeistern, das 1472 in Verona erschienene Werk „De Re
Handwerkern, Bergleuten) rezipiert worden Militari“ von Robertus Valturius. Das Buch
sind, doch wird von verschiedener Seite dar- befaßt sich mit dem militärischen Ingenieur-
auf hingewiesen, daß „die Traktate über Tech- wesen seiner Zeit, stellt militärisch-technische
nik in den scriptoria wiederholt kopiert“ wur- G eräte (z. B. Schiffe) vor und gibt Herstel-
den (vgl. Riché 1981, 173). Jedenfalls muß es lungsanleitungen. Es diente vor allem politi-
Wege gegeben haben, das verschüttete tech- schen Zwecken (Aufrüstung) und war für die
nische Wissen wieder für die Praxis nutzbar damaligen Techniker notfalls auch ohne Le-
zu machen. sefähigkeit zu verwerten, da es im großen
Auf der anderen Seite zeigen Beschreibun- Umfang mit Bildern und G raphiken arbeitete,
gen mittelalterlicher Konzentrationen techni- so daß die Rezipienten aufgrund der analogen
scher Einrichtungen (Schmiede, Eisenschnei- Zuordnung vom Repräsentanten zum G egen-
der, Eisenschmelzer, Köhler usw., vgl. Borst stand angeleitet werden konnten. Die einge-
1979, 214 ff) ein schrift- und kulturloses Bild schränkte Kenntnis des voll ausgebildeten Re-
roher Handwerker und Arbeiter, die arbeite- präsentantensystems führte hier zu der zu-
ten und schlemmten, gewiß aber nicht lasen. sätzlichen Verwendung von Vorformen.
Offenbar wurden die technischen Kenntnisse Von 1483 bis 1490 erschienen in Rom die
immer noch (oder wieder) vorwiegend münd- bereits erwähnten zehn Bücher des Marcus
lich tradiert. Es sind aber auch Zwischenfor- Vitruvius Pollio „De Architectura“. Daß sie
men denkbar. Die Beschreibung eines um- fast eineinhalbtausend Jahre nach ihrer Ent-
fangreichen Kirchenneubaus im 12. Jahrhun- stehung immer noch als oft nachgefragtes
dert (vgl. Borst 1979, 219 ff) stellt einen offen- Lehrbuch der Architektur gelten konnten,
bar gebildeten und belesenen Baumeister vor, zeigt entweder den langsamen Fortschritt der
48.  Schriftlichkeit und Technik 631

Bautechnik oder die Weitsichtigkeit des Ver- erworbener Kenntnisse blieb zwar weiterhin
fassers. Immer wieder wurden technische wichtig, doch wurden nun neue, grundlegende
Klassiker der Antike neu gedruckt. So er- technische und naturwissenschaftliche Erfin-
schien in Basel 1544 eine Art G esamtausgabe dungen, Entdeckungen und Weiterentwick-
der Schriften des Archimedes mit dem Titel lungen rasch einem technisch und wissen-
„Opera Omnia“, die sich in der Folgezeit gro- schaftlich interessierten Publikum zugänglich
ßer Verbreitung erfreute. gemacht und zur Diskussion gestellt. Nicht
Seit dem 15. Jahrhundert erschienen auch mehr das Bewährte, sondern das Neue, das
in etwas größerer Zahl eigenständige techni- Umwälzende stand nun im Zentrum des In-
sche Arbeiten. 1485 wurden in Florenz die teresses, und technische Veröffentlichungen
aktuellen Fortschritte der Baukunst durch trugen sehr nachhaltig zur Veränderung des
Leon Battista Albertis Werk „De Re Aedifi- Weltbildes bei. Vielleicht kann das 1638 in
catoria“ der Öffentlichkeit vorgestellt. In Leiden veröffentlichte Werk G alileo G alileis
Straßburg veröffentlichte 1512 Hieronymus „Discorsi e Dimostrazioni Matematiche“ als
Brunschwig sein „Buch der wahren Kunst zu erstes gedrucktes Buch mit dieser Wirkung
destillieren“, welches auch eigene chemikali- bezeichnet werden. Zusammen mit den „New
sche Forschungen neben älteren Erkenntnis- Experiments Physico-Mechanical touching
sen enthielt. Zwar zunächst kunsttheoretisch the Air“ (Oxford 1660) von Robert Boyle und
orientiert war Albrecht Dürers „Unterwey- Robert Hookes „Micrographia“ (London
sung der Messung“ (Nürnberg 1525), doch 1665) wurden die G rundlagen einer neuen
umfaßte es auch anwendungsbezogene Teile, Mechanik gelegt, die schließlich das Indu-
die das (Kunst)handwerk und die Architektur striezeitalter ermöglichten. Neu ist auch, daß
betrafen. innerhalb der Technik öffentliche Diskussio-
Über eine sehr alte Tradition verfügt in nen wie vorher nur in der Politik und Religion
Mitteleuropa die Technik des Bergbaus. Trotz geführt wurden. Die zweite Auflage von Boy-
ihrer Aufwendigkeit konnte sie anscheinend les „Experiments“, die 1662 erschien, enthält
lange Zeit ohne geschriebene Sprache aus- eine Auseinandersetzung mit abweichenden
kommen. Zwar finden sich seit dem 9. Jahr- Thesen und Angriffen Robert Hookes. Die
hundert geschriebene bergbausprachliche Be- nachträglich bewunderten wissenschaftlich-
lege (vgl. Piirainen 1989), doch handelt es sich technische Schriften Leonardo da Vincis
dabei um literarische (Bergmannslieder, Sa- scheinen dagegen zu seinen Lebzeiten weniger
gen, Erbauungsliteratur) und juristische beachtet worden zu sein.
(Bergrecht) Zeugnisse. Erst 1556 erschien in Im 18. Jahrhundert nahm die Zahl tech-
Basel die erste grundlegende und anwen- nischer Publikationen erheblich zu. 1704 er-
dungsorientierte Darstellung über Bergbau schien in London das technische Nachschla-
und Hüttenwesen „De Re Metallica“ von gewerk „Lexicon Technicum, or an Universal
G eorgius Agricola. Sie enthält illustrierte Ab- English Dictionary of Arts and Scienes“ von
schnitte über Maschinen- und Energieeinsatz John Harris. Ebenfalls 1704 in London ver-
(Wasserkraft), Förderungs- und Pumptech- öffentlichte Sir Isaac Newton seine vieldis-
niken, Hochofentechnik sowie Anweisungen kutierte Abhandlung über Farben, Licht und
und Hilfestellungen zur Verwaltung, Betriebs- optische G eräte „Opticks“. Immer wichtiger
organisation usw. Das Buch konnte lange Zeit wurden, besonders im folgenden Jahrhundert,
die Stellung eines G rundlagenwerks der Berg- wissenschaftliche Zeitschriften und Sitzungs-
bautechnik einnehmen, wurde oft gedruckt berichte, die sich technischen Themen geöff-
und noch 1912 ins Englische übersetzt. net hatten. An erster Stelle sind hier die Lon-
doner „Philosophical Transactions of the
Royal Society“ zu nennen, aber auch die
4. Schriftlichkeit und Technik seit dem „Monatsberichte der Berliner Akademie der
17. Jahrhundert Wissenschaften“ erlangten erhebliche Bedeu-
tung. Die Erfindungen und Entdeckungen
Etwa seit dem 17. Jahrhundert kam der Alexander Voltas, Sir G eorge Cayleys, G eorg
Schriftlichkeit im Bereich der Technik eine Simon Ohms, Werner Siemens’ und Alexan-
neue Funktion zu. Insgesamt diente die ge- der Bells wurden durch Periodika bekannt
schriebene Auseinandersetzung mit der Tech- gemacht. Diese Publikationsart erlaubte eine
nik nun vor allem der Planung und Organi- erheblich schnellere Veröffentlichung, die
sation zukünftigen Fortschrittes. Die Rezep- Möglichkeit kritisierender Stellungnahmen
tion der Klassiker und über lange Zeit hinweg sowie ergänzende Anschlußberichte. Auch
632 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

kleinere Fortschritte, die keine Buchveröf- eines technischen G erätes wurde vom Her-
fentlichung gerechtfertigt hätten, konnten steller oder Händler ausführlich in den Um-
nun sofort verbreitet und diskutiert werden. gang damit eingewiesen. Selbst der gespro-
Der technische Fortschritt wurde dadurch er- chenen Sprache kam dabei nur eine bedingte
heblich beschleunigt. Rolle zu. Der meist nicht sehr eloquente Tech-
Man kann annehmen, daß spätestens mit niker zeigte, machte vor, demonstrierte.
Beginn des 19. Jahrhunderts die technische Rationalisierung, Massenproduktion, gro-
Entwicklung eng an die geschriebene Sprache ße unüberschaubare Absatzmärkte, anonyme
gebunden war. Kein Techniker, der auf der Vertriebswege und komplizierter werdende
Höhe der Zeit seiner Disziplin sein wollte, Produkte stellten die Techniker vor zwei neue
konnte auf das Studium technischer Zeitun- Aufgaben, die nur mit Hilfe des geschriebe-
gen und Zeitschriften mehr verzichten. Dies nen Repräsentantensystems bewältigt werden
galt besonders für den industriellen Bereich, konnten. Neben der Vereinheitlichung der
da hier sehr bald der konkurrenzbedingte technischen G eräte und Hilfsmittel mußten
Zwang zur stetigen technischen Innovation auch die entsprechenden Benennungen ver-
einsetzte. Auch die Öffentlichkeit konnte nun einheitlicht werden, der Zwang zur Normung
an der technischen Diskussion teilnehmen, umfaßte also Wörter und Sachen. Und zwei-
weil die populären Zeitungen Neuerungen tens, da Techniker und Anwender kaum mehr
und Erfindungen begeistert vorstellten und in direkten Kontakt kommen konnten, mußte
feierten. der Techniker dem Anwender schriftlich den
Insgesamt wird die Produktion und Rezep- Umgang mit dem jeweiligen technischen Pro-
tion geschriebener Sprache im Bereich der dukt erklären. Die Techniker waren somit
Technik zur notwendigen Voraussetzung von genötigt, sich mit Fragen auseinanderzuset-
Entwicklung und Innovation, da die Komple- zen, welche die Sprache selbst, die Sprachver-
xität und Vielfalt des Erfahrungsmaterials nur wendung und Sprachgestaltung betrafen.
noch mit Hilfe dauerhafter Fixierung, Verar-
beitung und Planung effektiv genutzt werden 5.1. Terminologie und Normung
kann.
Dabei stellten sie rasch fest, daß die Sprache
anderen Bedingungen und Regeln als die
5. Schriftlichkeit und Technik in der Technik unterliegt. Synonyme, Homonyme,
Gegenwart Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten er-
schwerten die Aufgabe der Normung erheb-
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fördert lich. Die Techniker waren unzufrieden mit der
die geschriebene Sprache die technische Dis- Sprache:
kussion und die rasche Ausbreitung techni- So stellen die modernen Sprachen noch jetzt den
scher Innovationen. Die Techniker selbst, primitiven Zustand dar, dem etwa ein Fußweg
soweit sie nicht publizierten oder lasen, konn- durch den Urwald vergleichbar wäre. Alle Zufäl-
ten immer noch weitgehend auf geschrie- ligkeiten der früheren Entstehung und Umbildung,
bene Sprache verzichten. Sie hatten für ihre alle Unbequemlichkeiten aus einer Zeit, welche die
Zwecke ja ihre eigenen graphischen Systeme. Bedürfnisse der unseren noch gar nicht kennen
Allerdings wurden die Techniker in industri- konnte, werden mit der Hingabe zu konservieren
ellen G roßunternehmen schon bald zur Pro- versucht, die um so leidenschaftlicher ist, je unge-
duktion zweier schriftlicher Textsorten genö- nügender die sachlichen G ründe sind, auf die man
tigt. Sie konnten dem Firmeninhaber nun sich stützt. (Ostwald 1911, 15 f)
nicht mehr sagen und zeigen, was sie machten Die Sprache müsse streng auf den Boden der
und machen wollten, sie mußten für ein Technik gestellt werden, sie müsse den An-
anonymes Aufsichtsgremium technische Be- forderungen der Zeit angepaßt werden. Es
richte und Anträge verfassen. Es muß aber wurden private und staatliche Institutionen
gesagt werden, daß bis heute an die sprach- geschaffen, die diese Aufgabe übernehmen
liche Qualität dieser Textsorten keine hohen sollten. Bereits 1901 entstand in den USA das
Ansprüche gestellt werden. Vor allem aber „National Bureau of Standards“, welches
gab es bis dahin kaum ein technisches Pro- seitdem als Bundesbehörde für Sach- und
dukt, für das der Techniker einen geschrie- Sprachnormung gleichzeitig zuständig ist. In
benen Text verfassen mußte, damit sein Be- Deutschland bzw. im deutschen Sprachraum
nutzer überhaupt damit umgehen konnte. arbeitet seit 1917 der „Normalienausschuß
Viele Produkte bedurften einfach keiner Er- für den Maschinenbau“ (zunächst umbenannt
klärung, und der Käufer einer Maschine oder
48.  Schriftlichkeit und Technik 633

in „Normenausschuß der deutschen Indu- auf allen Ebenen der mündlichen Kommuni-
strie“, seit 1926 „Deutscher Normenaus- kation erhalten. Technische Sprachnormung
schuß, DNA“) als unabhängige Körperschaft. ist also in erster Linie eine Angelegenheit der
Der DNA gibt durch Normblätter die be- geschriebenen Sprache.
kannten „DIN“-Normen heraus (Abkürzung Im Rahmen der Internationalisierung der
für „Das Ist Norm“ bzw. früher „Deutsche Wirtschaftsbeziehungen kommt der über
Industrie Normen“), deren Einhaltung jedoch Sprach- und Staatsgrenzen hinausgehenden
auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht. Normung eine besondere Bedeutung zu. An-
Betroffen von der Sprachnormung sind in sätze und Bemühungen zur internationalen
erster Linie Wörter (auch Abkürzungen usw.), Koordination gab es bereits in den zwanziger
sehr selten komplexere sprachliche Einheiten. Jahren, der nationalen oder sprachraum-
Der Normung unterzogen werden Bezeich- angepaßten Normung vergleichbare Erfolge
nungen, die bereits innerhalb eines bestimm- konnten aber bisher nur auf wenigen G ebie-
ten Verkehrsraumes (eines Unternehmens, ten erzielt werden. Eine führende Rolle neh-
einer Branche, einer Region) G eltung besit- men hier die verschiedenen Institutionen der
zen; selten werden neue Wörter geprägt. Ziel EG ein, ansonsten sind vor allem mehrspra-
ist es dann, Einheitlichkeit für einen größeren chige Wörterbücher verschiedener Technik-
G eltungsbereich (Staat oder Sprachraum) zu zweige das Ergebnis dieser internationalen
erlangen. Die normenden Institutionen son- Zusammenarbeit.
dern überflüssige Synonyme aus und „trans-
formieren“ die übriggebliebenen Wörter mit- 5.2. Transferprobleme
tels Definition und Systematisierung in Ter-
mini, wobei die ehemaligen Wörter ihre ur- Möglicherweise war es für Techniker schon
sprünglichen Vieldeutigkeiten und Ungenau- immer schwierig, Nichttechnikern technische
igkeiten zumindest teilweise verlieren: Zusammenhänge und Fertigkeiten sprachlich
Der Terminus ist als G lied der Terminologie leichter zu übermitteln. Jedenfalls liefert jeder Auto-
faßbar und bestimmbar als das Wort, denn seine mechaniker, den man nach Einzelheiten eines
Bedeutung ist der umrissene Begriff oder ein G e- Motorenproblems fragt, ein Indiz für diese
genstand der Außenwelt, und seine Ordnung ist das Vermutung. Der Zwang aber, weitgehend un-
terminologische System (Feld). (Ischreyt 1965, 134) bekannten Anwendern technischer Produkte
Die Erfolge der normenden Institutionen auf auf schriftlichem Wege Anweisungen und Er-
dem G ebiet der Sprache sind schwer einzu- klärungen zu übermitteln, stellt noch heute
schätzen. Weitgehend übernommen werden Techniker vor unüberwindliche Probleme.
die Vorschläge oder Anweisungen von Lehr- Und es ist eine Binsenwahrheit, daß die mei-
büchern, wissenschaftlichen Publikationen, sten technischen Dokumentationen (= Fach-
staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen ausdruck für G ebrauchsanleitungen, Repa-
(Post, Eisenbahn usw.) und G roßunterneh- raturhinweise, Sicherheitsvorschriften usw.)
men. Insgesamt kann also eine Verbreitung vom Standpunkt der Anwender aus gesehen
angenommen werden, die auch eine Ausstrah- unverständlich sind.
lung auf andere G ebiete hat. Allerdings sind Die Ursachen für die Unverständlichkeit
die Erfolge der Sprachnormung sicherlich ge- technischer Dokumentationen sind vielfältig.
ringer als auf dem G ebiet der Sachnormung. Fachausdrücke werden über die gesamte Pro-
Kaum ein Papierhersteller käme heute auf die duktentwicklung vom Pflichtenheft bis zur
Idee, andere Papierformate als die in den G ebrauchsanweisung durchgehend unerklärt
DIN-A Beschreibungen angegebenen For- verwendet. Denk- und Handlungsschritte, die
mate auf den Markt zu bringen, obwohl er es dem Techniker selbstverständlich erscheinen,
dürfte. Bei den Benennungen behalten sich werden überhaupt nicht erwähnt. Besonders
jedoch viele Produzenten traditionelle oder gern versuchen Techniker jedoch, mit ihren
werbeträchtige Namen vor. Noch geringer eigenen Repräsentationssystemen technische
dürften die Normungserfolge in den gespro- Zusammenhänge darzustellen. Nur Techni-
chenen Fachsprachen der jeweiligen Technik- kern verständliche Piktogramme und Zeich-
zweige sein. Viel diskutiert wurde in den 80er nungen werden ohne geschriebene Sprache
Jahren die DIN-Vorschrift für die Benennung und somit unerläutert benutzt, wobei nicht
von Schraubenziehern. Während der DIN- beachtet wird, daß die Entschlüsselung der
gerechte Terminus Schraubendreher immerhin Repräsentanten an einen gemeinsamen Erfah-
in einigen technischen Lehrbüchern verwen- rungshorizont gebunden ist. Da aber eine feh-
det wurde, blieb der traditionelle Ausdruck lerhafte oder unverständliche Dokumentation
634 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

unmittelbare Auswirkungen auf die Brauch- 6. Ausblick


barkeit und damit die Qualität eines Produk-
tes haben kann, führte diese Aufgabe des G eschriebene Sprache hat also in der Technik
Technikers schon immer zu Konflikten zwi- immer mehr Funktionen eingenommen, ob-
schen Anwender, Handel, Produzent und wohl andere Formen der Schriftlichkeit nach
Techniker. Zu einer nenneswerten Zusam- wie vor eine dominierende Rolle spielen. Da
menarbeit mit sprachlich orientierten wissen- die geschriebene Sprache nun auch von den
schaftlichen Disziplinen ist es jedoch erst in Technikern effektiv genutzt werden muß, sind
den letzten zwanzig Jahren gekommen. diese gezwungen, sich zukünftig intensiver mit
Pädagogik, Psychologie und Rechtswissen- ihren Funktionen und Wirkungen auseinan-
schaft waren die ersten Disziplinen, die sich derzusetzen. Das tradierte Unbehagen der
mit Fragen der technischen Dokumentation Techniker der geschriebenen Sprache gegen-
auseinandersetzten, wobei es bis heute zumin- über führt gelegentlich zur Suche nach neuen
dest in G roßbetrieben üblich ist, alle techni- Repräsentationssystemen, die der modernen
schen Texte auf ihre juristische Unbedenk- technischen Entwicklung angepaßt sind.
lichkeit hin zu überprüfen. Die Psychologie Elektronische Datenverarbeitungsgeräte wer-
schließlich entwickelte das Verständlichkeits- den hier an erster Stelle genannt. Doch wech-
modell, welches bis heute in der Praxis mit selt mit dem Übergang vom Papier zur Fest-
Abstand am häufigsten rezipiert und ange- platte nur das Material (vgl. Feldbusch 1988),
wendet wird. Es handelt sich um das soge- Funktionen und Probleme der geschriebenen
nannte „Hamburger Modell“ von Langer, Sprache bleiben unverändert. Der Sprachwis-
Schulz von Thun und Tausch (1974), welches senschaft erwächst hier im Bereich der Tech-
in mittlerweile vielen Variationen und Ablei- nik ein neues anwendungsorientiertes Aufga-
tungen als das sprachliche Rüstzeug vieler benfeld.
Techniker angesehen werden kann. Die Auto-
ren ermittelten auf empirischem Wege als Di-
mensionen der Verständlichkeit geschriebener 7. Literatur
Texte „Einfachheit“, „G liederung“, „Kürze“ Bausch, Karl-Heinz, Schewe, Wolfgang & Spiegel,
und „Stimulanz“. Trotz der offensichtlichen Heinz-Rudi (ed.). 1976. Fachsprachen. Terminolo-
Brauchbarkeit dieses Modells leidet es dar- gie, Struktur, Normung (= DIN-Normungskunde
unter, daß andere Dimensionen einfach mit- 4). Berlin, Köln.
gedacht werden müssen. Zumindest fehlen Borst, Arno. 1979. Lebensformen im Mittelalter.
„Natürlichkeit“, „Richtigkeit“, „Vollständig- Frankfurt/M./Berlin/Wien.
keit“ und „Zielwirksamkeit“, denn sonst Feldbusch, Elisabeth. 1985. G eschriebene Sprache.
könnten mit dem Modell völlig unsinnige Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und
Texte hergestellt werden, die aber verständlich Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York.
genannt werden müßten. —. 1988. G eschriebene Sprache im Computerzeit-
Die Sprachwissenschaft beobachtet zwar alter. In: Weber, Heinrich & Zuber, Ryszard (ed.),
im Rahmen der Fachsprachenforschung Linguistik Parisette. Tübingen, 291—298.
schon seit längerer Zeit die Sprache der Tech-
niker (vgl. z. B. Fluck 1976), doch stand bei Fluck, Hans-Rüdiger. 1976. Fachsprachen. Einfüh-
ihr in der Regel ein deskriptives (seltener di- rung und Bibliographie. München.
daktisches) Interesse im Vordergrund. Erst G rosse, Siegfried & Mentrup, Wolfgang (ed.). 1982.
seit wenigen Jahren werden Versuche unter- Anweisungstexte. Tübingen.
nommen, linguistische Methodiken und Ver- Ischreyt, Heinz. 1965. Studien zum Verhältnis von
fahren für den Transfer technischen Wissens Sprache und Technik. Institutionelle Sprachlen-
nutzbar zu machen. Insbesondere die Arbei- kung in der Terminologie der Technik. Düsseldorf.
ten von G rosse & Mentrup (1982) haben hier Kovács, Ferenc (Red.). 1989. Wirtschaftswissen-
Pionierarbeit geleistet. Seit einigen Jahren ist schaften, Terminologie, Fachsprache (= Lingua
es jedoch zu einem regen Austausch zwischen 803). Budapest.
Sprachwissenschaft und Technik gekommen, Langer, Inghard, Schulz von Thun, Friedemann &
und es ist inzwischen nicht mehr ungewöhn- Tausch, Reinhard. 1974. Verständlichkeit in Schule,
lich, daß Techniker und Linguisten auf Ta- Verwaltung, Politik und Wissenschaft. München,
gungen und Kongressen gemeinsam nach Lö- Basel.
sungen für Transferprobleme (aber auch für
Normungsprobleme) suchen.
49.  Writing and Industrialization 635

Leroi-G ourhan, André. 1964. La geste et la parole. Pogarell, Reiner. 1988. Linguistik im Industriebe-
Technique et langage. Paris [dtsch. Übersetzung: trieb. Eine annotierte Auswahlbibliographie. Aa-
Hand und Wort. Frankfurt am Main 1988]. chen.
Ostwald, Wilhelm von. 1911. Sprache und Verkehr. Riché, Pierre. 1981. Die Welt der Karolinger. Aus
Leipzig. dem Französischen übersetzt und herausgegeben
Piirainen, Ilpo T. 1989. Historizität der Fachspra- von Cornelia und Ulf Dirlmeier. Stuttgart.
chen am Beispiel der deutschen Bergbausprache. Wilsdorf, Helmut. 1977. Technik. In: Irmscher, Jo-
In: Laurén, Christer & Nordman, Marianne (ed.), hannes (ed.), Lexikon der Antike. Wiesbaden,
Special Language. From Humans Thinking to 558—559.
Thinking Machines. Clevedon, Philadelphia,
80—88. Reiner Pogarell, Paderborn (Deutschland)

49. Writing and Industrialization

1. Assumptions about literacy and nutrition, ill-health and illiteracy form a triple
industrialization scourge for developing nations,” that the il-
2. Historical studies of the relation between literate are doomed to “lives of poverty and
writing and industrial development hopelessness” because they are “deprived of
3. Functional roles for literacy in industrial the fundamental tools to forge a better life,”
contexts primarily literacy, that “illiteracy is a $2-bil-
4. References lion drag on the economy of Canada” and
that “the social costs are enormous” (Globe
and Mail, Oct. 13, 14, 1987). Belief in the
1. Assumptions about literacy and importance of literacy has come to so domi-
industrialization nate common consciousness that even a small
It is a standard assumption in literate societies decline in spelling-test scores is seen as a
that levels of literacy in the state determine threat to the welfare of the society. Most
the economic productivity of that society. literate peoples see literacy as central to both
With the goal of a literate citizenry, free, our economic prosperity and their conception
universal public education has been govern- of themselves as cultured, indeed as civilized,
ment policy for well over a century in western people.
democracies. Developing countries, too, fre- There is no question that literacy plays an
quently set the goal of a literate citizenry high important role in modern industrialized so-
in their priorities. Socialist movements of the cieties. Some 29% of the United States’ gross
20th Century, whether in the Soviet Union, national product arises from “knowledge in-
Cuba or Nicaragua, were accompanied by dustries” which are directly tied to high levels
intensive programs to make everyone literate of literacy (Miller 1988). And a 1980 survey
(→ art. 66, 68). An UNESCO policy docu- of workers across an extremely wide range of
ment (1975) described literacy as crucial to occupations found that nearly 99% partici-
“the liberation and advancement of man”, pate in some form of reading every day, the
and initiated a plan for the eradication of daily average being some two hours (Miku-
world illiteracy by the year 2000 (→ art. 64). lecky 1982).
Modern western democracies aspire to erad- Although literacy plays a central role in
icate illiteracy as a means of solving a range modern industrial societies it is not clear what
of other social problems such as poverty and role literacy and writing played in the evolu-
unemployment and the schools are routinely tion of such a society or the functions that it
charged with upgrading the literacy standards continues to serve in those societies. Literacy
of their students in anticipation of the re- may contribute to industrial development in
quirements of the work force (→ art. 73). either of two ways. First, it may provide in-
These beliefs find expression in the policy creased human talent which leads to increased
documents and in the editorial pages of many, productivity. Intellectual resources are now
perhaps most, newspapers. Canada’s national considered in most industrial societies to be
newspaper is typical in asserting that “mal- as important to productivity as material re-
49.  Writing and Industrialization 635

Leroi-G ourhan, André. 1964. La geste et la parole. Pogarell, Reiner. 1988. Linguistik im Industriebe-
Technique et langage. Paris [dtsch. Übersetzung: trieb. Eine annotierte Auswahlbibliographie. Aa-
Hand und Wort. Frankfurt am Main 1988]. chen.
Ostwald, Wilhelm von. 1911. Sprache und Verkehr. Riché, Pierre. 1981. Die Welt der Karolinger. Aus
Leipzig. dem Französischen übersetzt und herausgegeben
Piirainen, Ilpo T. 1989. Historizität der Fachspra- von Cornelia und Ulf Dirlmeier. Stuttgart.
chen am Beispiel der deutschen Bergbausprache. Wilsdorf, Helmut. 1977. Technik. In: Irmscher, Jo-
In: Laurén, Christer & Nordman, Marianne (ed.), hannes (ed.), Lexikon der Antike. Wiesbaden,
Special Language. From Humans Thinking to 558—559.
Thinking Machines. Clevedon, Philadelphia,
80—88. Reiner Pogarell, Paderborn (Deutschland)

49. Writing and Industrialization

1. Assumptions about literacy and nutrition, ill-health and illiteracy form a triple
industrialization scourge for developing nations,” that the il-
2. Historical studies of the relation between literate are doomed to “lives of poverty and
writing and industrial development hopelessness” because they are “deprived of
3. Functional roles for literacy in industrial the fundamental tools to forge a better life,”
contexts primarily literacy, that “illiteracy is a $2-bil-
4. References lion drag on the economy of Canada” and
that “the social costs are enormous” (Globe
and Mail, Oct. 13, 14, 1987). Belief in the
1. Assumptions about literacy and importance of literacy has come to so domi-
industrialization nate common consciousness that even a small
It is a standard assumption in literate societies decline in spelling-test scores is seen as a
that levels of literacy in the state determine threat to the welfare of the society. Most
the economic productivity of that society. literate peoples see literacy as central to both
With the goal of a literate citizenry, free, our economic prosperity and their conception
universal public education has been govern- of themselves as cultured, indeed as civilized,
ment policy for well over a century in western people.
democracies. Developing countries, too, fre- There is no question that literacy plays an
quently set the goal of a literate citizenry high important role in modern industrialized so-
in their priorities. Socialist movements of the cieties. Some 29% of the United States’ gross
20th Century, whether in the Soviet Union, national product arises from “knowledge in-
Cuba or Nicaragua, were accompanied by dustries” which are directly tied to high levels
intensive programs to make everyone literate of literacy (Miller 1988). And a 1980 survey
(→ art. 66, 68). An UNESCO policy docu- of workers across an extremely wide range of
ment (1975) described literacy as crucial to occupations found that nearly 99% partici-
“the liberation and advancement of man”, pate in some form of reading every day, the
and initiated a plan for the eradication of daily average being some two hours (Miku-
world illiteracy by the year 2000 (→ art. 64). lecky 1982).
Modern western democracies aspire to erad- Although literacy plays a central role in
icate illiteracy as a means of solving a range modern industrial societies it is not clear what
of other social problems such as poverty and role literacy and writing played in the evolu-
unemployment and the schools are routinely tion of such a society or the functions that it
charged with upgrading the literacy standards continues to serve in those societies. Literacy
of their students in anticipation of the re- may contribute to industrial development in
quirements of the work force (→ art. 73). either of two ways. First, it may provide in-
These beliefs find expression in the policy creased human talent which leads to increased
documents and in the editorial pages of many, productivity. Intellectual resources are now
perhaps most, newspapers. Canada’s national considered in most industrial societies to be
newspaper is typical in asserting that “mal- as important to productivity as material re-
636 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

sources. Literacy embodied in higher educa- 2. Historical studies of the relation


tion has become the primary means of judging between writing and
talent and of assigning people to positions in industrial development
the work force. Second, literacy permits the
organization of complex processes of produc- Historical research has shown that there is a
tion involving both planning, resource man- close relation between literacy and commer-
agement, and human resource management. cial and industrial development. Cippola
The complex activities characteristic of mod- (1969, 8) found that “historically it appears
ern societies whether in the manufacture of that the art of writing is strictly and almost
goods or the provision of services are un- inevitably connected with the condition of
thinkable without the diverse forms of writing urbanization and commercial intercourse.”
available whether in texts, manuals, blue- The correlation invites the inference that lit-
prints, or profit and loss projections. eracy is a cause of development, a view that
But writing and literacy may play a role in underwrote the UNESCO’s commitment to
society in a third way, namely, as a means of the “eradication of illiteracy” by the year 2000
social control. Historically, writing has ac- as a means to modernization (Graff 1986).
companied the formation of larger social Yet in spite of the almost universal belief
structures whether in the form of cities or in the importance of literacy for industrial
empires. The consequence is that of binding development the notion that there is a causal
individuals into complex social structures in- relation between the two has not been sus-
volving the division of labor and specializa- tained by recent historical research. G raff
tion of functions along with the redistribution (1979; 1986) reviewed the relationship be-
of power. For this reason Levi-Strauss sees tween popular literacy and economic devel-
writing as a means of “enslavement”: opment from the Middle Ages through the
It seems to favour rather the exploitation than the 19th Century and concluded:
enlightenment of mankind. This exploitation made Contrary to popular and scholarly wisdom, major
it possible to assemble workpeople by the thousand steps forward in trade, commerce, and even indus-
and set them tasks that taxed them to the limits of try took place in some periods and places with
their strength. If my hypothesis is correct, the pri- remarkable low levels of literacy; conversely, higher
mary function of writing, as a means of commu- levels of literacy have not proved to be stimulants
nication, is to facilitate the enslavement of other or springboards for ‘modern’ economic develop-
human beings. The use of writing for disinterested ments. (1986, 76)
ends, and with a view to satisfactions of the mind Early industrialization was little dependent
in the fields either of science or the arts, is a upon literacy or the school; the demands for
secondary result of its invention — and may even labor were not intellectual but physical. In
be no more than a way of reinforcing, justifying, some cases industrialization reduced oppor-
or dissimulating its primary function (1961, 291—292). tunities for schooling as when child labor was
Others, such as G ellner (1990) see this re- exploited and as a consequence rates of lit-
distribution of social roles as instrumental to eracy fell. G raff (1986) has summarized these
the achievement of differentiated and coop- relations as follows:
erative social goals. Still others note how lit- In much of Europe, and certainly in England —
eracy is used to legitimize an unequal distri- the paradigmatic case — industrial development
bution of material and cultural goods. G raff (the “First Industrial Revolution”) was neither
(1986) has examined the role of literacy and built on the shoulders of a literate society nor
schooling in forming and maintaining social served to increase popular levels of literacy, at least
stability particularly in periods of massive in the short run. In other places (typically later in
social change such as the transition from pre- time, however), the fact of higher levels of popular
industrial to industrial societies. De Castell, education prior to the advent of factory capitalism
Luke & MacLennan (1986) point out how may well have made the process a different one ...
this can happen. Literacy and schooling allow Literacy, by the 19th century, became vital in the
the standardization not only of language and process of “training in being trained.”
procedures for doing things but also the A similar point has been made in regard
“canon,” the body of knowledge taken as to the lack of scientific and economic devel-
authoritative in society. All members of the opment in other societies. Attempts to explain
society tend to defer to the authority of that the low levels of industrialization in non-west-
canon and thereby preserve the social order. ern countries by appeal to low levels of lit-
eracy have not stood up to close scrutiny. In
49.  Writing and Industrialization 637

China the number of highly literate people as simply “levels” of literacy from simple to
always greatly exceeded the number of em- complex, for example. However, it is more
ployment opportunities available (Rawski appropriate to think of them in terms of func-
1978) and in Mexico while literacy levels have tion, namely, the goal to be served, resources
been found to be related to economic growth available, and the knowledge of how to use
those effects were restricted largely to urban the resources to achieve the goal. That is, the
areas and to manufacturing activities (Fuller, depth of understanding may vary more than
Edwards & G orman 1987). Thus it has been the literacy levels themselves. Such consider-
impossible to state clear empirical relations ations make it impossible to define any one
between writing, literacy and industrializa- kind of literacy as “functional” (Heap 1990).
tion. Literacy has played a critical role in Studies of the use of writing in the work
some contexts and little role in others. place (Mikulecky 1982) have shown that most
of the roles in an industrial economy involve
some use of writing. Workers at all levels of
3. Functional roles for literacy in complexity from short-order cook to corpo-
industrial contexts rate president have been found to read ma-
In view of the diverse relations between lit- terials of some form for some two hours per
eracy and industrialization it is easy to over- day. This reading is done increasingly from
state or misstate the functionality of literacy. computer screens.
Literacy is functional, indeed advantageous, However, it is also the case that the ability
in certain managerial, administrative and an to read texts and documents of various sorts
increasing number of social roles. But the depends crucially upon the knowledge of the
number of such positions which call for that domain that the reader brings to bear on the
level or kind of literacy is limited. Literacy is document. It is a vastly different matter to
functional if one is fortunate enough to ob- read a blueprint than to read a pattern book
tain such a position and not if not. Other, or a philosophical essay. When errors in read-
more general, functions served by literacy de- ing occur in the work place, the errors tend
pend on the interests and goals of the indi- to be errors of interpretation rather than sim-
viduals involved and the social opportunities ple errors of decoding. Errors in interpreta-
available. tion result from incomplete understanding
To understand the role of writing in indus- rather than from limited basic literate abilities
trialization it is necessary to distinguish the (Scribner 1986). Such considerations have led
variety of roles that writing and literacy may to an increased concern with “functional”
play. Industrialization depends upon a high literacy, competence with the written docu-
degree of division of labor and of reconcep- ments likely to be confronted in one’s daily
tualizing a complex process into autonomous working and personal life.
constituents. The kind of analysis required The concept of functional literacy is im-
for such reconceptualization is plausibly re- portant in that it acknowledges what literacy
lated to writing. A modern flow-diagram, a is used for. The limitation of the concept is
product of writing, is an explicit representa- in the assumption that some kinds of com-
tion of the kind of conceptualization involved petence are functional for everyone. What
in planning any industrial activity. Any de- was functional for a person in Reformation
tailed planning involving multiple interde- G ermany who wished to read the Bible for
pendent constituents would appear to depend himself is not necessarily functional for some-
heavily upon the availability of writing. one who is to read special order codes on an
The division of labor involved in industrial assembly line.
activity is along functional lines. Each role Industrial development depends upon writ-
makes distinctive use of writing. Planners, ing, then, in the planning, preparation and
designers, managers, and supervisors make implementation of complex specialized activ-
different use of writing than do the workers ities but it does not necessarily depend upon
on the shop-room floor. To illustrate, the a high level of literacy on the part of the work
draftsman who prepares the blueprint re- force. This would account for the low and
quires somewhat different literacy skills than indirect relation between the level of literacy
the builder using the blueprint. Other roles in the society as a whole and industrial de-
may make little or no use of written language. velopment. Indeed, some historians have ar-
It is tempting to think of these diverse roles gued that increasing levels of literacy are a
product of industrial growth rather than the
638 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

cause of it. Increased productivity of workers, Does literacy spark economic growth? In: Wagner,
produced by industrialization, allows for in- D. (ed.), The future of literacy in a changing world.
creased wealth and leisure, leisure which is New York.
often devoted to reading. Gellner, E. 1990. Plow, sword, and book. London.
Historians have isolated several factors G raff, Harvey J. 1979. The literacy myth: Literacy
that contribute to the rise of literacy in a and social structure in the nineteenth-century city.
society including urbanization, availability of New York.
written materials, functionality in the society, —. 1986. The legacies of literacy: Continuities and
leisure, and beliefs regarding the importance contradictions in Western society and culture.
of reading (Harris 1989). Industrialization Bloomington.
both depends upon and fosters the develop-
Harris, William V. 1989. Ancient literacy. Cam-
ment of literacy. By making literacy func-
bridge, Mass.
tional to at least some of the specialized roles
in industrial production it tends to contribute Heap, J. 1990. Effective functioning in everyday
to the growth of literacy in a society for these life: A critique of concepts and surveys of func-
roles come to be assigned increasingly on the tional literacy. In: Norris, S. & Phillips, L. (ed.),
basis of literate competencies. Foundations of literacy policy in Canada. Calgary.
As industrial activities become increasingly Levi-Strauss, Claude. 1961. Triste tropiques. New
based on information technology, the types York.
and levels of literacy required for both de- Mikulecky, L. 1982. Job literacy: The relationship
signers and workers has begun to change, a between school preparation and workplace actu-
change reflected in the increasing concern ality. Reading Research Quarterly 17, 400—419.
with the enhancement of literacy in developed Miller, G eorge. 1988. The challenge of universal
societies. literacy. Science 241, 1293—1299.
Rawski, E. 1978. Education and popular literacy
in Ch’ing China. Ann Arbor.
4. References Scribner, Sylvia. 1986. Thinking in action: Some
de Castell, Suzanne, Luke, Allan & MacLennan, characters of practical thought. In: Sternberg, R.
D. 1986. On defining literacy. In: de Castell, Suz- J. & Wagner, R. K. (ed.), Practical intelligence.
anne, Luke, Allan & Egan, Kieran (ed.), Literacy, Cambridge.
society and schooling: a reader. Cambridge. UNESCO. 1975. Final report for the International
Cipolla, Carlo M. 1969. Literacy and development symposium for literacy. Persepolis, Iran.
in the West. Harmondsworth.
Fuller, B., Edwards, J. H. & G orman, K. 1987. David R. Olson, Toronto (Canada)

50. Writing and Education

1. Introduction complex knowledge in systematic and me-


2. Academic discourse and essayist literacy thodical ways. This perceived role for school-
3. Academic discourse and discourses of the ing has led some researchers to argue that
Other formal education takes place in an area of
4. Conclusion: Future research conflict between spoken and written language
5. References (e. g., Olson 1977 a, b). Yet even children who
cannot read begin school with a great deal of
sophisticated knowledge about language and
1. Introduction literacy acquired through daily experience as
Most people believe that children come to they grow up in a culture (cf. studies in G oel-
school to learn to read and write so that they man, Oberg & Smith 1984; Schieffelin & G il-
can then use reading and writing in order to more 1986). Consequently, the area of conflict
master complex knowledge from many fields. is far larger than the complicated relationship
In fact, schools and universities are often per- between spoken and written language, the
ceived as the major — if not only — social processes of speaking and writing, or orality
institutions assigned the task of transferring and literacy. Rather, it extends to the inter-
638 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

cause of it. Increased productivity of workers, Does literacy spark economic growth? In: Wagner,
produced by industrialization, allows for in- D. (ed.), The future of literacy in a changing world.
creased wealth and leisure, leisure which is New York.
often devoted to reading. Gellner, E. 1990. Plow, sword, and book. London.
Historians have isolated several factors G raff, Harvey J. 1979. The literacy myth: Literacy
that contribute to the rise of literacy in a and social structure in the nineteenth-century city.
society including urbanization, availability of New York.
written materials, functionality in the society, —. 1986. The legacies of literacy: Continuities and
leisure, and beliefs regarding the importance contradictions in Western society and culture.
of reading (Harris 1989). Industrialization Bloomington.
both depends upon and fosters the develop-
Harris, William V. 1989. Ancient literacy. Cam-
ment of literacy. By making literacy func-
bridge, Mass.
tional to at least some of the specialized roles
in industrial production it tends to contribute Heap, J. 1990. Effective functioning in everyday
to the growth of literacy in a society for these life: A critique of concepts and surveys of func-
roles come to be assigned increasingly on the tional literacy. In: Norris, S. & Phillips, L. (ed.),
basis of literate competencies. Foundations of literacy policy in Canada. Calgary.
As industrial activities become increasingly Levi-Strauss, Claude. 1961. Triste tropiques. New
based on information technology, the types York.
and levels of literacy required for both de- Mikulecky, L. 1982. Job literacy: The relationship
signers and workers has begun to change, a between school preparation and workplace actu-
change reflected in the increasing concern ality. Reading Research Quarterly 17, 400—419.
with the enhancement of literacy in developed Miller, G eorge. 1988. The challenge of universal
societies. literacy. Science 241, 1293—1299.
Rawski, E. 1978. Education and popular literacy
in Ch’ing China. Ann Arbor.
4. References Scribner, Sylvia. 1986. Thinking in action: Some
de Castell, Suzanne, Luke, Allan & MacLennan, characters of practical thought. In: Sternberg, R.
D. 1986. On defining literacy. In: de Castell, Suz- J. & Wagner, R. K. (ed.), Practical intelligence.
anne, Luke, Allan & Egan, Kieran (ed.), Literacy, Cambridge.
society and schooling: a reader. Cambridge. UNESCO. 1975. Final report for the International
Cipolla, Carlo M. 1969. Literacy and development symposium for literacy. Persepolis, Iran.
in the West. Harmondsworth.
Fuller, B., Edwards, J. H. & G orman, K. 1987. David R. Olson, Toronto (Canada)

50. Writing and Education

1. Introduction complex knowledge in systematic and me-


2. Academic discourse and essayist literacy thodical ways. This perceived role for school-
3. Academic discourse and discourses of the ing has led some researchers to argue that
Other formal education takes place in an area of
4. Conclusion: Future research conflict between spoken and written language
5. References (e. g., Olson 1977 a, b). Yet even children who
cannot read begin school with a great deal of
sophisticated knowledge about language and
1. Introduction literacy acquired through daily experience as
Most people believe that children come to they grow up in a culture (cf. studies in G oel-
school to learn to read and write so that they man, Oberg & Smith 1984; Schieffelin & G il-
can then use reading and writing in order to more 1986). Consequently, the area of conflict
master complex knowledge from many fields. is far larger than the complicated relationship
In fact, schools and universities are often per- between spoken and written language, the
ceived as the major — if not only — social processes of speaking and writing, or orality
institutions assigned the task of transferring and literacy. Rather, it extends to the inter-
50.  Writing and Education 639

action of these differences with the often com- (3.1.) and second the values school and soci-
peting norms of the home community and the ety attribute to academic discourse. Section 4
school for evaluating such varied matters as concludes the article by offering directions
effective communication, educational success, for future research. The focus of the article
and the appropriate use of standard and non- will be on the situation found in the United
standard linguistic varieties. — Thus, those States.
wishing to understand the nature and role of
writing in education must look far beyond 1.1. Research on language and writing in
the texts read or produced in school contexts. school settings in the U. S.
They must also consider the kinds of spoken
and written discourse school requires and the Research on writing, literacy, and schooling
relationships between these kinds of discourse in the United States has concentrated largely
and the patterns of language use that students on the extreme ends of the educational proc-
at all levels bring to the classroom with them. ess, focusing on the initial introduction to
Consequently, this article focuses on two ma- formal training in literacy during the early
jor topics. years and the specific kinds of writing re-
First, it considers our growing understand- quired at college and university. Research on
ing of the nature of both spoken and written childhood socialization into schooling, lan-
language in school contexts and the extent to guage, and literacy originally focused on the
which these ways of using language can be register of “teacher talk” and other institu-
seen as deriving from what has been termed tion-specific routines or norms for using lan-
“essayist literacy.” Second, it attempts to ar- guage in the classroom (Cazden, John &
ticulate some of the ramifications of privileg- Hymes 1972; Cazden 1988) and the degree to
ing essayist literacy and the discourse prac- which these ways of using spoken language
tices it encourages to the exclusion of other foster or limit the participation of children
ways of using spoken and written language. from a variety of social, economic, and ethnic
Specifically, it evaluates the extent to which backgrounds. More recently, links have been
the exclusionary nature of academic discourse demonstrated between these ways of using
helps account for the school’s inability to spoken language and access to education in
succeed at its assigned tasks. — In order to the written language (Cook-G umperz 1986;
investigate these two topics, this article first Michaels 1991). Much of this research, socio-
provides information about research from the linguistic or ethnographic in nature, has been
United States on language in educational in- influenced by the work of Dell Hymes (1974,
stitutions, much of which has focused on spo- 1981) and John G umperz (e. g., 1982). — In
ken and written language in the early primary contrast, the research on writing and teaching
grades or essay writing at the university level writing in higher education has a different
(1.1.). Next, it articulates the relationship be- history, drawing on the Western rhetorical
tween academic discourse and essayist literacy tradition, cognitive psychology, linguistics,
(2.) and considers the conventionalized nature and literary criticism and theory (Bizzell &
of this kind of discourse and literacy (2.1.). Herzberg 1991; Lindemann 1987). In the
It then demonstrates how an understanding United States, unlike many countries, courses
of hyperliteracy, the goal of academic dis- in written composition are required at the
course, accounts for the failure of some re- undergraduate level in colleges and universi-
searchers’ efforts to draw a strong dichotomy ties, which are attended by a wide spectrum
between spoken and written language (2.1.1.). of the population. These courses attempt to
Next, it shows that although the character- help students develop the skills necessary for
istics of academic discourse are most evident the essay writing required during their uni-
at the university level, initiation into this dis- versity careers. Even though the focus of these
course begins with the uses of spoken and courses is no longer the interpretation of lit-
written language required in primary schools erary texts, the courses themselves are usually
(2.2.). Following this discussion of language housed in English departments, largely for
use in school, the article examines the relation historical reasons. With rare exception, they
between academic discourse and discourse are not taught as individualized tutorials but
practices found outside the school (3.) by in classes of twenty to thirty students, some
considering first the ways in which school fails of whom are increasingly likely to be non-
to take into account the knowledge about native speakers of English. At larger univer-
language and literacy children bring to school sities with postgraduate programs, such
courses are usually taught by graduate stu-
640 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

dents in order to pay for their education, by cialized kinds of domain knowledge, and the
part-time faculty, and by the few professors texts they produce differ from one another in
specializing in the field of composition and crucial ways. Yet, during the process of
rhetoric. At smaller schools, they are often schooling, these highly educated members of
taught by faculty trained in literature. Most the culture have developed certain shared at-
colleges and universities currently have spe- titudes towards texts. In other words, they
cial remedial classes or programs for basic have certain expectations about extended
writers, students who need additional, inten- written texts and their nature. Many of these
sive practice in essay writing early in their expectations can be subsumed under what
college career (Bartholomae 1985; Rose 1989; Scollon & Scollon (1980, 26) termed essayist
Shaughnessy 1977). Within the past decade, literacy, which “involves the ability to read
a growing number of schools have instituted and write material that is decontextualized,
programs in Writing-across-the-Curriculum; high in the proportion of new information to
these programs are devoted to training stu- old information, and internally logical. The
dents in the specialized discourse conventions relation of the text to the situation is deem-
of their chosen field of study (Russell 1991). phasized and a reading ‘public’ or at least a
Research in these areas — college-level writ- partially unknown audience is assumed, and
ing courses, basic writing, and Writing-across- therefore both readership and authorship are
the-Curriculum — complements research on fictionalized”. To a great extent, then, learn-
the acquisition of written language by chil- ing to write in school settings at any level
dren, providing an important perspective on means learning to produce texts of this genre,
how the nature of writing changes across a and many of the activities that take place
student’s educational career (and to some ex- there directly or indirectly foster this goal.
tent the life span) and especially the extent to
which the acquisition of writing and literacy 2.1. Essential differences or
skills is similar for students from different conventionalized use?
kinds of social and educational backgrounds
and for students specializing in different fields Despite the generalized expectations about
of study. texts that highly educated readers and writers
share, the specific expectations they bring to
texts are influenced largely by the discourse
2. Academic discourse and communities to which they belong (e. g.,
essayist literacy Bazerman 1988; Simon 1989). (The notion
of discourse community derives from work
The research on school-based writing in the on speech communities (e. g., Hymes 1974),
United States clearly demonstrates the exis- interpretive communities (Fish 1980), and
tence of a poorly understood but nevertheless philosophical communities (Rorty 1979).)
real construct that researchers concerned with Many (e. g., Brodkey 1987) would argue that
university-level writing courses often call ac- such conventionalized expectations about
ademic discourse. G enerally, this term refers uses of spoken and written language ulti-
to the ways of using written and spoken lan- mately constitute a given discipline. Similarly,
guage expected and rewarded in higher edu- successful acquisition of these conventions
cation. From a sociolinguistic perspective, ac- and hence membership in a community re-
ademic discourse is a register (Halliday 1989); quire extended opportunities to produce, an-
among the characteristics of this register are alyze, and discuss texts characterized by such
(i) the use of standard phonology or spelling conventions. — Examining the nature of
and complex, hypotactic syntax; (ii) the ex- these conventions is especially important be-
plicit marking of logical relationships among cause it helps account for the sources of read-
propositions; and (iii) particular strategies for ers’ expectations about texts they read and
structuring the presentation of information writers’ schemata for producing the texts they
and providing warrants for claims made. write. Specifically, it aids us in understanding
There is great debate among researchers the degree to which such conventions result
about the extent to which academic discourse, from the nature of written language, literacy
and especially written academic discourse, in general, the specialized literate practices of
parallels uses of writing in other professional a particular discourse community, or the lan-
contexts, such as law, business, medicine, guage socialization that takes place during
journalism, and engineering. Obviously, schooling. In his discussion of the asymme-
members of each of these groups possess spe-
50.  Writing and Education 641

tries between the acquisition of speech and on collaborative writing, common in the so-
print literacy, Perfetti posited four hypothet- cial and natural sciences and in the work-
ical observation points for the latter process: place, illustrates the important role that talk
beginning literacy, intermediate reading, adult plays in the production of collaboratively
skilled reading, and hyperliteracy. He char- written texts (Lunsford & Ede 1990).
acterized this last stage as one in which “print
experience has exceeded speech experience,” 2.2. Socialization into academic discourse
“speech experiences have become more like and hyperliteracy
print,” and “speech is slightly more similar to
print than print is to speech,” a “reversal of As the existence of composition courses in
[the original] asymmetry” (1987, 359). Aca- American institutions of higher learning dem-
demic discourse clearly represents the stage onstrates, newly arriving college or university
of hyperliteracy. Education at the college and students are not expected to have mastered
university level is overwhelmingly dedicated academic discourse, nor are they expected to
to teaching students to inhabit textual worlds, be hyperliterate. However, they are expected
hypothetical worlds created and sustained to have the tools necessary to acquire the
through the language of academic discourse. ways of using speaking and writing that char-
As Perfetti predicted, the spoken language acterize language use in higher education.
used in higher education is greatly influenced Specifically, it is assumed that they have de-
by the written texts produced there. Under- veloped a communicative repertoire — ways
graduate students are encouraged to hold of using spoken and written language —
their own in class discussions by stating their broad and varied enough to aid them in learn-
opinions and supporting them with accept- ing to produce and use spoken academic dis-
able textual evidence, and postgraduate stu- course and that they have had certain kinds
dents in seminars and oral examinations are of experiences creating and interpreting texts
required to participate in the discourse of in school settings. — The development of
their discipline, assuming a kind of authority such a repertoire begins years earlier. Within
they do not, in fact, possess. In order to the context of schooling, we can see its pre-
succeed, they must learn to “speak in para- cursors in the language routines used in pre-
graphs,” using a register inappropriate for school and the elementary grades. For ex-
most daily face-to-face interactions. ample, although it is 10:15 in the morning,
a preschool teacher shows students a card-
2.1.1. Hyperliteracy — board clock, sets the time to 5:45, asks
the goal of academic discourse “What time is it?”, receives the answer “5:45”
and rewards the answer with “Very good.”
Considering hyperliteracy as the goal of ac- The use of a question and answer format built
ademic discourse helps explain the failure of on a sequence of three moves — initiation/
some researchers’ attempts to set up clear response/evaluation — characterizes much of
dichotomies between spoken and written lan- school discourse, and such game-like per-
guage by considering only such extremes as formances help students rehearse many of the
casual conversation and highly revised, care- skills necessary for the development of essay-
fully edited academic prose (e. g., Olson ist literacy and academic discourse. Likewise,
1977 a; Ong 1982). Far more interesting have when very young school children are asked
been analyses that focused not on medium, to verbalize obvious information (e. g., the
but on factors such as the extent of planning number of ducks in an illustration) or to make
(Ochs 1979), the interaction of oral and lit- explicit the referents for deictic pronouns,
erate continua (Heath 1982), the commingling when they are asked to pretend that class-
of the orality and literacy in particular con- mates know little or nothing about the details
texts of language use (Tannen 1988), or other of an object being described, or when they
characteristics that distinguish among text are told to focus on a single event while
types (Biber 1988). Such research has dem- narrating a story, they are being coached in
onstrated that the expectations language users the ways that highly educated people struc-
bring to a communicative event, whether one ture and convey information when speaking
involving spoken language, written language, or writing. As Michaels and her colleagues
or both, extend far beyond any essential char- (e. g., 1991; Cook-G umperz 1986) have dem-
acteristics of language medium as Nystrand, onstrated, such performances are an impor-
Doyle & Himley (1986) make clear in their tant part of preparation for learning to read
critique of Olson’s work. Similarly, research and write; more important, the likelihood of
642 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

a child’s getting access to instruction in read- speak may or may not resemble closely the
ing and writing depends largely on his or her standard, written language they seek to learn.
ability to use spoken language to participate, The greater the linguistic distance between
with the teacher, in these classroom perform- the two (Ibrahim 1983), the more likely that
ances. Although much of the research on lan- certain kinds of codebased problems will oc-
guage in education has concentrated on cur (Farr & Daniels 1986). — More complex,
young school children, similar kinds of per- however, may be the distance between as-
formances, related in very complicated ways sumptions made by the school and the home
to the texts students read and write, take place community about the appropriate uses of
even at the university level as part of social- spoken and written language. As part of ac-
ization into academic discourse and essayist quiring spoken language, for example, chil-
literacy (Walters 1984). dren have learned particular ways of using
language to negotiate daily life: to get a snack,
to tell a story, to avoid punishment — in
3. Academic discourse and short, to make people aware of their wants
discourses of the Other and needs. Even if they have not mastered all
If children began school as tabulae rasae, if of the varieties of spoken language used in
the ways of using spoken and written lan- their community, they can often distinguish
guage associated with academic discourse and among them in some systematic, if incom-
essayist literacy were found in every com- plete, way. Young school children in Tunisia,
munity, or if they were presented and taught for example, usually classify languages they
by schools as one possible set of discourse hear into three categories: Tunisian Arabic
practices, then these patterns of language use (their native dialect and the only variety many
might not merit serious investigation. How- speak), Classical Arabic (any other variety of
ever, ethnographic and sociolinguistic re- Arabic they hear on television, including both
search on language, literacy, and learning Modern Standard Arabic and other Arabic
demonstrates exactly the opposite: children dialects), and French (any “foreign” lan-
come to school socialized into specific ways guage). Later, assuming that Egyptian collo-
of using spoken language, the conventions quialisms heard on television are part of Clas-
for using spoken and written language vary sical Arabic, many of these children make
greatly across communities within a single mistakes in their Arabic compositions. —
culture, yet schools assume the intrinsic uni- Similarly, children growing up in a literate
versality and superiority of their own conven- community know a great deal about how
tionalized ways of using language. In fact, their home community integrates literacy into
schools rarely, if ever, explicitly teach the pat- its daily life. Although they usually arrive at
terns of language use associated with aca- school not knowing how to read or write,
demic discourse or essayist literacy, nor does they may know how to hold a book so that
classroom practice or course content at any it is right side up, how to turn the pages in
level generally encourage students to examine the correct direction, and how to follow the
critically these discourse practices. In order text with their index finger as if reading. At
to understand the consequences of this situ- a religious service I attend, I have watched a
ation, we consider some of the kinds of three-year old correcting a younger peer who
knowledge about language and literacy chil- had turned to the wrong hymn. Although
dren bring to school with them — knowledge neither could read the lyrics, one of the boys
usually not taken into account — and some could correctly read the page numbers in the
of the ways in which school values its dis- hymnal and had already learned that com-
course practices uncritically. petent members of the group always locate
the appropriate hymn even when they know
the words to the song by heart, a literate
3.1. The knowledge children bring to school practice that is part of the religious service.
By the time children arrive at school to begin Yet literacy as promulgated through school-
formal training in written language, they have ing rarely acknowledges such community dif-
already acquired most of the grammar of the ferences in practice. — Additionally, children
language(s) spoken in their home community. have learned from observation what kind of
Depending on the community, the lan- person reads or writes, when he or she is likely
guage(s), and the writing system(s) involved, to do so, how he or she uses knowledge that
the spoken variety of the language(s) they may have been gained through writing, and
50.  Writing and Education 643

why. Those from certain social classes in some do not come from middle-class backgrounds
cultures will have seen a parent or caregiver, are at a disadvantage because their norms for
most likely a female, use a cookbook as a using spoken language as well as their notions
major source of information while cooking, about texts, how they should be used, and
or they will have observed a parent or older how they should be constructed fail to match
sibling, usually male, rely on instructions con- those required and assumed by the school. In
taining print and illustrations while assem- order to succeed, these children must master
bling a new lawn mower. Those from other new ways of using language, nearly always
classes or cultures will have seen people cook- without explicit instruction, repress or “un-
ing only from memory, never with a book, learn” ways of using language valued by the
and using a trial-and-error method to assem- home community, and sort out exceedingly
ble new things, ignoring written instructions difficult issues related to language use and
if they happened to exist. In many cases, the identity as individuals and members of vari-
cooking or assembling will have involved the ous groups (Michaels 1991; Daniell in press;
assistance of friends or relatives and lively Walters 1992). As Brandt (1990, 109) has
discussions about what should be done next. pointed out, it is only middle-class children
Schools, however, generally foster a private who can “sustain themselves in their transi-
model of reading and writing that focuses on tion to school by clinging to language customs
individual, text-based achievement while dis- of family and community; this same process
couraging group negotiation of texts or tasks. for others is called context-dependence, the
— Children arriving at school may also bring dangerous source of certain failure”. Social
with them a repertoire of behaviors and at- class and ethnicity, phenomena that interact
titudes that relate in some way to literate in complex ways in the United States, are not
behavior. As Heath (1983) demonstrated, the only variables influencing students’ ways
children from White, Protestant, working- of using oral language and hence the likeli-
class families in the American Southeast often hood that they can ultimately gain access to
begin school with assumptions about texts the power associated with academic dis-
and truth because of the particular ways Bible course. Recent work on language and gender
story books and alphabet books are read in reminds university professors that females
these homes. These assumptions differ mark- and males use spoken language differently
edly from those of their working-class Black and that these differences have an impact on
classmates in whose homes children’s books how students are perceived, taught, and eval-
are not likely to be present; they also differ uated (Tannen 1991). Thus we see the ways
from those of their middle-class classmates, in which academic discourse and essayist lit-
Black or White, in whose homes many sorts eracy can act to exclude rather than to in-
of books designed especially for children are clude.
found. In fact, Heath documented how the
discontinuities between home and school with 3.2. Values associated by school and society
respect to assumptions about literacy and its with academic discourse
uses helped account for the disappointing per-
formance and frequent failure of both the Perhaps in all societies with schools, formal
Black and White working-class students in education is generally regarded as the insti-
primary and secondary schools. In contrast, tution that, more than any other, corrects the
the great similarities between the uses of lan- inequalities of the existing social system and
guage and literacy in the homes of the middle- offers opportunities to all who participate in
class pupils and in school, an institution that it. Not surprisingly, then, school and society
is in many ways an extension of middle-class value academic discourse and essayist literacy
life, encouraged the success of these students. highly for reasons that reveal more about
In other words, the ways of talking about cultural ideology than the nature of these
texts that the middle-class children brought discourse practices. The inherent value of
to school with them smoothed the transition these ways of using language is assumed in
from home to school, assisting them in their the way that early work on ways of reasoning
efforts to master the ways of using language across cultures (Lévy-Bruhl 1910) or literacy
associated with academic discourse and es- (e. g., G oody & Watt 1963) assigned a pre-
sayist literacy. — The work of Cazden, Heath, eminent place to the behaviors of highly ed-
and Michaels among others has repeatedly ucated Westerners like the authors themselves
demonstrated the ways in which children who (Daniell in press; Walters 1990, 1992). Con-
sequently, within the context of school, in-
644 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

struction takes place through academic dis- allocating functions to spoken and written
course and essayist literacy without careful language, thereby reiterating the impossibility
examination of these practices much as we of drawing strong dichotomies between spo-
look through a window at a scene, failing to ken and written language on the basis of form
notice the glass unless it is dirty. The research alone. Although such research, necessarily re-
traditions that have most often focused atten- sulting from close observation of situated in-
tion on the glass — rather than the scene — dividual and group practice, may become the
have been the ethnographic and sociolinguis- basis for new ways of teaching writing and
tic research discussed throughout this essay literacy skills, it well may not. The likelihood
and theoretical critiques of schooling (e. g., of such practical application of research de-
Aronowitz & G iroux 1985; Katz 1982; pends largely on factors outside the class-
Ohmann 1976) often influenced by the work room, including national political climate,
of such European thinkers as Bernstein, public attitudes toward education, and the
Bourdieu, Foucault, and members of the state of pedagogical theories of growth and
Frankfurt School. Both traditions repeatedly development (Heath 1983). Regardless of the
illustrate ways in which the practices of aca- direct influence of future research on class-
demic discourse and essayist literacy are as- room practice, it will no doubt continue to
sociated with power and authority, with in- demonstrate the ways in which school-based
clusion and exclusion. Additionally, writers training in reading and writing take place in
such as Ehrenreich (1989) and G ouldner an area of conflict greater than the differences
(1979) have speculated about the ramifica- between spoken and written language. Ulti-
tions of these discourse practices for society mately, the conflicts extend beyond the class-
at large. From a very different perspective, room into the daily lives of learners, who are
feminists (e. g., Cixous 1981) have pointed out called upon to integrate school ways of using
the degree to which these discourse practices spoken and written language into the routines
limit those who use them while silencing all for language use they already possess by vir-
others. tue of their life experience.

4. Conclusion: Future research 5. References


This article has attempted to demonstrate Aronowitz, Stanley & G iroux, Henry. 1985. Edu-
that the ways of using spoken and written cation under siege — the conservative, liberal, and
language associated with schooling, academic radical debate over schooling. South Hadley.
discourse and essayist literacy, are finally con- Bartholomae, David. 1985. Inventing the univer-
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646 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

51. Schriftlichkeit und Philosophie

1. Prolog eigentümliche „diskursive Praxis“ (Foucault


2. Vom Epos zur Prosa 1973, 171) herausbildete, in einer geschicht-
3. Platons Vorbehalt gegen die Schrift lichen Zeitspanne, die durch die Werke von
4. Der Traum vom erfüllten Wort Anaximander (611—546 v. Chr.) und Platon
5. Von der Analytik zur Begriffsschrift (427—347) umfaßt wird. Aber dennoch läßt
6. Post scriptum sich dieser Prozeß rückblickend als eine ein-
7. Literatur schneidende diskursive Revolution rekonstru-
ieren. Die erhellenden Untersuchungen zur
G eschichte des griechischen Denkens, orien-
1. Prolog tiert an den philologischen G lanzleistungen
Es ist ein sehr intimes Verhältnis, das zwi- von Diels (1879, 1903) und seinem Lehrer
schen Schriftlichkeit und Philosophie besteht. Zeller (1845—1852) bei der Sammlung und
Denn einerseits ist das Philosophieren innig Ordnung eines chaotischen und verstreuten
verbunden mit seinem schriftlichen Medium. Haufens vorsokratischer „Fragmente“, haben
Jeder philosophische Text erscheint wie eine diese Zäsur als einen Übergang vom mythi-
Epiphanie der Philosophie selbst. Seine dar- schen Dichten zum rationalen Logos inter-
stellerischen Anforderungen sind nichts, was pretiert und in seiner Komplexität vor Augen
der Philosophie selbst äußerlich bleiben könn- geführt (Jaeger 1934—1947; Jaeger 1953; G i-
te. Andererseits bleibt dieses Verhältnis im gon 1945; Fränkel 1955; Hölscher 1968; Snell
Verborgenen. Denn der Philosoph erhebt mit 1975; Schadewaldt 1978).
seinen Texten einen Erkenntnisanspruch, der „Vom Mythos zum Logos“ (Nestle 1940)
auf eine Einsicht in das Wesen der Sache ist eine Standardformel der Philosophiege-
intendiert, die beide vom Text selbst unter- schichtsschreibung. Auf der einen Seite steht
schieden sind. die bunte Welt von göttlichen und menschli-
Schriftlichkeit als Intimus der Philosophie chen Abenteuern, von denen bilderreich ge-
ist deshalb schon immer ihr inimicus: geliebter sungen und mündlich erzählt wird, ein be-
G egner und entgegenstehender Freund. Seit wegtes Universum von Handlungen und Er-
ihren Anfängen befindet sich die Philosophie eignissen, dessen Quellen sich in minoisch-
im unlösbaren Zwiespalt zwischen einem mykenischer Frühzeit verlieren (Nilsson 1933;
schriftfreien Zugang zu den Sachen selbst und Heubeck 1974). Dagegen steht auf der ande-
einem Schriftgebrauch, der das Wissen an ren Seite ein Kosmos, dessen Prinzipien und
schriftliche Mittel bindet, sich in ihnen lesbar Ursachen (archai) es zu erkennen galt, gelenkt
verwahrt und damit in den historischen Pro- durch aufmerksame Beobachtung sichtbarer
zeß eines intertextuellen Philosophen-G e- Naturerscheinungen und geistige Spekula-
sprächs einschreibt. Die Ideenevolution der tion. „Peri Physeos“ ist der allgemeine Buch-
Philosophiegeschichte hätte ohne schriftliche titel für ein erwachendes philosophisches
Fixierung nicht stattfinden können. Denken (vgl. Schmalzriedt 1970).
Es gibt keine systematisch entfaltete Philo- So umfassend und detailliert diese Wende
sophie der Schrift. Nur als äußerliches Rand- auch untersucht worden ist, so sehr blieb ihre
phänomen taucht sie sporadisch auf, oft als Erhellung doch begrenzt durch den Rahmen
unernstes „Spiel“ disqualifiziert. Und auch einer reinen G eistes-G eschichte, welche die
die tiefgreifenden Konsequenzen der Ver- mediale Revolution der gesellschaftlichen
schriftlichung des philosophischen G edan- Kommunikation übersah, die hier am Werke
kens sind nur in Ansätzen ausgelotet. Die war. Erst durch die bahnbrechenden Arbeiten
folgenden Feststellungen können nur die Auf- von Parry (1928, 1971), Havelock (1938,
merksamkeit auf eine intime, immer proble- 1963, 1976, 1982, 1992), G oody (1977) sowie
matische, oft auch polemische Beziehung len- G oody & Watt (1968) hat sich eine neue Per-
ken, die heute noch genauso lebendig ist wie spektive auf die Anfänge der griechischen Phi-
im Moment ihres anfänglichen Entstehens. losophie eröffnet. Sie erscheinen ermöglicht
und geprägt durch eine technologische Trans-
formation, in der sich alphabetisiertes Schrei-
2. Vom Epos zur Prosa ben von einer rein mündlich organisierten
Tradition ablöst und dabei neuen diskursiven
Die Philosophie entsteht nicht augenblicklich. Regeln zu folgen lernt (vgl. Kullmann & Rei-
Es war ein mühsamer Prozeß, in dem sie ihre chel 1990). Vom dichterischen Epos (von ops,
51.  Schriftlichkeit und Philosophie 647

die Stimme, die erst später phone heißt) zur zwang; damit zerbrach langsam auch die
schriftlichen Prosa: in diesem Umbruch bildet eingespielte Verbindung zwischen Mythos
sich heraus, was wir seitdem als diskursive und Wahrheit. Im Blick eines erwachenden
Praxis „Philosophie“ anerkennen. Schriftbewußtseins, das nicht länger mime-
Für eine „oral-poetry-Forschung“ waren tisch eingebunden war in den präsenten Er-
Parrys Untersuchungen der poetischen Form lebniszusammenhang mündlicher Interak-
von Homers Dichtungen wegweisend. An sei- tion, gerieten die Epiker in den Verdacht,
nen Epen, entstanden im 8., aufgeschrieben „Lügenschmiede“ (Heraklit, Fr. 28) zu sein.
im 6. Jahrhundert v. Chr., konnte erhellt wer- Ihre Dichtungen wurden als Fiktionen und
den, wie das gesellschaftliche Wissen im G e- bloße „Meinungen“ (doxai) erkennbar.
dächtnis gespeichert werden konnte und in Diesen Verschiebungen verdankt die Phi-
einer langen Kette miteinander verflochtenen losophie ihren Ursprung. Sie ist sophia als das
Hören-Sprechens traditions- und bewußt- G eschick, das erforderlich ist, um in einer Zeit
seinsbildend weitervermittelt wurde. Um ein der Krise, die das in der mündlichen Tradition
soziales G edächtnis in schriftlosen G esell- erhaltene Wissen befallen hat, doch noch eine
schaften zu stabilisieren, waren Mittel not- ernsthafte und bewahrenswerte Kommuni-
wendig, die den psychologischen G esetzen der kation zuverlässigen Wissens zu ermöglichen.
G öttin Mnemosyne gehorchen: regelmäßige Das erhellt sowohl die schriftstellerischen
metrische Sprechmuster, rhythmisierender Qualitäten der „vor-sokratischen“ Prosa als
Vortrag und mitschwingendes Zuhören- auch die inhaltlichen Verlagerungen des lang-
Nachsprechen, variierende Wiederholungen sam erwachenden Philosophierens, das sich
und repetitive Formeln, rezitativ-rhapsodi- seine eigene „Begriffswelt“ schuf (G adamer
sches Vorsingen unter rituellen Bedingungen, 1983).
begleitet durch das Spielen von Musikinstru- Stilistisch lassen die vorsokratischen Texte
menten, all das also, was wir heute als „poe- erkennen, wie sehr die frühen Denker des 6.
tisch“ identifizieren (Lord 1960; Ong 1964, und 5. Jahrhunderts eingebunden sind in „a
1982; Zumthor 1983). Diesen metrisch-rhyth- transitional stage in the passage from proli-
mischen Erfordernissen fügten sich auch die teracy to literacy“ (Havelock 1982, 233). Ihre
formelhaften Nacherzählungen göttlicher und Texte sind eine Art verschriftlichtes Sprechen:
menschlicher Handlungen, an die man sich rhythmisiert, formelhaft einprägsam, bilder-
erinnern sollte, weil sie auch für das gegen- reich und oft noch durchsetzt mit religiös-
wärtige Leben als exemplarisch bedeutsam mythischen Elementen. Aber dieser Duktus,
galten. Man eignete sie sich mimetisch an und der mehr zum Zuhören als zum stillen Lesen
gewann so sittliche Orientierung. auffordert, zielt bereits auf ein begriffliches
Mit der „Literate Revolution in G reece“ Denken, dem eine neue Syntax und Semantik
(Havelock 1982) findet eine einschneidende geschaffen werden muß. Die Vorsokratiker
diskursive Umgestaltung statt. Die Einfüh- waren zwar noch „oral thinkers“ (Havelock
rung einer vollständigen Alphabetschrift — 1963, X), aber sie entwickelten und erprobten
etwa um 720 bis 700 v. Chr. (Nilsson 1918; die Sprache für eine Zukunft, „when thought
Carpenter 1933, 1938; → Art. 37) — machte should be expressed in categories organized
es möglich, alles Sprechbare schriftlich zu fi- in a syntax suitable to abstract statement“
xieren. Die Wissensvermittlung konnte sich (ebd.).
vom „homöostatischen“ (G oody & Watt Anaximander (611—546), Schüler und
1986, 68; Latacz 1979; Rösler 1980), zwischen „Hörer“ des Thales in Milet, bleibt in seinen
Erinnern und Vergessen spielenden Prozeß Schriften noch der dichterischen Rede nahe;
mündlicher Weitergabe von Person zu Person aber schreibend entwickelt er seine „ab-
befreien (vgl. Kullmann & Althoff 1993). Als strakte“ G rundsprache, deren Anfang und
Effekte dieser skripturalen Ablösung lassen Ursprung (arche) sich von sinnlicher Konkre-
sich feststellen: das kulturelle G edächtnis tion befreit: apeiron, das Unbegrenzte, ist das
wurde entlastet und die freigewordenen gei- G rund-Wort dieses ältesten Bücherschreibers
stigen Energien konnten sich neuen Aufgaben der Philosophie, der damit zwar an die gren-
zuwenden; die mnemotechnischen Stützen zenlose Unsichtbarkeit des Sprechflusses er-
poetischer Sprechweise konnten sich durch innern mag (vgl. Riedel 1990, 419), sie jedoch
eine schriftliche Prosa verobjektivieren lassen, in die sichtbar begrenzte Form eines abstrak-
die sich nicht mehr auf die mitreißende Kraft ten Diskurses transformiert, der nicht mehr
mündlichen Vortrags verließ, sondern stärker poetisch spricht und den G esprächszusam-
von der Sache selbst her zu argumentieren menhang nicht mitteilt, dem er entwächst. —
648 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Xenophanes (565—470), der noch Anaximan- weiß, schreibt Platon gegen alles an, was dem
der „gehört“ und sich als Rhapsode durchs epistemischen Wissen noch im Wege steht, vor
Leben geschlagen hat, komponiert seine Texte allem gegen die verderblichen Nachwirkun-
poetisch; aber gegen die Fabeln von G öttern gen einer mündlich überlieferten Dichtung.
und Titanen setzt er die abstrakte Semantik Attackiert werden ihr sinnlicher Bilderreich-
eines „All-Einen“, das in einer prosaisch-auf- tum, ihre erzählerische Fülle, ihr mitreißender
klärerischen Sprache seinen Ausdruck fin- Rhythmus und ihre akustischen Effekte. Sie
det. — Auch Heraklits „Logos“, an der Wende dienen nur dazu, auf suggestive Weise mi-
zum 5. Jahrhundert konzipiert als sinnerfüll- metische Sympathie zu evozieren und verstel-
tes Wort und vernünftiges Weltgesetz, soll len damit den Weg zu einem Denken, das
„gehört“ werden (Fr. 1 und 50); aber dennoch befreit ist aus der Schattenwelt jener Dicht-
entzieht es sich der epischen Vielnamigkeit kunst, „die mit dem G ehör zu tun hat“ (Po-
ausgesprochener Worte, sondert sich von ih- liteia 603 b). In Platons „Staat“ haben die
nen ab (Fr. 108) und bildet einen Fixpunkt, Dichter kein Heimatrecht (Politeia, Buch X,
der in allem Veränderlichen immer wieder das Kap. 1—8). Ihre Poesie liefert nur Unwahr-
identisch „Eine“ sammelnd zu lesen (legein) heiten, die weder ein wirkliches Wissen der
ermöglicht. — Schließlich Parmenides: bei Wahrheit noch ein selbstkritisches Nachden-
ihm, der die Wahrheit aus dem Munde der ken ermöglichen. Damit sind zugleich die bei-
G öttin hört und sie in einem kunstvollen den wesentlichen Konsequenzen der Schrift-
Lehrgedicht (um 480) niederschreibt, hat sich kultur herausgestellt, auf denen die platoni-
das philosophische Wissen endgültig auf die sche Philosophie ihr Ideengebäude errichten
Urteilsform von Aussagen konzentriert, deren kann.
entpersonalisierte, überzeitliche und situa- Zum einen erzwingt das Schreiben eine
tionsenthobene Logik der Vernunft einen Abtrennung des Wissenden vom G ewußten.
gangbaren Weg zum „Sein“ weist, der von Freigesetzt aus der Suggestion eines parti-
den epischen Traditionen des mündlichen Er- zipierenden Hören-Sprechens fordert das
zählens und seinen Scheinwelten radikal ge- Schreiben einen Akt der Distanzierung, der
trennt ist. für das erkennende „Subjekt“ einschneidende
Wirkungen hat. Denn es kann nun nicht mehr
identifikatorisch am Interaktions- und Kom-
3. Platons Vorbehalt gegen die Schrift munikationsgeschehen teilnehmen, sondern
Der endgültige Durchbruch zu einer voll- sieht sich gezwungen, eine reflektierende und
entfalteten Schriftkultur, in der das fließende kritische Haltung zu jenem Wissen einzuneh-
Lesenkönnen bereits im schulischen Elemen- men, das ihm schriftlich verobjektiviert ent-
tarunterricht gelernt wird, findet in der zwei- gegensteht. Reflexion, Kritik und Nachdenk-
ten Hälfte des 5. Jahrhunderts statt, beson- lichkeit sind Kennzeichen einer psyche, die
ders in Athen. Damit war die Ausbildung sich in ihrer Differenz zum sprachlichen Pro-
eines öffentlichen Publikums von Lesenden zeß auch über sich selbst als geistiges Selbst
gesichert. Bücher sind auf dem Markt zu kau- bewußt zu werden vermag. Die Seele tritt in
fen, und das schriftlich zirkulierende Wissen einen stummen Dialog mit sich selbst ein (vgl.
ist jedem frei verfügbar, der lesen kann (vgl. Sophistes 263 e) und gewinnt dabei Identität.
Kenyon 1932). Die streitbaren Sophisten wis- Zum andern provoziert das schriftliche
sen das ebenso zu nutzen wie Sokrates, der Zeichen die Suche nach einer Bedeutung, die
zwar nicht geschrieben, aber eine Methode so feststeht wie dieses selbst. Die materielle
des begriffskritischen Nachfragens entwickelt Identität des immer wieder lesbaren Wortes
hat, die ohne Schriftlichkeit nicht ihre irritie- läßt ein bedeutetes Objekt „als solches“ (kath’
auto) denkbar werden, als ein selbständiges
rende Raffinesse und verführerische Überzeu- Etwas, das „ist“ und als solches erkannt wer-
gungskraft hätte erreichen können. den kann. Während der epische Sprachge-
Darauf kann die platonische Epistemologie brauch eine lebendige Erfahrung sich ständig
aufbauen. Platons Schriften sind ein monu- verändernder Ereignisse, Handlungen, Situa-
mentales Plädoyer für das sich selbst be- tionen und Personen mitteilt und in stets
wußtwerdende Wissen (episteme), das auf un- neuen Kontexten zu G ehör bringt, lenkt jedes
versöhnliche Weise mit der poetischen Sprech- schriftliche Zeichen die Aufmerksamkeit auf
weise des oral-epischen Dichtens bricht. Um das, was das Seiende als solches „ist“, das es
427 geboren und aufgewachsen in einer lite- bezeichnet, freigesetzt aus dem Fluß der Zeit.
ralen Kultur, deren Vorzüge er zur Ausarbei- Platons hartnäckiges Nachfragen nach dem
tung seiner Philosophie virtuos einzusetzen
51.  Schriftlichkeit und Philosophie 649

eigentlichen G egenstand „an sich“, der er- Einsicht geschrieben wird in des Lernenden
kannt und sprachlich mitgeteilt werden kann, Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen,
lebt von der Verobjektivierung des lebendigen und wohl wissend, zu reden und zu schweigen,
Redens durch schriftliche Formen, die immer gegen wen sie beides soll.“ Phaidros: „Du
wieder als dieselben geschrieben und gelesen meinst die lebende und beseelte Rede des
werden können. wahrhaft Wissenden, von der man die ge-
Angesichts dieser neuen Perspektiven schriebene mit Recht wie ein Schattenbild an-
scheinen Platons berühmt-berüchtigte Ein- sehen könnte.“ Sokrates: „Allerdings, eben
wände gegen die Schrift, die er in seinem sie.“ (Phaidros 276 a)
Dialog „Phaidros“ (274 b—278 b) Sokrates in Dieses sokratisch-platonische Plädoyer hat
den Mund legt, rückschrittlich zu sein. Schrift zu differenten Interpretationen geführt, die
schwächt das G edächtnis und flößt den Seelen sich in einem unversöhnlichen Streit befinden.
der Lernenden Vergessenheit ein, weil sie sich Auf der einen Seite stehen diejenigen, die da-
nur noch „von außen vermittels fremder Zei- von ausgehen, daß Platon bei der Abfassung
chen, nicht aber innerlich sich selbst und un- seiner Texte eine artifizielle Dialogform ent-
mittelbar erinnern werden“. Sie bietet nur wickelt hat, die der lebendbeseelten Rede des
einen stummen Text und „stellt ihre Ausge- Philosophen einen adäquaten schriftlichen
burten hin als lebend, wenn man sie aber Ausdruck schaffen kann. Bereits Schleierma-
etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig cher hat 1804 Platons Dialoge charakterisiert
still“. Sie ist nicht an anwesende G esprächs- als künstlerische Versuche, seine schriftliche
partner gerichtet, sondern „schweift gleicher- Belehrung „jener besseren so ähnlich zu ma-
maßen unter denen umher, die sie verstehen, chen als möglich, und es muß ihm damit auch
und unter denen, für die sie nicht gehört, und gelungen sein“ (Schleiermacher 1969, 12).
versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu Dialogisch wird der Leser so geführt, daß er
wem nicht“. Und sie ist nicht in der Lage, „entweder zur eigenen inneren Erzeugung des
falls sie beleidigt oder unverdientermaßen be- beabsichtigten G edankens, oder dazu ge-
schimpft wird, „sich zu schützen noch zu hel- zwungen wird, daß er sich dem G efühle,
fen“, sondern bedarf „ihres Vaters Hilfe“. nichts gefunden und nichts verstanden zu
Platon scheint hier ein konservatives Nach- haben, auf das allerbestimmteste übergeben
hutgefecht zu führen, das Havelock (1963, 56) muß“ (ebd. 13). Die meisten Kommentatoren
als völlig „unlogisch“ disqualifiziert hat: „In haben sich dieser Einschätzung angeschlos-
fact, his preference for oral methods was not sen. Wieland hat sie 1982 am eindringlichsten
only conservative but illogical, since the Pla- expliziert. Platons Dialoge „zeigen“ durch
tonic episteme which was to supplant doxa ihre künstlerische G estaltung, was sie schrift-
was being nursed to birth by the literate re- lich nicht direkt „sagen“ können. Auch wenn
volution.“ Diese Einschätzung ist, wie von sich das wahre Wissen, um das es Platon geht,
vielen Kommentatoren verdeutlicht wurde, si- nicht unmittelbar als propositionaler G ehalt
cher zu kurz gedacht (vgl. Derbolav 1972; von Aussagen mitteilen läßt, so läßt es sich
Wieland 1982; G adamer 1983; G oody & Watt doch mit den Mitteln einer Dialogregie zei-
1986). Auch wenn nämlich Platon ein tiefes gen, ohne ins schriftlich Undarstellbare zu
Mißtrauen gegen den entfremdeten, äußer- verschwinden. — Auf der anderen Seite ste-
lichen, toten, schweigsamen und hilflosen Sta- hen jene, die eine ungeschriebene Lehre Pla-
tus des G eschriebenen hegt (vgl. auch Prota- tons annehmen, die er nur esoterisch in münd-
goras 329 a; Siebenter Brief 341 a—e), so fa- licher Lehrrede mitgeteilt haben soll, weil er
vorisiert er dennoch nicht die „oral methods“ jede schriftliche Darstellung philosophischer
einer überwundenen epischen Tradition. Seine G edanken als grundsätzlich inadäquat ver-
Kritik ist konstruktiv, indem sie vom philo- worfen habe. Sie berufen sich auf die „Schrift-
sophierenden Schriftsteller fordert, was er zu kritik“ Platons, sowie auf doxographische Be-
leisten hat, wenn er den Namen „Philosoph“ richte des Aristoteles und anderer antiker
zurecht verdienen will: er muß die G renzen Autoren über eine Altersvorlesung Platons
seiner Darstellung durchschauen und bereit mit dem Titel „Über das G ute“. Akribisch
sein, ihre schriftlichen Festlegungen immer wurde diese ungeschriebene Lehre zu rekon-
wieder als solche infrage zu stellen. Das aber struieren versucht (G aiser 1963; Wippern
kann nur gelingen, wenn er aufgrund seines 1971) und von Krämer (1959) ausführlich
Wissens weiß, wovon er redet und schreibt, dann von Szlezák (1985) für das Verständnis
und als ein Freund der Weisheit über eine einzelner Dialoge und Dialogpassagen frucht-
sachliche Erkenntnis verfügt, „welche mit bar gemacht. Ihm erscheint die von Schleier-
650 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

macher inaugurierte Theorie der Dialogform (gramma) ist nur ein konventionelles Zeichen
als ein mystifizierendes „Hindernis für eine stimmlicher Verlautbarungen (phone), die
adäquate Deutung von Platons Wertung von wiederum seelische Zustände bezeichnen, die
schriftlicher und mündlicher Philosophie“ natürlicher Ausdruck von „Dingen“ sind
(Szlezák 1985, 22), das es zu überwinden gilt. (Lehre vom Satz I, 16 a). In dieser semiolo-
Dieser Streit läßt interpretatorisch den un- gischen Hierarchie ist das Schriftzeichen
lösbaren Zwiespalt deutlich werden, der das gleichsam am weitesten von dem entfernt,
Philosophieren als solches konstituiert, sofern dem die Stimme noch nahe ist: den Dingen
es sich selbstreferentiell auf sein eigenes und den Seelenzuständen, die sich wie diese
schriftliches Medium bezieht. Platon hat ihn verhalten. Sie bilden jenes lebendige Zentrum
durch das Bild zweier konkurrierender einer ursprünglichen „Präsenz“, aus dem Pla-
Schwestern veranschaulicht: der schriftlichen tons Lehrrede der wahrhaft Wissenden „ent-
Rede philosophischer Erkenntnisse, die in stand“ und philosophiegeschichtlich dann
einem Lesepublikum frei und unkontrolliert „kräftig gediehen“ ist: Präsenz als eidos (Pla-
flottiert, steht die dialektische Kunst des be- ton); als ousia/Substanz/Essenz (Aristoteles);
seelten philosophischen G esprächs als eine als lebendiger G eist G ottes (Paulus und die
„echtbürtige Schwester“ zur Seite. Sie genießt christliche Tradition); als mystisches nunc
die Sympathie des platonischen Sokrates, der stans; als Selbstpräsenz des cogito (Descartes);
seine G esprächspartner immer wieder dazu als Innerlichkeit des G eistes (Hegel); als Idea-
auffordert, sie zu suchen und zu sehen, „wie lität des transzendentalen Lebens (Husserl);
sie entsteht und wieviel besser und kräftiger als Anwesen des Seins (Heidegger); als Idea-
als jene sie gedeiht“ (Phaidros 276 a). Es cha- lität des gemeinten Sinns (G adamer). Es ist
rakterisiert die europäische Philosophiege- ein G rundzug der Metaphysik, ihren G egen-
schichte, daß beiden Schwestern eine reiche stand als etwas vorauszusetzen und denken
Nachkommenschaft beschert worden ist. Die zu wollen, das als wahrhaft Seiendes vor jeder
genealogischen Linien können hier nur skiz- Re-präsentation „ist“ oder „gemeint“ werden
ziert werden. kann.
Angesichts dieser Intention jeder „Ersten
Philosophie“ erweist sich jeder schriftliche
4. Der Traum vom erfüllten Wort Ausdruck als äußerliches Derivat, gefährli-
Isoliert aus dem kommunikativen Realkon- cher Ersatz und nachträgliches Supplement.
text, in dem das philosophische Wissen ge- G egenüber der privilegierten Nähe der Stim-
sprochen und gehört werden kann, erscheint me zum Sein, zum Sinn des Seins, zur Idealität
jeder schriftlich aufgezeichnete G edanke wie des Sinns, ist die Schrift durch Fremdheit und
ein stummes Denkmal. Niedergeschrieben ist Exteriorität gekennzeichnet. Das erklärt die
er ausgebrochen aus einer G esamtheit von reservierte Haltung, mit der ihr philosophisch
Anwesenheiten (Sprecher, Hörer, situationa- begegnet worden ist, besonders ausgeprägt in
ler Ursprung, präsenter Sinn- und Bewußt- der „Epoche Rousseau“ (Derrida 1974, Zwei-
seinshorizont, augenblickliche Kommunika- ter Teil) und der romantischen Oppositions-
tionsintention) und übriggeblieben wie ein des bewegung gegen die Entfremdungstendenzen
Lebens verlustig gegangenes Unlebendiges, des modernen Lebens. Schrift wird meist nur
Schattenbild eines erloschenen Lichts. Seit als ein kontingentes Randphänomen zur
Platon die Konsequenzen der Literalität zu Kenntnis genommen, exteriorisiert in die Di-
Bewußtsein gebracht hat, zieht die Metapher stanz einer Abwesenheit, deren logo- und
des Todes die schriftkritische Traditionslinie phonozentrisch präsupponierte Anwesenheit
der Philosophie. nur mit Mühe wiederbelebt werden kann. Von
Um diesen „Tod“ verstehen und bewältigen Schleiermacher, dem Begründer einer philo-
zu können, muß die Philosophie an einer Idee sophischen, nicht mehr materialen-buchsta-
des Lebens orientiert bleiben. Denn das les- benfixierten Hermeneutik, bis hin zu G ada-
bare Wort ist mehr als ein lebloses materielles mer (1960) sind schriftliche Texte einer „Wut
Ding. Nur deshalb konnte es auch Platon des Verstehens“ (Schleiermacher 1799, 80)
anerkennen als „hypo-mnemisches“ Mittel ausgesetzt, welche die philologische Achtung
für den, der schon weiß, und zu denken weiß, vor dem G eschriebenen verloren hat und ihre
woran er durch das äußere Dasein der Schrift ganze Kraft aus der philosophischen Liebe
erinnert werden kann (Phaidros 276 d). Ari- zum Geist bezieht (vgl. Hörisch 1988).
stoteles hat daraus die folgenreiche systema- Es ist die Leistung Derridas, durch ein ge-
tische Konsequenz gezogen: das G eschriebene naues dekonstruktives G egen-den-Strich-Le-
51.  Schriftlichkeit und Philosophie 651

sen präsenzmetaphysischer Texte von Platon, daß Aristoteles seinen Anspruch, eine zwin-
Aristoteles, Rousseau, Hegel, Husserl, Hei- gende syllogistische Logik zu entwickeln, an-
degger, de Saussure und Searle nachgewiesen hand buchstäblicher Formeln durchführte: er
zu haben, daß jede philosophische Intention benutzte Buchstaben als Variable, um die Prä-
auf die lebendige Präsenz in ihrem Innersten dikate, Subjekte und Sätze seiner logischen
„grammatologisch“ organisiert ist (Derrida Schemata zu bezeichnen und abstrahierte von
1972, 1974, 1979, 1986, 1988). Die G eschichte deren Inhalten; er entwickelte ein konsistentes
der Philosophie, deren Entstehung und mög- technisches Vokabular, um die Folgerungs-
liches Ende mit der historischen Epoche relationen zwischen den grammata herzustel-
einer allgemeinen Schriftkultur zusammen- len, und löste sich damit von der reichen
geht, läßt jedes Denken und beseelte Sagen Mannigfaltigkeit der Umgangssprache; und
der Präsenz nur als Effekte einer „Schrift“ er gab sich größte Mühe, eine Axiomatik zu
möglich sein, die es von innen her und von erstellen, in der die vollkommenen Schlüsse
Anfang an aufbrach, zerstreute, „dissemi- der ersten Figur evident sind, auf die alle
nierte“. Die Dekonstruktion der Präsenzphi- anderen Schlußfiguren reduktiv zurückge-
losophie greift in deren Zentrum durch den führt werden können (vgl. Lukasiewicz 1951;
Akt einer Lektüre ein, die zu lesen vermag, Patzig 1959).
daß jede philosophische Anstrengung, ihren Auch wenn es einleuchtet, „daß die Logik
G egenstand als vorschriftliches Sein und prä- ursprünglich verstanden wurde als eine Wis-
sente Identität denken zu wollen, immer senschaft von dem, was geschieht, wenn wir
schon die verwerfliche Seite einer gramma- nicht nur für uns denken, sondern wenn wir
tologischen „différance“, als System und Spur reden und versuchen, einander zu überzeu-
von Differenzen, in Anspruch nehmen muß, gen“ (Kapp 1965, 26; vgl. Mansion 1972;
auch wenn sie es noch so sehr zu vermeiden Solmsen 1972), so ist doch nicht zu übersehen,
sucht. „Alles fängt mit der Reproduktion an. daß dieses Verständnis von Anfang an unter
Immer schon, das heißt Niederschlag eines dem Zeichen der alphabetisierten Schrift
Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeu- stand. Die G eschichte der formalen Logik,
tete Präsenz immer schon ‘nachträglich’, im die man in den Werken von Bocheński (1978)
Nachherein und zusätzlich (supplémentaire- und Kneale & Kneale (1962) nachlesen kann,
ment) rekonstituiert wird“ (Derrida 1972, ist eine abenteuerliche Suche nach grammato-
323). logischen Aussageformen, die nichts mehr mit
der mündlichen Umgangssprache, mit psy-
chischen Vorgängen und einem konkreten
5. Von der Analytik zur Begriffsschrift Wissen weltlicher Sachverhalte zu tun haben
Wie viel diese Paradoxie eines bereits repro- wollen. Ihre Autonomie läßt sich allein mit-
duzierten Anfangs der Schrift verdankt, läßt tels einer kombinatorischen Kunstsprache si-
sich an der Entstehung und Entwicklung der chern, die rein schriftlich entworfen und aus-
formalen Logik ablesen. Sie diszipliniert ein gebaut werden kann.
Denken, dessen Ausbildung erst möglich Das hat der Begründer der modernen sym-
wurde, als Aristoteles die Sichtbarkeit der Al- bolischen Logik am deutlichsten formuliert,
phabetschrift zu seiner Modellierung nutzte. „daß nämlich ein Alphabet der menschlichen
Seine Definition des Syllogismus, die er in der G edanken ausgedacht werden könnte und
Ersten Analytik (Erstes Buch, Erstes Kapitel) durch die Kombination der Buchstaben dieses
lieferte, war keine Beschreibung dessen, was Alphabetes und durch die Analyse der aus
tatsächlich im mündlichen G edankenaus- ihnen entstandenen Worte alles aufgefunden
tausch oder im ernsthaften Nachdenken prak- und entschieden werden könnte“ (Leibniz um
tiziert wird, sondern glich einem mathemati- 1666, zit. nach Übersetzung von Bocheński
schen Spiel mit isolierten „Elementen“, deren 1978, 321). Am Schriftzeichen und seiner
griechischer Ausdruck ursprünglich dasselbe Kombinatorik läßt sich die logische Analyse
meinte wie „Buchstabe des Alphabets“. Be- sinnlich sichtbar leiten. Calculemus!, rechnen
reits Sokrates konnte deshalb die geistige wir! — das ist der hoffnungsvolle Imperativ,
G ymnastik des Argumentierens und Erklä- der jede dialogische Auseinandersetzung zwi-
rens mit einem Buchstabenspiel vergleichen, schen Philosophen unnötig werden läßt. Ihm
in dem sich sinnvolle Namen oder Silben aus folgt auch Freges G rundlegung einer moder-
den „Urbestandteilen der Schrift“ ergeben nen Begriffsschrift 1879, die als Formelspra-
(Theaitetos 201 e—204 b); und es war kein che des reinen Denkens schriftlich entworfen
weiter, obwohl doch bahnbrechender Schritt, wird und sich von jedem mündlichen Einfluß
652 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

vollständig befreit. Für die menschliche ten“), die durch keinen schriftlichen Text zum
Stimme und die hörbaren Zeichen fürs Ohr Schweigen gebracht werden können (Riedel
findet sich in ihr kein Platz. Nur die scharfe 1990). Im unauflösbaren Spannungsverhält-
Begrenztheit und deutlich sichtbare Differen- nis zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
zialität der geschriebenen Zeichen erlaubt es, keit, das der griechischen Philosophie einen
„ohne Vermittlung des Lautes“ unmittelbar zweifachen Ursprung ermöglichte, bleibt die
die Sache auszudrücken, um die es geht Philosophie ihrem aporetischen Impuls treu:
(Frege 1904, zit. nach Frege 1962, 88; vgl. sie ist Reflexion auf die Bedingungen der
92 ff). Die Systeme der logischen Syntax und Möglichkeit genau dessen, was in jeder an-
Semantik des 20. Jahrhunderts haben sich deren als der philosophischen Einstellung für
dieser Perspektive ebenso angeschlossen wie selbstverständlich muß genommen werden.
die geschriebenen Computer-Programme der Das Vertrauen in die sinnbildende Kraft des
Künstlichen Intelligenz, in denen die Ansprü- mündlichen G esprächs ist davon ebenso be-
che einer hörendsprechenden Verlautbarung troffen wie jede Anstrengung, sich in der Ab-
des Wissens und des Sinns endgültig ver- geschlossenheit schriftlicher Systeme einzu-
stummt sind. Auch die G eschichte der Prä- richten. Beides, Mündlichkeit wie Schriftlich-
senzmetaphysik von Platon bis Hegel und, keit, ist zum inimicus des Philosophierens ge-
jenseits ihrer scheinbaren G renzen, von den worden, mit dem es sich gegenwärtig ausein-
Vorsokratikern bis Heidegger, ist damit an ihr andersetzen muß.
Ende gekommen. Das „Spiel der Schrift“, das
im Phaidros (276 e) als Kinderei der reifen
Besonnenheit der erfüllten gesprochenen 7. Literatur
Rede gegenübergestellt wurde, hat sich kul- Assmann, Aleida, Assmann, Jan & Hardmeier,
turgeschichtlich vollendet. Es vollzieht sich Christoph (ed.). 1983. Schrift und G edächtnis. Bei-
kombinatorisch in den G renzen der genera- träge zur Archäologie der literarischen Kommuni-
tiven G rammatiken, programmierbaren kation. München.
„scripts“ und symbolischen Formalismen, die
modellartig determinieren, was als Sprache Bocheński, Joseph M. 1978. Formale Logik. Mün-
gelten kann. chen. [4. erw. Aufl.].
Carpenter, Rhys. 1933. The antiquity of the G reek
alphabet. American Journal of Archaeology 37, 8—
6. Post scriptum 29.
—. 1938. The G reek alphabet again. American
Das Philosophieren verletzte die Regeln seines Journal of Archaeology 42, 58—69.
eigenen Sprachspiels (vgl. G eier 1989), wenn
Derbolav, Josef. 1972. Platons Sprachphilosophie
es dagegen keine Einwände erheben würde.
im Kratylos und in den späteren Schriften. Darm-
Es lebt vom Widerstreit. Es kann sich, rück-
stadt.
blickend auf seine eigene Texttradition, weder
auf die Qualitäten eines gesprochenen Wortes Derrida, Jacques. 1972. Die Schrift und die Diffe-
verlassen, welches seine eigene Erfüllung renz. Frankfurt.
träumt; noch kann es sich der Kombinatorik —. 1974. Grammatologie. Frankfurt.
einer Schrift verschreiben, die alle Schlupf- —. 1979. Die Stimme und das Phänomen. Frank-
winkel zu erfassen versucht, deren Präsenz furt.
den Bereich der Sprache und des Wissens —. 1986. Positionen. Wien.
begründen sollte. Auch die aktuelle Ausein- —. 1988. Randgänge der Philosophie. Wien.
andersetzung um das, was Philosophie war —. 1988. Limited Inc. Evanston, Ill.
und sein kann, zehrt noch vom anfänglichen Diels, Hermann. 1879. Doxographi Graeci. Berlin.
Zwiespalt zwischen Sprechen und Schreiben,
Hören und Lesen, phone und gramma. Die —. 1903. Die Fragmente der Vorsokratiker. Drei
befestigte Herrschaft der Schriftkultur pro- Bände. Berlin.
voziert eine grammatologische Dekonstruk- Flusser, Vilém. 1987. Die Schrift. Göttingen.
tion jeder Philosophie, sofern sie sich phono- Foucault, Michel. 1973. Archäologie des Wissens.
oder logozentrisch orientiert und die ganze Frankfurt.
Sphäre der Präsenz im Sprechen und Sagen Fränkel, Hermann. 1955. Wege und Formen früh-
gegenwärtig halten will, und sie wird wie- griechischen Denkens. München.
derum problematisiert durch ein Hören- und Frege, G ottlob. 1879. Begriffsschrift. Eine der
Sprechenlassen „akroamatischer“ Dimensio- arithmetischen nachgebildete Formelsprache des
nen (von griech. akroasthai: hören lassen, ver- reinen Denkens. Halle a. d. Saale.
nehmen, auf etwas hören im Sinne von „ach-
51.  Schriftlichkeit und Philosophie 653

—. 1962. Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf lo- 1990. Der Übergang von der Mündlichkeit zur
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thode. G rundzüge einer philosophischen Herme- Tradierung von Wissen in der griechischen Litera-
neutik. Tübingen. tur. Tübingen.
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654 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Solmsen, Friedrich. 1972. Aristoteles’ Syllogismus geschriebenen Lehre Platons. Darmstadt.


und seine platonischen Voraussetzungen. In: Hager Zeller, Eduard. 1845—1852. Die Philosophie der
(s. Mansion), 122—133. G riechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Szlezák, Thomas Alexander. 1985. Platon und die Drei Bände. Leipzig. [Nachdruck der von Nestle
Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin/New York. erw. Ausgabe 1963, Hildesheim].
Wieland, Wolfgang. 1982. Platon und die Formen Zumthor, Paul. 1983. Introduction à la poésie
des Wissens. Göttingen. orale. Paris.
Wippern, Jürgen (ed.). 1972. Das Problem der un-
Manfred Geier, Hamburg (Deutschland)

52. Writing and Science

1. What is science? stract” science. Other writers refer to it as


2. Writing and the origins of western science “theoretical” science. And still others regard
3. The scientific revolution in the 17th century science as western science and trace its ances-
4. Science in other cultures try to the classical period of ancient G reece.
5. Contemporary science and scientific thinking Three symptoms are characteristic of such
6. References science.
First, its breadth. Whereas all cultures ap-
pear to have a great deal of specialized knowl-
1. What is science? edge of plants, animals, weather, geography
Human beings evolved by developing sophis- and so on, G reek science attempted to system-
ticated means of coping, indeed, of mastering atize such knowledge into comprehensive sys-
the natural world. Such mastery requires a tems. To illustrate, many if not all cultures
high level of knowledge about nature and its use plant products for food, medicine and the
transformation into usable form. Levi-Strauss like. Herbals from the classical period and
described mankind’s early technical achieve- again in the 16th Century list important
ments as an indication of the beginnings of plants and the functions they may serve.
genuine science: What the G reeks did, in addition, was ask
To transform a weed into a cultivated plant, a wild
general questions as to what is a plant, what
beast into a domestic animal ...; to make stout,
is common to all plants, what distinguishes
water-tight pottery out of clay which is friable and
one from all the others. Or to provide another
unstable, liable to pulverize or crack ...; to work
example, all cultures preserve geographic
out techniques, often long and complex, which
knowledge of routes, terrain, coasts, rivers.
permit cultivation without soil or alternatively
What the G reeks did was to construct “world
without water; to change toxic roots or seeds into
maps”, maps which could integrate the local
foodstuffs or again to use their poison for hunting,
knowledge contained in the experience of
war or ritual — there is no doubt that all these
traders, wanderers, hunters and so on.
achievements required a genuinely scientific atti-
Second, its logic. The effort at comprehen-
tude, sustained and watchful interest and a desire
siveness required that the accumulated
for knowledge for its own sake. ... Neolithic, or
knowledge be organized in terms of general
early historical, man was therefore the heir of a
principles. The relations amongst those prin-
long scientific tradition (1962, 14—15).
ciples were those of logic. Local features were
Writing, of course, played no obvious part in derived deductively from general premises.
the evolution of this applied science. Knowl- The clearest example was the syllogism.
edge accumulated in the practices and tra- Whereas logic was simply concerned with va-
ditions passed on through talk and demon- lidity, science was concerned with the truth
stration and apprenticeship. Although such of the premises and the truth of the inferences
science is perhaps the most important of all derived from them. The resulting knowledge
human achievements, the science that later had the form of hierarchical systems of
evolved in an increasingly literate culture knowledge, of classes and subclasses, of es-
turned science in a new direction. sential properties and characteristic proper-
Strict definitions of “western” science are ties in addition to logical principles relating
difficult to give. Levi-Strauss called it “ab- them. Such principles did not allow excep-
tions but emphasized necessity. If all animals
654 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Solmsen, Friedrich. 1972. Aristoteles’ Syllogismus geschriebenen Lehre Platons. Darmstadt.


und seine platonischen Voraussetzungen. In: Hager Zeller, Eduard. 1845—1852. Die Philosophie der
(s. Mansion), 122—133. G riechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Szlezák, Thomas Alexander. 1985. Platon und die Drei Bände. Leipzig. [Nachdruck der von Nestle
Schriftlichkeit der Philosophie. Berlin/New York. erw. Ausgabe 1963, Hildesheim].
Wieland, Wolfgang. 1982. Platon und die Formen Zumthor, Paul. 1983. Introduction à la poésie
des Wissens. Göttingen. orale. Paris.
Wippern, Jürgen (ed.). 1972. Das Problem der un-
Manfred Geier, Hamburg (Deutschland)

52. Writing and Science

1. What is science? stract” science. Other writers refer to it as


2. Writing and the origins of western science “theoretical” science. And still others regard
3. The scientific revolution in the 17th century science as western science and trace its ances-
4. Science in other cultures try to the classical period of ancient G reece.
5. Contemporary science and scientific thinking Three symptoms are characteristic of such
6. References science.
First, its breadth. Whereas all cultures ap-
pear to have a great deal of specialized knowl-
1. What is science? edge of plants, animals, weather, geography
Human beings evolved by developing sophis- and so on, G reek science attempted to system-
ticated means of coping, indeed, of mastering atize such knowledge into comprehensive sys-
the natural world. Such mastery requires a tems. To illustrate, many if not all cultures
high level of knowledge about nature and its use plant products for food, medicine and the
transformation into usable form. Levi-Strauss like. Herbals from the classical period and
described mankind’s early technical achieve- again in the 16th Century list important
ments as an indication of the beginnings of plants and the functions they may serve.
genuine science: What the G reeks did, in addition, was ask
To transform a weed into a cultivated plant, a wild
general questions as to what is a plant, what
beast into a domestic animal ...; to make stout,
is common to all plants, what distinguishes
water-tight pottery out of clay which is friable and
one from all the others. Or to provide another
unstable, liable to pulverize or crack ...; to work
example, all cultures preserve geographic
out techniques, often long and complex, which
knowledge of routes, terrain, coasts, rivers.
permit cultivation without soil or alternatively
What the G reeks did was to construct “world
without water; to change toxic roots or seeds into
maps”, maps which could integrate the local
foodstuffs or again to use their poison for hunting,
knowledge contained in the experience of
war or ritual — there is no doubt that all these
traders, wanderers, hunters and so on.
achievements required a genuinely scientific atti-
Second, its logic. The effort at comprehen-
tude, sustained and watchful interest and a desire
siveness required that the accumulated
for knowledge for its own sake. ... Neolithic, or
knowledge be organized in terms of general
early historical, man was therefore the heir of a
principles. The relations amongst those prin-
long scientific tradition (1962, 14—15).
ciples were those of logic. Local features were
Writing, of course, played no obvious part in derived deductively from general premises.
the evolution of this applied science. Knowl- The clearest example was the syllogism.
edge accumulated in the practices and tra- Whereas logic was simply concerned with va-
ditions passed on through talk and demon- lidity, science was concerned with the truth
stration and apprenticeship. Although such of the premises and the truth of the inferences
science is perhaps the most important of all derived from them. The resulting knowledge
human achievements, the science that later had the form of hierarchical systems of
evolved in an increasingly literate culture knowledge, of classes and subclasses, of es-
turned science in a new direction. sential properties and characteristic proper-
Strict definitions of “western” science are ties in addition to logical principles relating
difficult to give. Levi-Strauss called it “ab- them. Such principles did not allow excep-
tions but emphasized necessity. If all animals
52.  Writing and Science 655

reproduce and if barnacles are animals, they by scientific thinkers, there is little clear evi-
must reproduce. The relation was logical not dence that the thinking itself was directly de-
primarily empirical (see Havelock 1982; pendent upon writing. Thinkers tended to
Lloyd 1979; 1990). present their arguments orally; scribes may
Third, its theoretical quality. G reek science record the speeches and preserve them but
did not only describe, it advanced its descrip- the thinking appears to have proceeded with-
tions in terms of general principles. Ptolemy, out obvious appeal to texts.
for example, not only knew that the earth Yet, an important shift in understand-
was round, itself an inference, but also that ing did occur. The altered understanding
if it was round it could be characterized in achieved in such sciences as medicine and
terms of a sphere, the geometrical properties astronomy were related, Lloyd (1979; 1990)
of which were known. Thus, the earth could suggests, to the developments in the uses of
be represented as having 360 degrees, the evidence and of methods of proof. But he
whole earth surface mapped out in terms of traces this development not to the availability
lines of longitude and latitude set out in terms of the alphabet and writing, but to the forms
of those degrees. Indeed, Ptolemy calculated of sceptical argument that had evolved in
that one minute of one degree of latitude at judicial and political contexts. He concluded:
the equator (a nautical mile) was about 70 [The G reeks] were certainly not the first to develop
miles, an estimate that has turned out to be a complex mathematics — only the first to use, and
close to the measured distance of 60 miles. then also to give a formal analysis of, a concept of
The G reek drive toward theoretical explana- rigorous mathematical demonstration. They were
tion led them to ask such basic questions as not the first to carry out careful observations in
what is life, what is truth, what is reality, astronomy and medicine, only the first — eventu-
what is magic, and the like. While all cultures ally — to develop an explicit notion of empirical
for example may appeal to magic for some research and to debate its role in natural science.
explanations, the G reeks were the first to They were not the first to diagnose and treat some
make a general category of magic and attempt medical cases without reference to the postulated
to provide its correct description and conse- divine or daemonic agencies, only the first to ex-
quently to rule it out as an explanation (Lloyd press a category of the ‘magical’ and to attempt to
1990). exclude it from medicine (1979, 232).
The critical notions here are those marked
by the terms “concept”, “explicit notion” and
2. Writing and the origins of “category”. What the G reeks invented was
western science not argument but ideas about argument; not
What role did writing and literacy play in this so much knowledge as an epistemology in-
development? Estimates vary. G oody (1987) volving a set of categories or concepts for
has argued that writing was critical as a means “representing” forms of argument — the con-
of collecting and arranging data in such a cepts of logic, proof, research, and magic.
way that anomalies and contradictions could Thus the Hippocratic writer writing on the
become apparent. Havelock (1982) argued sacred disease “rejects the notion of super-
that writing made it possible to distinguish natural intervention in natural phenomena as
knowledge from the knower, treating knowl- a whole, as what might even be called a cate-
edge as the archival base that could be ap- gory mistake” (1979, 26). Magic belongs to a
pealed to what may extend beyond any living different category than natural causes. The
person’s personal knowledge. Olson (1994) concepts in question take on an oppositional
argued that writing made it possible to think quality, logos as opposed to mythos, natural
about language in such a way as to distinguish as opposed to magical, literal as opposed to
types of meaning — literal meaning, meta- metaphorical. Thus the achievement is less a
phorical meaning — which in turn allowed the matter of research, proof or magic than an
formation of abstract principles with defini- oppositional set of concepts that allow these
tive meaning. things to be seen as proof, research or magic.
Other writers are less sanguine. Lloyd They allow these things to be objects of fur-
(1990) and Harris (1989) have pointed out ther discourse: What is a proof? What is re-
that most scientific (like most political dis- search? What is magic? What is knowledge?
course) in classical G reece was carried out The precise role that writing played in the
orally, and that writing played a much smaller evolution of these concepts is not known al-
role in the G reek “miracle” than had usually though some writers suggest an instrumental
been assumed. While literacy was exploited link (Goody 1987; Olson 1994).
656 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

What is beyond dispute is that writing was systematic distinction between what was in
responsible for bringing the knowledge of the the text and what was ascribed to the text by
G reeks down to our time. Renaissance sci- the tradition or by an overactive imagination.
ence, the scientific tradition that culminated It was that distinction that was applied by
in the 17th Century scientific revolution, was the new scientists. Thus, writing and literacy
in large part the product of the rediscovery not only disseminated and accumulated sci-
of ancient writers. ence; it was instrumental in the very thinking
of the scientists themselves.
Robert Boyle provides a good illustration
3. The scientific revolution of this new way of reading and writing. Boyle
in the 17th Century writes his experiments up in such a way as to
The 17th Century achievement is well known. turn the readers of his texts into “virtual
G ilbert analyzed and set out the properties witnesses” to his experiments (Shapin 1984)
of the lodestone (the magnet). G alileo worked being careful to report only those things that
out the basic properties of motion. William the reader would have seen with his own eyes
Harvey discovered the circulation of the were he present. Statements should only point
blood; Boyle the properties of air. And Fran- to the facts. When discourse went beyond that
cis Bacon outlined a philosophy of science factual pointing, and into the domain of
which substituted careful observation of na- speculation or theory it was to be so marked.
ture for philosophical speculation no matter Boyle, like Bacon, was very sensitive to this
how venerable: “For G od forbid that we take point. Thus Boyle wrote:
in almost every one of the following essays I ...
a dream of the imagination for a pattern in
speak so doubtingly, and use so often, perhaps, it
the world”. What role did writing play in the
seems, it is not improbable, such other expresssions,
origin and success of this movement?
as argue a diffidence of the truth of the opinions I
Eisenstein (1979) has carefully documented
incline to, and that I should be so shy of laying
the ways in which the printing press advanced
down principles, and sometimes of so much as
the use of writing in the formation of an
venturing at explications ... I dare speak confi-
“archival research tradition”. With the rise of
dently and positively of very few things, except of
print, thousands of copies identical to the
matters of fact (Proemial E ssay, note 10, 307; cited
original could be placed in the hands of hun-
by Shapin 1984, 495—496).
dreds of scientists who could examine the
reports in the light of their own experience
and offer corrections, replications, additions 4. Science in other cultures
to the text. Hand copied texts were not only
scarce, they were apt to be corrupted by copy- Every advanced culture has its own version
ist errors. To argue with a text, therefore, was of specialized knowledge that we may call
to argue only with the version you had seen. science. The Egyptians’ achievements in
Printing changed all that. Writing and print- surveying, flood control, architecture, all
ing permitted the accumulation and distri- branches of applied science are well known
bution of novel information. An example is because of their assimilation into western
in the maps produced by the voyages of dis- thought. Chinese culture is therefore of great
covery in the 16th century. The discovery of interest because their scientific traditions de-
a new island or an error in an existing map veloped quite independently of any contact
was used to update the publication of the with the west and their achievements are im-
next edition of the map, chart or text. Thus pressive indeed. Knowledge of chemicals used
science became democratized; any one could for ceramics, metallurgy, textiles (think of the
play as long as they could read the current difficulty of collecting and weaving silks from
archive. the excrement of worms!), as well as their
Olson (1994) has argued that the relation mathematics and philosophy has made the
is even deeper. The new way of “reading the study of Chinese science of particular signifi-
book of nature” as many 17th Century sci- cance both for understanding Chinese culture
entists such as G alileo and Boyle described and thought in its own right (Needham
natural science, may be seen as an outgrowth 1954—59) as well as for comparison with that
of the new way of reading scripture which of the west.
had become instituted in the Protestant Re- Lloyd (1990) has recently compared the
formation. That austere way of reading, ac- evolution of ancient G reek science with an-
cording to the literal meaning, permitted the cient Chinese science. Both, he found, were
52.  Writing and Science 657

concerned with ethics, natural philosophy, the 17th Century did the distinction between
medicine, astronomy, metallurgy and episte- knowledge and opinion cease to be categori-
mology, especially on the reliability of per- cal. Modern scientific thinking depends crit-
ception and reason. Yet Lloyd finds striking ically on an understanding of the “status” of
differences. Whereas ancient Chinese science a proposition, whether assumption, premise,
explored correlations, parallelisms and com- principle, definition, inference, observation
plementarities, the G reeks seem preoccupied and the like. Equally important, it assigns
with proof, contrasting proof with persua- roles to statements, roles such as claim versus
sion, and seeking for incontrovertability. evidence for a claim, and roles such as fact
Similarly, whereas the Chinese were sophis- and theory. Furthermore, procedures, such as
ticated in the use and criticism of metaphor, the accumulation of evidence, are available
they, unlike the G reeks, never thought that for changing the status of any proposition. A
metaphor was in principle a deviant form of hypothesis when supported by appropriate
expression. Again, Lloyd traces these differ- evidence may become a fact or a theory. An
ences to social organization and to the avail- assumption found to be critical to a whole
ability of a general audience who were free set of arguments may become a principle or
to judge the plausibility of an argument. In a definition. To think scientifically, therefore,
such contexts, the balance may shift from is to become familiar with somewhat special-
authority to evidence in sustaining a conclu- ized epistemological categories and to use
sion. Secondly, Lloyd points out that writing them in considering any scientific problem.
cannot be the causal factor as the Chinese The significance of such thinking for a
were as literate as the G reeks. In fact China general education is that once seen as appli-
is “very much a culture mediated by the writ- cable to scientific problems, students may find
ten, more than the spoken word” (112) and them useful for thinking about everyday
yet only G reek science took the particular problems as well. Thus science plays a crucial
direction we recognize as the route to an part in the development of general, critical
empirical scientific tradition. thinking abilities.
Yet it may be argued that writing in general
rather than the alphabet in particular con-
tributed to the evolution of a scientific tra- 6. References
dition whether in China or in G reece and that Eisenstein, E. 1979. The printing press as an agent
the particular G reek way of writing and read- of change. New York.
ing contributed to the recognition of and pref-
erence for literal meanings in scientific dis- G oody, J. 1987. The interface between the oral and
course and to the judgment of poetic or meta- the written. Cambridge.
phoric discourse as deviant. Hacking, I. 1975. The emergence of probability: A
philosophical study of early ideas about probabil-
ity, induction and statistical inference. Cambridge.
5. Contemporary science and scientific Harris, W. V. 1989. Ancient literacy. Cambridge,
thinking Mass.
Havelock, E. 1982. The literate revolution in
Scientific thinking is distinctive not only in
G reece and its cultural consequences. Princeton,
what it takes for its content — nature rather
N. J.
than law or religion, for example — but in
the assumptions it makes about the world Levi-Strauss, C. 1962. La pensé sauvage. Paris.
and about knowledge. Scientific thinking be- Lloyd, G . E. R. 1979. Magic, reason and experi-
gan with clear distinctions between natural ence. Cambridge.
and magical explanation, between literal and —. 1990. Demystifying mentalities. Cambridge.
metaphorical meanings. Only literal meanings Needham, J. 1954—59. Science and civilization in
play a role in logical reasoning, in deduction, China. Vols 1—3. Cambridge.
in logical inference. Thus scientific thinking Olson, David R. 1994. The world on paper: The
assigns a particular role to one form of mean- conceptual and cognitive implications of writing
ing. This fact has led the philosopher Karl and reading. Cambridge.
Popper to suggest that science is a branch of Shapin, S. (1984). Pump and circumstance: Robert
literature. Boyle’s literary technology. Social Studies of
Secondly, modern scientific thinking hon- Science, 14, 481—520.
ors assumptions about the corrigibility of be-
liefs. Hacking (1975) pointed out that only in David R. Olson, Toronto (Canada)
658 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

53. Schriftlichkeit und Literatur

1. Veränderungen des Begriffs ‘Schriftlichkeit’ 1. Veränderungen des Begriffs


2. Literarische Schreibtätigkeit ‘Schriftlichkeit’
3. Die dritte Dimension der Literatur
4. Literarische Schreibverfahren Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Ver-
5. Neue theoretische Ansätze hältnis von Schriftlichkeit und Literatur un-
6. Literatur terschiedlich entwickelt, gestaltet durch den
vereinten Einfluß technischer Entdeckungen
und sozialer Veränderungen.
Literatur ist das Produkt par excellence von In den mittelalterlichen Schreibstätten
Schriftlichkeit, und beide Begriffe sind so eng wurden handschriftliche Manuskripte hand-
miteinander verflochten, daß es auf den ersten werklich „kopiert“ und mit Zieraten versehen,
Blick sehr schwierig scheint, sie durch ein wobei die Kopisten verschiedene, variierende,
„und“ auseinanderzuhalten. Im übrigen be- aneinandergrenzende Fassungen eines Werkes
sitzen beide Wörter auch eine gemeinsame herstellten, bei jedem Akt des Abschreibens
etymologische Herkunft: wenn lateinisch eigentlich neu schrieben (Cerquiglini 1989),
littera ‘Buchstabe, Schriftzeichen’ bedeutet, sich aber nicht für den Schreibprozeß selbst
so heißt litteratura ursprünglich ‘Alphabet, interessierten. Erst ab dem 16. Jahrhundert
Buchstabenschrift’, dann auch ‘Schriftkom- gewinnt in Europa die schriftliche Literatur
petenz’ und ‘G rammatik, Sprachkunst’ (pri- den Vorrang über die mündliche. Das Wort
ma litteratura), ‘Schrifttum, Schreiben’, und manuscript, aus dem lat. manu scriptum ge-
schließlich ‘Kultur, Wissen, G elehrsamkeit’. formt, ist zuerst in England ganz am Ende
In der Schrift selbst erkannten die Völker der des 16. Jahrhunderts belegt. Seit der Mitte des
Antike die „Tradition der Traditionen“, die 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahr-
die Übertragung und Weiterentwicklung von hunderts tritt eine langsame, aber tiefgrei-
Kultur und Wissen ermöglicht. Sogar münd- fende Wandlung ein, mit der Erfindung und
liche Literaturformen (von Kulturen mit oder Verbreitung des Buchdrucks, einer „mecha-
ohne Schrift) werden meistens paradoxer- nischen Schrift“ als Mittel zur Reproduktion
weise durch das schriftliche Medium festge- von geschriebenen Werken (MacLuhan 1962;
halten. Der Begriff ‘Literatur’ verweist also Benjamin 1955). Allmählich wird die hand-
unzweifelhaft auf den Begriff ‘Schriftlichkeit’. schriftliche Kopie, die die neue Erfindung
Neben ‘Skribent’ und ‘Literat’ wurde im noch lange Zeit überlebte, durch das ge-
Laufe des 17. Jahrhunderts als Berufsbezeich- druckte Buch ersetzt. Zugleich entsteht wäh-
nung das Wort ‘Schriftsteller’ gebildet, aus rend der Renaissance die Vorstellung des gei-
Wendungen wie ‘in [eine] Schrift stellen’, stigen Eigentums und des literarischen
schreibend produzieren, schriftlich mitteilen, Ruhms. Während die Schreibtätigkeit früher
verfassen. Die Wortgeschichte von ‘Dichter’ mehr oder weniger anonym verlief, formt sich
verweist auf eine ähnliche Eigenschaft: ‘Dich- im Laufe des 17. Jahrhunderts, unter anderem
ten’ ist ein Entlehnungsverb aus dem lateini- durch Konflikte mit den Druckern, ein Au-
schen dictare, wortwörtlich „zum Nachschrei- torbegriff, der ein paar Jahrzehnte später
ben vorsagen“, hat aber bis ins 17. Jahrhun- durch das Urheberrecht juristisch ergänzt
dert den allgemeineren Sinn „schriftlich ab- wird (→ Art. 75).
fassen“, „ein Schriftwerk verfassen“. Schrift- Die Typographie erlaubt es, das bewegli-
lichkeit bedeutet nicht nur die bloße Voraus- che, wandlungsfähige Werk der Kopisten ein
setzung der Literatur, sondern zugleich auch für allemal in einer bestimmten Form zu fi-
ihr eigentliches Medium und der privilegierte xieren. Der Begriff ‘Text’ ist schon im 12.
Raum der Schreibtätigkeit. Literatur ist, als Jahrhundert mit der Bedeutung ‘G ewebe, G e-
wichtiger Ausarbeitungsprozeß der Sprache flecht’ belegt. Das Wort textus (lat.) bezeich-
und der Kultur, die Kunst der geschriebenen net Stellen aus der Heiligen Schrift, im G e-
Sprache, die Quintessenz der Schrift. Wie aber gensatz zu Schriftstücken wie Kommentare,
läßt sich der Zusammenhang beider Begriffe G lossen, oder auch G esang. Als gedruckter
untersuchen, was haben sie, genauer und kon- Text erwirbt er den Sinn einer stabilen, in
kreter gesehen, miteinander zu tun? Raum und Zeit abgeschlossenen Einheit, die
innerlich nach bestimmten Regeln stark
53.  Schriftlichkeit und Literatur 659

strukturiert ist, wobei die Literalität der Form strebt sie danach, mittels vergleichender
für die Klarheit des Sinns bürgt. Eine Einheit, Sprachanalysen den ‘besten Text’ herzustel-
die sich, sobald sie (als Ware) verbreitet wird, len; sie geht davon aus, daß ein Text, der
vom Schreiber unabhängig macht. Parallel durch die Verschiedenheit seiner Fassungen
zur Ausbreitung des Buchdrucks entwickelt bekannt ist, als einzige sprachliche Einheit
sich ein neuer Begriff des Textes. Besonders rekonstruiert werden muß. Jede Kopie wird
zur Zeit der Romantik kommen neue Begriffe im Vergleich zu einem als perfekt postulierten
und Vorstellungen wie die der Inspiration, des Urtext als fehlerhaft betrachtet, und jede Va-
G enies, der Schöpfung, der Originalität zum riante wird als die Verschlechterung eines un-
Durchbruch, welche die literarische Schreib- zugänglichen Originals bewertet (→ Art. 54).
tätigkeit bezeichnen. Der Verleger, der für die In der klassischen Philologie steht der Text
literarische Produktion mehr und mehr Be- im Vordergrund. Hundert Jahre später (1938)
deutung erlangt, als Vermittler zwischen ediert Beißner Wielands Handschriften. Bei
Autor und Leserpublikum, nimmt neben dem der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1942) in-
Drucker seinen Platz ein (→ Art. 6). teressiert er sich aber nicht nur für den Text,
Was die Literatur betrifft, so vollzieht der sondern zieht auch seinen Entstehungsprozeß
Buchdruck einen Bruch zwischen der indivi- in Betracht und bemüht sich, im kritischen
duellen, privaten Arbeit des Schriftstellers Apparat das Schreibverfahren teilweise zu re-
und dem fertigen, öffentlichen Produkt, das konstruieren. Von da an werden kritische Edi-
dem Publikum angeboten wird (Lebrave tionen hergestellt, die neben der bloßen De-
1992). Die Autorisierung oder das imprimatur skription der Handschriften andere Infor-
des Autors stellt, symbolisch und juristisch mationen miteinbeziehen, die für den Entste-
gesehen, den Übergang von einem privaten, hungs- und Schreibprozeß des Textes relevant
handschriftlichen, Schreiben zu einer öffent- sind (u. a. Zellers C. F. Meyer-Ausgabe; Al-
lichen, gedruckten und identisch reproduzier- lemanns Celan-Ausgabe; Sattlers Hölderlin-
baren Schrift dar. Ausgabe). In den meisten Fällen bietet die
Bei dieser G elegenheit verändert sich der Ausgabe einen durch wissenschaftliche und
Status von Handschriften (im eigentlichen kritische Bearbeitung gesicherten Text. Bei
Sinne, d. h. ein mit der Hand geschriebenes, äußerst komplizierten Handschriften aber,
einzigartiges Dokument) nachhaltig: Die wie z. B. im Falle Hölderlins oder Hofmanns-
übergebliebenen Handschriften der Werke thals, wo zahlreiche Korrekturphasen sich
von der Antike bis zum Ende des 18. Jahr- überlagern, ist es manchmal unmöglich, eine
hunderts sind im Wesentlichen Reinschriften endgültige Textgestalt wiederherzustellen. In-
und werden als ö f fe n t l i c h e Texte aufgrund nerhalb der modernen deutschen Editorik
ihres kulturellen Wertes aufbewahrt. Im G e- entwickelt sich seit dem Anfang der siebziger
gensatz dazu werden moderne Handschriften, Jahre und besonders in den letzten Jahren
d. h. nicht nur Reinschriften, sondern vor al- eine lebhafte Diskussion über die methodo-
lem Arbeitshandschriften, als p r i va t e — logischen Ansätze zur Wiedergabe des Textes,
oder zumindest nicht-öffentliche — Schrift- zur Rolle des technischen Apparates, und zur
stücke öffentlich anerkannter Schriftsteller Darstellung des Entstehungsprozesses (Peter
aufgehoben und gesammelt. Szondi; Dietrich Sattler; Hans Zeller; Win-
Im 19. Jahrhundert werden in Deutschland fried Woesler; G erhard Seidel; G unter Mar-
und Rußland, etwas später auch in Frank- tens; Herbert Kraft; Klaus Kanzog; Heinrich
reich, die ersten literarischen Handschriften- Meyer u. a.).
sammlungen und Autorenarchive (manchmal Im Frankreich der sechziger Jahre beschäf-
vom Autor selbst: G oethe, Hugo) gegründet, tigen sich die Strukturalisten mit der Theorie
die aber noch kein wissenschaftliches Inter- des Textes; er wird als eine geschlossene, von
esse erwecken. G leichzeitig entwickelt sich in internen Regeln regierte und legitimierte Ein-
Deutschland die klassische Philologie, die den heit definiert. Durch die Beschreibung von
wissenschaftlichen Bereich der Schriftlichkeit sprachlichen und formalen Prozessen, die in-
beherrschen wird. Sie entwirft eine strenge nerhalb des Textes funktionieren, wird der
und genaue Methodik, um Handschriften zu Text als ein System analysiert, das durch seine
entziffern und zu transkribieren, Schreibtech- interne Struktur Bedeutung produziert. Diese
niken, -träger und -stoffe zu analysieren und Neuorientierung, die sich mit der „Literatur
zu datieren, eine Handschriftengenealogie als Text“ beschäftigt (Barthes, Kristeva),
(stemma) auszuarbeiten (z. B. Karl Lach- macht ihn zum G egenstand einer auf Struktur
manns Lessing-Ausgabe, 1838—1840). Dabei und Funktion zentrierten Analyse, die sich
660 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

kaum auf den Autor bezieht. Der epistemo- sten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren kon-
logische Anspruch einer in sich geschlossenen krete Auswirkung auf die literarischen
Totalität, die semiologische Autonomie des Schreibverfahren noch kaum systematisch
Zeichens, entziehen dem Text, dessen eigener untersucht wurde (Kittler 1986); der Com-
Ursprung sich in den Spielen der Intertextua- puter (elektronische Schrift) in den letzten
lität versteckt, jegliches Außerhalb. Begriffe Jahren (Anis & Lebrave 1991). Dank dieses
wie Produktivität und Kreativität sind inner- hochentwickelten Mediums wird es nun mög-
halb der textuellen Struktur selbst zu suchen. lich, ein nicht handschriftliches Schreiben zu
Diese Eigenschaften der Texttheorie erlauben produzieren und zu vervielfältigen. Mehr
es, das System der internen Organisation von noch: die Textverarbeitungsprogramme und
der synchronen Ebene auf die diachrone zu desktop publishing erlauben es, die endgültige
projizieren und sich dem zeitlichen Prozeß des materielle Form des Textes direkt zu gestal-
Schreibens und der Produktion literarischer ten, nach Belieben umzugestalten, und jede
Texte zu widmen. Veränderung erneuert das Verhältnis des
Auch andere theoretische Richtungen oder Schreibenden zum G eschriebenen; der aus
Ansätze spielen eine bestimmte Rolle in der dem 19. Jahrhundert ererbte Begriff ‘Text’
Veränderung des Begriffs ‘Schriftlichkeit’ wird durch die Eigenschaften des elektroni-
während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- schen Schreibens — flüchtig, unbeständig,
derts: Rezeptionsästhetik in Deutschland unstofflich — in Frage gestellt. Die Papier-
(Jauß, Stierle), werkimmanente Interpreta- seite, traditionelle Einheit der Schreib- und
tion, new criticism, Kultursoziologie in Frank- Lesetätigkeit, wird durch das kontinuierliche
reich (Bourdieu, Passeron), Linguistik und Abrollen und den zugleich fragmentarischen
Pragmatik, Dekonstruktivismus (Derrida), Raum des Bildschirms ersetzt. Dabei gewinnt
Kommunikationstheorie, die sich alle mit dem das G eschriebene an Beweglichkeit, aber auch
P r o d u k t literarischen Schreibens — manche an Labilität, denn der Qualität der Form ent-
auch mit der Problematik des Lesens — be- spricht nicht unbedingt die Qualität des In-
fassen. Die kognitiven Wissenschaften, zu- halts. Der Text wird zu einem fließenden,
nächst vorwiegend in Nordamerika, analysie- unbeständigen, unvollendeten, variierenden,
ren den Schreibprozeß von einem theoreti- unendlich veränderbaren und vernetzbaren
schen, prozeduralen Standpunkt aus, ohne Produkt (Anis & Lebrave 1991; Lebrave
sich jedoch auf empirische Untersuchungen 1992). Die G renzen zwischen Entwurf und
Schreiber zu stützen (Flower & Hayes 1980). emendierter Fassung verfließen; sie können
Seit Beginn dieses Jahrhunderts interessiert sehr ähnlich aussehen, und bei fehlenden gra-
sich die Literatur selbst für experimentelle phischen Indizien sehr schwer zu unterschei-
Schreibweisen und -prozesse: Von Bretons den sein. Was die neuen Verbreitungsmittel
und Soupaults ‘automatischer Schreibweise’ des Schriftlichen betrifft, spielt das Fotoko-
(écriture automatique), unter dem Einfluß pieren eine nicht zu unterschätzende Rolle;
psychologischer Entdeckungen (Les Champs neuere Überlieferungsträger wie Mikrofilme,
magnétiques, 1919; Faksimile Ausgabe von Disketten oder Videoplatten verstärken eben-
Lachenal & Ritter, 1985), von Apollinaires falls indirekt die Vorherrschaft des G edruck-
Calligrammes, die den graphischen Aspekt ten (→ Art. 9, 43, 90).
der geschriebenen Sprache in die poetische
Form miteinbeziehen, über die Konkrete Poe-
sie bis zu zeitgenössischen Literaturformen 2. Literarische Schreibtätigkeit
wird das Medium der Schrift als ästhetische
Komponente reflektiert (z. B. Arno Schmidts Die literarische Schreibtätigkeit ist zwar eine
„Verschreibkunst“). In der modernen und geistige, aber auch eine handwerkliche Arbeit:
postmodernen Literatur wird der Schreibpro- „Der G eist führt die Hand“ (Proust), manch-
zeß häufig selbst zum Thema des Werkes, und mal vielleicht auch umgekehrt. Wenn Schrei-
viele Schriftsteller haben sich über ihre eigene ben zuerst und vor allem cosa mentale ist, so
Schreibtätigkeit geäußert und ihre Verfah- wird das doch nur dank der Hand möglich
rensweise thematisiert. — und dies gilt auch, obwohl indirekter und
Neuere technologische Entwicklungen der abstrakter, für die Schreibmaschine und den
Schreibmittel verursachen neue Umwälzun- Computer. Nur mittels der Handbewegung
gen im Bereich der Schriftlichkeit, deren Um- wird der G edanke in Schriftzeichen übertra-
fang noch kaum abzuschätzen ist: die Schreib- gen. Aber die Schrift als Materialität, die Un-
maschine oder mechanische Schrift in der er- tersuchung der konkreten Beziehungen zwi-
schen Schreibtätigkeit (écriture) und Nieder-
53.  Schriftlichkeit und Literatur 661

schrift als graphischer Handlung (scription) Apollinaire („o/ar/deur“: „o-“ wird einfach
bleibt bis jetzt ein blinder Fleck der For- durch „ar-“ ersetzt, und „odeur“ wird zu „ar-
schung. Literatur ist Sprachkunst, d. h. daß, deur“ umgestaltet). So findet eine minimale
im Unterschied zu anderen Künsten, geschrie- graphische Änderung statt, die aber den Sinn
bene Sprache zugleich M e d i u m und P r o- tief verändern kann. Das Vertippen kann
d u k t der Literatur ist. Zwar unterscheidet auch bedeutungsvoll sein (Kittler 1986 —
sich die literarische Schreibtätigkeit in ihren über Kafka), und manchmal zu neuen Wort-
Komponenten und Prozessen prinzipiell bildungen führen, wie es in den Typoskripten
kaum von der allgemeinen Schreibtätigkeit. Ingeborg Bachmanns zu beobachten ist. Mit-
Die Arbeitshandschriften von Schriftstellern ten im Wort bleibt die Feder stehen, Inter-
— d. h. von beruflichen, bzw. erfahrenen punktionszeichen bleiben aus, ein unvollen-
Schreibern — zeigen aber eine besonders be- deter Satz wird unterbrochen (G résillon, Le-
merkenswerte Dichte, Vielfalt und Systematik brave & Viollet 1991). Auch die Benutzung
dieser Schreibverfahren. Ist es nicht gerade verschiedener Schriften hat ihre Bedeutung:
die Freiheit und Meisterschaft im Umgang Heinrich und Thomas Mann benutzen bald
mit Schreibverfahren, die künstlerische Erfin- die deutsche, bald die lateinische Schrift, je
dungen ermöglicht? nach dem, ob es sich um private oder litera-
rische Schriften handelt.
2.1. Der graphische Raum Seit dem 5. Jahrhundert ersetzte der codex
nach und nach das volumen (→ Art. 8). Seit-
Schreiben ist vor allem eine körperliche, sen- dem bildet die Seite eine räumliche Basis-
somotorische Tätigkeit: auf einem zweidimen- Einheit, die den Ablauf des Schreibens und
sionalen Raum werden graphische Spuren Lesens in gewissen G renzen bestimmt, und
hinterlassen. Spuren der G ehirntätigkeit, die nicht selten auch als textuelle Einheit beim
durch Handbewegungen in Verbindung mit Schreibprozeß funktioniert. Die globale G e-
der Sehkraft entstehen. Ob literarisch oder staltung dieses Raums — Verteilung und Ent-
nicht, bestehen Schriften aber nicht nur aus faltung der Schrift auf der Papierfläche, Li-
verbalen Spuren: Handschriften enthalten nienführung und -richtungen — kann sehr
auch rein graphische und topologische Di- verschiedenartig sein. Z. B. wird von Robert
mensionen, die die räumliche und zeitliche Walser eine Seite von Rand zu Rand so dicht
Entwicklung des Schreibprozesses widerspie- beschrieben, daß das G eschriebene der emo-
geln und ein Netz von nicht-verbalen Zeichen tionalen und geistigen Spannung zwar Aus-
um den entstehenden Text bilden, die von ihm druck verleiht, aber kaum noch entzifferbar
nicht zu trennen sind. Wechselnder Rhythmus ist (Hay 1989); auf einer Seite von Bataille
des Schreibflusses, Veränderungen des Duk- sind die Wörter und Notizen in allen mögli-
tus, Wechsel des Schreibinstruments oder des chen Richtungen niedergeschrieben, ineinan-
Linienabstands enthalten wichtige Hinweise der so verwickelt, daß sie schwer zu entwirren
auf die verschiedenen Schreibphasen. Die im- sind.
mer häufigere Veröffentlichung von Faksi- Innerhalb der Seite gibt es zahlreiche In-
miles in kritischen Editionen legt besonderen terferenzbereiche zwischen verbalen und non-
Nachdruck auf die Bedeutung der graphi- verbalen Zeichen. Hierbei gehören Durch-
schen Dimension, die durchaus eine semioti- streichungen mit ihrem graphischen Charak-
sche Analyse wert ist. ter zu den augenfälligsten. Das Ausmaß der
Aufschlußreich ist schon die Art, wie mit Durchstreichungen (ein einzelner Buchstabe,
der kleinsten Einheit der Schrift, dem Buch- ein Wort, ein Satz, ein Absatz oder auch eine
staben, unterschiedlich umgegangen wird: ganze Seite), ebenso wie ihre Form (einfacher
was, außerhalb der orthographischen Nor- waagerechter Strich, Schlangenlinie, gestri-
men, groß oder klein geschrieben wird (Proust chelte Linie, mehr oder weniger dichte Schraf-
schreibt z. B. seine Randbemerkungen „CA- fur, X-förmiges Durchstreichen oder Schwär-
PITAL, CAPITALISSIME“ in G roßbuch- zen der betreffenden Stelle) kann äußerst ver-
staben; so wird die Superlativ-Form durch schieden sein.
das Schriftbild unterstrichen); indem einzelne Joyce streicht in den Notizbüchern zu Fin-
Buchstaben mitten im Wort umgestaltet wer- negans Wake die Wörter einer Liste einzeln
den, statt das ganze Wort zu streichen — wie aus, jeweils nach Einfügung in den Text auf-
z. B. bei Francis Ponge (in Cinq Sapates, Le grund von Sigeln, die er ihnen zugeordnet
Volet: „entre ses lignes vo/lu/it le jour“, „voit“ hat; Flaubert dagegen durchkreuzt jede zuvor
und „luit“ koexistieren beide auf der Hand- vollständig abgeschriebene Seite mit einem X.
schrift, in zwei Schichten), oder bei G uillaume
662 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Auf manchen Seiten von Bataille oder von Seite in ihrer räumlichen Ausdehnung und
Leiris ist der Text fast vollständig in Blöcke den Schreibprozeß in seiner zeitlichen Aus-
abgegrenzt, die mit Kreuzbalken bedeckt dehnung anbelangt (Neefs 1989). Victor
sind, so daß die Streichungen im Vergleich Hugo stellt hierfür eines der bekanntesten
zum Text den weitaus größeren Raum ein- Beispiele dar: er teilt die Seite durch Faltung
zunehmen scheinen (nur einige nicht gestri- in der Mitte in zwei senkrechte Spalten, wobei
chene Wörter bleiben bestehen) und die Auf- er die linke Hälfte den Hinzufügungen und
merksamkeit auf ihr ästhetisches Aussehen Veränderungen vorbehält, die sich aus der
lenken. rechten Hälfte ergeben. Andere Schriftsteller
Jedes auf der Seite notierte Zeichen gehört nutzen die vier Ränder, die den in der Blatt-
zum Bereich des G eschriebenen: die Verwen- mitte plazierten Text umgeben, sei dieser nun
dung von nonverbalen graphischen Zeichen maschinengeschrieben (Mandelstam) oder
kann zahlreiche Funktionen erfüllen, die alle schon gesetzt, in Form eines Abzuges (Bal-
an den Schreibprozeß gebunden sind. Zu- zac). Heine begrenzt die Strukturen eines Tex-
nächst wäre das ganze Arsenal von Verweis- tes (Gedanken und E infälle), indem er hori-
zeichen zu nennen, welche die Reihenfolge des zontale Leerräume ausspart, die gattungsge-
Lesens im Verhältnis zu der des Schreibens bunden sind. Bei Joyce wiederum bedeutet
verändern: Striche, Kreuze, Sternchen, Zah- z. B. der Absatz, dieses „Atemholen des Au-
len. Andere graphische Zeichen spielen in se- ges“, eine graphische Struktur, die entschei-
miotischer Hinsicht eine komplexere Rolle. dend ist für die rhythmische Konstruktion des
So findet man bei manchen Dichtern, wie z. B. Textes (Ferrer & Rabaté 1989).
bei Novalis, oben auf der Seite ein Skandier- Die Beziehung zwischen literarischem
schema, dessen rein graphische Verzeichnung Schreiben und graphischem Raum bleibt je-
der „wörtlichen“ Ausarbeitung des G edichts doch nicht auf die Seite beschränkt. Manche
vorangeht. Bei Hölderlin ist einem G edicht- graphischen Akte gehen nämlich über die rein
entwurf eine musikalische Komposition bei- räumliche Dimension des Schreibens hinaus
gegeben. In den Cahiers von Valéry wiederum, und bestimmen auch seinen zeitlichen Ablauf.
ebenso wie in seinen G edichtentwürfen, fin- Eine gewisse Zahl von graphischen Ma-
den sich häufig auf derselben Seite, mit dem krostrukturen betrifft die G esamtheit des
Text vermengt, sowohl Zeichnungen als auch Schreibprozesses, seine Projizierung auf die
mathematische Formeln. Zeitachse. Es handelt sich um Tabellen (Zola),
Viele Schriftsteller verzieren ihre Manu- um Schemata, um Pläne — manchmal nicht
skripte mit Zeichnungen; diese können zur unähnlich denen, die in der Architektur be-
Entspannung entstanden sein, durch ein Lau- nutzt werden (Frisch, G rass), um geometri-
fenlassen der Feder, es kann sich um ein Ver- sche Modelle oder mathematische Algorith-
fahren handeln, das die Vertextung ergänzt men (Perec), um farbige Abbildungen — so
oder wiederholt (Stendhal) oder aber auch um z. B. das komplexe System aus Sigeln und
eine ihr vorangegangene Suche, z. B. in Form Farben, das W. Benjamin kreiert, um die für
einer räumlichen Darstellung, die den Aufbau sein unter dem Titel Passagenwerk (posthum)
des Textes erleichtert (vgl. G résillon, Lebrave veröffentlichtes Opus bestimmten Notizen zu
& Fuchs 1991). Bei manchen Autoren erlangt ordnen (Espagne & Werner 1984); schließlich
die Zeichnung eine autonome Funktion, die sind hier auch die Skalen in Form bunter
zu der des Textes parallel ist (Hugo, Puškin, Zeichen zu nennen, die Böll für seinen Roman
Hesse). Gruppenbild mit Dame entwickelte, „eine viel-
Die Seite ist in erster Linie als „weiße“ farbige Tabulierung auf drei Ebenen“ (Bienek
Oberfläche definiert, welche die graphischen 1969).
Spuren aufnimmt. Als solche bietet sie dem Diese graphische, topologische und manch-
Schreiber eine unendliche Zahl topologischer mal auch programmatische Dimension des
Möglichkeiten. Sie ist der Schauplatz der literarischen Schreibens ist in ihrer konkreten
Schreibtätigkeit, des Entstehungsprozesses Realisierung natürlich nur in den Manuskrip-
und der Inszenierung des Schreibens. Denn ten sichtbar, in dem Dossier, das den Entste-
für das literarische Schreiben in seinem Wer- hungsprozeß festhält. Im gedruckten Buch
den bedeutet das Weiß der Seite den Ort einer hingegen findet sich keinerlei Spur mehr von
unüberschaubaren Zahl virtuell möglicher dieser unbegrenzten Variabilität, welche die
Variationen von zukünftig G eschriebenem. Schreibfläche den einzelnen Bewegungen des
Das System der Ränder erlaubt einen hohen Schreibens bietet, ebensowenig wie von deren
G rad an Flexibilität, was die G estaltung der räumlichen Konstellationen. Alle Spuren der
53.  Schriftlichkeit und Literatur 663

materiellen, der handwerklichen Herstellung duktion untrennbar mit ihm verbunden


des literarischen G eschriebenen sind hinter bleibt, da sie nur im Moment des Ausgespro-
der glatten und regelmäßigen Ordnung von chenwerdens existiert, und dem „Meer des
ausschließlich typographischen Zeichen ver- Vergessens“ ausgesetzt ist.
schwunden. Im Unterschied zum mündlichen Aus-
druck, wo Produktion und Rezeption gleich-
2.2. Der zeitliche Raum zeitig stattfinden, fällt der Prozeß der schrift-
lichen Produktion zeitlich nicht mit dem der
Die schriftliche Produktion literarischer Wer- Rezeption des Produkts zusammen: die Mit-
ke ist nicht nur unter dem räumlichen Aspekt teilung des G eschriebenen wird aufgeschoben,
zu sehen, sondern auch, wie schon weiter weil der Schreiber physisch vom Leser ge-
oben erwähnt, unter dem zeitlichen. Es geht trennt ist — sowohl in der Zeit als auch im
hier wohlgemerkt nicht darum, die Haupt- Raum —, von einem Leser, von dem er sich
charakteristika herauszuarbeiten, die ganz nur eine abstrakte Vorstellung machen kann.
allgemein das G eschriebene vom G esproche- Wegen dieser Besonderheiten müssen alle
nen unterscheiden, sondern darum, diejeni- Fakten, die an die Wechselrede gebunden
gen Charakteristika vor Augen zu führen, sind, expliziert und mediatisiert werden.
welche die besonderen Bedingungen schrift- Im übrigen steht es dem Schreiber frei —
licher P r o d u k t i o n und ihre mannigfaltigen da er ja weder mit Zeitdruck noch mit der
Auswirkungen betreffen (→ Art. 77, 85, 137). unmittelbaren Anwesenheit eines G esprächs-
Als Hauptcharakteristikum schriftlicher partners konfrontiert ist — auf das Schon-
Produktion ist die (zumindest virtuelle) zeit- G eschriebene zurückzukommen und während
liche und, im Prinzip, irreversible Beständig- der Zeitspanne, die den ersten Entwurf vom
keit ihrer Spuren anzusehen. Übrigens gerade fertigen Produkt trennt, Veränderungen vor-
wegen ihres graphischen und verräumlichten zunehmen. So kann die Reihenfolge, in der
Charakters können diese von Dauer sein. Aus ein Text geschrieben wurde, völlig von der des
diesem G rund — und im Unterschied zum letztlich veröffentlichten Textes abweichen
mündlichen Diskurs, an den sie unweigerlich (wie es bei Proust der Fall ist, der zum selben
durch das Momentane der Produktion ge- Zeitpunkt das erste und das letzte Kapitel der
bunden sind — können die Spuren der schrift- Recherche du temps perdu schreibt). Diese Be-
lichen Ausarbeitung vom Produkt selbst los- sonderheiten fordern bei der Untersuchung
gelöst betrachtet werden. Die Elemente der der schriftlichen Produktion dazu auf, die rein
Sprache ko-existieren simultan im graphi- textuellen Elemente von den an den Schreib-
schen Raum, während die des mündlichen prozeß gebundenen graphischen Operationen
Diskurses den G esetzen der zeitlichen Abfolge genau zu unterscheiden.
unterworfen sind. Dank der Dauerhaftigkeit Und schließlich dient das G eschriebene,
ist es also möglich, das G eschriebene zu mo- wiederum im Unterschied zum G esproche-
difizieren, auf das Schon-G eschriebene zu- nen, als materielle Stütze für das G edächtnis
rückzukommen: eine Eigenschaft, die es dem und ermöglicht die Erstellung von Dokumen-
Schreiber ermöglicht, im voraus zu planen, ten, wie Listen oder Übersichten. Diese
zu programmieren, kurzum, die Schreibtätig- Hauptfunktion als G edächtnisstütze, als dau-
keit in einen chronologischen Ablauf zu stel- erhafte Verzeichnung, gehört vermutlich so-
len, in eine Abfolge verschiedener Phasen — gar zu den Ursprungsfunktionen der Schrift.
während solche Operationen im mündlichen
Diskurs meist von mnemotechnischen Stützen 2.3. Schreiben und Lesen
abhängig sind.
Die schriftliche Produktion ist — im Die Dauerhaftigkeit der Schreibspuren bietet
G egensatz zur mündlichen Produktion, die die Möglichkeit, auf das Schon-G eschriebene
auf dem Zusammenspiel von einem Sprecher zurückzukommen. Diese Umkehr ist von an-
und mindestens einem G esprächspartner ba- derer Art als das Schreiben selbst, denn sie
siert — ein Akt von individueller und höchst beinhaltet eine weitere Tätigkeit, die, zumin-
privater Natur; das Produkt selbst hingegen dest bei so erfahrenen Schreibern wie den
kann veröffentlicht, d. h. publik gemacht wer- Schriftstellern, eng mit dem Schreiben ver-
den und läßt sich dann so vertreiben, daß ein bunden ist: das Lesen. Das Lesen kann selbst
jeder es sich im Prinzip aneignen kann. wieder eine neue Schreibphase auslösen. Die
Durch diese Materialisierung wird die ge- beiden Tätigkeitstypen sind nicht voneinan-
schriebene Botschaft somit unabhängig von der zu trennen, so daß Aragon von seiner
ihrem Urheber, während die mündliche Pro- Arbeit als Schriftsteller sagen konnte: „Ich
664 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

schreibe nicht, ich lese“. Sie entsprechen auf Spuren des Ausarbeitungsprozesses der G e-
der mentalen Ebene zwei unterschiedlichen danken durch die Sprache ab.
Rollen: der Schreiber wird zu seinem eigenen G leichzeitig zeigt das G eschriebene die Zu-
Leser, wobei die beiden Tätigkeiten nahezu fälligkeiten und die Ausrutscher, die logischen
simultan oder aber abwechselnd vor sich ge- Unstimmigkeiten, die G rammatik- oder Syn-
hen können (Lebrave 1992). Diese beachtens- taxfehler in Fällen, in denen der Schreiber das
werte Tatsache hat eine theoretische und eine Angleichen an eine veränderte Sprachkon-
praktische Auswirkung: einerseits wird die struktion vergessen hat.
traditionelle Rollenteilung in „Sender“ und So wie andere Schreibpraktiken auch, nur
„Empfänger“ in Frage gestellt. Andererseits in viel stärkerem Maß, geht die Arbeit
hinterläßt die Arbeit des Neuschreibens, die des literarischen Schreibens meistens durch
möglicherweise auf das Lesen des Schon-G e- schrittweise Annäherung vor sich. Der gra-
schriebenen folgt, auf dem Manuskript Spu- phische Ausdruck der Veränderungen kann
ren, die man anhand graphischer Indizien von zwar die verschiedensten Formen annehmen,
denen der Erstfassung unterscheiden kann: sie doch insgesamt gesehen lassen sich die an der
finden sich nämlich zwangsläufig außerhalb Sprache ausgeführten Operationen — Zu-
des ersten Bewegungszuges, an den Rändern sätze, Streichungen, Umstellungen, Ersetzun-
oder in den Zeilenzwischenräumen. Aufgrund gen — auf eine einzige zurückführen, nämlich
der Intervention der Lesetätigkeit kann man die der Substitution, die als zeitlich orientiert
zu Recht unterscheiden zwischen den soge- zu verstehen ist. Im klassischen Sinn wird A
nannten „Schreibvarianten“, oder unmittel- durch B ersetzt; doch der Einschluß der Null
baren Varianten, die im Schreibfluß entstan- gestattet es, auch Streichungen, Zusätze und
den und in die Linearität der Zeile einbezogen Umstellungen als Ersetzungsmechanismen
sind, und den „Lesevarianten“, oder auch darzustellen:
„Neuschreib-Varianten“, die auf eine Lese-
phase des Schon-G eschriebenen folgen und A → ∅: Streichung
deshalb davon zeitlich und graphisch abge- ∅ → B: Zusatz
hoben sind. Jeder Neuschreib-Phase ent- A → B: Ersetzung
spricht eine neue Schicht; die chronologische AB → BA: Umstellung.
Reihenfolge der einzelnen Schichten ist an- Darüber hinaus können manche Substitutio-
hand graphischer und sprachlicher Indizien nen — grammatische, syntaktische oder se-
zu rekonstruieren. mantische Varianten — auch das Ergebnis
anderer Modifikationen sein, in Anpassung
2.4. Schreiben und Sprache an die internen G esetzmäßigkeiten der ge-
schriebenen Sprache; solche Substitutionen,
Schreiben heißt sprachliche Handlungen und die in gewisser Weise von anderen abhängen,
Darstellungen mittels eines Schriftsystems werden „gebundene Varianten“ genannt, die
hervorbringen, die Sprache in Bewegung set- der Masse der „freien“ Varianten gegenüber-
zen oder, genauer, wie Benveniste es ausdrück- stehen.
te, „durch einen individuellen G ebrauchsakt Die dichterische Arbeit ist der Ort eines
zum Funktionieren bringen“. Dichterische ständigen Wechselflusses zwischen G edanken
Arbeit, literarisches Schaffen, das ist in erster und Sprache; das Schreiben erfindet dabei
Linie Arbeit an der Sprache. Erst die Sprache neue Formen und Kombinationen. Das Cha-
macht es möglich, G edanken auszudrücken, rakteristische des literarischen Schreibens be-
d. h. ihnen Form zu geben. Aufgrund der Tat- steht darin, daß es alle Möglichkeiten der
sache, daß das G eschriebene fähig ist, die ma- Sprache auslotet, die üblichen Sprachformen
teriellen Spuren seiner eigenen Hervorbrin- neu zusammenstellt, sie umstellt oder ihre Re-
gung dauerhaft festzuhalten, stellt es ein geln durchbricht, dies alles in einem ständigen
Werkzeug dar, das sich hervorragend eignet Wechsel zwischen Kompetenz und Perfor-
für das stufenweise Ausarbeiten (diese „all- manz: so setzt sich Heine mit der Schaffung
mähliche Verfertigung der G edanken ...“) seiner berühmt gewordenen Portemanteau-
eines literarischen Textes, Ausarbeiten als Su- Wörter wie famillionär, Justemillionär, Millio-
che nach einer ästhetischen Form. narr oder revolutionärrisch über die gram-
Da Handschriften die verschiedenen Um- matischen Regeln und über die grundlegen-
formungen des sprachlichen Materials be- den G esetze der Wortzusammensetzung hin-
wahren, diese „hoch-komplizierten Maschi- weg (Grésillon 1984).
nen“ wie es bei Flaubert heißt, bilden sie
53.  Schriftlichkeit und Literatur 665

In kognitiver Hinsicht läßt sich beim sion des Schreibens wiederzugeben. Bisher
schriftlichen Ausdruck dennoch ein bestimm- ging die Literaturkritik in erster Linie von
ter Typ von G esetzmäßigkeiten hinsichtlich einem Literaturbegriff aus, dessen Inhalt die
der Produktion nicht umgehen, vor allem auf- G esamtheit der gedruckten und veröffentlich-
grund der Tatsache, daß der Bewegungsfluß ten Werke waren. Nun wird eine neue Vor-
der schreibenden Hand unter Umständen gehensweise erkennbar. Das Interesse gilt jetzt
nicht im Einklang steht mit dem Fluß der dem Werk in seinem Entstehen, dem Schaf-
G edanken, so daß die Hand „Verspätung“ hat fensprozeß des Textes während des Schreibens
und Zusammenstöße oder Verschreibungen und durch das Schreiben. Das literarische
produziert. Mit diesem Wissen über die Ver- Werk wird dabei nicht mehr einfach als ein
legung zwischen Denk- und Handbewegun- in sich geschlossener Text mit statischer und
gen im Hintergrund konnte J.-L. Lebrave die ausnahmslos vollkommener Form verstan-
bei manchen Schriftstellern (vor allem bei den, sondern als das Ergebnis einer Arbeit,
Heine) häufige, ja systematische Verwendung die in einem Zeitablauf steht, in einer Per-
von Hyperonymen oder „Proto-Ausdrücken“ spektive, welche die interne Dynamik ihrer
(wie z. B. das Adjektiv „groß“) in der Erst- eigenen Entstehung beinhaltet, in Form der
fassung analysieren, Ausdrücke, deren seman- geschriebenen Spuren.
tischer Wert erst im Laufe der nachfolgenden Es geht nicht darum, den Ausgangspunkt
Schreibphasen genauer bestimmt wird. Diese des Textes zu suchen, auch nicht darum, sei-
Technik erlaubt dem Schreiber, seinen G e- nen Endzustand automatisch als Vollendung
danken- und Schreibfluß ungebremst fortlau- anzusehen (G enette 1987), denn es gibt keine
fen zu lassen. Hier hat man es wohl mit einer Stufe, die von vornherein als die beste anzu-
der „Produktionsfiguren“ zu tun, von denen sehen wäre. Es geht vielmehr darum zu ver-
R. Barthes im Zusammenhang mit der Frage suchen, den literarischen Schreibprozeß in
„Wie läuft das, wenn ich schreibe?“ spricht; seiner G esamtheit zu erfassen, durch die
es handelt sich um konkrete Figuren, deren stufenweisen Umwandlungen hindurch; es
Erforschung noch kaum begonnen hat. geht darum zu sehen, was sich „hinter dem
Auf die grundlegende Frage „Was heißt Spiegel“ des Textes abspielt, und schließlich
‘schreiben’?“ oder besser „Was heißt ‘ein li- darum, dem Text seine „Textur“ zurückzuge-
terarisches Werk schreiben’?“ — diese Frage ben, seine Dichte, seinen Umfang, seine Dy-
haben zahlreiche Schriftsteller gestellt und namik — die Dimension seiner Entstehung.
sich gestellt, von Coleridge bis Novalis, von Diese zu untersuchen hat sich Anfang der
Flaubert bis Maïakovski, von Valéry bis Wolf 70er Jahre in Frankreich eine critique géné-
— kann die Forschung noch keine zufrieden- tique (Entstehungskritik) genannte For-
stellende Antwort geben. Eine Theorie der schungsrichtung zur Aufgabe gemacht; sie
schriftlichen Produktion und der geschriebe- stellt, für konkrete Einzelfälle ebenso wie in
nen Sprache muß aber erst noch erarbeitet Form einer Theorie, die Frage nach dem
werden. Dies setzt Erforschung von verschie- Schreiben innerhalb der Literatur.
denen konkreten Praktiken voraus, um ihre Ihr Untersuchungsgegenstand ist die G e-
Regelmäßigkeiten und die Operationen, die samtheit der Dokumente, die vom Schreib-
ihnen zugrunde liegen, zu erfassen; erst dann prozeß eines literarischen Werkes zeugen und
kann geprüft werden, ob und in welchem Maß die ihn zum Objekt wissenschaftlicher For-
sie generalisierbar sind. schung macht. Das Manuskript erlangt da-
durch einen zweifachen Status: zum einen den
einer G esamtheit analysierbarer materieller
3. Die dritte Dimension der Literatur Dokumente, zum anderen den eines wissen-
Will man die Beziehungen, die ureigensten schaftlichen Konstrukts, das als Vor-Text
Verbindungen zwischen Schreiben und Lite- (avant-texte; Bellemin-Noël 1972) bezeichnet
ratur untersuchen, kommt man nicht umhin, wird. Diese G esamtheit von Dokumenten, die
die Entstehungsgeschichte des Werks zu er- das Schreiben des Werkes in statu nascendi
forschen, denn in der publizierten Form ist belegt, kann sich aus Einheiten verschieden-
— außer in Ausnahmefällen — seine skrip- ster Art zusammensetzen, z. B. aus Lesenoti-
turale Dimension, das „Schreiben“ im eigent- zen, Plänen, Szenarien, Titellisten, Skizzen,
lichen Sinn, völlig verschwunden. Die „dritte eigentlichen Entwürfen, Reinschriften, Kor-
Dimension“ der Literatur (ein Ausdruck, der rekturfahnen.
sich seit L. Hay 1984 eingebürgert hat) zu Wie geht der Übergang von einem hand-
erforschen, heißt eben gerade, ihr die Dimen- schriftlichen Dossier zu einer Serie von Vor-
666 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Texten vor sich? Mittels einer Methode, die jede Art von Dokument, das bei der Entste-
theoretisches Vorgehen mit technischen Ope- hung des Textes eine Rolle spielt, in sich be-
rationen verbindet. Es geht zunächst darum, greift und so erlaubt, Zusammenhänge zwi-
die einzelnen Teile des Entstehungsdossiers schen ihnen herzustellen. Diese neuartigen
zusammenzutragen, denn diese sind unter technischen Möglichkeiten erweitern das Feld
Umständen verstreut oder schwer zugänglich der Entstehungsforschung in nicht unerheb-
(z. B. in Privatsammlungen); dann wird eine lichem Maß und geben neue Anstöße.
Materialanalyse vorgenommen, mit der tech- Die Arbeit des Schreibens wird so — an-
nischen Hilfe der Kodikologie (Untersuchung gefangen von der ersten Skizze bis hin zu den
des Papiers, der Wasserzeichen, der Tinte) letzten korrigierten Fahnenabzügen — in ih-
und einer optisch-numerischen Analyse der ren verschiedenen Phasen erfaßt, identifiziert
Schrift, um so die Authentizität der einzelnen und chronologisch dargestellt. Nach Ab-
Manuskriptteile feststellen zu können, sie schluß all dieser Voruntersuchungen kann
zu identifizieren und zu datieren. Danach dann die eigentliche Entstehungsanalyse be-
kommt eine Phase oft langwieriger und dif- ginnen: Rekonstruktion der einzelnen mit der
fiziler Arbeit, nämlich das erschöpfende De- Entstehung verbundenen Operationen und
chiffrieren, unter Berücksichtigung der Schrift Phasen; deren Auslegung; Rekonstruktion
und der Schreibbewegung (vor allem bei der Mechanismen, die der Ausarbeitung des
Durchstreichungen), der nonverbalen Zei- Textes zugrunde liegen, Rekonstruktion der
chen und der Aufteilung der Schreibfläche. verschiedenen Schreibverläufe und, Visuali-
Danach folgt die Phase der Transkription; es sierung der Entwicklung der G edanken, die
handelt sich dabei um eine richtiggehende Re- sich hinter den handschriftlichen Spuren er-
konstruktionsarbeit, bei der das zuvor De- kennen läßt. Erst dann kann man von Vor-
chiffrierte und die aufeinanderfolgenden Re- Texten sprechen.
daktionsabschnitte so exakt wie möglich dar- Indem sie auf systematische Weise die Ar-
gestellt werden. beit des Schreibens in seiner erschöpfenden
Es gibt mehrere verschiedene Transkrip- Dimension berücksichtigt, bemüht sich die
tionsarten, deren Regeln und Anforderungen Entstehungsanalyse, dem G eschriebenen, das
je nach den unterschiedlichen Zielsetzungen für immer auf das Papier gebannt ist, etwas
festgelegt werden, und die G egenstand einer von seiner ursprünglichen Bewegtheit zurück-
weitgreifenden Diskussion sind, einer Diskus- zugeben, der schriftlichen Aussage wieder ihre
sion, die sich gleichermaßen auf die Tran- Tiefe und ihren vollen Umfang zu erstatten,
skriptionsmodalitäten, die Zeichenkonventio- dem Text die zeitliche Dynamik seiner Aus-
nen, die editorischen Prinzipien und das an- arbeitung, dem Schreiber seine G esten als
visierte Publikum richtet (vgl. Sattler 1975— Schöpfer wiederzugeben. Es geht nicht nur
77; Zeller 1986; Scheibe, Hagen et al. 1988; darum, eine Logik der Entstehung zu rekon-
Kraft 1990; Kanzog 1984, 1992). struieren, die jedem Werk eigen ist, sondern
Die Entwicklung der elektronischen Tech- auch darum, mit Hilfe spezifischer Konzepte
nik eröffnet neue Möglichkeiten, einerseits eine Theorie des literarischen Schreibens aus-
dadurch, daß sie dank spezieller EDV-Pro- zuarbeiten und — ausgehend von den beob-
gramme zur Transkription und Bearbeitung achteten Praktiken — Hypothesen aufzustel-
variantenreicher Texte die Wiedergabearbeit len bezüglich des Funktionierens der Schreib-
erleichtert, andererseits, indem sie die gleich- tätigkeit im allgemeinen und ihrer tatsäch-
zeitige Visualisierung unterschiedlicher Ent- lichen Realisierung. Im Unterschied zu den
stehungsstufen auf dem Bildschirm erlaubt, amerikanischen Schriftproduktionsmodellen
nicht zuletzt die Reproduktionen des Origi- (Flower & Hayes 1980; Hayes & Flower 1980
nalmanuskripts durch den Scanner. All das u. a.; → Art. 85), die eher deduktiv vorgehen,
vereinfacht das Hin- und Her-Wechseln zwi- versucht die critique génétique progressiv und
schen den verschiedenen Stufen (z. B. durch induktiv ein Modell des Schreibens zu ent-
Hypercard und Mehrfenstertechnik). Dank wickeln.
der Videodiskette wird es auch möglich, eine
bestimmte Menge von Dokumenten, welche
die Entstehung eines Werks betreffen, aufzu- 4. Literarische Schreibverfahren
bewahren, und zwar nicht nur schriftliche Do- Die graphischen Spuren enthüllen immer nur
kumente, sondern auch Zeichnungen, Film- einen Bruchteil der betreffenden mentalen
und Tonmaterial. Der Begriff des Hypertextes Operationen; das Projekt, das vor dem gei-
erhält hier seine volle Bedeutung, indem er stigen Auge des Schreibers steht, das dem
53.  Schriftlichkeit und Literatur 667

Schreiben vorausgeht und es begleitet, bleibt und etabliert wird, das die Komplexität der Bezie-
im großen und ganzen für den Forscher un- hung zu sich selbst, zur Zeit und zum Schreiben
erreichbar. Außerdem hat man nie die G e- wiedergeben soll. Dabei wird die Verwendung des
währ, über die Totalität der vom Entstehungs- Pronomens ich, die in den ersten Entwürfen noch
prozeß zeugenden Spuren zu verfügen. Den- recht häufig ist, im Laufe der einzelnen Versuche
noch ist es möglich, die Arbeit des Schreibens durch andere Pronominalformen ersetzt, um
in seiner Materialität zu untersuchen, die schließlich völlig zu verschwinden zugunsten der
Verschiedenheit der oft unvorhersehbaren Kombination von du und sie.
Schreibverläufe, die manchmal auch wider- Die Vor-Texte von Flauberts Hérodias zeugen
sprüchlich sind — von Ausweitungen zu Kür- unter anderem von dem kognitiven Problem, das
zungen, von Wiederholungen zu Aporien, von die schriftliche Konstruktion eines Raumes auf-
Rückgriffen zu Umstellungen. Der Text wird wirft: bevor sie den deskriptiven Raum konstitu-
geschaffen durch das vereinte In-Bewegung- ieren, welcher der Erzählung als Rahmen dient,
setzen von Hand, Sprache und G edanken; die gehen Skizzen und Wortfetzen ineinander über, weil
ersten Entwürfe, die aus diesen Bewegungen der Schreiber noch nicht weiß, von welchem G e-
entstehen, verraten die Momente des Zögerns, sichtspunkt aus er diesen Raum konstruieren will.
des Abbrechens, die Entdeckungen, die neu- Die Entstehungsanalyse G( résillon, Lebrave &
ralgischen Punkte, die vielfache Dynamik, Fuchs 1991) weist auf die Bewegung des Schreibens
und dies alles unabhängig von den Materia- hin: nach langem Zögern zwischen zwei Möglich-
lien und den Vorgehensweisen bei der Arbeit. keiten (entweder aus dem Blickwinkel der Haupt-
Die Transkriptionstechniken und die Me- person der Erzählung (Antipas) oder aus der Per-
thoden der Entstehungsanalyse können zwar spektive einer nicht an der Handlung beteiligten
für jede beliebige Einheit von Vor-Texten an- Drittperson) entscheidet sich der Schreiber für
gewandt werden, aber jede dieser Einheiten beide Möglichkeiten, die doch nacheinander kon-
stellt in Wirklichkeit eine einmalige Konfi- struiert werden. Die Analyse ermöglicht hier die
guration dar. Einige Beispiele aus der For- Wahrnehmung der kognitiven Bewegungen, die der
schung geben einen Eindruck von der Vielfalt Arbeit des Schreibens zugrunde liegen.
der untersuchten Problemstellungen. Sie be- Das Dossier zur Entstehung von Bretons und
treffen vor allem die Formen des Ausdrucks Soupaults Champs magnétiques weist zwei Beson-
von Subjektivität und der Ich-Hier-Jetzt- derheiten auf: zum einen geht es hier um einen
Origo, die Schwierigkeiten der Versprachli- Text, der von zwei verschiedenen Schreibern „ge-
chung von offensichtlich widersprüchlichen meinsam“ geschrieben wurde, zum anderen ist dies,
kognitiven G esichtspunkten, das Experimen- im Prinzip, das Ergebnis eines präzisen Schreibpro-
tieren mit besonderen Schreibtechniken. tokolls, der sogenannten écriture automatique.
Manche Vorentwürfe Heines bieten auf den ersten Trotz des gemeinsamen Protokolls und trotz der
Blick ein Bild voller Durchstreichungen und sind selbstauferlegten Beschränkung auf die Produktion
„überladen“ mit zahlreichen Umformulierungen. von nur einer einzigen „automatischen Schrift“ zei-
Doch stellt man bei der „De-Konstruktion“ des gen die Vor-Texte, daß die Schreibweise zum einen
Schreibprozesses fest, daß die Varianten keine we- nicht so automatisch ist, wie sie es zu sein vorgibt,
sentlichen sprachlichen Fragen betreffen. 1854 denn sie trägt die Spuren von Fehlstarts, Strei-
schreibt Heine für den Band Lutetia die Artikel chungen, Umstellung von Satzstücken, und zum
um, die etwa zehn Jahre zuvor in der Augsburger anderen sind effektiv zwei schreibende Subjektivi-
Allgemeinen Zeitung anonym erschienen waren. Die täten am Werk, wobei jede auf ihre Weise das
hauptsächlichen Veränderungen am Text sind be- Schreibprotokoll umsetzt.
dingt durch den zeitlichen Abstand und die Ände- Untersucht man die Vor-Texte einer Proust-Ju-
rung der Sprecherhaltung (Übergang vom Status gendnovelle, La Confession d’une jeune fille, auf
des anonymen Verfassers zu dem des Autors, der ihre Entstehung hin, so lassen sich durch den
sich zu erkennen gibt), besonders weil Heine Schreibprozeß hindurch die verschiedenen Trans-
zwischen verschiedenen Positionen des Subjekts formationsetappen erkennen, vom eher autobio-
schwankt (Diskurs in der Ich-Form vs. Kommen- graphischen Register zu dem der Fiktion: alles, was
tar, mit dem Subjekt im Hintergrund). Die Syntax zumeist durch sprachliche Mittel in den Vorent-
der betreffenden Aussagen hingegen steht schon würfen noch einen E r z ä h l e r kennzeichnet, wird
beim ersten Entwurf fest und wird kaum verändert im Laufe der einzelnen Ausarbeitungsschritte ge-
(Grésillon & Lebrave 1982). tilgt, modifiziert oder transponiert, bis es schließ-
Durch die dreiunddreißig Textanfänge von Kind- lich der Erzählform entspricht, welche die fiktio-
heitsmuster hindurch, einem autobiographischen nale Perspektive darstellt — die einer E r z ä h l e r i n
Roman von Christa Wolf (1976), kann man mit- (Viollet 1991).
verfolgen (Viollet 1987), wie durch das Ausprobie- Eine allgemeine Theorie der literarischen
ren der verschiedenen in der Sprache verfügbaren Produktion hat nicht nur nach den inneren
Formen ein sprachliches G leichgewicht gesucht G esetzmäßigkeiten der Entwicklung eines
Textes zu fragen, sondern auch nach der Art
668 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

und Weise, wie ein Werk entsteht, nach den aus politischen G ründen veranlaßt hat, ge-
verschiedenen Mitteln der G estaltung (Kon- wisse kritische Äußerungen zu streichen oder
zeptionsarten, Ordnung und Abfolge der ein- sie erst überhaupt nicht zu formulieren (Wer-
zelnen Etappen, Kombination der verschie- ner 1986), sei es, daß sich der Autor aus
denen Teile des Entstehungsdossiers) — sozialen Beweggründen selbst zensiert hat,
kurzum, eine solche Theorie muß versuchen, wie dies der Fall bei Proust ist, im Zusam-
ausgehend von den beobachteten Regelmä- menhang mit Homosexualität (Viollet 1991).
ßigkeiten, eine Typologie der Prozesse litera- Bei der Untersuchung der Manuskripte wird
rischer Entstehung zu entwickeln. man also unweigerlich mit der Frage nach
Auf dem jetzigen Stand der Forschung un- dem Status der schreibenden Instanz kon-
terscheidet man zwischen zwei verschiedenen frontiert, nach der Autonomie des Schrift-
makrogenetischen Strategien, dem sogenann- stellers, nach der Art und Weise, in der sich
ten p r o z e d u r a l e n Schreiben und dem p r o- seine intellektuelle und schöpferische Freiheit
g r a m m i e r t e n Schreiben (Hay 1984). Das in einen bestimmten Kontext einfügt.
prozedurale Schreiben ist dadurch gekenn-
zeichnet, daß der Text seine Form allmählich
bekommt, durch stufenweise Annäherungen 5. Neue theoretische Ansätze
mittels des Schreibprozesses selbst — der Text
generiert sich sozusagen aus dem Schreiben G egenstand der critique génétique ist die Be-
heraus; das programmierte Schreiben hinge- ziehung zwischen Schreiben und Literatur.
gen besteht aus einer Folge von Expansions- Die critique génétique erweitert das Feld der
schritten, bei denen das Schreiben durch auf Literaturwissenschaften durch die Integration
der Zeitachse eingeteilte Phasen vorausge- der Schreibprozeß-Analyse, durch die Erfor-
plant ist oder auf einem logischen Plan hier- schung der heuristischen Dimension des G e-
archisch geordneten Stadien folgt (z. B. Le- schriebenen.
senotizen, Daten zu den Personen, Pläne, Die critique génétique hat zwar augen-
Skizzen, Vorentwürfe und andere Ausarbei- scheinlich gewisse G emeinsamkeiten mit der
tungsphasen, Reinschrift). Zu den Schriftstel- Philologie (→ Art. 54), aufgrund ihrer tech-
lern, die das programmierte Schreiben prak- nischen Operationen (Dechiffrieren, Tran-
tizieren, gehören z. B. Emile Zola, Friedrich skribieren, Identifizieren, Datieren der Manu-
Schiller, Max Frisch, Heinrich Böll, Alfred skripte, Klassifizieren der Variationszentren)
Andersch; Vertreter des prozeduralen Schrei- und der Strenge und G enauigkeit ihrer Me-
bens sind Schriftsteller wie Marcel Proust, thodenlehre. Aber ihr eigentlicher Zweck be-
James Joyce, Hans Erich Nossack, Martin steht nicht darin, kritische Editionen zu er-
Walser oder Uwe Johnson. Die beiden For- stellen, einen kanonischen Text zu rekonstru-
men existieren gleichberechtigt nebeneinan- ieren, dem ein kritischer Apparat untergeord-
der; beide gehen schrittweise vor; sie schließen net ist; sie versteht sich nicht als teleologische
sich auch nicht unbedingt aus und kommen Ausrichtung, bei der sich das Schreiben aus-
in einigen Fällen kombiniert vor, so etwa bei nahmslos auf Perfektion und Vollendung hin-
Flaubert, bei dem ein Planfragment vertextet entwickelt, und ihr Verfahren konzentriert
sein kann. sich nicht auf den veröffentlichen Text, son-
Manuskripte stellen einen bevorzugten dern auf die Eigendynamik des Schreibens.
Raum für Konflikte dar, für Konfrontationen Die theoretischen Auswirkungen dieser
zwischen verschiedenen Kräften oder Span- Mittlerrolle, welche die critique génétique zwi-
nungen, ausgelöst durch sich manchmal wi- schen Schreiben und Literatur einnimmt, sind
dersprechende Regeln. Manche sind durch noch kaum untersucht. Indem sie die Seh-
den Schreibprozeß selbst bedingt, durch das weise umformt, eröffnet sie einen neuen For-
Einpassen der G edanken in die formalen schungsbereich, wo die G egenüberstellung
Strukturen der Sprache; andere sind litera- mit den empirischen Fakten die Theorie er-
turspezifisch, abhängig von der Wahl des schüttert, die G renzen verschiebt, so manchen
G enres, der Erzähllogik; andere wiederum Begriff antastet, wie den des Textes, des
sind historischer, politischer, sozialer oder Werks, des Autors oder des Lesens und die
kultureller Natur. Deshalb kann es vorkom- Perspektiven der Literaturkritik tiefgreifend
men, daß (in einem gewissen Maß) die Manu- verändert.
skripte zeigen, was der veröffentlichte Text Die Untersuchung der Vor-Texte gibt dem
verschweigt (G résillon 1991) — sei es, daß die Begriff des Textes seine Textur zurück, seine
Zensur (so z. B. im Fall Heines) den Autor Dichte, seine Beweglichkeit, und dies dank
der zeitlichen und der materiellen Dimension
53.  Schriftlichkeit und Literatur 669

seiner eigenen Schaffung. Man betrachtet ihn Die critique génétique schließt keine der
nicht mehr als ein endgültiges Produkt, ne anderen Perspektiven aus; alle Richtungen
varietur, abgeschlossen in Zeit und Raum, der Literaturkritik (Narratologie, Linguistik,
sondern als eine Form unter anderen mögli- Semiotik, Psychoanalyse, Soziokritik, kogni-
chen Formen, veränderlich und zufällig, als tive Wissenschaften) können mit ihr verbun-
das Palimpsest all seiner virtuell präsenten den werden, denn die Dimension der Entste-
Vor-Texte, variierend mit der Dynamik seiner hung ist offen für eine Vielzahl von Interpre-
Metamorphosen. tationsmöglichkeiten. Zwar muß auch die Li-
Durch die Einbeziehung der Dimension teraturtheorie sorgfältig zwischen der Arbeit
seiner eigenen Ausarbeitung findet der Begriff des Schreibens und dem Text selbst unter-
des Werks zu seiner vollen Tragweite zurück. scheiden, doch der Zugang zur Dimension der
Das Werk ist dann nicht nur opus sondern Entstehung läßt die Begriffe der Intratextua-
auch opera — „work in progress“ mit seinen lität, der Intertextualität und der Extratex-
vielfachen Verläufen, seinen Fragmenten, sei- tualität in neuem Licht erscheinen, als Me-
nen Aporien, seinen unbeschriebenen Seiten chanismen literarischen Schaffens. Das Ent-
— G esamtheit der möglichen Formen, die stehungsdossier zeugt schließlich auch von
manchmal sehr verschieden sind vom veröf- dem Prozeß unendlicher Erzeugung zwischen
fentlichten Werk ... Nur selten läßt das G e- Produktion und Rezeption, der den literari-
schriebene etwas von den Schaffensprozessen schen Raum kennzeichnet, und zeigt, wie sehr
erahnen, von den Schreiboperationen, die es diese beiden Begriffe ineinandergreifen.
hervorgebracht haben: das Nachdenken über Durch das In-Beziehung-Setzen von Lite-
die Kohäsion des Werkes berücksichtigt dann ratur und Schreiben wird die Forschung mit
die Entwicklung seiner Entstehung, das Su- neuen Fakten konfrontiert, werden theore-
chen und Versuchen, das ihm zugrunde liegt. tisch scheinbar abgesicherte Begriffe ins Wan-
Bei der Beschäftigung mit den Schreibpro- ken gebracht. Die Frage „Was heißt schrei-
zessen trifft man unweigerlich auf eine schrei- ben?“ ist neu zu formulieren, demzufolge aber
bende Instanz, ein immer einzigartiges Sub- auch die Frage „Was ist Literatur?“
jekt, dessen Hand dem Papier Spuren ein- Handschriften fördern neue Kenntnisse
prägt. Der Begriff des Autors wird angerei- über das literarische Schreiben zu Tage.
chert und ergänzt durch den des Schreibers, G leichzeitig fördern sie allgemeines Wissen
dessen Hand eine gewisse Zahl von Operatio- über Schreibprozesse schlechthin. Schließlich
nen ausführt; während diese Hand mittels der vermitteln sie neue Zugänge zu G esetzlich-
geschriebenen Sprache den G edanken eine keiten des menschlichen Denkens überhaupt.
konkrete und wohlbestimmte Form gibt, Die Übernahme des Begriffs der Produktion
zeichnet sie gleichzeitig die Spuren der Span- wird kommenden Theorien nicht nur erlau-
nungszustände auf, die diese Tätigkeit beglei- ben, die Logik der Entstehung zu rekonstru-
ten. Die Entstehungsanalyse der Vor-Texte ieren, sondern auch ihre eigenen Praktiken in
ermöglicht auch eine G egenüberstellung des das Konzept der Literatur einzuschließen, auf
eigentlichen Schreibaktes und dessen Insze- dem Weg zu einer Poetik des Schreibens, die
nierung durch den Autor, die mit ihr einher- etwas anderes ist als die Poetik der Texte.
gehen kann.
Der Schreiber selbst ist immer sein eigener
— und sein erster — Leser: Lesen und Schrei- 6. Literatur
ben funktionieren nicht als antagonistische
Anis, Jacques & Lebrave, Jean-Louis (ed.). 1991.
Tätigkeiten, sondern sind im Schaffensprozeß
Texte et ordinateur. Les Mutations du Lire-Ecrire.
eng miteinander verbunden und befruchten
La Garenne-Colombes.
sich gegenseitig. So bleibt die Betrachtung des
Werkes unter dem Blickwinkel seiner Entste- Antos, G erd. 1982. G rundlagen einer Theorie des
hung nicht ohne Auswirkungen auf den Be- Formulierens. Textherstellung in geschriebener und
griff des Lesens: sie erlaubt eine Vervielfa- gesprochener Sprache. Tübingen.
chung der Bedeutungsnetze; durch die Ein- Antos, G erd & Krings, Hans P. (ed.). 1989. Text-
beziehung der räumlichen und der zeitlichen produktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüber-
Dimension bietet sie dem Leser die Möglich- blick. Tübingen.
keit, die ‘Spiele’ des Textes zu erfassen, teil- Assmann, Aleida & Harth, Dietrich (ed.). 1991.
zunehmen am Aufbau der literarischen Fik- Mnemosyne. Formen und Funktionen der kultu-
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670 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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672 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

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Problems and Problems of English. The Hague/ Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu
Paris. den technischen Medien. Berlin.
—. 1989. Written Language Revisited. Amsterdam. Whiteman, Marcia Farr. 1981. Writing: the Nature,
Viollet, Catherine. 1987. Nachdenken über Pro- Development and Teaching of Written Communi-
nomina. Zur Entstehung von Christa Wolfs Kind- cation. Vol I. Variation in Writing. Hillsdale, N. J.
heitsmuster. LiLi 68. Zeller, Hans. 1964. Bericht des Herausgebers. In:
—. 1991. „La Confession d’une jeune fille“: aveu Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke. Histo-
ou fiction? Bulletin d’informations proustiennes 22. risch-kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller
Vygotsky, Lew S. 1986. Thought and Language. und Alfred Zäch. Bern.
Cambridge. —. 1986. Die Typen des germanistischen Varianten-
Werner, Michael. 1986. La dialectique de la cen- Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für
sure. A propos de l’autocensure dans les articles Prosa. Zeitschrift für deutsche Philologie 105.
journalistiques de Heine. Cahiers de textologie I, —. 1987. Textologie und Textanalyse. Zur Abgren-
Michel Malicet (ed.). Paris. zung zweier Disziplinen und ihrem Verhältnis zu-
—. 1990. Etudes de genèse et mythologie de einander. Editio 1.
l’écriure. In: Bessiére, 1990. —. 1989. Fünfzig Jahre neugermanistischer Edi-
Werner, Michael & Woesler, Winfried (ed.). 1987. tion. Zur G eschichte und künftigen Aufgaben der
Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Textologie. Editio 3.
Bern.
Catherine Viollet, Paris (Frankreich)

54. Schriftlichkeit und Philologie

1. Schriftlichkeit schichte der Bibliotheken, G eschichte des


2. Grenzfälle Buchdrucks, Inschriftenkunde.
3. Interferenzen Das Auftreten der Schriftlichkeit läßt sich
4. Transliteration sehr unterschiedlich dokumentieren. Das Chi-
5. Übersetzung nesische z. B. erscheint als ein vollständig ent-
6. Überlieferung wickeltes System gegen Ende der Shang-Dy-
7. Lachmann nastie (14.—11. Jh. v. Chr.). Im Rahmen der
8. Anti-Lachmann Entwicklung orientalischer Schriften er-
9. Editionsformen scheint die arabische Tradition schlagartig mit
10. Graphematik dem Koran. Das Bibelgotische und dessen
11. Variantenkritik Schrift ist die Erfindung des arischen Bischofs
12. Buchdruck Ulfila (311—383). G eschriebenes Deutsch er-
13. Standardisierung scheint erstmals in G lossen (8./9. Jh., z. B. in
14. Literatur den G lossen von Kassel). Im G egensatz dazu
läßt sich das Romanische (Ineichen 1993) in
einem über Jahrhunderte währenden Prozeß
1. Schriftlichkeit aus dem Lateinischen ablösen, mit einer
Die Beschäftigung mit Schriftsystemen als Schwelle der Verschriftlichung, regional ver-
nachgeordneten Systemen zu Sprachsyste- schieden, zwischen dem 7./9. Jahrhundert (im
men, die Beschäftigung mit dem kulturtra- Rumänischen entsprechend mit den kyrillisch
genden Phänomen der Schriftlichkeit und den geschriebenen slavo-rumänischen Texten im
Verfahren der Verschriftlichung verbindet sich 14./15. Jh.).
in verschiedener Hinsicht mit den G esichts-
punkten der Philologie. G emeint ist damit die 2. Grenzfälle
Philologie im engeren Sinn, d. h. die Beschäf-
tigung mit überlieferten Texten. Das Studium Neben den natürlichen Sprachen gibt es zu
der Schrift als solcher fällt in die Kompe- allen Zeiten auch erfundene Sprachen (Bau-
tenz der Paläographie. Zusätzliche Rubriken sani 1970). Neben universalistischen G esichts-
sind Handschriftenkunde, Bücherkunde, G e- punkten (in den sog. Welthilfssprachen des
672 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

Vachek, Josef. 1976. Written Language. G eneral Wetzel, M. 1991. Die Enden des Buches oder die
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nomina. Zur Entstehung von Christa Wolfs Kind- cation. Vol I. Variation in Writing. Hillsdale, N. J.
heitsmuster. LiLi 68. Zeller, Hans. 1964. Bericht des Herausgebers. In:
—. 1991. „La Confession d’une jeune fille“: aveu Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke. Histo-
ou fiction? Bulletin d’informations proustiennes 22. risch-kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller
Vygotsky, Lew S. 1986. Thought and Language. und Alfred Zäch. Bern.
Cambridge. —. 1986. Die Typen des germanistischen Varianten-
Werner, Michael. 1986. La dialectique de la cen- Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für
sure. A propos de l’autocensure dans les articles Prosa. Zeitschrift für deutsche Philologie 105.
journalistiques de Heine. Cahiers de textologie I, —. 1987. Textologie und Textanalyse. Zur Abgren-
Michel Malicet (ed.). Paris. zung zweier Disziplinen und ihrem Verhältnis zu-
—. 1990. Etudes de genèse et mythologie de einander. Editio 1.
l’écriure. In: Bessiére, 1990. —. 1989. Fünfzig Jahre neugermanistischer Edi-
Werner, Michael & Woesler, Winfried (ed.). 1987. tion. Zur G eschichte und künftigen Aufgaben der
Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Textologie. Editio 3.
Bern.
Catherine Viollet, Paris (Frankreich)

54. Schriftlichkeit und Philologie

1. Schriftlichkeit schichte der Bibliotheken, G eschichte des


2. Grenzfälle Buchdrucks, Inschriftenkunde.
3. Interferenzen Das Auftreten der Schriftlichkeit läßt sich
4. Transliteration sehr unterschiedlich dokumentieren. Das Chi-
5. Übersetzung nesische z. B. erscheint als ein vollständig ent-
6. Überlieferung wickeltes System gegen Ende der Shang-Dy-
7. Lachmann nastie (14.—11. Jh. v. Chr.). Im Rahmen der
8. Anti-Lachmann Entwicklung orientalischer Schriften er-
9. Editionsformen scheint die arabische Tradition schlagartig mit
10. Graphematik dem Koran. Das Bibelgotische und dessen
11. Variantenkritik Schrift ist die Erfindung des arischen Bischofs
12. Buchdruck Ulfila (311—383). G eschriebenes Deutsch er-
13. Standardisierung scheint erstmals in G lossen (8./9. Jh., z. B. in
14. Literatur den G lossen von Kassel). Im G egensatz dazu
läßt sich das Romanische (Ineichen 1993) in
einem über Jahrhunderte währenden Prozeß
1. Schriftlichkeit aus dem Lateinischen ablösen, mit einer
Die Beschäftigung mit Schriftsystemen als Schwelle der Verschriftlichung, regional ver-
nachgeordneten Systemen zu Sprachsyste- schieden, zwischen dem 7./9. Jahrhundert (im
men, die Beschäftigung mit dem kulturtra- Rumänischen entsprechend mit den kyrillisch
genden Phänomen der Schriftlichkeit und den geschriebenen slavo-rumänischen Texten im
Verfahren der Verschriftlichung verbindet sich 14./15. Jh.).
in verschiedener Hinsicht mit den G esichts-
punkten der Philologie. G emeint ist damit die 2. Grenzfälle
Philologie im engeren Sinn, d. h. die Beschäf-
tigung mit überlieferten Texten. Das Studium Neben den natürlichen Sprachen gibt es zu
der Schrift als solcher fällt in die Kompe- allen Zeiten auch erfundene Sprachen (Bau-
tenz der Paläographie. Zusätzliche Rubriken sani 1970). Neben universalistischen G esichts-
sind Handschriftenkunde, Bücherkunde, G e- punkten (in den sog. Welthilfssprachen des
54.  Schriftlichkeit und Philologie 673

19./20. Jh. s, z. B. Esperanto) findet man in es neuerdings für das Chinesische als Roma-
diesem Zusammenhang vor allem sprachmy- nisierung, d. h. als Umschrift mit lateinischen
stische Motivationen. Dazu kommen im Be- Buchstaben, die — linguistisch hervorragend
reich der Verschriftlichung die G eheimschrif- konzipierte — Peking-Umschrift (sog. Pi-
ten (→ Art. 145). Die mittelalterlichen G e- nyin). Das Stichwort für die hier angespro-
heimschriften — liest man bei Bischoff (1954) chene Problematik heißt „Transliteration“ (→
—, die in Buchhandschriften gar nicht so Art. 143).
selten begegnen, stehen nicht hoch im Kurs;
sie gelten mit Recht gegenüber der abstrusen
Chiffrierkunst der Renaissance und des Ba- 4. Transliteration
rock und gegenüber den scharfsinnigen Syste- Die Transliteration ist heute ein mehr oder
men der neueren Zeit als primitiv. So sind sie weniger standardisiertes Verfahren für Um-
neben der Erforschung der „Anfänge der mo- schriften aus fremden Schriftsystemen in
dernen diplomatischen G eheimschrift“ bisher europäische Schreibweisen, genau wie die
recht stiefmütterlich behandelt worden. Heut- phonetischen Notierungen im Rahmen des
zutage erfolgt die Verschlüsselung von Texten „International Phonetic Alphabet“ (IPA,
(Kryptographie) unter Zuhilfenahme von ma- bzw. frz. API), das in den Achtzigerjahren des
thematischen Verfahren maschinell. Vor eini- 19. Jahrhunderts konzipiert wurde (→ Art.
ger Zeit wurde in der chinesischen Provinz 142). Das Problem bestand jedoch schon in
Hunan (Steinfeld 1990) eine spezifisch für die vorwissenschaftlicher Zeit, und zwar zumal
Belange der Frauen eingerichtete Frauen- im Zusammenhang mit der Rezeption der
schrift (chin. nüshū) entdeckt. arabischen Wissenschaft im europäischen
Die Untersuchung der Kombinationen von Mittelalter (vgl. z. B. Ineichen 1966—67,
sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen 1968). Sprachgeschichtlich geht es dabei um
— in der Reklame, bei Wandschmierereien — die Entwicklung von Terminologien mit eige-
fällt in die Kompetenz der Semiotik. Erinnert nem Status gegenüber dem Wortschatz der
sei in diesem Zusammenhang an die Trom- einzelnen Vulgärsprachen.
melsprache in Schwarzafrika und an die Pfeif- Rein philologisch gesehen stellt sich das-
sprache (engl. whistle speech) bei Indianern selbe Problem im Rahmen besonderer Kul-
in Amerika. Dazu gehört ursprünglich wohl
auch die Funktion des Alphorns in den euro- turkontakte auch bei der Überlieferung von
päischen Zentralalpen. Ein G renzproblem ist Texten des Mittelalters, und zwar besonders
die Notierung der Töne in Tonsprachen (z. B. in Randlagen der Romania. Dies gilt zu-
Chinesisch, afrikanische Sprachen). nächst für einige italienische Texte in griechi-
scher Überlieferung aus Süditalien (Parangeli
1960). Dies gilt sodann für Texte, die (aus der
3. Interferenzen ganzen Romania nachweisbar) in hebräischer
Schrift überliefert sind (Freedman 1972), und
Bei mangelnder Schriftlichkeit spricht man schließlich (aus Spanien) für solche, die ara-
von Kulturen der Oralität (z. B. in Afrika). bische Lettern verwenden. Erinnert sei dabei
Verschriftlichte Sprache ist nicht mehr nur an die älteste spanische Liebeslyrik bzw. an
Sprache, sondern ein Kommunikations- und die jeweilige Schlußstrophe der G edichte (sog.
Informationsverfahren besonderer Art. An- ḥarǧa, span. jarcha) und an die Legenden der
zumerken ist dazu, daß die Verschriftlichung Morisken (sog. Aljamía, 16. Jh.).
von Sprachen verschiedenen Typs in neuerer Die arabische Tradition des Spanischen
Zeit auch ein Fall der Sprachenpolitik sein bietet umstrittene Probleme nicht nur philo-
kann. In der Sowjetunion ist Kyrillisch für logischer Art. Was die Ḥarǧas betrifft, ent-
nichtrussische Sprachen (in Zentralasien) teil- nimmt man aus Heger (1960), daß die spa-
weise unter Zwang eingeführt worden (→ Art. nisch-arabische Mischsprache über die ara-
66). Für das Türkeitürkische führte Atatürk bische Schrift nicht genau identifizierbar ist.
1928 an Stelle des arabischen das lateinische Dies trifft für die in ihrer Struktur stark ara-
Alphabet ein. Für Ostasien charakteristisch, bisch geprägte Prosa des Aljamiado nicht zu,
aber durch kulturelle Beeinflussung zu erklä- doch gibt es technische Probleme der graphi-
ren, ist die Verwendung von Zeichen — un- schen Repräsentation. In Anlehnung an die
abhängig von der Aussprache — aus dem arabische Schreibweise liest man gewöhnlich
Chinesischen (konkret z. B. sino-japanisch, z. B. esta nuweyt a tu fillo garant amoríyo, was
sino-koreanisch) (→ Art. 27). Umgekehrt gibt hispanisierend esta nueit a tu fillo grant amo-
674 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

río genau so akzeptabel wäre. (Vgl. Ineichen Überlieferung (Paquali 1934), die seit dem 14.
1986; die arabisierende Schreibweise vertritt Jahrhundert auch Autographen umfaßt, ist
in Spanien Alvaro Galmés de Fuentes). nicht nur philologisch im engeren Sinn be-
grenzt. Im weiteren Sinn erfaßt die Philologie
ein Datenfeld für historische Erkenntnisinter-
5. Übersetzung essen verschiedenster Art: Kultur und G esell-
schaft, Politik, Wissenschaft, Sprache. Beson-
Es ist nicht abwegig, im vorliegenden Zusam- ders wichtig ist dabei nicht nur die jeweils
menhang auch auf die interferierenden Über- neue Produktion, sondern die Zirkulation
setzungstraditionen hinzuweisen. Als Beispiel schon bestehender Werke, bzw. der „Bücher“
das Wort „Perspektive“ (Ineichen 1975). Es als Informationsträger. Für das moderne
entspricht mlt. perspectiva, das europäisch Europa grundlegend war die über das Mit-
mittelalterlich sowohl „Perspektive“ (perspec- telalter vermittelte Kenntnis der klassischen
tiva pingendi) als auch „Optik“ bedeutet, was Antike. Dazu kommt die Kenntnis der Aus-
wissenschaftsgeschichtlich nicht ohne Inter- rüstung wichtiger Skriptorien und Privatbi-
esse ist. Mlt. perspectiva geht auf ar. al-ma- bliotheken, z. B. diejenige von Petrarca
nāẓir zurück, das „die Ansicht der Welt“ be- (1304—1374) (vgl. Billanovich 1964) oder das
deutet und in Spanien mit lat. aspectus über- Verzeichnis von Leonardo da Vinci (1452—
setzt wurde. Ein G rieche in Palermo war dem- 1519) über 116 Bücher, die er in einer Kiste
gegenüber in der Lage, das Arabische zu iden- eingeschlossen hielt (Cod. Madrid 8936).
tifizieren und es auf gr. ὀπτική „Optik“, im Das Interesse für die Überlieferung kon-
späteren G elehrtenlatein optica (16. Jh.) zu- zentriert sich jedoch zumeist auf literarische
rückzuführen. Stark interferierende Zentren Texte. Man spricht in diesem Zusammenhang
erfordern — heute wie damals — nicht nur manchmal von einer charakterisierten und
die sprachliche, sondern auch die Kompetenz einer charakterisierenden Tradition. Erstere
der jeweiligen Schriftlichkeit. bezieht sich auf die G estaltung, die zweite auf
Bei der Übersetzung geht es jedoch nicht die Umstände der Reproduktion und der Ver-
nur um Wörter, sondern um ganze Texte, breitung des Textes. Man spricht von Text-
deren Vertreter in den jeweiligen Übersetzun- kritik (Quentin 1926, Maas 1927), wenn die
gen ihrerseits wiederum traditionsbildend Untersuchung des Umfangs und der Eigenart
sind. Dabei wechselte die Konzeption bzw. einer Überlieferung im Hinblick auf die Her-
die Vorstellung von den Verfahren und der stellung eines lesbaren Textes, d. h. einer Edi-
Funktion der Übersetzung in einer im euro- tion unternommen wird. Man hat sich dabei
päischen Sinn polyglotten Kultur ständig. in irgend einer Form mit Karl Lachmann
Dazu ist bislang, von Folena (1991) im Be- (1793—1851), dem Begründer der modernen
reich des Romanischen abgesehen, wenig ge- Textkritik, auseinanderzusetzen. Lachmann
sagt worden. Die wissenschaftlichen Überset- war Altphilologe und Germanist.
zungen aus dem Arabischen sind als Sonder-
fall zu betrachten.
Philologisch muß man deshalb unterschei- 7. Lachmann
den zwischen der Übersetzung als solcher und
der über die Übersetzungen laufenden ständig Die Lachmannsche Methode — erstmals dar-
variierenden G estaltung von Stoffen. Man gestellt in den Prolegomena zu Lukrez, 1816
denke dabei an Tristan, aber ebenso z. B. an — beruht auf dem Prinzip, daß zwei oder
den Trojaroman — Historia Destructionis mehr Handschriften nur dann die gleichen
Troiae eines G uido „de Columnis“ —, der in Fehler aufweisen können, wenn sie von der
fast alle europäischen Sprachen übersetzt selben Vorlage abstammen. Daraus ergibt
worden ist. Die rumänische Fassung, belegt sich die Möglichkeit, die Handschriften in
1766 und 1812, geht auf die zweite russische Familien zu klassieren und ihr gegenseitiges
Übersetzung zurück, die zur Zeit Peters des Verhältnis mit Hilfe eines Stammbaums
G roßen entstand und auf einer lateinischen (stemma codicum, frz. arbre généalogique)
Kurzfassung beruht, die auch deutschen darzustellen. Die Fehler dienen der Textkon-
stitution, und zwar nach dem Mehrheitsgesetz
Übersetzungen des 15. Jahrhunderts zugrun- unter den unmittelbaren Textzeugen in den
deliegt.
einzelnen G ruppierungen. Diese Fehler sind
nicht einfach Varianten, sondern Leitfehler,
6. d. h. signifikante Fehler, die die überlieferten
Überlieferung Lesarten entweder verbinden oder trennen.
Die Untersuchung der handschriftlichen Der wiederhergestellte Text beruht demnach
auf einer Hypothese über den Zustand des
54.  Schriftlichkeit und Philologie 675

sog. Archetyps (ω), auf den die Überlieferung auch ein Modell für die G egebenheiten der
zurückgeht. Mit dem Archetyp ergibt sich Textsituation, die objektiv ist. Es fragt sich
eine Annäherung an das verlorene Original. deshalb von Fall zu Fall, inwieweit die Me-
Das stringente Ergebnis des Verfahrens ist die thode operant ist oder nicht. Dazu gehörte
kritische Edition. auch eine Art Kasuistik (z. B. Ineichen 1964,
Bei der handschriftlichen Überlieferung d. h. anhand von Beispielen), die die Indivi-
geht man davon aus, daß Fehler beim Ab- dualität in einem allgemeineren Rahmen er-
schreiben mechanisch entstehen. Das ist (er- örtern könnte. Diese Diskussion ist europä-
fahrungsgemäß noch heutzutage) nicht nur isch. Man beachte jedoch, daß „Regeln für
zufällig; es gibt Tücken der Vorlagen, die be- die Edition von Texten“ (u. ä.) in allen Phi-
stimmte Ergebnisse favorisieren (Haplogra- lologien existieren.
phie, saut du même au même u. a.). Dazu Die absolute G egenposition zu Lachmann
kommt die bewußte Mischung von Traditio- ist diejenige des Franzosen Joseph Bédier
nen (Kontamination, d. h. horizontale Über- (1913, dann 1928). Nach dem Prinzip des
lieferung) und die Verwendung — in den Bedierismus stützt man sich nach Prüfung der
Skriptorien — von Handschriften mit Vari- Überlieferungsverhältnisse für die Herstel-
anten, d. h. von Handschriften als Varianten- lung eines lesbaren Textes auf die Fassung der
trägern (editio variorum). besten Handschrift. Aber die Frage nach der
Diese technische Problematik hat einen gei- Ermittlung der jeweils besten Handschrift ist
stesgeschichtlichen Hintergrund. Die Auffas- objektiv nicht entscheidbar. Man könnte auch
sung der Autoren und Schreiber ist moralisch. hier von Kasuistik sprechen, z. B. in der G er-
Nach dieser Auffassung kann jeder Text ver- manistik im Falle von Wolframs Willehalm
ändert und in jeweils neuen Fassungen an- (Schanze 1968), mit 10 Handschriften, wo die
gepaßt und verbessert werden. Dies gilt auch Zweigliederigkeit des Stemmas die Interpre-
noch für die Humanisten, die sehr überlegte tation nach dem (o. g.) Mehrheitsgesetz aus-
Herausgeber waren. Trotzdem geht die Vor- schließt.
stellung von der Authentizität des Originals Mit der bedieristischen Skepsis wird man
und die G estaltung des Textes nach dem Wil- gleichzeitig auf Formen der Überlieferung
len des Autors letztlich auf die humanistische verwiesen, in denen die Textherstellung nach
Philologie zurück. stemmatischen Texten sicher nicht operant ist.
Anders hier Boetius (1973, 73): „Ideologi- Dies ist besonders bei nicht-literarischen Tex-
sche und kommerzielle Faktoren hatten dazu ten der Fall, nicht etwa, weil in diesem Bereich
geführt, daß bis ins 20. Jahrhundert hinein oft nur wenige oder zumeist bloß einzelne
kaum eines der von der Literaturgeschichte Exemplare die Überlieferung vertreten, son-
kanonisierten G esamtwerke ohne tendenziöse dern weil die Überlieferung sog. offen ist. Es
oder umfangmäßige Verstümmelung publi- gibt dann keinen Archetypus im Rahmen
ziert worden war. Vom Bewußtsein dieses einer bestimmten Tradition, sondern immer
Mangels her bezog die Editionstheorie ihre wieder neue Initiativen und Interventionen im
Impulse.“ Diese Vorstellung entspricht ganz Rahmen eines bestimmten Kanons.
einfach nicht den historischen G egebenheiten. Ein Beispiel dafür ist der wohl im ersten
Und sie gilt auch nicht für die Fachtexte der Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstandene
Naturwissenschaften, der Medizin und der Vocabularius E x quo, der mit knapp 250 Hss.
Philosophie (vgl. auch Dain 1949). auch bereits in frühen Drucken überliefert ist
Für die Verfahren der Textkritik im einzel- (G rubmüller, bei Kuhn 1968, Schnell 1988)
nen muß hier auf die einschlägige Literatur und im gleichen Zeitraum zahlreiche Revisio-
verwiesen werden. Die Methode Lachmanns nen erfahren hat (vgl. Stahl 1989). Dieses
ist nicht unbestritten; sie ist jedoch in der seinerzeit sehr gebräuchliche lateinisch-deut-
zweiten Nachkriegszeit in Italien — zumal mit sche Vokabular dokumentierte grundlegendes
den Initiativen von G ianfranco Contini Sprach- und Sachwissen, vor allem im Hin-
(1912—1990) — maßgeblich ausgebaut wor- blick auf die Bibel.
den (vgl. Avalle 1972).
9. Editionsformen
8. Anti-Lachmann
Neben der kritischen Edition gibt es auch
Damit gibt es im Bereich der handschriftli- mehr oder weniger interpretative Editionen,
chen Überlieferung eine Methode für den die verschiedenen Bedürfnissen entsprechen
Umgang mit den Texten, in gewissem Sinn und handlich sind. Das G egenteil davon ist
676 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

die diplomatische Edition, d. h. praktisch der gibt auch Untersuchungen mit Hilfe der ma-
möglichst getreue Abdruck einer bestimmten schinellen Datenverarbeitung, z. B. Piirainen
Handschrift oder anderer Textzeugen. Dies ist (1968) zum Frühneuhochdeutschen. Mit der
der Fall bei Dokumenten aller Art und bei Standardisierung der Sprachen fixiert sich
Überlieferungsgeschichtlich besonders wich- auch deren Schrift. Die Orthographie wird
tigen Handschriften. Sehr schöne und mi- bisweilen dann historisch, wie z. B. im Engli-
nierte Handschriften werden heute als Luxus- schen oder im Französischen, und das
stück photomechanisch reproduziert. Sprachbewußtsein entwickelt parallel ein sog.
Andererseits bleibt zu bedenken, daß die Schriftdenken.
Überlieferung auch formale Varianten mit-
trägt und daß ganze Texte in ihrem sprachli-
chen Habitus verändert werden können. Es 11. Variantenkritik
gibt dialektalisierte und effektiv dialektale Die Variantenkritik, d. h. nicht die Varianten
Texte, purgierte (wie z. B. in der Tradition der Lesart, sondern diejenigen der Form, ge-
und besonders in der Übersetzungstradition hört in den ausschließlichen Bereich der Vul-
des Decameron von Boccaccio) und zu ver- gärsprachen. Sie ergibt sich daraus, daß diese
schiedenen Epochen neu gestaltete (wie z. B. Sprachen in ihrer handschriftlichen Phase
die Reiseberichte des Marco Polo). An die noch nicht standardisiert waren. Eine Varian-
Stelle der Textedition treten hier die Interes- tenkritik lateinischer Texte gibt es deshalb
sen der Sprachgeschichte, der historischen nicht. In den formal noch sehr flexiblen Spra-
G rammatik, der Dialektologie und der chen des Mittelalters in Europa beruht die
Sprachgeographie. Die Rubrik heißt dann Variantenkritik außerdem darauf, daß sich
„Sprachwissenschaft und Philologie“ (z. B. das lateinische Buchstabenalphabet wie ge-
Eichner & Rix 1990). sagt von Fall zu Fall an die sprachlichen
G egebenheiten anpassen ließ. Die formalen
Varianten sind deshalb vor allem linguistisch
10. Graphematik interessant.
Eine Abteilung für sich bilden die Corpora Textkritisch stößt man dabei auf das Pro-
von mittelalterlichen Urkunden, d. h. von blem der G estaltung des kritischen Apparats,
nicht literarischen Texten, die genau lokali- der über die G egebenheiten der Überlieferung
siert und auch datiert werden können, dabei im Verhältnis zum etablierten Text Rechen-
aber stilistisch — außer bei festgefügten ju- schaft gibt. Wichtig sind dabei die Varianten
ristischen Formeln — nicht markiert sind. In der Lesart. Die Varianten der Form werden
der Romanistik gibt es für diese Art von zumeist ausgeschieden, zumindest dann, wenn
Schreiben, die mit den Formen der literari- sie keine besondere erklärende Kraft besitzen.
sierten Sprache nicht identisch ist, den Begriff Bei der Interpretation hält man sich zumeist
der Scripta (vgl. G ossen 1967). Auf dieser nur an den etablierten Text. Raffinierter ist
Basis lassen sich die historischen Befunde dia- jedoch der Einbezug einschlägiger Varianten.
chron mit anderen Sprachzuständen verglei-
chen.
In diesen Zusammenhang gehören auch die 12. Buchdruck
Probleme der G raphematik. Es geht dabei Mit der Erfindung des Buchdrucks um die
darum, den Lautwert bestimmter Schreibun- Mitte des 15. Jahrunderts veränderte sich die
gen zu bestimmen, soweit sie in der Überlie- geschilderte Überlieferungs- und Informa-
ferung auftauchen. Sie sind chronologisch tionssituation in Europa grundlegend. Die
und regional verschieden und einzelsprachlich Besonderheit der Erfindung G utenbergs war
gebunden. (Als Beispiele die Schreibung lh für der Druck mit beweglichen Lettern. Drucke
das mouillierte l im Altokzitanischen, wie sie mit geschnitzten Holzplatten gab es in China
in der Folge auch ins Portugiesische über- schon im 9. Jahrhundert. (Das erste erhaltene
nommen wurde, ferner die diakritischen Zei- gedruckte Buch ist die chinesische Überset-
chen oder Einführung der arabischen Zif- zung der buddhistischen Diamant-Sutra, a.
fern). Es geht dabei um die Anpassung der 868; vgl. auch G ascoigne 1986). Mit dem
Schreibung an die jeweiligen Besonderheiten Buchdruck verschwand die handschriftliche
der Lautung. Im Verlaufe der geschichtlichen
Entwicklung trifft man auf höchst erfinderi- Überlieferung jedoch nicht sogleich. Heute
zumeist verlorene Handschriften wurden zwar
sche und linguistisch instruktive Initiativen. abgedruckt (sog. editio princeps); aber es gab
Dies gilt vor allem für ältere Denkmäler. Es
54.  Schriftlichkeit und Philologie 677

auch noch handschriftliche Kopien, sogar sol- Avalle, d’Arco Silvio. 1972. La critica testuale. In:
che von Liebhabern (z. B. das Ambraser „Hel- G rundriß der romanischen Literaturen des Mittel-
denbuch“ des Kaiser Maximilian, 1504—1515 alters, Heidelberg, Winter 1972, Bd. 1, 538—58.
durch den Bozener Zolleinnehmer Hans Ried Bausani, Alessandro. 1970. G eheim- und Univer-
geschrieben). Im islamischen Orient begann salsprachen: Entwicklung und Typologie. Stuttgart,
erst die osmanische Druckerei des 18. Jahr- Kohlhammer.
hunderts in einigen Bereichen das handschrift- Billanovich, G iuseppe. 1964. La bibliothèque de
liche Buch zu ersetzen. In Rußland — heute Pétrarque et les bibliothèques médiévales de France
mit einer eigenen Sammlung in der Leningra- et de Flandre. In: Fourrier, 195—215.
der Akademiebibliothek — gab es handge- Bédier, Joseph. 1928. La tradition manuscrite du
schriebene Bücher (rukopisennye Knižki) noch Lai de l’Ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les
zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Man be- anciens textes. Romania 54.
grenzt die erste Epoche des Buchdrucks, d. h.
Bischoff, Bernhard. 1954. Übersicht über die nicht-
diejenige der Wiegendrucke (Inkunabeln), mit
diplomatischen G eheimschriften des Mittelalters.
dem Jahr 1500.
Mitteilungen des Instituts für Österreichische G e-
Der Buchdruck verbreitete zunächst un-
schichtsforschung 62, 1—27.
gezählte religiöse Werke und diente mit den
lateinischen und griechischen Autoren den In- Boetius, Henning. 1973. Textkritik und Editions-
teressen des Humanismus. Im vulgärsprach- technik. In: Arnold, Heinz Ludwig & Sinemus,
lichen Bereich kam er dem G eschmack des Volker (ed.), G rundzüge der Literatur- und Sprach-
Publikums entgegen. Neu war dabei die große wissenschaft. München, Bd. 1, 31975, 73—88.
Verbreitung des Buches und dessen Verfüg- Castellani, Arrigo. 1957. Bédier avait-il raison? La
barkeit für ein lesendes Publikum. Das war méthode de Lachmann dans les éditions de textes
vorher nur sehr selten der Fall. Das erfolg- du Moyen âge. Fribourg (Suisse).
reichste Werk des Mittelalters, der Rosenro- Dain, Alphonse. 1949. Les manuscrits. Paris.
man (um 1240), hat einen Überlieferungsbe- Eichner, Heiner & Rix, Helmut (ed.). 1990. Sprach-
stand von 215 Handschriften. Die „G öttliche wissenschaft und Philologie. Jacob Wackernagel
Komödie“ Dantes hat über 600 Handschrif- und die Indogermanistik heute. Wiesbaden (Kol-
ten. Sonst sind die Inventare der erhaltenen loquium der Indogermanischen G esellschaft vom
Handschriften gewöhnlich eher gering. 13.—15. Oktober 1988 in Basel).
Folena, G ianfranco. 1991. Volgarizzare e tradurre.
Turin.
13. Standardisierung Fourrier, Anthime (ed.). 1964. L’humanisme mé-
Der Buchdruck wirkte sich auch auf die Stan- diéval dans les littératures romanes du XIIe siècle.
dardisierung der Schriftsprachen im 16. Jahr- Paris (Colloque organisé par le Centre de Philologie
hundert aus. Es geht dabei um die Entstehung et de Littératures romanes de l’Université de Stras-
der Nationalsprachen, die jeweils einzel- bourg, 1962).
sprachlich behandelt werden muß. Mit der Freedman, Alan. 1972. Italian Texts in Hebrew
Fixierung dieser Sprachen hört in Europa die Characters: Problems of Interpretation. Wiesba-
für das Mittelalter charakteristische typolo- den.
gische Durchlässigkeit der Systeme definitiv G ascoigne, Bamber. 1986. How to Identify Print.
auf. Damit ändert sich gleichzeitig der Begriff A complete guide to manual and mechanical pro-
der Überlieferung. Es entsteht ein gegenseiti- cesses from woodcut to ink jet. London 21988.
ges Verhältnis zwischen dem Buch und den G ossen, Carl Theodor. 1967. Französische Skrip-
verfügbaren Autographen, die oft verschie- tastudien. Untersuchungen zu den nordfranzösi-
dene Phasen der Ausarbeitung dokumentie- schen Urkundensprachen des Mittelalters. Wien,
ren. Es gibt Material aus Nachlässen, in de-
Österreichische Akademie der Wissenschaften.
nen Entwürfe, Vorstufen, Zwischenfassungen,
Fragmente usw. auftauchen. (Ein bekanntes Heger, Klaus. 1960. Die bisher veröffentlichten
Beispiel aus der Linguistik ist der Cours von Ḥarǧas und ihre Deutungen. Tübingen (Beihefte
Saussure). Man weiß auch von Eingriffen zur Zs. f. romanische Philologie 101).
noch während der Drucklegung. Die Edi- Ineichen, G ustav et al. (red.). 1964. G eschichte der
tionstechnik beruht hier auf anderen G rund- Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen
lagen. Literatur, Bd. 2: Überlieferungsgeschichte der mit-
telalterlichen Literatur. Zürich.
Ineichen, G ustav. 1966—67. La translitterazione
14. Literatur dei termini arabi e la stratificazione degli arabismi
678 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

nel Medio evo. Bollettino dell’Atlante Linguistico critica del testo. Firenze, Le Monnier, 21952.
Mediterraneo 8—9, 197—203. Piirainen, Ilpo P. 1968. G raphematische Untersu-
—. 1968. L’autorité de ‘Moamin’. In: Festschrift chungen zum Frühneuhochdeutschen. Berlin (Stu-
Walther von Wartburg. Tübingen, 421—30. dia Linguistica Germanica 1).
—. 1975. Über „Optik“ und „Perspektive“: ar. al- Quentin, dom H. 1926. Essai de critique textuelle
manāẓir. Vox Romanica 34, 58—62. (Ecdotique). Paris.
—. 1986. Rezension zu Antonio Vespertino Rodri- Schanze, Heinz. 1968. Zur Brauchbarkeit des
guez: Leyendas aljamiadas y moriscas sobre per- Handschriftenstemmas bei der Herstellung des Kri-
sonajes bíblicos. Madrid 1983. Consuelo López- tischen Textes von Wolframs Willehalm. In: Kuhn
Morillas: The Cor’an in sixteenthcentury Spain: Six et al., 23—33.
morisco versions of sura 79. London 1982. Schnell, Bernhard, Stahl, Hans-Jürgen, Auer, Erl-
—. 1993. L’apparition du roman dans des contextes traud & Pawis, Reinhard (gemeinsam mit Klaus
latins. In: Selig, Maria, Frank, Barbara & Hart- G rubmüller). 1988. „Vokabularius Ex quo“. Über-
mann, Jörg (ed.): Le passage à l’écrit des langues lieferungsgeschichtliche Ausgabe. Tübingen. 6
romanes, Tübingen, 83—90. Bde., ab 1988.
Kuhn, Hugo, Stackmann, Karl & Wuttke, Dieter Stahl, Hans-Jürgen. 1989. Text im G ebrauch. Re-
(ed.). 1968. Probleme altgermanistischer Editionen. zeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Redak-
Wiesbaden. tion Me des ‘Vocabularius ex quo’ und zum ‘Vo-
Maas, Paul. 1927. Textkritik. Leipzig, Teubner, kabular des alten Schulmeisters’. Tübingen.
41960. Sternfeld, Eva. 1990. Die Frauenschrift aus Hunan.
Parangeli, Oronzo. 1960. Storia linguistica e storia In: China der Frauen. München, Frauenoffensive,
politica nell’Italia meridionale. Firenze, 91—183. 24—26.
Pasquali, G iorgio. 1934. Storia della tradizione e
Gustav Ineichen, Göttingen (Deutschland)

55. Sekundäre Funktionen der Schrift

1. Primär und sekundär lich im Eidos der Dinge seinen G rund hat
2. Magie der Schrift (vgl. Derrida 1974, 24 ff; Simon 1989, 9—17),
3. Anagramme konnte unter dieser Voraussetzung ebenso
4. Schriftbilder traditionsbildend werden wie das nacharisto-
5. Literatur telisch-„phonographische“ Verständnis, das
seit der Renaissance bis heute die Schrift auf
eine Abbildungsfunktion hinsichtlich lautli-
1. Primär und sekundär cher Äußerungen reduziert (vgl. Maas 1986).
Auf die verwirrenden Vagheiten der Aus- Was auch immer als Präsenz vorausgesetzt
drücke „Schreiben“, „geschriebene Sprache“, wird (Logos oder Phone), „primär“ kommt
„G eschriebenes“, „Schrift“, „Schriftsystem“, Schrift nachträglich und äußerlich hinzu, um
„Schriftsprache“, deren terminologische Prä- ihm eine sichtbare Version zu verleihen.
zisierung sich als linguistische Notwendigkeit Als „sekundär“ gilt dagegen all das, wo-
erwiesen hat (Ludwig 1983), wird hier nicht durch diese Repräsentationsrelation unterlau-
eingegangen. Es soll der orientierende Hin- fen, überlagert oder zurückgedrängt wird. Es
weis genügen, daß der Sinn all dieser Aus- erschöpft sich nicht darin, Schrift als eine Art
drücke von einer grundlegenden Annahme materielles Double gesprochener Signifikan-
beherrscht wird: schriftliche Phänomene und ten oder unsinnlicher Signifikate zu funktio-
Strukturen funktionieren als Mittel der Re- nalisieren. Stattdessen werden ihr Funktionen
präsentation. Etwas anderes wird als sprach- zugeschrieben, die in einem spezifischen Sinn
liche oder versprachlichte Präsenz vorausge- „nicht-sprachlich“ sind. G lück (1987, 204) hat
setzt, die schriftlich wiedergegeben und sicht- sie in „Zeichensystemen anderer Ordnung“
bar gemacht wird. Die aristotelisch-„logo- angesiedelt und dabei auf Magie, Religion,
zentrische“ Bestimmung, daß Schrift (gram- Ästhetik und Spiel hingewiesen. In diesen
mata) nur ein willkürliches Zeichen für das „anderen Ordnungen“ leistet Schrift etwas
ist, was „in“ dem G esprochenen ist und letzt- Anderes als im linguistischen Universum der
sprachlichen Repräsentation. Von ihm legen
678 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

nel Medio evo. Bollettino dell’Atlante Linguistico critica del testo. Firenze, Le Monnier, 21952.
Mediterraneo 8—9, 197—203. Piirainen, Ilpo P. 1968. G raphematische Untersu-
—. 1968. L’autorité de ‘Moamin’. In: Festschrift chungen zum Frühneuhochdeutschen. Berlin (Stu-
Walther von Wartburg. Tübingen, 421—30. dia Linguistica Germanica 1).
—. 1975. Über „Optik“ und „Perspektive“: ar. al- Quentin, dom H. 1926. Essai de critique textuelle
manāẓir. Vox Romanica 34, 58—62. (Ecdotique). Paris.
—. 1986. Rezension zu Antonio Vespertino Rodri- Schanze, Heinz. 1968. Zur Brauchbarkeit des
guez: Leyendas aljamiadas y moriscas sobre per- Handschriftenstemmas bei der Herstellung des Kri-
sonajes bíblicos. Madrid 1983. Consuelo López- tischen Textes von Wolframs Willehalm. In: Kuhn
Morillas: The Cor’an in sixteenthcentury Spain: Six et al., 23—33.
morisco versions of sura 79. London 1982. Schnell, Bernhard, Stahl, Hans-Jürgen, Auer, Erl-
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latins. In: Selig, Maria, Frank, Barbara & Hart- G rubmüller). 1988. „Vokabularius Ex quo“. Über-
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Gustav Ineichen, Göttingen (Deutschland)

55. Sekundäre Funktionen der Schrift

1. Primär und sekundär lich im Eidos der Dinge seinen G rund hat
2. Magie der Schrift (vgl. Derrida 1974, 24 ff; Simon 1989, 9—17),
3. Anagramme konnte unter dieser Voraussetzung ebenso
4. Schriftbilder traditionsbildend werden wie das nacharisto-
5. Literatur telisch-„phonographische“ Verständnis, das
seit der Renaissance bis heute die Schrift auf
eine Abbildungsfunktion hinsichtlich lautli-
1. Primär und sekundär cher Äußerungen reduziert (vgl. Maas 1986).
Auf die verwirrenden Vagheiten der Aus- Was auch immer als Präsenz vorausgesetzt
drücke „Schreiben“, „geschriebene Sprache“, wird (Logos oder Phone), „primär“ kommt
„G eschriebenes“, „Schrift“, „Schriftsystem“, Schrift nachträglich und äußerlich hinzu, um
„Schriftsprache“, deren terminologische Prä- ihm eine sichtbare Version zu verleihen.
zisierung sich als linguistische Notwendigkeit Als „sekundär“ gilt dagegen all das, wo-
erwiesen hat (Ludwig 1983), wird hier nicht durch diese Repräsentationsrelation unterlau-
eingegangen. Es soll der orientierende Hin- fen, überlagert oder zurückgedrängt wird. Es
weis genügen, daß der Sinn all dieser Aus- erschöpft sich nicht darin, Schrift als eine Art
drücke von einer grundlegenden Annahme materielles Double gesprochener Signifikan-
beherrscht wird: schriftliche Phänomene und ten oder unsinnlicher Signifikate zu funktio-
Strukturen funktionieren als Mittel der Re- nalisieren. Stattdessen werden ihr Funktionen
präsentation. Etwas anderes wird als sprach- zugeschrieben, die in einem spezifischen Sinn
liche oder versprachlichte Präsenz vorausge- „nicht-sprachlich“ sind. G lück (1987, 204) hat
setzt, die schriftlich wiedergegeben und sicht- sie in „Zeichensystemen anderer Ordnung“
bar gemacht wird. Die aristotelisch-„logo- angesiedelt und dabei auf Magie, Religion,
zentrische“ Bestimmung, daß Schrift (gram- Ästhetik und Spiel hingewiesen. In diesen
mata) nur ein willkürliches Zeichen für das „anderen Ordnungen“ leistet Schrift etwas
ist, was „in“ dem G esprochenen ist und letzt- Anderes als im linguistischen Universum der
sprachlichen Repräsentation. Von ihm legen
55.  Sekundäre Funktionen der Schrift 679

die Schriftpraktiken und -formen Zeugnis ab, sche Bereiche weisen (Jungandreas 1974; Dü-
die hier vorgestellt und erörtert werden. wel 1983, 106—110). Es findet seinen Nieder-
Auch wenn man sich davor hüten muß, die schlag im Selbstbewußtsein der Runenritzer,
„sekundären Funktionen der Schrift“ unter die sich oft als erilaR (Runenmagier) in ihre
einen gemeinsamen Begriff zu subsumieren, Texte einschreiben. Aufs G anze überwiegt in
so lassen ihre vielfältigen Formen doch den etwa 5000 gefundenen Runendenkmälern
eine Art „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein eine kultisch-magische Intention gegenüber
1960, 324) erkennen: sie alle versuchen der profaner Mitteilungsabsicht (Krause 1935).
Schrift eine Energie zu bewahren oder zu ver- Alu (Zauber, Ekstase) und laþu (Einladung,
leihen, die vom ursprünglichen „mimetischen Zitation magischer Mächte) konnten als ma-
Vermögen“ (Benjamin 1972) des Menschen gische Wortformeln nachgewiesen werden.
ihre Impulse bezieht. Das Spektrum reicht Erhellend ist der Fund aus einem Stein-
von magischen Kultschriften bis zu den kistengrab bei Kylver (G otland) um 400
Schriftbildern einer nachauratischen Kunst. n. Chr., auf dem das ältere 24-Zeichen-Fu-
Der Schlüssel zu ihrer Lesbarkeit ist nicht die thark (die „sinnlose“ Reihung aller Runen-
„Repräsentation“, sondern die „Ähnlichkeit“. zeichen) zum Schutz gegen G rabfrevel und
Immer handelt es sich um die Entdeckung zur Bannung toter Wiedergänger diente.
oder Konstruktion geheimnisvoller Korre- Oberhalb dieser Reihe kann man zudem die
spondenzen, Konstellationen und Analogien Inschrift „sueus“ lesen, deren Spie-
im Medium der Schrift, in deren Fundus die gelbildstruktur als Hinweis auf eine magische
Kraft des Mimetischen hineingewandert ist Formel interpretiert worden ist (Düwel 1983,
und graphisch in Erscheinung treten kann. 19). All das verweist darauf, daß das Schrei-
ben und Lesen der Runen anfänglich durch
einen magischen Willen gelenkt worden ist,
2. Magie der Schrift der auf die geheimnisvolle Stärke der ge-
Dem aufgeklärten Bewußtsein gilt jedes schriebenen Zeichen in ihrer Materialität ver-
schriftliche Zeichen nur als konventionelles traute und in ihnen mehr sah als die bloße
oder arbiträres Mittel zur Bewahrung sprach- Fixierung sprachlicher Aussagen: aaaaaaaa
licher Verhältnisse. Besonders die Erfindung RRR nnn x b m u ttt: alu (Liebeszauberin-
einer alphabetischen Lautschrift war in dieser schrift auf dem Amulett von Lindholm, 6.
Hinsicht wegweisend. Doch im Schatten die- Jh., zitiert nach Düwel 1983, 112).
ses Bewußtsein zirkuliert schon immer eine Wie einflußreich ein magisches Schriftbe-
andere Vorstellung, die mit der magischen wußtsein auch innerhalb religiöser Systeme
oder mystischen Kraft des G eschriebenen bleiben kann, welche die Welt entzaubern,
rechnet. Sie vertraut auf verborgene Korre- Beschwörer und Zeichendeuter als widergött-
spondenzen, die den Kosmos regieren, und lichen „G reuel“ verurteilen (5. Buch Moses,
glaubt auch über die schriftlichen Mittel zu XVIII, 12) und das G eschriebene auf eine
verfügen, sie zu G esicht bringen oder hervor- Repräsentationsfunktion mitteilbarer G lau-
rufen zu können. Drei Beispiele müssen hier benssemantik reduzieren, läßt sich an der
zur Verdeutlichung genügen: Runenmagie, kabbalistischen Tradition aufzeigen, deren
Kabbala und I Ging. Texte seit dem 12. Jahrhundert innerhalb der
Erst seit dem 17. Jahrhundert bezeichnet jüdischen Theognostik zirkulieren (Scholem
„Rune“ ein Zeichen der ältesten nordeuro- 1957; 1963; 1970; Benedikt 1986). Kabbala,
päischen Schrift. In seiner Etymologie ver- wörtlich verstanden als „Überlieferung“ gött-
weist Rune dagegen auf ein „G eheimnis“, wie licher Dinge, ist zunächst nur Kommentar zu
es z. B. in Geraune und Alraune noch mit- biblischen Büchern, besonders zum Penta-
klingt. Über die Herleitung der Runenschrift teuch, der „schriftlichen Tora“. Mit dem „Se-
gibt es zwar nur Mutmaßungen; als gesichert pher Jetzirah“ als unergründlichstem und
kann jedoch gelten, daß die Runenritzer selbst dem Buch „Sohar“ als zentralem Werk be-
an eine göttliche Herkunft glaubten. In dem zieht sich die Kabbala auf ihre Vor-Texte je-
Edda-G edicht Hávamál (Str. 138 f) wird Odin doch nicht als bloße Verschriftlichungen re-
als ihr Erfinder genannt. Er mußte sich op- ligiöser Überzeugungen. Vielmehr konzen-
fern, um mit den Runen geheimes Wissen und triert sie sich auf die Buchstaben und Namen
Zauberkraft zu erlangen. Dieses Vertrauen in der biblischen Schriften, denen ein symboli-
die magische Kraft der Runenzeichen (vgl. scher oder auch magischer G eheimsinn zu-
Agrell 1927; Flowers 1986) drückt sich in den geschrieben wird. Durch kombinatorische
Runennamen aus, die mehrheitlich in kulti- Buchstabenspiele und „isopsephische“ Zah-
680 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

lenwertberechnungen (vgl. Weinreb 1978) gilt


es ihn zu entziffern. Die Tora wird gelesen als
eine Textur, wobei es besonders der Namen
G ottes ist, den es als absolute Signatur aller
Dinge zu entdecken gilt. Die Kraft der G ott-
heit verkörpert sich in einer buchstäblichen
G estalt, die in höchster Konzentration ur-
sprünglich magische Vorstellungen mit mysti-
scher Spekulation verbindet. Prägnant hat der
spanische Kabbalist Josef G ikatilla die Tora
ein „G ewebe“ Ariga genannt, das durch ver-
borgene Permutationen und Kombinationen
aus dem Tetragrammaton JHWH gebildet ist
(Scholem 1963, 61 ff; 1970, 107). Es verstreut
Abb. 55.1: Die 8 Trigramme des I Ging
sich auf komplexe und subtile Weise in die
Schichten einer Schrifttextur, die zum Urbild
alles G eordneten erklärt worden ist. Die rei-
che Fülle kabbalistischer Literatur, die oft saugen und Weiblichkeit (vgl. G ranet 1963,
genug auch Scharlatane, esoterische Okkul- 86—109). Aus der Kombination dieser beiden
tisten (Nettesheim 1987; Crowley 1973; Wil- Elemente ergaben sich zunächst 4 G rundzei-
son 1988; Regardie 1988; 1991; Fortune 1990) chen, die Hsiang, durch Hinzufügung einer
und verworrene Köpfe in ihren Bann gezogen dritten Linie dann die 8 Trigramme, die als
hat, läßt zugleich die G efahr erkennen, denen Korrespondenzen kosmischer Ordnungen in-
die kabbalistischen Textaufschmelzungen aus- terpretiert wurden und, nach den verschie-
gesetzt sind. Das Spiel mit den graphemischen denen Himmelsrichtungen ausgerichtet, eine
Elementen des corpus symbolicum kann sich magische Figur bilden (Abb. 55.1).
in den unfaßbaren Ungrund trügerischer Zah- Um eine größere Komplexität zu gewinnen,
len-, Buchstaben- und Wortspiele verlieren, wurden diese 8 Zeichen miteinander kombi-
deren spekulativer G ehalt nur ein Trugbild niert, wodurch sich 64 Hexagramme ergaben,
ist. deren Strukturrelationen als ein Spiegelbild
Es qualifiziert das chinesische „Buch der globaler mikro- und makrokosmischer Ord-
Wandlungen“ (I Ging), daß es einen umge- nung in ihrer Wandelbarkeit gesehen wurden.
kehrten Weg eingeschlagen hat (vgl. Wilhelm Es überrascht nicht, daß die kompositori-
1924; Wilhelm 1958; 1972). Statt dekompo- sche Struktur des I Ging all jene begeistern
sitorisch etwas zu suchen, das in der unaus- kann, die auf der Suche nach fundamentalen
lotbaren Komplexität von Texturen verbor- semiotischen Rastern sind, um die Komple-
gen eingewebt ist, wird konstruktiv aus ein- xität der Wirklichkeit auf elementare Formeln
fachsten Bausteinen etwas aufgebaut, dem zu reduzieren. Bereits Leibniz war fasziniert
dann Schicht auf Schicht hinzugeschrieben durch die strukturellen Korrespondenzen zwi-
werden kann, bis sich am Ende ein universales schen dem I Ging und seinem eigenen Entwurf
Schriftgebäude ergibt, eine Art analogisie- eines eleganten Binärsystems auf der Basis
render Weltformel. Am geschichtlichen wie von Null und Eins (vgl. Wilhelm 1972, 12 ff);
strukturellen Ursprung des I Ging, dessen Jung (1929) las es als „synchronistisches“
Kern nach chinesischer Überlieferung vom Symbol und verband es mit seinen Archety-
legendären Kaiser Fu-hsi (etwa um 3000 pen (vgl. Murphy 1980); Isomorphien zwi-
v. Chr.) erfunden wurde, steht der binäre schen I Ging und Kabbala stellte Surany
Schematismus von Ja/Nein, der orakelnden (1982) fest; Fiedeler (1976) benutzte es zum
Zwecken diente. Der ältesten erhaltenen Ex- Entwurf einer genetischen Anthropologie; am
plikation dieses Ja/Nein zufolge, dem Ora- verblüffendsten ist jedoch die Koinzidenz, die
kelkommentar Hsi-tz’u, wurde das Ja als volle Schönberger (1981) zwischen den 64 Hexa-
Linie geschrieben und mit dem ungradzahli- grammen und dem biologischen Schriftmo-
gen Yang in Verbindung gebracht, dem taoi- dell des genetischen Codes feststellen konnte
stischen Symbol für Helligkeit, Sonne, Aus- (vgl. Wilhelm 1975).
dehnungskraft und Männlichkeit; das Nein G ermanischer Runenzauber, kabbalistische
dagegen, als gebrochene Linie geschrieben, Buchstaben-, Zahlen- und Wortmanipulatio-
wurde mit dem gradzahligen Yin verbunden, nen, chinesische Hexagrammkonstruktionen:
dem Symbol für Dunkelheit, Schatten, Ein- diese Beispiele lassen erkennen, daß es falsch
wäre anzunehmen, „die Fähigkeit zu lesen
55.  Sekundäre Funktionen der Schrift 681

und zu schreiben brächte die eher magischen strukturierung zu begreifen ermöglichen, ist
Elemente von Ritus und G lauben zum Ver- in die Schriftpraxis hineingewandert. In ihren
schwinden“ (G oody 1986, 46). Stattdessen magischen und mystischen Produktionen
drängt sich die Einsicht auf, daß durch die bleibt etwas lesbar, das in dem Maße unsicht-
Entwicklung schriftlicher Techniken das ma- bar werden mußte, in dem Schrift ihrer „pri-
gische Bewußtsein einen gewaltigen Innova- mären“ Funktion, gesprochene Sprache zu
tionsschub erhielt. Denn das Spiel mit den repräsentieren, unterworfen wurde.
graphischen Elementen verführt in Dimensio-
nen geheimnisvoller Entsprechungen, die
nicht den konventionalisierten Regeln sprach- 3. Anagramme
licher Repräsentation unterworfen sind. Für ein automatisiertes Lesebewußtsein, dem
Dornseiff (1916; 1922) und Bertholet (1950) das G eschriebene primär wie ein durchsich-
haben umfangreiches Material aus den ver- tiges Fenster erscheint, hinter dem es den
schiedensten Schriftkulturen zusammengetra- linearisierten Bewegungen versprachlichter
gen und gesichtet, in denen immer auch Texte immaterieller Bedeutungen zu folgen vermag,
wirksam sind, die mit der Materialität einzel- ist es äußerst störend, wenn sich das G e-
ner Buchstaben, strukturierter Alphabete und schriebene als solches aufdrängt und die
disseminierter Wortkörper arbeiten, um ihnen selbstverständliche Leichtigkeit des flüssigen
eine magische, mystische oder symbolische Lesens unterbricht. Aber diese Irritation, die
Kraft und Bedeutung zu verleihen. das lesende Auge verwirrt innehalten und auf
Dabei mögen sich die verschiedenen Tech- die Schrift „starren“ läßt, kann auch eine
niken zwar unterscheiden. G emeinsam ist ih- Konzentration evozieren, die den Blick auf
nen, daß sie den geschriebenen Sprachkörper die Schriftgestalten wenden läßt und sie in
als solchen manipulieren, unter Vernachläs- ihrer Dinglichkeit zu begreifen sucht.
sigung seiner logozentrischen oder phonogra- Einer solchen Konzentration verdanken
phischen Funktion, indem sie ihn zerstückeln die Anagramme ihre Entdeckung oder Erfin-
und neu zusammensetzen, um solche Struk- dung. Rätselhaft werden durch Umstellung
turgebilde herzustellen, die der magischen In- einzelner Buchstaben aus Wörtern andere
tention, Wirklichkeit mit ihren verborgenen Wörter, aus Texten andere Texte, die sich, wie
Korrespondenzen und Analogien beeinflus- ein verborgenes G eheimnis, in ihnen versteckt
sen oder beherrschen zu können, entgegen- zu haben scheinen. Die buchstäbliche Ord-
kommen. Die magische Vermutung eines nung wird zerstört, um einen neuen Ausdruck
„globalen und integralen Determinismus“ zu erhalten, auferstanden wie Orpheus aus
(Lévi-Strauss 1973, 23; vgl. Kippenberg & der Asche. Aus Beil wird Lieb und Leib, aus
Luchesi 1978), den es durch manipulative Christoffel von Grimmelshausen wird German
Operationen eines mimetischen Vermögens zu Schleifheim von Sulsfort, und in der skepti-
kontrollieren gilt, findet in der Möglichkeit, schen Frage des Pilatus — quid est veritas? —
mit schriftlichen G estalten strukturell basteln ist anagrammatisch bereits die verteidigende
und spielen zu können, ein unerschöpfliches Antwort der Jünger Jesu enthalten: est vir qui
Betätigungsfeld. Das erklärt, warum magi- adest.
sche Texte stets durch verstärkte Merkmale Auch wenn die Herkunft des Anagramms
formaler G eordnetheit ausgezeichnet sind, die sich in der Frühzeit schriftlicher Kombina-
über eine bloß linguistische oder grammati- tionskunst verliert, so spricht doch vieles da-
sche Struktur geschriebener Mitteilungen hin- für, daß es anfänglich in magischen oder ora-
ausgehen (vgl. G eier 1982). Das Spektrum kelhaften Kontexten wirksam war, vielleicht
kann von einer einfachen ABC-Reihung über als Zauberformel zur Beschwörung eines ver-
durchstrukturierte Zeichenkombinationen bis rätselten Namensträgers oder als Bestandteil
zu hochkomplexen „Texturen“ kabbalisti- der religiösen Vorstellung, daß eine Anrufung
scher Spekulation reichen: stets sind es über- G ottes nur unter der Bedingung wirksam ist,
strukturierte Formen, die sich im Medium der daß die Bestandteile seines Namens unter den
Schrift wie in einem Vexierbild verborgen hal- Text gewebt sind. In der Kabbala wurde das
ten und durch graphemische Manipulations- anagrammatische Herauslesen verborgener
techniken gestaltet und erprobt werden kön- Beziehungen in den Wörtern und Texten
nen. Die alte mimetische Begabung, Ähnlich- ebenso praktiziert wie in der althebräischen
keiten und Entsprechungen entdecken zu Lyrik und in arabischer Zauberliteratur. Die
können, welche die Kontingenz oft zufälliger Manieristen in der europäischen Literatur,
und undeterminierter Tatsachen durch Über- fasziniert durch Schrift-Alchimie und esote-
682 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

rische Kombinationskunst, spielen damit äu- auf eine lineare Ordnung der Diskursivität
ßerst erfindungsreich (vgl. Hocke 1959); und fixiert ist. Dagegen gilt es einen „symboli-
auch moderne Autoren (Zürn 1954; Pastior schen Tausch“ im Innern des G eschriebenen
1985; Thomkins 1986) nutzen das Anagram- zu praktizieren, der durch drei Verfahrens-
matisieren, um sich von kombinatorischen weisen charakterisiert ist: erstens durch eine
Effekten des G eschriebenen verzaubern zu gezielte Dissemination der sprachlichen Zei-
lassen, manchmal bis an die G renze verrück- chen, deren repräsentierende Identität aufge-
ter Halluzinationen. Unica Zürn (1982, 18) löst und ex-terminiert wird, um mit den ein-
stellt die Orakelfrage: „Werde ich dir einmal zelnen Partialobjekten ein poetisch genußrei-
begegnen?“ — und das fünffache Anagramm ches Spiel zu ermöglichen, das Texturen pro-
dieses Satzes gibt ihr die Antwort: duzieren läßt, in denen der aufgelöste Signi-
Nach drei Wegen im Regen bilde fikant vernichtet und auffindbar ist, dissemi-
im Erwachen Dein Gegen-Bild: Er — nales Trugbild und seminale Spur; zweitens
der Magier! — Engel weben dich in durch die Mißachtung und Aufhebung des
den Drachenleib. — Ringe im Wege — linearen Charakters sprachlicher Äußerun-
lange, beim Regen, werd ich Dein. gen, deren Reversibilität sich jener linguisti-
Anagrammatische Praktiken haben nicht schen Strukturation entzieht, die, bezogen auf
nur in der Literatur zu verwunderlichen Ent- den Signifikanten als primär lautlicher Er-
deckungen geführt. Auch die philosophische scheinung, der Zeit unterliegt und unumkehr-
Reflexion der Sprache spielte anfänglich mit bar ist; drittens schließlich durch die Be-
der Möglichkeit, Buchstaben umzustellen und schränkung auf einen begrenzten Corpus des
Wortkörper zu anagrammatisieren, um der G eschriebenen, der sich nicht in der grenzen-
Spur ihrer Herkunft und ursprünglichen Be- losen Produktion von Signifikanten-Material
deutung folgen zu können. Wie ein inspirier- austobt, sondern sich kontrolliert und be-
ter „Begeisterter“, der „Orakel“ von sich zu scheidet, um in einem Prozeß exakter Kon-
geben scheint (396 d), durchforscht der na- sumtion und zyklischer Auflösung poetisch
menkundige Sokrates in Platons „Kratylos“ oder symbolisch wirksam sein zu können. —
zahlreiche Wörter, um anagrammatisierend Als Beispiel einer „sekundären“ Funktion der
ihre kunstreiche Richtigkeit zu demonstrieren Schrift entfaltet das Anagramm eine materi-
(vgl. G eier 1986). Ein „ganzer Schwarm alter elle Stärke und Kraft, die gegen die „primäre“
Weisheit“ taucht auf, auch wenn Sokrates Repräsentationsfunktion der Schrift ihr Veto
davor warnt, diese Wortspiele allzu ernst zu einlegt, um den Fluß des Sprechens anzuhal-
nehmen: „Lächerlich ist es freilich zu sagen, ten und die poetischen Energieströme im sym-
aber ich glaube doch, es hat seine Wahr- bolischen Tausch geschriebener Elemente zir-
scheinlichkeit“ (402 a). — Diese Spannung kulieren zu lassen.
zwischen Lächerlichkeit und Wahrscheinlich-
keit kennzeichnet auch die berühmt-berüch-
tigten Anagrammstudien Saussures, der zahl- 4. Schriftbilder
reiche poetische Texte anagrammatisch zu
entziffern suchte, indem er in ihrer manifesten Ein ähnlicher Einspruch, der den Raum der
Erscheinung immer wieder zersplitterte Wort- beharrlichen Schrift gegen die zeitliche Linea-
körper freizulegen versuchte, „einen latenten rität des verklingenden Lautzeichens zu retten
Hintergrund, ein verborgenes G eheimnis, eine versucht, wird sichtbar im Formenreichtum
Sprache unter der Sprache“ (Starobinski der visuellen Poesie. Sammlungen und Sich-
1980, 130; vgl. Wunderli 1972). Angeregt tungen dieser schriftkünstlerischen Praxis, die
durch Saussures graphemische Bastelei hat kulturgeschichtlich mit der G eburt des G ra-
Toporov (1981) sich den Ursprüngen indo- phismus beginnt und bis zu den visuellen
europäischer Poetik zugewandt und demon- Textexperimenten der konkreten und nach-
striert, wie das Poetische in einem Rahmen konkreten Literatur reicht, finden sich in vie-
schriftlicher Operationen entstanden ist, die len Arbeiten (Massin 1970; Dencker 1972;
Wortkörper zerstören und neuschöpfen und Ernst 1976; Weiss 1984; Faust 1987; Adler &
in einem „G rundmythos“ von göttlicher Op- Ernst 1987; Ernst 1991). Die materielle Kör-
ferung und Wiederauferstehung fundiert sind. perlichkeit der Schriftzeichen hat immer
Die dekonstruktive Brisanz des Anagram- schon Techniken einer figurativen Kunst pro-
matisierens hat Baudrillard (1982, 297—361) voziert, die das Schriftzeichen in seiner gra-
verdeutlicht, verbunden mit einer radikalen phischen G estalt ästhetisch ernstnimmt (→
Kritik an jenem linguistischen Denken, das Art. 14). Auch wenn die Schrift nicht älter ist
55.  Sekundäre Funktionen der Schrift 683

als die Sprache, so sind sekundäre Funktio-


nen doch älter als die Subordination des G ra-
phismus unter die Ansprüche des Hör-Sinns.
Der reiche Schatz figurativer Schriftkunst,
der in frühen asiatischen und orientalen
Hochkulturen gefunden wurde und in der
griechisch-römischen Antike einen ersten Hö-
hepunkt erreicht hat, ließ deshalb die berech-
tigte Frage stellen, „ob nicht westliche und
östliche Formen der visuellen Poesie eine ge-
meinsame Wurzel in dem Bestreben des früh-
zeitlichen Menschen haben, Welterfahrung in
einem Schrift und Bild umgreifenden synthe-
tischen Medium auszudrücken“ (Adler &
Ernst 1987, 21). Auf diese Frage gaben die
Untersuchungen von Leroi-G ourhan (1980,
237 ff, 387 ff) eine positive Antwort, der die
ersten auffindbaren Spuren eines graphischen
Symbolismus (etwa 50 000 Jahre vor unserer Abb. 55.2: „Poesis artificiosa“ (Pachasius 1674),
Zeit) als Ausdruck rhythmischer Werte gele- in: Adler & Ernst 1987, Text als Figur, Weinheim,
sen hat, die selbständig sind gegenüber der 168
phonetischen Sprache und sich in einem
Schriftraum realisieren, der eine symbolische decken müssen, was in ihnen repräsentiert
„Domestikation“ menschlicher Welterfah- erscheint.
rung erlaubt. Radikaler als die Vertreter der konkreten-
Unübersehbar ist, daß diese frühzeitliche visuellen Poesie verfuhren die Schriftkünstler
Intention des homo sapiens auch in jenen der klassischen Moderne. Indem sie G eschrie-
Schriftkulturen wachgeblieben ist, die sich benes als zivilisatorisches Abfallprodukt für
den Anforderungen einer Repräsentation ihren bildnerischen G estaltungswillen verwer-
lautlich mitteilbaren Sinns unterworfen ha- teten, befreiten sie es nicht nur aus seiner
ben. Sie konstituiert eine eigenständige Tra- phonographischen Funktionalität, sondern
dition von Schrift-Bildern, deren Erschei- weitgehend auch von seinem semantischen
nungsweise äußerst vielfältig ist und von G ehalt. Schriftmaterial wurde als solches ins
einem großen ästhetischen Erfindungsreich- Bild integriert. Als kontingentes Faktum einer
tum zeugt. Der Bogen reicht von hierogly- Kultur, die von einer Ökonomie der Über-
phischen Intextbildungen nach Art eines Me- produktion von Schriftmüll beherrscht zu
sostichons (im horizontal lesbaren Text ver- werden droht, liegt es im Bereich der Hände
birgt sich zugleich ein vertikal zu lesender und kann benutzt werden wie jedes andere
Text) über Technopägien (griech. Umrißge- Realitätspartikel.
dichte, welche die Konturen eines G egenstan- Bereits in den Collagen des „synthetischen“
des abbilden), mittelalterliche carmina figura, Kubismus, in frühen Werken von Picasso und
Vexierbilder, Kreuzwortlabyrinthe und G it- Braque, dann auch bei G ris, als es nicht mehr
tergedichte bis hin zu den Seh-Texten der kon- um die „analytische“ Zerlegung, Schichtung
kreten Poesie. So versteht G omringer (1974, und Überschneidung gegenstandsbezogener
93) seine „Konstellationen“ als eine G ruppie- Bildsegmente, sondern um einen formalen
rung von wenigen Worten, „so daß ihre ge- Neuaufbau des Bildes aus größeren, flächen-
genseitige beziehung nicht vorwiegend durch haften Elementen ging, wurden bedruckte Pa-
syntaktische mittel entsteht, sondern durch pierstücke als Bildelemente benutzt, bevor-
ihre materielle, konkrete anwesenheit im sel- zugt Zeitungspapier. Schon 1910 finden sich
ben raum“ (vgl. auch G omringer 1977). Die gemalte Druckbuchstaben oder Ziffern in der
minimalistischen Arbeiten G appmayrs haben abstrakten Bilderwelt der Kubisten, bald dar-
diesen Anspruch konsequent in Form von auf auch zerstückelte Wortmalereien von
„Zeichen“ (1962—1970) und „Texten“ (1978) Journalen oder Plakaten. Braques „Stilleben
gestaltet, deren Worte und Zahlen vor dem mit Fruchtschale und G las“ vom September
Leser wie G egenstände stehen, die in ihrer 1912 gilt als Erstlingswerk der „papiers col-
visuellen Präsenz sich durchaus nicht mit dem lès“, in denen Schriftzeichen als G estaltungs-
684 V. Funktionale Aspekte der Schriftkultur

material eingewoben sind (vgl. zur G eschichte Korrespondenzen sichtbar werden läßt, die
der Collage Wescher 1980).
Während die beschrifteten Papiere in die-
sen kubistischen Schriftbildern meist nur dazu
dienten, die Wirklichkeit, wie sie in den
Druckerzeugnissen der Presse fixiert ist, in der
abstrakt gewordenen Bildwelt „anklingen“ zu
lassen, kommt ihnen innerhalb der futuristi-
schen Collage eine stärker politische, agita-
torische Rolle zu. „Die Wirklichkeit der ak-
tuellen Stunde, das von den Futuristen ver-
herrlichte moderne Leben, brach dank des
Schlagzeilen- und Schlagwort-Charakters auf
aufgeklebten und gewissermaßen plakatierten
Textfragmente in die Welt der Bilder ein“
(Schmalenbach 1967, 94). Die eingefügten
Schriftfragmente gehen neuartige thematische
Verbindungen und Beziehungen ein und wer-
den in den Bewegungsrausch der futuristi-
schen Bilder eingezogen.
Begeistert nahm die dadaistische Bewegung
diese Impulse auf. Bereits für die 1. Dada-
Soiree, 14. 2. 1916 im Züricher Zunfthaus zur
Waag, steht Arp mit „Erläuterungen eigener
Werke“, bei denen es sich um „Papierbilder“
handelt, auf dem Programm. Die dynamische
Ästhetik der Futuristen kann jedoch nicht
mehr begeistern. Die dadaistische Inszenie-
rung lebt stattdessen von einem anarchischen
Überlebenswitz, der mit den heterogenen
Bruchstücken einer sich zerstörenden Zivili- Abb. 55.3: Kurt Schwitters: Merzzeichnung 83 /
sation sein Spektakel treibt. Auch schriftliches Zeichnung F (1920), in: Schmalenbach 1967, K.
Material wurde benutzt als Überbleibsel eines Schwitters, Köln
gesellschaftlichen Zerfalls, der die Schriftkul- mimetisch die Zerstörungen beschwören und
tur zum Müllhaufen werden ließ. zugleich überwinden wollen. „Kaputt war so-
Die Schriftbilder des MERZ-Künstlers wieso alles, und es galt, aus den Scherben
Schwitters folgen dieser Tendenz auf eigen- Neues zu bauen. Das aber ist Merz.“ (zit.
willige Weise. Sie sind frei vom Telos gegen- nach Schmalenbach 1967, 99; vgl. G eier 1980;
ständlicher Abbildung, vom Wunsch nach ex- vgl. Abb. 55.3).
pressivem Ausdruck, von der Intention auf Die semiologische Entleerung des aufgele-
politischen Sinn. Schwitters sammelt, nagelt senen Schriftmaterials zu einer graphischen
und klebt. Besonders bedrucktes Papier jeg- Marke, sein Festkleben als bloßes Diesda, das
licher Herkunft dient ihm als Material: Fahr- in seiner Präsenz unmittelbar optisch aufge-
scheine, Zeitungsausschnitte, Lebensmittel- nommen wird, ohne zu einer Lektüre zu ver-
karten und Rechnungen, G arderobenquittun- führen, versteht sich als eine künstlerische
gen und adressierte Briefumschläge. G anz Rettungsaktion, welche die Schrift als solche
oder zerrissen, geglättet oder zerknittert, zu- materialistisch bewahren will, und sei es auch
geschnitten oder zerfasert werden all diese nur in G estalt jener verbrauchten und ver-
Fundstücke fürs Bild verwendet und gegen- gammelten Überbleibsel, die für Schwitters
seitig „gewertet“. Und doch dient auch diese eine „unerhörte Magie“ ausstrahlten, als „le-
Verwertung von Schriftresten als Bildmaterial bendige, geisthaltige, machthaltige Körper, in
noch einer Art von „magischer“ Beschwö- denen gleicherweise Leben und Tod hausten“
rung. Im Müll der kaputtgegangenen Schrift- (Schmalenbach 1967, 117). Mit anderen Wor-
kultur findet sich das sinnlos gewordene Ma- ten: noch im Zustand seiner katastrophalen
terial zum Aufbau eines Neuen, das durch Zerstörung bleibt der Schriftkörper ein Fun-
ästhetische Wertung seiner Teile graphische dus, in dem das mimetische Vermögen neue,
55.  Sekundäre Funktionen der Schrift 685

lebendige Korrespondenzen zum Vorschein —. 1986. Anagramme. In: G eier, Manfred, Lin-
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687

VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit


Social Aspects of Literacy

56. Orthographie als Normierung des Schriftsystems

1. Kalligraphie und Orthographie steht nie im Ruf des Künstlers, allenfalls in


2. Der orthographische Mythos dem des Beckm essers. Rechtschreiblektionen
3. Das phonematische Prinzip sind die von Schülern und Lehrern gleicher-
4. Verschriftung und Grammatik: das morphe- m aßen gehaßten Obligationen der Einfüh-
matische Prinzip rung in den Gebrauch der Alphabetschrift.
5. Majuskel, Minuskel, Interpunktion und Satz Staat freilich ist m it der Erfüllung der Norm
6. Schreibschrift und Druckschrift: die Digitali- nicht zu m achen, doch verfehlt m an sie, so
sierung der Schrift blam iert m an sich. In der Kalligraphie beweist
7. Typographie: Konventionalisierung des Al- m an Geschm ack, in der Orthographie m acht
phabets man Fehler.
8. Regulativer und funktionaler Sinn orthogra- Einen orthographischen Fehler nennt m an
phischer Normen die Abweichung von einer geltenden Regelung
9. Literatur der Schreibweise von Wörtern oder Sätzen.
Darunter werden Sachverhalte gefaßt wie
(BF) die Abweichung von einer bestim m ten „vor-
1. Kalligraphie und Orthographie geschriebenen“ Buchstabenfolge: fogel statt Vogel,
Mor statt Mohr oder Moor, Maschiene statt Ma-
Wie die Kalligraphie zum Prinzip der Ideo-
schine, nummerieren statt numerieren;
graphie, so gehört die Orthographie intrin-
(GZ) die Zusam m enschreibung anstelle erwarteter
sisch zur Alphabetschrift. Während jedoch
Getrenntschreibung und vice versa: infrage statt in
der Begriff jener klar um rissen scheint, m uß
Frage, Monitor Anschluß statt Monitoranschluß, ir-
der der Orthographie gegen eine Mythenbil-
gendetwas statt irgend etwas;
dung freigelegt werden, die wiederum m it dem
(GK) die Verwendung von Minuskeln anstelle von
Prinzip der Alphabetschrift aufs innigste ver-
regulär erwarteten Majuskeln und vice versa: karl
bunden ist.
statt Karl, das singen statt das Singen, Trotzdem
Kalligraphie ist die ästhetische Individua-
statt trotzdem; schließlich
lisierung des konventionellen Sinns, der m it
(I) ein von „der Norm “ abweichender Gebrauch
einem Ideogram m verbunden ist. Ihre Werk-
von Interpunktionszeichen wie Kom m a, Anfüh-
zeuge sind Tusche, Pinsel und Papier, ihre
rungszeichen, Klammern usw.
Dom äne som it die Schreib- bzw. Kursiv-
schrift. Die Variation des ideographischen Nicht als orthographische, sondern als gram -
Schem as, die Reduktion der Graphie bis auf m atische Fehler gewertet werden dagegen Ab-
ein Minim um an Differenzen, das es dem weichungen wie wegen den statt wegen des/
Schriftkundigen noch im m er erlaubt, aus der dem oder ein Sack statt einen Sack o. ä., ob-
m it den Spuren des Pinselstrichs m arkierten wohl sie als Fälle von (BF) interpretierbar
Geste das Zeichen zu entschlüsseln, fordert wären. Gram m atische Wohlgeform theit eines
über die graphischen Analogien die Einbil- schriftlichen Ausdrucks ist offensichtlich auf
dungskraft des Lesers heraus, den Spuren auf einer anderen, und zwar grundlegenderen
selbstgewählten Wegen nachzugehen. Die Ebene definiert als orthographische. Das Re-
Schrift wird wieder in das Bild integriert, den über orthographische Sachverhalte setzt
stillschweigend die gram m atische Wohlge-
nicht als Unter-, Über- oder Nebenschrift, form theit der betrachteten Ausdrücke je
sondern als in dessen Sym bolik einbezogene schon voraus. Und in der Rede über Gram -
Graphie (→ Art. 14). m atik ist die Orthographie in der Regel ge-
Anders die Orthographie. Ihr Nim bus ist schenkt. Mithin stellt sich die Frage nach dem
denkbar schlecht. Der Orthographiekundige Bezugssystem , welches die Grundlage bildet
688 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

für die Definition dessen, was m an orthogra- Logik und Gram m atik, doch geht es in der
phische Korrektheit, Wohlgeform theit oder Orthographie nicht wie in der Gram m atik um
Richtigkeit nennt. die notwendigen, sondern gerade um die hin-
reichenden Bedingungen der Lesbarkeit von
Wörtern und Sätzen, weil eben orthographi-
2. Der orthographische Mythos sche Wohlgeform theit eines Ausdrucks die
Orthographie betrifft nach herrschender Auf- gram m atische zwingend voraussetzt. Ob
fassung (Nerius et al. 1987, 18 ff) nur die angst groß oder klein zu schreiben ist, eng-
Form schriftsprachlicher Ausdrücke, ihre Do- lischsprechend getrennt oder zusam m en, ob ur
m äne scheint som it der signifiant, nicht der oder uhr gem eint ist, läßt sich je nur aufgrund
signifié. Dies erm öglicht handliche Unter- des syntaktischen Kontextes entscheiden. Auf
scheidungen zwischen „geschriebener Spra- der Ebene der hinreichenden Bedingungen der
che“, welche Ausdruck und Bedeutung um - Lesbarkeit aber bildet — hierin knüpft Saus-
faßt, „Schreibung“ bzw. Graphie, die Produk- sure explizit an die sprachphilosophische Tra-
tion der „Form seite“ der geschriebenen Spra- dition an — das signe linguistique eine un-
che, und schließlich der „Schrift“ als des tech- trennbare Einheit. Die skizzierte Auffassung
nischen Mittels der Schreibung. Die Ortho- von Orthographie m uß einen Kategorienfeh-
graphie konstituierenden Grundsätze sind ler enthalten: Entweder gilt das Arbitraritäts-
dieser Auffassung gem äß (1) der arbiträre prinzip, dann kann es keinen im signifiant des
Charakter orthographischer Norm en, (2) der gesprochenen Wortes liegenden Grund für
Prim at des phonem atischen Prinzips. Legiti- den Vorrang dieser oder jener Schreibweise
m iert werden orthographische Norm en m it geben, oder aber es gilt das phonem atische
der Notwendigkeit einer Vereinheitlichung Prinzip, dann ist die Wahl der zu schreibenden
des Schriftgebrauchs, ohne die eindeutige Les- Buchstabenfolge ausschließlich eine Frage der
barkeit des Geschriebenen nicht gewährleistet korrekten phonem atischen Analyse des be-
sei. Sie gelten als konventionelle Regelungen, treffenden Ausdrucks. Phonem atisches Prin-
die von befugten Autoritäten festgelegt und zip und konventionelle Geltung der orthogra-
m odifiziert werden können, als Regeln m ithin phischen Kodierung sind m iteinander nicht
in dem von Black beschriebenen regulation- kom patibel. Insofern handelt es sich bei dieser
sense (Black 1962, 109 ff). Orthographiere- Auffassung von Orthographie, die intrinsisch
form wird folglich gedacht als Kodifizierung m it der Existenz von Institutionen wie Duden,
von durch Expertenkom m issionen erarbeite- Académ ie française o. ä., verbunden ist, um
ten Vorschlägen. einen Mythos in dem Ryle beschriebenen Sinn
Grundlage aller Regelungen ist der com- (Ryle 1963, 17 ff).
munis opinio gem äß, die hierin noch im m er Zweifellos aber existiert für jeden Schrift-
dem spätestens bei Adelung kodifizierten kundigen gleich welcher alphabetisierten
Deutungsschem a von Orthographie folgt Sprache eine m ehr oder weniger scharfe
(Nerius et al. 1987, 79 ff; Adelung [1971] II, Grenzziehung zwischen akzeptierten und nicht
661 ff), vor allem das phonem atische Prinzip, akzeptierten Schreibweisen, wobei der Spiel-
dem zufolge die Wahl des jeweils zu schrei- raum , innerhalb dessen Schreibalternativen
benden Buchstaben vom „entsprechenden„ akzeptiert werden, bezüglich der o. g. Berei-
Laut des gedachten Ausdrucks abhängt. che offenkundig variiert. Im Deutschen ist er
Schreiben wird in dieser Tradition als Funk- bei der Groß- und Kleinschreibung, insbeson-
tion gedeutet, welche die Elem ente der Defi- dere aber bei der Getrennt- und Zusam m en-
nitionsm enge {Buchstaben} auf die der Wer- schreibung offenkundig größer als bei der In-
tem enge {Laute/Phonem e} abbildet. „Beim terpunktion oder Buchstabenfolge, denn diese
Erlernen der Schrift wird der Lernende so kann kontextunabhängig durch Listen, also
vorgehen, daß er die anzuzeigenden Schrift- extensional geregelt werden. Notwendig ist
zeichen auf lautliche Gegebenheiten der ge- dam it eine Interpretation von „Ortho-Gra-
sprochenen Sprache bezieht“ (Nerius et al. phie“, die diesem Faktum Rechnung trägt,
1987, 79). ohne in den beschriebenen Kategoriefehler zu
So selbstverständlich diese Auffassung auf verfallen. Im Rahm en einer Theorie der Or-
den ersten Blick scheint, sie ist eine vom Prin- thographie ist som it ebenso eine Klärung des
zip der Alphabetschrift erzeugte Illusion. phonem atischen Prinzips gefordert wie eine
Denn die Unterscheidung von signifiant und Klärung des konventionellen Charakters der
signifié ist eine Abstraktion, welche zwar die Orthographie. So klar die Unterscheidung
form ale Behandlung von Sprache erm öglicht, von Graphie und geschriebener Sprache
56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems 689

scheint, so unklar ist sie, und m an tut gut tung des m it dem griechischen Alphabet voll-
daran, sich dem Phänom en vom eingebürger- zogenen Schritts in Kontrast zur phönizischen
ten Gebrauch des Wortes Schrift her zu nä- Schrift war also noch gegenwärtig (Kratylos
hern. 424 c ff, Theaitetos 202 e ff). Die Unterschei-
dung von Konsonant und Vokal, in allen Dar-
stellungen dieser Entwicklung wie selbstver-
3. Das phonematische Prinzip ständlich als Kategorieninventar vorausge-
Unm ittelbar einsichtig ist aus den eingangs setzt, ist freilich erst durch eben diese Ent-
angeführten Beispielen der intrinsische Zu- wicklung erzeugt worden — m it allen schon
sam m enhang von Orthographie und Alpha- von Platon referierten Schwierigkeiten der
bet. Am Anfang einer jeden adäquaten Theo- Unterscheidung von Vokalen und Halbvo-
rie der Orthographie m uß daher die Interpre- kalen, Konsonanten und Sonanten, Halbvo-
tation der Relation von geschriebenem und kalen und Sonanten usw.
gesprochenem Wort stehen, m . a. W. der Sta- Resultat der Verschriftung griechischer
tus des phonematischen Prinzips. Dialekte ist ein die genannten Buchstaben-
kategorien um fassendes Alphabet, das von
Übereinstim m ung besteht darin, daß sich der Literatur übereinstim m end als das erste
das in Europa seit Beginn des 1. Jahrtausends „vollständige“ Alphabet in der Evolution der
v. Chr. gebräuchliche Alphabet durch die Menschengattung beschrieben wird (Földes-
Übertragung der phönizischen Konsonanten- Papp 1984, 143 ff; Haarm ann 1990, 282 ff).
schrift auf das Griechische herausgebildet hat Doch gehört auch diese Deutung zum Inven-
(Heubeck 1979, 73 ff). Wenn dieser Prozeß tar des orthographischen Mythos. Denn das
selbst auch weitgehend unbekannt und nur einzige Kriterium , von dem her die hier er-
durch wenige Dokum ente belegt ist, so ist reichte Analyse des gesprochenen Wortes als
doch klar, daß das entscheidende Mom ent hinreichend beurteilt werden konnte, war die
hierbei die strukturellen Differenzen zwischen Lesbarkeit der m it diesem Repertoire ge-
sem itischem und indoeuropäischem Sprach- schriebenen Wörter. Und „vollständig“ war
typus gewesen sind (→ Art. 20, 25). Die Sil- das griechische Alphabet nur insofern zu nen-
benstruktur der sem itischen Sprachen er- nen, als — nach einigen Ergänzungen wie Φ
laubte es, m it einem heute als „Konsonanten- oder Ω — alle griechischen logoi m it ihm so
schrift“ bezeichneten Schriftsystem Texte die- geschrieben werden konnten, daß jeder Aus-
ser Sprachen für den Leser hinreichend lesbar druck von jedem anderen an der betreffenden
zu schreiben, weil die zu interpolierenden „vo- Stelle nicht zu l e s e n d e n hinreichend eindeu-
kalischen“ Elem ente in der Regel aus dem tig zu unterscheiden war. Man hat die pho-
Kontext zu erschließen waren. Diese Konso- nem atische Analyse nicht weiter getrieben als
nantenschrift war strukturell also noch eine es für diesen Zweck notwendig war, warum
Silbenschrift, auch wenn das Buchstabenre- sollte m an auch. Bekanntlich läßt sich ja das
pertoire sich schon in der Größenordnung des Phonem seinerseits als Kom plex distinktiver
späteren Alphabets bewegte. Merkm ale darstellen. Relevant für die Defi-
Griechische Wörter waren m it diesem nition des Alphabets war indessen allein die
Schriftsystem nicht eindeutig zu schreiben. bedeutungsdiskri m inierende Funktion der
Ihre Silbenstruktur kannte sowohl die Anein- durch Buchstaben repräsentierten Wortseg-
anderreihung m ehrerer konsonantischer Ele- m ente, also etwas, das nicht sinnlich wahr-
m ente — anér, andros, ... — als auch das nehm bar, sondern allein verstehbar war und
Auftreten derselben Konsonantengruppe in ist. Funktionen sind abstrakte Entitäten,
verschiedener vokalischer Um gebung. Dies nichts sinnlich Gegebenes. Im Prinzip des Al-
zwang zu einer Analyse und zu einer Reprä- phabets realisiert sich eine Weise schriftlicher
sentation der Binnenstruktur der Silbe bis zu Artikulation des Gedachten, die dem Prinzip
einem Grad, der es gestattete, m it einem der doppelten Artikulation der Rede analog
m odifizierten „phönizischen“ Repertoire nun ist, ohne diese doch abzubilden (Maas 1985 a,
auch griechische Wörter eindeutig lesbar zu 7 f). Hieraus folgt ein für das Verständnis von
schreiben, und dieser Grad bestand darin, Orthographie wesentlicher Grundsatz: Buch-
Werte für nichtkonsonantische Silbenseg- staben werden und wurden erst recht nicht
m ente durch diskrete Zeichen darzustellen. bei der Entwicklung des Alphabets dazu ver-
Noch Platon spricht geradezu form elhaft von wendet, Laute zu bezeichnen, sondern a u s-
der Darstellung des Gem einten (legomenon) s ch l i e ß l i c h dazu, l e s b a r e W ö r t e r o d e r
durch „Silben und Buchstaben“; die Bedeu- Tex t e z u s ch r e i b e n. Für Hum boldts De-
690 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

finition der Schrift ist eben dieser Gedanke krete, für sich wahrnehm bare Zeichen. Erst
leitend: in dieser Projektion gewinnt „der“ Laut seine
„Unter Schrift im engsten Sinne kann m an nur Bestim m theit. Orientiert an der System atik
Zeichen verstehen, welche bestim m te Wörter in be- der kantischen Ästhetik hatte Hum boldt dies
stim m ter Folge andeuten. Nur eine solche kann bereits klar gesehen: Die Buchstabenschrift,
wirklich gelesen werden. Schrift im weitläufigsten so beschreibt er deren Rückwirkung auf die
Verstande ist dagegen Mittheilung blosser Gedan- Sprache, läutere und erhöhe deren sinnlichen
ken, die durch Laute geschieht.“ (GS V, 34.) Ausdruck, „indem sie den im Sprechen ver-
Erst Schrift „im engsten Sinne“ kann der sub- bundenen Laut in seine Grundtheile zerlegt,
sidiären Interpretation durch die parole, d. h. den Zusam m enhang derselben unter einan-
durchs Vorlesen entraten. Ihr ist der m itge- der, und in der Verknüpfung zum Wort an-
teilte Gedanke ohne diesen „Um weg“ zu ent- schaulich m acht, und durch die Fixierung vor
nehm en. Daraus resultiert eine weitere Kon- dem Auge auch auf die hörbare Rede zurück-
sequenz für die Interpretation des phonem a- wirkt.“ (GS V, 114). Wenn das phonem atische
tischen Prinzips: Die Fixierung des Alphabets Prinzip also einen Sinn haben soll, dann m eint
ist nicht als Prozeß zu verstehen, durch den es nicht die Bezeichnung von Phonem en durch
Buchstaben auf „Laute“ abgebildet wurden. Buchstaben, sondern vielm ehr die rekursive
Das Gegenteil ist der Fall. Eine historisch Definition des m ündlichen durch das ge-
greifbare Analogie liefert die Verschriftung schriebene „Elem ent“ und dam it die Aufzäh-
der althochdeutschen Dialekte. Diese wurde lung einer Graphem m enge von hinreichender
bekanntlich durch Mittellatein schreibenden kom binatorischer „Mächtigkeit„. Diese steht
und sprechende Mönche geleistet. Die Ver- am Beginn jeder Verschriftung eines Dialekts
schriftung eines nur oral existierenden Dia- durch eine Alphabetschrift. Im phonem ati-
lekts kann im m er nur von einer beherrschten schen Prinzip ist som it ein Konstitutionsprin-
Schriftsprache her geschehen. Die Verschrif- zip der Alphabetschrift benannt, keineswegs
tung etwa des im 10. Jahrhunderts gespro- aber ihr grundlegendes Funktionsprinzip.
chenen Altfränkischen erforderte daher zu-
nächst eine Assim ilation der zu schreibenden
Ausdrücke an die betreffende „m ittellateini- 4. Verschriftung und Grammatik:
sche“ Aussprache, um sie überhaupt m ittels das morphematische Prinzip
des lateinischen Alphabets gem äß den für das
Schreiben m ittellateinischer Texte geltenden Mit der Ausbildung des griechischen Alpha-
Analogien verschriften zu können, erforderte bets ist die Entwicklung der griechischen
also ein „latinisierendes“ Buchstabieren des Schrift und der Alphabetschrift überhaupt
zu schreibenden fränkischen Ausdrucks (vgl. keineswegs im Prinzip abgeschlossen, sie be-
Rädle 1974, 222). Ein analoger Vorgang wie- ginnt vielm ehr erst dort. Erst nach und nach
derholt sich in jedem ontogenetischen Erwerb werden die in diesem Schrifttypus angelegten
der Alphabetschrift in Form eines speziell da- Möglichkeiten erschlossen. Im Rahm en eines
für ausgebildeten Sprachspiels, das der Di- sich beständig differenzierenden Gebrauchs
daktiker „Lautieren“ nennt. Die Kinder ler- der Alphabetschrift bildet sich allererst das
nen, das gesprochene Wort, z. B. in, bei „lang- heraus, was m an „Orthographie“ nennen
sam er und deutlicher“ Aussprache in „seine„ kann und spätestens im Hellenism us dann
Elem ente i + n zu „zerlegen“ — als Vorbedin- auch so genannt hat (Quintilian, I 7, 1) — im
gung dafür, das geschriebene Wort entspre- Zuge einer allm ählichen Gram m atikalisie-
chend dieser „Laut-Analyse“ — welche na- rung und Logisierung der Schriftsprache.
türlich vom Schriftkundigen anhand des ge- Dies hängt m it drei Entwicklungsstadien der
schriebenen Wortes konstruiert wurde — Alphabetschrift zusam m en: (1) m it der Ent-
schreiben zu können. Solches ist aber nicht wicklung von Kursivschriften, (2) m it der Dif-
die Bezeichnung der Laute dieses Ausdrucks ferenzierung von Majuskeln und Minuskeln
durch Buchstaben, vielm ehr die Abbildung als Folge von (1), (3) m it der parallel dazu
von bedeutungsdiskrim inierenden Fragm en- verlaufenden Ausbildung einer Interpunk-
ten des gesprochenen Worts auf die Menge tion.
der Buchstaben des jeweils verwendeten Al- Auch das gegen die Kapitalschrift sich aus-
phabets. Man projiziert für sich allein sinnlich prägende Phänom en der Kursivschrift wird in
nicht wahrnehm bare, weil kontinuierliche der Literatur kaum seiner Bedeutung gem äß
Fragm ente des gesprochenen Worts auf dis- erfaßt (→ Art. 12). Der herrschende Topos
spricht vom Verfall der harm onischen Pro-
56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems 691

portionen der Kapitalen im flüchtigen Ge- daraus, daß alle Elem ente des Buchstabenre-
brauch des Alltags. Doch liegt der phäno- gisters einer gedachten oder auch vorgezeich-
m enologisch relevante Tatbestand gerade in neten Folge regelm äßiger Rechtecke einzu-
dieser Flüchtigkeit. Mit der „kursiven“ Ver- schreiben waren. Stein ist für solche Inschrift
bindung von Buchstaben wird die Nichtver- natürlich das ideale Substrat (→ Art. 12).
bindung zum Zeichen, das anstelle von Son- Die Kursivschrift des alltäglichen Ge-
derzeichen wie vertikaler Strich oder Punkt brauchs hebt entsprechend ihrem internen
zur Andeutung von Wortgrenzen verwendet Prinzip diese Buchstabenform atierung teil-
werden kann und zunehm end verwendet wird. weise wieder auf. In flüchtiger Schreibung
Mit der Kursivschrift wird, m . a. W., das m or- tauchen zunächst unsignifikante Ober- und
phem atische Prinzip der Alphabetschrift ex- Unterlängen auf. Dam it wird der Schreibbe-
teriorisiert, und da es in diesem Schrifttypus reich in vorerst noch undefinierte Räum e er-
das phonem atische im pliziert, konnte es auch weitert, die ihrerseits jedoch im Zuge der
erst nach diesem in eine Schreibkonvention Schriftentwicklung gegenüber dem bereits
ausgelagert werden. Hierm it beginnt eine festgelegten Mittelbereich als Ober- bzw. Un-
gram m atische Bearbeitung der Sprache, die terzone form atiert werden. Über die Kapital-
in rein oralen Sprachgem einschaften undenk- kursive und Halbunziale führt dies zur Aus-
bar wäre. Mit der Entwicklung des Schreib- bildung der Minuskel, gegen die nunm ehr das
system s „... Wortlücke — Buchstabenverbin- traditionelle Register den Wert der Majuskel
dung — ... — Buchstabenverbindung — annim m t und zum m arkierten Fall wird, der
Wortlücke ...“ wird die Alphabetschrift zum zur Schreibung von Text- und Satzanfängen,
Medium der rekursiven Definition des Wortes später dann zur Indizierung von Eigennam en
als gram m atischer Kategorie, so wie m it dem usw. verwendet wird. Dam it ist innerhalb der
elem entaren Schreibsystem „... — Buchstabe Alphabetschrift eine weitere Differenz aus-
— Buchstabe — Buchstabe — ...“ bereits die gebildet, die es nunm ehr gestattet, nicht nur
bedeutungsdifferenzierenden Ele
m ente der das Wort selbst nach dem Prinzip der Bedeu-
Schriftsprache rekursiv definiert worden tungsdifferenzierung zu schreiben und form al
waren. Beleg dafür ist die „ausgeschriebene„ zu kennzeichnen, sondern auch bestim m te
Handschrift, die jeder routinierte Schreiber im Wörter entsprechend ihrer syntaktischen Po-
Laufe seines Lebens ausbildet. In ihr werden sition oder ihrem sem antischen Wert auszu-
die vom phonem atischen Prinzip geforderten zeichnen. Resultat dieser Entwicklung ist eine
Differenzierungen der Wortgestalt bis auf ein Schrift, der es in der Kom bination ihrer ver-
Maß reduziert, das im Festhalten der m or- schiedenen „Register“ gelingt, das Auftreten
phem atisch relevanten Strukturen die Lesbar- von Hom onym en weitestgehend zu verhin-
keit des Geschriebenen noch eben gewährlei- dern und selbst Polysemien zu kennzeichnen.
stet. So ist sie der ontogenetisch je wieder Spätestens m it der Etablierung der m ittel-
austarierte Kom prom iß zwischen der Indivi- alterlichen Minuskelschriften stehen daher
dualisierung des Wortes durch den Schreiber m it der festgelegten Buchstabenfolge, m it der
und den kognitiven Anforderungen der Le- Getrennt- und Zusam m enschreibung und m it
sergemeinschaft. der Groß- und Kleinschreibung drei der ein-
gangs genannten vier konstitutiven Elem ente
der späteren Orthographie bereit. Parallel
5. Majuskel, Minuskel, dazu bildet sich schon seit der Antike die
Interpunktion und Satz Interpunktion m it Punkt und Kolon heraus.
Gelegentlich hat m an die geom etrische Pro- Seit dem 15. Jahrhundert treten Sem ikolon,
portionalität der griechischen Buchstaben Kom m a, Ausrufezeichen, Anführungszeichen
gegen das „schlechte Form niveau“ der phö- usw. hinzu. Vernachlässigt m an der Wort-
nizischen Schrift ausgespielt (Földes-Papp schreibung zuzurechnende Zeichen wie Bin-
1984, 152). Freilich verbirgt sich hinter diesem destrich oder Apostroph, so ist dam it das
Repertoire dessen, was Orthographie im heu-
Kontrast wohl weniger eine überlegene Äs- tigen Sinn ausm acht, vollständig um rissen.
thetik der Griechen als eine Entwicklung des
Schriftprinzips, für deren Verständnis erst die Wie das Spatium die syntaktische Kategorie
EDV den einschlägigen Begriff geliefert hat: Wort form al kennzeichnet, so die Interpunk-
der zu beschreibende Raum wird in zuneh- tionszeichen syntaktische Kategorien, aus de-
m endem Maße form atiert. Die für unser Auge nen der geschriebene Text gebildet wird —
„harm onische“ Form der Kapitalis ergibt sich freilich beileibe nicht alle. Als zentrale syn-
692 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

taktische Kategorie, die form al gekennzeich- beigeführt durch die technologische Revolu-
net wird, bildet sich in the long run — im tion des Buchdrucks (Giesecke 1991). Inner-
Deutschen ist diese Entwicklung erst im 19. halb eines Jahrhunderts reduziert dieser die
Jahrhundert abgeschlossen — der Satz her- Vielfalt der in den m ittelalterlichen Scrip-
aus. Denn sieht m an vom einstelligen Auf- torien entwickelten, sowohl standort- wie
zählungskom m a ab, das gleichrangige Kon- schreiber- und adressatenabhängigen Kodie-
stituenten gleich welcher Ordnung trennt, so rungssystem e auf eine Norm , die von diesen
handelt es sich beim gesam ten Interpunk- drei Variablen relativ unabhängig ist (ebd.
tionsinventar von (zweistelligem ) Kom m a, 489 ff). Bedenkt m an das Grundprinzip einer
Sem ikolon, Doppelpunkt, Parenthesen usw. jeden Schrift, daß ihre Zeichen nicht dazu
um ein Repertoire, das zur Kennzeichnung dienen, irgendwelche Ausdrucksform en zu
der Form von Sätzen bzw. von satzwertigen bezeichnen, sondern lesbare Wörter und Texte
Konstituenten dient. zu schreiben, dann m ußten sich auf dem m it
Wort und Satz werden so in zweitausend- der karolingischen Minuskel erreichten Ni-
jährigem Gebrauch der Alphabetschrift als veau der Handschrift logographische Ten-
form ale Kategorien des Textes ausgeprägt, denzen in dieser m it der Dauer ihres Ge-
d. h. — in der hier freilich irreführenden saus- brauchs vervielfältigen. Die spätm ittelalterli-
sureschen Term inologie — als Kategorien der chen Handschriften enthalten eine — aus wel-
parole. Diese Praxis ist Voraussetzung für eine chen praktischen Motiven auch im m er ent-
jede gram m atische Behandlung der Sprache standene — Fülle von Abkürzungen und Li-
qua langue, die intrinsisch von der Ausbil- gaturen, die der Buchdruck aus technischen
dung der Schrift abhängt (Stetter 1992). Al- wie kom m erziellen Gründen auf ein über-
lein die Buchstabenfolge eines zu schreiben- schaubares und in höchstem Maß standardi-
den Wortes bestim m t sich innerhalb syntag- siertes Kodierungsrepertoire zurückführen
m atischer und paradigm atischer Relationen, m ußte. Von Kodierung ist hier zurecht zu
in Differenz zu den Buchstabenfolgen aller an reden, denn im Gegensatz zum Schreiber
derselben Stelle nicht zu schreibenden Wörter. braucht der Drucker in jedem Fall eine
Getrennt- und Zusam m enschreibung, Groß- schriftliche Vorlage. Jede Abkürzung, die für
und Kleinschreibung und Interpunktion wer- den routinierten Schreiber Zeitersparnis be-
den dagegen ausschließlich von den syntag- deutete, wird für den Drucker zur zeit- und
m atischen Relationen der Wörter des jewei- kostenträchtigen Sondertype. Es liegt in der
ligen Textes bestim m t. Die Orthographie von Logik dieser Entwicklung, daß das Alphabet
nichttextualen Wortfolgen, z. B. die von Wör- als die kleinste bekannte Menge diskreter Zei-
terbüchern, ist daher ein spezielles Problem , chen, m it welcher jeder Text zu schreiben war,
das nur auf der Grundlage der „norm alen„ eine neue Bedeutung gewinnen m ußte. Denn
d. h. der innertextuellen Verwendung von das Druckverfahren, die Herstellung der
Wörtern geklärt werden kann. Ein besonderes Druckform aus Elem enten des Setzkastens,
Textprinzip als für Orthographie konstitutiv schließt die m it der Schreibschrift intrinsisch
anzunehm en (Nerius et al. 1987, 61 ff) erüb- verbundene Entwicklung des Kursiven aus.
rigt sich daher. Aus den m it BF, GZ, GK und Erst m it dem Druck wird so die Digitali-
I gegebenen kom binatorischen Möglichkeiten sierung der geschriebenen Inform ation defi-
der Schreibung von Wörtern und Sätzen er- nitiv. Dam it wird ein Begriff von Orthogra-
gibt sich alles weitere. Und alles folgt dem phie m öglich, der unter „Rechtschreiben“ ein
Prinzip der Differenz. Handeln gem äß einer Norm versteht, welche
Schreiben als ein Verfahren in einem diskret
form atierten Raum auffaßt, das für jede zu
6. Schreibschrift und Druckschrift: inskribierende Position eine Regel bereithält,
die Digitalisierung der Schrift welches aus einem gegebenen Inventar von
Dam it sich freilich der heute übliche Begriff Zeichen hier zu wählen sei, um ein bestim m tes
von Orthographie als einer relativ hom ogenen Gem eintes zu artikulieren. Die historische
Norm der Schreibung von Wörtern und Sät- Form , in der sich dieses Prinzip realisiert, ist
zen einer Sprache ausbilden konnte, war ein die allm ähliche Hom ogenisierung der Schrift
Entwicklungssprung im Schriftgebrauch er- über Wortlisten. Diese sorgen für die Aus-
forderlich, der allererst die Voraussetzungen m erzung von Schreibvarianten innerhalb
für die Ausbildung einer derartigen, als Kon- nicht m ehr nur einer Sprachgem einschaft,
vention deutbaren Norm schuf. Er wird her- sondern einer Population, deren Identität
durch den Gebrauch ein und derselben
56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems 693

Schriftsprache definiert wird. Der Begriff von sche Prinzip seiner Orthographietheorie —
Orthographie ist verfehlt, faßt m an sie ledig- „schreib wie du sprichst“, und zwar „der
lich als „graphische“, konventionelle Gestal- allge
m einen besten Aussprache ge
m äß„
tung des signifiant auf. Sie ist nicht weniger, (ebd. S. 679) — auf eine Tautologie hinaus:
freilich auch nicht m ehr als die Norm ierung Schreibe so, wie m an schreibt. Denn allein
der Worte und Satzform en einer Literatur- die technische Reproduzierbarkeit schriftli-
sprache, und als solche nicht erdacht oder cher Zeichengestalten konnte die allgem eine
kodifiziert von Gram m atikern wie Schot- Identität einer Sprache verbürgen. Zunächst
tel, Adelung oder Duden, sondern „ausge- m ußte deshalb die Schreibung von Wörtern
schwitzt“ von der Gem einschaft der Schrei- und Sätzen innerhalb desselben Textes ho-
benden beim Schreiben und, im Fall des Deut- m ogenisiert werden, dann innerhalb der von
schen und vergleichbarer europäischer Spra- einem Drucker gefertigten Texte, in Konse-
chen, kodifiziert im Wechselprozeß m it diesen quenz dessen schließlich auch die Schreibung
von den Druckern des 16. bis 18. Jahrhun- der Texte der Lesergem einschaft insgesam t.
derts (Kohrt 1990). Der phonem atische Wert des Geschriebenen
m ußte dabei eine um so geringere Rolle spie-
len, je m ehr das laute durch das leise Lesen
7. Typographie: Konventionalisierung verdrängt wurde. Selbst für das Vorlesen aber
des Alphabets m ußte m aßgebend nicht die phonem atische
Das phonem atische Prinzip war grundlegen- Nähe der Kodierung zum jeweiligen Dialekt
des Konstitutionsprinzip der Alphabetschrift. werden, sondern die Identifizierbarkeit des
Dies bedeutet, daß es, war ein Dialekt nach sem antischen Werts des betreffenden Wortes.
welchem Alphabet auch im m er einm al ver- War diese gegeben, so wurde schon „richtig„
schriftet, seine die Schreibpraxis konstituie- vorgelesen, sei es nun auf Kursächsisch oder
rende Funktion verlieren m u ß t e. An seine in Kölner Dialekt.
Stelle tritt die Schreibung in Analogie und in Dies erst bringt die Idee von Orthographie
Differenz zu in der betreffenden Schriftspra- in ihrer heutigen Gestalt auf den Weg. Denn
che bereits geschriebenen Wörtern. Der klas- gefordert ist nun ein Kodierungsverfahren,
sische Topos, unter dem dies bedacht wird, das die Hom ogenitätsforderung des Drucks
ist der des Schreibgebrauchs. Bereits Quinti- in Einklang bringt m it dem in einer m ultidia-
lian bringt ihn gegenüber der phonem atisch lektalen Schriftgesellschaft schwindenden Ge-
begründeten Schreibung als eigenständiges wicht des phonem atischen Kodierungsprin-
Prinzip ins Spiel (I 7, 30 f). Selbst wenn m an zips. Die m oderne Orthographie verdankt
wie dieser phonem atische Kodierung und sich zweifellos dieser Konstellation, denn al-
Schreibusus als korrelative Prinzipien be- lein sie erklärt den Prim at der konventionellen
trachtet, so m ußte letzterer doch überall dort Geltung orthographischer Norm en, der m it
den Vorrang gewinnen, wo nicht m ehr nur ihrem Begriff konstitutiv verbunden ist.
ein Dialekt, sondern — wie im Deutschen —
eine Vielzahl m ehr oder weniger divergieren- 8. Regulativer und funktionaler Sinn
der Dialekte auf ein und dieselbe Schrift ab- orthographischer Normen
zubilden waren. Das Unternehm en der lu-
therschen Bibelübersetzung setzte nicht nur Die konventionelle Fixierung der Orthogra-
einen Prozeß des Sprachausgleichs auf lexi- phie des Neuhochdeutschen ist paradigm a-
kalischer und folglich sem antischer Ebene in tisch m it den Nam en Adelung und Duden
Gang (Arndt & Brandt 1983, 32 ff, 150 ff), verbunden. Adelungs Umständliches Lehrge-
sondern als dessen Im plikation einen analo- bäude schließt die Epoche der Form ierung
gen Prozeß auf der Ebene der Orthographie. einer relativ hom ogenen nationalen Litera-
Noch Adelung belegt es in seiner kuriosen tursprache definitiv ab, der Nam e Duden
Apologie des kursächsischen Dialekts der steht nicht nur für den m it der II. Orthogra-
„oberen Classen“ (Adelung [1971] II, 682 ff) phischen Konferenz von Berlin 1901 erreich-
auf jeder Seite. So gem ein, wie dieser Dialekt ten Abschluß der im 19. Jahrhundert geführ-
in Leipzig auf dem Markt klingt (Fleesch ten Debatte zwischen rom antischer Philologie
statt Fleisch, Bodden statt Boden), m acht er und den — natürlich erfolgreichen — prag-
sich doch nicht im Munde der Gebildeten aus, m atischen Traditionalisten, die bei allen De-
weil diese — eben nach der Schrift sprechen. tailkorrekturen doch am Kom prom iß fest-
Und so läuft das verm eintlich phonographi- halten wollten, wie er einm al bei Adelung und
694 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

der sich an ihm orientierenden Schreib- und gezeichnete System gram m atisch zu interpre-
vor allem Druckpraxis festhalten wollte. tieren, also abzubilden auf ein „zugrunde lie-
Noch m ehr steht er für das Program m einer gendes“ System syntaktischer oder m orpho-
nunm ehr sozusagen „flächendeckenden“, in- logischer Regeln, die der Gram m atiker frei-
dustriell betriebenen Regulierung des Schrift- lich nicht m ehr als Produkte des Schriftge-
gebrauchs, das m an wohl als Korrelat der erst brauchs durchschaut. Aus dem Hauptwort,
im 20. Jahrhundert erreichten weitgehenden welches groß geschrieben wird, weil es sem an-
Dem otisierung der Schrift (Maas 1985 b) be- tisch wichtig ist (Arndt & Brandt 1983, 155 f),
trachten muß. wird das Substantiv, das groß zu schreiben
Diese Norm ierung der Orthographie er- ist, weil es ein Substantiv ist. Wesentlich ist
folgt im Medium des Buchdrucks — und sie in diesem Zusam m enhang insbesondere Ade-
erfolgt über Bücher von im m er größerem lungs Insistieren auf dem Grundsatz der
Um fang. Adelung weit hinter sich lassend Schreibung „gem äß der erweislich nächsten
um faßt der Große Duden heute bereits 10 Abstam m ung“ gewesen, die gram m atische
Bände, die laut Verlagsm arketing „unent- Form alisierung des m orphem atischen Prin-
behrlich“ sind zum „korrekten“ Gebrauch der zips (Adelung [1971] II, 704 ff).
deutschen Schriftsprache. Der Nam e Duden Kohrt hat in diesem Zusam m enhang zu-
ist zum eingetragenen Warenzeichen eines recht von einer doppelten Kodifizierung der
Wirtschaftszweiges geworden, der vergleich- Orthographie des Deutschen gesprochen,
bar der Norm ierung von technischen Produk- näm lich durch die extensionale Regelung von
ten nach DIN nunm ehr standardisierte Nor- Schreibweisen durch Listen einerseits und
m en der Produktion von Geschriebenem bzw. durch intensionale Regelform ulierungen an-
von Gedrucktem hervorbringt, verbunden al- dererseits (Kohrt 1990). Dieser Prozeß erfaßt
lerdings m it der offenkundigen, eben darum die Buchstabenfolge m it der kontinuierlichen
aber nie bem erkten Paradoxie, daß die Ver- Verdeutlichung des m orphem atischen Prin-
einheitlichung des Schreibens dieses offen- zips ebenso wie die Groß- und Klein- und die
kundig im m er kom plizierter m acht. Der Du- Getrennt- und Zusam m enschreibung. Allein
den wird im m er dicker, nicht im m er dünner. die Interpunktion entzieht sich, da vollständig
Wiederum zeigt sich eine rekursive Struktur, syntaktisch determiniert, diesem Verfahren.
deren Besonderheit hinter der gewachsenen Noch das Design der neuesten Duden-Aus-
Selbstverständlichkeit des Phänom ens philo- gaben kann in der Ausdifferenzierung eines
sophisch erschlossen werden m uß. Denn sie besonderen Regelteils, welcher der Wortliste
m arkiert einen kulturellen Sprung. Daß das vorangestellt wird, gleichsam als Modell für
Schreiben von Büchern sich an Büchern ori- den historischen Prozeß dienen. In ihm spie-
entiert, bedeutet ja, daß eine solche Praxis gelt sich getreu das Grundproblem einer Nor-
eine andersartige voraussetzte und je wieder m ierung post festum. So wird als eine der
voraussetzt. In ihr hatte sich das Knowing- Grundregeln der Getrennt- und Zusam m en-
how des Schreibens in der sich an Beispielen schreibung ein sog. „sem antisches“ Prinzip
und Analogien orientierenden Koordination form uliert: Zwei Wörter sollen dann zusam -
der Druckerpraxis so deutlich ausgeprägt, m engeschrieben werden, wenn sich aus ihrer
daß es sich schließlich als Knowing-that, als syntagm atischen Kom bination ein „neuer„
System von Regeln, in Bücher fassen ließ. sem antischer Wert ergibt, der nicht als logi-
Freilich stehen die Nam en Adelung und sche Multiplikation der Werte der einzelnen
Duden für verschiedene Phasen der Fixierung Wörter aufzufassen ist. Exem plifiziert wird
des orthographischen Norm ensystem s. Zu- diese Regel an Beispielen wie sitzen bleiben
recht hat m an darauf hingewiesen, daß zu vs. sitzenbleiben, gehen lassen vs. sich gehen-
unterscheiden ist zwischen den m ehr oder we- lassen etc. (Duden 1, R 205). In Analogie
niger m ythographisch ausgerichteten Be- dazu m üßte beispielsweise die Konjunktion
schreibungen dieses Prozesses innerhalb der sodaß zwingend zusam m engeschrieben wer-
orthographischen Historiographie und dem den, denn in Er starb (= p1), so daß er nicht
realen historischen Prozeß (Kohrt 1990, ausgeliefert werden konnte (= p2) wird p2
106 ff). Weder Adelung noch Duden schaffen nicht als Folge einer Modalität von p1 dar-
ein neues orthographisches System , sie zeich- gestellt, sondern als Folge von p1 selbst. Die
nen — m ehr oder weniger getreu — eines auf, Wortliste des Duden verzeichnet jedoch im
das sich aus der koordinativen Praxis des Widerspruch hierzu die Schreibweise so daß,
Drucks ergeben hatte. Bei Adelung ist dies die folglich in Texten, die nach dem Duden
noch m it dem Versuch verbunden, das auf- korrekturgelesen wurden, als die statistisch
56.  Orthographie als Normierung des Schriftsystems 695

häufigere erscheint. Entgegen der m ythogra- m an als Herstellung eines koordinativen


phischen Tradition der Orthographie setzt Gleichgewichts deuten kann, treffender ge-
sich klarerweise nicht die Regel, sondern die sagt als Problem lösung (von Savigny 1983;
Einzelfallregelung durch. Denn das Token ist Stetter 1991).
unter den Typ ungleich leichter zu subsum ie- Als Modell dafür m ag die Großschreibung
ren als der Fall unter die Regel, und insbe- der Substantive im Deutschen gelten, eine Re-
sondere spielt sich hier die sinnliche Präsenz gelung, deren Revision auch heute noch von
des Geschriebenen gegen die Abstraktheit des Sprachdidaktikern, den professionellen Sach-
Verstehens aus. Dam it ist jedoch die Frage waltern institutionalisierter Orthographiere-
nach der Geltung von Regelungen aufgewor- form , für m öglich gehalten und angestrebt
fen. Wozu orthographische Regeln, wenn m an wird. So hat Mentrup explizit für eine Rück-
sich doch nicht konsequent an sie hält? Of- kehr zur sog. gem äßigten Kleinschreibung m it
fensichtlich gibt es Grade der Lizenz im Um - dem Argum ent geworben, daß die Substan-
gang m it ihnen, die auf soziale Tatbestände tivgroßschreibung in einem historisch rekon-
wie Bildungsgrad, Berufsfeld etc. abbildbar struierbaren Prozeß per Konvention einge-
sind. Studenten oder Freiberufler nehm en den führt worden sei, eben über die allm ähliche
Duden weniger ernst als Sekretärinnen oder Ausweitung des Eigennam enbegriffs in den
Studienräte (Stetter 1991). Orthographische Verzeichnissen der Drucker des 16. bis 18.
Norm en erfüllen som it offensichtlich die Kri- Jahrhunderts. Folglich m üsse dieser Prozeß
terien des „regulativen“ Regeltyps (Black auch per Konvention um kehrbar sein (Men-
1962, 115 ff): Sie werden von einer Instanz trup 1980). Die Beschreibung des Faktum s ist
inkraft gesetzt, die dazu legitim iert ist oder durchaus zutreffend, doch der Schluß daraus
die doch als dafür legitim iert gilt. Der Verstoß ist nicht gerechtfertigt. Denn er verkennt den
gegen sie ist m it Sanktionen verbunden, die sachlichen Grund, der der konventionellen
Beherrschung der Orthographie ist notwen- Praxis, in der es ja keinerlei legitim ierte Re-
dige Bedingung für höher qualifizierende Ab- gelungsinstanz gab, allein Geltung verschaf-
schlüsse. Die von der Norm ierung betroffe- fen konnte. Adelungs Bedeutung liegt nicht
nen Subjekte können andererseits gegen sie in seinen Deutungen, die in der Tat phono-
verstoßen und — wie etwa im Fall des Kom - zentrisch zu nennen sind, sondern in seinem
m as zwischen Hauptsätzen — durch m ehr- Blick für Funktionalität und Ökonom ie des
heitliches Verweigern der „Gefolgschaft“ eine orthographischen System s, der sich gegen alle
Revision der Norm erzwingen. Orthographi- phonographischen Tendenzen seiner Theorie,
sche Konferenzen und Rechtschreibreform - die der Schrift von vorn bis hinten abgelesen
kom m issionen sind der m anifeste Beleg für ist, durchsetzt. Recht betrachtet gibt für ihn
die Herrschaft des regulation-sense über das der phonographische Grundsatz „Schreib wie
orthographische Knowing-how. du sprichst“ nichts als die Folie ab, gegen die
Doch ist der Sinn orthographischer Regeln er die Bedeutung des m orphem atischen Prin-
dam it in grundlegender Hinsicht verkannt. zips und des Gebrauchsprinzips ausspielt.
Die konventionalistische Deutung der Ortho- Die Funktionalität der Substantivgroß-
graphie ist neben der Verkennung des pho- schreibung liegt allerdings nicht — wie im m er
nem atischen Prinzips und seiner tatsächlichen wieder behauptet worden ist — in einer be-
Funktion für die Konstitution der Alphabet- sonderen syntaktischen Struktur des Deut-
schrift das zweite wesentliche Mom ent des schen im Unterschied zu anderen europä-
orthographischen Mythos. Wenn gilt, daß ischen Sprachen, sondern in zwei anderen,
sich ein orthographisches Knowing-how als von der neueren Forschung klar identifizier-
Bedingung dafür herausgebildet haben ten Tatbeständen: Zum ersten verbessert die
m ußte, daß Schrift überhaupt durch Schrift Großschreibung der Substantive eindeutig,
geregelt werden konnte, dann m uß der Ko- wenn auch nicht in erheblichem Maße, die
difizierung der Norm durch Adelung, Duden Lesbarkeit der m it dieser Norm geschriebenen
oder durch wen auch im m er ein solches Texte; so ist nachgewiesen worden, daß nie-
Schreiben-können zugrunde gelegen haben derländische Leser in Substantivgroßschrei-
und je wieder zugrunde liegen. Die schriftliche bung kodierte niederländische Texte schneller
Kodifizierung des Usus ist dam it ipso facto lasen als in der ihnen vertrauten m it Substan-
— will m an beim Begriff der Konvention blei- tivkleinschreibung (Gfroerer, Günther &
ben — als Kodifizierung einer Konvention in Bock 1989). Zum anderen und vor allem sind
dem von Lewis beschriebenen Sinne ausge- m it der generellen Großschreibung von Sub-
wiesen, als Aufzeichnung einer Praxis, die stantiven die m eisten Problem e der Eigenna-
696 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m enschreibung suspendiert, die logisch un- dem regulation-sense orthographischer Nor-


gleich kom plexer sind: Sei Kölner Dom Eigen- m en ein instruction-sense zugrunde liegt. Zu-
nam e der gotischen Kathedrale von Köln — recht hat Eisenberg m it Blick auf die Sub-
was selbst keineswegs eindeutig ist —, so wäre stantivschreibung daher schon früh vor ar-
derselbe Ausdruck doch in einer so alltägli- biträren Eingriffen in ein System gewarnt,
chen Verwendung wie DER KÖLNER DOM IST dessen Funktionalität und System atik wenig
GRÖSSER ALS DER AACHENER erforscht ist, geschweige denn verstanden
zweifelsfrei nicht wäre (Eisenberg 1981). Zu erarbeiten bleibt
als Eigennam e verwendet, sondern als sortales som it eine Philosophie der Orthographie, die
Prädikat, wäre also in einem bereinigten Sy- die intrinsische Funktion orthographischer
stem der gem äßigten Kleinschreibung als köl- Norm en im Zusam m enhang der Konstitution
ner dom zu schreiben. von Schrift und Gram m atik ebenso im all-
Eine analoge Funktionalität orthographi- gem einen Bewußtsein verankerte wie ihre
scher Norm en ist nachgewiesen worden etwa Funktionalität für das jedesmalige Schreiben.
für die Distribution von zweiregistrigen, gra-
phisch obstruenten Minuskeln (Naum ann
1988, 194 ff) oder von Doppelkonsonanten an 9. Literatur
Silbengrenzen oder für das Zusam m enspiel Adelung, Johann Christoph. 1971. Um ständliches
von Satzm ajuskel und Satzschlußzeichen. Die Lehrgebäude der Deutschen Sprache zur Erläute-
beiden ersteren Regelungen dienen offensicht- rung der Deutschen Sprachlehre für Schulen.
lich der Strukturierung des Wortbildes. So ist 2 Bde. Leipzig: Breitkopf 1782. Repr. Hildesheim ,
etwa die phonem atisch unm otivierte Distri- New York.
bution des sog. Dehnungs-h m otiviert ent- Arndt, Erwin & Brandt, Gisela. 1983. Luther und
weder durch einen kom plexen Silbenendrand die deutsche Sprache. Wie redet der Deudsche m an
sonantischer Graphem e, der ohne das h den jnn solchem fall? Leipzig.
vokalischen Silbenkern als kurz zu lesenden
ausweisen würde, oder aber verm eidet wie bei Black, Max. 1962. The Analysis of Rules. In: Black,
ge-hen das Aufeinandertreffen eines vokali- Max, Models and Metaphors. Studies in Language
schen Silbenausgangs und -anfangs (Butt & and Philosophy. Ithaca, New York, 95—139.
Eisenberg 1990). Alle diese Phänom ene sind Butt, Matthias & Eisenberg, Peter. 1990. Schreib-
so als Ausfluß des m orphem atischen Prinzips silbe und Sprechsilbe. In: Stetter, 34—64.
zu deuten, dessen logische Priorität durch die- Carpenter, Rhys. 1938. The Greek Alphabet Again.
sen Befund bestätigt wird. Das Schreibsystem American Journal of Archeology 42, 58—69.
Satzm ajuskel ... Satzschlußzeichen erzwingt Eisenberg, Peter. 1981. Substantiv oder Eigen-
eine logische Linearisierung des geschriebe- nam e? Über die Prinzipien unserer Regeln zur
nen Textes über die Elim inierung aller syn- Groß- und Kleinschreibung. Linguistische Berichte
taktisch nicht als Satz interpretierbarer Syn- 72, 77—101.
tagm en, die in m ündlicher Rede gang und Eisenberg, Peter & Günther, Hartm ut. 1989.
gäbe sind. Von der Schrift her werden sie als Schriftsyste
m und Orthographie. Tübingen.
Anakoluthe oder als Ellipsen aus dem Bereich Földes-Papp, Karoly. 1984 [1966]. Vom Felsbild
des Wohlgeform ten ausgegrenzt, obwohl sie zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren
doch im Mündlichen „norm al“ sind (Stetter frühesten Vorstufen bis zur m odernen lateinischen
1989). So ist etwa der Nachweis einer stati- Schreibschrift. Stuttgart.
stisch relevanten Korrelation von Anakolu- Gelb, Ignaz J. 1958. Von der Keilschrift zum Al-
then und Blickkontakten der m ündlich kom - phabet. Grundlagen einer Schriftwissenschaft.
m unizierenden Personen ein klarer Beleg für Übers. a. d. Am erikanischen von R. Voretzsch.
die Funktion. Die Sicherung des Verständnis- Stuttgart.
ses qua Rückkoppelung storniert die Not- Giesecke, Michael. 1991. Der Buchdruck in der
wendigkeit, den Satz zu „vollenden„. Die frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die
gram m atische Wohlgeform theit des Satzes Durchsetzung neuer Inform ations- und Kom m u-
wird som it als Funktion der m edialen Bedin- nikationstechnologien. Frankfurt a. M.
gungen des Schreibens deutbar, die Ausprä-
gung des graphem atischen Zusam m enhangs Gfroerer, Stefan, Günther, Hartm ut & Bock, Mi-
von Satzm ajuskel und Satzschlußzeichen als chael. 1989. Augenbewegungen und Substantiv-
eine orthographische Problem lösung, die die großschreibung. In: Eisenberg & Günther, 111—
generelle Erfüllung der gram m atischen Norm 136.
reflexiv zu sichern hilft. Haarm ann, Harald. 1990. Universalgeschichte der
In diesem Sinne m uß allgem ein gelten, daß Schrift. Frankfurt a. M./New York.
57.  Codification by Means of Foreign Systems 697

Heubeck, Alfred. 1979. Schrift. (= Archaeologica Bern.


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57. Codification by Means of Foreign Systems

1. The act of adopting writing also have literary and academ ic dim ensions.
2. Cultural conditions for writing Som etim es people com e to find it indispen-
3. Foreign systems as models sable, although they earlier lived without
4. Adaptations from foreign systems sensing any need for it. If writing becom es
5. Continuing sociolinguistic processes well entrenched it adds another set of com -
6. References m unication system s to the repertoire available
in a language. It can also greatly m odify the
existing com m unication by which knowledge
1. The act of adopting writing and affect are shared. Adopting a writing
When a people adopt writing for their pre- system , adapting it and using it thus all be-
viously unwritten language they perform not com e intertwined in a com plex process of
only a linguistic act, but also a m ore inclusive culture change.
sociocultural act with enorm ous potential
ram ifications. Adopting writing m ay at first 1.1. Definitions
be a political or religious act, for exam ple, or Because the term writing m eans m any differ-
m ay express ethnic identity, or indicate the ent things in English, and the nature of writ-
direction in which people want to change. ing is a m atter of theoretical dispute, the
Even if they are not initially perform ing a following definitions are m ade explicit for this
com m ercial act, writing often develops com - paper. Writing is here lim ited to system s of
m ercial functions as well, and in tim e m ay m arks m ade on surfaces to sym bolize lan-
57.  Codification by Means of Foreign Systems 697

Heubeck, Alfred. 1979. Schrift. (= Archaeologica Bern.


Hom erica. Die Denkm äler und das frühgriechische Nerius, Dieter. 1987. Deutsche Orthographie. Von
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daktische Studien zur Rolle der gesprochenen Spra-
che in System und Erwerb der Rechtschreibung. Christian Stetter, Aachen (Deutschland)

57. Codification by Means of Foreign Systems

1. The act of adopting writing also have literary and academ ic dim ensions.
2. Cultural conditions for writing Som etim es people com e to find it indispen-
3. Foreign systems as models sable, although they earlier lived without
4. Adaptations from foreign systems sensing any need for it. If writing becom es
5. Continuing sociolinguistic processes well entrenched it adds another set of com -
6. References m unication system s to the repertoire available
in a language. It can also greatly m odify the
existing com m unication by which knowledge
1. The act of adopting writing and affect are shared. Adopting a writing
When a people adopt writing for their pre- system , adapting it and using it thus all be-
viously unwritten language they perform not com e intertwined in a com plex process of
only a linguistic act, but also a m ore inclusive culture change.
sociocultural act with enorm ous potential
ram ifications. Adopting writing m ay at first 1.1. Definitions
be a political or religious act, for exam ple, or Because the term writing m eans m any differ-
m ay express ethnic identity, or indicate the ent things in English, and the nature of writ-
direction in which people want to change. ing is a m atter of theoretical dispute, the
Even if they are not initially perform ing a following definitions are m ade explicit for this
com m ercial act, writing often develops com - paper. Writing is here lim ited to system s of
m ercial functions as well, and in tim e m ay m arks m ade on surfaces to sym bolize lan-
698 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

guage on som e level or levels, m ost com m only tural self-perceptions and aspirations. Even
m orphem ic, syllabic, dem isyllabic (onset/ when they are strongly m otivated to adopt it,
rim e), phonem ic, or com binations of these however, pragm atic m otives are not necessar-
such as m orphophonem ic or m orphosyllabic. ily their m ain ones. Desire to keep records,
The sym bolization m ust be com plete enough write letters, or educate m em bers of the group
so that experienced writers can write whatever in their own language m edium m ay not even
they can say in the language and experienced enter into the decision at all. Writing for
readers can reproduce the sam e stream of econom ic purposes, which seem s to have been
speech when they read it aloud. The m arks a m ajor m otive for the initial developm ent of
used in writing will here be called graphs. writing in ancient Mesopotam ia, does not
Som e graphs represent sounds and others add m otivate people who have no need for elab-
non-phonetic inform ation, a m ixture which orate record keeping in culturally less com -
varies in proportion in different writing sys- plex societies. Writing introduced for other
tem s (DeFrancis 1989, 49). A writing system reasons m ay later lead people to perceive ad-
is a set of graphs plus the conventions which vantages in keeping records, however.
govern its use. Script (as in Arabic script) also
refers to a writing system , but highlights the 2.1.1.  On the other hand, people always seek
difference in appearance and historical rela- power or advantage of som e kind through
tionships between one system and another. adopting writing. A politically and culturally
subordinate people m ay want the power en-
1.2. Theoretical assumptions joyed by those who dom inate it and who seem
to exercise their power through writing. Or a
Current debate centers around the relation- social group like a priestly class m ay enhance
ship of literacy to culture and culture change. its power within the com m unity through writ-
One view sees writing prim arily as a technol- ing. Frequently the power of writing has been
ogy which has developed in an evolutionary understood as m agical or religious, and writ-
sequence (Gelb 1963) and which has a deter- ing frequently spreads with religion. The use
m inative effect on cultures which adopt it of the Arabic writing system is roughly co-
(Goody 1986). Another view stresses literacy term inous with the dom inance of Islam
as intricately interconnected with the rest of through the Middle East, northern Africa,
culture in m ultiple ways which m ust be indi- and central, south and southeast Asia. The
vidually analyzed to determ ine the processes expanse of Indic-derived writing is largely
at work (Street 1984). The present discussion coterm inous with Hinduism in south and cen-
assumes the second position. tral Asia and with Buddhism in south and
southeast Asia. Writing on the Chinese m odel
2. Cultural conditions for writing has not spread m uch beyond the area of Con-
fucianism and Mahayana Buddhism in east-
For a people to adopt writing from a foreign ern Asia. The boundary between Rom an and
source they m ust first have observed writing, Cyrillic system s in Eastern Europe reflects the
of course. Today even illiterate people every- historic spheres of influence of the Rom an
where in the world know that writing exists, Catholic and Russian Orthodox churches.
but until the past few decades the first tim e Protestant and Catholic m issionaries have
m any people observed writing and reading been the m ost active agents in stim ulating the
they were awed by its m ystery. People who spread of Rom an script to languages in Af-
carried letters from one European to another rica, the Am ericas, Vietnam , the Philippines
in different parts of the world have been and large parts of the Pacific. In som e in-
known to hold the letters up to their ears, stances, m ost notably in system s adopted
trying to hear the m essage which the recipi- from Arabic, writing carries an elem ent of
ents heard in them . For m any such people sacredness. The Aleut (Alaska) who adopted
knowledge of the existence of writing even- a highly successful Cyrillic writing system pre-
tually becam e com m onplace, however, and pared by m issionaries also treated writing in
rem ained so for years or even generations a som ewhat cerem onial way, ascribing m ystic
before som e of them adopted it for them - properties to the sym bols (Ransom 1945,
selves, if they ever did. 334 f).

2.1. Bases for acceptance 2.1.2.  Another great m otivator for writing,


usually intertwined with a desire for power,
People are likely to be open to adopting writ- is need for a strong sym bol of linguistic or
ing when it resonates with their current cul-
57.  Codification by Means of Foreign Systems 699

ethnic identity. Many peoples who are proud southern dialects to be varieties of Thai, even
of their unwritten language and their culture those which are not m utually intelligible with
want to advance its prestige by writing it. it, and they write in Thai if they know how.
When som e cultural self-perceptions com bine In the northern and northeastern parts of
with a search for power, new writing m ay Thailand where the Kam m üang and Lao lan-
becom e part of a cultural revitalization m ove- guages are spoken, furtherm ore, although the
m ent, adopted to enhance a society’s standing diglossia is sim ilar to that in the south the
and to strengthen identity. In Southeast Asia writing situation is m ore com plex. Both of
various m inority people without traditional these languages were form erly written in their
writing have m yths explaining that their own scripts, but during this century Standard
ancestors lost writing which was originally Thai writing has been enforced and accepted
given them , a carelessness which now restricts as the writing for the whole country, and
their descendants to inferior political, social dissem inated through m ass education. The
and econom ic conditions (e. g. Stern 1968 a). older scripts for the regional languages are
Som e m yths also proclaim that writing will now used only for restricted functions such
som e day be restored, enabling people to as- as religion, and even there are often sup-
sum e their places as co-equals am ong their planted by Standard Thai (Sm alley 1988;
ethnic neighbors. 1994, 67—114). In m ore recent years, fur-
therm ore, sporadic attem pts have been m ade
2.2. Bases for opposition to write these regional languages once again,
but now in Thai script. This m ove to adopt
Peoples differ in how they com pare their lan- a “foreign” Thai system of writing their lan-
guage and culture to the ones around them , guages has so far aroused little following
however. Som e people who speak languages partly because people now feel that the re-
which have not yet been written are culturally gional language is not appropriate for writ-
insecure, asham ed of som e aspects of their ing.
language and culture. Som e m inority people
do not want to be heard by outsiders when 2.2.2.  These speakers of regional languages
they speak their own language for fear of in Thailand value their spoken languages even
ridicule. People with a poor view of their when they do not want to write them , but
language would often rather read and write m any speakers of Haitian, on the other hand,
in a m ore prestigeful language, if at all, and resisted writing their language for generations
m ay not even believe their language can be in part because they thought of it as a debased
written. French with no value. All Haitians speak
Opposition to writing is not always due to Haitian constantly, and it has a rich oral
cultural insecurity, however. Many peoples literature, but all educated Haitians read and
who do not have feelings of inferiority with write French, and those without enough ed-
regard to their spoken language have lived in ucation to do so have rem ained largely illit-
close proxim ity to written languages for gen- erate. The feeling that Haitian is inferior and
erations without ever wanting to read and unworthy is m aintained by m any people of
write their own. Som e of them m ay even be all classes, but in recent decades an increasing
literate in one or m ore foreign languages, but num ber of dissenters has undertaken to write
the idea of writing theirs m ay seem bizarre or Haitian (Valdm an 1968). Opposition has soft-
presum ptuous or sacrilegious or im possible. ened, until finally in 1975 the governm ent
In som e societies or in som e levels of m any approved written Haitian as a m edium of
societies, furtherm ore, people can typically education.
live norm al lives without reading or writing
at all, and see no value in literacy.
2.3. Changing perspectives
2.2.1.  Frequently the sociolinguistic role of a When people first adopt a writing system they
language excludes writing it. In diglossic sit- usually do not use it for as m any different
uations, for exam ple, people who speak the functions as they eventually will. Writing m ay
lower language generally prefer to write in be adopted by one segm ent of the population
the high language if they have the education for religious purposes, but as it gains other
to do so. In Thailand a written (and spoken) uses other people m ay be attracted to it also.
Standard Thai dom inates the unwritten Pak- Letter writing is probably not often a m ajor
tay dialects spoken by several m illion people reason for which a writing system is first
in the southern peninsula. Speakers feel the adopted, but is frequently a sign that writing
700 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

has taken hold and is spreading into other or how writing relates to language. The new
parts of people’s lives. On the Nukulaelae writing system s they create are products of
Atoll (Western Polynesia) alm ost all people stim ulus diffusion rather than of direct adop-
wrote letters regularly within twenty years tion and adaptation of a foreign system (→
after it was introduced for religious purposes art. 58), but they are nevertheless stim ulated
(Besnier 1991, 572). Whatever the original by observing the phenom enon in the hands
reasons for which their ancestors adopted of other people. Much m ore com m only, som e
writing, the Hanunóo (Philippines) have an individuals are literate in a foreign language
ancient Indic-derived writing system which and follow the form and function of writing
they scratch into bam boo to write letters. For in what they know as best they can, trying to
ordinary letters scraps of bam boo are used, m ake the system fit theirs well enough for
but love letters are beautifully inscribed on som eone else to read it. Alternatively, prelit-
lengths which have been carefully selected and erate native speakers with little or no educa-
polished (Conklin 1949). Writing grew from tion som etim es adopt a ready-m ade system
an exclusively religious activity to m ore gen- which is offered from the outside, observing
eral utility am ong the Aleut prim arily through writing already applied to their own language.
use of a village bulletin board on which no- This happens m ost com m only when a foreign
tices were posted (Ransom 1945, 340). linguist, educator, governm ent official, or
Initial indifference to writing m ay change m issionary develops a writing system and be-
with changing circum stances as well. For gins to teach it. Acceptance of a ready-m ade
som e seventy years m issionaries, teachers, an- system is contingent on the sam e factors as
thropologists and other foreigners proposed in (2.).
writing system s and wrote and translated m a-
terials into the Navajo (USA) language. By 3.2. Roles of the dominant peoples
1950, however, Navajo leaders showed little
interest and m uch opposition to Navajo lit- When m em bers of a dom inant group devise
eracy. They believed English to be the proper a writing system for a subordinate language
language to write, and they rejected as ridic- they usually want to advance their own po-
ulous the various adaptations of the Rom an litical, econom ic or religious concerns. They
alphabet required for Navajo because the re- m ay believe that passing their writing system
sults did not look like English. However, by on to another language will help create a class
1960 a shift occurred am ong young Navajo of literate workers in governm ent or industry,
who realized that their identity as Navajo was for exam ple. On the other hand, som etim es
slipping. Native-speaking Navajo writers then they genuinely hope that writing will help the
began to em erge, and various schools began subordinate people them selves in som e way.
teaching the Navajo writing system (Young Usually m otives are m ixed. Or, at still other
1977). tim es outsiders like scholars, officials or m is-
sionaries devise ways of writing local lan-
guages to help them selves learn the languages
3. Foreign systems as models or to do research on them . Even such action
som etim es stim ulates native speakers of the
If people sense a need for writing their hith- language to write it for them selves, however
erto unwritten language they usually seek to (Jahani 1989, 23 f).
adopt a system which som e of them already On the other hand, dom inant people, es-
know from another language. In m odern pecially in governm ents, m ay oppose writing
tim es such system s are alm ost exclusively in local languages in order to keep the people
the Rom an, Cyrillic, Indic, Arabic or Chinese subordinate or because they consider the lan-
traditions. The kind and num ber of m odels guage unworthy. Som e other governm ents al-
present in an area and the way in which the low writing in local languages only if the
dom inant people of the area exercise their writing follows their own writing tradition.
power often affect how writing is adopted. Lao and Thai governm ent officials have at
tim es strongly discouraged the use of any
3.1. Observation and response script but Lao and Thai script, respectively,
Before adopting writing people observe it for som e m inority languages within their
from any one of three different perspectives. countries (Sm alley 1976 b). Such governm ent
On rare occasions illiterate people have de- opposition som etim es creates resentm ent, of
veloped writing for their own languages with- course, leading to greater separatist sentim ent
out prior knowledge of how writing is done and greater desire for writing.
57.  Codification by Means of Foreign Systems 701

Early in this century Arabic script was re- 1977). Som etim es this exam ple led local peo-
placed with Rom an script by the Soviet gov- ple to take up writing independently. In parts
ernm ent in som e languages of the USSR in of Polynesia, in fact, the m issionaries did not
order to cut off influence from literature writ- so m uch actively initiate writing system s at
ten in Islam ic countries to the south. About first as unconsciously m odel the use of writing
1940 policy shifted to use of the Cyrillic sys- in their own languages and then capitalize on
tem as a part of a governm ent process of it when it developed in the local language.
Russification (Henze 1977, 375 ff; → art. 64). They prom oted it for religious purposes once
The sam e attitude prevailed when the nation- it did start to spread (Parsonson 1967). Else-
alist governm ent of m ultilingual Bénin intro- where, and m ore typically, som e m issionaries
duced a “national alphabet” to be applied to set about to introduce literacy by devising
all the languages of the country in an attem pt writing system s and teaching them in school
to create national unity. Vernaculars could be program s or in literacy classes (Laubach
written, but how they were written was pre- 1970). Usually such activity was m otivated
scribed (Tchitchi & Hazoum é 1983). US pol- by a desire for people to read the Bible and
icy toward indigenous writing system s has other religious m aterial in the language. In
fluctuated, but the long-term effect, at least m any cases, however, people also gained a
until the 1970s, was generally to squelch the new appreciation of their own local language
use of local languages and their writing sys- in the face of encroaching ones spoken and
tem s. Such was the fate of the Aleut system , written by m ore powerful peoples (Sanneh
which had becom e well established in Aleut 1989).
culture, with thousands of readers when the
area was taken over by the United States. 3.4. Multiple models
Am erican schools and other governm ent
forces then worked assiduously to eradicate Decision concerning what foreign writing sys-
the writing and the language. In both tasks tem to adopt m ay be autom atic if only one
they were largely successful (Krauss 1973, is known in an area. Thus the Rom an system
803). is generally adopted in the Am ericas, the Pa-
cific, and parts of Africa. Even then, however,
3.3. The missionary factor the different conventions occurring in Eng-
lish, French or Spanish, or occasionally in
Especially in the last two centuries, but part other languages, provide variations. Else-
of a tradition which dates back at least to where radically different m odels often coexist.
Gothic in the fourth century, Christian m is- Arabic and Rom an system s com pete in parts
sionaries have designed writing system s for of Africa. Indic, Rom an, Chinese and Arabic
m any languages around the world. Som e of system s som etim es com pete in areas of south
the m issionaries were outstanding students of and southeast Asia. Arabic, Chinese, Indic
the languages and cultures in which they and Cyrillic system s also provide alternative
worked (Wonderly & Nida 1963; Ferguson models in parts of central Asia.
1977). Missionary writing system s ranged
from excellent to im possible, but good or bad 3.4.1.  In som e such cases different segm ents
these system s were the start of writing for of a population speaking the sam e language
several hundred languages. Often m issionar- choose to follow different m odels and the
ies spent years, even decades of experim en- population becom es divided by writing sys-
tation on their task, of which the m any at- tem s. Som etim es rival system s even becom e
tem pts in Yoruba history recounted by Awó- so strongly entrenched that the two popula-
níyì (1978) was typical for the 19th century tions assum e that they speak different lan-
and the early 20th. Over the last half of the guages in part because their writing is differ-
twentieth century this m issionary drive to cre- ent. Hindi (in Indic writing) and Urdu (in
ate writing system s has usually been rendered Arabic writing) constitute a m ajor exam ple.
more efficient by modern linguistics. Their paths separated before the 18th century.
Most m issionaries lived as fam ilies in a
language area for m any years, and their own 3.4.2.  Occasionally a language is written in
use of writing was conspicuous. Bibles and m ore than one way because its population
hym n books were central to their m ission lives in m ore than one country. Malay was
work. They wrote letters, serm ons and jour- traditionally written in Arabic script, and
nals, and kept records. They also fostered when the Malay states under British rule
Western-style form al education (Ferguson changed to a Rom anized script the Malay-
702 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

speaking people of southern Thailand kept lished by m issionary S. P. Kleinschm idt, who
their Arabic-based writing. was also the founding scholar of Eskim o lin-
guistics. The writing was adapted from Dan-
3.4.2.1.  Iu Mien (China, Thailand, Laos, ish (Krauss 1973).
USA) was traditionally written in Chinese
script for religious purposes and for keeping 3.4.3.  In looking for a m odel, however, som e-
lineage records. Knowledge of such Chinese- tim es people m ay deliberately adopt a writing
based writing dim inished in Thailand am ong system different from the m ost easily acces-
those who im m igrated there, and under m is- sible ones in the area. In Laos in the early
sionary influence som e Iu Mien people 1950s, for exam ple, m issionaries were sim ul-
adopted a Rom an system , others a Thai sys- taneously preparing writing system s for two
tem . The Thai-based system has generally different languages, Hm ong and Khm u’. Na-
been winning out both because of governm ent tive speakers of those respective languages
policy and because bilinguals can m ore easily participated in and observed the process with
transfer to and from reading Thai in the sam e significantly different expectations and de-
script. On the other hand, the 10,000 Iu Mien sires. Even Christian Khm u’ wanted their
who went to the United States as refugees writing to be m odeled after Lao, the language
after the Vietnam ese/Pathet Lao victory in of the dom inant Buddhist people written in
Laos in 1975 m uch prefer a Rom an script an Indic-based system . Even non-Christian
because it has transfer value to and from Hm ong, on the other hand, wanted their lan-
English instead. In 1982 they therefore set up guage written in a Rom an system . These pref-
a com m ission to revise the Rom anized sys- erences arose from their respective self-per-
tem . In the m ean tim e Iu Mien in China were ceptions. The Khm u’ felt inferior to the po-
not as advanced in writing their language for litically and econom ically dom inant ethnic
non-ritual purposes although they vastly out- Lao and hoped that writing would give them
num bered their fellow speakers elsewhere. status by one of the sam e m easures which
When som e of them learned of the revised m ade the Lao seem superior. They were also
Rom an script proposals they expressed inter- in the process of cultural assim ilation and
est, and a delegation from the United States wanted a system which would m ake assim i-
went to China to confer with them in the lation easier. Hm ong felt like equals, if not
hope of arriving at a com m on system for the superior to the Lao, although politically sub-
two countries. The result was a com prom ise jugated. They wanted their writing to sym -
Rom an writing system using, in part, Rom an bolize their separate identity and their inde-
conventions established by the Chinese gov- pendence from the Lao, a condition to which
ernment for minority people (Purnell 1987). som e of them aspired. They felt that a Rom an
system would also help identify them with the
3.4.2.2.  Various dialects of Eskim o stretch course of m odernization and a m ore universal
from Siberia across Alaska and Canada to identity.
Greenland. Siberian Eskim o is now written How strongly a writing system can sym -
in Cyrillic script and since 1927 has benefited bolize identity when chosen from am ong m ul-
from a strong program of governm ent edu- tiple m odels m ay be seen when Jews write
cation in Eskim o, albeit one with assim ila- Yiddish (a Germ anic language) or Ladino (a
tionist goals. Eskim o dialects in Alaska, on Rom ance language originating with Jews in
the other hand, are generally written in Ro- Spain) in Hebrew script. Spanish-speaking
m an script and only in the 1970s did pilot Arabs in Spain, likewise, wrote Spanish in
educational program s begin after a long- Arabic script in the 11th century.
standing policy of discouraging native lan-
guages. Various efforts have also been m ade 3.4.4.  Although som e peoples choose a for-
to write Canadian dialects of Eskim o in Ro- eign writing system which sym bolizes their
m an script, but the system which has won out aspiration to em ulate the power of those who
for the Inuit dialect is a syllabary with geo- already use it, other peoples prefer a unique
m etric-shaped graphs adapted from Cree by system of their own. This is especially true of
the m issionary E. J. Peck. It enjoys a strong m any peoples of south and southeast Asia,
following am ong Inuit because it sym bolizes where traditional writing system s, although
their unique identity. Greenlandic Eskim o di- often related, have significantly different ap-
alects are the strongest of all, with 50,000 pearances. The system used by the Leke m il-
speakers. Their writing system was estab- lennial sect am ong the Phlow (Pwo Karen of
57.  Codification by Means of Foreign Systems 703

Burm a and Thailand), although derived from tem began to win out at the beginning of the
Mon and Burm ese writing, is so different in 20th century when a new generation of anti-
appearance that people who do not use it call colonial nationalist leaders espoused it as a
it “chicken scratch” writing. It is used exclu- part of their m odernization em phasis (De-
sively for religious purposes and is under- Francis 1977).
stood to be the writing of the golden age to
com e. Belief in its m essianic future is bol-
stered by its unique appearance (Stern 4. Adaptations from foreign systems
1968 b). Motivational factors aside (2.), for m axim um
viability a writing system should sym bolize
3.4.5.  Although people norm ally resist language in som e optim ally efficient way
changing writing system s which have been (Sm alley 1964 b, 1976 a; Berry 1977; Venezky
well established am ong them , som etim es they 1977). A graph should generally represent the
m ay willingly replace one by another based sam e linguistic phenom enon wherever it oc-
on a different m odel if they develop sufficient curs in the written form of the language. In
new cultural perspectives. actual writing system s, however the m atch is
never perfect, nor is it ever necessary to graph
3.4.5.1.  Probably the m ost dram atic and every linguistic feature, no m atter how little
best-known successful change of this kind was functional load it carries. Writing, further-
from Arabic script to Rom an for Turkish in m ore, is always a norm ative device, ignoring
1928—1929. The Arabic writing system never sm all differences between speakers and dia-
had fit the Turkish language well, particularly lects (Coulmas 1989, 47).
as Turkish has m any vowels, which Arabic Other things being equal, a system which
writing does not accom m odate easily. But the is easy to learn is m ore likely to win out than
reasons for the success of this change went one which is difficult. A system is usually
far beyond that. It was part of a concerted relatively easy to learn if it not only represents
effort to change the country’s self-im age from the spoken language well, but also has as few
being the defeated head of the defunct Otto- graphs as possible to m em orize within the
m an Em pire with its Arab culture to being a constraints im posed by excessive underdiffer-
part of Europe (Heyd 1954). entiation. Graphs which differ enough in ap-
pearance so as not to be easily confused also
3.4.5.2.  An even m ore com plex exam ple oc- contribute to an efficient system . Diacritics,
curred in the history of Vietnam ese writing. on the other hand, m ay create problem s be-
At som e tim e probably long before the 10th cause they tend to be om itted in writing and
century people began writing Vietnam ese in overlooked in reading. When a system is sim -
Chinese script. In so doing the Chinese m or- ilar to the dom inant system in the area, fur-
phosyllabic system of representing syllables therm ore, the people gain transfer value so
which are further differentiated by m or- that any bilingual who learns to read either
phem es (De-Francis 1984) was taken over as language for the first tim e also learns to read
a logographic system , representing m or- the other, with adjustm ents. In our m odern
phem es or words. Then at som e tim e before technological world, also, system s for which
the 13th century Vietnam ese people devised type fonts, typewriters and word processing
a system which used Chinese characters to program s are available have a considerable
create a m orphosyllabic system analogous to advantage, although lack of them can be
the actual Chinese system (→ art. 27). Later overcom e if the com m unity is large enough
Rom an Catholic m issionaries experim ented and has resources to pay for adapting tech-
with a Rom an system which was first nor- nology to its idiosyncratic script.
m alized in a m ajor Vietnam ese dictionary
published in 1651. This writing was used pri- 4.1. Types of adaptation
m arily by m issionaries for learning the lan-
guage and secondarily by Vietnam ese Cath- Adopting a foreign writing system for a lan-
olics until after 1861 when the French colonial guage always entails adapting usage from that
conquest began and the French governm ent in the original language(s), at least at som e
pushed its use as a general m edium . Then for points, for no two languages are ever com -
a tim e the three system s for writing Vietnam - pletely the sam e. At the very m inim um , som e
ese were used by different parts of the Viet- graphs represent a slightly different pronun-
nam ese population until the Rom anized sys- ciation in the new language from what they
do in the m odel language. Beyond that, how-
704 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ever, the degree to which the adopted writing often m akes reading and writing a language
system is m ade to fit the new language often difficult for its speakers, they m ay seek to
depends largely on cultural factors. Adapta- change it. In Gipende (Zaïre) the Rom anized
tions are som etim es accepted or rejected pri- writing initially prepared and taught by m is-
m arily because of how people perceive the sionaries represented three different fre-
nature of language differences. quently-used phonem es /k/, /kh/ and /g/ all
with the sam e graph k. As native speakers
4.1.1.  One com m on form of adaptation is to tried to read their language som e com plained
change the shape of graphs or to add new about the confusion this created and the writ-
graphs for representing sounds which occur ing was changed to fit the language better by
in the newly written language but not in the writing the three sounds differently (Sm alley
language from which the m odel writing is 1964 a). On the other hand, som e new writing
drawn. In Vietnamese, for example,  and  system s are m ore efficient than their m odels.
represent sounds which do not occur in the When Thom as Wildcat Alford, a Shawnee
m odel languages. In other languages diacritics (USA), adapted a writing system for his lan-
m ay be used to m ake distinctions, like á and guage from a m issionary-created writing sys-
à for tones or differences of vowel quality. tem for other Indian groups he im proved on
the m odel by distinguishing length of vowel,
4.1.2.  A m uch m ore profound adaptation a feature not recognized in the m odel writing
was m ade by the Greeks when they adopted system (Walker 1981, 155 ff).
writing from the Phoenicians (8th century
B. C.), a m ajor step in the developm ent of 4.2. Resistance to adaptation
Western civilization. Phoenician writing, like When a foreign writing system is adopted the
that of other ancient Sem itic languages, rep- result m ay fit the language to which it is
resented only the consonants of the spoken applied well or badly. Most often any given
language, but differences in the structure of linguistic elem ent is represented with a unique
Greek required that the vowels also be writ- graph like m or sequence of graphs like sh or
ten. Som e of the Sem itic consonants like ng. If the linguistic unit is a significant one,
’aleph which were not needed for Greek con- this m akes for a good fit. Other elem ents m ay
sonants were therefore transform ed into rep- be overdifferentiated or underdifferentiated,
resentations of Greek vowels like alpha, and which m ay or m ay not cause difficulty. Pho-
others were added (Jeffery 1963, 1 ff; → art. nem ic overdifferentiation occurs when the
25). sam e linguistic unit is written with different
graphs in different contexts, like English /s/
4.1.3.  Japanese writing was adapted from in sent and cent. To write the two words the
Chinese on entirely different levels of lan- sam e way would represent m orphem ic under-
guage structure, the m odern system having differentiation, however. Graphs for Arabic
evolved over several centuries beginning in pharyngealized consonants are often taken
the seventh. Japanese writers first adopted as over into other languages written in Arabic
logographs m any graphs which were m or- script in order to use them to spell words
phosyllabic in Chinese (cf. 3.4.5.2.), but Jap- borrowed from Arabic even though the bor-
anese language structure is so different from rowed words are pronounced without the
Chinese that such a system could not reflect pharyngealization in the borrowing language
m any aspects of it. Two syllabic system s were (Jahani 1989, 44). Phonem ic underdifferentia-
therefore developed over tim e to supplem ent tion, in turn, can be illustrated by Sem itic
the logographs. One of them is often used to writing without vowels, still com m only a
write gram m atical elem ents which do not oc- problem when Arabic is a m odel for writing
cur in Chinese. The other is often used to non-Sem itic languages. Underdifferentiation
write words borrowed from other languages m ay cause difficulties with reading, and over-
than Chinese, and to spell out words which differentiation difficulties with spelling, but
are used so infrequently that the logographic either m ay be required at points by conditions
form has been given up. All three system s are of acceptability in the thinking of the users
typically used together in the sam e docum ent of the newly written language.
(Miller 1967, 90 ff; → art. 27). People who resist adaptation from the
m odel language they are adopting are fre-
4.1.4.  Because insufficient adaptation from quently expressing insecurity about the dif-
the m odel language into the new language ferences between their own language and the
57.  Codification by Means of Foreign Systems 705

m odel language. They m ay also be expressing 5. Continuing sociolinguistic processes


an absolutist view of writing, a belief that
whatever way the m odel language represents If writing becom es established and fills a cul-
a linguistic elem ent is intrinsically right, and turally significant role over tim e, sociolin-
that any departure therefrom , even in a dif- guistic processes by which the writing system
ferent language or dialect, is wrong. and the rest of culture reflexively interact with
each other m ust continue beyond the initial
adoption of the system . We can point to only
4.2.1.  For m any years any attem pts to write a few typical factors here.
Tok Pisin (New Guinea Pidgin) followed Eng-
lish so closely that Tok Pisin pronunciation
could not be adequately accom m odated and 5.1. Viability
the spelling was rife with inconsistencies. The ultim ate viability of a writing system
When phonem ic-based writing was first intro- depends on at least the following conditions:
duced, however, it was unacceptable to m any
speakers because it did not look enough like 5.1.1. Cultural authentication
English (Wurm 1977).
Conventions for adapting the Rom an sys- The need for authentication is clearest when
tem to the radically different sound system s m ultiple m odels are involved, and especially
of African languages, furtherm ore, were sub- when people change from one writing system
ject to extended debate am ong European lin- to another, as in Turkish. There an elaborate
guists, colonists, educators and m issionaries reconstruction of history and m ythology suc-
in the nineteenth and early 20th centuries, cessfully led people to think that their roots
with several different recom m ended system s were in European culture rather than in Ar-
put forward at different tim es (Tucker 1971). abic culture (→ 3.4.5.1.; Fishm an 1971, 11 f).
But in spite of m any exam ples of hesitation, Com petition between Hm ong writing system s
Rom an system s are frequently greatly often clusters around authenticity, but differ-
adapted, whereas Thai graphs have so infre- ent Hm ong use different criteria. Advocates
quently been used for other languages that of a Rom an script point out that Rom an
they always seem wrong when they are used system s are the m ost nearly universal in the
to represent som ething other than what they world, m aking Hm ong part of m odern world
represent in Standard Thai. culture. Advocates of the Lao script used to
point out that Lao was their national lan-
4.2.2.  Adaptation is usually incom plete in guage, and the use of that script sym bolized
various ways, even where the writing system their participation in the nation, and brought
fits the spoken language reasonably well. Peo- governm ent acceptance, whereas the Rom an
ple m ay strongly resist adapting loan words, was foreign. Advocates of independently cre-
for exam ple, especially nam es. They m ay ated system s not based on preexisting m odels
want them spelled as in the source language insist that their system s are the only truly
instead of the way in which they are locally Hm ong system s, having been invented by
pronounced. Thus, people are likely to want Hm ong or revealed to the Hm ong by God
to spell Joseph rather than Zozep even if (Smalley, Vang & Yang 1990, 159 f).
/zozep/ is the way they pronounce the nam e.
Punctuation, likewise is likely to be rather 5.1.2. Continuing use of the language
slavishly im itated from the m odel language. Although the Massachuset language was the
The adopting language m ay have no need for language of the first full Bible ever printed in
quotation m arks because the beginning and the western hem isphere, it has ceased to be
end of a quotation is gram m atically m arked, spoken. The potential for its writing system
but people will be inclined to use quotation to be a functioning part of the culture died
m arks as in the m odel language. Capital let- with the langugage. Such has been the fate of
ters at the beginning of a sentence m ay have num erous other system s in different parts of
no com m unicative value but be im portant to the world as well. Only rarely is a language
people because they think that to spell with- kept alive prim arily through its writing, as
out capitals would be “wrong” wherever the was Hebrew for centuries.
model language has capitals.
5.1.3. Continued perception of benefit
If people do not continue to see benefit in
writing their language writing it becom es a
historical curiosity. As conditions change,
706 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

however, survival m ay require changes in sociolinguistic relationship between dialects.


what is valued. It certainly m eans that local Dialects m ay spread or shrink, rise or fall in
people them selves find literacy useful for prestige, or change their role in an area ac-
som e purposes. Functions prom oted only by cording to which one was written.
m issionaries or adm inistrators are not enough In the ninth century Cyrus and Methodius
in the long run. introduced writing based or their own Mace-
donian Slavic dialect to people who spoke
5.1.4. Culturally appropriate ways of Moravian Slavic farther north. The resulting
transmitting the writing system to Old Shurch Slavonic, as it is now called, thus
new readers becam e the foundation for Slavonic literary
writing over the whole Slavic language area,
Cherokee literacy in Cherokee and in English even though Macedonian Slavic was itself
had declined with the institution of coercive marginal to the area (Matejka 1984).
Am erican schools which displaced passive In som e situations num erous local dialects
Cherokee learning processes. Literacy in both shade into each other over an expanse of
Cherokee and English had earlier spread rap- territory with relatively equal status, although
idly through Cherokee learning styles which perhaps never as com plete equals. Adopting
involved periods of passive observation, then a writing system for any one of these dialects
incubation followed by intense private indi- m ay change its status relative to the others,
vidual experim entation and practice (Walker and create a new role for it (→ 3.4.2.2. Inuit).
1981, 171 ff). Aleut writing was m ost often
passed along from uncle to nephew or father 5.3. Normalization
to son after the Russian Orthodox schools
ceased to exist (Ransom 1945, 334 ff). Once people have accepted both the idea of
and initial attem pts at writing, then a process
5.1.5. Active writers of corporate experim entation, of trial and
error takes place. As people write they find
The writing which people do in a com m unity problem s with writing. Som e aspects of the
m ay consist of anything from letters to system m ay not m ake sense to them , or they
charm s to long form al works, but its contin- m ay not rem em ber what was intended. Vari-
uation in som e form is necessary for viability. ations in spellings arise. Som e of these jell
If a com m unity is only using texts preserved into personal variants of people who write
from the past viability of writing m ay be extensively; others are adopted by groups of
ebbing. This does not m ean, however, that a people, so that different schools of writing
large percentage of the population m ust be m ay em erge. Som e of the differences m ay be
writing, or even literate. Thoroughly viable based on different dialects. This whole phe-
writing has often been reserved to a class of nom enon is well illustrated in Balochi (Paki-
priests or scribes or an educated elite, al- stan, Iran, Afghanistan), where spellings in
though m ore so in the past than at present in Arabic script reflect dialect differences, idio-
many countries. syncratic personal differences, differences in
how the writers treat loan words, differences
5.1.6. Support and use of writing by as to whether they use Persian or Urdu or
influential members of the community Arabic or other languages of the area as m od-
If literacy is considered children’s activity or els, differences in what Arabic graphs to use
the province of people m arginal to a society when there are alternatives. All of this is
it m ay not have m uch of a chance. A m ajor com plicated by the fact that Balochi is spoken
reason why Aleut writing and literacy spread in several different countries (Jahani 1989).
quickly and becam e deeply em bedded in Som etim es norm alization begins when one
Aleut culture was the close collaboration and writer dom inates what is written in the lan-
leadership given by an Aleut chief, Ivan guage, and his (or her) usage is followed by
Pen’kov, who worked closely and creatively others. Or som e m ajor piece of writing or
with Ioann Veniam inov, the Russian priest an im portant docum ent such as the Bible
who developed the system (Black 1977). He translated into the language m ay be used as
also continued to prom ote writing am ong his m odel. Occasionally a published dictionary
people after Veniaminov left. has served the purpose. Norm alization is fre-
quently built on the conventions created in
5.2. Dialect ranking the principal city in which the language is
spoken. Som e degree of norm alization is in-
Dialect differences affect writing system herent in all writing, even the m ost idiosyn-
choices, and writing in turn often affects the
57.  Codification by Means of Foreign Systems 707

cratic. Writers do not reflect all variations of Coulm as, Florian. 1989. The writing system s of the
their own pronunciation, for exam ple. But world. Oxford.
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com es m ore like the written form than are
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closely m atch those of the dom inant lan- evolution of writing. Chicago.
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5.5.  And so in these and countless other ways Heyd, Uriel. 1954. Language reform in m odern
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of writing keep spreading, keep penetrating Jahani, Carina. 1989. Standardization and orthog-
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58. Native Creation of Writing Systems

1. Introduction known to the designer, and usually their


2. Independent invention graphs are new as well. Even if som e shapes
3. Stimulus diffusion are taken from other system s they have values
4. Structural reformation unrelated to their values in the original sys-
5. Historical clusterings tem.
6. References Fig. 58.1 is a partial sam pling of such in-
vented system s. The few of them which are
further discussed in this article were selected
1. Introduction to highlight different aspects of the process
For a people to adopt a foreign system of of creating new writing system s under differ-
writing and adapt it to their own language is ent sociocultural conditions in different parts
a widespread phenom enon in the m odern of the world. Sources m ay be found in Dirin-
world (→ art. 57); for people to devise a new ger (1962, 1968), Gelb (1963), Dalby (1970),
writing system for their language without Jensen (1970), Walker (1981), Huttar (1987),
adopting an existing one is rare. Such system s DeFrancis (1989), Sm alley & Wim uttikosol
are structurally different from ones previously (in press), or Sm alley, Vang & Yang (1990).
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alphabet form ation. Anthropological Linguistics

58. Native Creation of Writing Systems

1. Introduction known to the designer, and usually their


2. Independent invention graphs are new as well. Even if som e shapes
3. Stimulus diffusion are taken from other system s they have values
4. Structural reformation unrelated to their values in the original sys-
5. Historical clusterings tem.
6. References Fig. 58.1 is a partial sam pling of such in-
vented system s. The few of them which are
further discussed in this article were selected
1. Introduction to highlight different aspects of the process
For a people to adopt a foreign system of of creating new writing system s under differ-
writing and adapt it to their own language is ent sociocultural conditions in different parts
a widespread phenom enon in the m odern of the world. Sources m ay be found in Dirin-
world (→ art. 57); for people to devise a new ger (1962, 1968), Gelb (1963), Dalby (1970),
writing system for their language without Jensen (1970), Walker (1981), Huttar (1987),
adopting an existing one is rare. Such system s DeFrancis (1989), Sm alley & Wim uttikosol
are structurally different from ones previously (in press), or Sm alley, Vang & Yang (1990).
No docum entation on Xiong Jé, Xao Xiong
58.  Native Creation of Writing Systems 709

Date Language Location Name of System Inventor Type Prior Literacy


— 3000 Sumerian Mesopotamia morphosyllabicnone
— 1200 Chinese E Asia morphosyllabic?none
300 Mayan Cen. America morphosyllabic?none
100 Ogham NE Europe alphabetic
?1200 Yi (Lolo) SW China syllabic ?Chinese
1446 Korean Korea Han’gul Sejong alphabetic Chinese
1700 Naxi SW China syllabic ?Chinese
(Moso)
1821 Cherokee N. Carolina Sequoyah syllabic none
1900s Yupik Alaska Uyakoq syllabic none
Eskimo
1900s Yupik Alaska Quiatuaq syllabic none
Eskimo
r1906 Fox 1 Great Lakes alphabetic alphabetic
r1906 Fox 2 Great Lakes alphabetic alphabetic
1910 Ndjuka Suriname Afaka Atumisi syllabic none
1929 Chuckchee Siberia Tenevil ?syllabic ?none
1900s Chin Burma Pau Chin Hau ?alphabetic/d
r1913 Woleai Caroline I. syllabic
c1910 Bamum Cameroun Njoya syllabic none
F—G
c1920 Somali Somalia Osmania Isman Yusuf alphabetic alphabetic
1833 Vai Liberia Momolu syllabic none
Duwalu Bukele
1920s Bassa Liberia Vah Thomas Flo alphabetic alphabetic
Lewis
1921 Mende Sierra Leone Ki-ka-ku Kisimi Kamara syllabic
1930s Loma Liberia Wido Zobo syllabic ?none
1930s Kpelle Liberia Gbili syllabic ?none
c1950 Manding Guinea Souleymane Kantéalphabetic alphabetic
1950s Fula Mali Adama Ba alphabetic alphabetic
1956 Bete Ivory Coast Bruly-Brouabe syllabic alphabetic
c1960 Wolof Senegal Assane Faye alphabetic/d alphabetic
1960s Fula Mali Dita Oumar Dembélé alphabetic/d alphabetic
1959 Khmu’ Vietnam/Laos Shong Lue Yang none
1959 Hmong Vietnam/Laos Pahawh Hmong 1 Shong Lue Yang alphabetic/d none
1965 Hmong Laos Pahawh Hmong 2 Shong Lue Yang alphabetic/d PHH 1
1970 Hmong Laos Pahawh Hmong 3 Shong Lue Yang alphabetic/d PHH 2
1971 Hmong Laos Pahawh Hmong 4 Shong Lue Yang alphabetic/d PHH 3
?1970 Hmong Laos Xiong Jé Script Xiong Jé alphabetic alphabetic
1976 Hmong Laos Xao Xiong Script Xao Ying Xiong alphabetic
r1983 Hmong Laos Sayaboury Script alphabetic/d ?alphabetic
r1990 Hmong Laos Embroidery Script alphabetic/d ?alphabetic
Fig. 58.1: Some natively created writing systems grouped by location and/or era. Code: c = approximately; r = reported
(date of creation unknown); s = created during the decade; ? = uncertain; /d = demisyllabic type.

or Em broidery scripts for Hm ong has yet are im portant for understanding the phenom -
been published. enon of writing system s created by native
speakers. These presum ably original writing
system s evolved over centuries through a long
2. Independent invention sequence of increm ental changes. People who
Although the Sum erian, Chinese and Mayan participated in their developm ent presum ably
writing system s listed in Fig. 58.1 are outside had no opportunity to observe writing at
the scope of this article (→ art. 18, 26, 28), work in any other language. In each case,
their differences from system s discussed here also, the rebus principle was the significant
710 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

key to m aking a transition to true writing. for all the words required by that topic. None
Under this principle logographic sym bols for of these first attem pts were full writing sys-
full words or m orphem es were extended to tem s as they could not be used successfully
phonological sym bols, usually of syllables. to write anything anyone wanted to say on
Thus the sym bols used for ‘bee’ and ‘leaf’ any topic. The sixth system , however, devel-
would be com bined to spell ‘belief’ in rebus oped about 1910, did break radical new
writing (DeFrancis 1989, 50). ground and provided full writing. It was ac-
The later system s, on the other hand, were com panied by a culture of writing, especially
generally done within the life spans of partic- in the court but also am ong others in the
ular individuals. The rebus principle was of- kingdom who learned to do it. Finally in 1921
ten not apparent in their work and they all Njoya sim plified the graphs of the sixth sys-
knew at least that writing existed. The original tem to produce Bam um G, without changing
three system s were therefore truly independ- the structure.
ent inventions in a sense which those which In 1913 Njoya began to set up a printing
followed were not. press, but destroyed it in 1920 because he was
angry at restrictions im posed by the French
colonial adm inistration. He was exiled by the
3. Stimulus diffusion French in 1931, and died in 1933 at the age
Som e of the inventors listed or assum ed in of 66 (Schmitt 1963).
Fig. 58.1 were preliterate people who had no
prior idea of how writing could be done, just 3.1.1. Development of the Bamum system
that it was possible because they observed it Dugast & Jeffreys (1950) docum ented 510
used by others. They went on from that to graphs for Bam um A. This num ber is prob-
invent the technique by which they could do ably not com plete because it was collected
it in their own language, a process of stim ulus half a century after the system was devised
diffusion. In so doing they had to discover and had ceased being used. All the exam ples
the underlying principle of writing, that m arks of Bam um A in Fig. 58.2 happen to be logo-
m ade on surfaces can sym bolize speech, and graphs, but a few other kinds of graphs ex-
undertake som e degree of inform al linguistic isted as well, ones which pointed the way
analysis and application as well. toward developm ents to com e. Proper nam es
and num bers with m ore than one syllable
3.1. King Njoya’s Bamum writing were written syllabically by the rebus princi-
The developm ent of Bam um writing followed ple (2.). In addition, one graph was a sem antic
the pattern of developm ent in the three an- distinguisher, not a logograph. I t was prefixed
cient original system s m ore closely than any to proper nam es to show that they should be
of the others discussed here. Njoya was born read syllabically, or used to distinguish hom -
about 1867 and becam e king of the Bam um onym s by m arking the m ore elevated m ean-
(Cam eroun) at the age of 9—12 years. This ing. The hom onym which referred to the per-
was before European colonists or even ex- son or object with higher prestige, status or
plorers had begun to penetrate where he lived. function was given the prefix. An English
Although not him self literate he knew about analogy would m ark chair when referring to
Hausa writing in Arabic script and wanted the head of a departm ent but not when re-
Bam um writing to be different. He even in- ferring to a seat.
sisted that since Hausa was written right to Apparently Njoya found the num ber of
left in Arabic fashion Bam um could only be graphs required for the earlier stages of his
written left to right, top to bottom , or bottom attem pts at writing to be a problem , for the
to top. Njoya produced his first approxim a- next four system s were distinguished prim ar-
tion of writing about 1895, followed in quick ily by a net reduction in their inventory, al-
succession by a series of four m odifications, though a few new graphs were added each
none of them significantly different in struc- tim e to fill in gaps which were also becom ing
ture, but obviously attem pts to deal with evident. 437 graphs have been docum ented
problem s he was facing (Fig. 58.2). The sys- for Bam um B, 381 for Bam um C, 295 for
tem s were largely logographic, their useful- Bam um D, and 205 for Bam um E. The re-
ness for com m unicating on any topic depend- duction was accom panied by slowly increas-
ing prim arily on whether the sm all stock of ing use of the rebus principle, so that texts
logographs available provided enough graphs show an increasing interm ixture of graphs
used to represent syllables rather than words.
58.  Native Creation of Writing Systems 711

Fig. 58.2: Some sample graphs of Bamum writing in the seven stages of its development (after Dugast &
Jeffreys 1950: 90). Stages A—E were not full writing, although some of them were used to communicate on
limited subjects. In Bamum A—D graph 4 symbolizes ‘spear’.

By the tim e Njoya reached Bam um E he was one determ iner. 56 of the graphs were logo-
also increasingly troubled by tone contrasts graphs representing m onosyllabic words, but
and actually included a few logographs for served m ore im portantly also as rebus sym -
words distinguished only by tone. Spoken bols for syllables as well. 15 graphs repre-
tone distinctions (high and low) are shown sented syllable pronunciations alone without
within brackets after the glosses in Fig. 58.2. any logographic value. 6 graphs represented
Thus Njoya struggled between conflicting individual vowel phonem es, while 2 repre-
needs for enough graphs to represent the dis- sented phonem es /m / and /z/. The diacritic,
tinctions in the language, on the one hand, in turn, had m ultiple functions, m ost often
and too m any graphs to learn easily on the sym bolizing a syllable-final glottal stop, as in
other. several of the exam ples in Fig. 58.2. In other
Njoya’s breakthrough cam e with Bam um cases, however, it m arked a graph as repre-
F, which achieved full writing even though it senting a word or syllable with a different
still had weaknesses. Bam um F had 80 graphs onset or rim e, as in exam ples 6, 7 and 9. In
including ten num erals, plus one diacritic and a few cases it distinguished syllables or logo-
712 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

graphs by tone. The distinguisher rem ained Sequoyah experim ented and puzzled for
as in Bam um A, m arking the m orphem e twelve years over how to write Cherokee,
whose referent had higher status. trying one approach after another. He neg-
lected his farm and other duties, suffering
3.1.2. Viability and significance ridicule and even persecution from fam ily and
neighbors because he did so. He visited a
Even Njoya’s final writing system did not school at the Moravian m ission to observe
achieve the elegance of som e of the system s the students reading English, but could m ake
to be described later. It was inconsistently nothing of what they were doing. He collected
m ade up of graphs representing different lev- sam ples of English language writing but they
els of language in som ewhat haphazard ways. did not help him understand the principles,
Tones were distinguished in only four sylla- either. He started drawing pictures, each to
bles and num erous other theoretically possi- represent a different word, but had to give
ble syllables were m issing. In spite of its lim - that up as too cum bersom e. Up to this point
itations, however, it was a workable system we see him engaged in a process sim ilar to
which was taught in schools and widely used. the one followed by Njoya, but do not have
A staff of scribes wrote several m ajor docu- exam ples of the writing he tried and discarded
m ents, including a History of the Bamum and because none of that was m ade public. We
their Customs, a code of m arriage, a book on have no indication, furtherm ore, that Se-
religion, and one on Medicine and Local Phar- quoyah used the rebus principle.
macology. Births, m arriages, deaths and legal We do know, however, that finally Se-
judgm ents were registered in the script. quoyah found the crucial idea he needed to
Clearly Njoya’s work represents a m onum en- m ake writing possible when he began to draw
tal accomplishment. graphs to sym bolize parts of words, usually
Num erous historical, social, cultural and syllables. He produced a system of som e 200
linguistic factors contributed to the form ation graphs which he successfully dem onstrated in
of the Bam um system and its use. Funda- 1821 by teaching it to his daughter and then
m ental to them was the diffusion of the idea reading back m essages which people dictated
of writing, com bined with Njoya’s desire that to her. He then went on to reduce the num ber
any Bam um writing should be distinct from of graphs, ending up with 85 in 1824. The
the dom inant Hausa. Critical also was the Cherokee Council adopted the system in 1827
inventor him self, his personal inclinations and and type fonts were cast for printing it. The
abilities. As king, furtherm ore, he had the first num ber of a newspaper, the Cherokee
power to authenticate the system and to see Phoenix appeared in 1828. Within a rem ark-
it im plem ented, supported by the highest lev- ably short tim e m ost adult Cherokee appar-
els of Bam um social structure. His position ently becam e literate in the system (Mooney
also insured som e financial resources and a 1900, 112 ff; Foreman 1938).
staff of scribes. Colonial authority, on the
other hand, curtailed his work. He destroyed 3.2.1. The Cherokee system
the printing press because of his frustrations
with the French, and was eventually banished The graphs which spread widely with Cher-
by them . From then on his writing system no okee literacy were not entirely the sam e as
longer had official support and has gradually those Sequoyah designed, however. Non-
declined. Cherokee technicians who cast the type for
printing m odified them considerably to look
3.2. Sequoyah and the Cherokee script m ore like capital letters of Rom an script. Fig.
58.3 shows three lines of a table of graphs as
A partially different experience with the proc- printed, with som e of their values. Fig. 58.4
ess of discovering how writing can be done is shows tracings of sam ple pairs of graphs ap-
illustrated by Sequoyah, creator of the highly parently written in Sequoyah’s own hand-
successful Cherokee (USA) syllabary. In 1809 writing. The second graph in each pair is
he and som e of his friends idly speculated sim ilar to the printed shapes, but the corre-
on how Whites could send “talking leaves“ sponding first graph in each pair is strikingly
across long distances with m essages which different.
were understood at the receiving end. The Sequoyah’s system was a syllabary, m ore
chance conversation led him to think deeply consistently so than the Bam um . The basic
about the im portance of this rem arkable abil-
ity and what it could m ean to the Cherokee Cherokee spoken syllable has the form CVt,
or consonant and vowel with tone. In its most
people to be able to do the same thing.
58.  Native Creation of Writing Systems 713

relation to a colonial power which was both


intriguing in the new opportunities it exem -
plified and threatening in its tending to over-
whelm the nation’s existence. An individual
had the curiosity, tim e, determ ination, per-
Fig. 58.3: Samples of graph shapes as modified for severance and intelligence to figure out how
printing (after White 1962, 512). Only one value is writing could be done. A social hierarchy
given for each graph, but a number of them actually headed by the Cherokee Council officially
have phonemically distinct values beginning with approved and prom oted the system , giving it
voiced and voiceless consonants. The vowel quality authenticity and providing m eans for dissem -
represented as v is //. inating it. People quickly saw value in the
writing as m eeting som e of the needs they felt.
It provided an ethnic sym bol of high prestige,
brought respect from the colonizers, m ade
possible widespread com m unication within
the nation, strengthened preservation of in-
form ation about traditional culture, and
helped people to understand better the im -
Fig. 58.4: Samples of graph shapes apparently pinging culture, especially its religion. A few
written in Sequoyah’s hand (traced and reduced m em bers of the dom inant colonial society
from Walker 1981, 148, photographed from a also helped by casting type, setting up print-
manuscript at the Thomas Gilcrease Institute of ing facilities, and advising on other technical
American History and Art, Tulsa, Oklahoma). tasks. The system was also adopted and pro-
m oted by som e of the Christian m issions.
Cherokee learning style, furtherm ore, enabled
thousands of people to learn to use the system
expanded form the syllable consists phone- without form al education, but sim ply by ob-
m ically of CCVt:tC. Reduced syllables of the servation, experim entation, som e tutoring,
type CC, without a vowel, and perhaps Vt, and incubation (Walker 1981, 171 ff).
without a consonant, also occur in context. These social forces prevailed in spite of
Cherokee has 6 vowels, 2 vowel lengths, 18 underdifferentiation in the system (→ art. 57),
consonants and consonant clusters, and 4 aided by the fact that in som e respects the
tones, leaving aside the com plications of final underdifferentiation was helpfully consistent,
consonants and reduced syllables. Theoreti- unlike Bam um . Where a single graph repre-
cally it therefore has 864 syllables which Se- sented m ore than one syllable they were not
quoyah finally wrote with 85 graphs, one of random ly associated, but usually began with
which is phonem ic /s/, not syllabic. This un- phonetically sim ilar voiced and voiceless con-
derdifferentiation in the writing results from sonants. Tones and vowel length apparently
not distinguishing vowel length or tone, and have low functional load in Cherokee, so that
not usually distinguishing voiced/voiceless not m uch was lost by not distinguishing them
contrasts (e. g. /ke/ and /ge/ are represented in writing. Writing final consonants and re-
by the sam e graph, as are /nu/ and /hnu/, duced syllables as though they were full syl-
etc.). Except for /s/, syllable-final consonants lables is frequent in syllabic writing and m ay
and reduced syllables are written as though be seen as a step toward phonem ic writing.
they were full syllables. /di2i1ne2e3ł—di4i3/ All in all, readers had little difficulty either
‘dolls’, for exam ple, is written as though it learning the Cherokee system or using it, far
were /dinelodi/, or som e other perm utation less difficulty in learning it than m any people
thereof. Nevertheless, although the writing is have with the greater inconsistencies of Eng-
thus theoretically highly am biguous, in prac- lish writing.
tice experienced readers have little or no prob- Other social forces, however, dim inished
lem reading it (Walker 1975, 190 ff; 1981, the use of the Cherokee syllabary in due
146 ff). course. The dom inant Am erican culture has
been harsh on the cultures, languages, and
3.2.2. Viability and significance writing system s of Native Am ericans, render-
Several ingredients were critical in the m ixture ing them increasingly m arginal. Although use
of forces which produced the Cherokee syl- of the Cherokee syllabary has picked up again
labary and m ade it a success. A nation was since the 1970s its role is only a shadow of
trying to work out its identity and role in what it form erly played in the Cherokee na-
tion (White 1962; Walker 1975, 195 ff).
714 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

3.3. Shong Lue Yang’s Pahawh Hmong


Even the sketchy picture we have of Sequoy-
ah’s twelve-year effort to understand how
writing works cannot be m atched for the sam e
stage in the work of Shong Lue Yang, who
nevertheless devised the even m ore rem ark-
able writing system with which he suddenly
em erged to public view in 1959. In fact, he
em erged with system s for both his own
Hm ong language and for the Khm u’ language Fig. 58.5: Examples of Pahawh Hmong 1 graphs
of his m other (both spoken in Vietnam and for rimes (vowels and tones). Phonemic values of
Laos). Shong Lue could not previously read the vowels are shown to the right, where n repre-
or write any language, but he had doubtless sents nasalization (after Smalley et al. 1990, 66).
observed the phenom enon of writing at least
in Chinese, Vietnam ese, Lao and French. He found and assassinated him and his wife in
believed in the potential im portance of writ- 1971.
ing for his people, especially as the Hm ong No exam ple of Shong Lue’s Khm u’ system
had long-standing m yths which declared that is known to have survived the persecution
God would som e day provide writing for suffered by som e of his followers after the
them . Shong Lue’s writing therefore carried assassination, but the Hm ong system is well
m essianic im plications, and the very fact that docum ented, and som e of the later revisions
an illiterate Hm ong person could produce a are still in use in Laos, in Hm ong refugee
writing system was proof to him self and m any cam ps in Thailand, and am ong som e Hm ong
of his neighbors that it and he were of divine im m igrants to the USA (Sm alley et al. 1990).
origin (Vang, Yang & Sm alley 1990, 11 ff). Shong Lue called his writing the Pahawh
Later Shong Lue radically restructured his Hm ong ‘Hm ong alphabet’. We describe only
Hm ong writing system three tim es, producing the first stage in this section, which is re-
a significantly different system in each (4.1.). stricted to system s resulting from stim ulus
When Shong Lue began teaching his diffusion, because his further restructurings
Hm ong and Khm u’ writing system s in the cam e after he was already literate in this first
m ountains of northwestern Vietnam in 1959, system.
that part of the world had been in turm oil
for years, repeatedly buffeted by war which
began when the Japanese occupied Indochina 3.3.1. Pahawh Hmong 1 system
in 1940 at the beginning of World War II. A few exam ples of the graphs which Shong
The Hm ong and the Khm u’ had been caught Lue designed for Pahawh Hm ong 1 are shown
up in the twenty-year conflict, the Hm ong in the tabular form in which he taught them
divided and fighting on both sides. Along (Fig. 58.5 and 58.6). The shapes shown here
with his writing system Shong Lue taught a were norm alized by som e of his followers for
m essianic m essage of unity so that God could reproduction by m odern technology, and
restore the Hm ong and Khm u’ people to eth- look som ewhat different from his own rather
nic and national greatness. As word of the uneven handwriting. In Fig. 58.5 the colum ns
writing spread people began walking from correspond to 7 tone distinctions and the rows
m iles around to learn from Shong Lue, who to 3 of the 13 phonem ic vowels, vowel clus-
enlisted a cadre of literacy teachers and an- ters, and nasalized vowels of the language.
other of religious leaders to help him . This In Fig. 58.6, on the other hand, neither
m ovem ent soon attracted the attention of row nor colum n has any linguistic signifi-
Vietnam ese com m unist authorities who de- cance, but the table sim ply shows the arbi-
clared that he had learned his system from trary order in which Shong Lue taught the
the CIA, and tried to capture him . He fled to graphs. The exam ples in Fig. 58.6 are there-
Laos, into the care of the Hm ong m ilitary fore nine out of 30 haphazardly related ini-
fighting with the United States, where again tials, two of which did not occur in his own
he attracted a large following. In tim e the dialect but were required for another.
Hm ong m ilitary leadership becam e jealous Hm ong spoken syllable structure has the
and suspicious of him , and eventually jailed form CVt, in which the initial C m ay consist
him . He was rescued by followers, but soldiers of 0 to 4 phonetic segm ents (like /ntsh/), and
the V consists of 1 or 2 phonetic segments.
58.  Native Creation of Writing Systems 715

of the worth of their language am ong the


languages of the world. More educated and
m ore powerful people, on the other hand,
tended to see the m ovem ent as an em barrass-
ing superstition, and to dism iss the writing as
of no significance. Two other m ajor differ-
Fig. 58.6: Examples of Pahawh Hmong 1 graphs ences were the m ythological fram ework which
for initials (consonants and zero). Corresponding underlay Hm ong thinking about writing and
phonemic values are shown to the right (after Smal- the fact that the writing was alm ost an end
ley et al. 1990, 67). in itself, with little em phasis on what was
written or was to be written. Shong Lue Yang
In Pahawh Hm ong 1 every spoken syllable is left no documents except a few letters.
sym bolized by a sequence of two graphs, one Pahawh Hm ong 1 required m em orizing
for the initial (consonant or consonant clus- 151 graphs, not to speak of associated logo-
ter) and one for the rim e (vowel and tone), graphs like num erals. This was not an insur-
no m atter how m any segm ents m ay be spo- m ountable task, as proved by the m any peo-
ken. It is an alphabetic system in that it sym - ple who did learn it, but Shong Lue soon
bolizes phonological segm ents sm aller than found ways to lower the m em ory load. He
the syllable, but is dem isyllabic in that the did so, however, not by deleting graphs and
segm entation is not into individual phonem es, thus creating underdifferentiation, but by re-
like m any alphabets. Pahawh Hm ong sylla- structuring the system (4.). Pahawh Hm ong
bles are read from left to right, but a unique 1 fits the language for which it was developed
feature of the system is that within each syl- m ore perfectly than any other alphabet
lable the graph for the rim e precedes the known to have been created by a person who
graph for the initial, in reverse order from the could not previously read or write. The Pa-
spoken order. The rim e is treated as the nu- hawh Hm ong, furtherm ore, is the only alpha-
cleus of the syllable and the initial an ap- bet (as opposed to syllabary) which a non-
pendage to the rim e, as though the structure literate person is known to have produced. I t
of the spoken syllable were ‛Vt, written Vt‛. is no longer used, having been supplanted by
Pahawh Hm ong 1 fits perfectly both m ajor sim pler subsequent system s, but rem ains the
Hm ong dialects spoken in Laos and Vietnam , m ost sacred of the system s to the followers
and it is com pletely consistent when used of Shong Lue Yang because it was the original
correctly, phonologically neither overdiffer- revelation.
entiated nor underdifferentiated.

3.3.2. Viability and significance 4. Structural reformation


Som e of the sam e circum stances which gave Unlike the system s in 3., a m ajority of the
rise to the Bam um and Cherokee syllabaries writing system s tabulated in Fig. 58.1 were
helped to produce the Pahawh Hm ong as produced by people whom we know or as-
well. These included the difficult relations sum e were already literate in som e language.
with colonial powers (this tim e Vietnam ese They nevertheless devised writing system s
and Lao) and the rem arkable individual who which were new creations in som e significant
produced the system . Som e other factors were sense, not just adaptations of the system s they
significantly different, however, starting with already knew. The outstanding exam ple of
the fact that Shong Lue’s system never got such a restructuring becom ing a m ajor writing
official sanction from higher authorities system for a m ajor language is the Korean
am ong his people, but aroused persecution Han’gul, a m arvelously ingenious system (→
and resulted in his death. The authorities saw art. 27).
him as a severe threat because of his m essianic Shong Lue Yang, now literate in Pahawh
m essage and because som e thought his system Hm ong, m ade three such restructurings of the
was a code for com m unicating with the en- Pahawh Hm ong after beginning to teach it in
em y. Shong Lue Yang’s appeal was prim arily 1959. He introduced Pahawh Hm ong 2 in
to peasants and the lower ranks of soldiers. 1965, following it with the third version in
Many hum ble Hm ong people saw great value 1970 and the fourth in 1971. The second
in his writing system s, not necessarily utili- version was widely taught until he was assas-
tarian value, but religious value, and a sym bol sinated in 1971. It quickly replaced the first
because it was sim pler, and is still used by
716 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

som e Hm ong in Laos and Thailand. The third


system was devised when he was in prison
and therefore did not get a strong start before
his death or during the subsequent period
when his followers were persecuted. It was
revived, however, in refugee cam ps in Thai-
land in 1975, where m any Hm ong fled when
the Vietnam ese won the war in Laos. It has
since becom e the “standard“ Pahawh Hm ong
system by agreem ent am ong som e of Shong
Lue’s principal disciples. Shong Lue gave the
fourth system to his prim ary student just a
short tim e before he was assassinated. It has
never been used except as an auxiliary system ,
although it is the simplest of them all.

4.1. The changes
Each revision of the Pahawh Hm ong brought
at least one m ajor structural change to the
system of rim es, as illustrated in Fig. 58.6,
which m ay be com pared graph for graph with
Fig. 58.5. Each restructuring reduced the
num ber of graphs to be rem em bered or oth-
erwise lowered the m em ory load without pro-
ducing any underdifferentiation. In Pahawh
Hm ong 1 every rim e had a different graph,
requiring 91 shapes, none of which were vi- Fig. 58.7: Examples of Pahawh Hmong graphs for
sually related in any system atic way. Stage 2 rimes, stages 2—4. Phonemic values of the vowels
still required 91 graphs, but a degree of visual are shown to the right in stage 2 (after Smalley et
relationship, of m nem onic sim ilarity, was in- al. 1990, 69, 56, 72).
troduced for each vowel quality. Every vowel
graph now consisted of a prim ary graph
shape plus a diacritic (including 0 diacritic),
and every vowel pronunciation had two such
prim ary graph shapes plus any one of four
diacritics. The num ber of shapes to be re-
m em bered was thus reduced from 91 to
26 + 4, or 30. In this Stage 2, however, the
diacritics did not represent tones as such be-
cause they were not system atically placed in Fig. 58.8: Examples of Pahawh Hmong graphs for
the respective tone colum ns. For exam ple, the onsets, stages 2—4. Corresponding phonemic val-
first colum n for stage 2 in Fig. 58.7 had three ues are shown to the right (after Smalley et al.
different diacritics, although all graphs in the 1990, 57).
colum n represent syllables with the sam e
tone. Diacritics were as inseparable from the
prim ary graph shapes as the dot is from the sistent, as shown in Fig. 58.8. One basic shape
prim ary graph shape in a Rom an i. The ap- was used for each line, and this tim e the sam e
portionm ent of shapes to the vowel qualities diacritic was used consistently the length of
was likewise not consistent. For som e vowel each colum n. Again, neither part of the graph
qualities of stage 2, the first shape occurred had any independent reference, however.
four tim es, the second three, but for som e Each graph rem ained a unitary sym bol, but
others (not shown), the line division was the num ber of shapes to rem em ber was re-
3/4. The shapes of the graphs, furtherm ore, duced from 60 to 20 + 3. These sam e onset
bore little resem blance to those in Pahawh graphs continued to be used unchanged
Hmong 1. through all the subsequent versions. The in-
The treatm ent of the onsets in stage 2 was creasing linguistic sophistication to be seen in
parallel to that of the rim es, but m ore con- later treatm ents of the rim es did not extend
Stage 2 to the onsets.
58.  Native Creation of Writing Systems 717

In the third stage the inconsistencies in the be found in surrounding languages. Rather,
stage 2 treatm ent of rim es were rem oved. The they were logical extensions and perfections
sam e diacritic now appeared down the length of his original insight. The treatm ent of tones
of each full tone colum n and the two basic in the fourth stage, on the other hand, al-
graph shapes for each vowel were appor- though it was also a further logical extension,
tioned consistently 4/4 across the line. (An did partially resem ble the way tones are
additional tone colum n was added for an handled in Vietnamese.
eighth tone which had not been included be- Unfortunately we do not know what the
fore, but which is usually m orphophonem i- Khm u’ system Shong Lue developed was like,
cally predictable, and which had little bearing but working sim ultaneously on the two lan-
on the fit of the writing system to the lan- guages m ay have helped him find solutions
guage.) The effect of these changes was not in each. Khm u’ phonology is sharply different
sim ply to tidy up the system , however. Struc- from Hm ong phonology, so that the dialect
turally the effect was to split the graph for which Shong Lue probably knew had no tone
the tone from the graph for the vowel. The but had num erous syllable-final consonants
effect for the learner this tim e was not to plus a larger inventory of vowel contrasts.
reduce the num ber of shapes to be learned Probably som e 2000 people now use the
but to render the relationship of shapes to Pahawh Hm ong, m ost of them the third stage,
sound less arbitrary, and therefore easier to although the m ajority of Hm ong who are
remember. literate prefer a Rom an version. People who
In the fourth stage only one graph was do use the Pahawh Hm ong tend to be very
used to represent each vowel quality, which loyal to it, even those who do not follow
required the use of 8 diacritics (including 0) Shong Lue Yang’s m essianic vision. They see
to distinguish the tones. This reduced the it as a sym bol of Hm ong identity, a Hm ong
graphs to 13 + 8 and created a one-to-one creation not adapted from a foreign writing
correspondence between vowel final and system . Adherents also say it is easier to learn
graph as well as between tone and graph. than the Rom an system , and experienced
That m ade the whole vowel system som ething readers and writers certainly use it fluently
m ore like what a Western linguist m ight have and easily. Typing and word processing is
designed, although it still left vowel sequences possible in it, having been developed over
like /ia/ and /ua/ graphically unsegmented. m any years of ingenious experim entation by
a few disciples.
4.2. Evaluation
From Shong Lue Yang’s point of view, stages 5. Historical clusterings
2—4 where probably sim plifications, render-
ing the Pahawh Hm ong easier to learn and A notable fact about natively created writing
rem em ber. From a linguistic point of view system s is that som e of them cluster in space
they also showed a steadily deepening under- and tim e, as is obvious in Fig. 58.1. After the
standing of how the Hm ong sound system three original inventions, all the system s but
works and of how writing can sym bolize one shown before the 19th century are in the
speech. As he used and taught Pahawh Chinese culture sphere. Japanese could also
Hm ong 1 Shong Lue becam e increasingly sen- be added to that list because from one point
sitive to additional possibilities beyond his of view the Japanese syllabic system s are new
original creation. Even the inconsistencies in creations, although the Japanese writing sys-
the ways rim es were handled in stage 2 m ay tem seen as a whole m ay be better classified
have helped bring further changes. The table as an adaptation from Chinese (→ art. 27).
in which they were presented alm ost forced Other writing system s were likely invented
realignm ent of the diacritics with colum ns, as also am ong peoples in present-day China.
had already been done with onsets. As tim e Two of the system s in Fig. 58.1 cam e in the
went on, also, Shong Lue had a few students 19th century, followed by the bulk in the 20th.
who were already literate in other languages Even though other undocum ented system s
or the Rom an Hm ong, and asked questions m ay have been invented in other countries as
or m ade suggestions based on their prior ex- well, it is still clear that the spread of literacy
perience. These certainly stim ulated Shong which accom panied European colonialism ,
Lue, but until the fourth stage his solutions m issionization and m odernization has been a
did not m ove in the direction of structures to m ajor stim ulus to this increase in the inven-
tion of new systems.
718 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

try. The Xao Ying Xiong script probably also


has a m essianic perspective behind it, but
whether or not the Em broidery script is sup-
ported by such an ideology is not known.
The extraordinary preoccupation with
writing system s am ong Hm ong people is
clearly a cultural phenom enon with deep
roots. The Hm ong have lived their lives for
hundreds of years in the shadow of m ore
powerful people with writing — Chinese, Vi-
etnam ese, Lao, French, and Thai. Som e of
Fig. 58.9: Sayaboury script vowels. Phonemic val- them ascribe part of their politically subor-
ues are shown in the intersections of the matrix dinate status to the lack of writing, and see
(Smalley & Wimuttikosol 1991). writing as a source of power for the dom inant
peoples. They have m yths which state that
they once had writing, but lost it due to their
carelessness, and that God will at som e tim e
5.1. Other Hmong systems restore writing to them and bring them and
One m ajor cluster in Fig. 58.1 which extended their language to a status equivalent to sur-
through at least twenty years is located in rounding peoples. At the tim e when these
Laos, overlapping into Vietnam . It consists writing system s appeared the people had been
of the four Pahawh Hm ong system s and the subjected to years of brutal warfare, suffering
Khm u’ system (3.3., 4.) plus four other enorm ous casualties, displacem ent and flight.
Hm ong system s. We know nothing about the They were divided, fighting on both sides in
Khm u’ and little of the Xao Ying Xiong script this war. Thousands of them were cooped up
(Morrison 1992—1994), but the rest are all in resettlem ent areas and refugee cam ps for
alphabetic system s of the dem isyllabic type, years with m uch idle tim e on their hands. One
sym bolizing onset and rim e in various ways. of their responses to these m any intertwining
Unlike the Pahawh Hm ong, however, they do factors has been for individuals or groups to
so in the sam e order as in speech. They all com e up with the writing system s which they
distinguish tones with separate graphs, two believed would bring unity am ong them and
of them placing the tone graph after the vowel give them status am ong the nations. Unfor-
graph, and the third across the vowel graph. tunately, however, each new system adds new
All of them sym bolize the full range of sound grounds for disagreement among them.
contrasts in the two dialects of Hm ong used
in the area, phonologically fitting the lan- 5.2. West African systems
guage equally well. All of them show influ-
ence from the Rom an system m ore com m only A rash of writing system s invented by native
used to write Hm ong, but each has significant speakers in West Africa began with the Vai
structural differences from it also, as well as (Liberia) system in 1833 and continued later
unique graphs. As one exam ple of a unique at intervals from about 1929 to 1960 (Dalby
structural feature, the Sayaboury Script uses 1967, 1968, 1969). Seen chronologically and
only five graph shapes in arbitrary com bi- geographically, the Vai system seem s to have
nations to build com pound graphs for the stim ulated those developed in the 1920s and
thirteen vowels and vowel clusters (Fig. 58.9). 1930s in Mende, Lom a, Kpelle, and Bassa,
Each graph shape on the vertical axis fol- all languages of Liberia and neighboring Si-
lowed by each graph shape on the horizontal erra Leone, although none of the inventors
axis gives fifteen possible com pound graphs, could read the Vai. All of these system s were
thirteen of which sym bolize the vowels shown syllabaries except the one for Bassa, which
at the intersections of the matrix. was an alphabet invented by a m edical doctor
Each of these Hm ong writing system s has trained in the USA. None have had the wide-
its own sm all following, none of them rivaling spread use which the Vai system has enjoyed,
the Pahawh Hm ong or com ing anywhere near however, nor have they penetrated as deeply
the widespread use of the Rom an system . The into the respective cultures of their speakers.
Sayaboury script has strong m essianic im pli- They have been used prim arily for correspon-
cations, rem iniscent of the Pahawh Hm ong. dence by the people who know them.
Texts in the script describe what it will be like Then in the 1950s and 1960s natively de-
when God gives the Hm ong their own coun- vised writing systems were produced in some
58.  Native Creation of Writing Systems 719

speaking bush schools do not teach the Vai


script, however. That is learned m ostly by
young m en in their late teens or early twenties
tutored by people who are already literate.
Learning Vai script is always a personal affair
Fig. 58.10: Examples from the Vai syllabary (after
between the knower and the learner, not seen
Scribner & Cole 1981, 33).
as a com m unity or institutional responsibility.
It takes place in inform al encounters, often
for only a few m inutes at a tim e. A m ajor
learning strategy is to take a docum ent like a
of the next outer tier of countries of which letter and m em orize it graph by graph, copy-
Liberia is the hub: Guinea, Senegal, Mali and ing the graph repeatedly as part of the proc-
Ivory Coast. Except for Bete (Ivory Coast) ess. After a few such docum ents are studied
these were all alphabets, doubtless reflecting in this way m ost if not all the graphs have
the greater degree of alphabetic literacy in been m em orized. Vai literacy is thus literacy
Arabic, African and European languages cur- without education; if the Vai literate has any
rent in the area by that tim e. They appear to schooling it is gained in another language and
have been used only by the inventors and by another script.
a lim ited num ber of other people. More A Vai person m ay therefore be literate in
widely used writing system s for each of these any one or m ore of three scripts, or none at
languages were already in place when the new all. Each script, furtherm ore, is associated
systems were devised. with a different language, and is used for
The Vai system was the first in this West largely different functions. Percentages of the
African cluster, and the people who use it adult m ale population estim ated to be literate
have been m ore system atically studied for the in the different languages and their scripts are
place of writing in their life, culture and psy- Vai 20%, Arabic 16% and English 6%, with
chology than any other group which has a som e people able to read m ore than one script
system invented in m odern tim es (Scribner & so that the total com es to 28%. In spite of
Cole 1981). The Vai script is a syllabary pro- this association between language and script,
duced by Mom olu Duwalu Bukele and som e however, som e people do write Arabic prayers
of his friends who attributed his inspiration or English correspondence in Vai script, just
to a dream , although when he woke up he as som e also write Vai in Arabic or Rom an
could not rem em ber m ore than a few of the script. The Vai script is used m ost often for
characters revealed to him . He and his friends correspondence, but also for record keeping
m ade up the rest, and although the system like lists of donors at funerals, business ledg-
has been revised som ewhat through the years ers and technical plans. A few people keep
it rem ains essentially as they conceived it. clan histories or diaries, or record traditional
Som e exam ples of its present form are shown lore. It is not used m uch for acquiring new
in Fig. 58.10. It now has 212 graphs, and fits knowledge or culturally valued inform ation.
the language rather well except that it does And in spite of its value to the m inority who
not distinguish spoken tones or syllabic nasal know and use it, the m ajority of the popu-
/ñ/. lation gets along very well without literacy in
The Vai are a generally rural people, like any language at all.
m ost other people for whom writing system s According to Scribner & Cole (1981, 31)
have been created by m em bers of their com - any visitor to Vai country is told, “There are
m unity. Three types of form al education take three books in this world — the European
place in their com m unities. Knowledge re- book, the Arabic book, and the Vai book;
quired for adult Vai living is taught to chil- God gave us, the Vai people, the Vai book
dren reaching puberty by traditional m ethods because we have sense.” When we think of
in bush schools. Knowledge of the Qur’an, the often uneducated but brilliant persever-
particularly the ability to recite it and read ance and analytical insight which produced
Arabic is taught to children in Qur’anic the several system s we have discussed in this
schools. Western type education is available article, and others like them , that statem ent
for children in som e com m unities in govern- seem s to be a m ost sensible conclusion to
m ent or m ission schools. Each of these types draw about each of these peoples for whom
of educational institution has its language: one of their num ber invented a new writing
Vai, Arabic and English respectively. The Vai- system.
720 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

6. References annual report of the Bureau of Am erican Ethnol-


ogy. Smithsonian Institute. Washington.
Dalby, David. 1967. A survey of the indigenous
Morrison, Gayle. 1992—1994. Letters to William
scripts of Liberia and Sierra Leone: Vai, Mende,
A. Smalley.
Lom a, Kpelle and Bassa. African Language Studies
8, 1—39. Ollone, [Henri Mari Gustave] d’. 1912. Ecritures
des peuples non-chinois de la chine. Paris.
—. 1968. The indigenous scripts of West Africa
and Surinam e: Their inspiration and design. Afri- Schm itt, Alfred. 1963. Die Bam um -Schrift. Wies-
can Language Studies 9, 156—197. baden.
—. 1969. Further indigenous scripts of West Af- Scribner, Sylvia & Cole, Michael. 1981. The psy-
rica. African Language Studies 10, 161—181. chology of literacy. Cambridge, Mass.
—. 1970. The historical problem of the indigenous Sm alley, William A., Vang, Chia Koua & Yang,
scripts of West Africa. In: Dalby, David (ed.), Lan- Gnia Yee. 1990. Mother of Writing: The origin and
guage and history in Africa. New York, 109—19. developm ent of a Hm ong m essianic script. Chi-
cago.
DeFrancis, John. 1989. Visible speech: The diverse
oneness of writing systems. Honolulu. Sm alley, William A. & Wim uttikosol, Nina. in
press. Another Hm ong m essianic script and its
Diringer, David. 1962. Writing. New York.
texts. Journal of the Siam Society.
—. 1968. The alphabet: A key to the history of
Vang, Chia Koua, Yang, Gnia Yee & Sm alley, Wil-
mankind. 3. edition London.
liam A. 1990. The life of Shong Lue Yang: Hm ong
Dugast, Idelette & Jeffreys, M. D. W. 1950. L’écri-
„Mother of Writing”. Southeast Asian Refugee
ture des Bam um : Sa naissance, son évolution, sa
Studies Occasional Papers, no. 9. Minneapolis.
valeur phonétique, son utilization. Cameroun.
Walker, Willard. 1975. Cherokee. In: Crawford,
Foreman, Grant. 1938. Sequoyah. Norman, Okla.
Jam es M. (ed.), Studies in southeastern Indian lan-
Gelb, Ignace J. 1963. A study of writing: A discus- guages. Athens, Ga., 189—236.
sion of the general principles governing the use and
—. 1981. Native Am erican writing system s. In:
evolution of writing. Second edition Chicago.
Ferguson, Charles A. & Heath, Shirley Brice (ed.),
Huttar, George L. 1987. The Afaka script: An Language in the USA. Cambridge, 145—74.
indigenous Creole syllabary. In: Flem ing, Ilah (ed.),
White, John K. 1962. On the revival of printing in
The thirteenth LACUS forum 1986. Lake Bluff,
the Cherokee language. Current Anthropology 3,
Ill., 167—177.
511—114.
Jensen, Hans. 1970. Sign, sym bol and script: An
account of man’s efforts to write. London. William A. Smalley, Hamden,
Mooney, Jam es. 1900. Myths of the Cherokee. 19th Connecticut (USA)

59. Orthographieentwicklung und Orthographiereform

1. Zur Charakterisierung der Orthographie der graphischen Repräsentation sprachlicher


2. Möglichkeiten der Orthographieentwicklung Einheiten. Schreibung und dam it auch ihre
3. Grundsätze, Ziele und Bestimmungsfaktoren Norm , die Orthographie, beziehen sich som it
von Orthographiereformen auf die Form seite der geschriebenen Sprache,
4. Durchgeführte und geplante Orthographie- die ihrerseits eine bilaterale Größe darstellt
reformen und außer der Form seite auch eine Inhalts-
5. Auseinandersetzungen um Orthographie- seite um faßt, die wir Bedeutung nennen. Die
reformen graphische Repräsentation sprachlicher Ein-
6. Literatur heiten schließt alle graphischen Form einhei-
ten ein, die Schreibung beschränkt sich des-
halb keineswegs auf die elem entaren Schrei-
1. Zur Charakterisierung der bungseinheiten, die Graphem e, zu ihr gehören
Orthographie ebenso auch die graphischen Repräsentatio-
nen der höheren Einheiten des Sprachsystem s,
1.1. Der Begriff Orthographie der Morphem e, der Wörter, der Sätze und der
Texte. Mit anderen Worten, zur Schreibung
Unter Orthographie verstehen wir die Norm gehört nicht nur die graphische Wiedergabe
der Schreibung einer Sprache, d. h. die Norm
720 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

6. References annual report of the Bureau of Am erican Ethnol-


ogy. Smithsonian Institute. Washington.
Dalby, David. 1967. A survey of the indigenous
Morrison, Gayle. 1992—1994. Letters to William
scripts of Liberia and Sierra Leone: Vai, Mende,
A. Smalley.
Lom a, Kpelle and Bassa. African Language Studies
8, 1—39. Ollone, [Henri Mari Gustave] d’. 1912. Ecritures
des peuples non-chinois de la chine. Paris.
—. 1968. The indigenous scripts of West Africa
and Surinam e: Their inspiration and design. Afri- Schm itt, Alfred. 1963. Die Bam um -Schrift. Wies-
can Language Studies 9, 156—197. baden.
—. 1969. Further indigenous scripts of West Af- Scribner, Sylvia & Cole, Michael. 1981. The psy-
rica. African Language Studies 10, 161—181. chology of literacy. Cambridge, Mass.
—. 1970. The historical problem of the indigenous Sm alley, William A., Vang, Chia Koua & Yang,
scripts of West Africa. In: Dalby, David (ed.), Lan- Gnia Yee. 1990. Mother of Writing: The origin and
guage and history in Africa. New York, 109—19. developm ent of a Hm ong m essianic script. Chi-
cago.
DeFrancis, John. 1989. Visible speech: The diverse
oneness of writing systems. Honolulu. Sm alley, William A. & Wim uttikosol, Nina. in
press. Another Hm ong m essianic script and its
Diringer, David. 1962. Writing. New York.
texts. Journal of the Siam Society.
—. 1968. The alphabet: A key to the history of
Vang, Chia Koua, Yang, Gnia Yee & Sm alley, Wil-
mankind. 3. edition London.
liam A. 1990. The life of Shong Lue Yang: Hm ong
Dugast, Idelette & Jeffreys, M. D. W. 1950. L’écri-
„Mother of Writing”. Southeast Asian Refugee
ture des Bam um : Sa naissance, son évolution, sa
Studies Occasional Papers, no. 9. Minneapolis.
valeur phonétique, son utilization. Cameroun.
Walker, Willard. 1975. Cherokee. In: Crawford,
Foreman, Grant. 1938. Sequoyah. Norman, Okla.
Jam es M. (ed.), Studies in southeastern Indian lan-
Gelb, Ignace J. 1963. A study of writing: A discus- guages. Athens, Ga., 189—236.
sion of the general principles governing the use and
—. 1981. Native Am erican writing system s. In:
evolution of writing. Second edition Chicago.
Ferguson, Charles A. & Heath, Shirley Brice (ed.),
Huttar, George L. 1987. The Afaka script: An Language in the USA. Cambridge, 145—74.
indigenous Creole syllabary. In: Flem ing, Ilah (ed.),
White, John K. 1962. On the revival of printing in
The thirteenth LACUS forum 1986. Lake Bluff,
the Cherokee language. Current Anthropology 3,
Ill., 167—177.
511—114.
Jensen, Hans. 1970. Sign, sym bol and script: An
account of man’s efforts to write. London. William A. Smalley, Hamden,
Mooney, Jam es. 1900. Myths of the Cherokee. 19th Connecticut (USA)

59. Orthographieentwicklung und Orthographiereform

1. Zur Charakterisierung der Orthographie der graphischen Repräsentation sprachlicher


2. Möglichkeiten der Orthographieentwicklung Einheiten. Schreibung und dam it auch ihre
3. Grundsätze, Ziele und Bestimmungsfaktoren Norm , die Orthographie, beziehen sich som it
von Orthographiereformen auf die Form seite der geschriebenen Sprache,
4. Durchgeführte und geplante Orthographie- die ihrerseits eine bilaterale Größe darstellt
reformen und außer der Form seite auch eine Inhalts-
5. Auseinandersetzungen um Orthographie- seite um faßt, die wir Bedeutung nennen. Die
reformen graphische Repräsentation sprachlicher Ein-
6. Literatur heiten schließt alle graphischen Form einhei-
ten ein, die Schreibung beschränkt sich des-
halb keineswegs auf die elem entaren Schrei-
1. Zur Charakterisierung der bungseinheiten, die Graphem e, zu ihr gehören
Orthographie ebenso auch die graphischen Repräsentatio-
nen der höheren Einheiten des Sprachsystem s,
1.1. Der Begriff Orthographie der Morphem e, der Wörter, der Sätze und der
Texte. Mit anderen Worten, zur Schreibung
Unter Orthographie verstehen wir die Norm gehört nicht nur die graphische Wiedergabe
der Schreibung einer Sprache, d. h. die Norm
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 721

von Morphem en und Wörtern m ittels Buch- licher Äußerungen besitzt. Diese Auswahl
staben, zu ihr gehören auch solche graphi- geht einher m it einem höheren Grad der An-
schen Gegebenheiten wie die Getrennt- und erkennung und Verbindlichkeit der ausge-
Zusam m enschreibung, die Groß- und Klein- wählten sprachlichen Mittel gegenüber an-
schreibung, die graphische Worttrennung am deren Varianten, die in der entsprechenden
Zeilenende und die Interpunktion. Das glei- Gem einschaft und dem betreffenden Zeitab-
che gilt für die Orthographie m it dem Unter- schnitt nicht (nicht m ehr oder noch nicht) als
schied, daß die Schreibung zunächst alle norm gem äß angesehen werden. Sprachliche
m öglichen graphischen Realisierungsform en Norm en sind som it im m er präskriptive Grö-
sprachlicher Einheiten um faßt, während die ßen. Sie existieren als Richtschnur sprachlich-
Orthographie diese Möglichkeiten unter nor- kom m unikativen Handelns in einer Gem ein-
m ativem Aspekt auf die in einem bestim m ten schaft einerseits intern im Bewußtsein der
Zeitabschnitt in einer Gem einschaft allgem ein Angehörigen dieser Gem einschaft, sie kön-
anerkannten und m ehr oder weniger verbind- nen aber auch extern als Norm explikatio-
lichen graphischen Realisierungsform en ein- nen, Norm form ulierungen, Norm kodifikatio-
schränkt (→ Art. 56). Neben diesen norm - nen (vgl. Kohrt 1990, 115) aufgezeichnet sein,
gerechten graphischen Form en sprachlicher wobei eine Norm wie die Orthographie in
Einheiten kann es dann im Sprachgebrauch besonderer Weise an eine Kodifikation ge-
einer Gem einschaft auch solche Form en ge- bunden ist, während andere Norm en weniger
ben, die außerhalb der Norm stehen, z. B. die kodifikationsabhängig sind. Dam it sind wir
orthographischen Fehler, aber auch bewußte bei der spezifischen Ausprägung der Norm -
Norm abweichungen unter graphostilistischen merkmale in der Orthographie.
oder werbepsychologischen Aspekten. Zwi-
schen der Norm entsprechung und der Norm - 1.2.1.  Die Orthographien der m odernen Kul-
abweichung gibt es auch in diesem sprachli- tursprachen sind heute norm alerweise kodi-
chen Bereich eine Übergangszone der Varia- fizierte, d. h. ausgearbeitete, in Regeln gefa-
bilität, die in verschiedenen Sprachen je nach ßte, in schriftlicher Form niedergelegte Nor-
dem Grad der Striktheit der Kodifizierung m en, deren Verbindlichkeit oftm als durch
ihrer Orthographie unterschiedlich groß sein staatliche Festlegungen gestützt wird. Die
kann, wobei es allerdings zu den Wesens- Kodifizierung der heute noch geltenden deut-
m erkm alen m oderner Orthographien gehört, schen Orthographie z. B. erfolgte durch die
daß ihre Variabilität im allgem einen relativ Festlegungen der sogenannten I I. Orthogra-
gering ist (vgl. Gabler 1983). phischen Konferenz im Jahre 1901, wobei
Die Orthographie oder Rechtschreibung m an sich auf voraufgehende Kodifizierungen,
stellt als Norm der Graphie oder Schreibung aber auch auf Tendenzen im Schreibusus
eine sprachliche Norm dar, die einerseits stützte. Die so fixierte Kodifizierung der Or-
durch die generellen Merkm ale einer Sprach- thographie wurde durch staatliche Verfügung
norm , andererseits aber auch durch eine spe- 1903 für Schule und Behörden verbindlich
zifische Ausprägung dieser Merkm ale ge- und bestim m te dadurch in entscheidendem
kennzeichnet ist. Maße den weiteren Usus. Die Notwendigkeit
einer relativ strikten Kodifizierung der Ortho-
1.2. Merkmale der Orthographie graphie ergibt sich offensichtlich nicht zuletzt
daraus, daß die vielfältigen Anforderungen,
Zu den generellen Merkm alen sprachlicher die die m oderne Gesellschaft an die schriftli-
Norm en gehört, daß sie ein Teil der sozialen che Kom m unikation stellt, nur erfüllt werden
Norm en einer Gesellschaft sind, in diesem können, wenn die geschriebene Sprache über
Fall Norm en, die das sprachlich-kom m uni- eine relativ genau festgelegte Form verfügt,
kative Handeln der Menschen regeln. Solche die eine weitgehende Gleichheit für alle
Norm en sind im Prinzip Verallgem einerun- Sprachbenutzer erm öglicht und sichert und
gen, die aus der sprachlich-kom m unikativen Störungen der schriftlichen Kom m unikation,
Tätigkeit einer Gem einschaft gewonnen wer- die aus der Verwendung uneinheitlicher gra-
den und gleichzeitig dieser Tätigkeit wieder phischer Form en resultieren könnten, aus-
als Richtschnur zugrunde liegen. Die Wech- schließt. Der Grad der Differenziertheit und
selseitigkeit dieses Prozesses ist in der Ortho- die Genauigkeit der Kodifizierung der Ortho-
graphie in besonderer Weise ausgeprägt. Nor- graphie können dabei nicht nur zwischen ver-
m en sind Auswahlgrößen aus der Gesam theit schiedenen Sprachen variieren, sondern auch
der Möglichkeiten, die die Sprache in einem in Hinsicht auf die verschiedenen Teilbereiche
bestim m ten Zeitraum für die Bildung sprach-
722 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

der Orthographie. Ebenso können sie sich Wörterverzeichnis oder Wörterbuch führt,
natürlich im Laufe der Zeit verändern, wobei haben wir es gewisserm aßen m it einer dop-
außerdem zwischen Norm änderungen selbst pelten Kodifikation durch generelle und sin-
und bloßen Norm form ulierungsänderungen guläre Regeln zu tun. Dies trifft allerdings
(vgl. 1.2.2.) sorgsam unterschieden werden nicht für alle Teilgebiete der Orthographie zu,
muß. sondern gilt nur für die Schreibung usuali-
Die Kodifizierung der Orthographie erfolgt sierter Lexem e, die norm alerweise in einem
in Form von Regeln, auch wenn das in vor- Wörterbuch aufgeführt werden. Andere or-
liegenden Kodifizierungen nicht in jedem Fall thographische Teilbereiche, bei denen sich
deutlich wird. Orthographische Regeln sind z. B. Schreibentscheidungen erst aus dem
als Einzelvorschriften Handlungsanweisun- Kontext ergeben, wie bestim m te Fälle der
gen, die zur Produktion norm gerechter Groß- und Kleinschreibung oder die Inter-
schriftlicher Äußerungen führen sollen bzw. punktion, sind nur durch generelle Regeln
die angeben, wie bestim m te sprachliche Ein- kodifiziert.
heiten norm gerecht geschrieben werden. Ent-
sprechend der vorher gegebenen Inhalts- und 1.2.2.  Die Orthographien der m odernen Kul-
Um fangsbestim m ung der Orthographie (vgl. tursprachen besitzen im allgem einen in der
1.1.) sind sie Ausdruck verallgem einerter Be- jeweiligen Sprachgem einschaft einen beson-
ziehungen zwischen der graphischen Ebene ders hohen Verbindlichkeitsanspruch. Dies
und den anderen Ebenen des Sprachsystem s gilt zum indest seit der Herausbildung einheit-
(vgl. 1.3.) und keineswegs, wie traditionell licher Orthographien m it entsprechenden Ko-
häufig angenom m en (vgl. Althaus 1980, 788), difikationen, deren Verbindlichkeit in der Re-
auf die Beziehungen der elem entaren Einhei- gel für große Teile der öffentlichen schriftli-
ten der graphischen und der phonologischen chen Kom m unikation auch von staatlichen
Ebene, der Graphem e und Phonem e, be- Institutionen getragen und durchgesetzt wird.
schränkt. In gleicher Weise wie die Beziehun- Die Mißachtung dieser Norm wird in Schule
gen zwischen der graphischen Ebene und den und öffentlicher Kom m unikation nicht tole-
anderen Ebenen des Sprachsystem s differen- riert und m it Sanktionen belegt, was dann
ziert sind und Stufen unterschiedlichen Ge- natürlich auf den allgem einen Schreibusus
neralisierungs- bzw. Verallgem einerungsgra- ausstrahlt. Die in Regelwerken und Wörter-
des um fassen, kann m an auch bei den ortho- büchern kodifizierte Orthographie hat so den
graphischen Regeln einen unterschiedlichen Charakter einer verbindlichen Richtschnur
Generalisierungsgrad und eine hierarchische gewonnen und alles Schreiben ist, von weni-
Ordnung feststellen. Auf der Grundlage der gen Ausnahm efällen abgesehen, zum Recht-
allgem einsten Beziehungen zwischen der gra- schreiben geworden bzw. wird nur dann ernst
phischen Ebene und den anderen Ebenen des genom m en und ohne Mißbilligung akzeptiert,
Sprachsystem s, die wir orthographische Prin- wenn es orthographisch korrekt ist. Usus und
zipien nennen (vgl. Nerius et al. 1989, 68 ff), Norm entsprechen som it einander in relativ
geben die orthographischen Regeln verschie- hohem Maße. Die externe, kodifizierte Norm
dene hierarchische Stufen dieser Beziehungen wird dom inierend für die interne Schreibnorm
an. Sie reichen dabei, um die von Kohrt (1987, des einzelnen, und es entsteht auf diese Weise
402) eingeführte Term inologie aufzunehm en, in der Gem einschaft gerade in bezug auf diese
von generellen, d. h. die Schreibung m ehr Norm ein starkes Norm bewußtsein, das sei-
oder weniger großer Klassen von sprachlichen nerseits wieder zur Stabilität der Orthogra-
Erscheinungen betreffenden Regeln bis zu sin- phie beiträgt. Die Bem ühungen um Ortho-
gulären Regeln, die die Schreibung einzelner graphiereform en haben dies als einen wichti-
sprachlicher Elem ente, z. B. einzelner Wörter, gen Faktor ins Kalkül zu ziehen. Abweichun-
betreffen, wobei die singulären Regeln nor- gen von der kodifizierten Orthographie gelten
m alerweise Anwendungsfälle und Bündelun- als Fehler, die m an im allgem einen tunlichst
gen genereller orthographischer Regeln sind. verm eiden sollte, auch wenn z. B. im Deut-
Dem entsprechend können auch Orthogra- schen im Detail gar nicht im m er klar ist,
phiereform en auf unterschiedlicher Hierar- welche Kodifikation denn nun verbindlich ist.
chiestufe in das Regelungsgefüge eingreifen Der diesbezügliche Beschluß der Kultusm i-
und m ehr oder weniger generelle Änderungen nisterkonferenz der Bundesrepublik Deutsch-
der Orthographie bewirken. In den Fällen, in land aus dem Jahre 1955 lautet: „Die in der
denen die Hierarchie der Regeln bis zur Fest- Rechtschreib-Reform von 1901 und den spä-
legung der Einzelwortschreibung in einem teren Verfügungen festgelegten Schreibweisen
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 723

und Regeln sind auch heute noch verbindlich chen Anpassung frem der Phonem -Graphem -
für die deutsche Rechtschreibung. Bis zu einer Beziehungen an heim ische (Photo — Foto,
etwaigen Neuregelung sind diese Regeln die Friseur — Frisör) und in der Getrennt- und
Grundlage für den Unterricht in allen Schu- Zusam m enschreibung infolge des Übergangs
len. In Zweifelsfällen sind die im ‘Duden’ von Wortgruppen zu Wörtern (auf Grund —
gebrauchten Schreibweisen und Regeln ver- aufgrund, an Hand — anhand, Dank sagen —
bindlich“ (Bundesanzeiger 15. 12. 1955). Sind danksagen, unverrichteter Dinge — unverrich-
z. B. variative Schreibungen Zweifelsfälle? teterdinge). Neuerdings treten solche Varian-
Während beispielsweise die Kodifizierung von ten auch des öfteren in der Groß- oder Klein-
1901 die Schreibungen ‘in bezug auf’ und ‘in schreibung term inologischer oder phraseolo-
Bezug auf’ zuläßt, verzeichnet der Duden seit gischer Wortgruppen auf (künstliche Intelli-
der entsprechenden Entscheidung von Kon- genz — Künstliche Intelligenz, schneller Brüter
rad Duden im sogenannten Buchdruckerdu- — Schneller Brüter, kalter Krieg — Kalter
den von 1903 nur noch die Schreibung ‘in Krieg, weißer Tod — Weißer Tod). Das Auf-
bezug auf’. Ähnliche Fälle gibt es nicht we- treten orthographischer Varianten kann ver-
nige, und auch dadurch ergeben sich Ansatz- schiedene Ursachen haben; in ihnen können
punkte für Orthographiereform überlegungen, sich sprachliche Entwicklungen auf anderen
ganz abgesehen davon, daß der Rechtschreib- Ebenen des Sprachsystem s oder Grenz- und
duden auch Kodifizierungen von orthogra- Übergangsfälle zwischen verschiedenen Ka-
phischen Teilgebieten enthält, für die in der tegorien oder Klassen widerspiegeln, sie kön-
offiziellen Regelung der deutschen Orthogra- nen aber auch Resultat einer unzureichenden
phie 1901 gar keine Festlegungen getroffen Kodifizierung und Regelform ulierung sein,
wurden, z. B. für die Getrennt- und Zusam - wie das etwa bei der Kodifizierung der Groß-
menschreibung und für die Interpunktion. und Kleinschreibung von Eigennam en in der
In bezug auf die Norm der lautlichen Re- orthographischen Regelung des Dudens der
präsentation der sprachlichen Einheiten, die Fall ist. Insgesam t aber sind Varianten in der
Orthophonie, ist das allgem eine Norm be- Orthographie nach allgem einem Verständnis
wußtsein offensichtlich nicht gleicherm aßen unerwünscht. Offensichtlich wird es im Inter-
stark ausgebildet, die Orthophonie besitzt kei- esse einer eindeutigen und raschen Inform a-
nen so hohen Verbindlichkeitsanspruch wie tionsentnahm e aus geschriebenen Texten als
die Orthographie. Die Ursachen für dieses unzweckm äßig und störend angesehen, wenn
besondere Merkm al der Orthographie liegen die Orthographie m ehr als ein absolutes Mi-
offensichtlich in der Funktion und Bedeutung nim um an Varianten enthält, selbst wenn sol-
der geschriebenen Sprache in der m odernen che Varianten das Verständnis des Textes kei-
Gesellschaft, die ein hohes Maß an Stabilität neswegs generell behindern. Das gesellschaft-
und Einheitlichkeit dieser Norm erfordern. liche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Sta-
bilität ist aber offenbar so groß, daß die Va-
1.2.3.  Der gleiche Grund ist auch für die im riabilität in der Orthographie seit der Kodi-
Vergleich zu vielen anderen sprachlichen Nor- fizierung der einheitlichen deutschen Ortho-
m en relativ geringe Variabilität der Orthogra- graphie nie m ehr einen größeren Um fang
phie verantwortlich. Zwar gibt es hier gewisse erlangen konnte. Im Grunde kann m an sogar
Unterschiede zwischen verschiedenen Teilbe- sagen, daß der jüngere Kodifizierungsprozeß
reichen der Orthographie, aber die Zahl der der deutschen Orthographie nicht zuletzt die
variativen Schreibungen bei konstanter Be- fortgesetzte Reduzierung der orthographi-
deutung und konstanter Lautung der ent- schen Variabilität zum Ziel gehabt hat. Das
sprechenden sprachlichen Einheiten, also der ist natürlich auch für Orthographiereform -
fakultativen Varianten, die nicht als Norm - überlegungen von großer Bedeutung, und
abweichungen anzusehen sind, ist insgesam t eine Reform , die diesen Prozeß etwa um keh-
z. B. in der deutschen Orthographie sehr klein ren wollte, hätte sicher wenig Realisierungs-
(vgl. im einzelnen Gabler 1983). Solche Va- chancen.
rianten können in der graphischen Repräsen-
tation der verschiedenen sprachlichen Einhei- 1.2.4.  Die bisher angeführten besonderen
ten und dam it in den verschiedenen orthogra- Merkm ale der Orthographie, ihre Existenz als
phischen Teilgebieten auftreten, eine gewisse eine externe kodifizierte Norm , ihr hoher Ver-
zahlenm äßige Relevanz besitzen sie aber im bindlichkeitsgrad und ihre geringe Variabili-
Deutschen vor allem in der Frem dwortschrei- tät, haben natürlich auch Auswirkungen auf
bung als Resultat der Tendenz der allm ähli- die Veränderung dieser Norm . Nicht zuletzt
724 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

in diesem Punkt weist die Orthographie eine Im allgem einen ist es aber unbestritten, daß
besondere Spezifik unter den sprachlichen für eine Orthographiereform eine angem es-
Norm en auf. Das bezieht sich sowohl dar- sene linguistische Konzeption und eine ent-
auf, daß die vorgenannten Merkm ale selbst sprechende sprachwissenschaftliche Vorarbeit
erst im Laufe der geschichtlichen Entwick- notwendig sind. In diesem Zusam m enhang ist
lung ihre volle Ausprägung erlangt haben, als es nun von erheblicher Bedeutung, daß sich
auch darauf, daß diese in der m odernen Or- die Auffassungen zu den grundlegenden Fra-
thographie voll ausgeprägten Merkm ale die gen von Wesen, Funktion und Struktur der
Entwicklungsm öglichkeiten der Orthographie Orthographie in der internationalen Lingui-
sehr stark beeinflussen und prägen. Der nor- stik in der jüngeren Vergangenheit nicht un-
m ale Wechselwirkungsprozeß von Usus und beträchtlich gewandelt haben. Zwar gibt es
Norm , wie er sich in der Entwicklung vieler auch heute noch Linguisten oder linguistische
anderer sprachlicher Norm en zeigt, stellt sich Richtungen, die eine stark phonographisch
auf diesem Teilgebiet der Sprache in beson- orientierte Auffassung vertreten (vgl. z. B.
derer Weise dar, und im Laufe der Zeit wird Wiese 1987), doch haben sich inzwischen in
hier die externe kodifizierte Norm im m er der Linguistik viele Stim m en zu Wort gem el-
m ehr dom inierend für den Usus, so daß die det, die in der Schreibung keineswegs nur eine
Schreibung in einem erheblichen Maße ge- der Lautung nachgeordnete oder von ihr ab-
wisserm aßen erstarrt und die Dynam ik einer hängige Repräsentationsform sehen, sondern
allm ählichen, unm erklichen Veränderung ver- eine relativ autonom e sprachliche Kom po-
liert (vgl. auch Abschnitt 2.). Auf jeden Fall nente m it eigener Funktion und Struktur (vgl.
ist dieses Faktum eine wesentliche Ursache im einzelnen Nerius et al. 1989, 42 ff). Dabei
für die Bem ühungen um Reform en der Or- wird deutlich, daß die prim äre Aufgabe der
thographien heutiger, m oderner Kulturspra- Schreibung nicht die Visualisierung der Lau-
chen. tung ist, sondern daß sie in erster Linie der
Materialisierung und als Überm ittlungsträger
1.3. Funktion und Struktur der von Bedeutungen dient. Zwar spielt der Bezug
Orthographie zur Lautung bei allen Sprachen m it Buchsta-
benschrift als eine Möglichkeit zur effektiven
Eine andere, substantielle Grundlage der Or- Realisierung dieser Aufgabe eine Rolle, aber
thographiereform bem ühungen liegt in den dieser Bezug ist weder Ziel noch Zweck der
theoretischen Positionen der Träger dieser Be- Schreibung, sondern nur ein Mittel zum
m ühungen zum Verhältnis von geschriebener Zweck. Dieses Mittel haben z. B. alle euro-
und gesprochener Sprache, zum Wesen, den päischen Sprachen gewählt, während andere
Funktionen und der Struktur der Orthogra- Sprachen der Erde sich anderer Mittel zur
phie. Lange Zeit dom inierte dabei in den m ei-
sten europäischen Ländern, für deren Spra- graphischen Materialisierung und Überm itt-
lung von Bedeutungen bedienen, wie etwa die
chen solche Bem ühungen unternom m en wur- asiatischen Sprachen Chinesisch, Japanisch
den, eine phonographische Auffassung, die in oder Koreanisch.
der Schreibung ein m ehr oder weniger un- Ausgehend von solchen oder ähnlichen
vollkom m enes Abbild der Lautung sah und
es als ein wesentliches Ziel einer Orthogra- Überlegungen sind dann in der jüngeren Lin-
phiereform betrachtete, die von der Lautung guistik verschiedene Konzepte entwickelt
— aus welchen Gründen auch im m er — in worden, die die Struktur der Orthographie in
unterschiedlichem Maße abweichende Schrei- ihrer Eigenständigkeit und relativen Auto-
bung dieser stärker anzupassen. Solche Auf- nom ie, aber auch in ihrem Bezug zu den Ge-
fassungen haben auch in einzelnen europä- gebenheiten der anderen sprachlichen Ebenen
ischen Sprachen, wo die übrigen Rahm enbe- des System s der Standardsprache darzustellen
dingungen für eine Orthographiereform das versuchen. Für die deutsche Orthographie
erm öglichten, durchaus zu entsprechenden läuft beispielsweise das vom Autor und seiner
Orthographieänderungen geführt (vgl. 4.). Forschungsgruppe entwickelte Konzept (vgl.
Ebenso hat es auch Orthographiereform en Nerius et al. 1989, 61 ff) darauf hinaus, daß,
gegeben, wie die des Dänischen von 1948, die beginnend m it der Feststellung der grundle-
gar nicht prim är von linguistisch-theoreti- genden Beziehungen der graphischen Ebene
zu den anderen Ebenen des System s der Stan-
schen Überlegungen ausgingen, sondern bei dardsprache, die wir orthographische Prinzi-
denen ganz andere Gesichtspunkte ausschlag- pien nennen, in einer hierarchischen Abfolge
gebend waren (vgl. ebenfalls 4.). diese Beziehungen in orthographischen Re-
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 725

geln unterschiedlichen Generalisierungsgra- 2. Möglichkeiten der


des im m er weiter spezifiziert werden und auf Orthographieentwicklung
diese Weise die Struktur der Orthographie bis
hinunter zu den Einzelfallschreibungen auf- Die im Abschnitt 1. dargestellte Charakteri-
gedeckt wird. Gem äß dem Grundcharakter sierung der Orthographie bezieht sich vor-
jeder Buchstabenschrift, näm lich dem Bezug nehm lich auf den gegenwärtigen Zustand der
zur Lautung, und dem Sinn und Zweck jeder Orthographie einer lange verschrifteten Spra-
Schrift überhaupt, näm lich der graphischen che wie der deutschen. In diesem Abschnitt
Repräsentation von Bedeutungen, werden da- soll nun der Frage nachgegangen werden, wie
bei zwei Grund- oder Hauptprinzipien ange- sich dieser Zustand entwickelt hat und wie er
nom m en, ein phonologisches und ein sem an- sich weiterentwickeln könnte. Die genannten
tisches, die auf einer niedrigeren Hierarchie- Merkm ale der heutigen Orthographie, ihre
stufe aus jeweils einer Reihe von Einzelprin- relativ genaue Kodifizierung, ihr hoher Ver-
zipien bestehen, die ihrerseits generelle Bezie- bindlichkeitsanspruch und ihre relativ geringe
hungen von Gegebenheiten der graphischen Variabilität, waren natürlich nicht schon am
Seite der Sprache zu solchen der lautlichen Beginn der Herausbildung der Orthographie
bzw. der sem antischen betreffen, die dann in gleicher Weise ausgeprägt wie heute, son-
wiederum auf weiteren nachgeordneten Hier- dern sind ihrerseits das Ergebnis eines histo-
archiestufen in orthographischen Regeln kon- rischen Entwicklungsprozesses. Jedenfalls gilt
kretisiert und ausform uliert werden. So ord- das für Sprachen m it m ehr oder weniger lan-
nen wir dem phonologischen Hauptprinzip ger Schrifttradition. Anders liegen die Ver-
ein phonem atisches Prinzip, das die Bezie- hältnisse bei neu verschrifteten Sprachen, de-
hungen von Phonem en und Graphem en bei ren Orthographien gewisserm aßen in einem
der Wortschreibung betrifft, ein syllabisches Akt neu geschaffen werden, was hier aber
Prinzip, das die Beziehungen von Silben und außerhalb der Betrachtung bleiben soll (→
graphischen Wortsegm enten bei der Wort- Art. 57, 58).
trennung erfaßt, und ein intonatorisches Prin- Die Entwicklung der Orthographie einer
zip zu, das die Beziehungen zur Satzintona- Sprache m it langer Schrifttradition wie der
tion ausdrückt und für die Interpunktion eine deutschen vollzieht sich in einem ständi-
— heute allerdings nur noch geringe — Rolle gen Prozeß der Wechselwirkung zwischen
spielt. Dem sem antischen Hauptprinzip ord- Schreibgebrauch und Norm kodifizierung. In
nen wir ein m orphem atisches, ein lexikali- diesem Prozeß ist zunächst der Schreibge-
sches, ein syntaktisches und ein textuales brauch dom inierend, in dem sich über die
Prinzip zu, die jeweils die Wiedergabe sem an- Adaption des lateinischen Schriftsystem s für
tisch-struktureller Gegebenheiten der entspre- eine allm ählich im m er größer werdende Zahl
chenden Ebene in der Orthographie zum Aus- von Einzelfällen bestim m te Schreibungen eta-
druck bringen, z. B. in der Morphem - bzw. blierten. Diese gewisserm aßen listenartige, si-
Wortschreibung, in der Groß- und Klein- cher auch stark analogisch geprägte Entwick-
schreibung, der Getrennt- und Zusam m en- lung von Einzelfallschreibungen trug noch
schreibung und der Interpunktion. m ehr oder weniger experim entellen Charakter
Dieses Beispiel soll verdeutlichen, daß in als ein Problem lösungsvorschlag „für das Er-
solchen Konzepten m anifestierte Auffassun- lesen von schriftlich fixierten Texten“ (Maas
gen über Funktion und Struktur der Ortho- 1991, 22). Darüber hinaus waren solche
graphie natürlich einen wesentlichen Einfluß Schreibungsvorschläge zunächst sehr stark re-
auf sprachwissenschaftlich m otivierte Über- gional unterschiedlich und spezifisch für die
legungen und Vorschläge für eine Orthogra- einzelnen Schriftzentren, Kanzleien, Schreib-
phiereform haben, wobei eine größere An- stuben usw. Da Schreibung aber norm aler-
gem essenheit des linguistisch-theoretischen weise der graphischen Fixierung und Über-
Konzepts auch eine größere Akzeptanzwahr- m ittlung von Inhalten für andere dient, ergab
scheinlichkeit und Realisierungschance für die sich im Zuge der Entwicklung der schriftli-
entsprechenden Reform vorschläge eröffnet. chen Kom m unikation sehr bald die Notwen-
Das ist allerdings — wie noch zu zeigen sein digkeit einer gewissen Angleichung der gra-
wird — m it der Einschränkung verbunden, phischen Form en sprachlicher Einheiten und
daß die Durchführung von Orthographiere- der Entwicklung von Schreibungskonventio-
form en keineswegs allein und m itunter nicht nen zwischen den Partnern des Schriftver-
einm al in erster Linie von linguistischen Ge- kehrs. Diese Entwicklung erfuhr einen sehr
sichtspunkten abhängt.
726 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

starken Schub m it der Erfindung und Ver- gedeutet, weitgehend aus dem jeweiligen
breitung des Buchdruckes, durch den Schrift- Schreibgebrauch verallgem einert worden war,
erzeugnisse in beliebig großer Zahl vielen Le- nun ihrerseits wieder bestim m end auf diesen
sern zunächst in der engeren Region, aber und dam it auch auf die Praxis der Drucke-
bald auch darüber hinaus zugänglich gem acht reien zurückwirkte.
werden konnten und sollten. Dafür genügte Dieser hier in sehr allgem einer Form an-
dann bald die gleichsam experim entelle Fort- gedeutete Entwicklungsprozeß der Orthogra-
setzung der bisherigen Schreibüberlieferung phie in seiner Wechselwirkung zwischen
in m ehrfacher Hinsicht nicht m ehr. Um die Schreibgebrauch und Norm kodifizierung voll-
allm ählich im m er größere Räum e und brei- zog sich in seiner frühen Phase auf dem deut-
tere Kreise erfassende schriftliche Kom m uni- schen Sprachgebiet stark regional gebunden.
kation zu sichern und zu erleichtern, wurde Es gab unterschiedliche Zentren des Schrift-
es notwendig, die Schreibungskonventionen verkehrs und des Druckereigewerbes m it
aufzuzeichnen und dam it den Druckern Vor- m ehr oder weniger großen, u. a. auch durch
lagen zu liefern, wie sie denn die Schreibung den regionalen Sprachgebrauch beeinflußten
in ihren Druckerzeugnissen gestalten sollten. Unterschieden in den graphischen Norm en.
Diese erste orthographische Kodifikation be- Die im Abschnitt 1. für die m oderne Ortho-
stand zunächst vor allem in Wortlisten und graphie entwickelten typischen Merkm ale die-
kleineren Schreibanweisungen, an deren Her- ser Norm waren noch relativ schwach aus-
stellung die Drucker selbst m aßgeblich betei- geprägt. Die Kodifizierungen der Orthogra-
ligt waren und die anfänglich sehr stark re- phie wiesen inhaltlich und strukturell erheb-
gional, örtlich oder sogar durch die jeweilige liche Differenzierungen auf, die Variabilität
einzelne Druckerei geprägt waren. Der so ein- der Schreibungsnorm en im deutschen Sprach-
geleitete Prozeß der orthographischen Kodi- gebiet war noch bis weit ins 17. Jahrhundert
fikation und Etablierung externer Schrei- hinein sehr beträchtlich, und der Verbindlich-
bungsnorm en griff rasch weiter um sich und keitsgrad war noch relativ gering und weit-
wurde bald nicht m ehr nur und nicht m ehr gehend konventionell gestützt, d. h. nicht
in erster Linie von den Druckern getragen, durch behördliche Verordnungen gesichert.
sondern ging in die Hände der sich im Zuge Der weitere Entwicklungsprozeß der deut-
dieser Entwicklung der Schriftlichkeit heraus- schen Orthographie wird dann stark beein-
bildenden Zunft der Sprachgelehrten und flußt durch die sich im 18. und 19. Jahrhun-
Sprachlehrer über. Sie übernahm en es, in ih- dert vollziehenden Entwicklungen auf kultu-
ren Sprachlehren und Schreibanweisungen die rellem , ökonom ischem und schließlich auch
jeweiligen Schreibgewohnheiten zu kodifizie- politischem Gebiet, die in die Schaffung eines
ren und gegebenenfalls auch an dieser oder einheitlichen deutschen Nationalstaates m ün-
jener Stelle zu vereinfachen, zu system atisie- deten. Die Orthographie folgte dieser Orien-
ren und zu präzisieren. Die Ausarbeitung sol- tierung auf den nationalen Raum durch eine
cher kodifizierten Orthographien, die z. B. im zunehm ende Überwindung ihrer regionalen
Rahm en der Sprachdarstellungen des 16. und Unterschiede und eine im m er stärkere Verein-
des beginnenden 17. Jahrhunderts im deut- heitlichung. Hand in Hand m it dieser Verein-
schen Sprachgebiet vorgelegt wurden und heitlichung ging auch die im m er deutlichere
nicht selten deren wichtigster Bestandteil Ausprägung der im Abschnitt 1. herausgear-
waren, geschah in der Regel nicht im Interesse beiteten typischen Merkm ale der Orthogra-
oder im Auftrag der Druckereien, sondern phie. Das bedeutet eine zunehm end genauere
war vor allem für den Unterricht im Lesen und detailliertere Kodifizierung dieser Norm ,
und Schreiben gedacht. Denn m it der Ent- das Bem ühen um die Beseitigung nicht nur
wicklung und Verbreitung des Buchdrucks der regionalen Unterschiede in der Orthogra-
und dam it des Schriftverkehrs ging natürlich phie, sondern um die entschiedene Minim ie-
die Notwendigkeit der Ausbildung der Lese- rung orthographischer Varianten überhaupt
und Schreibfähigkeit größerer Teile der Be- sowie die allgem eine Durchsetzung und
völkerung einher, und dafür brauchte m an schließlich für große Teile der öffentlichen
Unterrichts
m aterialien, Sprachdarstellungen, schriftlichen Kom m unikation auch am tlich
Schreib- und Leselehranweisungen und also festgelegte Verbindlichkeit der so fixierten Or-
auch und vor allem eine kodifizierte Schrei- thographie. Das vorläufige Ende dieses Pro-
bungsnorm oder Orthographie. Es versteht zesses bildeten in Deutschland, wie schon er-
sich, daß die über Lehre und Unterricht ver- wähnt, die Ergebnisse der sogenannten II.
breitete Schreibungsnorm , die ja, wie an-
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 727

Orthographischen Konferenz im Jahre 1901 rücksichtigt werden, die Auswirkungen auf


und ihre Nachfolgeentscheidungen. die Schreibung haben, wie etwa der Übergang
In der zunächst durch eine relativ freie von einer Wortgruppe zu einem einfachen
Wechselwirkung von Schreibgebrauch und Wort (auf Grund — aufgrund usw.), um eine
Norm kodifikation bestim m ten Entwicklung Abkopplung der Orthographie von der le-
der Orthographie wird im Prozeß der Her- bendigen Sprachentwicklung zu verhindern.
ausbildung einer einheitlichen, nationalen Or- Schließlich können durch eine solche Um ko-
thographie und erst recht nach ihrer Verwirk- difizierung aber auch m ögliche, durch frühere
lichung die Norm kodifikation im m er m ehr Kodifizierungen verursachte, funktional und
dom inierend. Die kodifizierte Norm bestim m t strukturell inadäquate Fehlentwicklungen der
vor allem über die Schule und den öffentli- Orthographie korrigiert werden.
chen Schriftverkehr den allgem einen Usus, an Eine solche Änderung einer relativ genau
ihr orientiert m an sich, und sie befolgt m an, kodifizierten, durch ein hohes Maß an Inva-
um sich nicht in der Öffentlichkeit zu blam ie- rianz gekennzeichneten, in einer Gem ein-
ren oder andere Nachteile in Kauf nehm en zu schaft allgem ein befolgten und gegebenenfalls
m üssen. Mit dieser Dom inanz der Norm ko- sogar staatlich verbindlichen Orthographie
difikation nim m t natürlich auch der Spiel- nennen wir eine Orthographiereform . Dabei
raum der freien Veränderlichkeit der Ortho- ist der Begriff Orthographiereform zunächst
graphie im Schreibgebrauch im m er m ehr ab, unabhängig von dem Grad und dem Um fang
und die Dynam ik einer unm erklichen Verän- der Um kodifizierung, davon, auf welcher
derung dieser Norm geht weitgehend verlo- Stufe der Regelhierarchie die Änderung er-
ren. Vollständig verschwindet sie allerdings folgt, ob es sich um eine Um kodifizierung
nicht, und ein gewisser Spielraum der Ver- m ehr oder weniger genereller oder nur sin-
änderung im Usus bleibt auch nach der Ko- gulärer Regeln handelt. Es ist jedoch weitge-
difizierung und Durchsetzung einer nationa- hend üblich, den Begriff Orthographiereform
len Orthographie erhalten. Solche im m anen- erst zu verwenden, wenn auch einzelfallüber-
ten Veränderungstendenzen treten zunächst greifende Regelungen in die Änderung ein-
als Varianten von Einzelfallschreibungen ins bezogen sind. In diesem Zusam m enhang ist
Leben, und ihr Auftreten kann, wie schon im es notwendig, zwischen einer Um kodifizie-
Abschnitt 1.2.3. angedeutet, unterschiedliche rung der Norm und einer bloßen Neufor-
Ursachen haben. Ihre Möglichkeiten und m ulierung der Regelung zu unterscheiden,
Grenzen hängen u. a. auch m it dem Grad der auch wenn natürlich eine Um kodifizierung
Genauigkeit und Striktheit der Kodifizierung im m er gleichzeitig auch eine Neuform ulie-
der jeweiligen Orthographie zusam m en, da- rung des entsprechenden Regelbereiches be-
m it, ob sie alle orthographischen Teilgebiete deutet, während um gekehrt eine Neuform u-
gleicherm aßen präzise regelt oder ein gewisses lierung keine Änderung der Regelung dar-
Maß an Variabilität und Flexibilität zuläßt. stellt. Tatsächlich gibt es aber auch hier flie-
Grundsätzlich aber ist der Spielraum für Ver- ßende Übergänge. So hat z. B. der Recht-
änderungstendenzen aus dem Schreibge- schreibduden in seinen verschiedenen Aufla-
brauch im Zeitalter der nationalen Orthogra- gen im Prinzip im m er nur die offiziellen Re-
phie sehr klein, weil die im m er wieder repro- geln von 1901 neu form uliert, er hat sie dabei
duzierte, durch Sanktionen gestützte, m it of- aber gleichzeitig ausgeweitet, differenziert
fizieller Verbindlichkeit ausgestattete kodifi- und präzisiert und dam it in einzelnen Punkten
zierte Norm solche Veränderungen nicht zu- doch verändert. Die Dim ensionen waren aber
läßt. Entsprechend den im Abschnitt 1. her- in der zeitlichen Streckung nicht so groß, daß
ausgearbeiteten typischen Merkm alen dieser m an hier von Orthographiereform en zu spre-
Norm sind Veränderungen der Orthographie chen pflegt, zum al der Duden natürlich auch
jetzt weitgehend nur noch durch eine Um - eine offizielle Legitim ation für solche Refor-
kodifizierung der Regelung im orthographi- men gar nicht besitzt.
schen Regelwerk oder im Wörterverzeichnis Die sich im historischen Prozeß m erklich
des orthographischen Wörterbuchs m öglich verändernden Entwicklungsm öglichkeiten der
bzw. werden durch diese legitim iert. Dabei Orthographie sind in diesem Abschnitt vor-
können und sollten natürlich auch m ögliche nehm lich am Beispiel des Deutschen darge-
Tendenzen im Schreibgebrauch aufgegriffen, stellt worden. Andere altverschriftete Spra-
einbezogen und gegebenenfalls verallgem ei- chen weisen darin grundsätzliche Gem ein-
nert werden. Ebenso sollten Entwicklungen sam keiten m it dem Deutschen, aber natürlich
auf anderen Ebenen des Sprachsystem s be- auch viele spezifische Besonderheiten auf.
728 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

3. Grundsätze, Ziele und Orthographiereform . Danach sollte eine Or-


Bestimmungsfaktoren von thographiereform in früheren Kodifizierun-
Orthographiereformen gen fixierte, funktional und strukturell inadä-
quate Schreibungen behutsam korrigieren
Im voraufgehenden Abschnitt wurde darge- und die Orthographie in Übereinstim m ung
legt, daß die m ehr oder weniger strikt kodi- m it der Entwicklung auf anderen Ebenen des
fizierten und m it offizieller Verbindlichkeit System s der Standardsprache in Richtung auf
ausgestatteten Orthographien entwickelter eine optim ale Funktionserfüllung weiterent-
Kultursprachen sich im wesentlichen nur über wickeln. Das bedeutet eine ausgewogene Be-
Um kodifizierungen der Regelungen oder Or- rücksichtigung der Interessen des Schreiben-
thographiereform en weiterentwickeln kön- den im Rahm en der Aufzeichnungsfunktion
nen. Bei den Begründungen und Zielen für und der Interessen des Lesenden im Rahm en
solche Reform en m uß zwischen linguistischen der Erfassungsfunktion der Schreibung. Bei
oder sprachbezogenen und außerlinguisti- der Aufzeichnungsfunktion geht es um die
schen, nicht unm ittelbar sprachbezogenen
Gesichtspunkten unterschieden werden. Beide Überführung gedanklicher Inhalte oder laut-
licher Form en in schriftliche Form en, wäh-
Argum entationsstränge wirken m eistens zu- rend es bei der Erfassungsfunktion um den
sam m en und bestim m en in ihrer Kom plexität
die Möglichkeiten und Grenzen von Ortho- gegenläufigen Prozeß geht, näm lich die Über-
graphiereformen. führung schriftlicher Form en in gedankliche
In der linguistisch m otivierten Argum en- Inhalte und/oder lautliche Form en (vgl. dazu
tation für oder gegen eine Orthographiere- im einzelnen Nerius et al. 1989, 23). Beide
form spielen natürlich die Auffassungen der Funktionen sind gleicherm aßen wichtig, und
jeweiligen Vertreter zum Wesen, zur Struktur nur ihre ausgewogene Berücksichtigung si-
und den Funktionen der Orthographie, aber chert ein optim ales Funktionieren der ge-
auch zum Verhältnis von geschriebener und schriebenen Sprache. Es darf nicht einer der
gesprochener Sprache generell eine wesent- beiden Partner der schriftlichen Kom m uni-
liche Rolle. Für diejenigen Sprachwissen- kation, der Schreibende oder der Lesende,
schaftler, die davon ausgehen, daß die Ortho- durch eine Orthographiereform bevorzugt
graphieentwicklung sich auch heute noch im oder benachteiligt werden. Eine solche Posi-
wesentlichen eigendynam isch vollzieht (vgl. tion zielt darauf ab, eine größere Einfachheit
Stetter 1991, 40 ff; → Art. 56), ist eine Ortho- und dam it leichtere Erlernbarkeit und Hand-
graphiereform überhaupt unnötig. Andere habbarkeit der Orthographie zu erreichen,
vertreten vielleicht im m er noch eine stark ohne die Aufgaben der Rechtschreibung in
phonographisch orientierte Orthographieauf- Hinsicht auf die Überschaubarkeit des Ge-
fassung, wie sie z. B. fast allen deutschen Or- schriebenen und die rasche Bedeutungserfas-
thographiereform bem ühungen des 20. Jahr- sung zu gefährden. Eine von diesem Grund-
hunderts bis in die 50er Jahre zugrundelag, satz ausgehende genaue Prüfung der verschie-
und m öchten die Orthographie in Richtung denen Teilgebiete der Orthographie m uß dann
auf eine eindeutigere Entsprechung von im einzelnen zeigen, welche Notwendigkeiten,
Schreibung und Lautung verändern. „Histo- Möglichkeiten und Grenzen für Änderungen
rische Sprachforscher des 19. Jahrhunderts der Orthographie hier jeweils bestehen und
wollten die dam alige deutsche Orthographie welche konkreten Änderungsvorschläge da-
zu dem Stand des Mittelhochdeutschen zu- nach unterbreitet werden können. Die auf
rückentwickeln, da sie diesen Schriftstand für diese Weise angezielte Verbesserung der Or-
ursprünglicher und weniger verderbt hielten. thographie für die Sprachteilnehm er wird
In um gekehrter Richtung zielen Alsleben et auch sichtbar in einer Erhöhung der Syste-
al. (1963) auf eine Reform ab, die zu einer m atik und einer stärkeren Generalisierung or-
‘technischen Lautschrift’ führt“ (Augst 1988, thographischer Regeln, in einer Beseitigung
1140). Der Autor selbst vertritt wie auch an- von Ausnahm en und Sonderregeln sowie von
dere Verfasser des jüngsten deutsch-österrei- Widersprüchen zwischen generellen und sin-
chisch-schweizerischen Refor
m vorschlages gulären Regeln, allgem ein som it in einer grö-
zur deutschen Orthographie (vgl. Blüm l, ßeren Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit der
Glinz, Mentrup, Nerius & Sitta 1991; Inter- Beziehungen der graphischen Ebene zu den
nationaler Arbeitskreis für Orthographie anderen Ebenen des System s der Standard-
1992) eine funktional determ inierte Auffas- sprache (genauer dazu Nerius & Scharnhorst
sung zu den Grundsätzen und Zielen einer 1981, 25 ff).
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 729

Solche oder andere prim är linguistisch m o- oder auch gewisse soziale Vorteile gefährdet
tivierte Überlegungen zu den Grundsätzen sehen, wobei diese Position expressis verbis
und Zielen einer Orthographiereform m üssen allerdings nur selten angeführt wird.
nun im Zusam m enhang m it außerlinguisti-
schen Argum enten für oder gegen eine Or- (c) Das Verhältnis zur Schrifttradition
thographiereform gesehen werden, die nicht
Dies ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, der
selten die Möglichkeiten und Grenzen der Än- auch in den Auseinandersetzungen um Ortho-
derungen von Schreibungsnorm en weit stär-
ker prägen als die linguistischen Gesichts- graphiereform en (vgl. Abschnitt 5) eine große
punkte. Auch die linguistisch beste Orthogra- Rolle spielt. In der Tat ist natürlich die Kon-
phieänderung ist nicht durchsetzbar, wenn tinuität der Schrifttradition und die Erhal-
nicht das Um feld der außerlinguistischen tung der Zugänglichkeit zu früheren Schrift-
Faktoren das erm öglicht oder begünstigt. Zu erzeugnissen ein wichtiges Gut, das nicht
solchen Faktoren, die die Möglichkeit, die Art leichtfertig aufgegeben werden darf. Aller-
und den Um fang von Orthographiereform en dings ist dieser Gesichtspunkt konkret und
maßgeblich beeinflussen, gehören vor allem: em pirisch nur schwer verifizierbar, auf jeden
Fall kann er aber nicht Unveränderlichkeit
der Schreibungsnorm en bedeuten, denn das
(a) Pädagogisch-didaktische Gesichtspunkte würde ja eine Entwicklung der Sprache auf
der Lehr- und Lernbarkeit der diesem Gebiet ausschließen und dam it einen
Orthographie Bruch der Kontinuität darstellen. Vorwürfe
Solche Gesichtspunkte sind von jeher und in wie Kulturbruch oder die Verm utung der Un-
vielen Sprachen als Argum ente für eine Or- zugänglichkeit früherer Schrifterzeugnisse
thographiereform ins Feld geführt worden, sind nicht selten öffentlichkeitswirksam e Ar-
und zwar in der Regel m it dem Hinweis auf gum ente gegen Orthographiereform en, auch
die Notwendigkeit einer Erleichterung der Er- wenn es zum eist bloße Behauptungen sind.
lernung, Verm ittlung und Handhabung der Die an sich norm alerweise für Orthographie-
Orthographie, die m an als zu kom pliziert und reform en bedeutende Rolle des Verhältnisses
schwierig ansieht. Fast im m er gehören die zur Schrifttradition ist aber kein grundsätz-
Lehrer in starkem Maße zu den Befürwortern licher oder genereller Hinderungsgrund für
einer Orthographiereform , und besonders eine Orthographiereform . Wenn die Reform -
von ihnen wird gefordert, die Orthographie absichten bzw. der dahinter stehende politi-
zu vereinfachen, dam it der zu ihrer Verm itt- sche Wille stark genug sind, kann dieser Fak-
lung erforderliche Lehraufwand gesenkt und tor auch durchaus außer Kraft gesetzt wer-
für andere Zwecke des Unterrichts eingesetzt den. So bedeutete z. B. die Um stellung des
werden kann. Türkischen auf die Lateinschrift 1928 eine
von der politischen Führung bewußt gewollte
(b) Soziale Gesichtspunkte bzw. die Abkehr von der bisherigen arabischen Schrift-
Interessen bestimmter sozialer Gruppen tradition und eine Hinwendung der Türkei zu
den europäischen Kulturnationen. Auch die
Diese Gesichtspunkte spielen sowohl bei der Abschaffung der Substantivgroßschreibung
Reform befürwortung als auch bei der Re- des Dänischen 1948 war nicht prim är lingui-
form ablehnung eine Rolle. Auf der einen Seite stisch oder pädagogisch-didaktisch m otiviert,
steht hier die Unterstützung von Orthogra- sondern stellte vor allem eine Anpassung an
phiereform bem ühungen durch solche Grup- die Schreibungsnorm en der anderen nordi-
pen, die von einer dam it verbundenen Verein- schen Sprachen und eine Abkehr von der
fachung der Schreibungsnorm en eine größere bisherigen Gem einsam keit m it dem Deut-
Chancengleichheit für alle Teile der Bevölke- schen dar.
rung und den Abbau sprachlicher Barrieren
innerhalb der Sprachgem einschaft sowie ge- (d) Ökonomisch-technische Gesichtspunkte
nerell einen breiteren Zugang zur Schriftlich-
keit und dam it eine Erhöhung der Sprach- Auch durch diesen Faktor werden der Um -
kultur erwarten. Auf der anderen Seite steht fang und die Grenzen von Orthographiere-
hier die Ablehnung einer Orthographiereform form en m itbestim m t. Aufwand und Nutzen
durch solche Gruppen, die die geltende Or- m üssen auf diesem Gebiet in einem für die
thographie in einem hohen Grad zu beherr- Gem einschaft vertretbaren und verkraftbaren
schen glauben und die durch eine Änderung Verhältnis stehen, was im allgem einen zur
der Schreibungsnorm en bestim m te Privilegien Verhinderung radikaler Schreibungsänderun-
gen beiträgt.
730 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(e) Umstellungsschwierigkeiten und Dazu gehören z. B. die Reform en der nor-


Umstellungsaufwand wegischen (1907), der russischen (1918), der
niederländischen (1947 und 1954) und der
Dieser Gesichtspunkt ist vor allem psycho- dänischen Orthographie (1948). Mit der nor-
logischer Natur und ebenfalls schwer m eßbar. wegischen und ebenso m it der dänischen Or-
Auch er spricht eher für behutsam e und par- thographiereform wurde u. a. die Substantiv-
tielle Orthographieänderungen in einem re- großschreibung in diesen Sprachen abge-
lativ bescheidenen Um fang, der die Sprach- schafft und durch eine den m eisten anderen
teilnehm er nicht von vornherein abschreckt. europäischen Sprachen vergleichbare Rege-
Der zu erwartende Vorteil der Neuregelung lung ersetzt. In den Orthographieänderun-
gegenüber dem bestehenden Zustand m üßte gen des Niederländischen handelt es sich um
für die Mehrzahl der Sprachteilnehm er so of- eine partielle Neugestaltung der Phonem -Gra-
fensichtlich sein, daß das natürliche Behar- phem -Beziehungen für heim ische Wörter und
rungsverm ögen überwunden und die Mühe für Frem dwörter, darunter z. B. die Ersetzung
des Umlernens in Kauf genommen wird. von ph durch f in Frem dwörtern (vgl. Pée
Diese und gegebenenfalls noch weitere 1977; Hipp 1977). Durch die Reform der rus-
Faktoren m achen in ihrem Zusam m en- und sischen Orthographie wurden drei Buchsta-
Gegeneinanderwirken im Verein m it den not- ben getilgt und ein weiterer bis dahin relativ
wendigen sprachwissenschaftlichen Überle- häufig vorkom m ender Buchstabe, das soge-
gungen eine Orthographiereform zu einer nannte Härtezeichen, in seiner Anwendung
kom plexen und kom plizierten Aufgabe, die sehr stark eingeschränkt (vgl. Zigm und 1967).
um so schwieriger wird, je tiefgreifender die
Differenzen sind, die sich aus der proportio- Alle diese Änderungen waren keine Kleinig-
keiten; die entsprechenden Vorschläge haben
nalen Berücksichtigung aller ihrer Bestim - in den einzelnen Sprachgem einschaften z. T.
m ungsfaktoren ergeben können. Nicht selten eine lange Geschichte und sind in heftigen
hat deshalb das Gegeneinanderwirken dieser Auseinandersetzungen geprüft und schließlich
und anderer Faktoren linguistisch an sich durchgesetzt worden, was hier nicht im ein-
wünschenswerte Orthographierefor
m en in zelnen nachgezeichnet werden kann. Sie be-
einzelnen Sprachen bisher verhindert. legen jedoch, daß bei entsprechender Kon-
stellation der Rahm enbedingungen auch sol-
4. Durchgeführte und geplante che Änderungen in den europäischen Kultur-
Orthographiereformen sprachen möglich sind.
Neben den tatsächlich vollzogenen Ortho-
Ungeachtet der angeführten Kom plexität und graphiereform en in den angeführten Spra-
Kom pliziertheit der Bedingungen sind doch chen gab und gibt es in vielen europäischen
im 20. Jahrhundert in einer ganzen Reihe von Sprachen auch weitere Bem ühungen um die
europäischen Sprachen Orthographierefor- Planung, Vorbereitung und Durchführung
m en durchgeführt worden (vgl. die Übersicht von Orthographiereform en, die unterschied-
von Schmitt 1955, 61 auf Tab. 59.1). lich weit gediehen und unterschiedlich erfolg-
Diese Übersicht, die m it dem Indonesi- versprechend sind. Von besonderem Interesse
schen sogar über die europäischen Sprachen ist hier natürlich die Situation in den großen,
hinausgeht, ist jedoch auch in bezug auf die jeweils in m ehreren Staaten gebräuchlichen
Sprachen Europas noch keineswegs vollstän- Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch.
dig. Darüber hinaus hat es auch für das Ru- Im Englischen hat es seit der Durchsetzung
m änische 1904, das Russische 1918, das Slo- einer relativ verbindlichen, einheitlichen Or-
wakische 1922 und das Bulgarische 1946 m ehr thographie in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
oder weniger tiefgreifende Orthographierefor- hunderts eine tatsächliche Orthographiere-
m en gegeben. Oftm als handelt es sich bei die- form nicht gegeben. Durch die Wörterbücher,
sen Änderungen um verhältnism äßig gering- m aßgeblich zunächst z. B. durch das Diction-
fügige Eingriffe in die Schreibungsnorm en ary of the English Language (1755) von Sa-
und keineswegs um größere Um kodifizierun- m uel Johnson, wurde lediglich eine allm ähli-
gen der orthographischen Regelung. Aber che Reduzierung der orthographischen Varia-
einige durchaus nicht ganz unbeträchtliche bilität vorgenom m en, d. h., es wurde das
Orthographiereform en m it z. T. erheblichen Nebeneinander verschiedener Schreibungen
Auswirkungen auf den Schreibgebrauch in eines Wortes beseitigt, ohne daß jedoch ein
den jeweiligen Sprachen waren doch darunter. Eingriff in die orthographische Regelung er-
folgte. Gewisse, allerdings auch auf Einzel-
wortschreibungen beschränkte Änderungen
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 731

Jahr TagMonat Sprache Länder Beispiele der vorgenomme- Bemerkungen


nen Änderungen
1901 deutsch Deutschland, Öster- Abschaffung th in deut-
reich, Schweiz schen Wörtern; Brot statt
Brod, gib statt gieb
1906 7.April schwedisch Schweden gott, blint, kastat, vit, hav, kgl. cirkulär (rätt-
giva statt godt, blindt, skrifningsreformen
kastadt, hvit, haf, gifva 1906)
1907 19.Febr. norwegisch Norwegen offizielle Abschaffung der kgl. resolusjon
Großschreibung, auch aus
der Presse (auf den Schulen
bereits 1877 abgeschafft)
endgültige Trennung von
der dänischen Rechtschrei-
bung å statt aa auf den
Schulen eingeführt, løpe
statt løbe, slite statt slide,
leke statt lege
1910 spanisch Spanien und hi- Abschaffung des Akuts auf
spano-amerikanische der Präp. a und auf den
Republiken Konjunktionen e, o und u
1911 1.Sept. portugiesisch Portugal (nicht commércio, português, resolução da Co-
Brasilien) comprender, assunto, orto- missão da reforma
grafia; statt: commercio ortografica no-
portuguez, comprehender, meada pelas porta-
assumpto, orthographia rias de 15 de
fevereiro e 16 de
março de 1911
1917 21.Dez. norwegisch Norwegen å statt aa (auf den Schulen kgl. resolusjon
schon seit 19. 2. 1907),
takk statt tak, vann statt
vand, fjell statt fjeld und
wahlfreie Formen: stein
statt sten, hauk statt høk
1920 29.Nov. portugiesisch Portugal (nicht (kleine Änderungen) Dr. Julio Dantas
Brasilien) (Kultusminister)
1921 1.Juli lettisch Lettland Übergang zur Lateinschrift
č, š, ž, v statt tsch, sch, w
1931 30.April portugiesisch Portugal und Brasilien nimmt die 1911 Acôrdo ortográfico
Brasilien (u. 1920) in Portugal einge- entre a Academia
führten Änderungen an. das Ciências de Lis-
Außerdem in beiden Län- boa e a Academia
dern neu eingeführt: c statt Brasileira de Letras
sc, z. B. ciência statt sciên-
cia, mãi statt mãe, azues
statt azuis, dever-se-á statt
dever-se-há
1934 Sept. niederlän- Niederlande (nur leren statt leeren; geloven spelling Marchant
disch auf den Schulen) statt gelooven; bos statt
bosch
1936 24.Juni polnisch Polen j zwischen Mit- und Selbst- am 21. 4. 36 vom
laut durch i ersetzt, außer Rechtschreibaus-
nach e, s, z. schuß der Poln.
z. B. linia statt linja Akademie d. Wis-
senschaften be-
schlossen und am
24. 6. 36 vom Poln.
Unterr. Minist. be-
stätigt
Tab. 59.1: Orthographiereformen im 20. Jahrhundert (Schmitt 1955, 61)
732 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

JahrTagMonat Sprache Länder Beispiele Bemerkungen


der vorgenomme-
nen Änderungen
1938 7. Jan. norwegisch Norwegen z. B. språk statt sprog, bein kgl. resolusjon
statt ben, lauv statt løv,
røyk statt røk
1947 1. Mai niederlän- Niederlande und offizielle Einführung der in Holland: Gesetz
disch Belgien spelling Marchant, siehe vom 14. 2. 47
1934
1949 1. Jan. indonesisch Indonesien u statt der holländischen
[malaiisch] Schreibweise oo
(bahasa
Indonésia)
1949 1. April dänisch Dänemark Abschaffung der (1780 ein- schon am 22. 3. 48
geführten) Großschreibung, bekanntgegeben
(undervisningsmini-
å statt aa, kunne, ville, steriets be-
skulle statt kunde, vilde, kendtgørelse af
skulde 22. 3. 48)
1955 Sept.? niederlän- Niederlande und Vereinfachung der Schreib- schon am 25. 8. 54
disch Belgien von der spelling-
weise der Fremd- und commissie beschlos-
Lehnwörter: f statt ph in sen
griech. Wörtern, aber th
nur teilweise durch t ersetzt
1955? ? spanisch Spanien und hi- z. B. fue, fui, dio, vio statt schon am 6. 6. 52
spano-amerikanische fué, fui, dió, vió; aún stets von der Real Aca-
mit Akut in der Bedeutung demia Española be-
Republiken „noch“, auch vor dem schlossen. Wird in
Zeitwort der diesjähr. Aus-
gabe des Wörterbu-
ches d. Akad. be-
rücksichtigt
Tab. 59.1: Fortsetzung
wurden im Laufe der Zeit im am erikanischen Rechtschreibreform des Englischen sind aller-
Englisch eingeführt, initiiert zunächst durch dings sehr häufig erhoben worden (vgl. Zach-
den Am erikaner Noah Webster in seinem risson 1931/32); 1949 und 1953 stand sogar
Am erican Spelling Book (1783) sowie seinem die Bildung einer entsprechenden Untersu-
Am erican Dictionary of the English Lan- chungskom m ission auf der Tagesordnung des
guage (1828). Solche Schreibungsänderungen Unterhauses, doch konkrete Maßnahm en er-
erfolgten auch später noch bei wenigen Ein- folgten nicht. G. B. Shaw, im Gegensatz zu
zelwörtern, woraus sich dann Unterschiede vielen anderen Schriftstellern ein entschiede-
zwischen der britischen und am erikanischen ner Befürworter einer Orthographiereform ,
Rechtschreibung einzelner Wörter ergeben, stiftete einen Teil seines Verm ögens für die
wie theatre (brit.) vs. theater (am erik.), colour Schaffung einer neuen englischen Recht-
(brit.) vs. color (am erik.), honour (brit.) vs. schreibung; es wurde daraufhin auch ein Pro-
honor (am erik.), defence (brit.) vs. defense posed British Alphabet geschaffen, das jedoch
(am erik.) u. a. (vgl. Arnold & Hansen 1989, nie ein größeres Echo fand, sicher auch, weil
58). Das heißt nicht, daß es für das Englische es sehr stark von der traditionellen Schrei-
keine Bem ühungen um eine größere oder um - bung abweicht. Um fangreiche Aktivitäten für
fassende Orthographiereform gegeben hätte, eine Reform der englischen Orthographie ent-
doch war die Konstellation der im Abschnitt wickelte auch die 1908 gegründete Sim plified
3. angeführten Bestim m ungsfaktoren einer Spelling Society, die ein „Nue Speling“-Sy-
Reform offensichtlich bisher im m er so kon- stem ausarbeitete und in Schulversuchen er-
trär, daß diese Bem ühungen ohne spürbaren probte. Eine tatsächliche Änderung der eng-
Erfolg blieben. Forderungen nach einer lischen Orthographie erreichte sie jedoch
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 733

ebenfalls nicht. Nahezu alle Reform versuche gentlich die erste, wenn auch sehr bescheidene
der englischen Orthographie zeigen ähnlich Orthographiereform ausm acht, die in Frank-
wie die älteren Reform vorschläge zur deut- reich realisiert worden ist. Dieser Vorschlag
schen Orthographie eine sehr stark phonogra- stam m t vom „Conseil supérieur de la langue
phische Orientierung und verfolgen das Ziel, française“ und heißt offiziell „rectification„.
die beträchtlichen Differenzen von Schreibung Er enthält einige kleinere Veränderungen
und Lautung im Englischen zu verringern, gram m atischer und orthographischer Regu-
was zwangsläufig zu erheblichen Eingriffen in laritäten, darunter die Festlegungen, daß
die traditionelle Schreibung geführt hätte. Kom posita ohne Bindestrich geschrieben wer-
Auch dieser Aspekt hat neben den schon er- den (piquenique, vanupied), daß der Akzent
wähnten anderen Faktoren sicher zur Erfolgs- Zirkum flex auf u und i entfällt (aout, voute)
losigkeit der bisherigen Bem ühungen um eine und daß einige Einzelfallschreibungen ver-
Reform der englischen Orthographie beige- ändert werden sollen (z. B. oignon zu ognon).
tragen. Der Vorschlag wurde von der Académ ie Fran-
Im Französischen erfolgte die Entwicklung çaise bestätigt und vom Prem ierm inister im
der Orthographie vor allem über die Fixie- Dez. 1990 im Gesetzblatt veröffentlicht und
rung der Schreibungsnorm en in den verschie- dam it in Kraft gesetzt. Danach erhob sich in
denen Auflagen des Wörterbuches der Aca- der Öffentlichkeit und speziell in den konser-
dém ie Française, der in Frankreich die ent- vativen Zeitungen ein erheblicher Widerstand
scheidende Kom petenz in sprachlichen Fra- gegen diese Orthographieänderung, der die
gen und so auch für die Kodifizierung der Akadem ie und die Regierung zu einem Rück-
Orthographie zukom m t. Die Zahl der hier, zug veranlaßte. Der Vorschlag wurde zwar
vor allem in früheren Auflagen dieses Wör- nicht direkt außer Kraft gesetzt, aber die
terbuches, vorgenom m enen Änderungen von neuen Regelungen und Schreibweisen gelten
Wortschreibungen ist nicht gering, so daß der vorerst als fakultativ.
Eindruck, die französische Orthographie Auch für die deutsche Orthographie hat es
habe sich überhaupt nicht verändert, durch- nach der Reform von 1901 und der Kodifi-
aus unzutreffend ist. N. Catach (1978, 32— zierung der einheitlichen deutschen Orthogra-
46) stellt fest, daß von den in allen Auflagen phie eine Vielzahl von Reform vorschlägen ge-
des Akadem iewörterbuches von 1694 (1. Auf- geben (vgl. dazu im einzelnen Nerius 1975;
lage) bis 1935 (8. Auflage) enthaltenen 17 532 Reichardt 1981; Jansen-Tang 1988). Verschie-
Eintragungen 55,34% in ihrer Schreibung im dene dieser Vorschläge schienen auch gute
Laufe der Zeit verändert wurden, während Realisierungschancen zu haben; eine offizielle
44,66% orthographisch unverändert geblie- Veränderung der deutschen Orthographie ist
ben sind. Natürlich sind die Art und der Um - aber dann letztlich doch nicht vorgenom m en
fang der Änderungen im einzelnen sehr un- worden. Dafür kann ähnlich wie im Engli-
terschiedlich, durchweg aber handelt es sich schen und Französischen ein ganzer Kom plex
um Änderungen von Einzelfallschreibungen, von Ursachen angeführt werden, der im we-
nicht um allgem eine Reform en der Orthogra- sentlichen auf unterschiedliche Konstellatio-
phie. Eine größere Orthographiereform im nen und Gewichtungen der im Abschnitt 3.
oben bestim m ten Sinn der Um kodifizierung genannten Bestim m ungsfaktoren einer Re-
genereller Regeln (vgl. Abschnitt 2.) hat es form in der öffentlichen Auseinandersetzung
seit der Durchsetzung einer einheitlichen fran- um dieses Problem zurückgeht, zu denen
zösischen Orthographie nicht gegeben, ob- dann nach dem II. Weltkrieg noch das poli-
wohl in der Vergangenheit und speziell auch tische Problem der Spaltung Deutschlands als
im 20. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl weiterer Hinderungsfaktor hinzutrat. In der
von Reform vorschlägen vorgelegt und in der Entwicklung der Reform vorschläge selbst, die
Öffentlichkeit m it großem Engagem ent dis- im 20. Jahrhundert gewisserm aßen wellenar-
kutiert worden ist (vgl. im einzelnen Keller tig, in bestim m ten zeitlichen Abständen her-
1991). Die Schwierigkeiten, die sich aus der vortraten, widerspiegelt sich sowohl die Re-
Vielfalt und dem teilweisen Gegeneinander- aktion der Öffentlichkeit auf die Reform pro-
wirken der verschiedenen Bestim m ungsfak- gram m e als auch die Entwicklung der lingui-
toren einer Orthographiereform (vgl. Ab- stischen Erkenntnisse über die Struktur und
schnitt 3.) für die Durchführung einer solchen Funktion der Orthographie. Während in den
Reform ergeben, zeigen sich in Frankreich älteren Vorschlägen bis in die fünfziger Jahre
sehr deutlich am Schicksal des jüngsten Re- Änderungen der Phone
m -Graphem -Bezie-
form vorschlages aus dem Jahre 1990, der ei- hungen, u. a. das Problem der graphischen
734 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Kennzeichnung der Vokallänge, im Vorder- (rechtschreiblicher Doppelform en) und die


grund standen, traten in den jüngeren Re- Möglichkeit, in allgem ein gebräuchlichen
for
m progra m m en andere orthographische Frem dwörtern griechischen Ursprungs ph, th,
Teilgebiete an die Spitze, so vor allem die sehr rh durch f, t, r zu ersetzen. Die Wiesbadener
kontrovers diskutierten Fragen der Groß- Em pfehlungen haben die weitere Diskussion
und Kleinschreibung sowie Problem e der In- um eine Reform der deutschen Orthographie
terpunktion, der Getrennt- und Zusam m en- nachhaltig beeinflußt und standen bis Ende
schreibung und der Worttrennung am Zei- der sechziger Jahre im Mittelpunkt der Aus-
lenende. Diese neue Etappe wird eingeleitet einandersetzung.
durch die sogenannten Stuttgarter Em pfeh- In der langen Reihe der Reform vorschläge
lungen aus dem Jahre 1954, einem seiner- zur deutschen Orthographie nim m t der jüng-
zeit in der Öffentlichkeit sehr heftig disku- ste deutsch-österreichisch-schweizerische Vor-
tierten Vorschlag einer „Arbeitsgem einschaft schlag von 1991 (vgl. Blüm l et al. 1991; In-
für Sprachpflege“, die aus Sprachwissen- ternationaler Arbeitskreis für Orthographie
schaftlern und Vertretern des Schriftgewerbes 1992) eine Sonderstellung ein. Hier wird eine
bestand und Mitglieder aus verschiedenen kom plette Neufassung der gesam ten ortho-
deutschsprachigen Staaten um faßte. Wichtig- graphischen Regelung des Deutschen vorge-
ster Punkt der Em pfehlungen war die Einfüh- legt, in der an den entsprechenden Stellen
rung der sogenannten gem äßigten Klein- die Um kodifizierungen, d. h. die Reform vor-
schreibung, d. h. die Beschränkung der Groß- schläge enthalten sind. Während bisherige Re-
schreibung auf Satzanfänge, Eigennam en und form vorschläge sich fast im m er auf die An-
Anredepronom en. Daneben standen Vor- führung der Änderungen der geltenden Re-
schläge zur Vereinfachung der Getrennt- und gelung beschränkt haben, ist hier ein neues
Zusam m enschreibung, der Worttrennung am Gesam tregelwerk der deutschen Orthogra-
Zeilenende und der Interpunktion, aber auch phie erarbeitet worden, so daß sich Neufor-
Vorschläge zur Anpassung von Phonem -Gra- m ulierung und Um kodifizierung der Rege-
phem -Beziehungen bei Frem dwörtern an die lung m iteinander verbinden. Die Änderungs-
der heim ischen Wörter, z. B. die Ersetzung vorschläge zielen auf eine stärkere System a-
von ph durch f, th durch t und rh durch r, tisierung und Generalisierung der Regeln,
sowie als bedeutsam e Vorschläge im Bereich eine Beseitigung oder Reduzierung von Son-
der Phonem -Graphem -Beziehungen heim i- derfällen und Ausnahm en und dam it eine
scher Wörter die Ersetzung von ß durch ss leichtere Erlernbarkeit und Handhabbarkeit
und von tz durch z. Nur im Anhang und als der Orthographie. Im einzelnen werden u. a.
zusätzliche Überlegung wurde auch eine Re- folgende Änderungen der geltenden Regelung
geländerung der graphischen Kennzeichnung der deutschen Orthographie vorgeschlagen:
der Vokallänge erwogen. In der Worttrennung am Zeilenende soll
Die durch die Stuttgarter Em pfehlungen das heute schon dom inierende syllabische
eingeleitete Neuorientierung der Reform be- Prinzip so weitgehend generalisiert werden,
m ühungen im Deutschen wurde fortgesetzt daß es auch in den Fällen angewendet werden
und verstärkt durch die sogenannten Wies- kann, die heute noch nach dem m orphem a-
badener Em pfehlungen aus dem Jahre 1958. tischen Prinzip getrennt werden m üssen, näm -
Dieser im staatlichen Auftrag von einem lich bei einigen zusam m engesetzten Frem d-
durch die Regierung der Bundesrepublik wörtern griechischer oder lateinischer Her-
Deutschland berufenen „Arbeitskreis für kunft sowie bei einzelnen verdunkelten Zu-
Rechtschreibregelung“ erarbeiteten Vorschlag sam m ensetzungen heim ischer Wörter (Päd-
verzichtet völlig auf Reform wünsche aus dem ago-gik oder Pä-da-go-gik, Chir-urg oder Chi-
Bereich der Phonem -Graphem -Beziehungen rurg, In-ter-es-se oder In-te-res-se, He-li-ko-
bei heim ischen Wörtern und konzentriert sich pter oder He-li-kop-ter, Ma-gnet oder Mag-
ganz auf andere Gebiete der Orthographie. net; Klein-od oder Klei-nod, war-um oder wa-
Genannt werden hier ebenfalls an der Spitze rum usw.).
die Einführung der Kleinschreibung außer am In der Interpunktion wird vorgeschlagen,
Satzanfang, bei Eigennam en und Anrede- das Kom m a zwischen Hauptsätzen, die durch
pronom en sowie eine Vereinfachung der eine koordinierende Konjunktion verbunden
Kom m asetzung, der Getrennt- und Zusam - sind, wegfallen zu lassen und so den einzigen
m enschreibung und der Worttrennung am hier bestehenden Sonderfall bzw. die einzige
Zeilenende. Hinzu kom m en die Forderung Ausnahm e von der Regel zu beseitigen, daß
nach Beseitigung orthographischer Varianten zwischen Satzbestandteilen oder Sätzen, die
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 735

durch koordinierende Konjunktionen ver- hutsam eingeführt werden, ohne daß die bis-
bunden sind, kein Kom m a steht. Ebenso wird her gebräuchlichen Form en plötzlich „falsch„
vorgeschlagen, daß die notorischen Kom pli- würden. Das betrifft Beispiele wie grafisch
kationen und Spitzfindigkeiten der Kom m a- neben graphisch, Mikrofon neben Mikrophon,
setzung bei Infinitiv- und Partizipialkonstruk- Biografie neben Biographie, Diskotek neben
tionen dadurch beseitigt werden, daß hier Diskothek, Rabarber neben Rhabarber, Kom-
grundsätzlich kein Kom m a m ehr gesetzt wird munikee neben Kommunique usw.
bzw. in bestim m ten Fällen eine Freigabe der Zu dem in den Reform debatten besonders
Kommasetzung erfolgt. kontrovers diskutierten Gebiet der Groß- und
Auch in der Getrennt- und Zusam m en- Kleinschreibung legt der Vorschlag drei Re-
schreibung wird eine stärkere System atisie- gelungsvarianten vor, eine Neuform ulierung
rung und Generalisierung der Regelung und der Status-quo-Regelung, eine „m odifizierte
die Befreiung dieses orthographischen Teil- Großschreibung“, die die Substantivgroß-
gebietes von sekundären und gleichzeitig sehr schreibung beibehält, sie aber im Vergleich
inkonsequent realisierten Aufgaben wie der zur heute geltenden Regelung stärker einzu-
graphischen Kennzeichnung von Bedeutungs- grenzen versucht, und eine Kleinschreibungs-
unterschieden oder der unterschiedlichen variante, die die Substantivgroßschreibung
Handhabung der Regelung bei attributiver aufgibt und die Majuskeln auf Überschriften,
oder prädikativer Stellung der entsprechen- Satzanfänge, Eigennam en und Anredepro-
den sprachlichen Elem ente angestrebt. Im nomen beschränkt.
Kern läuft das auf eine gewisse Zunahm e der
Getrenntschreibungen hinaus.
Die Orientierung auf eine klarere Syste- 5. Auseinandersetzungen um
m atisierung wird ebenso bei der Regelung der Orthographiereformen
Phonem -Graphem -Beziehungen sichtbar, wo
Bem ühungen um die Veränderung einer gel-
sich die Änderungsvorschläge vor allem auf tenden Orthographie finden in aller Regel in
eine Regularisierung der Schreibung von Va-
rianten eines Stam m es im Sinne der Beseiti- der jeweiligen Öffentlichkeit große Aufm erk-
gung von Sonderfällen und Abweichungen sam keit, stoßen auf lebhaftes Interesse und
richten. Das betrifft Beispiele wie über- lösen oftm als heftige Diskussionen aus. Nicht
nur Linguisten, sondern viele Menschen aus
schwänglich wegen Überschwang statt über- unterschiedlichen Kreisen fühlen sich berufen,
schwenglich, nummerieren wegen Nummer
statt numerieren, schnäuzen wegen Schnauze hier m itzureden und m elden sich in der Dis-
statt schneuzen, belämmert wegen Lamm statt kussion zu Wort. Verbände, Vereine, linke
belemmert usw. Lediglich bei der s-ss-ß- und rechte Parteien und Gruppierungen ver-
Schreibung ist ein Eingriff in die Regelung schiedenster Art sowie Einzelpersonen dieser
vorgesehen, und zwar in dem Sinne, daß ß oder jener beruflichen und gesellschaftlichen
künftig nur noch nach langem Vokal steht, Stellung beteiligen sich an solchen Ausein-
nach kurzem aber durch ss ersetzt wird, was andersetzungen. Nicht zu unrecht fühlen sich
in vielen Fällen eine Stärkung des m orphe- sehr viele Menschen von Orthographiere-
m atischen Prinzips durch Gleichschreibung form bem ühungen angesprochen, denn die ge-
innerhalb des Paradigm as bedeutet, wo heute schriebene Sprache ist natürlich ein Besitz der
eine differenzierte Schreibung erforderlich ist ganzen Sprachgem einschaft, so daß auch ihre
(neu: Fass — Fässer, Wasser — wässrig, müs- Sache hier verhandelt wird. Nicht ganz so
sen — musste statt Faß, wäßrig, mußte, da- selbstverständlich ist es, daß fast jeder, der
gegen unverändert Fuß — Füße). sich die Orthographie m ehr oder weniger und
In den Phone
m -Graphem -Beziehungen m eist m it großer Mühe angeeignet hat, sich
von Frem dwörtern zielt der Vorschlag auf nun auch für einen Experten auf diesem Ge-
eine behutsam e Förderung und Weiterfüh- biet hält und seinem Urteil eine ausschlagge-
rung der graphischen Integration, d. h. der bende Bedeutung beim ißt. Nicht selten führen
Anpassung der Frem dwortschreibung an die die oben genannten (vgl. Abschnitt 1.2.) be-
Phone
m -Graphe m -Beziehungen mhei ischer sonderen Merkm ale dieser Norm im Verein
Wörter. Diese Förderung soll im Sinne einer m it den beträchtlichen Anstrengungen, die
gezielten Variantenführung erfolgen, durch der einzelne unternehm en m ußte, um die Or-
die die schon vorhandenen, in die heim ischen thographie einigerm aßen zu beherrschen,
Regularitäten integrierten Varianten favori- dazu, in dieser Norm einen höheren Wert zu
siert und neue Varianten allm ählich und be- sehen, der Eingriffe oder Veränderungen von
736 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

außen verbietet. Eine solche Auffassung ver- — sie treten jedoch m eist zurück hinter päd-
bindet sich zwar in der Regel m it einer weit- agogische, soziale, auf die Schrifttradition
gehenden Unkenntnis der Geschichte und und -kultur bezogene, psychologische, öko-
bisherigen Entwicklung der Orthographie, nom ische, technische und gelegentlich sogar
tritt aber dennoch in den öffentlichen Ausein- sprachpolitische Argum ente. Aus diesen Mei-
andersetzungen mu Orthographierefor
m en nungsäußerungen lassen sich eben die Bestim -
ziem lich häufig auf. Dam it hängt auch zusam - m ungsfaktoren von Orthographierefor
m en
m en, daß dieser Norm vielfach die dynam i- ablesen, die oben im Abschnitt 3. angeführt
sche Elastizität, die m an anderen sprachlichen wurden und die offensichtlich in allen Sprach-
Norm en selbstverständlich zuerkennt, nicht gem einschaften, i n denen solche Reform be-
m ehr zugebilligt wird bis hin zu dem Wider- strebungen hervortreten, eine m ehr oder we-
spruch, daß m an zwar kleine, gewisserm aßen niger große Rolle spielen. Auffällig ist aber
unm erkliche Änderungen der Orthographie nicht nur die relative Übereinstim m ung der
im Einzelfall zu tolerieren bereit ist, gleich- Diskussionen und Argum entationen um Or-
zeitig aber eine so präzise und verbindliche thographiereform en in verschiedenen Sprach-
Regelung jedes Einzelfalles wünscht, daß für gem einschaften bei allenfalls partiell unter-
unm erkliche Änderungen gar kein Platz m ehr schiedlicher Schwerpunktsetzung, auffällig ist
ist. auch die seit Beginn solcher Auseinanderset-
In den Auseinandersetzungen um Ortho- zungen auftretende ständige Wiederholung
graphiereform en, und zwar sowohl um die, im m er der gleichen Argum ente, wie das z. B.
die in einzelnen Sprachen durchgeführt wur- Küppers (1984) für die Auseinandersetzung
den, als auch um solche, die vorgeschlagen, um eine Reform der deutschen Orthographie
der Öffentlichkeit unterbreitet oder zur seit 1876 sehr deutlich gezeigt hat. Dabei gibt
Durchführung em pfohlen wurden (vgl. die im es zu den Pro-Argum enten fast durchweg
Abschnitt 4. angeführten Fälle), wird ein brei- auch jeweils Contra-Argum ente, so daß m an
tes Spektrum von Argum enten und Stand- die Auseinandersetzungen um Orthographie-
punkten vertreten. Es reicht vom rationalen reform en gewisserm aßen in einem Katalog
Diskurs bis zur em otionalen Bekundung, von von Argum enten generalisieren kann, die im -
der kenntnisreichen Beurteilung bis zur un- m er wieder auftreten. Dazu gehören auf der
qualifizierten, unsachlichen Meinungsäuße- einen Seite die von einer Orthographiereform
rung, Unterstellung oder sogar Verunglim p- erhoffte Vereinfachung der Rechtschreibung
fung. Natürlich ist auch hier wie bei der Er- m it entsprechenden Auswirkungen für den
örterung der Bestim m ungsfaktoren von Or- Schulunterricht, was breiten Kreisen des Vol-
thographiereform en (vgl. Abschnitt 3.) zu kes den Zugang zur geschriebenen Sprache
unterscheiden zwischen linguistischen und erleichtern, die Chancengleichheit verbessern
außerlinguistischen Argum enten. In den Mei- und die allgem eine Sprachkultur erhöhen soll.
nungsäußerungen von Sprachwissenschaft- Dazu gehören auf der anderen Seite die m it
lern dom inieren und widerspiegeln sich in der einer Orthographiereform verbundenen Be-
Regel ihre theoretischen Positionen zum We- fürchtungen, daß dadurch ein Bruch der Kon-
sen, zur Struktur, zu den Funktionen und zur tinuität der Schrifttradition und dam it der
Entwicklung der Orthographie. Danach dif- kulturellen Entwicklung herbeigeführt oder
ferenzieren sich die Befürworter und Gegner eine wesentliche Leseerschwernis verursacht
einer Orthographiereform , und danach be- würde, daß unzum utbare Um stellungsschwie-
stim m en sich die Auffassungen über die Art, rigkeiten und unerschwingliche Kosten auf-
den Um fang und die Grenzen einer solchen träten u. a. m . Geerts et al. (1977, 202—207)
Reform . Die Skala reicht hier von einer stark belegen das m it einer langen Liste von Ar-
phonographischen Orientierung der Ortho- gum enten für und gegen eine Orthographie-
graphie über abgestufte und funktional dif- reform des Niederländischen, gegliedert in
ferenzierte Eingriffe in verschiedene Teilge- “m ore em otional argum ents” und “m ore ob-
biete der Orthographie bis zur weitgehenden jective argum ents”, die m an ohne weiteres auf
Ablehnung von Orthographieänderungen in viele andere Länder übertragen könnte. Nicht
einzelnen Teilgebieten oder überhaupt. selten stellen solche Meinungsäußerungen
In der allgem einen öffentlichen Auseinan- bloße Behauptungen dar, die keiner ernsthaf-
dersetzung spielen sprachwissenschaftliche ten Prüfung standhalten; es gehört jedoch
Argum ente zwar m itunter auch eine Rolle — ebenfalls zu den charakteristischen Merkm a-
die Diskussion der Sprachwissenschaftler re- len der öffentlichen Auseinandersetzungen
flektiert sich natürlich in der Öffentlichkeit um Orthographiereform en, daß hier häufig
59.  Orthographieentwicklung und Orthographiereform 737

vorgefaßte Meinungen bekräftigt und gegen- Rechtschreibduden quasi am tlich wurde. Mutter-
teilige Argum ente ignoriert werden. Zu sol- sprache 98, 329—344.
chen Merkm alen gehört auch die speziell bei Augst, Gerhard & Zabel, Herm ann. 1979. Stand
den Gegnern von Orthographiereform en oft- der öffentlichen und politischen Diskussion über
m als festzustellende Überbewertung der gel- die Rechtschreibreform mi deutschsprachigen
tenden Orthographie als Wert an sich sowie Raum m it einer Zeittafel ab 1973. In: Mentrup,
die häufig anzutreffende Unkenntnis der tat- 11—42.
sächlichen Entwicklung und Geschichte der Baudusch, Renate. 1980. Untersuchungen zu einer
jeweiligen Orthographie. Reform der deutschen Orthographie auf dem Ge-
Transporteur der allgem einen öffentlichen biet der Interpunktion. In: Linguistische Studien.
Auseinandersetzungen um Orthographiere- Reihe A. H. 83/II. Berlin, 216—323.
form en ist von Anfang an vor allem die Besch, Werner. 1981. Zur Entwicklung der deut-
Presse, die selbst z. T. nicht unwesentlichen schen Interpunktion. In: Interpretation und Edi-
Einfluß auf die Gestaltung und Richtung die- tion deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift
ser Auseinandersetzungen nim m t. Dies kann für John Asher. Berlin, 187—205.
auf eine sachliche und objektive Erörterung Berry, Jack. 1977. ‘The Making of Alphabets’ Re-
der Problem atik zielen, nicht selten sind aber visited. In: Fishman, 3—16.
auch unsachliche, unqualifizierte oder sogar
böswillige Darstellungen (Belege dazu finden Blüm l, Karl, Glinz, Hans, Mentrup, Wolfgang, Ne-
sich z. B. bei Küppers 1984 sowie bei Zabel rius, Dieter & Sitta, Horst. 1991. Vorschläge zur
1989). Zu einer offenen Auseinandersetzung Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung.
gibt es jedoch keine Alternative. Eine Ortho- Vorlage für die Wiener Konferenz im Mai 1990.
graphiereform erfordert in einer dem okra- Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 44,
tisch verfaßten Gesellschaft im m er auch die 173—186.
Überzeugung eines großen Teiles der Öffent- Börge, Vagn A. 1972. Die Reform der Rechtschrei-
lichkeit. Sie m uß davon überzeugt werden, bung in Dänem ark. In: E. Pacolt (ed.), Beiträge
daß der Nutzen einer Neuregelung den Kauf- zur Erneuerung der deutschen Rechtschreibung.
preis der Veränderung rechtfertigt. Neben die- Die Rechtschreibreform in sprachwissenschaftli-
ser Bedingung sind, wie vorangehend darge- cher, psychologischer, soziologischer, pädagogi-
stellt, bei einer Rechtschreibänderung noch scher und historischer Sicht. Wien, 123—133.
eine Vielzahl weiterer Bedingungen und Fak- Catach, Nina. 1978. L’orthographie. Paris.
toren angem essen zu berücksichtigen, so daß —. 1980. L’orthographie française. Traité theore-
eine Orthographiereform im m er eine schwie- tique et pratique. Paris.
rige und kom plizierte Aufgabe sein wird, für Ehlich, Konrad. 1980. Schriftentwicklung als ge-
deren Erfolg entsprechende Konstellationen sellschaftliches Problem lösen. Zeitschrift für Se-
erforderlich sind und an deren Erfolg viele miotik 2, 335—359.
Kräfte mitwirken müssen. Eisenberg, Peter. 1983. Orthographie und Schrift-
system . In: Günther, Klaus B & Günther, Hartm ut
(ed.), Schrift — Schreiben — Schriftlichkeit. Ar-
6. Literatur beiten zur Struktur, Funktion und Entwicklung
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nationales Handbuch zur Wissenschaft von Spra- —. 1988. The developm ent and Reform of Writing
che und Gesellschaft. Berlin. System s. In: Am m on et al., Vol. 2. Berlin,
Arnold, Roland & Hansen, Klaus. 1989. Englische 1643—1650.
Phonetik. 5. Aufl. München. Gabler, Birgit. 1983. Untersuchungen zur Variabi-
Augst, Gerhard. 1983. Rechtschreibreform vor der lität der Orthographie der deutschen Gegenwarts-
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738 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Augst, Gerhard & Schaeder, Burkhard (ed.), Recht-
60.  Schriftlichkeit und Diglossie 739

schreibwörterbücher in der Diskussion. Frankfurt Veith, Werner Heinrich. 1985. Die Bestrebungen
et al., 119—173. der Orthographiereform im 18., 19. und 20. Jahr-
Scherer, Günther & Wallm ann, Alfred. 1977. Eng- hundert. In: Besch, Werner, Reichm ann, Oskar &
lische Phonetik und Phonologie. 2. Aufl. Berlin. Sonderegger, Stefan (ed.), Sprachgeschichte. Ein
Schm itt, O. C. 1955. Die Rechtschreibreform en Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache
und Reform bewegungen im Ausland seit 1900 und und ihrer Erforschung. Berlin/New York, 2. Halb-
die deutsche Reform bewegung. Mitteilungen des band, 1482—1495.
Instituts für Auslandsbeziehungen 1, 60—62. Weisgerber, Leo. 1964. Die Verantwortung für die
Stetter, Christian. 1989. Vorschlag zur Neuregelung Schrift. Mannheim.
der deutschen Orthographie — Reform ohne Theo- Wiese, Richard. 1987. Laut, Schrift und das Lexi-
rie? Mitteilungen des deutschen Germ anistenver- kon. Deutsche Sprache 15, 318—335.
bandes 36, H. 3, 8—20. Zabel, Herm ann. 1989. Der gekippte Keiser. Do-
—. 1991. Was ist eine orthographische Regel? Os- kum entation einer Pressekam pagne zur Recht-
nabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 44, 40—67. schreibreform. Bochum.
Strunk, Hiltraud. 1992. Stuttgarter und Wiesba- Zachrisson, R. E. 1931/32. 400 Years of English
dener Em pfehlungen. Entstehungsgeschichte und Spelling Reform. Studia Neophilologica 4, 1—69.
politisch-institutionelle Innenansichten gescheiter- Zigm und, Hans. 1967. Die Rechtschreibung des
ter Rechtschreibreform versuche von 1950 bis 1965. Russischen. In: Veröffentlichungen des Instituts für
Frankfurt et al. Slawistik der Deutschen Akadem ie der Wissen-
Tauli, Valter. 1977. Speech and Spelling. In: Fish- schaften zu Berlin. Nr. 48, 213—239.
man, 17—35.
Dieter Nerius, Rostock (Deutschland)

60. Schriftlichkeit und Diglossie

1. Einleitung stellt sich das Verhältnis zwischen m ündlichen


2. Sprachkultivierung und schriftlichen Varietäten in verschiedenen
3. Gesellschaftliche Aspekte Einzelsprachen unterschiedlich dar. Während
4. Schriftsysteme und Diglossie die Etablierung einer schriftlich fixierten
5. Literatur Norm vor allem in Westeuropa im engen Zu-
sam m enhang m it Alphabetisierung, Dialekt-
einebnung und Sprachkonvergenz geschah,
1. Einleitung kam es in anderen Fällen zu einer Polarisie-
Wo Schrift verwendet wird, besteht ein Kon- rung. Die Aufm erksam keit der Forschung
trast zwischen gesprochener und geschriebe- richtete sich hier früh auf das Griechische,
ner Sprache. Seit Dante ist der Gedanke, daß dessen archaisierende, an der klassischen Li-
es sich hierbei um die Scheidung einer lingua teratursprache orientierte Katharevousa stark
artificialis von einer lingua naturalis handelt, m it der Dim otiki des m ündlichen Um gangs
ein Topos der wissenschaftlichen Sprachbe- kontrastierte. Krum bacher (1902) bezeichnete
trachtung (Baum 1987), der in einer Reihe das Verhältnis zwischen beiden als „Diglos-
von Begriffen Ausdruck gefunden hat. Lite- sie“, und Psichari (1928, 66) unterschied „zwei
ratur-, Schrift-, Standard- oder Hochsprache Sprachen, die gesprochene und die geschrie-
wird konzeptuell und zunehm end auch de- bene, genau wie m an von gesprochenem und
skriptiv von Mundart, Regiolekt und Um - geschriebenem Arabisch spricht„. Dem gem äß
gangssprache unterschieden. Paul (1909, 412) wurde auch die Situation des Arabischen als
stellt der „natürlichen“ Um gangsprache die Diglossie dargestellt (Marçais 1930).
„künstliche“ Schriftsprache gegenüber, wie Seither hat der Begriff weite Verbreitung
auch Jespersen (1933) den unnatürlichen Cha- in der Literatur über m ediale, funktionale und
rakter letzterer betont. Bloom field (1933, 291) soziale Sprachdifferenzierung gefunden und
konstatiert das Entstehen schriftsprachlicher ist wegen seines von Autor zu Autor variie-
(literary) Dialekte in Sprachen m it Schrifttra- renden Inhalts und der Unschärfe seiner Rän-
dition. der zum Gegenstand eines extensiven Meta-
Als Folge der jeweiligen soziohistorischen diskurses geworden (Tollefson 1983; Krem -
Genesebedingungen der Schriftverwendung nitz 1987; am ausführlichsten Britto 1986).
60.  Schriftlichkeit und Diglossie 739

schreibwörterbücher in der Diskussion. Frankfurt Veith, Werner Heinrich. 1985. Die Bestrebungen
et al., 119—173. der Orthographiereform im 18., 19. und 20. Jahr-
Scherer, Günther & Wallm ann, Alfred. 1977. Eng- hundert. In: Besch, Werner, Reichm ann, Oskar &
lische Phonetik und Phonologie. 2. Aufl. Berlin. Sonderegger, Stefan (ed.), Sprachgeschichte. Ein
Schm itt, O. C. 1955. Die Rechtschreibreform en Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache
und Reform bewegungen im Ausland seit 1900 und und ihrer Erforschung. Berlin/New York, 2. Halb-
die deutsche Reform bewegung. Mitteilungen des band, 1482—1495.
Instituts für Auslandsbeziehungen 1, 60—62. Weisgerber, Leo. 1964. Die Verantwortung für die
Stetter, Christian. 1989. Vorschlag zur Neuregelung Schrift. Mannheim.
der deutschen Orthographie — Reform ohne Theo- Wiese, Richard. 1987. Laut, Schrift und das Lexi-
rie? Mitteilungen des deutschen Germ anistenver- kon. Deutsche Sprache 15, 318—335.
bandes 36, H. 3, 8—20. Zabel, Herm ann. 1989. Der gekippte Keiser. Do-
—. 1991. Was ist eine orthographische Regel? Os- kum entation einer Pressekam pagne zur Recht-
nabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 44, 40—67. schreibreform. Bochum.
Strunk, Hiltraud. 1992. Stuttgarter und Wiesba- Zachrisson, R. E. 1931/32. 400 Years of English
dener Em pfehlungen. Entstehungsgeschichte und Spelling Reform. Studia Neophilologica 4, 1—69.
politisch-institutionelle Innenansichten gescheiter- Zigm und, Hans. 1967. Die Rechtschreibung des
ter Rechtschreibreform versuche von 1950 bis 1965. Russischen. In: Veröffentlichungen des Instituts für
Frankfurt et al. Slawistik der Deutschen Akadem ie der Wissen-
Tauli, Valter. 1977. Speech and Spelling. In: Fish- schaften zu Berlin. Nr. 48, 213—239.
man, 17—35.
Dieter Nerius, Rostock (Deutschland)

60. Schriftlichkeit und Diglossie

1. Einleitung stellt sich das Verhältnis zwischen m ündlichen


2. Sprachkultivierung und schriftlichen Varietäten in verschiedenen
3. Gesellschaftliche Aspekte Einzelsprachen unterschiedlich dar. Während
4. Schriftsysteme und Diglossie die Etablierung einer schriftlich fixierten
5. Literatur Norm vor allem in Westeuropa im engen Zu-
sam m enhang m it Alphabetisierung, Dialekt-
einebnung und Sprachkonvergenz geschah,
1. Einleitung kam es in anderen Fällen zu einer Polarisie-
Wo Schrift verwendet wird, besteht ein Kon- rung. Die Aufm erksam keit der Forschung
trast zwischen gesprochener und geschriebe- richtete sich hier früh auf das Griechische,
ner Sprache. Seit Dante ist der Gedanke, daß dessen archaisierende, an der klassischen Li-
es sich hierbei um die Scheidung einer lingua teratursprache orientierte Katharevousa stark
artificialis von einer lingua naturalis handelt, m it der Dim otiki des m ündlichen Um gangs
ein Topos der wissenschaftlichen Sprachbe- kontrastierte. Krum bacher (1902) bezeichnete
trachtung (Baum 1987), der in einer Reihe das Verhältnis zwischen beiden als „Diglos-
von Begriffen Ausdruck gefunden hat. Lite- sie“, und Psichari (1928, 66) unterschied „zwei
ratur-, Schrift-, Standard- oder Hochsprache Sprachen, die gesprochene und die geschrie-
wird konzeptuell und zunehm end auch de- bene, genau wie m an von gesprochenem und
skriptiv von Mundart, Regiolekt und Um - geschriebenem Arabisch spricht„. Dem gem äß
gangssprache unterschieden. Paul (1909, 412) wurde auch die Situation des Arabischen als
stellt der „natürlichen“ Um gangsprache die Diglossie dargestellt (Marçais 1930).
„künstliche“ Schriftsprache gegenüber, wie Seither hat der Begriff weite Verbreitung
auch Jespersen (1933) den unnatürlichen Cha- in der Literatur über m ediale, funktionale und
rakter letzterer betont. Bloom field (1933, 291) soziale Sprachdifferenzierung gefunden und
konstatiert das Entstehen schriftsprachlicher ist wegen seines von Autor zu Autor variie-
(literary) Dialekte in Sprachen m it Schrifttra- renden Inhalts und der Unschärfe seiner Rän-
dition. der zum Gegenstand eines extensiven Meta-
Als Folge der jeweiligen soziohistorischen diskurses geworden (Tollefson 1983; Krem -
Genesebedingungen der Schriftverwendung nitz 1987; am ausführlichsten Britto 1986).
740 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Eine wichtige Stufe der Entwicklung des setzung und Pflege einer m it dem Anspruch
Begriffs war Fergusons (1959) Herausarbei- auf überregionale Gültigkeit verbundenen
tung der Gem einsam keiten vier sehr dispa- Norm wird durch sie wesentlich erleichtert.
rater Paare gehobener (H) und niederer (L) Dam it entsteht die wesentliche Voraussetzung
Varietäten — im Arabischen, Griechischen, einer funktionsspezifischen Sprachdifferen-
Schweizerdeutschen und Frankokreolischen zierung diglossischen Charakters. Die schrift-
in Haiti. Die dam it eingeleitete Verschiebung lich verwendete Variante ist stets H, und ty-
des Fokus von der Sprache zur Sprachge- pischerweise nur H. Ferguson (1959, 336)
m einschaft wurde von Fishm an (1967) wei- kennzeichnete H als „Vehikel einer um fang-
tergeführt, der den Begriff auf die funktional reichen und geschätzten Literatur„.
kom plem entäre Distribution genetisch ver-
schiedener Sprachen in einer Gem einschaft 2.2.  Der Erwerb eines schriftlichen Kodes
ausdehnte. Kloss (1976) schlug daran anknü- durch eine Sprachgem einschaft kann auf ver-
pfend vor, zwischen „Binnendiglossie“ gene- schiedene Weise zu einer Divergenz zwischen
tisch verwandter H und L und „Außendi- geschriebener und gesprochener Sprache füh-
glossie“, wo eine solche Verwandtschaft nicht ren, die weit genug ist, um als Diglossie ein-
gegeben ist, zu unterscheiden. Weitere begriff- gestuft werden zu können.
liche Verfeinerungen betreffen einerseits die
relative Affinität (Fasold 1984, 54; Britto 2.2.1.  Die durch starkes, oft puristisches
1986, 19 f) und andererseits die Anzahl der Norm bewußtsein bewirkte Konservierung der
betreffenden Varietäten; denn in dem Maße, Schriftsprache einer kulturellen Blütezeit läßt
wie gesellschaftliche und räum liche (Khub- den Abstand zwischen den genetisch ver-
chandani 1983) Koexistenz von H und L ge- wandten H und L kontinuierlich größer wer-
genüber ihrer genetischen Verwandtschaft den. Arabisch, dessen H auch als arabi nahawi
theoretisch an Bedeutung gewannen, rückten ‘gram m atisches Arabisch’ bekannt ist, wird
auch Fälle in den Blick, die die Berücksich- oft als Beispiel zitiert. Da dessen Koineisie-
tigung von m ehr als zweien verlangten und rung jedoch voranschreitet (Mitchell 1982),
dam it die Erweiterung der H-L-Dichotom ie. entspricht heute das Singhalesische diesem
Der von Mackey (1986) vorgeschlagene Be- Typ noch m ehr. In dieser Binnendiglossie wird
griff ‘Polyglossie’ trägt dem Rechnung. H überhaupt nicht m ündlich verwendet, son-
Im Laufe der Theorieentwicklung hat der dern ist auf schriftliche Kom m unikation be-
Begriff ‘Diglossie’ eher an Schärfe verloren. schränkt (De Silva 1982). Zwischen H und L
Daß er dennoch weiterhin verwendet wird, gibt es deutliche gram m atische Unterschiede.
zeugt von der Kom plexität gesellschaftlicher Die Verbalm orphologie von H ist differen-
Mehrsprachigkeit, die es erforderlich m acht, zierter, was für das Verhältnis von H und L
diverse Form en dieses Phänom ens zu unter- generell auch in anderen Sprachen typisch ist.
scheiden, aber auch wünschenswert sein läßt, Auch auf der syntaktischen Ebene weist H
ihre Verwandtschaft begrifflich deutlich zu Differenzierungen auf, die es in L nicht gibt,
m achen. Da detaillierte Analysen von Mehr- so etwa einen Unterschied zwischen involiti-
sprachigkeit überall auf der Welt im m er wie- ver und passiver Aktionsart. Das Lexikon ist
der andere Eigenschaften als für Diglossiesi- H und L größtenteils gem einsam , was eben-
tuationen wesentlich erscheinen ließen, ist falls ein allgem eines Merkm al von Binnendi-
‘Diglossie’ zu einem Oberbegriff geworden, glossie ist.
der — im Unterschied zu individueller —
gesellschaftliche Mehrsprachigkeit beinhaltet, 2.2.2.  Durch aktive Sprachplanung induziert
die sich durch funktionale Kom plem entarität wurde eine Diglossiesituation im karolingi-
der Varietäten auszeichnet. Obwohl das selten schen Reich. Durch die Sprachreform Karls
them atisiert wird, hat sich bei dieser Begriffs- des Großen, nach der Latein (H) ad litteras
entwicklung die Schriftlichkeit als eines der auszusprechen war, wurden in der Schrift-
stabilsten Kriterien erwiesen. Sie ist der Kern sprache begonnene Entwicklungen aufgehal-
jeder Binnendiglossie und stets ein wesent- ten bzw. rückgängig gem acht, was deren Ab-
licher Aspekt von Außendiglossie. stand zu den rom anischen Vernekularvarie-
täten (L) vergrößerte. Dam it war seine Re-
duktion auf eine nur noch geschriebene Spra-
2. Sprachkultivierung che und der gleichzeitige Ausbau der ver-
schiedenen L zu eigenständigen Sprachen
2.1.  Schrift ist das wichtigste Instrum ent der eingeleitet. Während der m ehrere Jahrhun-
Sprachkultivierung. Die Etablierung, Durch- derte dauernden Übergangszeit war die Ro-
60.  Schriftlichkeit und Diglossie 741

m ania durch Binnendiglossie gekennzeichnet Die Koexistenz m ehrerer schriftlicher


(Wright 1991). Kodes ist für viele Gesellschaften belegt. Ob-
wohl die Koiné in der hellenistischen Welt
2.2.3.  Die Übernahm e einer frem den Schrift- den Status der allgem ein respektierten Schrift-
sprache führt gewöhnlich zu Außendiglos- sprache genoß, wurden andere Varietäten wei-
sie, wofür die Geschichte zahlreiche Beispiele ter schriftlich verwendet, wie z. B. das Dori-
kennt. Das persische Reich unter Darius sche Süditaliens von den Pythagoräern. In der
wurde auf Aram äisch verwaltet. In der hel- m ittelalterlichen Rom ania wurden neben La-
lenistischen Zeit diente die griechische Koiné tein auch Französisch und Provençalisch für
rund um s Mittelm eer als H verschiedener literarische Zwecke verwendet. Im Großfür-
Außendiglossien, während sie gleichzeitig in stentum Litauen waren zwischen dem Ende
Griechenland durch die attizistische Bewe- des 16. und dem 18. Jahrhundert Lateinisch,
gung gegenüber der klassischen attischen Li- Polnisch und Weißrussisch koexistente Lite-
teratursprache in die L-Position geriet, was ratursprachen. Solche Situationen m ultipler
den Beginn der jahrhundertelangen griechi- Schriftsprachlichkeit als Diglossie einzustufen
schen Binnendiglossie m arkierte (Browning (Mackey 1986), kann den Begriff nur weiter
1969, 49). Die Länder an der südlichen und aushöhlen. Das Spezifische der Diglossiesi-
östlichen Peripherie Chinas mi portierten tuation ist, daß Sprachkultivierung und -stan-
m angels einer eigenen die chinesische Schrift dardisierung an eine Varietät gebunden ist,
und m it ihr die chinesische Schriftsprache, die in funktionaler Kom plem entarität zu
Wényán, um sie viele Jahrhunderte als aus- (einer) anderen gebraucht wird, wobei sie ins-
schließliches, später als wichtigstes Medium besondere die Funktionen der schriftlichen
schriftlicher Kom m unikation zu verwenden Kommunikation erfüllt.
(Coulm as 1989 b; → Art. 27, 32). Heutzutage
sind die m odernen europäischen Kulturspra- 2.3.  Ein Charakteristikum der Diglossie, näm -
chen in vielen Teilen der Welt das einzige oder lich daß H von der Sprachgem einschaft als
wichtigste schriftliche Medium und erfüllen Verkörperung der korrekten Sprachform
dam it die H-Funktionen einer Außendiglos- em pfunden wird, während m it L keine klare
sie. explizite Norm assoziiert ist, ist auch für un-
verschriftete Sprachen beobachtet worden.
2.2.4.  Eine klassische Sprache ist eine stan- Bloom field (1927) stellte fest, daß die Meno-
dardisierte Schriftsprache, die keine Prim är- m ini deutliche Vorstellungen von der korrek-
sprecher m ehr hat. H ist in vielen Fällen eine ten Verwendung ihrer Sprache hatten, was er
klassische Sprache oder durch große Affinität als Vorhandensein eines im pliziten Standards
zu einer solchen gekennzeichnet. Lateinisch, deutete. Daraus die allgem eine Schlußfolge-
Kirchenslawisch, Sanskrit u. a. haben diese rung zu ziehen, daß durch die Konservierung
Rolle relativ zu genetisch m it ihnen verwand- eines solchen Standards eine Diglossiesitua-
ten Varietäten gespielt. Eine Diglossie im en- tion ohne Schrift entstehen kann, ist jedoch
geren Sinne ist gegeben, wenn die klassische nicht gerechtfertigt; denn Menom ini hatte nur
Sprache der einzige schriftliche Kode ist, des- 1700 Sprecher, zu wenige, um die für Diglos-
sen sich eine Gemeinschaft bedient. sie charakteristische große Variabilität von L
entstehen zu lassen. Zudem gibt es ohne
2.2.5.  Häufig ist das Varietätenrepertoire von Schrift keine Gewähr, daß ein Standard wirk-
Sprachgem einschaften jedoch kom plexer. La- lich konserviert und nicht ständig angepaßt
teinisch wurde jahrhundertelang neben den wird.
sich herausbildenden m odernen europäischen Daher kann auch die vedische Tradition,
Sprachen verwendet, wobei sich seine Funk- deren Beruhen auf m ündlicher Überlieferung
tion von der des einzigen über die des dom i- oft hervorgehoben wird, nicht als Beleg dafür
nanten zu der eines subsidiären schriftlichen herangezogen werden, daß Diglossie ohne
Kodes verschob. Als Diglossie einzustufen Schrift entstehen kann. Gerade die sprachli-
sind im Laufe einer solchen Entwicklung die chen Verhältnisse auf dem indischen Subkon-
Stadien, wo einerseits H seiner Prim ärspre- tinent m achen deutlich, daß Diglossie in
chergem einschaft bereits verlustig gegangen einem Sinne, der nicht jede beliebige Form
ist und andererseits L noch nicht standardi- gesellschaftlichen Multilingualism us um faßt,
siert und in nennenswertem Um fang geschrie- ein Ausfluß der Schriftsprachlichkeit ist.
ben wird, so daß es Funktionen von H über- Schon Caldwell (1856, 81) bem erkte „die
nimmt und den Status von H bedroht. Eigenart der indischen Sprachen, daß der li-
742 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

terarische Stil, so bald sie kultiviert werden, der ganzen Sprachgem einschaft getragenes
die Tendenz zeigt, zu einem vom Dialekt des Verhältnis von H und L ist. Insbesondere
täglichen Lebens unterschiedenen schrift- Britto (1986) weist die Identifikation von H
sprachlichen Dialekt m it eigener Gram m atik und L m it Soziolekten — sei es als Kasten-
und eigenem Vokabular zu werden„. Offen- dialekte in Indien, sei es in Analogie m it ela-
kundig haben die indischen Gram m atiker das borierten und restringierten Kodes — zurück
Modell des Verhältnisses zwischen Sanskrit und insistiert auf der funktionsspezifischen
und den Prakrits auf andere Sprachen proje- Differenzierung und Distribution von H und
ziert (Krishnam urti 1979, 5). Zwischen den L. Dabei besteht der Kontrast allerdings ge-
m ündlichen und schriftlichen Erscheinungs- nauer zwischen H und einer Menge
form en der m eisten indischen Kultursprachen {L1,...,Ln}, was sich wie folgt darstellen läßt.
besteht daher eine so weite Kluft, daß sie als
diglossisch beschrieben werden (Deshpande
1986; Dil 1986; Krishnam urti 1986; Singh
1986).

3. Gesellschaftliche Aspekte Anders als H entspricht L nicht einer einzigen


hom ogenen Norm . Deshalb ist die Forderung
3.1.  Diglossie ist in Indien u. a. deshalb eine nach der Verschriftung von L in vielen Fällen
so häufige Erscheinung, weil Schriftkenntnis unrealistisch. Denn wegen der großen Varia-
und Schriftsprachgebrauch viele Jahrhun- tionsbreite von L kann z. B. „im Tam ilischen
derte auf eine schm ale Elite beschränkt niem and außer vielleicht dem Schreiber selber
waren. H wurde dem entsprechend auf der eine in L geschriebene Passage richtig voka-
Grundlage der von dieser Elite gesprochenen lisieren“ (Britto 1986, 180). Offenkundig ist
Varietät kultiviert. Wegen der horizontalen soziale Stigm atisierung kein verallgem einer-
Schichtung der Gesellschaft war die Möglich- bares Kennzeichen von L. Sowohl in Situa-
keit der Beeinflußung von L durch H gering, tionen, wo H überhaupt nicht gesprochen
wie auch H gegen die Vernekularisierung wird wie im Telugischen (Radhakrishna 1972)
durch L weitgehend immun war. als auch in solchen, wo H und L um m anche
Daß zwischen Diglossie und Analphabetis- m ündlichen Funktionen konkurrieren wie in
m us ein Zusam m enhang besteht, ist wahr- der Schweiz (Rupp 1983, 31 ff), hat L keine
scheinlich, obwohl gängige Definitionen dar- soziale Markierung. Die Wertschätzung von
auf keinen Bezug nehm en. Wexler (1971, 337) H im pliziert nicht unbedingt die Geringschät-
hat allerdings zu bedenken gegeben, ob nicht zung von L. Diglossie kann daher nicht ge-
nur dann von Diglossie gesprochen werden nerell als Ausdruck sozialer Konflikte gedeu-
sollte, wenn die Sprachgem einschaft ein ge- tet werden. Das soziale Problem , das sie trotz-
ringes Literalitätsniveau aufweist. Um gekehrt dem birgt, ist, daß die Kluft zwischen aktiver
ließe sich die aus der soziologischen Lehre und passiver Schriftsprachbeherrschung ten-
Basil Bernsteins bekannte Dichotom ie von denziell größer ist als in Sprachen, in denen
„elaboriertem “ und „restringiertem “ Kode als m ündliche und schriftliche Varietäten stark
Diglossie der literalen Gesellschaft kennzeich- konvergent sind.
nen.
3.3.  Wie Schriftsprache generell unterscheidet
3.2.  Dieser Zusam m enhang ist m anchm al sich H von L auch dadurch, daß es durch
zum Anlaß genom m en worden, Diglossie als explizite Instruktion gelernt werden m uß. Ver-
eine Situation sozialer Ungerechtigkeit zu be- fechter m uttersprachlicher Erziehung sehen
trachten, die es zu überwinden gilt (Sotiro- darin das Desiderat begründet, Diglossiesi-
poulos 1977). Krem nitz (1987) hebt den tuationen zu beseitigen. Dafür, daß die Ver-
Sprachkonflikt hervor, der virtuell jeder Di- wendung der Muttersprache der Schüler im
glossiesituation innewohne. Aus dieser Sicht engeren Sinne eine effizientere Erziehung er-
ist L nicht nur die Varietät, m it der bestim m te m öglicht, fehlen jedoch, wie Britto (1986, 234)
Funktionen m ündlicher Kom m unikation er- betont, und wie zum indest im Bezug auf tra-
füllt werden, sondern auch ein m it niedrigem ditionell m ehrsprachige Milieus festgestellt
sozialen Status assoziierter, stigm atisierter werden m uß, verallgem einerbare Beweise.
Kode, der dem prestigereichen H gegenüber- Nur die Einzelfallstudie kann zeigen, wie
steht. Dem entgegen ist jedoch auch betont praktikabel und aussichtsreich die Verwen-
worden, daß Diglossie ein sehr stabiles, von dung der Muttersprache (L) als Unterrichts-
60.  Schriftlichkeit und Diglossie 743

m edium und -gegenstand ist. Dessen unge- sich grundsätzlich anders als logographische
achtet kann der große Abstand, den Schüler System e auf die Varietätendifferenzierung
in einer Diglossiesituation zwischen ihrer aus, zeugt von einer Überschätzung der Laut-
Muttersprache L und der Schriftsprache H wandel arretierenden Möglichkeiten ersterer
überwinden m üssen, für die Im plem entierung und einer Unterschätzung der Bedeutung des
eines allgem einen, egalitären Erziehungssy- Lautbezugs letzterer. Außerdem wird den
stem s eine zusätzliche Schwierigkeit sein. Be- lautlichen Unterschieden zwischen L und H
seitigen läßt sich eine solche jedoch nicht un- dadurch gegenüber anderen Ebenen der
bedingt durch die schriftliche Verwendung Gram m atik bei der Bestim m ung eines Di-
von L, sondern allenfalls durch einen langfri- glossieverhältnisses zu viel Gewicht zugem es-
stigen Prozeß der Konvergenz von H und L sen.
und die dam it einhergehende Standardisie- Wényán ist von gesprochenen Varietäten
rung von L. des Chinesischen ebenso weit entfernt wie H
von L in irgendeiner der diglossischen Spra-
chen Indiens (Coulm as 1989 a, 198). Wie H-
4. Schriftsysteme und Diglossie Singhalesisch, H-Telugu oder H-Bengalisch
ist es eine Buch-Sprache, die den Vernekular-
4.1.  Bisher ist wenig darüber bekannt, welche varietäten übergeordnet ist und von diesen
Folgen die Verwendung verschiedener Schrift- verschiedene Funktionen erfüllt. Die jahrhun-
system e für die m it ihnen verschrifteten Spra- dertelange Verwendung von Wényán in Ost-
chen haben. Wichtige Fragen, die sich in die- asien kann deshalb als Innendiglossie in
sem Zusam m enhang stellen, sind, ob verschie- China selbst und als Außendiglossie in den
dene Schriftsystem e sich unterschiedlich auf benachbarten Sprachgem einschaften, insbe-
Sprachstandardisierung auswirken und ob sie sondere Vietnam s, Koreas und Japans be-
das Verhältnis zwischen geschriebener und schrieben werden (Coulmas 1989 b, 1991).
gesprochener Sprache auf unterschiedliche
Weise affizieren. Trotz Diringers (1968) oft 4.2.  Viele Sprachen werden oder wurden
wiederholter Charakterisierung des Alpha- gleichzeitig m it zwei Schriftsystem en darge-
bets als einer „dem okratischen Schrift“, die stellt, eine Praxis, die als „Digraphie“ (Dale
wegen ihres kleinen Zeicheninventars und der 1980) oder „digraphische Schriftlichkeit„
daraus unterstellterm aßen folgenden Einfach- (DeFrancis 1984) bezeichnet wird. Aus der
heit der Literalisierung der Gesellschaft för- Antike gut bekannt sind die sich zeitlich über-
derlich ist, sind das durchaus offene Fragen. schneidenden hieroglyphischen und keil-
Gleichwohl sind in diesem Zusam m enhang schriftlichen Konventionen der Hethiter. Vor
Hypothesen geäußert worden, die auch die dem Aufstieg Rom s wurden Lateinisch,
Entstehungsbedingungen von Diglossien be- Etruskisch und andere Sprachen der italieni-
treffen. De Silva (1976, 35 f) hat die Auffas- schen Halbinsel sowohl m it lateinischen als
sung vertreten, daß ein grundsätzlicher Un- auch m it den von einem westgriechischen Al-
terschied zwischen ideographischen bzw. lo- phabet abgeleiteten etruskischen Lettern ge-
gographischen und phonetischen Schriftsyste- schrieben. Aus dem Mittelalter sind viele spa-
m en bestehe. Das Verhältnis zwischen gespro- nische Texte in arabischer Schrift überliefert.
chenem und geschriebenem Chinesisch ent- Die parallele Verwendung zweier Schrift-
spreche deshalb nicht dem zwischen H und L system e oder Schriften ist m eist nicht m it
in einer Diglossiesituation des indischen Typs. Diglossie gleichzusetzen, da die Differenzie-
Das Hauptargum ent ist, daß sich die chine- rung gewöhnlich keine funktionsspezifische
sische Schrift wegen ihrer lockeren Abbil- ist, sondern religiösen oder politischen Grup-
dungsbeziehung zur Ebene der phonetischen pen als Sym bol ihrer Identität dient, wie im
Repräsentation nicht zur Fixierung einer Serbokroatischen (Lateinisch/katholisch vs
Hochlautung eigne und som it keinen klassi- Kyrillisch/orthodox), im Sindhischen (Ara-
schen Standard konservieren könne. bisch/islam isch vs Devanagari/hinduistisch)
Andere Gelehrte haben jedoch die Kulti- oder Nordkorea (Hangul) vs Südkorea (Han-
vierung der chinesischen Schriftsprache durch gul-Hanja) und Taiwan (traditionelle Zei-
die Gram m atiker explizit m it der der indi- chen) und China (vereinfachte Zeichen); →
schen verglichen (Krishnam urti 1979, 4). Ein Art. 61.
Beweis dafür, daß Eigenschaften der respek- Ähnlichkeiten m it Diglossie weist Digra-
tiven Schriftsystem e dabei eine wesentliche phie nur in den seltenen Fällen auf, wo die
Rolle spielen, steht aus. Die Annahm e, al- prim äre Differenzierung keine soziale, politi-
phabetische oder Silbenschriftsystem e wirken
744 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

sche oder religiöse ist, sondern sich nach in Dhaka, Bangladesh. In: Fishm an, vol. 2,
Funktionen richtet, wie etwa der ausschließ- 451—465.
liche Gebrauch von Katakana für den Tele- Diringer, David. 1968. The alphabet: A key to the
graphenverkehr, der der norm alen japani- history of mankind. Third edition. New York.
schen Mischschrift aus Kana und chinesi- Fasold, Ralph. 1984. The sociolinguistics of so-
schen Zeichen gegenübersteht. In diesen funk- ciety. Oxford.
tionsspezifischen Varietäten schriftliche L und Ferguson, Charles A. 1959. Diglossia. Word 15,
H zu sehen, liegt nahe, ist aber keine tragfä- 325—340.
hige Analogie, da der alleinige Gebrauch der
Fishm an, Joshua A. 1967. Bilingualism with and
Kana nur dem Medium geschuldet ist und
without diglossia; diglossia with and without bilin-
keine system atische Differenzierung des ja-
gualism. The Journal of Social Issues 23/2, 29—38.
panischen Schrifttums darstellt.
Letztlich ist Digraphie typischerweise eine —. (ed.). 1986. The Fergusonian im pact: In honor
zu Diglossie querliegende Erscheinung, da die of Charles A. Ferguson on the occasion of his 65th
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Dil, Afia. 1986. Diglossia in Bangla: a study of fenstein, Ingo et al. (ed.), Tendenzen, Form en und
shifts in the verbal repertoire of the educated classes
61.  Schriften im Kontakt 745

Strukturen der deutschen Standardsprache nach Tollefson, J. 1983. Language policy and the m ea-
1945. Marburg, 15—28. ning of diglossia. Word 34, 1—9.
Singh, U. H. 1986. Diglossia in Bangladesh and Wexler, Paul. 1971. Diglossia, language standardi-
language planning problem s. In: Fishm an, vol. 2, zation, and purism. Lingua 27, 330—354.
431—449. Wright, Roger. 1991. Latin and the Rom ance lang-
Sotiropoulos, D. 1977. Diglossie and the national uages in the early middle ages. London.
language question in m odern Greece. Linguistics
19/7, 5—37. Florian Coulmas, Tokio (Japan)

61. Schriften im Kontakt

0. Disziplinäre und terminologische Vorausset- aktionstheoretisch orientierten Studien bear-


zungen beitet (Überblick in Glück 1991). Sie werden
1. Zweisprachigkeit und Zweischriftigkeit vielfach als interkulturelle Vergleiche bezeich-
2. Sprachverschiedenheit und Schriftverschie- net. Solche Verwendungsaspekte sind auch
denheit für das Studium von Schriften in Kontakt
3. Sprachgemeinschaften und Schriftgemein- von einiger Bedeutung.
schaften Die geschriebene Sprachform spielt in den
4. Schriftkontakt und Diglossie genannten traditionellen Teildisziplinen eben-
5. Schriftkontakt und Religion so wie in den neueren Forschungsrichtungen
6. Schriftkontakt und Öffentlichkeit: das Pre- keine große Rolle als besonderer Arbeits-
stige von Schriftarten gegenstand. Andererseits hat insbesondere
7. „Fremdgrapheme„: Schriftkontakt im Schrift- die historisch-vergleichende Sprachforschung
system Schriftdenkm äler bearbeitet, und auch die
8. Perspektiven beiden anderen genannten Teildisziplinen ha-
9. Literatur ben sich eher auf gedrucktes Material als auf
Transkriptionen von Gesprochenem gestützt.
Hierin liegt ein m ethodisches Problem , das
0. Disziplinäre und terminologische nicht näher erörtert werden kann. Schriftkon-
Voraussetzungen taktphänom ene wurden im m erhin als Sonder-
Die wissenschaftliche Erforschung von lin- problem e wahrgenom m en, und zwar vor allem
guistischen Sachverhalten, die in m ehreren in der Forschung zur Schrifthistoriographie,
oder vielen Einzelsprachen vorliegen, und der in der schriftbezogenen Soziolinguistik, in der
daraus gewonnenen Generalisierungen erfolgt Forschung über Schriftpolitik und Schriftso-
im wesentlichen im Rahm en von vier Teildis- ziologie und in der Sprachkontaktforschung.
ziplinen: 1. der em pirisch fundierten Univer- Einige term inologische Vorklärungen er-
salienforschung m( ultilaterale Strukturana- scheinen notwendig. Der Ausdruck Schrifttyp
lysen), 2. der vergleichenden Sprachwissen- bezeichnet den Zusam m enhang eines Schrift-
schaft (Kom paratistik), 3. der Sprachtypolo- system s m it seiner wesentlichen, dom inieren-
gie (vorwiegend m ultilaterale Strukturanaly- den Bezugsebene im Sprachsystem der so
sen) und 4. der kontrastiven (konfrontativen) verschrifteten Sprache. Für alphabetische
Sprachwissenschaft (vorwiegend bilaterale Schriftsystem e ist dies vor allem das pho-
Ausdrucksanalysen, z. B. als „Fehlerlingui- nologische System , für syllabographische
stik“ oder als „Rekonstruktion von Lerner- Schriftsystem e ist es vor allem die Ebene der
varietäten“). (Sprech-)Silbe, für logographische Schriftsy-
Diese Forschung konzentriert sich auf die stem e ist es vor allem die Ebene der Mor-
Analyse sprachlicher Struktureigenschaften phem e. Der Ausdruck Schriftart bezieht sich
und auf Lexikonanalysen. Erst in jüngster auf die Gestalt- und Strukturunterschiede
Zeit werden auch pragm atische und kulturelle zwischen Schriftsystem en, die dem selben
Kom plem ente sprachlicher Differenzen als Schrifttyp angehören, z. B. die Unterschiede,
Forschungsgegenstand entdeckt und in sozio- die zwischen den verschiedenen Alphabet-
linguistisch, ethnom ethodologisch und inter- schriften (etwa der lateinischen und der geor-
61.  Schriften im Kontakt 745

Strukturen der deutschen Standardsprache nach Tollefson, J. 1983. Language policy and the m ea-
1945. Marburg, 15—28. ning of diglossia. Word 34, 1—9.
Singh, U. H. 1986. Diglossia in Bangladesh and Wexler, Paul. 1971. Diglossia, language standardi-
language planning problem s. In: Fishm an, vol. 2, zation, and purism. Lingua 27, 330—354.
431—449. Wright, Roger. 1991. Latin and the Rom ance lang-
Sotiropoulos, D. 1977. Diglossie and the national uages in the early middle ages. London.
language question in m odern Greece. Linguistics
19/7, 5—37. Florian Coulmas, Tokio (Japan)

61. Schriften im Kontakt

0. Disziplinäre und terminologische Vorausset- aktionstheoretisch orientierten Studien bear-


zungen beitet (Überblick in Glück 1991). Sie werden
1. Zweisprachigkeit und Zweischriftigkeit vielfach als interkulturelle Vergleiche bezeich-
2. Sprachverschiedenheit und Schriftverschie- net. Solche Verwendungsaspekte sind auch
denheit für das Studium von Schriften in Kontakt
3. Sprachgemeinschaften und Schriftgemein- von einiger Bedeutung.
schaften Die geschriebene Sprachform spielt in den
4. Schriftkontakt und Diglossie genannten traditionellen Teildisziplinen eben-
5. Schriftkontakt und Religion so wie in den neueren Forschungsrichtungen
6. Schriftkontakt und Öffentlichkeit: das Pre- keine große Rolle als besonderer Arbeits-
stige von Schriftarten gegenstand. Andererseits hat insbesondere
7. „Fremdgrapheme„: Schriftkontakt im Schrift- die historisch-vergleichende Sprachforschung
system Schriftdenkm äler bearbeitet, und auch die
8. Perspektiven beiden anderen genannten Teildisziplinen ha-
9. Literatur ben sich eher auf gedrucktes Material als auf
Transkriptionen von Gesprochenem gestützt.
Hierin liegt ein m ethodisches Problem , das
0. Disziplinäre und terminologische nicht näher erörtert werden kann. Schriftkon-
Voraussetzungen taktphänom ene wurden im m erhin als Sonder-
Die wissenschaftliche Erforschung von lin- problem e wahrgenom m en, und zwar vor allem
guistischen Sachverhalten, die in m ehreren in der Forschung zur Schrifthistoriographie,
oder vielen Einzelsprachen vorliegen, und der in der schriftbezogenen Soziolinguistik, in der
daraus gewonnenen Generalisierungen erfolgt Forschung über Schriftpolitik und Schriftso-
im wesentlichen im Rahm en von vier Teildis- ziologie und in der Sprachkontaktforschung.
ziplinen: 1. der em pirisch fundierten Univer- Einige term inologische Vorklärungen er-
salienforschung m( ultilaterale Strukturana- scheinen notwendig. Der Ausdruck Schrifttyp
lysen), 2. der vergleichenden Sprachwissen- bezeichnet den Zusam m enhang eines Schrift-
schaft (Kom paratistik), 3. der Sprachtypolo- system s m it seiner wesentlichen, dom inieren-
gie (vorwiegend m ultilaterale Strukturanaly- den Bezugsebene im Sprachsystem der so
sen) und 4. der kontrastiven (konfrontativen) verschrifteten Sprache. Für alphabetische
Sprachwissenschaft (vorwiegend bilaterale Schriftsystem e ist dies vor allem das pho-
Ausdrucksanalysen, z. B. als „Fehlerlingui- nologische System , für syllabographische
stik“ oder als „Rekonstruktion von Lerner- Schriftsystem e ist es vor allem die Ebene der
varietäten“). (Sprech-)Silbe, für logographische Schriftsy-
Diese Forschung konzentriert sich auf die stem e ist es vor allem die Ebene der Mor-
Analyse sprachlicher Struktureigenschaften phem e. Der Ausdruck Schriftart bezieht sich
und auf Lexikonanalysen. Erst in jüngster auf die Gestalt- und Strukturunterschiede
Zeit werden auch pragm atische und kulturelle zwischen Schriftsystem en, die dem selben
Kom plem ente sprachlicher Differenzen als Schrifttyp angehören, z. B. die Unterschiede,
Forschungsgegenstand entdeckt und in sozio- die zwischen den verschiedenen Alphabet-
linguistisch, ethnom ethodologisch und inter- schriften (etwa der lateinischen und der geor-
746 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gischen Schriftart) im Hinblick auf die Ge- Sprache ausm achen (d. h.: es reicht nicht fest-
stalten ihrer Schriftzeichen und im Hinblick zustellen, daß z. B. Deutsch und Polnisch la-
auf ihre strukturelle Differenziertheit beste- teinisch verschriftet sind). Es m uß deshalb
hen. Der Ausdruck Schriftsystem bezieht sich vergleichend untersucht werden, worin die je-
auf einzelsprachlich spezifische Verschriftun- weiligen Spezifika liegen (z. B. in der Reprä-
gen (die geschriebene Form von Einzelspra- sentation des Vokalism us, der Affrikaten, der
chen), denn Sprachen, die in ein und derselben Flexionsaffixe, der Wortkategorie usw.). In
Schriftart (z. B. der lateinischen) geschrieben der Forschung über sprachliche Universalien,
werden, können sich hinsichtlich des Schrift- Sprachtypologie und Sprachen im Kontakt
zeicheninventars, das sie verwenden, ihrer Re- m uß deshalb kategorial differenziert werden
präsentationsfähigkeit und -regularitäten und zwischen Sachverhalten, die Charakteristika
allgem ein hinsichtlich dessen, was als „Prin- der gesprochenen Sprachform sind, und sol-
zipien der Orthographie“ bezeichnet wird, er- chen, die charakteristisch für die geschriebene
heblich voneinander unterscheiden. Schrift- Sprachform sind. Erst die Vergleichung beider
sprache bezeichnet schließlich das Vorhanden- System e erm öglicht kom plette Sprachverglei-
sein einer Sprache in geschriebener Form che und vollständige typologische Aussagen.
(d. h. ihre Kodifikation und die Festlegung Im folgenden werden deshalb die Aus-
eines Schriftsystem s) und ihre praktische Ver- drücke Bilingualismus und Multilingualismus
wendung durch die jeweilige Sprachgem ein- als übergreifende Term ini dann verwendet,
schaft, die dam it zu einer Schriftgemeinschaft wenn der Fall bezeichnet werden soll, daß ein
wird. Schriftkontakt bezeichnet alle Fälle, in Individuum oder eine Gruppe zwei bzw. m eh-
denen zwei (oder m ehrere) Schriftsystem e rere Sprachen sowohl in ihrer gesprochenen
m iteinander in Kontakt sind, sei es interlin- als auch in ihrer geschrieben Form beherrscht
gual, sei es intralingual (vgl. 8. „Frem dgra- und verwendet. Für den Fall, daß sich diese
phem e“). Em pirische Realität hat Schriftkon- Fähigkeit auf die gesprochene Sprachform
takt (a) in Sprachprodukten, d. h. zwei- oder beschränkt, werden die Ausdrücke Zweispra-
m ehrschriftigen Texten oder Texträum en (4., chigkeit und Mehrsprachigkeit vorgesehen
5.) und (b) in individuellen Sprachfähigkeiten, (die ohnehin so verwendet werden). Die Aus-
d. h. Personen (-gruppen), die zwei- oder drücke Zweischriftigkeit (digraphia: Coulmas
m ehrschriftig sind. Der Term inus ‘Sprach- 1989 a, 237) und Mehrschriftigkeit bezeichnen
kontakt’ wird dam it differenziert: Schriftkon- den Fall, daß sich Zwei- oder Mehrsprachig-
takt bezieht sich auf die geschriebene Form keit auf die geschriebene Form von Sprachen
von Sprachen, Sprachkontakt wird hyperny- bezieht. Es lassen sich dann folgende Fälle
m isch verwendet, und Zwei- und Mehrspra- typisierend unterscheiden:
chigkeit soll den Fall bezeichnen, daß Sprach- 1. Analphabetische Zweisprachigkeit: Beherr-
kontakt sich auf gesprochene Sprache be- schung ausschließlich der gesprochenen
schränkt (vgl. die einschlägigen Artikel im Sprachform zweier Sprachen.
Metzler Sprachlexikon 1993). 2. Dominant oraler Bilingualismus: Beherr-
schung einer der beteiligten Sprachen in bei-
1. Zweisprachigkeit und den Sprachform en, der anderen Sprache nur
Zweischriftigkeit in ihrer gesprochenen Form.
3. Dominant zweischriftiger Bilingualismus:
Die Forschung über sprachliche Universalien, Beherrschung einer Sprache in beiden Sprach-
Sprachtypologie und Sprachen im Kontakt form en, der anderen Sprache nur in ihrer
hat bislang den Sachverhalt nur unzureichend geschriebenen Form ; dieser Typus wird gele-
berücksichtigt, daß Schriftsprachen in zwei gentlich auch als „Gelehrtenm ultilingualis-
Erscheinungsform en existieren, näm lich in m us“ bezeichnet bei Menschen, die viele Spra-
einer geschriebenen und einer gesprochenen chen lesen, aber nicht hörend verstehen oder
Sprachform . Die europäischen Sprachen sind sprechen können.
auf der Basis des lateinischen, kyrillischen, 4. Doppelseitiger Bilingualismus: Beherr-
griechischen oder hebräischen Alphabets ver- schung zweier Sprachen in beiden Sprachfor-
schriftet; in Asien ist die Vielfalt der Schrift- men.
arten erheblich größer. Darüber hinaus besitzt 5. Monolinguale Zweischriftigkeit liegt vor,
die geschriebene Sprachform jeder einzelnen wenn eine Sprache doppelt verschriftet ist,
europäischen Sprache spezifische Besonder- d. h. in zwei Schriftsystem en vorliegt und
heiten, die das Schriftsystem der betreffenden beide von m onolingualen Mitgliedern der
61.  Schriften im Kontakt 747

Sprachgem einschaft beherrscht werden, z. B.


im Falle von Südslaven, die sowohl das latei-
nisch als auch das kyrillisch basierte Serbo-
kroatisch lesen und schreiben können.
6. Alphabettechnische Zweischriftigkeit: Be-
herrschung einer Sprache in beiden Sprach-
form en, der anderen Sprache nur in techni-
scher Hinsicht bei Monolingualen, die die ge-
schriebene Form einer anderen Sprache buch-
stabieren und in Lautsequenzen überführen
können, ohne daß sie diese Sprache beherr-
schen würden. Diese Form der Zweischriftig-
keit entwickelt sich unter dem Einfluß der
audiovisuellen und elektronischen Medien
und der Werbung in einigen Industrieländern
und vielen „Schwellenländern“ zu einem ver-
breiteten Phänomen.
In den m aßgeblichen Studien zur Ent-
stehung und historischen Entwicklung von
Schriftsystem en (Mieses 1919; Loukotka
1946; Kulundžić 1951; Cohen 1958; Gelb
1958; Février 1959; Friedrich 1966; Istrin
1965; Diringer 1968; Jensen 1968; Coulm as
1989 a) werden auch Schriftkontaktphäno-
m ene dokum entiert. Dies ist regelm äßig der
Fall, wenn es um die Beschreibung sogenann-
ter Bilinguen geht, die für die „Entzifferung„
vordem nicht lesbarer Schriften bzw. nicht
rekonstruierbarer Sprachen oft von entschei-
dender Bedeutung waren. Das bekannteste
Beispiel ist der zweisprachige bzw. dreischrif-
tige (ägyptisch-hieroglyphisch, ägyptisch-de-
m otisch und griechisch) Stein von Rosette
(vgl. Andrews 1981). Ein m odernes Beispiel Abb. 61.1: Oben: Warnschild auf den israelisch be-
zeigt Abb. 61.1. Solche Bilinguen sollte m an setzten Golanhöhen. — Unten: Wegweiser auf dem
besser zweischriftige (bzw. mehrschriftige) Sinai (Ägypten)
Zeugnisse nennen, denn der Term inus ‘bilin-
gual’ ist auf die gesprochene Sprachform fest- Glück 1984; Baldauf 1991), die khalkha-m on-
gelegt. golische Alphabetreform von 1941 (von der
traditionellen m ongolischen auf die kyrilli-
2. Sprachverschiedenheit und sche Schriftart in der äußeren Mongolei, vgl.
Schriftverschiedenheit Bese 1983), die Um stellung des Vietnam esi-
schen (von einem dem Chinesischen entlehn-
Schriftkontakt wurde oft dann zum For- ten, „sinovietnam esischen“ logographischen
schungsgegenstand, wenn es den Wechsel von System (chũ nôm ) auf die lateinische Schrift-
Schriftarten, Schrifttypen oder Schriftsyste- art (quôc ngũ) im 19. Jahrhundert, vgl. de
m en (Orthographiereform en) zu beschreiben Francis 1977a; → Art. 27), im Indonesischen
galt. Beispiele sind der Alphabetwechsel in (von verschiedenen regionalen und ausländi-
der Türkei von 1926/28 (von der arabischen schen Schriftsyste
m en zur lateinischen
zur lateinischen Schriftart, vgl. Heyd 1954; Schriftart nach 1945, vgl. Alisjahbana 1976)
Bazin 1983; Abb. 61.2), die sowjetischen und Som alischen (vom indigenen System des
Sprach- und Alphabetreform en der 20er und Far Soom aali und der arabischen Schriftart
30er Jahre (von der arabischen, m ongoli- per Dekret (1972) zur lateinischen, vgl. An-
schen, ujghurischen, kyrillischen zur lateini- drzejewski 1983).
schen Schriftart (Abb. 61.3—5), zwischen In allen genannten Fällen handelt es sich
1936 und 1941 dann zur kyrillischen, vgl. um politisch gewollte und staatlich organi-
748 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.2: Das türkische Lateinalphabet von 1928 (aus Baldauf 1991, 441)

sierte Übergänge von einer Schriftart zu einer arten nebeneinander, und alle Personen, die
andern, die m ehr oder weniger um fassend von in der traditionellen Schriftart alphabetisiert
Fachleuten für Schrift- und Sprachplanung waren, m ußten Schriftzeicheninventar und
vorbereitet und im Rahm en von Alphabeti- Schriftsystem der Reform verschriftung ler-
sierungs- und Grundbildungskam pagnen um - nen, oder sie verloren tendenziell die Fähig-
gesetzt wurden. Für die betroffenen Sprach- keit zu lesen und zu schreiben. Da in allen
und Schriftgem einschaften bedeuteten sie ei- genannten Fällen die Massenalphabetisierung
nen kulturellen Einschnitt, denn für eine we- zuvor weitgehend analphabetischer Sprach-
nigstens zwei Generationen um fassende Über- gem einschaften der erklärte Zweck der Re-
gangszeit existierten faktisch zwei Schrift- form war, betraf diese Konsequenz nur relativ
749

Abb. 61.3: Das „Unifizierte neue türkische Alphabet“ des sowjetischen „Allunionkommittes für das neue
türkische Alphabet“ (VCK NTA) (aus Baldauf 1991, 546)
750 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.4: „Das ist der letzte und entscheidende Kampf„. Titel der tatarischen Zeitschrift cajan, Dez. 1928.
Das kyrillische (!) „e oborotnoe“ hat das arabische [wa:w] schon k. o. geschlagen, das [ra:] wird (links unten)
von Helfern in traditioneller Tracht verarztet, und das [ħa] ist dabei, den Kampf zu verlieren (aus Baldauf
1991, 195)

kleine Gruppen von Gebildeten, die som it sich allenfalls das traditionelle System zusätz-
m onolinguale Zweischriftigkeit entwickeln lich aneignen.
m ußten. Die junge Generation, die im Re- Ein heute 75 Jahre alter Azerbajdžaner
form system alphabetisiert wurde, erwarb ih- oder Tadžike kann im Laufe seines Lebens
rerseits dabei nicht die Fähigkeit, Texte in der vierm al Lesen und Schreiben gelernt haben:
traditionellen Schriftart zu lesen und konnte als Kind in arabischer Graphie, als Jugendli-
61.  Schriften im Kontakt 751

Abb. 61.5: Titel der baschkirischen Zeitschrift „janylyq“, September 1927. Die arabische Schrift wird in die
Wüste geschickt; aus der Packtasche des Kamels rieseln arabische Schriftzeichen auf den Weg (aus Baldauf
1991, 265)

cher dann in lateinischer, als Erwachsener in lischer Graphie. 1957 erfolgte eine Orthogra-
kyrillischer und als Greis wieder in lateini- phiereform für das Moldauische. Auf seine
scher bzw. arabischer Graphie. Ein gleichalt- alten Tage kann er, falls Transnistrien im Be-
riger Moldauer aus Transnistrien (dem Gebiet stand der Republik Moldau bleibt, seine (in
auf dem rechten Dnjeprufer) hat in der Schule Rum änien zwischenzeitlich reform ierte) latei-
im alten kyrillisch-rum änischen Alphabet nisch-rum änische Schulorthographie aus der
schreiben gelernt (sofern er eine Schule be- Jugendzeit wieder hervorkram en (vgl. Glück
sucht hat), m ußte zwischen 1924 und 1930 in 1987, 114).
lateinischer Graphie lesen und schreiben, 1930 Sogar der Wechsel zwischen bloßen Schrift-
bis 1933 wieder in kyrillischer (m an wollte in varianten (identische Schriftzeicheninventare,
der Sowjetunion auf Distanz zur „bürgerli- die sich lediglich in den Schriftzeichengestal-
chen“ rum änischen Lateingraphie gehen), ten voneinander unterscheiden) kann ver-
zwischen 1933 und 1937 im Zuge der als re- gleichbare Effekte haben; es handelt sich dann
volutionär propagierten Latinisierung der jedoch definitionsgem äß nicht um einen Fall
m eisten sowjetischen Graphien noch einm al von Schriftkontakt. Ein Beispiel dafür ist das
in lateinischer, von 1937—1990 erneut kyril- Deutsche, für das 1941 die Um stellung der
752 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Ausgangsschrift der Grundschulen (von der m annisch dem Standarddeutschen strukturell


Sütterlinschrift auf die lateinische Ausgangs- und lexikalisch nicht näher als das Niederlän-
schrift) und der Abschaffung der Fraktur als dische, und die „Dialekte“ des Chinesischen
Druckschrift dekretiert worden ist (vgl. Hop- oder des Arabischen sind nach dem Kriterium
ster 1985, Rück 1993). Heute haben in der strukturellen und lexikalischen Distanz
Deutschland fast alle Schüler und viele Stu- zweifellos eigenständige Sprachen (lediglich
denten Schwierigkeiten, Frakturdrucke und das Maltesische hat sich — aus außerlingui-
in „deutscher Schrift“ von Hand geschriebene stischen Gründen — vom Arabischen abspal-
Texte zu lesen, da diese Schriftvarianten in ten können; vgl. Aquilina 1970). Andererseits
den Schulen kaum noch gelehrt werden. Ein m üßte m an die skandinavischen Sprachen
inzwischen historisches Beispiel für graphi- oder die m ittelasiatischen Turksprachen nach
sche Markierung alloglotter Lexem e war der diesem Kriterium als Dialekte voneinander
Usus, in deutschen Frakturtexten Wörter und einstufen. Im Sinne des Thüm m elschen Pa-
Wortgruppen aus anderen Sprachen, auch radoxons läßt sich sagen, daß Verschriftetheit,
wenn sie gängige „Frem dwörter“ waren, in sofern sie Alphabetisiertheit nach sich zieht,
Antiqua zu drucken, z. B.  Dr.  eines der wesentlichen Merkm ale von „Spra-
|  couvert     billet; che“ ist.
     ca- „Wen ich verstehe, der redet m eine Spra-
binet     |  che; wen ich nicht verstehe, der redet eine m ir
complicirten . frem de Sprache“, schrieb von der Gabelentz
(1891/1901, 55). Gegenseitige Verständlich-
3. Sprachgemeinschaften und keit wird in der neueren Soziolinguistik viel-
Schriftgemeinschaften fach als zentrales, wenn auch kategorial un-
klares Kriterium für die Unterscheidung zwi-
Vielfach sind Sprachgem einschaften und schen Sprachen, Varietäten und Dialekten
Schriftgem einschaften nicht m iteinander iden- von Sprachen verwendet (vgl. Am m on 1987,
tisch, d. h. daß innerhalb einer Sprachgem ein- 318 ff). Auch die Kriterien der Verschriftetheit
schaft verschiedene Schrifttypen, Schriftarten einer Sprache und die Zugehörigkeit einer
oder Schriftsystem e verwendet werden kön- Sprachgem einschaft zu einer oder m ehreren
nen oder daß eine Schriftgem einschaft zwei Schriftgem einschaften spielen in diesen Dis-
oder m ehrere verschiedene Sprachgem ein- kussionen eine Rolle: „both script and ortho-
schaften übergreift. Letzteres ist stets der Fall, graphic diversity can dilute the linguistic sta-
wenn eine Schriftsprache exozentrisch ver- tus of a language and its varieties“ (Mackey
wendet wird, z. B. im Fall des Französischen 1989, 8). In einigen Fällen gilt, daß gegensei-
im Maghreb oder in Westafrika. Es gibt aber tige Verständlichkeit zwischen verschiedenen
auch weniger klare Fälle, nam entlich den, in Teilgruppen einer Sprachgem einschaft nur in
dem unklar ist, ob Sprachverschiedenheit so- der m ündlichen Sprachform vorliegt, dann
wohl die gesprochene als auch die geschrie- näm lich, wenn diese Teilgruppen unterschied-
bene Sprachform betrifft. Das ist z. B. beim lichen Schriftgem einschaften angehören, ihre
Chinesischen nicht der Fall, und im Falle der Sprache dem nach zweischriftig ist. Ein Bei-
Gegensätze zwischen dem Schweizerdeut- spiel sind das lateinisch verschriftete Malte-
schen und dem Standarddeutschen ist zwar sisch und die (schriftlosen) m aghrebinisch-
unstrittig, daß dieselbe geschriebene Sprach- arabischen Dialekte, deren Sprecher, soweit
form verwendet wird, aber sehr um stritten, sie alphabetisiert sind, sich der m odernen
ob die gesprochenen Sprachform en des Ale- („hoch-“) arabischen Schriftsprache oder des
m annischen in der Schweiz als Dialekte des Französischen bedienen. In Indien gibt es 14
Deutschen oder als eigenständige Sprache zweischriftige und drei dreischriftige Spra-
aufgefaßt werden sollen (vgl. Glück & Sauer chen; das Santali ist fünffach verschriftet
1992). In Fällen dieser Art ist das Thüm m el- (Mackey 1989, 8 f, Coulm as 1989 a, 199, 240).
sche Paradoxon zu beachten. Es besagt, daß Im entgegengesetzten Fall gilt, daß eine
m an Sprachen, um sie beschreiben zu können, Schriftsprache gegenseitige Verständlichkeit
voneinander unterscheiden können m uß, daß zwischen Gruppen herstellt, die sich m ündlich
m an aber andererseits, um sie voneinander nicht (oder nur m it Mühe) verständigen kön-
unterscheiden zu können, beschrieben haben nen. Das wichtigste Beispiel dafür ist wie-
m uß (Thüm m el 1977). Dabei spielen lingui- derum das Chinesische, das nur im Hinblick
stische Kriterien faktisch nur eine untergeord- auf seine Schrift als Sprache ganz Chinas
nete Rolle. So steht das schweizerische Ale-
753

verstanden werden kann und m it Recht als Türkei), kyrillisch (in der früheren Sowjet-
„graphisches Esperanto“ bezeichnet worden union) und arabisch (in Syrien, im Irak, im
ist (vgl. de Francis 1977 b, 1984; Glück 1987, Iran) wird das Kurdische gedruckt und ge-
106 f; Coulm as 1989 a, 91—110, 1989 b). Es schrieben. Lateinisch, kyrillisch und in einem
gibt also zwei- bzw. m ehrschriftige Sprach- autochthonen Syllabar, das auf die (bekann-
gem einschaften, und es gibt zwei- bzw. m ehr- tere) Missionarsverschriftung des Cree zu-
sprachige Schriftgemeinschaften. rückgeht, druckt und schreibt m an das Es-
Die Beispiele für m ehrfach verschriftete kim o in Grönland, Kanada, Ostsibirien und
m oderne Sprachen und dam it m onolinguale Alaska. Kyrillisch-arabische Zweischriftigkeit
Zweischriftigkeit ihrer Sprecher bzw. Schrei- charakterisierte bis 1991 z. B. das Azerbajd-
ber sind Legion. Lateinisch und kyrillisch ver- žanische (in der Republik Azerbajdžan und
schriftet ist das Serbokroatische; die dialek- im Iran); in Azerbajdžan wurde 1991 das La-
talen Differenzen haben m it der graphischen teinalphabet eingeführt. Das Tadžikische
Differenzierung nur wenig zu tun. Bis in die- wurde in der früheren UdSSR kyrillisch ge-
ses Jahrhundert hinein war es sogar drei- schrieben, im Iran bzw. in Afghanistan ara-
schriftig: noch vor dem ersten Weltkrieg wur- bisch; 1991 wurde in der Tadžikischen Re-
den in Bosnien Zeitungen in arabischer Gra- publik das arabische Alphabet eingeführt.
phie und serbokroatischer Sprache gedruckt Das Mongolische (Burjatisch, Kalm ykisch,
(Abb. 61.6). Khalkha-Mongolisch) wird in der Russischen
Das Rum änische wurde bis 1990 als Mol- Republik und der Mongolischen Republik ky-
dauisch auch kyrillisch geschrieben, das Fin- rillisch, in der Autonom en Region (Innere)
nische bis 1940 als Karelisch. Lateinisch (in Mongolei in China im traditionellen m ongo-
Westeuropa und — soweit erlaubt — in der lischen Schriftsystem geschrieben. Als Bei-

Abb. 61.6: Titelblatt der in Sarajevo (Bosnien) erschienen Zeitung jenji misbah („Neuer Rosenkranz“),
herausgegeben vom „Verein der bosnisch-herzegovinischen Umma“ (muslimische Gemeinschaft), vom 16.
Juli 1914 (in serbischer Zeitrechnung 3. Juni 1914, in muslimischer Zeitrechnung 22. [Monatsname unleserlich]
1332)
754 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

spiel für partielle lateinisch- chinesische Zwei- Die Rolle von H-Varietäten im Sinne Fer-
schriftigkeit kann schließlich die staatlich au- gusons spielten und spielen die sogenannten
torisierte „Lateinum schrift“ für das Chinesi- Weltsprachen auch und gerade im geschrie-
sche (pinyin) angeführt werden, die z. B. im benen Medium . In bezug auf das Lateinische
Fernm eldebereich und in der Kartographie schrieb der Historiker Arno Borst zusam m en-
verbindlich ist. fassend: „Man hat m it einigem Recht das
christliche Gem einschaftsgefühl des Mittelal-
4. Schriftkontakt und Diglossie ters eine Art Nationalism us genannt, m it [...]
einer Art von Nationalsprache, dem Latein.
Der Fall, daß Schriftgem einschaften zwei Dieses Latein selbst sollte die Sprache des
oder m ehrere Sprachgem einschaften um fas- Gottesvolkes sein, die Sprache einer räum lich
sen, ist im m er dann gegeben, wenn eine nicht gebundenen Ideengem einschaft; doch
Sprachgem einschaft eine allochthone Sprache sie war die „Muttersprache des Abendlandes„
als Schriftsprache benutzt, die als Medium [...], neben der sich die heranwachsenden
der m ündlichen Kom m unikation keine oder Volkssprachen langsam und m ühsam erho-
eine (funktional und sozial) stark einge- ben. Das m ittelalterliche Latein [...] war eine
schränkte Rolle spielt (z. B. als Wissenschafts- Fach- und Sondersprache, gelehrt und zere-
oder Liturgiesprache), und daß die Sprache m oniös, nur einem kleinen Kreis zugänglich,
der m ündlichen Kom m unikation nicht (oder keine allem Menschlichen offene, blutvolle
eingeschränkt auf ‘niedere’ Funktionen im Sprache eines gebildeten Publikum s; erst ganz
Sinne des Diglossie-Begriffs) als Schriftspra- allm ählich erwuchs ein solches Publikum , und
che verwendet wird (werden kann); (→ erst m it ihm wurden im Hum anism us die
Art. 60). Auch hier sind die historischen und Volksdialekte zu lebendigen Literaturspra-
m odernen Beispiele Legion; sie belegen den chen. Selbst sie, erst recht aber die außereu-
Fall des dom inant zweisprachigen Bilingua- ropäischen Idiom e wurden im m er wieder als
lismus. barbarisch, die Nachbarvölker und vollends
Latein und Griechisch waren in der antiken die Frem dvölker häufig als Teufelskinder und
Welt die beherrschenden Schriftsprachen; La- Monstren em pfunden; und noch die m ündig
tein blieb bis ins 18. Jahrhundert in ganz gewordenen Laien in ihren Sprachen und Na-
West-, Mittel- und Nordeuropa die vorher- tionen hegten die gleichen Vorurteile. Die bei-
schende Sprache in ‘hohen’ Funktionen. Das- einanderliegenden Widersprüche wurden sel-
selbe gilt für das Arabische in der islam ischen ten bewußt, daß m an die Juden verfolgte und
Welt vom Maghreb bis nach Indonesien und ihre Sprache als älteste und heiligste feierte
Westchina und das Pali im buddhistischen [...]“ (Borst 1959, Bd. II,2, S. 926). Das Eng-
Kulturraum , v. a. Nord- und Hinterindien. lische außerhalb der anglophonen Welt, das
Russisch war die „internationale Sprache“ in Französische im Maghreb und in Westafrika
der UdSSR; m it dem Auseinanderfallen der werden von den anderssprachigen Völkern,
Union büßt es diese Funktion ein. Gleichzei- von denen sie verwendet werden, nicht nur
tig verkleinert sich das Verbreitungsgebiet der (m ehr oder weniger britischen und am erika-
kyrillischen Schriftart (Moldau, Azerbajdž- nischen bzw. französischen Norm en entspre-
han, Tadžikistan; in den übrigen m ittelasia- chend) gesprochen, sondern — soweit sie al-
tischen Republiken und an der m ittleren phabetisiert sind — in großem Um fang auch
Wolga wird über Alphabetwechsel debattiert). gelesen und geschrieben. Alphabetisierung be-
Am harisch ist „internationale Sprache“ in deutet für die Sprecher der Mehrheit aller
Äthiopien; das am harische Alphabet wird für Sprachen der Erde den Erwerb einer alloch-
die Verschriftung anderer Sprachen verwen- thonen Verkehrssprache, denn die Mehrheit
det. Das Chinesische ist in Ostasien v. a. über der Sprachen der Erde ist nicht verschriftet,
seine Schrift seit jeher dom inierend als Quell- und ein erheblicher Teil der Sprachen, die
sprache für Entlehnungen, weshalb Coulm as verschriftet sind, sind keine funktionierenden
für das Japanische, dessen Lexik zu etwa 50% Schriftsprachen. In der Bilingualism usfor-
aus sinojapanischen Elem enten besteht und schung ist diese Erscheinungsform der Di-
dessen Schriftsystem auf Tausenden von glossie bisher kaum zur Kenntnis genom m en
Kanji (oft um interpretierten chinesischen worden. Es ist offensichtlich, daß in solchen
Schriftzeichen) und zwei Syllabaren beruht, Fällen vollentwickelter doppelseitiger Bilin-
von „a written Sprachbund“ spricht (1989, gualismus eine Ausnahme und nicht Regel ist.
133).
61.  Schriften im Kontakt 755

5. Schriftkontakt und Religion winden ist“, schreibt Weinrich (1985, 209) in


diesem Zusammenhang.
Ganz andere Problem e bearbeiten die Studien Ein schlagendes Beispiel dafür ist die ge-
zu Zusam m enhängen zwischen religiös-po- sam te Geschichte der Glagolica im Südab-
litischen Differenzierungen, Sprachen und schnitt der Grenze zwischen dem lateinischen
Schriftarten. In den drei Buchreligionen ist und dem kyrillischen Schriftraum (und — an
ein direkter Zusam m enhang zwischen der der Grenze zu Bosnien — bis in dieses Jahr-
Sprache der jeweiligen Offenbarung und der hundert auch zum arabischen Schriftraum ,
Schriftart, in der sie festgehalten wurde, eta- vgl. Abb. 61.6). Sie diente dem niedrigen rö-
bliert: die Kreuzsprachen der Christen (He- m isch-katholischen Klerus in Slovenien und
bräisch, Griechisch und Lateinisch), Sprache Kroatien jahrhundertelang als äußeres Mittel
und Schrift der Gesetzestafeln vom Sinai bzw. der Abgrenzung gegen die serbische Ortho-
die der Thora bei den Juden, Sprache und doxie einerseits, die allochthone ‘katholische’
Schrift des Korandiktats bei den Muslim en Lateinschrift der Italiener und Deutschen an-
(Moham m ed war Analphabet und brauchte dererseits. Einige Autoren, z. B. Trubeckoj
Schreiber, um den heiligen Text fixieren zu (1954), legen großen Wert auf die Feststel-
können). Bei den Christen sind die Kreuz- lung, daß die Glagolica zu denjenigen Alpha-
sprachen jedoch nur der gem einsam e histori- beten gehöre, die das Ergebnis einer freien,
sche Nenner; ansonsten gilt, daß so gut wie auf linguistischen Analysen beruhenden Er-
jede autokephale Kirche eine besondere findung seien und keine Weiterentwicklung
Schriftart entwickelt und tradiert hat: die eines bereits bestehenden Alphabets. Eine —
georgische und die arm enische, verschiedene historisch zweifellos gegebene — Schriftkon-
syrische Schriftarten, die Varianten der Kiril- taktsituation wird dam it allerdings nur für
lica bei den orthodoxen Kirchen der Slaven, die graphem atische Struktur dieses Schrift-
das Koptische bei der ägyptischen, Ge’ez bei system es bestritten; daß die Schriftzeichen-
den äthiopischen Christen usw. Noch das gestalten der Glagolica anderen Vorbildern
reichlich exotische Deseret-Alphabet der folgen, ist dam it nicht in Frage gestellt. Die
Morm onen im 19. Jahrhundert ist eine Bestä- m eisten Autoren nehm en an, daß die ältere
tigung der Faustregel, daß es pro Schism a eine Glagolica des westslavischen Bereichs im we-
Schriftschaffung gibt (Glück 1987, 261 f). Bei sentlichen dem Vorbild der zeitgenössischen
den zentralasiatischen Buddhisten sind Tibe- griechischen Minuskel folgt (z. B. Karskij
tisch und Mongolisch die heiligen Sprachen, 1928, 358 ff). Dazu treten Entlehnungen aus
in Hinterindien ist es das Pali. Jedoch wurde älteren vorderorientalischen Alphabeten und
in der Geschichte der Buchreligionen lingui- „freie“ Erfindungen. In der slavistischen
stische Ketzerei stets viel schärfer sanktio- Fachdiskussion ist im m er wieder versucht
niert, wenn sie die Schriftart betraf, als dann, worden, die Dialektbasis für diese Verschrif-
wenn es nur darum ging, ob m an die Glau- tung genau ausfindig zu m achen; es ist klar,
benswahrheiten auch in einer anderen als der daß sie im Süden des dam aligen Sprachgebiets
jeweiligen heiligen Sprache m ündlich verkün- liegt, aber ebenso klar ist, daß die einzelnen
den dürfe. slavischen Dialekte sich zu jener Zeit noch
Beispiele sind die Käm pfe gegen Latein- nicht stark voneinander unterschieden haben.
verschriftungen für „islam ische“ Sprachen Trubeckoj (1954) vertritt die Meinung, daß
(erfolglos z. B. in der Türkei, in der UdSSR, die Suche nach einem zugrundeliegenden Dia-
in Som alia, in Indonesien, in Bosnien, in Al- lekt m üßig sei. Die Glagolica spiegele eindeu-
banien; erfolgreich z. B. in Ägypten, in Ma- tig eine generalisierende phonologische Ana-
rokko, im Iran; vgl. Meynet 1968, Baldauf lyse wieder, die für den gesam ten dam aligen
1991), das Festhalten an der hebräischen Sprachraum brauchbar gewesen sei.
Schriftart für „jüdische“ Sprachen von Mit- Die Kirillica ist ist zwischen dem Ende des
telasien bis Spanien (vgl. Birnbaum 1971) 9. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des
oder der Gegensatz zwischen „katholischer„ 10. Jahrhunderts in Bulgarien entstanden.
Antiqua, „evangelischer“ Fraktur und „or- Von ihrem Bestand her sind die beiden Al-
thodoxer“ Kirillica auf dem Balkan, in Ost- phabete nicht völlig identisch. Die Schreiber
m itteleuropa, im Baltikum und in Finnland. beachteten jedoch in beiden System en im we-
„Eine besonders sinnfällige Frem dheitshürde sentlichen dieselben orthographischen Re-
ist [...] die frem de Schrift, obwohl gerade geln. Ein Erklärung für das spätere Auftau-
diese Hürde, sofern es sich um eine Buchsta- chen eines weiteren, in seinen Schriftzeichen-
benschrift handelt, besonders leicht zu über- gestalten so stark abweichenden System s liegt
756 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

darin, daß der bulgarische Hof das Bedürfnis tung blieben, z. B. in Falle des Haussa (Gre-
em pfand, über eine repräsentative Monum en- gersen 1977). Ein m odernes Beispiel ist die
talschrift zu verfügen, die m it der griechischen Arbeit des Sum m er Institute of Linguistics,
Unziale vergleichbar war. Hierfür war die das ausschließlich lateinisch basierte Ver-
runde Glagolica kaum geeignet. Folgt m an schriftungen vornim m t (vgl. Grim es 1984).
dieser Überlegung, so ergibt sich, daß die Die russisch-orthodoxe Mission verwandte
Kirillica keineswegs eine zweite Verschriftung die Kirillica zur Verschriftung vieler wolgafin-
des Slavischen darstellt, sondern eine auf nischer, türkischer und sibirischer Sprachen,
die graphische Seite beschränkte Einführung die m osaische Mission verbreitete die hebräi-
eines anderen Schriftzeicheninventars, bei der sche Quadratschrift (z. B. Tatisch, Buchara-
m an sich bei den Schriftzeichen-Phonem -Zu- Jüdisch, Karaim isch, verm utlich Chazarisch,
ordnungen an das glagolitische Vorbild hielt. vgl. Birnbaum 1971), und wenn im islam i-
Die führte dazu, daß das Altkirchenslavische schen Bereich Vernakularsprachen verschrif-
zweischriftig wurde. tet wurden, dann in arabischer Schriftart (ira-
Modern gesagt: die phonologische Ana- nische und kaukasische Sprachen, neuindi-
lyse, die der Glagolica zugrundeliegt, wurde sche Sprachen, Turksprachen, Bantuspra-
für die Kirillica fast unverändert übernom - chen, Niger-Kordofanische Sprachen, au-
m en. Das bereits existierende System wurde stroasiatische und austronesische Sprachen,
nach dem Vorbild der griechischen Unziale vgl. Majidi 1984, 1985). In Mittelasien ge-
neu belegt, und die diesem Vorbild „fehlenden schah dies vor allem auf Kosten der „bud-
Zeichen für speziell slavische Laute [wurden] dhistischen“ m ongolischen und tibetischen
durch etwas vereinfachte und stilisierte For- Schriftarten (Henze 1977), in Indien, Hinter-
m en der entsprechenden glagolitischen Buch- indien und Indonesien auf Kosten der dort
staben“ ersetzt (Trubeckoj 1954, 14, vgl. auch zuvor gebräuchlichen Schriftarten, die von
ebd. 38 ff; Karskij 1928, 258 ff). In den älte- gleichsprachigen Nichtm uslim en weiterhin
sten Quellen sind Mischungen beider System e verwendet wurden, soweit nicht koloniale La-
belegt (z. B. im Psalterium Sinaiticum und teinverschriftungen sie ersetzten.
in Codex Assem anianus, wo im kyrillischen Zu erwähnen sind hier auch sekundäre Ver-
Text glagolitische Schriftzeichen vorkom - schriftungen etablierter Schriftsprachen, die
m en). Dies kann als Argum ent für die Regra- auf religiösen oder politischen Motiven be-
phem atisierungsthese Trubeckojs genom m en ruhen wie im Falle der glagolitisch-kyrilli-
werden. Auch in späteren Zeugnissen finden schen Doppelverschriftung des Altbulgari-
sich in kyrillischen Texten glagolitisch ge- schen. Andere Beispiele sind die Neuver-
schriebene Wörter, Phrasen und ganze Satz- schriftung des Deutschen und des Spanischen
teile (vgl. Karskij 1928, 211—213). Für die im Hochm ittelalter in hebräischer Schriftart
älteste Periode nim m t Karskij an, daß die und die daran gebundene Herausbildung des
Schreiber in der Regel beide System e be- Jiddischen und des Ladino als eigenständiger
herrschten, denn auch nach dem Verschwin- Sprachen (Birnbaum 1971), englischsprachige
den der Glagolica im größten Teil des slavi- Zeitungen in arabischer Schriftart (für indi-
schen Sprach- bzw. Schriftgebiets finden sich sche „Kulis“ in Süd- und Ostafrika um die
im m er noch häufig kyrillisch geschriebene Jahrhundertwende) und türkischsprachige
Randbem erkungen auf glagolitischen Doku- Zeitungen in griechischer und arm enischer
m enten, was zeigt, daß die Glossisten solche Schriftart für turkisierte, aber nicht konver-
Dokum ente lesen konnten (ebd. 363). Die tierte Griechen und Arm enier in der Westtür-
Glagolica ist eines der bedeutendsten histo- kei um die Jahrhundertwende (Glück 1987,
rischen Beispiele dafür, wie Schriftartdifferen- 116 f), die Um stellung arabisch verschrifteter
zen zur religiös-nationalen Abgrenzung und Sprachen auf das Lateinalphabet (das „Al-
Selbstdefinition eingesetzt werden können. phabet der Weltrevolution“), wie sie in den
Die röm isch-katholische und die protestan- 20er und 30er Jahren bei einer Reihe von
tischen Kirchen haben ihre sogenannten Mis- Sprachen sowjetischer Völker vorgenom m en
sionsverschriftungen fast im m er im Lateinal- worden ist. Bei den Konnationalen jenseits
phabet vorgenom m en. Eine Reihe subsaha- der Staatsgrenzen im Iran, in Afghanistan
rischer Sprachen, die zuvor arabisch ver- und im vorrevolutionären China galt die La-
schriftet waren, wurden durch Missionsver- teinschrift als „kom m unistische Schrift“, alles
schriftungen rom anisiert; dies hat oftm als zu so Gedruckte als kom m unistische Propa-
Zweischriftigkeit geführt, weil die gleichspra- ganda (und jeder, der es lesen konnte, als
chigen Muslim e bei der arabischen Verschrif- höchst verdächtig). Dieser Vorgang wieder-
61.  Schriften im Kontakt 757

holte sich nach der Um stellung der sowjeti-


schen Lateinverschriftungen auf die Kirillica
1936—1941 (vgl. Baldauf 1991).

6. Schriftkontakt und Öffentlichkeit:


das Prestige von Schriftarten
Viele bilinguale oder bilingual-diglossische
Sprachgem einschaften sind als solche nicht
nur dadurch charakterisiert, daß verschiedene
Sprachen gesprochen werden, sondern auch
dadurch, daß diese Sprachen in unterschied-
lichen Schriftarten verschriftet sind. Für den
Sachverhalt, daß eine zweisprachige Bevöl-
kerung zwei verschiedene Schriftarten be-
herrscht, wurde der Ausdruck Zweischriftig- Abb. 61.7: Hinweisschild auf eine Baustelle an der
keit eingeführt. Ein relativ kom plexes Beispiel Straße zwischen Alexandria und Marsah Matruh
bietet Marokko, wo vier Einzelsprachen in (Ägypten)
der m ündlichen Kom m unikation koexistie-
ren, näm lich 1. das m aghrebinische Arabisch
(„arabe dialectal“) m it sozio- und dialektaler
Gliederung (vgl. Diem 1974; Fischer & Ja-
strow 1980, 249—265), 2. das „Hocharabi-
sche“ als gesprochene Sprachform (z. B. in
Koranrezitationen, im Fernsehen und in vie-
len Film en ägyptisch gefärbt, in den Radio-
nachrichten und anderen öffentlichen Do-
m änen) und „Zeitungsarabisch“ als geschrie-
bene Sprachform 3. das Berberische m it so-
zio- und dialektaler Gliederung (die verschie-
denen Ansätze zur Verschriftung des Berbe-
rischen spielen sozial keine Rolle), 4. das
Französische. Nur das „Hocharabische“ und
und das Französische werden geschrieben.
Abb. 61.8: Hinweisschild im botanischen Garten in
Die Zweischriftigkeit ist allgegenwärtig im
Suxumi (Abchasien)
Straßenbild, an und in öffentlichen Gebäu-
den, an Zeitungsständen, auf Verpackungs-
aufdrucken usw. Weitere Beispiele sind die
kyrillisch-lateinische Zweischriftigkeit im Bal- Marlboro, Toyota, Siemens, Volvo) m it Laut-
tikum und die Dreischriftigkeit im abchasi- werten zu versehen und sie aussprechen zu
schen Landesteil der Georgischen Republik, können. In den arabischen Ländern sind viele
wo das Kyrillische (für das Russische), die Reklam einschriften zweischriftig, d. h. daß
georgische Sprache und Schriftart und ein Lernhilfen allgegenwärtig sind (z. B.
kyrillisch-lateinisches Mischalphabet fürs Ab-
chasische verbreitet sind. 〈grub〉 ‘Krupp’, 〈bibsi kula〉
Alphabete sind vielfach sozialpsychologi-
sche Objekte m it verschiedenem Prestige. In ’Pepsi Cola’, 〈rinu〉 ‘Renault’). Diese
den nichtlateinischen Schrifträum en z. B. Schrifträum e sind zunehm end überlagert von
(Ost-) Europas und des Mittelm eerraum es be- lateinischen Schriftvorkom m en, und ihre Be-
sitzt das lateinische Alphabet hohes Prestige, völkerung ist alphabettechnisch gesehen weit-
und die nichtlateinisch alphabetisierte Bevöl- gehend (soweit sie überhaupt alphabetisiert
kerung dieser Schrifträum e besitzt in der Re- ist) zweischriftig. Diese Form der Zweischrif-
gel hinreichende Kenntnisse, um lateinische tigkeit ist zu unterscheiden von Alphabeti-
Texte i. S. der oben erläuterten alphabettech- siertheit im betreffenden Schriftsystem . Sie
nischen Zwei- bzw. Mehrschriftigkeit zu „ver- bezieht sich ausschließlich auf die technische
stehen“, d. h. etwa Produktnam en (z. B. Seite der Laut-Schriftzeichen-Zuordnung und
im pliziert keine Beherrschung der frem den
Sprache. Bei der Erörterung der soziologi-
schen und politischen Ursachen für diese Ent-
758 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.10: Österreichischer Bierdeckel

Die kontrastive (konfrontative) Sprachwis-


senschaft hat die geschriebene Form von
Sprachen bisher weder theoretisch ernstge-
nom m en noch im Bereich der Em pirie er-
forscht (abgesehen von einigen Arbeiten zur
„Fehleranalyse“, die sich auf geschriebene
Texte stützen, und Arbeiten zum „Schreiben
in der Frem dsprache“, z. B. Lieber & Posset
1988). Es scheint ihr entgangen zu sein, daß
sich die faktischen Verhältnisse einschneidend
verändert haben. Die öffentliche Verwendung
und Präsentation verschiedener Schriftarten
in ehedem geschlossenen Schrifträum en hat
im Laufe der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
dram atisch zugenom m en. Hinweisschildern
an Straßen und Gebäuden (Abb. 61.7,8), auf
Flughäfen und Bahnhöfen, in Flugzeugen
und anderen Verkehrsm itteln (Abb. 61.9),
Schriftvorkom m en in der Werbung (Abb.
61.10) und im Fernsehen, Beschriftungen von
Produktverpackungen, Gebrauchsanweisun-
gen, am tliche Dokum ente, z. B. Banknoten,
Brief
m arken, internationale Führerscheine
usw. sind vielfach vielsprachig und vielschrif-
tig. (Abb. 61.11—13). In vielsprachigen und
vielschriftigen Ländern ist die Verwendung
Abb. 61.9: Fluggastinformation der Lufthansa einzelner Schriftsprachen in am tlichen wie
privaten (wirtschaftlichen) Funktionen viel-
fach durch explizite sprachenrechtliche Be-
wicklungen ist die alphabet- und sprachpoli- stim m ungen geregelt, d. h. daß Gebote und
tische Geschichte einiger Sprachen in diesem Verbote gelten. Die bisher um fassendste Stu-
Raum im 20. Jahrhundert zu berücksichtigen. die zu solchen Fragen trägt den aussagekräf-
Ähnliche Verhältnisse bestehen in Indien und tigen Titel „La guerre des langues dans l’af-
in den nichtlateinischen Schrifträum en Ost- fichage“ (Leclerc 1989).
und Südostasiens.
61.  Schriften im Kontakt 759

Abb. 61.11: Chines. Banknote. Recto chinesische und lateinische (pinyin) Wertangabe, verso Name der
Notenbank in mongolischer, tibetischer, arabischer und lateinischer Schriftart

Um 1985 waren in Europa und Nordam e- system en sozialpsychologische Bewertungs-


rika pseudokyrillisch beschriftete Kleidungs- routinen nach H (high) und L (low), also H-
stücke en vogue, bei denen nicht einm al die und L-Schriften. Die lateinische Schriftart ist
Gestalt der Schriftzeichen korrekt war. Be- offenbar weltweit eine H-Schriftart, während
sonders bei Produktbezeichnungen und in der andere Schriftarten und -system e im lateini-
Reklam e findet sich gegenwärtig eine Vielzahl schen Schriftraum Europas sehr unterschied-
von graphischen Cam ouflagen, die auf den lich und situationsspezifisch eingeteilt wer-
Aufm erksam keitwert des Frem den spekulie- den. So werden chinesische Schriftzeichen auf
ren (z. B møbel, knæckebrød, toys„я„us). Fran- der Speisekarte eines Restaurants in Europa
zösische Schreibungen dom inieren internatio- sicher anders wahrgenom m en (als kalligra-
nal z. B. bei Produktnam en im Kosm etik- und phischer Schm uck) als in einem Com puter-
Modebereich, englische Schreibungen z. B. in handbuch (dort wird m an sie für eine tech-
Bereichen wie elektronischen Produkten, U- nische Erläuterung in japanischer Sprache
Musik und Tourism us, während im gastro- halten). Eine Reihe westafrikanischer Spra-
nom ischen Bereich in Deutschland eine ganze chen wurde auf ausdrücklichen Wunsch (der
Reihe von Sprachen Quelle von Frem dschrei- Elite) ihrer Sprecher bei ihrer Verschriftung
bungen geworden ist. In diesem Kontext ist nicht nur auf die lateinische Schriftart fest-
auch das Problem des Prestiges einzelner gelegt, sondern auch (m öglichst weitgehend)
Schriftarten zu erörtern, das keineswegs an das Schriftsystem der jeweiligen Kolonial-
gleichzusetzen ist m it dem Prestige einzelner sprache angenähert, was nur sozialpsycholo-
Schriftsystem e. Es gibt offenbar (i. S. des Di- gische Gründe haben kann, näm lich den
glossiebegriffs Fergusons) auch bei Schrift- Wunsch nach Partizipation am Prestige des
760 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abb. 61.12: Ägyptische Banknote. Verso arabische, recto englische und (pseudo-)hieroglyphische Beschrif-
tung

Vorbilds. Für einige afrikanische Sprachen 7. „Fremdgrapheme„:


gibt es deshalb verschiedene Lateinverschrif- Schriftkontakt im Schriftsystem
tungen, die an den Schriftsystem en der (ehe-
m aligen) Kolonialsprachen orientiert sind, Der Fall des intralingualen Schriftkontakts
z. B. für das Haussa (in Nigeria am Engli- wird oft m it dem Stichwort „Frem dgraphem „
schen, in Niger am Französischen orientiert). bezeichnet. Gem eint sind Schriftzeichenent-
Der bedeutende Afrikanist Carl Meinhof hielt lehnungen aus einer anderen Schriftart und
dies für ein wünschenswertes Prinzip und einige Typen von Frem dwortschreibungen,
schlug z. B. vor, [ʃ] in den englischen Kolonien bei denen Schriftzeichenverbindungen auftre-
als 〈sh〉, in den französischen als 〈ch〉 und ten, die nach den graphotaktischen Regula-
in den portugiesischen als 〈x〉 zu schreiben ritäten des entlehnenden Schriftsystem s un-
(Gregersen 1977, 424). zulässig sind und die deshalb als frem d wahr-
61.  Schriften im Kontakt 761

Abb. 61.13: Äthiopische Banknote. Verso amharische, recto englische und amharische Beschriftung

genom m en werden. Vielfach werden bei der des Dem otischen erhalten. Im lateinischen
Verschriftung einer Sprache, bei einem Al- Schriftraum sind die Integration runischer
phabetwechsel oder einer Alphabetreform Schriftzeichen zur Bezeichnung zweier inter-
als notwendig betrachtete Ergänzungen des dentaler Frikative ins Schriftsystem des Islän-
Basisalphabets vorgenom m en, wodurch ge- dischen zu nennen. Viele kyrillische Verschrif-
m ischte System e entstehen können. Ein Bei- tungen von Sprachen in der früheren Sowjet-
spiel sind die glagolitische und die kyrillische union weisen Frem dgraphem e aus dem La-
Schriftart, die aufgrund offensichtlicher pho- teinalphabet auf, z. B. 〈h〉 zur Bezeichnung
nologisch begründeter Bezeichnungsnotwen- des behauchten Vokaleinsatzes im Azerbajd-
digkeiten von Anfang an eine Reihe zusätz- žanischen, Baškirischen, Uighurischen und
licher Schriftzeichen aus vorderasiatischen Kazachischen (Tabellen in Musaev 1965).
Alphabeten inkorporierten (z. B. hebr. ‫ ש‬als Unkom pliziertere bilaterale Fälle von exo-
kyrill. ш /ʃ/). Das Koptische stellt eine Neu- glossischen Schreibungen sind z. B. graphi-
verschriftung des (Alt-) Ägyptischen auf grie- sche Gallizism en im Englischen (to play a rôle,
chischer Basis dar (seit dem 2. Jh. n. Chr.). élite) oder im Deutschen (Claqueur, Fauxpas,
Aufgrund phonologischer Bezeichnungsnot- Portemonnaie, vis-à-vis, prêt-à-porter). Es
wendigkeiten blieben sieben Schriftzeichen handelt sich hierbei darum , daß Lexem e oder
762 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Lexem verbindungen in der Graphie der aus. Es ist m ir nicht bekannt, daß in den
Quellsprache in die entlehnende Sprache graphem atischen Diskussionen zum Engli-
übernom m en werden; inwieweit die phoneti- schen, Französischen oder Russischen ähnli-
sche Realisierung solcher Entlehnungen da- che Standpunkte vertreten würden.
von berührt wird, steht hier nicht zur Debatte. Für das Deutsche hat Heller (1981) für den
In vielen Sprachen sind diese Fälle in der im „Wörterbuch der deutschen Gegenwarts-
Weise geregelt, daß die quellsprachliche sprache“ dokum entierten Wortschatz fast 200
Schreibung nach den Regularitäten der ent- „Frem dgraphem e“ erm ittelt; diese Zahl er-
lehnenden Sprache regraphem atisiert wird, höhte sich bei der Auswertung eines Frem d-
d. h. entlehnt wird eine (assim ilierte) Laut- wörterbuchs auf etwa 300. Besonders häufige
form , der dann eine passende geschriebene Fälle sind z. B. die th-, rh- und ph-Schreibung,
Form zugewiesen wird. So wird z. B. in den die ausschließlich in Lexem en griechischen
slavischen Sprachen, im Schwedischen (z. B. Ursprungs vorkom m t (z. B. Phosphor, Rheu-
resebyrå ‘Reisebüro’, miljø ‘Milieu’), Arabi- ma, Theke), die eu-Schreibung in Gallizis-
schen (z. B. [si:nem a:] ‘Kino’, m en (z. B. Amateur, Chauffeur, Milieu; die
[bru:va, pro:va] ‘((Theater-)Probe)’, Türki- Duden-Regelungen, wann das konkurrie-
schen (z. B. otobiz ‘Autobus’, tiyatro ‘Thea- rende 〈ö〉 zu schreiben ist, sind weitgehend
ter’) verfahren. Beispiele sind für das Russi- willkürlich), 〈ou〉, 〈ai〉, 〈au〉, 〈eau〉 in Gal-
sche etwa folgende Fälle: dt., frz. [y] (dt. 〈ü〉, lizism en (Tour, Roulade; Portemonnaie, Pa-
frz. 〈u〉) wird zu russ. /ju/ ю, z. B. resumé — lais; Niveau, Plateau) und schließlich die un-
ресюмé, sujet — сюҗeт, Tüll — тюль, Dünen übersichtlichen und für Menschen ohne
— дюны; dt., engl. [u] 〈u〉 nach Konsonan- Kenntnisse der Quellsprache undurchsichti-
ten, die als [+ pal] interpretiert werden, zu gen Regelungen der c-Schreibungen (z. B.
/K′_u/ ю, z. B. Lumpenproletariat — люм- clever, Computer; City, Service; Cello, ciao
пен-пролетариат, Luxemburg — Люксем (neben ‘tschau’ im Rechtschreibduden 1991).
Die sog. „rechtschreiblichen Eindeutschun-
бург, New York — Ныю Йорк; dt., engl. gen“ (z. B. Streik, Keks, Frisör) sind von ver-
(griech.-lat.) [h] 〈h〉 wird zu russ. /g/ г und gleichsweise geringer Zahl. Besondere Schwie-
/x/ x, z. B. Halstuch — галстук, Heinrich rigkeiten treten im m er dann auf, wenn solche
Heine — Гейнрик Гейне, Goethe — Гёте, Frem dschreibungen m ündlich realisiert wer-
Hegel — Гегель, Hooligan — хулиган; engl. den m üssen, etwa von Nachrichtensprechern
/dʒ/ /tʃ/ 〈g〉, 〈ch〉 vor Vokal zu russ. /dʒ/ im Radio oder im Fernsehen, wenn sie Eigen-
дж, /tʃ/ ч, z. B. Georgia — Джордҗия, Chel- nam en aus Sprachen vorlesen m üssen, die sie
sea — Чельси. Man hat im Schriftsystem nicht beherrschen (z. B. Ortsnam en wie Szcze-
dieser Sprachen das Prinzip der Verm eidung cin, Zabrze, Krk oder Personennam en wie
von Frem dgraphem en und Frem dschreibun- Wałęsa, Hlavácěk, Hrdlička).
gen gewählt. Im Deutschen, Englischen und Sehr viel kom plizierter werden die Verhält-
Französischen herrscht das entgegengesetzte nisse, wenn solche Schriftkontakte und gra-
Prinzip der Erhaltung der quellsprachlichen phischen Lehnbeziehungen zwischen verschie-
Schreibung bei Entlehnungen aus lateinisch denen Sprachen diachronisch betrachtet wer-
basierten Graphien vor. den. Dies soll am folgenden Beispiel illustriert
Die m eisten Autoren, die sich in neuerer werden.
Zeit m it der Analyse des graphem atischen mI griechisch-lateinischen Schriftrau
m
und phonotaktischen System s des Deutschen scheint es sich so zu verhalten, daß ein einm al
befaßt haben, sind den darin liegenden Pro- etabliertes Schriftzeichen in solchen Fällen, in
blem en durch Nichtbeachtung aus dem Wege denen es bei Neuverschriftungen nach pho-
gegangen und haben sich auf den unhaltbaren nologischen Gesichtspunkten überflüssig ist,
Standpunkt gestellt, daß m an die sog. Frem d- gewisserm aßen als Verfügungsm asse beibe-
wörter aus dieser Analyse ausklam m ern halten und bei Bedarf regraphem atisiert wird.
könne. Er ist aus zwei Gründen unhaltbar: Ein Beispiel für zyklische Regraphem atisie-
erstens sind „Frem dwort“ oder „frem des rung ist das lateinische Schriftzeichen 〈q〉. Es
Wort“ keine extensionalen Kategorien, auf geht zurück auf das griechische Koppa
deren Basis eine nachprüfbare Klassifizierung (Qoppa) 〈〉, das seinerseits aus dem phöni-
des deutschen Wortschatzes in einheim ische zischen Qof 〈ϕ〉 /q/ abgeleitet ist. In den
und frem de Wörter m öglich wäre, und zwei- ältesten griechischen Inschriften wird es zur
tens widerspricht er aller Em pirie, denn er Repräsentation von /k/ vor den hinteren run-
schließt einen erheblichen Teil des deutschen
Kernwortschatzes einfach aus der Analyse den Vokalen verwendet, z. B. attisch εὐδιός
61.  Schriften im Kontakt 763

‘gerecht’ (Allen 1968, 15), καόν ‘schlecht’ die Tatsache, daß /k°/ und /g°/ keine posi-
(Sturtevant 1939, 221). Nach der Einführung tionslangen Silben ergeben, was für alle an-
des attischen Alphabets (403/402 v. u. Z.) deren Kom binationen eines Konsonanten m it
wurde 〈〉 nicht m ehr in Graphem funktion /v/ regelm äßig gilt, z. B. advērsus ‘gegen’, sīlva
verwendet, behielt aber als Zahlzeichen (für ‘Wald’. Gestärkt wird dieses Argum ent durch
90) seinen Platz in der Alphabetreihe zwi- Belege aus Schriften antiker Gram m atiker,
schen П (für 80) und P (für 100). „It survived nach denen 〈v〉 in 〈qv〉 und 〈gv〉 „nec vo-
in the West Greek alphabet, and thence as the calis, nec consonans“ (‘weder vokalisch noch
Q of Latin (cf. Quintilian i.4.9.)“ (Allen 1968: konsonantisch’) sei (vgl. Bonioli 1962, 83).
15). Die Fachdiskussion hat in der Frage der Ent-
Im Lateinischen wurde das Koppa regra- stehung des 〈G〉 ein Zentrum . Die Anhänger
phem atisiert als 〈Q〉 /k°/ m it der späteren der These von der „etruskischen Entlehnung„
Minuskelform 〈q〉. Hirt (1927/I, 227 ff) geht sehen im lateinischen 〈G〉 ein wesentliches
davon aus, daß im Indogerm anischen eine Argum ent für die m onophonem atische Wer-
labialisierte Reihe bei den velaren Okklusiven tung von /q/. Die Inschrift des lapis niger, die
(Labiovelare, „Gutturale m it u-Nachschlag“) älteste Inschrift in lateinischer Sprache, folgt
anzusetzen sei, die weiterhin vielfach nach der näm lich nach etruskischem Vorbild der Kon-
Palatalitätskorrelation differenziert sei. Er zi- vention, 〈k〉 vor 〈a〉, 〈o〉 und am Wortende,
tiert eine Vielzahl von Belegen. Lediglich im 〈c〉 vor 〈e〉 und 〈i〉 und 〈q〉 vor 〈u〉 zu
Lateinischen und in germ anischen Sprachen schreiben (vgl. Jensen 1968, 514 f). Die These
ist sie teilweise erhalten geblieben. Allen von der „etruskischen Entlehnung“ wird in-
(1968, 30) setzt auch für das Protogriechische zwischen der These von der „Parallelent-
Labiovelare an und gibt Beispiele für ent- lehnung“ aus dem etruskischen und westgrie-
sprechende Schreibungen aus m ykenischen chischen Alphabeten vorgezogen. — Im La-
Inschriften. Radke (1967, 411 f) zitiert alter- teinischen scheint die labiale Koartikulation
tüm liche lateinische Beispiele für solche im 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. geschwunden
Schreibungen, z. B. pequnia ‘Geld’, qottidie zu sein, wenn auch nicht im gesam ten Sprach-
‘täglich’. Im Gotischen existierten für die gebiet. Sie hat sich im Italienischen, Spani-
Phonem e /q/ und /h°/ (aus idg. /k°/) beson- schen und Portugiesischen in der Position vor
dere Graphem e: 〈⋃〉 und 〈⊙〉. Im Altnor- /a/ erhalten, z. B. ital. quando [k°ando]
dischen, Altenglischen und Dänischen ist die- ‘wann’, uguale [ug°ale] ’gleich’, span. cual
ser Sachverhalt noch in den Schreibungen [k°al] ‘welch’, lengua [leng°a] ‘Sprache’ usw.).
〈hv〉 bzw. 〈hw〉 angedeutet. Die Frage der Im Französischen sind die Verhältnisse kom -
m onophone m atischen Interpretation von plizierter. Die Restitution der labialen Koar-
/k°/, regelm äßig durch 〈qu〉 repräsentiert tikulation geht auf sprachpflegerische Bem ü-
(entsprechend für 〈gu〉 /g°/, etwa in lingua hungen hum anistischer Gelehrter wie Petrus
/liŋg°a/ ‘Zunge, Sprache’), wird fürs Lateini- Ram us (1515—1572) zurück. In vielen Fällen
sche seit langem diskutiert und ist um stritten. korrespondiert 〈qu〉 m it /k/, z. B. in qualité
Sturtevant (1920/1968) vertritt die m onopho- ‘Qualität’, quotidien ‘täglich’, in anderen Fäl-
nem atische Wertung u. a. m it dem Argum ent, len wurde die Schreibung 〈c〉 für das latei-
daß /k°/ nie positionslang sei, was /kv/ wäre; nische 〈qu〉 verwendet, z. B. carré (lat. qua-
ähnlich Niederm ann (1953, 87), Brandenstein dratum ) ‘Viereck’, comme (lat. quom odo)
(1951, 487), Bonioli (1968, § 21) und Allen ’wie’, cinq (lat. quinque) ‘fünf’. In weiteren
(1978, 16—20). Die entgegengesetzte bipho- Fällen schließlich wurde die /k°/-Variante ree-
nem atische Interpretation von 〈qu〉 als /kv/ tabliert, z. B. in quarto ‘viertens’, aquarium
wird vor allem in der älteren Forschung ver- ‘Aquarium ’, quintal ‘Zentner’ (vgl. Bonioli
treten, z. B. von Seelm ann (1885: 337 ff), und 1962, 86).
Kent (1932, § 47). Voegelin & Voegelin (1961, Eine praktische Konsequenz aus der m o-
65) klassifizieren 〈q〉 in diesem Sinne als eines nophonem atischen Interpretation zog der
„of the three allographs for /k/“ und nehm en englische Hum anist Thom as Gataker (1574—
diesen Fall als Beleg dafür, daß die Graphie 1654). In einer 1646 erschienenen Schrift ar-
des klassischen Latein „overdifferenciates — gum entiert er, daß die Schreibkonventionen
it carries a burden of excess baggage“ (ebd. der Antike innere Stim m igkeit besitzen m üß-
87). ten, weil die lateinischen Quellen schließlich
Das strukturelle Hauptargum ent für die von den Leuchten der klassischen Literatur
m onophonem atische Wertung der Phonem - und Gelehrsam keit verfaßt seien (De diph-
entsprechung von 〈qu〉 im Lateinischen ist thongis sive bivocalibus Deqe Literarum
764 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

qarundam sono germ ano, natura gem ina, fi- sitionsbedingte Variante von 〈k〉 auffassen
gura nova, idonea, scriptura veteri, veraqe, m üßte, der die Repräsentation der Phonem -
zitiert nach Drerup 1930/32, 135 ff). Folglich folge /kv/ (und entsprechend /gv/) obliegt.
seien Eins-zu-Eins-Korrelationen von Buch- 〈q〉 wäre dann eine allographische Variante
staben und Lautwerten anzusetzen. Für das von 〈k〉.
fragliche Problem schlägt er eine ganz un- Im Falle des 〈q〉 hat m an es m it einer
klassische Lösung vor: weil 〈q〉 das darin historisch langfristigen und eine Vielzahl ein-
enthaltene [u] bereits ausdrücke, brauche es zelsprachlicher Schriftsystem e in unterschied-
nicht länger als 〈qu〉 geschrieben zu wer- licher Weise betreffenden Entwicklung zu tun.
den. Entsprechend schreibt Gataker qasi, qod, Um 〈q〉 als Frem dgraphem zu qualifizieren,
qis, qanqam usw. Ähnlich sah im 18. Jahr- m uß der jeweilige Bezugspunkt der Entleh-
hundert der deutsche Orthographietheoreti- nung (oder Nicht-Entlehnung) konkretisiert
ker Friedrich Gottlieb Klopstock (1724— werden; es gibt eine Reihe lateinisch basierter
1803; „Schreib, wie du sprichst!“) die Sache europäischer Schriftsystem e, in denen das 〈q〉
und plädierte für Schreibungen wie 〈Qal〉, nicht vorkom m t, z. B. in den m eisten slavi-
〈Qelle〉, 〈qer〉. Einige seiner Zeitgenossen schen Sprachen mit lateinischer Graphie.
wollten das 〈q〉 lieber abschaffen und durch
eine bigraphem atische Lösung 〈kw〉 ersetzen; 8. Perspektiven
auch die Schreibung 〈gw〉 war in der Debatte
(vgl. Jellinek 1913, 291; Jellinek 1930, 20; Die Ausführungen über Schriftkontakt im
Müller 1989, 32 ff). Schriftsystem des vorigen Abschnitts endeten
Das Problem ist nicht gänzlich inaktuell. in sehr speziellen Fragestellungen, deren sy-
Der Buchstabe 〈q〉 bzw. 〈Q〉 wird fürs Deut- stem atische Bearbeitung aussteht. Ihr Zweck
sche üblicherweise als Bestandteil eines kom - ist eine exem plarische Dem onstration des
binierten Graphem s 〈qu〉 bzw. 〈Qu〉 analy- Sachverhalts, daß Problem e des Schriftkon-
siert, dessen erster Bestandteil bei der Erstel- takts nicht nur bei Sprachvergleichen auftre-
lung von Graphem inventaren für das Deut- ten, sondern auch für Analysen der Struktur
sche ein Problem darstellt (vgl. Günther 1988, von Einzelsprachen von Bedeutung sind. Das
77; Eisenberg 1988, 142, 144). Es existiert Studium von Schriften im Kontakt hat som it
jedoch im Prinzip die Alternative der m ono- neben den vier im einleitenden Abschnitt die-
phonem atischen Wertung, denn m an kann ses Artikels genannten linguistischen Teildis-
entweder, wie das üblich ist, eine Phonem - ziplinen eine weitere Dom äne im Zentrum
folge /kv_V/ ansetzen, oder m an analysiert linguistischer Forschung: die Gram m atik von
einen labialisierten Okklusiv /k°_V/, der m it Einzelsprachen, nam entlich Phonologie/Pho-
dem nichtlabialisierten /k/ kontrastiert, also nematik, Morphologie und Lexikologie.
entweder /kva:l/ oder /k°a:l/. Entsprechend Der Gegenstand der Forschung über
ließe sich auf der phonologischen Ebene in Schriften im Kontakt ist also weit gefächert:
gewissen Fällen statt der Folge /gv_V/ ein von der em pirischen Universalienforschung
/g°_V/ ansetzen (/lŋgvistk/ vs. /lŋg°istk/), über die vergleichende und typologische For-
die allerdings auf der Graphem ebene keine schung zur kontrastiven und zur einzelsprach-
Entsprechnung hat (〈g〉: 〈gu〉 vs. 〈k〉:〈qu〉). bezogenen Gram m atik. Einige der Fragestel-
Die Annahm e von Labiovelaren als Phone- lungen, die Schriftkontakte betreffen, sind
m en des Deutschen hätte den Vorzug, daß die traditionelle Them en in den genannten For-
Notierung einfacher würde, aber den Nach- schungsgebieten, jedoch in der Regel in For-
teil, daß das Phonem system kom plizierter m ulierungen bzw. in Methodologien geklei-
würde, weil diese Korrelation nur bei den det, die das Spezifikum m eist undifferenziert
velaren Okklusiven angenom m en werden behandeln, das Spezifikum , daß Sprachen in
könnte. Sie hätte außerdem den Mangel, daß geschriebener Form in Kontakt zueinander
sie in phonetischer Hinsicht nicht überm äßig treten. Andere Fragestellungen sind unbear-
realistisch ist. Würde m an dennoch diese pho- beitet, werden bislang als außerhalb des Ge-
nologische Interpretation wählen, dann bietes der Sprachforschung liegend oder in
m üßte der Buchstabe 〈q〉 als Bestandteil des system atischer Hinsicht uninteressant be-
kom binierten Graphem s 〈qu〉 bestim m t wer- trachtet. So bleibt es der weiteren Forschung
den (entsprechend 〈g〉 in Fällen wie 〈Lin- überlassen, Schriften im Kontakt als em pi-
guistik〉), während m an 〈q〉 (und entspre- risches und theoretisches Arbeitsfeld weiter
chend 〈g〉 in den genannten Fällen) als po- zu verm essen und als eigenständiges For-
schungsgebiet zu etablieren.
61.  Schriften im Kontakt 765

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62.  Demographics of Literacy 767

62. Demographics of Literacy

1. Introduction literacy can be m odeled. In addition, m eth-


2. Statistical indicators of world literacy odological issues in literacy assessm ent will
3. Functional literacy: what can be measured? be reviewed. Both validity problem s and
4. Methodological issues in literacy assessment m easurem ent problem s will be highlighted.
5. Perspective Moreover, specific problem s related to the
6. References cross-cultural assessm ent of literacy will be
discussed. Finally, a perspective on literacy
assessment will be presented.
1. Introduction
During the past decades there has been an 2. Statistical indicators of world
increasing societal concern about literacy de-
velopm ent throughout the world. Though literacy
there is a great diversity in both the distri-
bution and degree of (il)literacy in different 2.1. The spread of literacy
parts of the world, there has been an increas- Literacy can be seen as an im portant m arker
ing general awareness of the num bers of illit- of social and cultural change. Num erous par-
erates and the consequences of being illiterate allels can be found between the history of
for personal life. Literacy policies initiated by literacy and changes in econom ic develop-
the local authorities in various countries have m ent, industrialization and political dem oc-
brought about literacy cam paigns, including racy. Thus, literacy is often seen as a m ean
basic education, in order to reduce the pro- to transform underdeveloped societies into
portion of illiterates. Initiatives began to fo- developed ones. However, it is not necessarily
cus on the functional dim ensions of, and the true that developm ent depends directly on
personal needs for, literacy. It was acknowl- high rates of productivity from system s of
edged that literacy program s should recognize form al education. According to Graff (1994),
the different realities of diverse groups of societies have followed, just like individuals
learners. Since the past decade there is also a within societies, varying paths toward achiev-
clear tendency to com bine the forces for lit- ing rising levels of popular literacy and eco-
eracy education world-wide in order to pursue nom ic developm ent. While in Sweden people
regional program s and to increase technical had high literacy levels even before the in-
cooperation. dustrial revolution, in Great Britain the lit-
One of the consequences of the increasing eracy levels were low during the period of fast
focus on literacy developm ent has been the econom ic growth and tended to increase as a
encouragem ent of research. Advancem ents in consequence of technological growth.
research during the past decades gave way to A substantial part of literacy research has
new definitions and m odels of literacy, incor- focused on surveying literacy levels in a cer-
porating personal and social needs. From this tain com m unity. The term ‘illiteracy’ is usu-
new line of research our insight into the dis- ally reserved for those lacking in knowledge
tribution, the consequences and the causes of of written language, without being able to
illiteracy has greatly been enlarged. At the read and write a short statem ent on their
sam e tim e, research helped to docum ent and everyday life. From global surveys (i. e.
reflect on the effectiveness of literacy educa- Unesco 1983; 1990 a, b) it is estim ated that
tion. today there are alm ost one billion illiterates
In the present article the dem ography of in the world (alm ost 27 percent of the adult
literacy is dealt with. First of all, a review will population). Fig. 62.1 displays the geographic
be given on statistical indicators of literacy spread of illiteracy throughout the world.
throughout the world. After a historical per- There is also a great gender disparity in re-
spective on the collection of literacy data, the lation to literacy. Over 60 percent of the
distribution of literacy in developing and in- world’s illiterates are wom en. This disparity
dustrialized societies will be exam ined. Fur- is m ost apparent in developing societies. Fig.
therm ore, the question will be raised how 62.2 shows the illiteracy rates by region and
literacy can be defined. After a historical per- sex as estim ated by Unesco in 1990. The pros-
spective on definitions of literacy it will be pects of literacy are not very hopeful, if we
explored how the com petence of functional com pare statistics on literacy levels in the
768 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Fig. 62.1: Illiteracy rates around the world (source: Unesco Office of Statistics, 1985)

Table 62.1: Estimated number of adult illiterates (in millions and in proportions) in developing countries
in the period 1985—2000
1985 1990 2000
Sub-saharan Africa 133.6 (59.1) 138.8 (52.7) 146.8 (40.3)
Arab States 58.6 (54.5) 61.1 (48.7) 65.8 (38.1)
Latin America/the Carribean 44.2 (17.6) 43.5 (15.2) 40.9 (11.3)
East Asia 297.3 (28.7) 281.0 (24.0) 233.7 (17.0)
South Asia 374.1 (57.7) 397.3 (53.8) 437.0 (45.9)

course of tim e. In relative term s, com paring b, Nascim ento 1990). It is estim ated that, in
the num ber of illiterates to the total adult developing countries taken as whole, one out
population, the illiteracy rate is going to drop, of three adults will be illiterate. The highest
reaching 22 percent in the year 2000. How- proportions of illiterate people have been
ever, in spite of the fact that large-scale lit- noted in Southern Asia (54 percent), Sub-
eracy program s have been initiated, including Saharan (53 percent), the Arab States (49
com pulsory schooling, the absolute figures of percent), Eastern Asia (24 percent), and Latin
illiterates have continuously increased. At the Am erica and the Carribean (15 percent). It is
sam e tim e, the gender disparities concerning expected that in the year 2000 the illiteracy
illiteracy in different regions have constantly rates will drop to a low level in Latin Am erica
widened. and in East Asia, while in the other regions
the m agnitude of illiteracy will persist. Table
2.2. Literacy in developing societies 62.1 gives the absolute and relative num bers
of adult illiterates in developing societies, es-
There is a high correlation between illiteracy timated by Unesco (1990 b).
on the one hand, and poverty and infant In 48 of the 102 countries classified as
m ortality on the other. More than 95 percent ‘developing’ the illiteracy rate exceeds 40 per-
of all illiterates live in the so-called developing cent. 29 of these are Sub-saharan countries
societies (for an overview, see Unesco 1990 a,
62.  Demographics of Literacy 769

tries is that the older generations have the


highest illiteracy rates. This can be explained
from the fact that they have not had the sam e
educational opportunities as younger gener-
ations nowadays have.
Today’s world statistics also show that
m ore than 100 m illion children up to age 12
have never had a chance to participate in
elem entary education, and are at risk to be-
com e the illiterates of the next century. In the
least developed societies, 52 percent of all
school-aged children are not enrolled in a
school program . The proportion of children
lacking any form of schooling is in Southern
Asia 39 percent, in the Arab States 30 percent,
in Eastern Asia and Oceania 19 percent and
in Latin Am erica and the Carribean region
18 percent. Over all, only four out of ten
children in developing countries succeed in
com pleting prim ary school. In a num ber of
industrialized countries com pulsory educa-
tion has not yet achieved. Moreover, m any
students in prim ary education show m ore or
less severe problem s in acquiring the basic
skills of reading, writing, num eracy and prob-
lem solving.

2.3. Literacy in industrialized societies


In industrialized societies there is also evi-
dence of continuous literacy problem s. Be-
cause of increasing societal dem ands, the lit-
eracy standards in industrialized societies
have becom e higher. While the width of lit-
eracy has greatly been enlarged during the
past century, to be literate has becom e m ore
and m ore urgent for the individual. Rapid
social and technological changes have sharply
Fig. 62.2: Illiteracy rates by region and sex (source: increased the literacy dem ands on the part of
Unesco Office of Statistics, 1990) the citizen during the past decades. Mean-
and four densely populated South Asian while, econom ic crises have resulted in in-
countries. India (29.1%) and China (23.1%) creased dem ands on literacy levels (Resnick
m ake up a large part of the total num ber of & Resnick 1977, Mikulecky 1990). Even in
illiterates in the world. the case of com pulsory prim ary education,
It has also becom e evident that there is an m any people do not reach a level of com pe-
enorm ous gender disparity. About two-third tence in literacy which is sufficient to cope
of the illiterate population is fem ale. In the with everyday dem ands. Literacy problem s
least developed societies the proportion of appear to occur am ong various groups in the
illiterate wom en is estim ated to be alm ost 80 society, both indigenous and non-indigenous,
percent. 28 countries in Africa and 17 coun- urban and rural. In m ost industrialized coun-
tries in Asia even show a fem ale illiteracy rate tries the occurrence of such problem s am ong
above 90 percent. There are also large differ- native speakers was totally ignored (Freynet
ences in illiteracy rates between urban and 1987, Bhola 1989). The general educational
rural populations. In m ost developing coun- policy em phasized m ainly on getting children
tries illiteracy rates are twice as high as in into school and preventing drop-outs at
urban areas. Finally, there are differences by school. Only in recent years was it realized
age. The general pattern in developing coun- that the establishm ent of a universal school-
770 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

ing system does not guarrantee a sufficient port by the National Assessm ent of Educa-
literacy level for all. Gradually, it was ac- tional Progress it was found that 96 percent
cepted that adult basic education with the of respondents between 21 and 25 years were
provision of literacy incorporated is needed. at least able to locate a single fact in a news
The result was that m any reports on basic article or write a brief description of a job
needs am ong adult populations in different they would like to have. However, substantial
countries came out. num bers had not m astered m ore com plex lit-
In Europe illiteracy is generally regarded eracy tasks such as interpreting the m ain ar-
as a serious problem , while in m ost European gum ent from a lengthy newspaper or using a
countries there is a well-established system of catalog to calculate the cost of several item s
com pulsory education. It is interesting to note and fill out an order form . Moreover, there
that in Eastern European countries, including was a great disparity as regards ethnicity.
the USSR, effective short-term cam paigns Whites were m ore likely than Blacks or His-
have been em phasized alongside the devel- panics to have m arked increasingly difficult
opm ent of schooling (Bron and Bron-Woj- literacy tasks.
ciechowska 1983, Kabatchenko & Yasni- In Canada the Southam Literacy Survey
kova 1990). In the Mediterranean countries took place in 1987 in which a sam ple of
(Greece, Italy, Portugal, Spain) the em phasis people aged 16 to 69 was tested in reading,
was m ainly on getting children into school, writing and num eracy. Four levels were dis-
preventing drop-outs at school and providing tinguished. Canadians at level 1 and 2 are
illiterate adults with basic educational re- described as having skills too lim ited to deal
sources. In m ost Western European countries, with everyday literacy dem ands. Those at
on the other hand, the developm ent of adult level 3 have a literacy com petence enabling
literacy has been m arginal. In the United them to handle literacy dem ands within in a
Kingdom the adult literacy cam paign of 1976, lim ited range. Those at level 4 have sufficient
drawing m ore than 150,000 adults, turned out skills to m eet everyday requirem ents. 62 per-
to be an im portant awareness-raising effort. cent of the population scored at level 4, 22
However, in such countries as Belgium , Ger- percent at level 3 and 16 percent at the bottom
m any, France, Switzerland and Luxem bourg, levels 1 and 2. However, the survey can be
the occurrence of literacy problem s am ong criticized in that transient populations and
native speakers was totally ignored (Freynet immigrants were not included.
1987). Only in recent years was it realized In Japan the illiteracy rate turns out to be
that the establishm ent of a universal school- less than one percent. Thus it is shown that
ing system does not guarrantee a sufficient it is possible to achieve high literacy levels
literacy level for all. Gradually, it was ac- with a non-alphabetic writing system . That is
cepted that adult basic education with the why Coulm as (1994) concluded that struc-
provision of literacy incorporated is needed. tural features of the writing system are of less
The result was that m any reports on basic im portance for the prom otion of literacy than
needs am ong adult populations in different socio-econom ic and cultural factors. The vast
countries cam e out (see Giere 1987, Haute- m ajority of Japan’s illiterates can be divided
coeur 1990, Freynet 1987, Ham ilton 1987, into two groups of people: the Buraku people,
Fuchs-Bruninghoff, Kreft & Kropp 1986, a Japanese m inority group which has been
Goffinet & Van Dam m e 1990, Lim age 1990, discrim inated for a long tim e, and Korean
Ham m inck 1990). The estim ated proportions residents. Both groups are m arginalized and
of people with literacy problem s in the vari- discrim inated and exhibit above average illit-
ous countries ranged from 5% (The Neth- eracy rates.
erlands) to 23% (Greece).
Research am ong populations in the United
States has shown that a relatively high level 3. Functional literacy: what can be
of illiteracy is com patible with high levels of measured?
technological advancem ent and econom ic de-
velopm ent. A literacy survey was carried out 3.1. Historical perspective
in the seventies, showing that 23 m illion
adults lack basic literacy com petencies and a Traditionally, Unesco recom m ended the fol-
further 34 m illion function at a low literacy lowing definition in relation to literacy com -
level (Northcutt 1975). In a m ore recent re- petence: “a person can be called (il)literate if
he/she can(not) read and write with under-
62.  Demographics of Literacy 771

standing a short sim ple statem ent on his/her as well as a m eans of increasing the produc-
everyday life”. One can easily see that this tivity of the individual”.
definition is tautological in the sense that it Literacy was now viewed as a com plex of
it is not clear what is involved in such term s skills which could be defined in term s of the
as ‘understanding’, ‘sim ple’ or ‘statem ent on print dem ands of occupational, civic, com -
every day life’. As such, this definition does m unity and personal functioning. Instead of
not m ake clear how a particular classification school-based assessm ents, new profile m eas-
as regards literacy can be assessed. ures began to accentuate the vocational and
There has been a longstanding tradition in econom ic im pact of literacy skills. For in-
defining written language and written com - stance, in national assessm ent profiles for
m unication in its own right. Olson (1977, young adults in the United States a distinction
1980) pointed out that written com m unica- was m ade between reading, writing, num eracy
tion can be characterized by a prim acy of and docum ent processing skills (cf. Kirsch &
logical and ideational functions, while in oral Jungebluth 1986, Venezky 1990). Another
com m unication inform al characteristics pre- new trend concerns self-assessm ent of literacy
dom inate. In oral com m unication the listener problem s (Ham ilton 1987). People are asked
has access to a wide range of contextual to report reading and writing difficulties and
cues, which m ay clarify the intentions of the the practical problem s such difficulties have
speaker, whereas in written com m unication caused in everyday life. As such, the personal
such cues are alm ost com pletely absent. Cum - values of literacy can be incorporated.
m ins (1984) distinguished between context- A related question with respect to the def-
em bedded and context reduced-com m unica- inition of literacy concerns the role of ad-
tion. However, as Tannen (1982) has m ade vanced inform ation and com m unication tech-
clear, oral and literate m odes of expression nologies. According to Levine (1986, 1990,
do not fully coincide with speech and writing. 1994), the nature and role of literacy has
For exam ple, a personal letter which is pre- changed as a consequence of the bureaucra-
sented in written form focuses on interper- tisation of work, the penetration of social life
sonal relationships and shared knowledge, by written m aterials and the greater com plex-
while a lecture is orally presented in the lit- ity of such m aterials. Recent research has
erate m ode, etc. During the past years there given new attention to the effects of the avail-
has been a continuing interest in defining ability of new writing technologies. As Levine
written language. Harris (1986) presented a has noted, the enorm ous range of potential
diachronic analysis of the nexus between applications for com puters has inevitibly led
script and speech with special em phasis on to a redefinition of what is understood by
writing as representation. Scinto (1986) and basic literacy.
Coulm as (1989) provided m onographs on the
psychology and the nature of written lan- 3.2. Literacy and ideology
guage. Olson & Torrance (1991) brought to-
gether a series of papers on (dis)continuities Instead of defining literacy from an econom ic
between orality and literacy. or technological point of view, several authors
Gradually it was acknowledged that the em phasized the social context of literacy, tak-
character of written language is m ultifaceted. ing into account socio-cultural aspects of de-
The focus of written language and literacy velopm ent and the concerns of different com -
has m oved from concern with structural as- m unities and individuals. Street (1984, 1985,
pects of reading and writing to the acceptance 1993) spoke of a transition from an ‘auton-
of broader definitions, taking into account om ous’ to an ‘ideological’ view of literacy.
the functions of written language in social The autonom ous view refers to m ainly West-
contexts (cf. Stubbs 1980, Guthrie & Kirsch ern theories defining literacy in term s of uni-
1983). The term ‘functional literacy’ was in- versal cognitive or technical skills that can be
troduced in order to refer to the dem ands of learned independently of specific contexts or
literacy in the com plex world (cf. Gray 1956). cultural fram e works. A case in point is the
This type of definition was prim arily used in basic assum ption hold in recent studies that
the context of em ploym ent and econom ic de- literacy im plies the capacity to use language
velopm ent. In the 1960s the term was used in a decontextualized way. The ideological
by Unesco as follows: “... the process and view, on the other hand, defines literacy prac-
content of learning to read and write to the tices from the perspective of cultural and
preparation for work and vocational training, power structures in society. According to
Street, m any of the claim s m ade in the au-
772 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

tonom ous view of literacy can only be under- m unicative functions can be com bined ac-
stood in term s of the will to m aintain and cording to the principles of discourse.”
justify the dominance of those in power. According to Canale & Swain (1980),
Auerbach (1992) distinguished four distinct com m unicative com petence is com posed of
pedagogical tendencies that can be derived four com petencies: gram m atical com petence,
from the ideological analysis: the notion of discourse com petence, strategic com petence
variability and context-specificity in literacy and sociolinguistic com petence. Gram m atical
practices, the notion of literacy acquisition as com petence covers the m astery of phonolog-
a learner-centered process, developed prim ar- ical rules, lexical item s, m orpho-syntactic
ily in opposition to m echanical pedagogy, the rules and rules of sentence form ation. Dis-
politicization of content in literacy instruc- course com petence refers to the knowledge of
tion, and the integration of the voices and rules regarding the cohesion and coherence
experiences of learners with critical social of various types of discourse. Strategic com -
analysis. Taking an ideological view as a start- petence involves the m astery of verbal and
ing point, ethnographic studies have been car- nonverbal strategies to com pensate for break-
ried out paying attention to the role of literacy downs and to enhance the effectiveness of
practices in reproducing or changing struc- com m unication. Sociolinguistic com petence
tures of dom ination (Fingeret 1983, Giroux is related to the m astery of sociocultural con-
1983, Rockhill 1987, Luke 1988, Shannon ventions within varying social contexts. A
1989, Schwab 1990, Van Dijk 1990, Lind sim ilar definition has been proposed by Bach-
1990). However, these challenges of the au- m an (1990). He adds psychophysiological
tonom ous m odel have been relativized by m echanism s, covering issues of prosody and
Stuckey (1991) who claim ed that literacy can- processing speed.
not be seen as the ultim ate m ediator or arb- The theoretical fram ework of com m uni-
itor of social problems. cative com pentence has alm ost exclusively fo-
Recent studies attem pted to articulate what cused on oral language. However, as has been
is actually involved in people engaging in proposed by Verhoeven (1994 a) it could
cultural activities (Barton & Ivanic 1991). m odel written language use as well. Fig. 62.3
From these studies it has becom e clear that shows how the construct of functional literacy
literacy/illiteracy can no longer be seen as a could be defined by taking the fram e work of
sim ple dichotom y. Literacy is a lifelong, con- com m unicative com petence as a starting
text-bound set of practices in which an indi- point.
vidual’s needs vary with tim e and place. As Gram m atical and discourse com petence re-
such, one could also speak of m ultiple liter- fer to those abilities involved in controlling
acies and the im portance of language policies the form al organization of written discourse.
which enhance cultural diversity. Research The com petence to code and decode written
has also shown that the literacy practices text com prises the technical abilities which
through which individuals are socialized into are related to writing and reading. Strategic
various institutions can be extrem ely variable com petence refers to the ability to perform
(cf. Schieffelin & Ochs 1986). planning, execution and evaluative functions
to im plem ent the com m unicative goal of the
3.3. Modeling the competence of functional written text. Sociolinguistic com petence com -
literacy prises the literacy conventions which are ap-
propriate in a given culture and in varying
Taking a socio-cultural approach of literacy social situations, and the m ass body of
as a starting point, the question is what psy- cultural background knowledge, including
cholinguistic abilities underlie a functional lit- knowledge of the power structure in a given
eracy level in the individual. By incorporating society.
the sociolinguistic concept of com m unicative The present m odel m akes it possible to
com petence (cf. Hym es 1971), a m ore elabo- operationalize functional literacy in m ore or
rated conceptualization of literacy behavior less concrete term s. Coding and decoding
can be arrived at. In the context of language abilities relate to grasping the essentials of the
teaching Canale & Swain (1980) defined com - written language code itself. It has been
m unicative com petence as “a synthesis of claim ed by m any educators that orthogra-
knowledge of basic gram m atical principles, phies differ in degree of learnability. From
knowledge of how language is used in social com parative studies of writing system s
settings to perform com m unicative functions, (Downing 1973, Kavanagh & Venezky 1980,
and knowledge of how utterances and com -
62.  Demographics of Literacy 773

Fig. 62.3: The construct of functional literacy

Sam pson 1985, Coulm as 1991) it can be con- m inorities who have to learn to read and write
cluded that logographic system s which re- in an unfam iliar (second) language. People
quire the acquisition of an extrem ely large acquiring literacy in a second language are
num ber of associations between sym bols and faced with a dual task: besides the written
word m eaning through rote m em ory are hard code they have to learn the gram m atical and
to learn. With regard to syllabic system s the discourse com petence of the second language.
acquisition of the syllabic Kana system of Research has shown that a m inim um level of
Japanese has been intensively studied. Re- gram m atical and discourse level in a language
search findings suggest that the acquisition of is needed in order to be able to learn to read
Japanese generally proceeds without prob- and write successfully (Gudschinsky 1976,
lem s. Though the num ber of sym bols to be Verhoeven 1987 a, 1990).
learned is m uch larger than in alphabetical Strategic com petence refers to m etacogni-
codes, the degree of consistency between oral tive abilities which are involved in planning,
and written syllables in Kana is extrem ely executing and evaluating written text. Plan-
high. Alphabetic codes have the advantage of ning and evaluation (revision) turn out to be
a sm all num ber num ber of sym bols m apping crucial abilities in writing (Hayes & Flower
the phonem e inventory of a language. How- 1980), whereas m onitoring plays an im por-
ever, from an extensive body of research (cf. tant role during the execution of the reading
Perfetti 1985, Adam s 1989, Shankweiler & process (Clay 1979, 1991). With respect to
Liberm an 1989), it has been shown that strategic abilities involved in literacy tasks, it
alphabetical codes are difficult in the sense is generally believed that a certain level of
that phonem es as the constituent units can num eracy skills is required (see Kirsch & Jun-
hardly be perceived. The acquisition of gebluth 1986). Exam ples of basic num eric op-
phonographic system s appears to be affected erations that are thought to be critical for
by the ‘goodness-of-fit’ between oral and using print are basic addition and subtrac-
written language units which is relatively high tion, and comparison.
for Finnish and relatively low for English. Sociolinguistic com petence enables the in-
Given the continuities between oral and dividual to cope with literacy situations in
written language, the abilities involved in everyday life. Sociolinguistic com petence
gram m atical and discourse com petence con- com prises both literacy conventions and cul-
stitute basic com ponents of functional liter- tural background knowledge which are inter-
acy. Though the linguistic devices used to related. Literacy conventions refer to the
com prehend or produce written language are types of docum ents that are used in the social
not com pletely identical to those involved in institutions of a society, such as letters, form s,
oral discourse, a close relationship can be legal briefs, political tracts, religious texts,
expected. Gram m atical and discourse abilities novels and poem s. Docum ents often require
becom e very critical for people from ethnic specialized knowledge about particular doc-
774 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

um ent form ats. Moreover, different types of be interpretation problem s after literacy data
docum ents m ay also call for different types have been collected. Another m ethodological
of cultural background knowledge (Bleich issue in literacy assessm ent concerns the
1988, Kress 1989) as well as different values cross-cultural com parison of reading and
and beliefs (Bruner 1990, Gee 1990). Hirsch writing competencies.
(1987) has stressed the im portance of back-
ground knowledge by providing a corpus of 4.1. Measurement problems
com m on literary, historical and scientific al-
lusions needed to effectively understand adult The now available statistics on the distribu-
prose in the Am erican society. It is im portant tion of (il)literacy should be relativized for
to see that the notion of sociolinguistic com - various reasons. First of all, the reliability of
petence m akes literacy a relative m easure, de- figures can be doubted. In order to assess the
pending on the social and cultural context. need for literacy provision, m ost countries
For instance, being able to fill in a form m ay relied on census data. There is a reliability
be functional in one context, but less relevant problem deriving from the lack of consistency
in another. in the precise phrasing of the literacy ques-
With respect to m odeling the com petence tions in successive censuses, and from biased
of functional literacy, the particular sociolin- answers to such questions due to a variety of
guistic position of ethnic m inorities should be reasons. As a rule literacy has been m easured
recognized (cf. Fishm an 1980, 1989; Verhoe- on the basis of self-evaluation. As shown by
ven 1987 b). In a m ulti-ethnic society m inority Nascim ento (1990) this m ethod of self-eval-
groups m ay use various written codes serving uation facilitates the introduction of an ele-
at least partially distinct sets of functions. The ment of subjectivity into replies.
written code with the highest status will pri- Most im portantly, there is a validity prob-
m arily be used in societal institutions, lem . The kind of assessm ent techniques used,
whereas the written code of the m inority lan- and research m ethodology followed is partly
guage can be used for intragroup com m uni- dependent on the aim at which literacy data
cation and expressing one’s ethnicity. Besides, are to be collected. In case awareness-raising
another written code m ay be used for relig- of literacy problem s in a certain com m unity
ious identification. In order to do justice to is aim ed at, indirect m easures, such as self-
the literacy needs of ethnic m inorities, the assessm ent, or census data on literacy use and
com petence of functional literacy should be educational achievem ent, m ay be sufficient.
defined in term s of their m ultilingual and A substantial am ount of research on the dis-
m ulticultural background. With an eye on tribution of literacy derives from periodically
assessm ent it is im portant to evaluate to what collected population census data which in-
extent people belonging to an ethnic m inority clude answers to questions on literacy com -
are literate in the ethnic group language, in petence and literacy use. People are asked
the language of wider com m unication, or in to report reading and writing difficulties and
another language. It is essential to assum e the practical problem s such difficulties have
that literacy skills in all these languages are caused in every day life. Traditionally, thresh-
seen as relevant human resources. old m easures of literacy were used to divide
people into discrete classes of literacy achieve-
m ent, such as grade level of reading and writ-
4. Methodological issues in ing, the num ber of years of schooling, or the
literacy assessment sim ple dichotom y between ‘literate’ vs ‘illit-
erate’. In num erous cases the census question
For various reasons, reliable dem ographic in- on literacy is lim ited to whether the person is
form ation on literacy patterns in different able to read and write, without reference to
societies is difficult to obtain. For som e the object of reading and writing or the socio-
groups or countries, no updated inform ation cultural context of literacy. It should be clear
is available or no such data have ever been that such distinctions are not accurate and
collected. If any data have been collected, will provide little insight into the actual abil-
these are hard to interpret for various reasons. ities and the educational needs of adults (see
First of all, there is the problem of test reli- Wagner 1990, Becker-Soares 1992).
ability and test validity. The question is how The question then is how the strengths and
valid literacy is defined in the test and how weaknesses of literacy in school-based and
consistent the assessm ent procedure is. Be- everyday written language tasks can be eval-
sides these m easurem ent problem s there can
62.  Demographics of Literacy 775

uated in a valid way. In order to assess literacy such as ethnic m inorities, transient people, or
in term s of its functional utility in social con- disabled people are, if represented at all, un-
text, a com petence-based approach evaluat- derrepresented. Besides overall assessm ent it
ing literacy in a m ore direct way is m ore m ay be im portant to have insight in groups
appropriate. Reading and writing can be as- of people who are at risk of being functional
sessed separately. As far as reading is con- illiterate, e. g. ethnic m inorities, dialect speak-
cerned, a distinction can be m ade between ers, school leavers, long-term unem ployed,
decoding skills and com prehension skills. For unskilled workers, prisoners. As far as ethnic
writing, spelling and text writing can be dis- m inorities is concerned, the choice of lan-
tinguished. School types and non school types guage of literacy tasks can be questioned. In
of written language m aterials associated with a m ultilingual society different ethnic groups
particular adult contexts can be sam pled to m ay use various written codes at different
develop tasks that can be adm inistered to com petence levels, because these codes have
various populations, after they have been at least partially distinct sets of functions. The
field tested. By m easuring the responses m ade extent to which m em bers of an ethnic m inor-
the proportions of adults that are able to ity group in written com m unication will have
perform these literacy tasks can be estim ated. a need to use their own language besides the
As such, it is possible to identify a range of m ajority language is prim arily dependent on
uses and purposes that adults have for read- the written tradition of the ethnic language
ing and writing various m aterials. Varying and the background situation of the ethnic
literacy levels can be distinguished, e. g. non- group (cf. Verhoeven 1994 b).
literate (no literacy skills), low literate (able Finally, after literacy data have been col-
to code or decode words), interm ediate liter- lected, there is an interpretation problem . The
ate (able to perform sim ple literacy tasks) and prim ary aim of collecting census data on lit-
high literate (able to perform com plex literacy eracy levels has been to convince policy m ak-
tasks). With respect to ethnic m inorities it ers of the urgence of the need of literacy
m ay be relevant to evaluate oral gram m atical cam paigns. Not only are census data hard to
and discourse skills in the language of wider collect. It m ay also be the case that census
com m unication as well. In case a person is data for tactic reasons have been over-
unable to speak the official language the im - or underestim ated. As Hinzen (1989, 507)
plication is that he will not be literate in that pointed out, in the eyes of policy m akers
language. It m ay be clear that the label ‘illit- literacy figures should be high enough to
erate’ has no import in this case. prove success and educational achievem ent,
The com petence-based approach m ay gain and at the sam e tim e low enough in order to
benefit from using item response theory m eth- be grouped as a region m eriting a larger share
odology (see Kirsch 1990). In that case a of developmental aid.
variety of literacy tasks are represented in a
lim ited num ber of categories, e. g. narrative, 4.2. Cross-cultural considerations
expository and docum ent. Tasks representa-
tive for these types of literacy can be scaled An interesting question is to what extent lit-
using item response theory, a m athem atical eracy levels in different societies can be com -
m odel for estim ating the probability that a pared. Planning agencies have sought to in-
person will respond correctly to a particular crease the com parability of literacy data over
task. Both difficulty param eters of the tasks tim e and across societies. The com parability
and proficiency levels for individuals and of data of different surveys requires the equal-
groups can then be estim ated. As such, the ity of definitions and classifications. The ap-
conception of m ultiple literacy scales instead plication of literacy profiles following item
of the traditional single scale m akes it possible response m ethodology has greatly enlarged
to assess the m ultifaceted construct of liter- the possibilities of cross-cultural com parison
acy. Moreover, the com parability of literacy of literacy levels. The claim is m ade that item
results across groups, age and tim e will be response theory provides sam ple free item
enhanced. Not only enables this m ethodology analyses. Sam ple free in this context points
us to com pare subsam ples in a society, it also to no statistically significant effect or any
provides the possibility of cross-cultural com - differences in the values of groups of inform -
parison of literacy levels. ants on task param eter estim ates. If on a task
Another m easurem ent problem concerns inform ants from different cultural back-
sam pling. In m any surveys certain groups, grounds yield equivalent estim ations of item
param eters, it can be concluded that for each
776 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

of these groups the task can be scaled along Finland, France, Sweden and New Zealand.
one and the sam e dim ension. As such, a cross- Above average are the score of the children
cultural validity check of the test m aterials is from Hungary, Iceland, Switzerland, Hong
made possible. Kong, United States, Singapore, Slovania,
Quite recently a large-scale com parative Germ any, Denm ark, Portugal, Canada, Nor-
study was conducted by the International As- way, Italy, Netherlands, Ireland and Greece.
sociation for the Evaluation of Educational Children from Cyprus, Spain, Belgium , Trin-
Achievem ent (Elley 1992). In this study the idad and Thailand scored below average,
average achievem ent levels in reading literacy whereas the children from the Philippines,
have been assessed of 9- and 14-year-old chil- Venezuela, Nigeria, Zim babwe and Botswana
dren from various educational system s all scored low.
over the world. More than 200,000 children From the IEA study several interesting
from 32 countries participated in this study. findings em erged. For m ost countries it was
Reading literacy was defined as the ability to found that the levels of literacy are closely
understand and use those written language related to their national indices of econom ic
form s required by society and/or valued by developm ent. However, children at both age
the individual. Three types of reading literacy levels from Hong Kong achieved well above
m aterials were included in the tests for the expectation. The sam e was true for the 9-
two age groups: narrative prose, expository year-olds from Finland and Italy, and the 14-
prose and docum ents. The correlations be- year-olds from Hungary, Portugal and Sin-
tween scores on the three scales turned out gapore. The latter group achieved high levels
to be high. The general form at of the tests of literacy despite the fact that they followed
was m ultiple-choice. For each student total a subm ersion L2 approach of literacy instruc-
scores were com puted in the three dom ains. tion.
By m eans of latent-trait-analysis scales were Another finding was that a late start of
produced for each dom ain with a m ean score literacy instruction does not necessarily lead
of 500 and a standard deviation of 100. to low achievem ent. Only when achievem ent
Besides the test scores other inform ation was scores were adjusted for socio-econom ic cir-
collected: student questionnaires on the stu- cum stances, an earlier start turned out to be
dents’ hom e and school circum stances, advantageous. The m ost im portant differen-
teacher questionnaires on the teacher’s back- tiating factors effecting reading achievem ent
ground, instructional practice and beliefs, were the size of school and classroom librar-
school questionnaires on school circum - ies, regular book borrowing, frequent silent
stances and policies, and national case study reading in class, frequent story reading aloud
questionnaires on national policy, enrollm ent by teachers and the num ber of scheduled
patterns and economic conditions. teaching hours. The availability of books, not
For the 9-year-olds it was found that Fin- only in school but also in the hom e and in
land, United States, Sweden, France, Italy, nearby com m unity libraries, turned out to be
New Zealand and Norway scored relatively a key factor in reading literacy.
high, while Iceland, Hong Kong, Singapore, Furtherm ore, a gender effect could be
Switzerland, Ireland, Belgium , Greece and evidenced in that girls achieved higher scores
Spain still scored above average. Scores below than boys. The advantage for girls was great-
average were obtained by children Germ any, est in the narrative dom ain and sm allest in
Hungary, Slovenia, The Netherlands, Cyprus, docum ents. Besides gender, there was also
Portugal and Denm ark. The lowest scores an effect for language differences. Children
were obtained by children in Trinidad, In- learning to read in a second language
donesia and Venezuela. However, the differ- achieved lower literacy levels in all countries
ences between countries should be considered at both age levels. Finally, there was an effect
cautiously because of the fact that som e pop- for urban-rural differences. In general, urban
ulations had underage children and others children achieved higher literacy levels than
had overage children. Moreover, the num ber rural children.
of years of literacy instruction in the popu-
lations varied.
The results for the 14-year-olds showed 5. Perspective
that the rank order of countries was m ore or The present article shows that present infor-
less sim ilar as with the 9-year-olds. High m ation on the dem ographics of literacy is far
scores were obtained by the children from from conclusive. There is a lack of an ade-
62.  Demographics of Literacy 777

quate statistical basis of census data on lit- sala: Departm ent of Education, University of Upp-
eracy in m any countries. The absence of any sala.
survey on literacy behavior m akes it im pos- Bruner, Jerom e 1990. Acts of m eaning. Cam bridge,
sible to give a quantitative account of the MA.
spread of literacy in these societies. Moreover, Canale, Michael & Swain, Merill. 1980. Theoretical
in so far population censuses include infor- bases of com m unicative approaches to second lan-
m ation on literacy, the reliability and validity guage testing and teaching. Applied Linguistics 1,
of the assessm ent procedure can be doubted. 1—47.
In the vast m ajority of cases the com petence Clay, Marie M. 1979. Reading. The patterning of
of literacy is assessed on the basis of a sim ple complex behavior. Auckland.
self-evaluating statem ent on the part of the
—. 1991. Becom ing literate: The construction of
individual. Moreover, m ost of the statistical
inner control. Portsmouth, NH.
data gathered so far draw back upon a sim ple
dichotom y for the classification of individuals Coulm as, Florian. 1989. The writing system s of the
between literate and illiterate. Interm ediate world. Oxford.
degrees in the com petence of reading and —. 1994. Writing system s and literacy: The alpha-
writing behavior are generally ignored. betic myth revisited. In: Verhoeven, 305—320.
A m ore fundam ental question to be asked Cum m ins, Jim . 1984. Wanted: A theoretical fram e-
in relation to assessm ent is whether literacy work for relating language proficiency to academ ic
can be defined as a universal trait. Focussing achievem ent am ong bilingual students. In: Rivera,
on culturally-sensitive accounts of reading C. (ed.), Language proficiency and academ ic
and writing to social practices the concept of achievement. Clevedon.
literacy as a single unified construct does not Downing, John. 1973. Com parative reading. New
seem very feasible. As was claim ed by Street York.
(1994 b) we should not talk about ‘literacy as Elley, Warwick B. 1992. How in the world do
such’ but rather about ‘literacy practices’. A students read? The Hague.
m ultiplicity of literacies can be distinguished Fingeret, A. 1983. Social network: A new perspec-
which are related to specific cultural contexts tive of independence and illiterate adults. Adult
and associated with relations of power and Education Quarterly 33, 133—146.
ideology. It is clear that the great divide be- Fishm an, Joshua A. 1980. Ethnocultural dim en-
tween literacy and illiteracy does not fit very sions in the acquisition and retention of biliteracy.
well in this conception of literacy. In order to Journal of Basic Writing 3, 48—61.
clarify and refine the world-wide dem ograph-
ics of literacy, there is an urgent need to study —. 1989. Language and ethnicity in m inority so-
literacy practices in diverse cultural and ide- ciolinguistic perspective. Clevedon.
ological contexts. Freynet, P. 1987. Illiteracy and adult literacy prac-
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63.  The Promotion of Literacy in the Third World 779

—. 1987 b. Literacy in a second language context: Verhoeven, Ludo. (ed.). 1994. Functional literacy.
teaching im m igrant children to read. Educational Theoretical issues and educational im plications.
Review 39, 245—261. Amsterdam.
—. 1990. Acquisition of reading in a second lan- Wagner, Daniel A. 1994. Literacy assessm ent in the
guage. Reading research quarterly 25, 90—114. third world: An overview and proposed schem a for
—. 1994 a. Modeling and prom oting functional lit- survey use. Com parative Education Review 34,
eracy. In: Verhoeven, 3—34. 112—138.
—. 1994 b. Linguistic diversity and the acquisition Ludo Verhoeven, Tilburg (The Netherlands)
of literacy. In: Verhoeven, 199—220.

63. The Promotion of Literacy in the Third World

1. Literacy as Schools of nineteenth century England and


a variable and dynamic concept the earlier church-led literacy drives in seven-
2. Literacy, schooling and basic education teenth and eighteenth century Scotland were
3. Language choice to enable protestant Christians to read the
4. International definitions and strategies bible. Som e of the earliest efforts in the 1920s
5. Variations in literacy strategies and 1930s to prom ote literacy in the third
6. Literacy for women world, notably those of the Am erican m is-
7. Research sionary, Frank Laubach, had a sim ilar m o-
8. References tivation (Laubach 1947). And in Koranic
schools throughout the Islam ic world today,
the need for literacy is seen largely as a m eans
1. Literacy as a variable and dynamic of reading the Koran.
concept
1.3.  These religious reasons for the prom o-
1.1.  Since 1945, two frequently asserted as- tion of literacy rem ain; but they are today re-
sum ptions have underpinned all international inforced by ideas which stress the social and
debate about third world literacy (Lind & econom ic advantages of being literate. Bhola
Johnston 1990). The first is that literacy is a (1990: 6—7) has expressed these advantages
basic hum an right, while the second is that very powerfully while at the sam e tim e ac-
literacy is a necessary instrum ent of ‘devel- knowledging the value of purely oral cultures.
opm ent’. Both assum ptions can be chal- “Of course, the non-literate survive. They are
lenged. While the first assum ption is now born. They grow up. They play. They sing.
generally accepted, this was not always so; They m arry. They buy and sell. They build
and the second has com e under increasing huts and hom es. They m ake beautiful arte-
scrutiny since the 1970s, during which decade facts. They have children and grandchildren.
alm ost all governm ents cam e to question the They develop deep understandings of life. ...
value of unselective increases in expenditure But it is im possible to deny that at this point
on education. In the 1960s a direct correlation in hum an history, they are clearly, and un-
was assum ed between literacy and ‘develop- questionably, disadvantaged in relation to the
m ent’ in both its econom ic and social m ean- other two and a half thousand m illion adults
ings; but the planning of educational expen- who can read and write and, therefore, have
diture is now m uch m ore clearly focused on available to them the world of print from
particular targets and objectives. which the non-literate are excluded. The illit-
erate are excluded and m arginalized, as they
1.2.  The idea of literacy as a hum an right is are disallowed from joining in to define their
a twentieth century concept. Much m ore im - own world and from contributing to collective
portant historically have been trade, eco- knowledge, to history, and to culture.”
nom ic growth, urbanization and the creation
of nation states. Perhaps the religious instru- 1.4.  The other frequently asserted assum ption
m entality of literacy as a m eans of enabling about literacy is its value to ‘developm ent’.
believers to read the word of God is the This is not to be denied; but the value is by
nearest pre-twentieth century parallel to the no m eans direct or sim ple. For exam ple, the
hum an right idea. For exam ple, the Adult
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 779

—. 1987 b. Literacy in a second language context: Verhoeven, Ludo. (ed.). 1994. Functional literacy.
teaching im m igrant children to read. Educational Theoretical issues and educational im plications.
Review 39, 245—261. Amsterdam.
—. 1990. Acquisition of reading in a second lan- Wagner, Daniel A. 1994. Literacy assessm ent in the
guage. Reading research quarterly 25, 90—114. third world: An overview and proposed schem a for
—. 1994 a. Modeling and prom oting functional lit- survey use. Com parative Education Review 34,
eracy. In: Verhoeven, 3—34. 112—138.
—. 1994 b. Linguistic diversity and the acquisition Ludo Verhoeven, Tilburg (The Netherlands)
of literacy. In: Verhoeven, 199—220.

63. The Promotion of Literacy in the Third World

1. Literacy as Schools of nineteenth century England and


a variable and dynamic concept the earlier church-led literacy drives in seven-
2. Literacy, schooling and basic education teenth and eighteenth century Scotland were
3. Language choice to enable protestant Christians to read the
4. International definitions and strategies bible. Som e of the earliest efforts in the 1920s
5. Variations in literacy strategies and 1930s to prom ote literacy in the third
6. Literacy for women world, notably those of the Am erican m is-
7. Research sionary, Frank Laubach, had a sim ilar m o-
8. References tivation (Laubach 1947). And in Koranic
schools throughout the Islam ic world today,
the need for literacy is seen largely as a m eans
1. Literacy as a variable and dynamic of reading the Koran.
concept
1.3.  These religious reasons for the prom o-
1.1.  Since 1945, two frequently asserted as- tion of literacy rem ain; but they are today re-
sum ptions have underpinned all international inforced by ideas which stress the social and
debate about third world literacy (Lind & econom ic advantages of being literate. Bhola
Johnston 1990). The first is that literacy is a (1990: 6—7) has expressed these advantages
basic hum an right, while the second is that very powerfully while at the sam e tim e ac-
literacy is a necessary instrum ent of ‘devel- knowledging the value of purely oral cultures.
opm ent’. Both assum ptions can be chal- “Of course, the non-literate survive. They are
lenged. While the first assum ption is now born. They grow up. They play. They sing.
generally accepted, this was not always so; They m arry. They buy and sell. They build
and the second has com e under increasing huts and hom es. They m ake beautiful arte-
scrutiny since the 1970s, during which decade facts. They have children and grandchildren.
alm ost all governm ents cam e to question the They develop deep understandings of life. ...
value of unselective increases in expenditure But it is im possible to deny that at this point
on education. In the 1960s a direct correlation in hum an history, they are clearly, and un-
was assum ed between literacy and ‘develop- questionably, disadvantaged in relation to the
m ent’ in both its econom ic and social m ean- other two and a half thousand m illion adults
ings; but the planning of educational expen- who can read and write and, therefore, have
diture is now m uch m ore clearly focused on available to them the world of print from
particular targets and objectives. which the non-literate are excluded. The illit-
erate are excluded and m arginalized, as they
1.2.  The idea of literacy as a hum an right is are disallowed from joining in to define their
a twentieth century concept. Much m ore im - own world and from contributing to collective
portant historically have been trade, eco- knowledge, to history, and to culture.”
nom ic growth, urbanization and the creation
of nation states. Perhaps the religious instru- 1.4.  The other frequently asserted assum ption
m entality of literacy as a m eans of enabling about literacy is its value to ‘developm ent’.
believers to read the word of God is the This is not to be denied; but the value is by
nearest pre-twentieth century parallel to the no m eans direct or sim ple. For exam ple, the
hum an right idea. For exam ple, the Adult
780 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Mahbubnagar Experim ent in India has been (1984) also noted that literacy acquired for
cited (Street 1990) to show that attem pts to one purpose (in this case through Koranic
m ake a direct link between a developm ent schools) m ay later be adapted successfully for
issue (in this case health) and functional lit- quite different purposes. The older m en, ed-
eracy can lead to surprising results. The initial ucated in the Koranic schools, were well able
assum ption was that literacy training would to develop a new com m ercial literacy when
im prove acquisition and retention of skills faced with the challenge of exploiting new
related to hygiene and parenthood. Three dif- m arketing opportunities for locally grown
ferent program m es were established to test fruit. Writing associated with adherence to
this and related assum ptions: m other and tight tim etables, the recording of deals with
child centres using oral instruction and dem - m iddle m en and city dealers, keeping ac-
onstrations plus som e practical assistance counts and lists of produce, proper labelling
with food and m edicine; functional literacy and so on was all achieved by flexible adap-
classes; and a program m e com bining both tation of existing knowledge to new cultural
approaches. The m ost successful, m easured circum stances. The contem porary and gov-
by various indicators of health, nutrition and ernm ent inspired literacy cam paign ignored
m ortality were the m other and child centres: and looked down on the existing literacy ac-
the least successful was functional literacy on quired in the Koranic schools. ‘School’ liter-
its own. This and other evidence also points acy im posed from outside was thus m uch less
to the view that literacy is a sym ptom , not a effective than if it had built on local culture
cause of under-developm ent; it is not a ‘prob- and circumstances.
lem ’ to be solved in isolation from other so-
cio-econom ic and political issues (Lind & 1.7.  Literacy is not a sim ple technology. If
Johnston 1990, 22). one sim ple lesson were to be selected from
third world experience it would have to be
1.5.  Nevertheless, the im portance of literacy that. Most of the m odern history of literacy
a t t h e r i g h t m o m e nt, is still a basic as- schem es in the third world is a history of
sum ption of m ost developm ent planning. De- honourable failure, and this includes m uch of
velopm ent “m ay som etim es happen without the 1967—72 UNESCO sponsored Experi-
recourse to literacy. For exam ple, the farm er m ental World Literacy Program m e (EWLP).
m ay be able to increase his production per- Such failures bear eloquent testim ony to the
haps with the help of an extension service need for the right conjunction of circum -
using oral com m unication, in person or on stances before any kind of success is likely
the radio. But sooner or later, if the devel- (UNESCO/UNDP 1976). Where there has
opm ent process continues, if the econom y been success, then unusual perception in three
becom es m ore com plex and if basic services crucial areas is alm ost always necessary. First
im prove ... then there will com e a need for is the need to recognise as essential a close
literacy. While it is useless to offer literacy interplay between literacy policy and general
i n st e a d of food, housing, water supplies and developm ent strategies. The close correlation
electricity, it m ay be only part — but it is still between illiteracy and m alnutrition, ill health,
an essential part — of the range of basic high infant m ortality and other indicators of
services which bring direct econom ic returns poverty or under-developm ent is well known.
as well as direct social benefits” (Fordham But it is no use offering literacy instead of a
1985, 15; Green 1983). good health service or an im proving diet.
Motivation for literacy is likely to follow not
1.6.  Analysis of the variability of the literacy precede the beginnings of an im proved quality
concept has also been undertaken with respect of life. Secondly, there has to be acceptance
to culture. Street (1990, 2) points out that that literacy is a transform ing experience both
culture is a m atter of basic questions about for individuals and for societies. It is not a
what is truth and what is knowledge and that m arginal im provem ent and it m ay well be
these vary between one social grouping and accom panied by m ore and m ore articulate
another. Moreover, literacy acquisition al- dem ands for other changes or dem ands on
m ost always involves for neo-literates som e the political system . Finally, there has to be
degree of change at this basic level. Thus the political will both to understand the com -
literacy is “m ore a m atter of personal identity, plexities and cope with the turbulence which
knowledge and power” than of functional m ay result. Unless there is the right conjunc-
skills per se. In his work in 1970s Iran, Street tion of circum stances the tim e for literacy is
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 781

unlikely to have arrived. The very idea of that literacy work am ong adults (m any of
‘literacy’ is in fact both com plex and dynam ic. whom are parents) quickens the pace of ed-
Com plex because it can only be defined in ucational expansion and hastens the day
relation to a particular place and tim e: dy- when UPE finally arrives. In a ‘doctrinal in-
nam ic because the way we perceive it is bound novation’, the 4th Extraordinary Session of
to change as society itself is changing (Ford- UNESCO General Conference (1982) “opted
ham 1988). for a dual strategy, com bining form al and
non-form al education: the extension and
renovation of prim ary education coupled
2. Literacy, schooling and with renewed efforts for out-of-school literacy
basic education work am ong youth and adults.” (Gillette &
Ryan 1983). In practice, alm ost all countries
2.1.  Since the 1990 World Conference on Ed- have given greater em phasis to the achieve-
ucation for All held at Jom tien in Thailand, m ent of UPE than to the prom otion of adult
the prom otion of third world literacy has literacy. Only in Tanzania were priorities re-
becom e an integral part of the wider pro- versed.
m otion of ‘basic education’ — the various
learning tools and content “required by hu- 2.4.  The lead was given by President Julius
m an beings to be able to survive, to develop Nyerere in 1970. He argued that to rely on
their full capacities, to live and work in dig- prim ary education alone would take thirty
nity, to participate fully in developm ent, to years or m ore and that Tanzania could not
im prove the quality of their lives and to con- wait. Declaring that 1970 was ‘Adult Educa-
tinue learning.” (WCEFA 1990, Article 1) tion Year’, he inaugurated a m ass cam paign
Basic education thus defined includes: early which it was later claim ed had reduced illit-
childhood care and initial education; prim ary eracy from 69% in 1967 to 39% in 1975 and
schooling; and continuing or initial education to as low as 9.6% in 1986. (Mpogolo 1990,
for youth and adults (including literacy) m et 4). Moreover, Mpogolo also argues (1990, 2)
through a variety of delivery systems. that the adult literacy cam paign “accounted
for a great deal of the rapid progress in pri-
2.2.  The World Declaration of Jom tien in- m ary education. One of the im m ediate results
cluded a firm com m itm ent to universality in of educating adults was to m ake them insis-
the provision of basic education “to all chil- tent that schooling be provided for their chil-
dren, youth and adults” (WCEFA 1990, Ar- dren. The pressure for prim ary education
ticle 3); but apart from giving priority to girls proved irresistible. Elected officials cla-
and wom en, itself an im portant step forward, m oured for schools for their com m unities and
the declaration left open the questions of contributed to building them . ... A synergism
other priorities within this broad com m it- developed — the m ore adult education was
m ent. There still rem ain significant differ- extended, the stronger proved the pressure
ences of em phasis between various interna- for prim ary schools.” Many adult educators
tional agencies. In particular, there are those agree with Mpogolo that to argue priorities
who give priority em phasis to the im proved in term s of either UPE or adult literacy is a
m anagem ent of prim ary education and those false antithesis (e. g. at an international sem -
who would lay greater stress on the extension inar on ‘Co-operating for Literacy’ held in
of adult learning opportunities, or greater Berlin, October 1983 (Fordham 1985, 19)).
attention to, and understanding of, cultural However, there is continuing criticism of
variables or im proved com m unity participa- som e educational planners (e. g. those who
tion in all areas of basic education. m ade the World Bank presentations at Jom -
tien) that their thiniking is too m uch dom i-
2.3.  These continuing differences of em phasis nated by prim ary education and that they
are to som e extent a continuation of earlier give too little thought to adult learning and
and m ore sim plistic debates about whether to potential of com m unity participation and
give priority extension to m assive literacy adult involvem ent in the prom otion of liter-
cam paigns am ong adults or to Universal Pri- acy (IDRC 1991).
m ary Education (UPE); the latter was a m ain
prognosis of the First African Regional Con- 2.5.  In considering the place of schooling as
ference of Ministers of Education held in Ad- an instrum ent for literacy, there is a useful
dis Ababa in 1961. However, others believe distinction to be m ade between cultures which
782 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

already have form al schooling — either for put it: “You know how things are here. We
an élite or for religious purposes — and those don’t read m uch at all. Yes, I prepare what I
where schooling is brought in from outside have to do for m y lectures, but I don’t have
to a largely oral culture. In the latter cases, the habit of reading. I don’t read novels. ...
schools have frequently been im posed by for- In our free tim e we go to the bars and drink
eign m issionaries or by colonial rulers; and and chat.” (Fox, Fordham & Usher 1986, 97)
the culture and values they bring with them Where schooling and popular literacy/culture
m ay be the m ost im portant determ inants of rem ain apart, the m ost crucial determ inant
the kind of literacy provided. This m ay often m ay be the choice of language in which lit-
be associated with the im portation of a dom - eracy is promoted.
inant language (e. g. French in francophone
Africa); but as the Iran exam ple (1.6. above)
shows, ‘school’ literacy m ay be less effective 3. Language choice
than existing local literacies, just because it is
im posed from above and with values which 3.1.  No area of educational decision m aking
are quite different from those of the local is m ore difficult or m ore com plicated. Lan-
com m unity. The language of literacy is often guage is certainly the basis of cultural identity
the vehicle for the way literacy is perceived and often political identity as well. Moreover,
(see section 3. below). where the language of the school is different
from that of the hom e, school m ay seem to
2.6.  Street has em phasised that literacy and be an alien place. Not only does this m ake
orality are com plem entary, and that certain the interpretation of oral and written culture
oral traditions (e. g. story telling) have close very difficult but, for children and adults from
parallels with the skills, m ental operations unschooled (usually poor) fam ilies, school
and effects present in m ore literate cultures m ay also seem part of a richer and m ore
(see also Hinzen et al. 1987). A m ix of oral powerful world that it is difficult to enter and
and literacy skills in fact enables a richness in which it is even more difficult to succeed.
of language use which also accords with the
practical uses of literacy in m ost people’s 3.2.  There is very general agreem ent that,
daily lives. “The written word is usually em - where possible, the m other tongue is the best
bedded in an oral context, people speak starting point for literacy learning. Yet of the
around it, write things down, read, speak m ore than 4,000 spoken languages in the
again. What people operating in such con- world, only about 300 have a developed or-
texts have learned is not only the rules and thography m aking them capable of regular
conventions of literate practice and of speech, use in written form ; and less than 100 have
but also those of the m ixed repertoire of a significant written literature (UNESCO
speech-and-literacy; in a sense the whole is 1992 a). Most countries are m ultilingual, and
greater than the sum of its parts.” (Street learning to read or write in a language of very
1990, 15). restricted local use m ay soon becom e frus-
trating for the learners. The uses of literacy
2.7.  This is the ideal. But there are circum - are very lim ited if the language of learning is
stances where school literacy, even when car- different from the printed m essages in adver-
ried into higher education, does not m esh tisem ents or newspapers with which the learn-
adequately with oral culture and rem ains a ers are surrounded. In Kenya, for exam ple,
skill apart. It provides entry into a wider where governm ent literacy classes are usually
world of knowledge and even higher learning m other-tongue, the public printed word, even
(often in a foreign language); but for m any in the rural areas, is likely to be in Swahili
individuals it is part of a grafted or élite (the lingua franca) or even English, not the
culture and does not lead to the ‘learning local m other tongue and language of oral
society’ which m any literacy idealists have com m unication. In these and sim ilar circum -
aim ed for (Adiseshiah 1978). Research in four stances, it m ay be better to acknowledge that
African countries into the training of adult m other-tongue literacy is im practicable and
educators revealed that even som e university choose the m ost widely used local written
teachers do not read after they graduate ex- language which is also understood by m ost
cept for purely instrum ental purposes; for learners. This m ay be described as ‘language
exam ple, to prepare lecture notes for the next of first sight’ m uch as ‘m other tongue’ is
generation of undergraduates! As one of them ‘language of first hearing’. Another related
issue arises in m ulti-lingual urban areas (e. g.
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 783

in west Africa) where the widely spoken local spoken by a high proportion of the popula-
language is not the m other tongue of m ost tion in countries where Spanish is the official
inhabitants. This language, or the relevant (and also the élite) language. In Africa, So-
world language (in urban west Africa either m alia is one of the few countries where the
English or French) m ay be the favoured widely spoken local language is also the of-
choice in these circumstances. ficial language. However, it has no literary
tradition and has only recently becom e a writ-
3.3.  Language policy is a m atter for decision ten language: in this case Italian and English
within countries; but ought to be the subject are also still widely used.
of widespread debate. Most countries have
decided on one and som etim es m ore than one 3.4.4. Multiple languages with literary and
‘national’ language. But the com m only pro- religious traditions
m oted idea of a national language coupled
with early m other tongue instruction as the India has over 100 languages using twelve or
‘best’ solution for language policy is often m ore scripts (→ art. 33). Fourteen official
com plicated by the use of form er m etropoli- regional languages are recognised and are
tan colonial languages which rem ain the lan- used in both politics and education. Hindi is
guages of m uch of the élite and which in som e prom oted as the national language, but Eng-
cases have also becom e lingua francas, or even lish is still widely used in governm ent, politics,
‘national’ languages in form er colonies, as commerce, industry and education.
with Portugese in Mozambique.
3.5.  It is obvious from the com plexity re-
3.4.  At the 1990 Jom tien Conference vealed by this analysis, that language choice
(WCEFA) the round table on language policy has to be m ade at several levels from local
(UNESCO 1992 a, 15—18) used an analysis com m unity to that of the country. In educa-
which divided the world between four m ain tion the choice is often m ade between one of
contextual situations: the languages of wide diffusion (the so-called
world languages of Arabic, Chinese, English,
— no linguistic majority. French, Portugese, Russian and Spanish) and
— a dominant and locally developed lingua a m ore local language. All the ‘world’ lan-
franca guages carry historical and cultural conno-
— a predominant indigenous language tations from past em pires, and m ay well be
— multiple languages with literary and relig- seen as foreign by som e who speak them . Yet
ious traditions. they m ay also provide not only access to other
cultures, but also act as unifiers in ethnically
3.4.1. No linguistic majority and linguistically divided societies, like the
In Nigeria, for exam ple the three m ajor lan- role of English in South Africa or Nam ibia,
guages (Hausa, Igbo and Yoruba) are spoken Portugese in Mozam bique and Angola or
alongside about 400 other languages. In Spanish in m uch of South Am erica. However,
Papua New Guinea over 700 languages exist where there are other alternative national lan-
am ong a population of about 4 m illion. In guages, often spoken by m any m illions of
these circum stances a pidgin or creole, usually people as with Bahasa in Indonesia or Ma-
based on a m etropolitan language, m ay be laysia, then the locally used ‘world’ language
widely used as a lingua franca. m ay seem divisive or élitist as well as foreign.
In fact, it is now generally agreed that what-
3.4.2. A locally developed lingua franca ever the role of ‘world’ languages, language
policy planning should begin with the role of
Swahili in east Africa is the type exam ple. local languages in the daily lives of the people
Originally the language of the coastal people who speak them.
and, before this century, written in Arabic
script, it has been developed as a m odern 3.6.  The WCEFA noted three com m on but
lingua franca throughout eastern and parts of false assum ptions which often underlie dis-
central Africa. Now written in Latin script, it cussions about language choice.
has been adopted as the national language of
Tanzania and of Kenya. 3.6.1.  Multi lingualism is often seen as a bar-
rier to developm ent. But Singapore, with one
3.4.3. Predominant indigenous language of the world’s m ost successful econom ies, has
For exam ple Quechua, indigenous to the four official languages: English, Malay (Ba-
highlands of Peru, Ecuador and Bolivia, is hasa), Mandarin Chinese, Tam il. And all chil-
784 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dren m ust study one other official language in m any school system s. In som e countries
as well as their chosen medium of instruction. the language of adult literacy m ay be different
from that of the school; or the school system
3.6.2.  A ‘world’ language for all is often said m ay m ove at som e defined stage from a local
to be necessary, frequently by those who to a world or other official language. What-
speak one of them as t h e i r m other tongue. ever the local circum stances, parents certainly
But sm all countries in Europe have shown want for their children, and often for them -
that it is quite possible for education to be in selves, access to the languages of power in
the local languages a n d to have enough peo- business, commerce and government.
ple fluent in a ‘world’ language.
3.7.3.  It was noted in 3.6.1. above that bilin-
3.6.3.  Language patterns are often thought to gualism can be advantageous. Research in
be perm anent. But both patterns of language Northern Australian schools covering fifteen
use and languages them selves are constantly aboriginal languages has been conducted over
changing. The way in which both m igrants a sixteen year period. Evaluation of pupil
and refugees take up new languages and ei- progress has shown that by the seventh year,
ther discard or m odify their m other tongue, bilingual children did better in all tests, es-
often provides rapid insights into the ways in pecially English and m athem atics (UNESCO
which languages change everywhere, albeit 1992 a, 18).
more slowly.
3.7.4.  Literacy in all countries is always
3.7. Issues in language choice achieved in part through form al schooling.
However, educational program m es and m a-
3.7.1.  Use of a local or world language is still terials designed for children are unlikely to
a m atter of debate in som e countries. In m uch be suitable for adults without substantial
of francophone Africa there has been a m ove m odification. Where this can be achieved, the
to start literacy work in local languages and com m on use of resources for both children
to m ove from these to a local ‘national’ lan- and adults — even both groups learning to-
guage or to French. However, Guinea and gether — can be effective. But where both
Burundi have returned wholly to teaching in schools and adult education exist side by side
French after large scale experim ents with a using d i f fe r e n t m edia of instruction, then
national language. Other countries have m ade there are obvious difficulties in such a ration-
sim ilar but sm aller scale experim ents (e. g. alisation of resources.
Niger and Mali) without drawing firm con-
clusions (Sahel Countries 1990). Where any
world language is in contention, there are 4. International definitions and
serious political as well as practical difficulties strategies
in its use; political will and firm decisions at
the national level are essential in these circum - 4.1.  There were about 900 m illion illiterates
stances if the language issue is not to rem ain in 1985 and the absolute num ber is growing;
divisive. Experience in the Sahel countries m ost of these can be found in the third world
shows that m ore research is necessary in a (Table 63.1). In percentage term s the situation
num ber of areas: does initial learning in a is im proving, with the world illiteracy rate
local language help later cognition and ca- falling from 33% in 1970 to about 25% in
pacity in the official language; should the 1990 (→ art. 62). However, it is the growing
official language be the starting point and the absolute num bers and, within those, the
local language (if m ainly oral) be retained growing proportion of wom en (rising from
only for verbal com m unication; what effect 60% in 1970 to 63% in 1990) which continue
does either policy have on the com plem en- to cause concern (Lind & Johnston 1990, 21—
tarity of literacy and orality m entioned in 2.6. 22).
above? Whatever m ay be the answers which
em erge from further research, it should be 4.2.  The two m ain routes to literacy — firstly,
rem em bered that: language is constantly in prim ary education for all on its own and,
flux, and the desirable local options will be secondly, UPE plus large scale literacy for
heavily dependent on local contexts. adults, have already been referred to in 2.
above; Lind & Johnston (1990) call these the
3.7.2.  Parental choice and parents’ known ‘gradualist’ and ‘accelerated’ m odels. Histor-
dem ands are increasingly im portant factors ically, m ost of today’s developed countries
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 785

Table 63.1: Number of illiterates and illiteracy rate in 1985 for the adult population aged 15 and over
(Unesco 1985; reproduced in Lind & Johnston 1990, 22)
Absolute Illiteracy Female rate
number of rates minus male
illiterates (% points) rate
15 and over (% points)
(in millions) Total M F
World total 888.7 27.7 20.5 34.9 14.4
Developing countries 868.9 38.2 27.9 48.9 21.0
Least developed countries 120.8 67.6 56.9 78.4 21.5
‘Developed’ countries 19.8 2.1 1.7 2.6 0.9
Africa 161.9 54.0 43.3 64.5 21.2
Latin America 43.6 17.3 15.3 19.2 3.9
Asia 665.7 36.3 25.6 47.4 21.8

have relied on the gradualist UPE approach, UNESCO (1965 to 1975); an expanding con-
while the accelerated m odel was first tried in cept of functionality (1975 to 1980); and the
revolutionary USSR between 1919 and 1939, renewed/extended debates of the 1980s.
with illiteracy reduced from 70% to 13% in
twenty years (Bhola 1984; → art. 66). How- 4.5.  Up until the m id 1960s, adult literacy in
ever, the lack of progress towards UPE in developing countries was usually seen as part
m ost third world countries in the 1980s, of a wide range of sm all scale com m unity
largely because of econom ic m arginalization, developm ent activities designed to have a
gives little hope that the gradualist approach practical outcom e according to the ‘felt needs’
can be effective in m uch of the contem porary of the people concerned; the forerunner of
third world (UNESCO 1992 b). Continued the idea of literacy as part of ‘basic’ educa-
concentration on the education of adults as tion. Thus im provem ents in sanitation m ight
well as UPE is therefore likely to be necessary. be seen as m ore likely to endure (e. g. the use
of pit latrines) if opportunities were also pro-
4.3.  Definitions of literacy are as variable as vided for people to learn sim ple reading and
the concept itself and have also changed over writing skills, usually in the m other tongue.
tim e. UNESCO defines a literate person as In som e early program m es, literacy teaching
one “who with understanding can both read was not necessarily directly related to the
and write a short sim ple statem ent on his particular practical task — reading and writ-
everyday life”. This is perhaps the b a s i c lit- ing alone were thought to be enough. Later
eracy conceived as necessary fo r a l l at Jom - (1946) UNESCO used the term ‘fundam ental
tien. But UNESCO also defines a m ore active education’ (som etim es also called ‘social ed-
or fun c t i o n a l l i t e r a c y as enabling “all ucation’) to describe educational program m es
those activities in which literacy is required designed as a direct input to particular com -
for effective functioning of his group and m unity developm ent activities. In this ap-
com m unity and also enabling him to continue proach ‘felt needs’ cam e first and people were
to use reading, writing and calculation for his “taught to read and write only when they
own and the com m unity’s ‘developm ent’.” recognise that these skills are necessary to the
(UNESCO 1978). Both definitions beg m any fuller attainm ent of their purposes” (Gray
questions; but the latter does allow for the 1969, 17). The purposes were alm ost always
variability of concept referred to in 1 above. of a practical nature; and thus the idea of
However ‘functional literacy’ is itself a term functionality in literacy work began to evolve.
which has changed over tim e, especially from It was the failure of m uch of the sm all scale
its early use in the 1960s to an expanded ‘fundam ental’ approaches that led to the new
definition in the 1990s. (And see below 4.6.). UNESCO sponsored functional literacy,
given tangible and precise expression with the
4.4.  International work in literacy since 1945 1964 decision to launch the EWLP.
can be divided into four periods: ‘fundam en-
tal education’ (to 1964); the Experim ental 4.6.  From now on, literacy was to include
World Literacy Program m e launched by professional and technical knowlege as well
786 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

as reading and writing skills. And each liter- bution to the liberation of m an” and
acy program m e was to be linked to specific UNESCO could then assert: “... the concepts
econom ic developm ent projects. While one of of functionality m ust be extended to include
the long term aim s of the EWLP was the total all its dim ensions: political, econom ic, social
eradication of m ass illiteracy, functional lit- and cultural. Just as developm ent is not only
eracy was at that stage firm ly linked to the econom ic growth, so literacy ... m ust aim
dom inant developm ent ideology of the pe- above all to arouse in the individual a critical
riod, whereby all education, including adult awareness of social reality, and to enable him
literacy, was seen m ainly as an investm ent in or her to understand, m aster and transform
hum an capital; it was thought that this would his or her destiny.” (UNESCO/UNDP 1976,
have a direct effect on productivity and thus, 191). Paulo Freire was a leading participant
less directly on hum an welfare. The EWLP in the 1975 Sym posium and his early 1970s
extended over seven years and into eleven influence on the thinking of adult educators
countries. Over one m illion enrolm ents were was profound.
recorded, but only about 10% of these
achieved as m uch as the equivalent of m ore 4.8.  Since 1982 we can distinguish three
than two years of prim ary schooling. How- strands in international strategic thinking
ever, there were successes as well as costly about literacy: educaçion popular (m ainly in
failures. One kind of success was where an South Am erica); prom otion of the idea of
effective econom ic developm ent program m e m ass cam paigns (greatly influenced by the
was already under way, as with wheat farm ers literacy success of revolutionary regim es —
in Punjab (India) already engaged in creating USSR, Cuba, Nicuragua); and the incorpo-
the ‘green revolution’. The other was in Tan- ration of literacy into ‘basic education’ as
zania, where the lim ited, essentially technical promoted at Jomtien (see 2. above).
view of literacy as by itself sufficient to gen-
erate econom ic activity, was widened and 4.9.  The first two strands have been produc-
effectively taken over by the political m o- tively interactive. A series of conferences and
m entum of a successful m ass cam paign. publications in the 1980s (e. g. Bhola 1983 a;
(UNESCO/UNDP 1976) Carron Bordia 1985; Fordham 1985) pro-
m oted the target date of the year 2000 as the
4.7.  The purely technical view of functional one by which illiteracy would have been ‘erad-
literacy is no longer an im portant part of icated’ using an ‘accelerated’ m odel of literacy
international thinking. But ‘functionality’ still prom otion. And, as a consequence, 1990 was
form s a vital elem ent in the policy thinking chosen by the UN as International Literacy
of som e countries. For exam ple, India still Year (UNESCO 1989). There was som e dis-
lays great stress on it as an essential com po- appointm ent am ong literacy cam paigners at
nent of successful literacy work; but this is the outcom e of the 1990 WCEFA at Jom tien
often seen m ore broadly than in EWLP to (e. g. Torres in IDRC 1991), given the greater
include raising ‘awareness’. Developing coun- em phasis on quality in prim ary education at
tries will naturally wish to be functional; but that event. And in the 1990s there is now
they also wish to redefine and extend the idea m ore specific interest in wom en’s literacy
to try and ensure success. The narrow ap- (Bown 1990; Malm quist 1992; DCE/INCED
proach to functionality was in fact being at- 1992).
tacked even as UNESCO was prom oting it;
and from two directions. The first depended
on changing ideas of what would be effective 5. Variations in literacy strategies
in international developm ent strategies to re-
place the growth and hum an capital ap- 5.1.  Reference to different international strat-
proaches of the 1960s, while the second was egies has been m ade in previous sections.
broadly political and given powerful expres- Those prom oted since the 1960s m ay be clas-
sion for adult educators in the writings of sified as: functional literacy (as variously de-
Paulo Freire (Freire 1972 a; 1972 b; 1976). fined nationally and over tim e, and som etim es
The effect of these two changes in attitude referred to as ‘selective — intensive’); conscien-
was clearly seen in the 1975 International tization; and m ass cam paigns; this is a clas-
Sym posium for Literacy which produced the sification which reflects em phasis rather than
m uch quoted Declaration of Persepolis (Ba- exclusive approaches. In the 1980s there have
taille 1976), where literacy becam e “a contri- been other general state program m es which
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 787

attem pt to com bine elem ents of experience political im plications (e. g. Freire’s own work
from the other three approaches (Arnove & in 1964 Brazil and the Swedish inspired work
Graff 1987). in Portugal in 1976) — but the influence of
Freire’s thinking on other literacy work has
5.2. Functional literacy been extensive. Learner centred, participatory
literacy work am ongst non-governm ental or-
This was the approach of EWLP (4.6. above), ganisations has been a noteworthy develop-
but with the broadening out of the definition m ent in m any countries and, in Latin Am er-
of functionality to include awareness (as in ica, has m ade a m ajor contribution to the
the Indian 1979 com paign, see Fordham m uch wider educaçion popular m ovem ent
1980, 14—15), the approach continues to be (Archer & Costello 1990).
used widely and in m any different form s. In-
deed, ‘functional’ now seem s to cover alm ost 5.4. Mass campaigns
all aspects of basic skills training to the point
where it is seen both as self-justifying and the The m ost successful of all efforts to prom ote
m eans to achieve a m ultiplicity of desirable third world literacy have been certain of the
outcom es such as em ploym ent, job creation, m ass cam paigns: Vietnam (1945 onwards),
social cohesion or personal advancem ent. Cuba (1961), Tanzania (1971) Iraq (1978),
Many of these will be unrealistic within any Nicaragua (1979). For exam ple, Cuba and
particular programme (Levine 1982). Nicaragua m ade dram atic reductions in illit-
eracy over periods of less than two years
5.3. Conscientization (24% to 4% and 50% to 13% respectively),
while others (e. g. Tanzania) have achieved
The approach is closely associated with the sim ilar success over a longer period or (e. g.
work and writings of Paulo Freire whose early Vietnam ) by carrying out a planned series of
adult literary work in Brazil in the 1960s cam paigns (Bhola 1984; 1983 a; UNESCO
helped give rise to a num ber of works which 1965; Torres 1985; Miller 1985). The success
cover a wide philosophical range in hum an of these cam paigns led m any literacy enthu-
nature, hum an consciousness, oppression and siasts to argue that m ass cam paigns were to
liberation (1972 a; 1972 b; 1976). The im por- be preferred as the m ain strategy for literacy
tance of conscientization lies not so m uch in prom otion. At an International Sem inar on
particular program m es as in the inspiration Cam paigning for Literacy the ‘Udaipur Dec-
offered to radical educators and religious laration’ asserted that only “specific cam -
non-governm ental organisations, especially paigns with clearly defined targets can create
from the 1970’s onwards. Key concepts are the sense of urgency, m obilise popular sup-
d i a l o g u e and p a r t i c i p a t i o n, both of port and m arshall all possible resources to
which have becom e keywords for educators sustain m ass action, continuity and follow
of adults. The Freirean approach begins with up” (Bhola 1982 a, 245 para 2). It was also
an investigation — together with the people asserted in the Udaipur Declaration that a
— into the culture, politics, econom y, society cam paign “m ust be seen as a necessary part
and language of the area. ‘Codified pictures’ of a national strategy for overcom ing poverty
leading to generative words are built up to and injustice” (para 3); and this them e was
stim ulate discussion and awareness of im por- subsequently developed by Bhola (1983 b)
tant aspects of the people’s daily lives. Critical into an analysis which claim ed that literacy
reflection on this reality, rather than the rote should not m erely lead to prosperity for som e,
learning of sym bols, words and phrases is but also to greater social justice and em pow-
designed to lead to a literacy which is liber- erm ent for the poor (Fordham 1985, 30). The
ating rather than dom inating (Freire 1972 b). key factor in all of the successful m ass cam -
Freire has consistently denied that his work paigns has been recent revolutionary (e. g.
leads to a specific m ethodology, and has never Cuba) or radical (e. g. Tanzania) change in
m ade com m ents on organizational or adm in- the nature of Governm ent and its determ i-
istrative issues. The role of the educator is to nation to re-order the distribution of power
engage in dialogue with illiterates about their and wealth in the society: for this universal
‘reality’, and to offer them tools with which literacy has been seen as a sine qua non. In
they can teach them selves. Prim ers im posed m uch of the recent literature this key factor
from above are not appropriate. It is not so often re-appears in the phrase ‘political will’
m uch specific Freirean projects which can be (UNESCO 1992 a, 25) and is then applied
said to be successful — indeed several have m ore widely to include non-revolutionary ré-
been closed by governm ents because of their
788 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

gim es. But there is a general recognition that size and this often leads to better nutrition
the rapid creation of m ass literacy does lead and child care and to reduced child m ortality.
to social change, and political will is certainly Even m ore striking is the influence of wom -
necessary to accom m odate to it and help to en’s literacy on the intellectual developm ent
direct it. (For a full analytical account of of children and their attendance and success
various literacy strategies see Lind & John- in school. A study of the Gusii in Kenya of
ston 1990, Chapter 9). those with seven years schooling and those
with none illustrates these differences. The
educated m others provided the stim ulus of
6. Literacy for women hom e reading while the illiterate m others did
not. This in turn m eant that the children of
6.1.  During the 1980s there was increasing educated m others better start in school in
em phasis on wom en as the m ost im portant com parison with the others (UNESCO
focus of literacy for increased social justice 1992 b, 8). Finally, as Bown notes, (1990, 4)
and em powerm ent. Very recently this has the personal effects of wom en’s literacy are
received widespread expression in a num ber profound and include: a greater readiness to
of publications which look at global trends influence fam ily decisions; greater access to
and review a range of recent experience social and econom ic activities; new capacities
(Bown 1990; Lind 1990; Chlebowska 1990; for leadership and a readiness to organise
UNESCO 1992 b; Malm quist 1992). The gen- against injustice.
der gap in education is well docum ented. For
exam ple, in fourteen developing countries
where literacy data are available, only one in 7. Research
five adult wom en can read, whereas the lit-
eracy rates for m en are as low in only five of 7.1.  Considering the prom inence given to the
these countries. And despite im proved pri- prom otion of a d u l t literacy in the third
m ary school enrolm ents in the 1970s and world, there is still a startling im balance be-
1980s, the lowest incom e countries had a pri- tween the work done on child reading and
m ary school enrolm ent rate for boys which writing and that on adults; the latter is sparse
was 20 percentage points higher, on average, and not well coordinated, while the form er is
than that of girls throughout this period extensive. However m ost existing research
(UNESCO 1992 b, 9—10). studies derive from the industrialized world
which has based its m ain literacy efforts on
6.2.  The Jom tien Conference (1990) asserted prim ary education — the ‘gradualist’ m odel
that the m ost urgent priority in basic educa- noted in 4.2. above. Moreover, research and
tion was “to ensure access to, and im prove especially funding for research, is still dom i-
the quality of, education for girls and wom en nated by these sam e countries (Lind & John-
...” (World Declaration Article 3.3.) and this ston 1990, 25; Gray 1969; Wagner 1987;
has been taken up by a num ber of national 1990). Experim ental studies like that of the
governm ents. For exam ple, the British Min- EWLP evaluation m entioned in 1.7. above
ister of Overseas Developm ent was quick to are rare in this field, although donor agencies
assert that “we shall ensure that wom en’s increasingly dem and som e kind of evaluation
literacy and other issues of wom en in devel- which m easures program m e achievem ents
opm ent are m andatory criteria in assessing against pre-determ ined objectives (Preston
our program m es.” (Bown 1990, 46). The 1991). Lind’s analysis of the Mozam bican
benefits of reducing the gender gap in literacy cam paign (1988) and Jennings’ work on
m ay be analysed as positive for: the econom y, Bangladesh (1990) are unusual both in their
fam ily size, fam ily welfare, the education of thoroughness and in their attem pt to set the
children and women’s autonomy. local efforts in the context of work elsewhere.

6.3.  Wom en as producers have often been 7.2.  There is a distinctive contribution to
ignored. But in Africa, for exam ple, they con- m ethodology which stem s directly from the
stitute 46% of the labour force. The link work of activists in adult literacy, nam ely
between farm er education and farm er effi- p a r t i c i p a t o r y research. This builds on the
ciency suggests that m ore literacy for wom en work of Paulo Freire and of his followers in
would be expected to lead to greater agricul- program m es of educaçion popular in South
tural yields. There is usually an inverse cor- Am erica (Erasm ie & de Vries 1981) and has
relation between fem ale education and fam ily also been used in Asia and Africa (Kassam &
63.  The Promotion of Literacy in the Third World 789

Mustafa 1982). In this approach there is not Fam ily: Two Essays in Non-Form al Education.
only an attem pt to m axim ise the involvem ent Oxford.
of intended learners in com m unity surveys, DCE/INCED Paper 11 1992. Wom en’s Literacy
but also to use them as evaluators of their for Development. University of Warwick.
own learning and its social effects. Freirean Erasm ie, Thord & De Vries, P. (ed.). 1981. Partic-
praxis through action, reflection and action ipatory Research. Linköping University.
is intended to achieve continuous im prove- Fordham , Paul E. 1980. Participation, Learning
m ent in the attainm ent of program m e objec- and Change. London. Commonwealth Secretariat.
tives.
—. 1985. One Billion Illiterates: One Billion Rea-
sons for Action. Bonn/Toronto, DSE and ICAE.
7.3.  That the research needs outlined by the
International Council for Adult Education in —. 1988. Finding the Magic Mom ent for Literacy.
1979 are still current is a reflection of how In: Viewpoints 8. London. Adult Literacy and Ba-
lim ited has been the progress in research in sic Skills Unit.
subsequent years. Lind & Johnston (1990, Fox, John, Fordham , Paul & Usher, Robin. 1986.
130—132) suggest the following as ‘crucial’ Adult Educators from Africa, Issues in Training.
areas for the im m ediate future: the im pact Southampton University.
and use of literacy; language issues; m obili- Freire, Paulo. 1972 a. Pedagogy of the Oppressed.
sation and training of volunteer teachers; cur- Harmondsworth.
ricula, content and m ethods; drop-outs (wast- —. 1972 b. Cultural Action for Freedom . Har-
age); quality versus quantity; post-literacy; mondsworth.
and sponsorship/organisation. Finally, it —. 1976. Education: The Practice of Freedom .
should be said that the variability noted in London.
para 1 of this paper will inevitably m aintain Gray, W. S. 1969. The Teaching of Reading and
its own dynam ic for change in the research Writing. Paris, UNESCO.
agenda. Gillette, Arthur & Ryan, John. 1983. An Overview
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Geneva.
790 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Lind, Agneta & Johnston, Anton. 1990. Adult Lit- Torres, Carlos. 1991. A Critical Review of the Ed-
eracy in the Third World: A Review of Objectives ucation for All (EFA) Background Docum ents. In:
and Strategies. Stockholm, SIDA. IDRC 1991.
Malm quist, Eve. (ed.). 1992. Wom en and Literacy UNESCO 1965. Methods and Means Utilized in
Development in the Third World. Linköping. Cuba to Eliminate Illiteracy. Paris.
Miller, Valerie. 1985. Between Struggle and Hope: —. 1978. Records of the General Conference. Res-
The Nicaraguan Literacy Crusade. Boulder, Colo- olutions. Vol I. Paris.
rado. —. 1989. Plan of Action to Eradicate Illiteracy by
Mpogolo. 1990. A Nationwide Literacy Cam paign: the Year 2000. Paris.
the Tanzanian Experience. In: International Bureau —. 1992 a. Education for All: Purpose and Context.
of Education, Literacy Lessons. Geneva. WCEFA Monograph I. Prepared by Sheila Haggis.
Preston, Rosem ary A. 1991. The Monitoring and Paris.
Evaluation of Adult Literacy and Basic Education —. 1992 b. Education for All: An Expanded Vision.
Program m es: Towards an Interactive Approach. WCEFA Monograph II Prepared by Paul For-
DCE/INCED Paper 10. Warwick University. dham. Paris.
Street, Brian V. 1984. Literacy in Theory and Prac- UNESCO/UNDP 1976. The Experim ental World
tice. Cambridge. Literacy Programme: A Critical Assessment. Paris.
—. 1990. Cultural Meanings of Literacy. In: Inter- Wagner, Daniel A. 1990. Literacy and Research:
national Bureau of Education, Literacy Lessons. Past, Present and Future. In: International Bureau
Geneva. of Education. Literacy Lessons. Geneva.
Sahel Countries, Ministers of Education. 1990. To- —. (ed.). 1987. The Future of Literacy in a Chang-
wards a Plan of Action for the Sahel Countries. ing World. Vol I. Oxford, Pergamon Press.
Papers Presented at WCEFA. Bamako. World Conference on Education for All (WCEFA).
Torres, Rosa Maria. 1985. Nicaragua: Revoluçion 1990. World Declaration. New York.
Popular — Educaçion Popular. Mexico.
Paul E. Fordham, Coventry (Great Britain)

64. UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

1. Introduction: International Literacy Year unable or unwilling to introduce such m assive


1990 change. While UNESCO had prom oted what
2. The literacy situation in the world it called the “m ass literacy cam paign” ap-
3. The changing political and economic climate proach in its early years, it turned to a m ore
4. Literacy/illiteracy in international perspective targeted strategy, called “functional literacy”
5. Literacy efforts: The approaches program m es in the m id 1960s and early
6. Future prospects for literacy 1970s. When learners in these latter pro-
7. References gram m es discovered that the only “function-
ality” involved was to m ake them better
workers, the m ajority of these experim ents
1. Introduction: failed. UNESCO’s approach since that period
International Literacy Year 1990 has been to provide technical expertise and
International Literacy Year 1990 has pro- advice according to specific needs in specific
vided the opportunity to look critically at contexts is an indication of the world com -
forty years of efforts to prom ote literacy and m unity’s pulse in recent years. No single so-
education in general as basic hum an rights. lution can be applied across countries. Pro-
As an intergovernm ental agency, UNESCO gram m es and strategies m ust em anate from
has prodded and pushed, but above all, has perceived needs within individuals and their
served as a m irror of the state of the world’s communities.
conscience and com m itm ent in the field of But as we m ove away from sim ple recipes
literacy. After a period of initial optim ism and slogans to, for exam ple, “eradicate illit-
and confidence in governm ents’ will to intro- eracy by the year 2000”, we have to convey
duce education m assively to all, the Organi- a m ore com plex m essage. First of all, the
zation found that m ost countries were sim ply fundam ental m essage of International Liter-
790 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Lind, Agneta & Johnston, Anton. 1990. Adult Lit- Torres, Carlos. 1991. A Critical Review of the Ed-
eracy in the Third World: A Review of Objectives ucation for All (EFA) Background Docum ents. In:
and Strategies. Stockholm, SIDA. IDRC 1991.
Malm quist, Eve. (ed.). 1992. Wom en and Literacy UNESCO 1965. Methods and Means Utilized in
Development in the Third World. Linköping. Cuba to Eliminate Illiteracy. Paris.
Miller, Valerie. 1985. Between Struggle and Hope: —. 1978. Records of the General Conference. Res-
The Nicaraguan Literacy Crusade. Boulder, Colo- olutions. Vol I. Paris.
rado. —. 1989. Plan of Action to Eradicate Illiteracy by
Mpogolo. 1990. A Nationwide Literacy Cam paign: the Year 2000. Paris.
the Tanzanian Experience. In: International Bureau —. 1992 a. Education for All: Purpose and Context.
of Education, Literacy Lessons. Geneva. WCEFA Monograph I. Prepared by Sheila Haggis.
Preston, Rosem ary A. 1991. The Monitoring and Paris.
Evaluation of Adult Literacy and Basic Education —. 1992 b. Education for All: An Expanded Vision.
Program m es: Towards an Interactive Approach. WCEFA Monograph II Prepared by Paul For-
DCE/INCED Paper 10. Warwick University. dham. Paris.
Street, Brian V. 1984. Literacy in Theory and Prac- UNESCO/UNDP 1976. The Experim ental World
tice. Cambridge. Literacy Programme: A Critical Assessment. Paris.
—. 1990. Cultural Meanings of Literacy. In: Inter- Wagner, Daniel A. 1990. Literacy and Research:
national Bureau of Education, Literacy Lessons. Past, Present and Future. In: International Bureau
Geneva. of Education. Literacy Lessons. Geneva.
Sahel Countries, Ministers of Education. 1990. To- —. (ed.). 1987. The Future of Literacy in a Chang-
wards a Plan of Action for the Sahel Countries. ing World. Vol I. Oxford, Pergamon Press.
Papers Presented at WCEFA. Bamako. World Conference on Education for All (WCEFA).
Torres, Rosa Maria. 1985. Nicaragua: Revoluçion 1990. World Declaration. New York.
Popular — Educaçion Popular. Mexico.
Paul E. Fordham, Coventry (Great Britain)

64. UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy

1. Introduction: International Literacy Year unable or unwilling to introduce such m assive


1990 change. While UNESCO had prom oted what
2. The literacy situation in the world it called the “m ass literacy cam paign” ap-
3. The changing political and economic climate proach in its early years, it turned to a m ore
4. Literacy/illiteracy in international perspective targeted strategy, called “functional literacy”
5. Literacy efforts: The approaches program m es in the m id 1960s and early
6. Future prospects for literacy 1970s. When learners in these latter pro-
7. References gram m es discovered that the only “function-
ality” involved was to m ake them better
workers, the m ajority of these experim ents
1. Introduction: failed. UNESCO’s approach since that period
International Literacy Year 1990 has been to provide technical expertise and
International Literacy Year 1990 has pro- advice according to specific needs in specific
vided the opportunity to look critically at contexts is an indication of the world com -
forty years of efforts to prom ote literacy and m unity’s pulse in recent years. No single so-
education in general as basic hum an rights. lution can be applied across countries. Pro-
As an intergovernm ental agency, UNESCO gram m es and strategies m ust em anate from
has prodded and pushed, but above all, has perceived needs within individuals and their
served as a m irror of the state of the world’s communities.
conscience and com m itm ent in the field of But as we m ove away from sim ple recipes
literacy. After a period of initial optim ism and slogans to, for exam ple, “eradicate illit-
and confidence in governm ents’ will to intro- eracy by the year 2000”, we have to convey
duce education m assively to all, the Organi- a m ore com plex m essage. First of all, the
zation found that m ost countries were sim ply fundam ental m essage of International Liter-
64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy 791

acy Year has been that literacy m atters and investm ent. As m atters currently stand, how-
it m atters greatly. Also, literacy is everyone’s ever, there are sim ply no truly reliable statis-
concern. The num ber one responsibility re- tics which can be used for cross-national com -
m ains that of the public sector but there is a parison, let alone for ranking one country as
place for every actor in a larger alliance to m ore successful than another (→ art. 62). Lit-
prom ote a fully literate world: the state, the eracy acquisition is a m ore com plex issue than
private and voluntary sectors, non form al ed- is that of counting doses of vaccine m ade
ucation, non governm ental organizations, available in a particular country. Unfortu-
business, the m edia, com m unity groups and nately, the language of international organi-
so forth. Unfortunately, it is not easy to find zations, such as UNESCO, has in som e ways
a clear language to com m unicate across coun- contributed to the confusion. The work of
tries and to all sectors of society. Too fre- UNESCO, as well as that of other providers,
quently, international organizations have de- is frequently broken up into program m es or
veloped a special language to talk about lit- projects. These projects or program m es m ay
eracy which gets in the way of international have a life-span of a few m onths or a few
understanding. Then, the m edia have fre- years. The first phase is usually called the
quently presented a fairly unrepresentative “literacy program m e”. What com es next is
stereotype of the individual who has insuffi- called “post-literacy”. Young people or adults
cient basic skills. In reality, an individual who who have participated in program m es or
lacks sufficient basic skills to m eet his or her schooling and who do not sustain their skills
own needs is usually a fully functioning fam ily are said to “relapse into illiteracy” as if they
m em ber with responsibilities and/or a person had acquired a dose of knowledge and then
who perceives need in term s of em ploym ent lost it. This approach m ystifies our under-
possibilities. That person is not ignorant. standing of what is really going on and, of
Such individuals who com e forward to de- course, contributes to blam ing the victim .
velop their literacy and num eracy skills know First of all, learning to read and write is a
precisely who they are and what they want com plex process which goes far beyond sim -
to learn as a result of personal life and fam ily ply de-coding the alphabet. All individuals do
goals. not learn at the sam e speed or by the sam e
We would like to get beyond this negative m ethods. It is thus m ore accurate to speak of
approach. We would like to work with adult young people or adults who leave school or
learners to form ulate their learning goals. In literacy program m es with fragile basic skills.
the case of som e peoples, it is a m atter of These skills are not sustainable for a variety
seeing how best oral cultures can be enhanced of reasons. But there is no question of a
and com plem ented by literacy. It is certainly “relapse”. Secondly, what is readily called
not a m atter of one replacing the other. In “post-literacy” is really a provision of appro-
other instances access to the written word priate tuition or reading m aterials to enable
involves a form of bilingualism : for exam ple the further developm ent of basic skills. It is
the deaf who m aster sign language live in and not, however, an autonom ous state of being
com m unicate within an authentic culture of which can be objectively identified. This con-
the deaf. They m ust have access to the written fusing language also plagues adult basic skill
word to participate in the world of the hear- provision in countries where it is closely
ing. Num erous exam ples could be given of linked to labour m arket insertion initiatives.
groups whose right to the written word has The unem ployed are frequently entitled to a
not been fully recognized. certain num ber of hours of training and that
Another challenge in addition to that of legal allowance tends to define the content of
com m unication is to clearly define what we learning. Work-place program m es also tend
are really talking about. Unfortunately, the to respond to other agenda than those which
pressure to speak sim plistically is enorm ous. reflect a learners’ aspirations or reality.
That pressure has been felt at som e tim e or Am ong the objectives for International Lit-
the other by all literacy pracitioners. On the eracy Year, a high-level national com m itm ent
one hand, teachers of children and adult ed- to ensure a fully literate society was forem ost.
ucators are m ore concerned with identifying It is essential that a longterm partnership be
needs and responding but the call for account- forged to keep literacy and basic education
ability and statistics is overwhelm ing. Fund- as hum an rights on national agendas around
ing agencies want to see how their m oney is the world. Advocacy and m obilization under-
being spent and evaluate the efficiency of their taken during 1990 will be judged by the kinds
792 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

and quality of longterm com m itm ent we have erates in the year 2000, representing 22 per
been able to ensure. In som e countries, this cent of the adult population. In this sam e
com m itm ent has taken the form of national year, all but 23.5 m illion of the 942 m illion
legislation to ensure basic skill acquisition for illiterates will be found in the developing
all, children and adults alike. In other coun- countries. The decrease in the absolute num -
tries, where recognition of literacy needs and ber of illiterates will be observed only in de-
weaknesses in the form al education system is veloping countries of Eastern Asia (which
just em erging, progress has to be gauged in includes China), in Latin Am erica and the
other term s. We judge ourselves by how ad- Caribbean, and in the industrialized coun-
equately we have really analyzed specific con- tries.
texts and taken a step forward. That step
forward is necessarily different from group to Adult Illiterates* 1985 1990 2000
group, from country to country and from one (in millions)
form of international cooperation to another. World total 965.1 962.6 942.0
We can m easure our success by our own flex- Developing countries 908.1 920.6 918.5
ibility in learning from settings in countries in the regions of:
of the South as well as countries of the North; Sub-Saharan Africa 133.6 138.8 918.5
by recognizing that we can all learn from each Arab States 58.6 61.1 65.8
other. Respect for diversity m ust be a long- Latin America and 44.2 43.5 40.9
term goal, even when im m ediate priorities the Caribbean
have to be tailored to suit hum an and finan- Eastern Asia 297.3 281.0 233.7
cial resources. Southern Asia 374.1 397.3 437.0
A last but critical elem ent of International Developed countries 57.0 42.0 23.5
Literacy Year was the role of new voices. The
aspirations of adult learners have been re- Illiteracy Rates** 1985 1990 2000 %
flected for the first tim e in the international (percentages)
debate. A m ajor exam ple, the Book voyage of World total 22.9 26.9 22.0 — 7.9
learners’ writing, has been both a sym bolic Developing countries 39.4 35.1 28.1 — 11.3
gesture and a forceful statem ent in favour of in the regions of:
the em powerm ent of all. There is now a col- Sub-Saharan Africa 59.1 52.7 40.3 — 18.8
lective responsibility to ensure that learners, Arab States 54.5 48.7 38.1 — 16.4
young and older alike, have a voice in shaping Latin America and 17.6 15.2 11.3 — 6.3
their futures. We should not subm it to the the Caribbean
discourse which argues that an increasingly Eastern Asia 28.7 24.0 17.0 — 11.7
technological world will require a flexible Southern Asia 57.7 53.8 45.9 — 11.8
work-force able to adapt to its needs and Developed countries 6.2 4.4 2.3 — 3.9
requirem ents. Rather, we should provide ed-
ucational opportunities which enable real Table 64.1:Adult illiterates and illiteracy rates for
choice as to whether specific technological both sexes, Years 1985, 1990, 2000. % = Decrease
innovation is really in the best interest of 1985—2000
humanity. Note: The foregoing are preliminary results. Coun-
tries and territories with less than 300,000 inhabi-
tants have not been taken into account. Some coun-
2. The literacy situation in the world tries are classified at the same time as Sub-Saharan
Africa and as Arab States.
The Unesco Office of Statistics regularly an-
alyzes the literacy situation in the world as * Adults = those age 15 and over
well as a num ber of other indicators of par- ** Percent of population over age 15 that are illit-
ticipation in education. In Novem ber 1989, it erate
com pleted such an analysis. Table 64.1 illus-
trates the m ajor findings. The num ber of Source: Unesco Office of Statistics, 1990
adult illiterates (15 years old or above) in
1985 was estim ated at 965 m illion, with the The world illiteracy rates were also pro-
worldwide illiteracy rate 29.9% of all adults. jected to decline from 29.9% in 1985 to 26.9%
That figure was expected to decrease to 962.6 in 1990 and to 22% in 2000. However, there
m illion by 1990. Thus, the num bers should is considerable variation in the extent of this
continue to decline slowly. Yet if past trends decline between different groups of countries.
continue, there will still be 942 m illion illit- For exam ple, between 1985 and 2000, the rate
in Sub-Saharan Africa is expected to drop
64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy 793

18.8 percentage points com pared to 16.4 per- 3. The changing political and
centage points for the Arab States, 6.3 for economic climate
Latin Am erica and the Caribbean, and ap-
proxim ately 12 points for both Eastern and This brings us to the political and econom ic
Southern Asia. clim ate worldwide and how it affects the qual-
In the developing countries in 1990, adult ity and quantity of educational provision.
illiteracy rates were highest in Southern Asia Doing so helps us to situate efforts to ensure
(53.8%), followed by Sub-Saharan African the developm ent of a fully literate world.
(52.7%), Arab States (48.7%), Eastern Asia Looking back, we find the 1960s and early
(24%), and Latin Am erica and the Caribbean 1970s were a period of optim ism concerning
(15.2%). This ranking is expected to rem ain the value of education to enhance the life
valid in the year 2000, although individual chances of all young people. The world en-
rates will likely decrease. joyed a period of enorm ous educational ex-
In 1990 the illiteracy rates were estim ated pansion as well as innovation in the form of
to be higher than 40% in 49 countries, 30 of com pensatory m easures to ensure equality of
them in Sub-Saharan Africa. If this trend is opportunity. The dem ocratization of educa-
not m odified, in the year 2000 there will still tion m ovem ent guided m ajor policy shifts in
be 33 countries in the sam e situation, 22 of both industrialized and developing countries.
them in Sub-Saharan Africa. But with the onset of econom ic recesssion
These figures do not distinguish between about 1974, governm ents began looking m ore
m en and wom en who are illiterate. Invariably, closely at the social sector as a whole. Edu-
however, wom en have higher rates of illiter- cation loom ed up as the m ost probable area
acy, and the differences in percentage points for saving. Why education? As Keith Lewin
between the sexes are quite large in Africa in a study for UNESCO has pointed out:
and Asia (21 points in 1985) but m uch sm aller Social sector spending is m ore likely to be under
in Latin Am erica and the Caribbean (4 dom estic control than, say, debt servicing and is
points). These figures on adult illiteracy in therefore m ore im m ediately susceptible to govern-
the world do not take account, of course, of m ent action. Second, as one of the largest segm ents
the m ore than 140 m illion school-age children of social expenditure, it presents itself as having
who have never attended any form al or non- the greatest potential for substantial savings. Third,
form al educational institution. Nor do they where econom ic policy favours a dim inution in the
take account of a sim ilar num ber of children role of the state and lim itation in the service that
who drop-out prior to com pleting four years it is responsible for, social services as a whole are
of prim ary schooling. Further, they m ake no likely to be vulnerable. Finally, where short-term
reference to the uncalculated num bers of chil- planning horizons are dom inant, it is those sectors
dren who have seen the quality of their pri- which have long lead tim es and long-term benefits
m ary schooling severely eroded as a result of that appear least attractive (Lewin 1986, 223).
persistent economic austerity. These views continue to dom inate policy
A final note. UNESCO statistics are based m aking in num erous industrialized and de-
on figures provided by governm ents of its veloping countries.
Mem ber States. They are usually based on The 1980s were particularly hard on the
census data. Thus, the Office of Statistics m ay poorest countries, indeed on poor people
be using data collected at different tim es in everywhere. In m ore than half of the least-
different countries. The census inform ation developed countries, per pupil expenditure on
m ay be based on a sim ple question, such as prim ary education declined in real term s to
“How m any people in your household can the point that the education system s are on
read or write?” What is m eant by literacy the verge of collapse. A UNESCO study
and illiteracy m ay be different or unclear. which appeared in 1990 showed that prim ary
Therefore, it is im portant to recall that these education enrolm ent is dropping in one out
figures should be treated with caution. They of every five developing countries. In som e
do not provide a valid ranking of countries African nations, prim ary school student num -
and are only roughly com parable. They in- bers declined between 1980 and 1985 by as
dicate broad trends; the m ethodology to pro- m uch as one-third. Policies to restructure
ject these trends is constantly being refined econom ies, devised to deal with the debt cri-
(→ art. 62). sis, are contributing to this educational de-
terioration. Even when inflation is taken into
account, educational spending per prim ary
794 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

school student has declined over the last dec- m ultilateral aid agencies have prepared m ajor
ade in half of the world’s countries. strategies to assist countries in providing bet-
The quality of education is also suffering. ter and more educational opportunity.
For exam ple, two-thirds of the teachers in
developing countries currently receive lower
salaries than they did in 1980. Class sizes have 4. Literacy/illiteracy in
expanded. It is m ore com m on to see 60 pupils international perspective
in a classroom in Africa than the exception. Having set the stage, we should now look
In a num ber of developing countries, there is m ore closely at what the international litera-
evidence that parents no longer perceive ture tells us about definitions of literacy and
school attendance as valuable. This state of illiteracy. The definitions can be grouped in
affairs was not the case during the 1960s and three broad categories: those which view lit-
early 1970s, even in developing nations. In eracy as a set of basic skills; those which view
those earlier decades, Sub-Saharan Africa literacy as the necessary foundation for a
alone doubled its school enrolm ent from 20 higher quality of life; and those which view
to 46 million pupils. literacy as a reflection of political and struc-
The current clim ate has been described by tural realities.
Eric Hewton (1986) in Education in Recession For gathering the literacy statistics with
as one in which a “cutback culture” prevails which we began this chapter, UNESCO pro-
in the industrialized countries. There is am ple vided the following guidelines to its m em ber
evidence to show that m ost of the support states in the 1978 “Unesco Revised Recom -
system s put in place in the 1960s have been m endation Concerning the International
seriously cut — rem edial education, com pen- Standardization of Educational Statistics”.
satory program m es, and school m eals. Class The following definitions should be used
sizes have increased in the industrialized for statistical purposes:
nations, especially in the early elem entary
grades and lower secondary schooling. In ef- (a) A person is literate who can with under-
fect, it is these critical years for basic-skill standing both read and write a short sim-
acquisition which have been most hard hit. ple statement on his everyday life.
Each continent has a growing body of lit- (b) A person is illiterate who cannot with
erature recording the waste of untapped hu- understanding both read and write a
m an potential. In Latin Am erica, structural short simple statement on his everyday
adjustm ent policies have led to what is called life.
a “lost generation”. Hence, it is not surprising (c) A person is functionally literate who can
that broad literacy projections reflect the fact engage in all those activities in which lit-
that the world is not progressing at the sam e eracy is required for effective functioning
pace as in the preceeding period. of his group and community and also for
On the other hand, the geopolitical clim ate enabling him to continue to use reading,
of the world is changing rapidly before our writing and calculation for his own and
eyes. The growing trend towards cooperation the community’s development.
between the United States of Am erica and (d) A person is functionally illiterate who
the states of the form er Soviet Union opens cannot engage in all those activities in
up opportunities for governm ents to recon- which literacy is required for effective
sider national priorities. The m ovem ent of functioning of his group and community
Western Europe towards the elim ination of and also for enabling him to continue to
m any econom ic and legal barriers in 1992 and use reading, writing and calculation for
the rapid changes taking place in Eastern his own and the community’s develop-
Europe are providing new possibilities to re- ment.
adjust national goals. Throughout the world, This attem pt to give som e guidance to the
countries can now seriously consider reduc- international com m unity in order to have
tions in arm s expenditures and can place ed- globally accepted definitions has proved dif-
ucation back on national agendas for high- ficult to apply. The guidelines were intended
level public com m itm ent. It is also tim ely that to be used in the collection of statistics either
the United Nations declared 1990 Interna- through a national census or through a stan-
tional Literacy Year. UNESCO and the other dardized test. In m any countries, the guide-
agencies of the United Nations System , the lines have sim ply proven unusable. Countries
World Bank, and num erous bilateral and
64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy 795

such as Canada and the United States usually work force without concern for the needs and
refer to grade-level or num ber of years of goals of individuals.
schooling as a reflection of literacy levels. In the later 1980s, the term functional lit-
Other countries, particularly in the develop- eracy/illiteracy led to another set of difficul-
ing world, look to school enrolm ent indica- ties which illustrates the problem of discuss-
tors to give som e idea of how m any people ing literacy in an international setting. A large
have been given at least som e opportunity to num ber of industrialized countries have been
learn to read and write. Each of these types reluctant to recognize that there are sizable
of indicators has its shortcom ings. When lit- num bers of young people and adults in their
eracy skills are m easured by grade-level, it is populations who are either com pletely illit-
usually assum ed that a standardized test can erate or who possess very little m astery of the
be used to evaluate a reading level associated written word (→ art. 73). Countries such as
with a particular grade. However, these tests Canada, the United States, and Great Britain
have been strongly criticized as arbitrary and have been addressing the problem in various
insufficient when they are the sole criterion degrees for m any years (Hunter & Harm an
for m easuring attainm ent (Anderson et al. 1979; Lim age 1986; 1990). Countries such as
1985; Owen 1985). France, the Federal Republic of Germ any,
School-enrolm ent indicators also provide and the Nordic nations only officially recog-
incom plete inform ation. They do not ade- nized this issue in the early and m id-1980s.
quately reflect how m any children repeat a Indeed, m any people in these and other in-
year of schooling, how m any children drop- dustrialized countries have found it difficult
out along the way, or anything about the to accept the idea that nations which have
quality of the instruction they receive had obligatory schooling for m ore than one
(Coombs 1985). hundred years can possibly have illiterates in
Another approach to defining literacy was their populations (Lim age 1975; 1990). In ad-
introduced by UNESCO in the late 1960s and dition, there is a strong reluctance for people
early 1970s with the Experim ental World Lit- to look at what is going on in schools which
eracy Program m e (EWLP). The term “func- m ight affect children’s learning, or that affect
tional literacy” becam e associated with work- their not learning, as the case m ight be. In
oriented program m es. Indeed, the EWLP was France, for instance, it was always assum ed
conceived as a special program m e for specific that the m illions of im m igrant workers who
groups of adults in a num ber of developing resided in the country provided the only pos-
countries. The idea behind the program m e sible illiterate population. Courses were cre-
was that developing countries could usefully ated from the late 1960s onwards called “al-
follow in the path of the industrialized phabétisation de travailleurs m igrants” (Al-
nations. There were necessary stages of de- phabétisation in French m eans “literacy tui-
velopm ent in capitalist societies. When cer- tion”). In reality, these courses were, and re-
tain sectors of the econom y reached what was m ain, “French as a second or foreign lan-
called the “take-off” stage, they were ready guage”. In m any cases, the im m igrants have
for special attention. If developing countries been literate in their first languages but not
could not afford to educate all their adults, in French. But to add to the confusion, when
they should focus on those adults working in the French governm ent officially recognized
the productive sectors; to provide literacy in- in an official report in 1984 (Espérandieu et.
struction would m ake them even better work- al. 1984) that native French speakers m ight
ers. The net result of the program m e in be illiterate, they used a newly-created word
11 countries was generally disappointing for the purpose: illettrisme. This new word
(UNESCO 1976). One of the key ingredients was intended to distinguish French illiterates
of a succesful literacy program m e had been from im m igrants and also to show that people
neglected, that of learner m otivation. Work- who had been to school for som e period of
ers in the sectors selected for the experim ental tim e had a different kind of illiteracy than
program m e could see no direct advantage to those who had never attended school. An
them selves in becom ing m ore “functional” to enorm ous controversy continues in France as
their em ployers. Hence, the term functional one vocabulary is used for French people and
literacy as used in such a context took on a another for im m igrants from the Mediterra-
specific ideological connotation. It was per- nean Basin countries and Africa.
ceived as a m ethod of creating a m ore efficient Other countries do not use separate words
for literacy/illiteracy when referring to im -
796 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m igrants and nationals or when referring to with dem ands m ade on them by society; and the
literacy problem s in the developing countries. ability to solve the problem s they face in their daily
Nonetheless, the issue has reached the forum lives.
of international organizations such as This type of definition leaves it to the in-
UNESCO. At the 1989 General Conference dividual to set goals and decide what role
of UNESCO, m any representatives from de- literacy will play in his or her life. It does not
veloping countries denounced the use of one place in the hands of an em ployer or an
vocabulary for the industrialized nations and institution the decision about what it is to be
another for their own country (Lim age 1990). “functional”. The definition is very m uch in
They rejected the idea that it is m ore noble tune with successful literacy cam paigns and
or different to be illiterate in an industrialized classes. For exam ple, the guiding principle
country than in a developing one. The term behind m ost adult literacy provision in the
“functional literacy/illiteracy” (illettrisme in United Kingdom since the 1975 awareness-
the French case) was being used in the Gen- raising cam paign has been to let the learner
eral Conference docum ents to refer to the set goals, pace, and content (Lim age 1975).
industrialized countries and illiteracy on its Indeed, since exam inations of all types can
own referred to the developing nations. As a lead to stress for the learner, m ost perceptive
result, the author of this chapter, as a m em ber adult educators have avoided testing when
of the International Literacy Year Secretariat possible. When funding of program m es de-
of UNESCO, has been engaged in a system - pends on such evaluation, however, pro-
atic review of term inology to be used in the gram m es have had to com prom ise. As re-
international discussions as an effort to pro- cently as late 1989, three British groups —
duce term inology which will not prove in- the Adult Literacy and Basic Skills Unit, the
sulting to individuals, com m unities, or groups Training Agency, and the British Broadcast-
of countries, a task necessary for m aking in- ing Corporation — created com m unications
ternational comparisons fair and meaningful. and literacy program m es leading to certifi-
Another illustration of the com plexity of cation that requires testing. The organizations
talking about literacy took place am ong the proposed that the tim e was right for certain
four international agencies organizing the groups of people with lim ited basic skills to
World Conference on Basic Education for All undertake a course and obtain som e kind of
(WCEFA), held in Thailand in 1990. Unicef, diplom a which m ay help them find a job or
UNESCO, the World Bank, and the United improve their career opportunities.
Nations Developm ent Program m e (UNDP)
have sought to m ake education once m ore
the national and international priority as 5. Literacy efforts: The approaches
m entioned earlier in this article. The four Our discussion of the im plications of literacy
have been concerned both with im proving definitions for international perspectives leads
and expanding prim ary education and pro- us to a brief overview of the kinds of efforts
viding basic skills for all adults. Literacy and intended to reduce the illiteracy figures m en-
num eracy are viewed as part of a larger con- tioned in the beginning of this chapter.
cept — “basic education” — whose precise The Universal Declaration of Hum an
characteristics have continued under debate. Rights, adopted by the United Nations on
For the purposes of our discussion of lit- December 10, 1948, declares in its Article 26:
eracy in this chapter, however, we propose Everyone has the right to education. Education
one advanced by Hunter & Harm an (1979). shall be free, at least in the elem entary and fun-
Literacy, then, becomes: dam ental stages. Elem entary education shall be
the possession of skills perceived as necessary by
com pulsory. Technical and professional education
particular persons and groups to fulfill their own
shall be m ade generally available and higher edu-
self-determ ined objectives as fam ily and com m u-
cation shall be m ade equally accessible to all on
nity m em bers, citizens, consum ers, job-holders, and
the basis of merit.
m em bers of social, religious, or other associations
A num ber of other conventions, recom -
of their choosing. This includes the ability to obtain
m endations, and declarations have appeared
inform ation they want and to use that inform ation
since that tim e, attem pting to further defined
for their own and others’ well-being; the ability to
the right to learn. Broadly speaking, however,
read and write adequately to satisfy the require-
literacy efforts have been two-pronged: the
m ents they set for them selves as being im portant
expansion and im provem ent of prim ary ed-
for their own lives; the ability to deal positively
ucation and adult literacy provision. Al-
64.  UNESCO’s Efforts in the Field of Literacy 797

though som e countries have attem pted to ad- process in som e way. Literacy is presented as
dress the issue of illiteracy as a continuum part of a package which prom ises tangible
for children and adults alike, m any others change in the quality of life for the entire
have kept the discussion of schooling separate society. In Cuba, the slogan was “Each one
from that of adult education. In addition, teach one” (→ art. 68). In Viet Nam , the
international trends set by funding agencies literacy cam paign was part of the struggle for
which hold the debt of m any developing independence, first from France and later in
countries prevent these countries from estab- the war with the United States. In the Soviet
lishing their own priorities. When for exam - Union, both social change and nation-build-
ple, funding agencies prom oted investm ent in ing were involved. Hence, literacy instruction
higher education rather than prim ary school- was carried out in m ore than 50 languages
ing or adult basic education, m any developing spoken there, and alphabets were created for
nations placed their scarce resources in higher a num ber of languages that had a purely oral
education (Coombs 1985). tradition (→ art. 66).
Setting priorities for investm ent has strong
im plications for the type of literacy effort
which will be undertaken. The agencies that 6. Future prospects for literacy
prom ote the im provem ent and expansion of After the m obilization for advocacy and ac-
only prim ary education consider that it is tion during International Literacy Year and
better to provide basic skills for the young. the longterm strategies called for in UNES-
They contend that adults m ight not be suc- CO’s Plan of Action and the World Decla-
cessful learners, and eventually illiteracy will ration on Education for All, what can inter-
be elim inated by the passing of the older national cooperation and national com m it-
generation. But as we saw earlier in the chap- m ent hope to achieve in the near future? Per-
ter, the quality of prim ary schooling is in haps, it is first of all necessary to adm it quite
serious jeopardy as a result of deteriorating realistically that, as long as econom ic condi-
econom ic conditions. Even in the industrial- tions dom inate educational planning, it is
ized countries, expenditure per pupil is not probable that choices regarding educational
increasing as it did during the 1960s and early investm ent will continue to be m ade based on
1970s. expediency rather than on lessons learned
A second strategy in literacy provision is about effective instruction. In other words, a
the target approach which was illustrated ear- continued effort will be m ade to do m ore with
lier by the Experim ental World Literacy Pro- less.
gram m e and its work-oriented plan. This ap- Nonetheless, the lesson to be learned from
proach is still used when adequate resources all literacy efforts — be they form al school-
and high-level public com m itm ents are lack- ing, cam paigns, or targeted projects — is that
ing. Such is very clearly the case in industri- success is based on three crucial factors: high-
alized countries which are increasingly turn- level national com m itm ent, m obilization of
ing towards the voluntary or private sector hum an and financial resources, and popular
to fill in the gaps left by public provision. participation. High-level national com m it-
Countries with a strong history of charitable m ent m eans that education is essentially a
activity and volunteer work, such as the public responsibility and governm ents should
United States and the United Kingdom , are give it the necessary priority. Mobilization of
quick to respond to this type of program m e. hum an and financial resources m eans that
But the ability of sm all-scale projects or pro- governm ents should be able to allocate re-
gram m es to deal with the com plex problem souces to the social sector, including educa-
of illiteracy is necessarily limited. tion, on a greater scale than has been the case
A third approach to elim inating illiteracy throughout the 1980s. Popular participation
is the m ass cam paign. In the 20th century, m eans that literacy is everybody’s concern.
the Soviet Union undertook the first such Once a m ajor public com m itm ent has been
program m e. In general, with such a schem e, m ade, there is a role for voluntary and com -
literacy is seen as a m eans to a larger set of m unity initiatives, private and business in-
political, social, and econom ic goals. As Har- volvem ent, the press and television, and in-
bans Bhola has put it, the m ass cam paign is ternational cooperation.
a declaration of “business not as usual” In conclusion, it is not necessary that every-
(Bhola 1984). Entire populations are m obi- one has the sam e view of what constitutes
lized, so that all are involved in the learning literacy or that we all have a single m odel of
798 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

how to prom ote its acquisition. International Hunter, C., & Harm an, D. 1979. Adult Illiteracy
com parisons will continue to provide a rich in the United States. New York.
range of experience which can be adapted to Lewin, Keith. 1986. Educational Finance in Reces-
local needs and aspirations. The interdepen- sion. Prospects, 16, 215—229.
dency of the world requires that we better be Lim age, Leslie. 1975. Alphabétisation et culture:
able to com m unicate with each other. Liter- Etude com parative. Cas d’études: l’Angleterre, la
acy is a key to the quality of that com m uni- France, la République Dém ocratique du Viet Nam
cation. et le Brésil. Unpublished doctoral dissertation.
Paris: University of Paris V.
—. 1986. Adult Literacy Policy in Industrialized
7. References Countries. Com parative Education Review 30,
Anderson, R., et al. 1985. Becom ing a Nation of 50—72.
Readers. The Report of the Com m ission on Read- —. 1990. Adult Literacy and Basic Education in
ing, National Academ y of Education. Cham paign, Europe and North Am erica: From Recognition to
IL: Center for the Study of Reading. Provision. Comparative Education.
Bhola, Harbans S. 1984. Cam paigning for Literacy. Owen, D. 1985. None of the Above. Boston.
Paris. UNESCO. 1976. The Experim ental World Literacy
Coom bs, P. 1985. The World Crisis in Education. Programme. Paris, UNESCO.
The View from the Eighties. Oxford. UNESCO Office of Statistics. 1990. Com pendium
Espérandieu, V., Lion, A., & Bénichou, J.-P. 1984. of Statistics on Illiteracy — 1990 Edition. Paris,
Des illettrés en France. Paris. UNESCO.
Hewton, E. 1986. Education in Recession. London.
Leslie J. Limage, Paris (France)

65. Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.

1. Background geographic, social, and econom ic isolation.


2. The scope of SIL’s work in literacy Consequently, SIL’s focus on unwritten lan-
3. Literacy program methodology and strategy guages coincides with service to som e of the
4. Language, literacy, and development — social poorest and m ost disadvantaged peoples liv-
and national dimensions ing today.
5. Language and literacy — theoretical advances The developing countries contain m ost of
6. Language, literacy, and development — the world’s 6,170 living languages (Grim es
applied theory 1988). More than 60 percent (3,764) of these
7. The problem of cost effectiveness languages are spoken in Africa and Asia, and
8. References another 20 percent (1,216) are spoken in the
islands of the Pacific. It is estim ated that 98
percent of the world’s illiterates live in these
1. Background countries (Cárceles 1990).
The Sum m er Institute of Linguistics (SIL) is Though individual language com m unities
a philanthropic, non-governm ental organi- can be relatively sm all, cum ulatively, they
zation com m itted to linguistic research, lan- m ay well m ake up a large portion of the
guage developm ent, literacy, and other pro- population of a given country. For exam ple,
jects of practical, social, and spiritual value in Guatem ala, 44 percent of the population
to the lesser known cultural com m unities of is m ade up of local language com m unities. In
the world. From its hum ble beginnings in Papua New Guinea, the ratio is about 98
1935 in Mexico, the work of SIL has grown percent and in a num ber of African countries,
and spread to m ore than 50 countries and close to 100 percent.
well over 1,000 languages.
A distinctive feature of the Institute is its 2. The scope of SIL’s work in literacy
focus on unwritten (undeveloped) languages.
Those speaking such languages frequently For som e 50 years, SIL has been pioneering
dwell on the fringes of national life living in the study, developm ent, and docum entation
of m inority languages. This work has not only
798 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

how to prom ote its acquisition. International Hunter, C., & Harm an, D. 1979. Adult Illiteracy
com parisons will continue to provide a rich in the United States. New York.
range of experience which can be adapted to Lewin, Keith. 1986. Educational Finance in Reces-
local needs and aspirations. The interdepen- sion. Prospects, 16, 215—229.
dency of the world requires that we better be Lim age, Leslie. 1975. Alphabétisation et culture:
able to com m unicate with each other. Liter- Etude com parative. Cas d’études: l’Angleterre, la
acy is a key to the quality of that com m uni- France, la République Dém ocratique du Viet Nam
cation. et le Brésil. Unpublished doctoral dissertation.
Paris: University of Paris V.
—. 1986. Adult Literacy Policy in Industrialized
7. References Countries. Com parative Education Review 30,
Anderson, R., et al. 1985. Becom ing a Nation of 50—72.
Readers. The Report of the Com m ission on Read- —. 1990. Adult Literacy and Basic Education in
ing, National Academ y of Education. Cham paign, Europe and North Am erica: From Recognition to
IL: Center for the Study of Reading. Provision. Comparative Education.
Bhola, Harbans S. 1984. Cam paigning for Literacy. Owen, D. 1985. None of the Above. Boston.
Paris. UNESCO. 1976. The Experim ental World Literacy
Coom bs, P. 1985. The World Crisis in Education. Programme. Paris, UNESCO.
The View from the Eighties. Oxford. UNESCO Office of Statistics. 1990. Com pendium
Espérandieu, V., Lion, A., & Bénichou, J.-P. 1984. of Statistics on Illiteracy — 1990 Edition. Paris,
Des illettrés en France. Paris. UNESCO.
Hewton, E. 1986. Education in Recession. London.
Leslie J. Limage, Paris (France)

65. Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L.

1. Background geographic, social, and econom ic isolation.


2. The scope of SIL’s work in literacy Consequently, SIL’s focus on unwritten lan-
3. Literacy program methodology and strategy guages coincides with service to som e of the
4. Language, literacy, and development — social poorest and m ost disadvantaged peoples liv-
and national dimensions ing today.
5. Language and literacy — theoretical advances The developing countries contain m ost of
6. Language, literacy, and development — the world’s 6,170 living languages (Grim es
applied theory 1988). More than 60 percent (3,764) of these
7. The problem of cost effectiveness languages are spoken in Africa and Asia, and
8. References another 20 percent (1,216) are spoken in the
islands of the Pacific. It is estim ated that 98
percent of the world’s illiterates live in these
1. Background countries (Cárceles 1990).
The Sum m er Institute of Linguistics (SIL) is Though individual language com m unities
a philanthropic, non-governm ental organi- can be relatively sm all, cum ulatively, they
zation com m itted to linguistic research, lan- m ay well m ake up a large portion of the
guage developm ent, literacy, and other pro- population of a given country. For exam ple,
jects of practical, social, and spiritual value in Guatem ala, 44 percent of the population
to the lesser known cultural com m unities of is m ade up of local language com m unities. In
the world. From its hum ble beginnings in Papua New Guinea, the ratio is about 98
1935 in Mexico, the work of SIL has grown percent and in a num ber of African countries,
and spread to m ore than 50 countries and close to 100 percent.
well over 1,000 languages.
A distinctive feature of the Institute is its 2. The scope of SIL’s work in literacy
focus on unwritten (undeveloped) languages.
Those speaking such languages frequently For som e 50 years, SIL has been pioneering
dwell on the fringes of national life living in the study, developm ent, and docum entation
of m inority languages. This work has not only
65.  Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. 799

contributed to national and international un- 3.1. Community based programs


derstanding of the richness of hum an lan-
guages, but has also served to elevate m inority As a service and developm ent organization,
peoples them selves in their respective worlds. SIL’s work is people centered. It typically
The contribution of SIL in the field of lan- works m ost com fortably and effectively at the
guage developm ent and literacy is not just com m unity level rather than at the national
sym bolic — it is also of substantial scope. or international level.
The following statistics convey a sense of the The vast m ajority of SIL’s work in the field
scope of this effort: of literacy has focused on adults. Attention
to adult literacy is seen as being im portant
— To date SIL has carried out linguistic for two reasons. First, adults are the ones
work in 1,320 languages in more than 50 who bear the responsibility of seeing to the
countries; welfare of their fam ilies and com m unities.
— At present SIL has active work in 863 They m ust m ake decisions having long term
languages in more than 50 countries; consequences for them selves and their chil-
— To date SIL has carried out work in lit- dren. They need to m ake use of every possible
eracy, community development, and edu- resource to carry out this responsibility well.
cation in approximately 750 languages Secondly, experience has shown that when
spoken by more than 70 million people; children becom e literate while their parents
— In 325 of these 750 cases, SIL introduced rem ain illiterate, a process of social disruption
literacy in the vernacular language for the and disorientation is apt to set in, producing
first time; confusion on all sides. Conversely, literate
— To date SIL has developed a writing sys- adults are m uch m ore apt to seek education
tem and supporting educational material for their children.
for more than 800 languages;
— To date, more than 12,000 titles of peda- 3.2. The linguistic approach
gogical and vernacular materials have
been written, published, and distributed A good m other-tongue literacy program
in more than 1,200 languages; begins with linguistically sound m aterials.
— Hundreds of thousands of local teachers UNESCO has recognized this principle, call-
have been trained and an estimated ing for the linguistic study of unwritten lan-
40—50,000 rural villages and hamlets now guages before the production of dictionaries,
have access to literacy as a result of SIL’s vocabularies, and literacy m aterials begins.
work; Sim ilarly, SIL requires its field linguists and
— An estimated 2 million people have be- literacy specialists to have a solid background
come literate as a direct result of SIL’s in linguistic theory and field m ethodology
work in literacy. Unknown additional mil- before beginning fieldwork. In the field, lin-
lions have become literate as an indirect guists com m it large blocks of tim e to living
result of this work; in the local com m unities, learning the local
— 5 national level bilingual education pro- language well, and doing careful analysis be-
grams have been organized and institu- fore beginning work on literacy materials.
tionalized with SIL assistance;
— To date SIL has trained more than 5,000 3.3. Culturally adjusted programs
specialists in descriptive linguistics.
Language and culture form the m atrix by
The statistics reflect only one dim ension of which we express ourselves and m eet the
SIL’s contribution. Its contribution — on the world. It is im portant to link education with
one hand to grassroots hum an developm ent, the environm ent and social structure of the
and on the other to constructive national learner. To be effective, classes need not take
policy towards m inorities — is difficult to place in a costly cem ent-block building. They
quantify. can be held in churches, m osques, factories
or even in the open air.
Sim ilarly, m aterials should be specific to
3. Literacy program methodology and the local environm ent. Learners m ust recog-
strategy nize their surroundings in the pages of their
Basic SIL strategy in literacy is that of the prim ers and readers. Reading m aterials are
com m unity program and m ay be character- m ost effective when focused on com m on local
ized by means of the following four principles. problem s and when pictures and illustrations
evoke images familiar to the learner.
800 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

To that end, SIL adapts its literacy instruc- brings a greater sense of personal dignity,
tion to the environm ent and social structure additional skills in problem solving, and the
of the learner. Illustrations and stories reflect respect of others who tend to view the illit-
fam iliar settings. Artwork is often supplied erate as an ignorant and m arginal person fit
by local artists. Easy readers contain stories only for common labor.
reflecting local experiences, values, and leg- Literacy benefits both individuals and their
ends. com m unities. Learning to read boosts self-
esteem and provides im portant new skills. In
3.4. Linkages to regional and Africa, farm ers discovered that they began
national institutions getting better prices for their crops when it
was evident they could read and write. In the
In today’s world, literacy is a link to a broader Philippines, newly literate adults have begun
world. A prim ary value of literacy is that of opening bank accounts and m anaging their
giving the individual access to knowledge, m oney m ore knowledgeably. In India, newly
opportunities, and skills outside the tradi- literate Oriyans now qualify for desirable jobs
tional com m unity. To facilitate this process, which had previously gone to outsiders.
linkages need to be established with regional Moreover, the effects of literacy often ex-
and national agencies positioned to assist the tend beyond personal benefits. UNESCO has
newly literate in their development. stated that an effective literacy program can
This approach to literacy requires a long- lead to participation in form al com m unity
term com m itm ent but can produce im pressive organizations. This has been evident in SIL-
results. When SIL began work in Peru in the directed literacy program s. For exam ple, after
late ’40s, schools were virtually non-existent becom ing literate, the Vagla of northern
in Peruvian Am azonia. Literacy was un- Ghana began to increase their involvem ent in
known am ong the lowland m inorities. Today, the political affairs of their com m unity. In
m ore than 600 schools operate in this cultural 1979, four years after the program began,
area. Seven hundred indigenous teachers and they had equal representation on the District
supervisors, 60 percent of the total staff, teach Council Com m ittee in Bole. The Bim oba, also
in these schools and provide adm inistrative of Ghana, have begun to organize their own
leadership. In less than 40 years, 15,000 chil- cooperatives and to do long-range econom ic
dren speaking 28 languages have learned to planning (Bendor-Sam uel & Bendor-Sam uel
read and write in their m other tongue and 1983).
m any of these have gone on to m ore advanced For those living where there is frequent
education in Spanish (Cairns 1991). Literacy contact with the national socioeconom ic sys-
rates am ong som e of Peru’s lowland m inori- tem , literacy is a watershed skill. A Blaan
ties now approximate the national norm. m an from the Philippines m ade this point
cogently when he said, “Years ago, when we
voted, we had to put our thum b print on the
4. Language, literacy, and ballot to show that we had voted. Even then,
development — we couldn’t read the ballot so we didn’t know
social and national dimensions for whom we had voted. Now, we can read
and sign our ballots like any educated Fili-
4.1. Personal and social development pino. Tom orrow, a Blaan nam e will be on the
In the experience of the Western world, lan- ballot. Then we will know that we have ar-
guage is a transparent vehicle of education, rived.”
political discourse, and social interchange. In
m any em erging nations, however, the reverse 4.2. National development
is true — language is a barrier to literacy and The desires and needs of m other-tongue
education. When a person speaks an unwrit- speakers need not contradict national aspi-
ten language and is expected to learn to read rations for education in a standard or official
in a language he does not understand, becom - language. Through bilingual education, the
ing literate can be a confusing and frustrating m other tongue can be a very effective bridge
process. Many give up perm anently, con- to education in an official language.
vinced that reading and writing are beyond SIL has helped to start significant bilingual
their grasp. education program s in Peru, Cam eroon,
Over and over again, SIL m em bers have Guatem ala, and Papua New Guinea. In other
watched literacy transform people, com m u- countries — Colom bia, Bolivia, Philippines,
nities, and entire social structures. Literacy
65.  Mother Tongue Literacy — the Work of the S. I. L. 801

Chile, Vietnam , Togo, and Canada — SIL entiation is tolerable than linguists are prone
specialists have participated in the develop- to adm it especially under conditions of low
m ent of vernacular com ponents for form al functional load and/or abundant clues for
schools. disambiguating similar forms.
The bilingual approach helps address the Thirdly, previous exposure to the writing
problem of school attrition which afflicts system of another (national or official) lan-
m any com m unities where the language of in- guage exercises a powerful ‘linguistic’ influ-
struction is other than the language of the ence over one’s ‘understanding’ of his own
child. Prelim inary evaluations of program s in language. As a result, there is frequently a
Papua New Guinea and Cam eroon suggest desire to represent elem ents which are lin-
that children are less apt to drop out of school guistically redundant and to om it others
when their hom e language is the initial lan- which are linguistically required.
guage of instruction. Furtherm ore, children
tend to stay in school longer, with higher 5.2. The development of
percentages of students successfully com plet- pedagogical and bridge materials
ing school.
Bilingual education program s often have Given its orientation as a linguistic organi-
unanticipated social and psychological bene- zation, SIL work in the developm ent of ped-
fits. Parents are m ore likely to be interested agogical m aterials for literacy has had a
in a child’s school activities when they see strong linguistic foundation or bias. SIL re-
that the school is not turning the child against searchers and theorists have pioneered the
traditional customs and values. developm ent of strategies for teaching com -
An im portant product of such program s is plex writing and intricate gram m atical sys-
the em ergence of bilingual and bicultural pro- tems.
fessionals. These educators are interested in In addition special techniques have been
developing and m aintaining the richness and developed for facilitating the transfer from
vitality of their first language and culture. In one’s m other tongue to a language of wide
this m anner bilingual education becom es a com m unication which take into account the
source of vigorous cultural pluralism rather m ism atch between the writing and gram m at-
than mono-cultural hegemony. ical systems of each.

5.3. The development of
5. Language and literacy — local authoring systems
theoretical advances A basic theorem of SIL work and theory in
Much of SIL’s contribution to the theory and literacy is the belief that literacy technology
practice of m other tongue literacy is based on (in the broad sense) m ust ultim ately be owned
its linguistic research. The following para- by the local com m unity. For this reason, sub-
graphs sum m arize som e of the prim ary theo- stantial attention is given to the developm ent
retical advances stem m ing from the work of of m echanism s for com m unity based author-
SIL. ing and literature production (Wendell 1982).
Local writers and artists are identified and
5.1. The development of writing systems developed. People are trained to produce sim -
ple literature using silk screens and other ac-
In addition to the custom ary criteria applied cessible technology. Local distribution centers
to the developm ent of writing system s, SIL and channels are established.
experience with so m any diverse languages With such an infrastructure in place, sus-
has allowed it to develop a num ber of m ore tainable literacy is possible. Cultural condi-
subtle insights into the nature of writing sys- tions and local dem and then determ ine how
tems. such literacy is to be used.
First, som e languages lend them selves
readily to a phonem ic writing system , others 5.4. Advances in pedagogical theory
to a m orphophonem ic writing system , and a
few would best be represented by a syllabic Around the world, debates rage on the m ost
or logographic writing system (although the effective instructional approach to basic lit-
latter is rarely acceptable because of the pres- eracy. SIL literacy specialists have tested
sure to conform to regional or national m od- m any of these and have found that results are
els). just as am biguous in neoliterate com m unities
Secondly, a greater degree of underdiffer- as in Western classrooms.
802 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

There are, however, other pedagogical effort is very difficult. The Experim ental
problem s where pioneering work has been World Literacy Program (EWLP) reported
done. These include such m atters as the teach- costs per literate ranging from $ 32 (U. S. dol-
ing of very long words (som e languages have lars) in Tanzania to $ 332 in Iran (Gillette
com m only used words of 30—40 characters), 1987). A program in which SIL participated
the teaching of tone and other suprasegm en- in the Philippines reported a cost per literate
tals, the teaching of num eracy where there is of $ 71.94. (Walter 1989)
no significant tradition of counting, the teach- The research and developm ent costs of in-
ing of complex vowel systems, etc. itiating a literacy program for a previously
unwritten language are m ajor, a rough esti-
m ate being $ 150,000 to $ 200,000 dollars.
6. Language, literacy, and Clearly, a poor nation having 50 languages
development — applied theory within its borders m ust view such costs as
Five decades of experience in the field of prohibitive.
m other tongue literacy has allowed SIL to But, in the case of literacy, cost cannot be
forge a practical and proven m odel of com - counted m erely in financial term s. One m ust
m unity based literacy based on the following com pare the cost of achieving a given rate of
principles. literacy with the cost to individuals, com -
First, instead of teaching classes of illiter- m unities, and nations of a large illiterate pop-
ates to read, local people are taught to be- ulation. What about the cost of m alnourished
com e teachers. These local teachers m ay not children, of unproductive labor, of non-com -
be as expert in their teaching as the literacy petitive businesses, of high attrition rates in
specialist, but they can get the job done ef- existing schools, of a discouraged and lethar-
fectively and will continue to be a part of the gic populace?
local com m unity long after the specialist has With lim ited budgets and inadequate tech-
departed. nology, it is im portant to m ake use of every
Secondly, rather than being the only source resource available. NGO’s and volunteer or-
of new m aterials in a language, the literacy ganizations such as SIL can substantially re-
specialist seeks to train local people to write duce the actual cost of literacy program s from
and produce m aterials in their own language. 25 to 60 percent m aking such program s m ore
This has not been easy, but is a necessary step viable for emerging nations.
to achieving a com plete transfer of literacy
technology. 8. References
Thirdly, literacy program s consum e finan-
cial resources. Instead of perm anently sup- Bendor-Sam uel, David H. & Bendor-Sam uel, Mar-
porting literacy activities with external fund- garet M. 1983. Com m unity literacy program m es in
ing, local program s are initiated to help fund northern Ghana. Dallas.
literacy activities. Though not always suc- Cairns, John C. 1991. Peruvian bilingual education
cessful, these efforts dem onstrate to the local program: evaluation report. Dallas.
com m unity the need to assum e responsibility Cárceles, Gabriel. 1990. World literacy prospects
for community directions. at the turn of the century. Com parative Education
Fourthly, SIL has sought to facilitate the Review 34.1, 4—20.
transfer of literacy technology to local, re- Gillette, Arthur. 1987. The experim ental world lit-
gional, and national personnel. Whenever eracy program : a unique international effort revis-
possible, SIL literacy specialists have sought ited. In: Arnove, Robert F. & Graff, Harvey J.
to train capable national personnel in lin- (ed.). National Literacy Campaigns. New York.
guistic theory, pedagogical principles, graphic
Grim es, Barbara F. 1988. Ethnologue: languages
and printing arts, the theory of reading, cur-
of the world (Eleventh Edition). Dallas.
riculum design, evaluation, long range plan-
ning, etc. Training program s and sem inars Walter, Stephen L. 1989. Literacy, health, and com -
have been organized in universities and pro- m unity developm ent in the Philippines: final eval-
fessional contexts to accom plish this objec- uation. Dallas.
tive. Wendell, Margaret M. 1982. Bootstrap literature:
preliterate societies do it them selves. Newark, Del-
aware.
7. The problem of cost effectiveness
Stephen L. Walter, Dallas, Texas (USA)
Evaluating the cost effectiveness of a literacy
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 803

66. Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung

1. Schriftsprachlichkeit und Schriftsysteme im 1.2.  Die von den einzelnen Sprechergruppen


Russischen Reich benutzten Schriftsystem e waren vor 1917
2. Phasen der Alphabetisierung in der Sowjet- weitgehend von deren Konfessionsgeschichte
union determ iniert, d. h. die orthodoxen Gruppen
3. Nachkriegsentwicklungen in der Schriftlich- benutzten das kyrillische, die katholischen
keit der Sowjetunion und Ausblicke und protestantischen Gruppen das lateini-
4. Literatur sche, die islam ischen Gruppen das arabische,
die jüdischen Gruppen das hebräische, die
buddhistischen Gruppen das m ongolische
1. Schriftsprachlichkeit und und die autokephalen Arm enier und Georgier
Schriftsysteme im Russischen Reich ihr jeweils eigenes nationales Alphabet. Nach
geographischer Verbreitung und Gebrauchs-
1.1.  Die weit in die Vergangenheit reichende frequenz dom inierte eindeutig das kyrillische
traditionelle Multilingualität des russischen Alphabet. — Alle in Rußland verwendeten
Reiches erklärt sich durch die von Ivan dem Schriftsystem e waren dem Typ nach phono-
Schrecklichen im 16. Jahrhundert eingeleitete graphisch orientierte rechtskurrente, links-
Binnenkolonialpolitik, die sich m it unter- kurrente oder vertikale Buchstabensysteme.
schiedlicher Intensität und Reichweite auf alle
Grenzbereiche des russischen Herrschaftsge- 1.3.  Das in Rußland benutzte kyrillische Al-
bietes richtete und bis zum Beginn des phabet geht auf ein von Schülern der Slaven-
20. Jahrhunderts anhielt. Die im Laufe m eh- apostel Kyrill und Method in Anlehnung an
rerer Jahrhunderte in das Reich inkorporier- die griechische Majuskel entworfenes Mis-
ten Völkerschaften gehörten verschiedenen sionsalphabet zurück. Es wurde m it der Chri-
sprachgenetischen und kulturell teils stark di- stianisierung der Kiever Rus’ 988 bei den
vergierenden Gruppen an. Die in der Litera- Ostslaven eingeführt und wurde hier im ho-
tur m eist recht undifferenziert angeführten hen Maße m it der christlich-orthodoxen Kul-
130—150 Einzelsprachen verteilen sich nach tur assoziiert. Außer bei den Ostslaven fand
der in der sowjet. Literatur gängigen Klassi- es bei einigen anderen, vordem schriftlosen,
fikation im wesentlichen auf die genetischen Sprechergruppen eingeschränkte Verwen-
Gruppen Indogerm anisch, Türkisch, Kauka- dung, denen es durch die m issionierende rus-
sisch, Finno-Ugrisch, Mongolisch und die sische Kirche und/oder Verwaltung verm ittelt
m ehrere Untergruppen um fassende Sprach- wurde (z. B. bei den Udm urten und Mordvi-
gruppe der sog. Völker des Nordens (zu den nen im finno-ugrischen, den Abchasen und
Einzelsprachen vgl. Vinogradov 1966—1968; Adygejern im kaukasischen und den Čuva-
Glück 1984). Der unterschiedliche soziokul- schen und den Jakuten im türksprachigen Be-
turelle Entwicklungsstand der Sprecher der reich). Die Kirillica trug durch die Einführung
die genannten Sprachgruppen konstituieren- spezieller Graphem e in ihr ansonsten stark
den Einzelsprachen zeigt sich zu Anfang griechisch geprägtes System den phonem ati-
des 20. Jahrhunderts u. a. deutlich im sehr schen Besonderheiten des Slavischen Rech-
heterogenen m ultinationalen Spektrum der nung. Sie wurde bis ins 18. Jahrhundert in
Schriftsprachlichkeit. Dieses um faßt Spra- der traditionellen kirchenslavischen Variante
chen m it einer bereits stark akkultivierten und benutzt. 1707 veranlaßte Peter der Große im
standardisierten Schriftlichkeit (z. B. Rus- Rahm en seiner Gesellschaftsreform en eine
sisch, Polnisch, Arm enisch), Sprachen m it erste große Schriftreform , die sowohl den
einer im sozialen und funktionalen Sinn nur neuen weltlichen Schriftsprachenfunktionen
eingeschränkt praktizierten Schriftlichkeit als auch den drucktechnischen Erfordernissen
(z. B. m ehrere Türksprachen, kleinere Kau- der Zeit Rechnung trug: Rund zehn redun-
kasussprachen), aber auch Sprachen ohne dante oder phonem atisch nicht m ehr m oti-
jede Schriftlichkeit (z. B. Sprachen des Nor- vierte Graphem e wurden abgeschafft, erste
dens, kleinere finno-ugrische Sprachen). Ge- orthographische Regelungen vorgenom m en,
nerell gilt, daß sich vor 1917 die am weitesten eine konsequente Trennung von Majuskeln
fortgeschrittenen Schriftkulturen bei Spre- und Minuskeln eingeführt und das Schrift-
chern der indogerm anischen, kaukasischen bild, soweit wie m öglich, an die lateinische
und türkischen Gruppe finden. Antiquaschrift angelehnt. Der neue Graž-
804 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

danskij šrift m arkierte das Ende der m ittel- Karaim en in der Ukraine und Litauen. — Die
alterlichen slavischen Schriftkultur in Ruß- m ongolischen Gruppen (Burjaten, Kalm y-
land und war für die beginnende Dem okra- ken), deren Schriftsprachlichkeit bis ins 13.
tisierung des russischen Schriftsprachenge- Jahrhundert zurückzuverfolgen ist, benutzten
brauchs von größter Bedeutung (vgl. Šicgal bis ins 20. Jahrhundert das mongolische Ver-
1959). Die im 18. Jahrhundert zum russischen tikalalphabet. — Sehr traditionsreiche Schrift-
Alphabet reform ierte Kirillica wurde bis zur system e finden sich im Kaukasus: das arme-
Oktoberrevolution benutzt. — Das lateinische nische Alphabet wird auch im 20. Jahrhundert
Alphabet gelangte vornehm lich durch die An- im wesentlichen in der Form verwendet, wie
nexion der baltischen und polnischen Gebiete es im 4. Jahrhundert von seinem Schöpfer,
m it ihrer katholischen resp. protestantischen dem Mönch Mesrop, entwickelt wurde. Das
Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert in den grusinische Alphabet, als weiteres eigenstän-
russischen Machtbereich. Während im pol- diges Alphabet im Kaukasus, blickt ebenfalls
nischen Sprachraum die Entwicklung der la- auf eine weit über tausend Jahre alte Tradition
teinischen Schriftlichkeit zunächst m it der zurück. Es war und ist graphisches Medium
Entwicklung der Staatlichkeit einherging und der einzigen Schriftsprache aus der kaukasi-
im 14. Jahrhundert die ersten polnischen schen Gruppe m it einer sehr alten Geschichte,
Texte m it poly- und/oder m onographischen des Georgischen. — In wenigen Fällen ist vor
Graphem en geschrieben wurden, wirkte im 1917 eine eineindeutige Zuordnung von Spre-
Baltikum die deutsche Reform ation des 16. chergruppe und benutztem Alphabet nicht
Jahrhunderts schriftspracheninitiierend. Da- m öglich, da bei diesen m ehr als ein Alphabet
m it verbunden war die Übernahm e nieder- im Gebrauch war, bedingt durch erste Ver-
deutscher Frakturschriften, die bei Litauern, suche, den Radius des kyrillischen Alphabets
Letten und Esten erst seit dem 18. Jahrhun- auszuweiten. So gab es bei den Burjaten, Ka-
dert allm ählich von an der Antiquaschrift ori- raim en und Kasachen (letztere arabischschrif-
entierten System en ersetzt wurden. Die Sy- tig) zeitweise einen kontem porären Gebrauch
stem e berücksichtigten durch die Verwendung von eigenem und kyrillischem Schriftsystem.
diakritischer Zeichen resp. geregelter Gra-
phem kom binationen in zunehm endem Maße 1.4.  Der Verwendungsum fang der genannten
die phonem atischen Gegebenheiten der von Alphabete im Russischen Reich war, entspre-
ihnen abgebildeten Sprachen. Der deutsche chend der allgem einen soziokulturellen Situa-
Schriftsprachengebrauch im Baltikum orien- tion, vergleichsweise gering. Die Schriftspra-
tierte sich an den graphischen und orthogra- chenkulturen waren Elitekulturen, dem okra-
phischen Norm en der Schriftsprache in tische Bildungssystem e fehlten weitgehend,
Deutschland. — Die Benutzung des arabi- die schriftsprachliche Kom m unikationsdichte
schen Alphabetes in den Grenzen Rußlands im Alltagsbereich war, aufgrund der allge-
geht bis auf das 16. Jahrhundert zurück, also m ein-gesellschaftlichen und adm inistrativen
auf die Zeit der Unterwerfung der ersten is- Gegebenheiten, schwach, die drucktechni-
lam ischen Völkerschaften, vornehm lich der schen Voraussetzungen für eine Massen-
Wolgatataren. Später, insbesondere im 19. schriftsprachlichkeit noch nicht gegeben. Je
Jahrhundert, werden weitere um fangreiche nach soziokulturellem und ökonom ischem
Geltungsbereiche der arabischen Schrift in Entwicklungsniveau der einzelnen Ethno-
Zentralasien und in den islam ischen Teilen gruppen und Landesteile zeigten sich jedoch
des Kaukasus hinzugewonnen. Diese Alpha- teils gravierende Unterschiede im aktiven und
bete wurden nicht nur in arabischsprachigen passiven Gebrauchsvolum en der vorhande-
Texten benutzt, sondern, in begrenzterem nen Schriftsprachen und dam it der Alpha-
Um fang, auch in eigensprachigen Texten, ins- bete. Eine gewisse Inform ation über die He-
besondere bestim m ter Türk- und iranischer terogenität der Schriftsprachenverwendungs-
Völker. — Das hebräische Alphabet fand vor intensität geben statistische Werte zur Alpha-
allem bei den in den westlichen und südwest- betisierungsrate um die Jahrhundertwende.
lichen Teilen des Russischen Reiches ansässi- Zur Illustration seien folgende Daten ange-
gen Juden sowohl für die Abfassung hebräi- führt: 1897 konnten im Russischen Reich
scher als auch jiddischer Texte Verwendung. nach offiziellem Zensus 28,4% seiner Ein-
Geschrieben wurde es von kleineren judaisti- wohner im Alter von 9—49 Jahren lesen und
schen Gruppen auch in anderen Mutterspra- schreiben. Diese Zahl hat jedoch hinsichtlich
chen, so von den iranischsprachigen Taten im der realen Literalitätsverhältnisse geringe
nördlichen Kaukasus und den türksprachigen Aussagekraft, da die Situation in den einzel-
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 805

nen Landesteilen dram atische Unterschiede des vorhandenen Schriftsprachenspektrum s


aufwies. Beispielsweise betrug der Anteil der auf dessen Geeignetheit für die Erfordernisse
nichtanalphabetischen Bevölkerung in Est- der angestrebten revolutionierten Gesell-
land 96,2%, in Rußland 29,6%, in Georgien schaft, gegebenenfalls Reform ierung und Ak-
23,6% und in Tadžikistan 2,3% (vgl. Lewis kultivierung bereits existierender Schriftspra-
1972, 175). Zu beachten ist auch, daß der chen, Entscheidungen zur Verschriftung bis
soziokulturelle Status von Sprechern ganzer dato nichtverschrifteter Sprachen, Auswahl
Ethnien unterschiedlicher sprachgenetischer von Varianten für anstehende Neuverschrif-
Gruppen eine Schriftlichkeit offensichtlich tungen, um fassende Alphabetisierungskam -
noch nicht erforderte. Ein nicht zu vernach- pagnen für Erwachsene, Aufbau eines flä-
lässigender Teil der Bevölkerung befand sich chendeckenden Schulsystem s, Lehrerausbil-
also im Zustand der Ethnoaliteralität. dung, Bereitstellung von Literatur und Schaf-
fung drucktechnischer Voraussetzungen.
Diese Aufgaben wurden seit den 20er Jahren
2. Phasen der Alphabetisierung in der m it wechselnder Intensität und unterschied-
Sowjetunion lichem Erfolg in Angriff genom m en. Die
Die nach 1917 einsetzenden Aktivitäten im UdSSR ist dam it der erste Staat in der Ge-
Bereich von Alphabetisierung und dam it ver- schichte, in dem eine breit angelegte syste-
bundener Schriftreform sind im unm ittelba- m atische Alphabetisierungstätigkeit im m ul-
ren Zusam m enhang m it den politischen, öko- tinationalen Bereich durchgeführt wurde. —
nom ischen und kulturellen Veränderungen in Aus Platzgründen kann auf dam it verbundene
der entstehenden Sowjetunion zu sehen. Das Einzelheiten der Schriftsprachenschaffung
Ziel dieser Veränderungen bestand zunächst und -distribution nicht eingegangen werden
in der Dem okratisierung, Akkultivierung, (dazu ausführlich Lewis 1972; Girke & Jach-
Volksm obilisierung und Industrialisierung now 1974; Kreindler 1982; Glück 1984; Söff-
aber auch m arxistischen Ideologisierung der ker 1984). — Die folgenden Ausführungen
Gesellschaft. Alle Zielstellungen setzten eine konzentrieren sich gem äß der zentralen
Beseitigung des auch 1917 noch herrschenden Handbuchthem atik auf die Modalitäten der
Massenanalphabetism us voraus. Das bereits Alphabetreform en und Alphabetschaffung in
1918 von der dezentralen Adm inistration er- ihren soziokulturellen Kontexten.
lassene Dekret zur Liquidierung des Analpha-
betentums wie vor allem dessen Um setzung in 2.1.  Geradezu sym ptom atisch für die Frühzeit
die Praxis stellte einen sehr wesentlichen, der UdSSR ist die die sprachliche Vielfalt
wenngleich von innenpolitisch bedingten akzeptierende, eine übergeordnete Staatsspra-
Rückschlägen begleiteten, Bestandteil der so- che ablehnende, em anzipatorische Nationali-
wjetischen Kulturrevolution dar. Ihre Grund- tätenpolitik Lenins. Sie brach bewußt m it der
intention war die „m arxistisch orientierte zaristischen Tradition, die nichtrussischen
Aufklärung“ der Gesellschaft. Sie wurde von Kulturen weitgehend zu ignorieren, wenn
der Adm inistration in verschiedener Modifi- nicht gar zu verfolgen, und zielte auf eine
kation über längere Zeit durchgehalten. Im baldige Verbesserung der kulturpolitischen Si-
Rahm en der Sprachpolitik im m ultiethni- tuation selbst sehr kleiner ethnischer Grup-
schen Bereich wurden recht unterschiedliche pen. Diese Position zeigte sich besonders
Konzeptionen vertreten, die jeweils stark an deutlich in dem Bestreben, allen Völkerschaf-
die generelle Ethnopolitik, und diese wie- ten über Alphabetreform en oder Alphabet-
derum an allgem ein innenpolitische Vorgaben schaffung m öglichst schnell eine Schriftspra-
(vgl. 2.1.—2.3.) gebunden waren. — In der che zugänglich zu m achen. Dabei wurde frei-
unm ittelbar nachrevolutionären Periode er- lich gerade bei den schriftlosen Ethnien kaum
nach deren soziokultureller Disponiertheit ge-
gab sich hinsichtlich der Überwindung des fragt und unreflektiert das „Prinzip des er-
Analphabetism us eine Fülle von theoreti-
schen und praktischen, teils außerordentlich zwungenen Glücks“ praktiziert. Die ersten
arbeits- und kostenaufwendigen, Aufgaben. Maßnahm en auf dem Wege der „Dem okra-
Folgende Problem e standen im Mittelpunkt: tisierung der Schriftsprachlichkeit“ war aller-
Grundsatzentscheidungen zur künftigen Aus- dings die bereits vor der Revolution vorbe-
richtung der Sprachpolitik (Akzeptierung der reitete Reform des russischen Alphabets und
sprachlichen Heterogenität oder Förderung der Orthographie (s. Vinogradov 1964, 8 ff),
sprachzentripetaler Maßnahm en), Sichtung die dem Wesen nach die Petrinische Reform
zu Ende führte (vgl. 1.3.). Sowohl m it der
806 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Abschaffung der redundanten Graphem e i, ђ Elim inierung der arabischen Schrift wurde
und θ als auch der Tilgung der orthographi- hier vom Klerus, aber auch Teilen der Intel-
schen Regel, nach der im Wortausgang nach ligenz als Sakrileg em pfunden. Wie Polivanov
velaren Konsonanten ъ zu schreiben ist, sollte 1925 schreibt, wäre jedoch die Einführung der
die russische Orthographie leichter und zu- m it dem Odium des Kolonialism us behafteten
gleich volksnäher gem acht werden. Diese Re- kyrillischen Schrift auf noch vehem entere Ab-
form wurde schon im Dezem ber 1917 dekre- lehnung gestoßen (s. Winner 1952, 137). Eine
tiert. Auch alle anderen Schriftreform en im Massenerhebung von Attitüden zur Einfüh-
direkten Anschluß an die Oktoberrevolution rung neuer Alphabete hat es in der UdSSR
beabsichtigten die Dem okratisierung der offenbar zu keiner Zeit gegeben, so daß
Schriftlichkeit durch Vereinfachung von Sy- exakte Inform ationen zur Schriftakzeptanz
stem en und deren Gebrauch, d. h. sie bezogen fehlen. Durch die lateinische Schrift wurde
sich fast ausschließlich auf schon bestehende die arabische, m ongolische und in einigen
Schriftsprachen (vgl. 1.). Diese Reform en Fällen kleinerer finno-ugrischer, türkischer
waren jedoch m ehr durch revolutionäre Spon- und nordkaukasischer Sprachen die kyrilli-
taneität gekennzeichnet als durch eine syste- sche Schrift substituiert. Es waren auch offi-
m atische wissenschaftliche Vorbereitung. In zielle Bestrebungen, die ostslavischen Spra-
der Fachliteratur wird diese erste Phase der chen auf das lateinische Alphabet um zustel-
sowjetischen Schriftsprachen- und Schriftpo- len, zu beobachten (s. Makarova 1969). Ob-
litik, die bis Mitte der 20er Jahre andauerte, wohl dieser Plan von Persönlichkeiten wie
kaum noch erwähnt. Im m erhin beginnt m it dem ersten Kom m issar für Volksbildung, A.
ihr — trotz m annigfaltiger innen- und außen- Lunačarskij, unterstützt wurde, scheiterte er
politischer Hem m nisse (Bürgerkrieg, Inter- offenbar am Einspruch traditionell gesinnter
ventionskrieg) — die Überwindung des Mas- Kreise, vornehm lich der russischen Intelli-
senanalphabetism us. Als Prinzip der Alpha- genz. Nach Abschluß der Latinisierungskam -
betisierung galt: Verm ittlung m uttersprachli- pagne existierten in der SU nunm ehr nur noch
cher Schreib- und Lesefähigkeiten im über- das kyrillische, lateinische, hebräische, arm e-
kom m enen, teils reform ierten, Alphabet. Dar- nische und grusinische Alphabet. Die Benut-
über hinaus finden sich, vornehm lich im Kau- zung der anderen Alphabete wurde nach einer
kasus, sporadische Ansätze von Neuverschrif- Übergangsphase ab 1925 verboten. Bis 1936
tungen. hatten insgesam t 71 Sprechergruppen unter-
schiedlichster Größe das lateinische Alphabet
2.2.  Einen neuen Charakter hatte die zweite angenom m en. — Die Einführung des „Ok-
Phase der sowjetischen Schrift- und Schrift- toberalphabetes“ wurde von Adm inistration
sprachenschaffung (1926—ca. 1936). Sie ist und Wissenschaft in der Öffentlichkeit dis-
noch nachhaltiger von der Leninschen Em an- kutiert und begründet. Als wichtigste Argu-
zipationspolitik geprägt als die ihr vorange- m ente galten, daß es das schwer erlernbare,
hende Phase. Dies drückt sich insbesondere m it unnötigen Allographien belastete und den
in dem Um stand aus, daß in dieser Zeit ca. phonologischen Strukturen der Türk- und an-
55 Sprachen (insbesondere der Völker des deren Sprachen nichtadäquate arabische Al-
Nordens, der finno-ugrischen Gruppe, aber phabet ersetze, daß es drucktechnisch gut zu
auch kleinerer Türk- und Kaukasusvölker) verarbeiten sei und dazu beitragen könne, die
erstm als verschriftet und schon vorhandene Kom m unikation m it dem europäischen We-
Schriftsprachen m odernisiert und akkultiviert sten zu erleichtern. Auch sollten die orienta-
wurden. Dabei bediente m an sich als graphi- lischen archaischen und klerikalen Form en
schen Medium s nicht des kyrillischen Alpha- von Schriftlichkeit als Ausdruck überlebter
bets, um jeden Eindruck eines russischen Kul- Epochen abgeschafft werden. — Tatsächlich
turim perialism us zu verm eiden, sondern des war die Zeit des lateinischen Alphabetes die
lateinischen Alphabets, des „Oktoberalpha- wichtigste Phase in der sowjetischen Kultur-
bets“, das zum äußeren Sym bol der Kultur- revolution: Die Zahl der Analphabeten nahm
revolution wurde. Während dieses Alphabet drastisch ab (1939 beherrschten im Unions-
von den Sprechern bislang nichtverschrifteter m aßstab 87,4% der 9—49jährigen ein Alpha-
Sprachen im allgem einen problem los akzep- bet), die schriftsprachenabhängige Kulturak-
tiert wurde, stieß es als Ausdruck einer frem - tivität nahm m erklich zu. Es ist die Zeit der
den Kultur bei Sprechern altverschrifteter Herausbildung einer ersten sowjetischen Bil-
Sprachen, insbesondere bei islam ischen Grup- dungsschicht in den unterschiedlichen natio-
pen, auf teils erheblichen Widerstand. Die nalen Gebieten (korenizacija) auf m utter-
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 807

sprachlicher Basis. Allerdings brachte das la-


teinische Alphabet auch Nachteile für be- NTA Phonetic NTA Phonetic
stim m te Gruppen m it sich: Die islam ischen value value
und buddhistischen Völkerschaften wurden A a a Ŋ ŋ [ŋ]
von ihren Kulturtraditionen abgeschnitten, B b b O o o
da sie die Fähigkeit verloren, das tradierte C c č [tʃ] Ө ө [œ]
Schrifttum zu lesen; Bevölkerungsteile, die in Ç ç dž [dʒ] P p p
der ersten Phase der Alphabetisierung (s. 2.1.) D d d Q q [q]
Schreib- und Lesefähigkeiten erworben hat- E e e R r r
ten, m ußten um lernen, genauso wie auch ǝ ǝ [ǝ] S s s
gänzlich neue Lehrm ittel und drucktechnische F f f Ș ș š [ʃ]
Ausrüstungen bereitgestellt werden m ußten. G g g T t t
Diese Kom plikationen galten für Ethnogrup-   [γ] U u u
pen m it neuverschrifteten Sprachen natürlich H h h V v v
nur in abgeschwächtem Maße. — Hatten sich I i i X x [x]
die Anfänge der Latinizacija zunächst un- J j [j] Y y [y]
koordiniert vollzogen (vor allem von Azer- K k k Z z z
bajdžan ausgehend, wo es bereits seit dem 19. L l l   ž [ʒ]
Jahrhundert — von der russischen Verwal- M m m Ь ь []
tung und dem islam ischen Klerus vereitelte N n n
— Bestrebungen nach Verwendung der La-
teinschrift gegeben hatte), konnte sich die- Abb. 66.1: Unifiziertes türkisches Lateinalphabet
ser großm aßstabige Um bruch im Schriftlich- nach (Winner 1952, 140)
keitsspektrum auf Dauer nicht ungeplant
und unkontrolliert abwickeln. Nachdem die
zentrale Adm inistration eine entsprechende
Grundsatzentscheidung getroffen hatte, wur- rim entierfreudigkeit und innovativen Ideen
den Latinisierung und die m it ihr verbundene gekennzeichnet. Aufgrund der Mitarbeit zahl-
Schaffung von Orthographien system atisch reicher Sprachwissenschaftler unterschied-
und im Bewußtsein, daß alle gesellschaftli- lichster Ausrichtung (u. a. V. A. Artem ov,
chen Erscheinungen steuerbar seien, organi- N. A. Baskakov, D. V. Bubrich, N. K. Dm i-
siert. Den wesentlichsten Anstoß dazu gab triev, B. Grande, N. F. Jakovlev, S. E. Malov,
der 1926 in Baku abgehaltene Erste turkolo- N. Ja. Marr, Ju. D. Polivanov, A. A. Refor-
gische Kongreß für die Latinisierung der Türk- m atskij) wurde ein erstaunliches theoretisches
völker, aus dem später das Zentrale Allunions- Niveau bei der Ausarbeitung von linguistisch-
komitee des neuen Alphabets (VCK NA) her- graphem atischen Prinzipien für die Alphabet-
vorging. Schwerpunktaufgaben wie die Fest- erstellung erreicht (s. z. B. die Arbeiten von
stellung der zu graphem atisierenden phone- Jakovlev 1928 und Artem ov 1933; vgl. auch
m atischen Strukturen der einzelnen Sprachen, Musaev 1965; 1975). Viele sowjetische Spra-
die Auswahl von zu verschriftenden Dialekten chen wurden im Zusam m enhang m it der Al-
unter sozialen und funktionalen Gesichts- phabetisierung erstm als Gegenstand sprach-
punkten sowie dem Aspekt der Sprecherkon- wissenschaftlicher Betrachtung. Nach anfäng-
tingente, die Erarbeitung von über 70 einzel- licher Diskussion, ob ein phonetisches oder
sprachlichen Alphabeten und deren Verbrei- phonologisches Prinzip bei der Verschriftung
tung über Schulen, Erwachsenenbildung und zu verfolgen sei, setzte sich letzteres durch.
Medien sowie die Überprüfung dieser Alpha- Verwendet wurden die lateinischen Buchsta-
bete und der auf ihnen beruhenden Ortho- ben, in wenigen Fällen Zusatzgraphem e und/
graphien aus linguistischer, pädagogischer, oder diakritische Modifikationen. — Beson-
psychologischer und graphischer Sicht wur- ders zu erwähnen ist das Bem ühen um ein
den von zahlreichen Unterkom m isisonen, Re- unifiziertes türkisches lateinisches Alphabet,
gionalkom itees und Konferenzen unter Be- das die intersprachliche Kom m unikation vor-
teiligung der neugegründeten Republiksaka- nehm lich zwischen den Türkvölkern Mittel-
dem ien erledigt (vgl. Alaverdov 1933, 9 f; asiens und die nichtm anuelle Textherstellung
Musaev 1975, 247). Ab 1928 wurden auch erleichtern sollte (→ Abb. 66.1). Zweifellos
spezielle Publikationsorgane gegründet wie hätte sich auf dieser Basis eine große türkische
Kul’tura i pis’mennost’ Vostoka und Pis’men- Sprachgem einschaft innerhalb der Sowjet-
nost’ i revoljucija. Die Arbeit war von Expe- union etablieren können, wenn spätere eth-
nopolitische Intentionen dies nicht verhindert
hätten (vgl. unter 2.3.). Unifizierungsbestre-
bungen gab es auch hinsichtlich der neuen
808 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

lateinischen Alphabete für rund 15 Sprachen daß für 1939 die Zahl der Analphabeten im
der Völker des Nordens. Intensität, Um fang Sowjetverband nur noch m it 18,1% angege-
und rechtliche Einbettung der Latinisierung ben wird. Die Resultate dieser Maßnahm en
und der sie begleitenden bildungspolitischen dürfen aber nicht zu hoch eingeschätzt wer-
Maßnahm en (vgl. Kum anev 1967) lassen er- den, da die Qualifikation der „Volkslehrer„
kennen, daß das lateinische Alphabet nicht in der Regel sehr gering war, Lehr- und Lern-
als kurzlebiges Übergangsphänom en (wie m ittel fehlten und die Schriftsprachenkultur
heute m itunter in der sowjetischen Literatur m it ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen im
behauptet) konzipiert war, sondern als vorerst Maßstab einer Massengesellschaft gerade erst
fester Bestandteil der neuen schriftsprachli- am Anfang stand. So waren das Verlags- und
chen Landschaft der Sowjetunion. Bibliothekswesen zu dieser Zeit noch völlig
Mit der Reform ierung und Schaffung von unzureichend. Nach Sm uškova kam en noch
Alphabeten während der 20er und 30er Jahre Ende der 20er Jahre im ländlichen Um feld
korrespondierte die Bem ühung, die Alpha- von Moskau auf einen Einwohner „1/5 eines
bete ihrem praktischen Gebrauch zuzuführen. Bibliotheksbuches“ (1929, 16). — Trotz der
Die wichtigste Maßnahm e zur Erreichung notwendigen Relativierung der Ergebnisse des
dieses Ziels bestand natürlich im allm ählichen Likbez-Unternehm ens m uß betont werden,
Aufbau eines flächendeckenden Netzes von daß das Ausm aß der Analphabetism usbe-
Grundschulen für Kinder. Dieser setzt bereits käm pfung in der frühen Sowjetunion bis da-
in den frühen 20er Jahren ein. Darüber hinaus hin in der Geschichte einmalig war.
wurde jedoch sowohl aus pragm atischen als Die Alphabetisierungskam pagne, die uni-
auch ideologischen Gründen (Verbreitung onsweit — wenn auch m it regionalen Unter-
der Leninschen Staatsidee) eine um fassende schieden und Besonderheiten etwa in Form
Kam pagne zur Überwindung des Analpha- der Wanderschulen für sibirische Nom aden
betism us der Erwachsenen eingeleitet, die ih- oder spezieller Frauenschulen für islam ische
ren politisch-juristischen Ausgangspunkt in Ethnien — durchgeführt wurde, bildete zwei-
dem von Lenin erlassenen Dekret zur Ab- fellos eine wichtige Voraussetzung für die ko-
schaffung des Analphabetismus vom 26. 12. renizacija, deren Ergebnisse allerdings seit der
1919 hat. In seiher Folge werden Organisa- zweiten Hälfte der 30er Jahre aus innenpoli-
tionen wie die „Allrussische Sonderkom m is- tischen Gründen, teils gewaltsam , rückgängig
sion zur Beseitigung des Analphabetism us„ gem acht wurden (Bilinsky 1968; Glück 1984,
und die Gesellschaft „Nieder m it dem An- 535).
alphabetism us“ geschaffen, die eigens die
Aufgabe hatten, für die organisatorischen 2.3.  War die frühe sowjetische Ethnopolitik
Voraussetzungen und ideologischen Rahm en- m it ihren national-em anzipatorischen Ten-
bedingungen einer Massenalphabetisierung denzen in der Langzeitvorstellung Lenins vom
(Likbez „Liquidierung des Analphabetis- übernationalen staatslosen Kom m unis
m us
m us“) zu sorgen. Es wurden tausende soge- wohl als eine erste wichtige Etappe gedacht,
nannter „Liquidierungspunkte des Analpha- so brachte die Machtetablierung Stalins einen
betism us“ eingerichtet, Fibeln gedruckt und gänzlich neuen Geist in die Nationalitäten-
breit angelegte Werbekam pagnen durchge- politik. Für Stalin war die Nation nicht nur
führt. Als besonders geeignet für die Durch- eine historische, sondern eine perm anente Ka-
führung des notwendigen Unterrichts erwie- tegorie. Auch unter den Bedingungen des So-
sen sich gesellschaftliche Organisationen wie zialism us würden zwischen den Nationen —
die Gewerkschaften, die Kom m unistische wie ehem als zwischen den Klassen — Ant-
Staatspartei, der Jugendverband Kom som ol agonism en zu Konflikten führen können, wie
und die Rote Arm ee. Der hier anzutreffende sie sich etwa in der sog. Sultan-Galiev-Be-
Adressatenkreis entsprach besonders den wegung, einer Art Nationalkom m unism us is-
Vorstellungen von Partei und Regierung, die lam ischer Prägung, m it starker Resonanz bei
vor allem die Schulung von Gewerkschafts- den sowjetischen Türkvölkern schon ange-
m itgliedern, Arbeitern, Kolchosbauern und deutet hatten. Als Ausweg aus einem solchen
der sogenannten „Landarm ut“ forderten Konfliktpotential erschien Stalin die Ein-
(Avksent’evskij 1929, 101). Von 1923—1939 schränkung aller nationaler Autonom ieer-
sollen nach Auskunft der Großen Sowjeten- scheinungen und die Einschwörung aller Völ-
zyklopädie (BSĖ, 7, 1972, 245) 50 Millionen kerschaften auf politischen Führungsan-
Analphabeten und 40 Millionen Halbanal- spruch, Kultur und Sprache der größten und
phabeten erfolgreich geschult worden sein, so zentralen Nation, der Russen, im Sinne eines
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 809

„sowjetischen Patriotism us„. Eben auf diesem nahm e war zweifellos die Stärkung des rus-
Hintergrund sind nicht nur die Verfolgung der sischen Elem entes im Unionsverband. Mit ihr
m eist aus der Korenizacija-Politik hervorge- korrespondierten unm ittelbar das Dekret zur
gangenen „bourgeoisen nationalistischen In- Obligatorik des Russischunterrichtes an allen
telligenz“ im nichtrussischen Bereich zu se- nationalen Schulen von 1938 und dessen bal-
hen, sondern auch die Ereignisse der dritten dige Befolgung, die spätere Hochstilisierung
Phase der sowjetischen Alphabetisierungsak- des Russischen zur „Weltsprache des Sozialis-
tivitäten (1936—1941). Das Kernstück dieser m us“ und die allgem eine Förderung des rus-
Phase bestand in der Um stellung aller bis sischen Einflusses auf alle sozialen und kul-
dahin lateinisch verschrifteten Sprachen auf turellen Bereiche (einschl. der Sprachen) der
das Kyrillische. Im Falle einiger kleinerer nichtrussischen Völkerschaften. War der er-
Sprachen wurde die Schriftlichkeit ganz auf- neute Wechsel des Alphabets innerhalb von
gegeben. Zusam m en m it anderen sprachpo- 10—15 Jahren auch m it Rückschlägen in der
litischen Regelungen bildete diese Schriftre- Alphabetisierung und zusätzlichen Kosten
form im wesentlichen den Ausgangspunkt des verbunden, so hat sich dieser Schritt im Sinne
heutigen Funktionsspektrum s der sowjeti- seiner Intention — soweit absehbar — durch-
schen Sprachen (s. Glück 1984, 547 f). — Von aus ausgezahlt. — Im Unterschied zur wohl-
der neuen Schriftpolitik wurden nach einem organisierten und wissenschaftlich reflektier-
entsprechenden Beschluß des VCK NA vom ten Latinisierung wurde die Kyrillisierung per
Februar 1937 zuerst die Völker des Nordens ukaz den örtlichen Kadern überlassen. Auch
und einige Kaukasusvölker, bis 1941 alle an- die sowjetische Literatur der Vorperestrojka
deren Völkerschaften m it Lateinschrift erfaßt. konzediert kritisch, daß die Um stellung der
Lediglich die Lateinschriften der 1940 durch Alphabete und die Orthographievorgaben un-
Annexion wiedergewonnenen baltischen Ge- koordiniert und ohne die notwendige wissen-
biete blieben unangetastet. — In der Öffent- schaftliche Vorbereitung erfolgte. Dies m ußte
lichkeit wurden diese Maßnahm en wie folgt zu verschiedenen Mängeln führen (vgl. 3.).
argum entiert: Wegen seiner größeren Gra- Dennoch verlief die Kyrillisierung nicht völlig
phem zahl sei das russisch-kyrillische Alpha- konzeptionslos: Angestrebt, wenn auch nicht
bet für Verschriftungen besser geeignet als das durchgehend eingehalten, wurde weiterhin
lateinische, die allgem eine Benutzung des ky- eine eineindeutige Phonem -Graphem - bzw.
rillischen Alphabets ökonom isiere und ver- Graphem bündel-Zuweisung im Rahm en des
billige den drucktechnischen Aufwand und Einzelalphabetes. Dabei stellte das russische
die herausgeberische Tätigkeit; die sozioöko- Alphabet den graphischen Grundfundus, der
nom ische und kulturelle Entwicklung dulde jedoch in den m eisten Alphabeten m it Zu-
nicht länger eine Isolation der verschiedenen satzgraphem en und diakritischen Zeichen er-
Völkerschaften von der russischen Wirt- gänzt werden m ußte (→ Abb. 66.2). Ein wei-
schaft, Kultur und Sprache. Letztere könne, teres, ganz anderes Prinzip bestand offen-
als Mittel der übernationalen Kom m unika- sichtlich darin, m it Hilfe der neuen Alphabete
tion, durch die generelle Benutzung seines auch die äußere Form eng verwandter Spra-
(m odifizierten) Alphabets besser zugänglich chen (insbesondere der Türksprachen) m ög-
gem acht werden, und alle Sowjetvölker hätten lichst distinkt zu halten, um so sprachbe-
nunm ehr den Wunsch, die russische Sprache dingte Fraternisierungsstim uli zu erschweren.
aktiv zu erlernen. Einige dieser Argum ente Das Ergebnis war ein sog. alfavitnyj raznoboj
haben kaum Überzeugungskraft und spre- „Disharm onie der Alphabete„. Eine Unifika-
chen unverhüllt gegen die weiter gepflegte Lo- tion der Alphabete nichtrussischer Völker wie
sung „National in der Form , sozialistisch im zur Zeit der Latinisierung kam also nicht
Inhalt„. Richtig ist jedoch, daß ein m ultina- m ehr zustande. — Insgesam t besaßen nach
tionaler Staat von der Ausdehnung der der Um alphabetisierung m ehr als 90% aller
UdSSR dringend einer Koiné bedurfte und Schriftsprachen ein kyrillisches Alphabet.
der Zugang zu ihr durch die weitgehende Nur im Baltikum blieben das lateinische, im
Gleichschaltung der Alphabete tatsächlich er- Kaukasus das arm enische und grusinische Al-
leichtert wurde. Über die Akzeptanz der Ky- phabet erhalten. Das hebräische Alphabet be-
rillisierung durch die betroffenen Völker- hielt ebenfalls seine (quantitativ begrenzte)
schaften ist wenig bekannt. In der sowjeti- Funktion. — Die individuelle Ausform ung
schen Literatur wird m itunter ein Widerstand der neuen Alphabete erfolgte teils in recht
durch „nationalistische Kreise“ erwähnt (Mu- unterschiedlicher Art. So sind beispielsweise
saev 1965, 18). Die Grundintention der Maß- für die finno-ugrischen und Türksprachen
810 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Indo- Türkisch Kaukasisch Finno- Sprachen Mongolisch,


germanisch Ugrisch des Nordens Dunganisch
ä, ă aь ä
в’
г’, гъ ғ, ғ, ђ, гъ, гь ҕ, гь, ҕь, гъ, гy, гI, гв; гъy, г’
гъь, гъв, гIв
дж, дь дǝ, дж, дз; джь, джъ, дзy, дж, дз
джъв
ĕ e’
җ жь, жǝ, жв, жь, жъy ӝ җ
ҙ ӭ
ӣ ӥ
к’, қ, къ, қ, , ҝ, к қ, , кь, кв, кI, кк, кх, къ, қ, к’
кy, қь, қь; кIь, кIв, къь, къв,
кIy, къy, кхъ; кIкI, кхъy
ль лI; лъ, лълъ лъ
ң, Ҥ, ҥ, нъ, нг ң, ҥ, нг ң, нņ, нг ң
ö ө, ö, оь оь ö, ө, ö ө
п’, пъ , пI, пп, пIy
p’
ç cc
т’, тъ , тл, тǝ, ǝ, тI, тт, тш, тIy тш
ȳ, ў ÿ, ý, ӳ, ÿ, ў, yь ÿ ў, y’ ў

фІ
ҳ, хъ ҳ ҳ, хь, ҳǝ, хв, хI, хх, хъ, хy; х’
хIв, хъy, хьхь
цъ ҵ, цǝ, ҵǝ, цI, цц, цy, цIцI
ӌ, ч’, чъ ӌ, ч ӌ, чв, чI, чч, чъ, чIчI ӵ
шь, шǝ, шI, шв, шъ, шIy
h, h’ h h
j
i, ï i i
q
w
y,  y
ǝ ǝ ǝ ǝ
æ
є
I
’(апостроф)
џ, џь
, 
ʒ, ʒǝ

Abb. 66.2: Spezialgrapheme in kyrillischen Alphabeten, die nicht im Russischen benutzt werden (nach Musaev
1965, 68 f)
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 811

m onographische Zusatzgraphem e typisch,


während in den nordkaukasischen Alphabe-

Phoneme

Phoneme
Grapheme Grapheme
ten Graphem kom binationen bis hin zur Qua-
drographie nicht ungewöhnlich sind (s. Mu-
saev 1975). Eine kritische Überprüfung der
kyrillischen Alphabete und der auf ihnen be- ö ö, ө, оь ғ ғ, г, ҕ, г, гъ
ruhenden Orthograpien im größeren Um fang ÿ ÿ, , yь  , , к, къ
wurde erst nach dem Tode Stalins, insbeson- ä ä, ǝ  , ҹ, ӌ, ж, дь, дж
dere nach dem 20. Parteitag 1956, eingeleitet. ы ы, ă  , ҥ, н, нъ
i i, ĕ h h, 
Abb. 66.3: Beispiele für die inkonsequente Zuord-
3. Nachkriegsentwicklungen in der nung von Phonemen und Graphemen in sowjeti-
Schriftlichkeit der Sowjetunion und schen Türksprachen (nach Musaev 1965, 56)
Ausblicke
Seitdem ist die Diskussion nicht m ehr abge-
brochen, wenngleich die Erkenntnis zahlrei- erschwere nicht nur das Erlernen des Russi-
cher Mängel in den vorhandenen System en schen, sondern vor allem die Kom m unikation
und Orthographien weder in der „Zeit der zwischen Trägern eng verwandter Sprachen.
Stagnation“ noch in der der Perestrojka bis- Einschlägige Kritik wird bezeichnenderweise
lang zu nennenswerten Reform en geführt hat. besonders in türksprachigen Fachkreisen laut
Von 66 Schriftsprachen in der Sowjetunion (erstm als Borovkov 1956; s. auch Baskakov
(bei rund 130 Völkerschaften, s. Novikov 1967; Musaev 1975, 255 ff; Henze 1977, 387 ff;
1989) bedienen sich heute 60 des kyrillischen Musaev 1982, 28 f; → Abb. 66.3). Über die
Alphabets. Dieses um faßt insgesam t 205 Gra- Aufnahm e koordinierter theoretischer Vor-
phem e, davon 108 polygraphischen Charak- arbeiten zu den geforderten Reform en ist bis-
ters (das lateinische Alphabet um faßte nur her nichts bekannt geworden.
184 Graphem e). — Als notwendige Verbes- Eine Latinisierung der sowjetischen Do-
serungen werden in der Literatur vor allem m inanzsprache, des Russischen, ist, anders als
folgende Mom ente genannt: (a) genauere Er- in der nachrevolutionären Zeit, seit den 40er
fassung der phonologischen System e der ky- Jahren nicht m ehr ernsthaft diskutiert wor-
rillisch verschrifteten Sprachen. (b) Beseiti- den, wenngleich entsprechende Vorschläge
gung des inkonsequenten und unökonom i- von einzelnen seiner Benutzer im m er wieder
schen polygraphischen Verschriftungsprinzips vorgebracht wurden (Makarova 1969, 123).
zahlreicher Sprachen. (c) Repräsentation des Das kyrillische Alphabet gilt offiziell unter
phonologisch-m orphologischen System s der linguistischen, pädagogischen, kulturpsycho-
Einzelsprache durch ein Alphabet, das eine logischen und finanziellen Gesichtspunkten
konsequente Eineindeutigkeitszuordnung von als adäquat. An der Orthographie werden
Phonem en und Graphem en zuläßt. (d) Ma- hingegen von Zeit zu Zeit durch die Akadem ie
xim ale Unifizierung der Phonem -Graphem - der Wissenschaften Veränderungen im Sinne
Zuordnung bezüglich aller kyrillisch ver- von „Vervollkom m nung und Vereinfachung„
schrifteter Sprachen und Absenkung der Gra- vorgenom m en (Vinogradov 1964, 12 ff). Der
phem zahl auf das notwendige Minim um . (e) von der Wiederbelebung nationaler Werte ge-
Überprüfung der Orthographien unter päd- prägte gegenwärtige Zeitgeist in der UdSSR
agogischen und psychologischen Aspekten. läßt inzwischen eine Latinisierung des Russi-
(f) Flexible Regelung der Schreibung russi- schen gänzlich unwahrscheinlich werden. —
scher Lehnwörter in den Nationalitätenspra- Über den weiteren Verlauf der sowjetischen
chen (s. Musaev 1982 a, 14 f). Nicht selten Schriftpolitik im Rahm en der allgem einen
wird bei der Kritik des gegenwärtigen Status Sprachpolitik sind heute kaum sichere Pro-
der Alphabete auf den hohen theoretischen gnosen zu treffen. Die Jahre der Perestrojka
Standard der Latinisierung (vgl. 2.2.) hinge-
wiesen, die effektivere, einheitlichere und da- haben — selbst zur Überraschung von sowje-
tischen Kennern der Situation — gezeigt, daß
m it auch preiswertere Resultate erbracht habe die Nationalitätenfrage in der UdSSR in kei-
als die Kyrillisierung. Bem erkenswert ist die ner Weise gelöst ist, was weitere einschnei-
unüberhörbare Kritik an der bestehenden dende Folgen auch für deren m ultilingualen
Disharm onie der Alphabete sowohl im Un- Charakter haben kann. War m an bereits unter
ions- als auch im engeren Maßstab. Diese Brežnev, trotz eines fortgesetzten Russozen-
812 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

trism us und der Zielstellung vom Russischen tungsbezirken des Zentralen Schwarzerdegebietes,
als „zweiter Muttersprache“, von einer For- RSFSR.) In: Narodnoe prosveščenie 1929, 10—11,
cierung des sbliženie-Konzeptes(Annäherung 100—106.
von Sprachen und Kulturen der Sowjetvölker Azrael, Jerem y R. (ed.). 1978. Soviet Nationality
bei intensiver Förderung des russischen Ele- Policies and Practices. New York.
m entes) abgekom m en, so sind jetzt sogar Balázs, Janos. 1958. Zur Frage der Typologie euro-
reale Voraussetzungen für eine nachhaltige päischer Schriftsystem e m it lateinischen Buchsta-
Sprachzentrifugalität gegeben. Eine solche ben Studia Slavica 4, 251—292.
könnte sich sowohl in einer weiteren Redu- Baskakov, Nikolaj A. 1967. O sovrem ennom sosto-
zierung des Alphabetparadigm as niederschla- janii i dal’nejšem soveršenstvovanii alfavita tjurks-
gen (beispielsweise durch Austritt von Uni- kich jazykov narodov SSSR. (Zum gegenwärtigen
onsrepubliken m it nichtkyrillischen Alpha- Zustand und zur zukünftigen Vervollkom m nung
beten aus dem Staatsverband) als auch durch des Alphabets der Turksprachen in der UdSSR.)
eine Erweiterung des Spektrum s durch die Voprosy jazykoznanija 1967, 33—36.
Reetablierung traditioneller Schriften. Diese
—. (ed.). 1969. Osnovnye processy vnutristruktur-
Überlegungen bleiben jedoch vorerst speku- nogo razvitija iranskich i iberijsko-kavkazkich ja-
lativ. Die weiteren Entwicklungen im Bereich zykov. (Die wesentlichen Prozesse der innerstruk-
der Schriftlichkeit sind untrennbar m it den turellen Entwicklung iranischer und iberisch-kau-
innenpolitischen Prozessen der Perestrojka- kasischer Sprachen.) Moskva.
Zeit verbunden.
Nachtrag: Seit Abschluß der Arbeit am —. (ed.). 1972. Voprosy soveršenstvovanija alfavi-
Manuskript im Frühjahr 1990 hat die Pere- tov tjurkskich jazykov SSSR. (Problem e der Ver-
strojka dram atische politische, wirtschaftliche vollkom m nung der Alphabete von Turksprachen
und kulturelle Veränderungen nach sich ge- der UdSSR.) Moskva.
zogen: Die Sowjetunion existiert nicht m ehr, —. 1972 a. O sovrem ennom sostojanii i dal’nejšem
ihre Teilrepubliken haben sich verselbstän- soveršenstvovanii alfavitov tjurkskich jazykov na-
digt, was sich auch in allen Bereichen der rodov SSSR. (Zum gegenwärtigen Zustand und zur
Kultur bem erkbar m acht. Obwohl die funk- zukünftigen Vervollkom m nung der Alphabete der
tionale Bedeutung der Nationalitätenspra- Turksprachen in der UdSSR.) In Baskakov 1972,
chen in Relation zum Russischen in den un- 5—27.
abhängigen Nachfolgestaaten der UdSSR er- Bilinsky, Yaroslav. 1968. Education of the Non-
heblich gewachsen ist, ist der Alphabetge- Russian Peoples in the USSR, 1917—1967: An
brauch bisher lediglich in Moldavien verän- Essay. Slavic Review, 411—437.
dert worden, wo das Moldauische (eine dem Bokarev, Evgenij. A. & Dešeriev, Junus D. (ed.).
Rum änischen engstens verwandte ostrom a- 1959. Mladopis’m ennye jazyki narodov SSSR.
nische Sprache) nunm ehr nicht m ehr kyril- (Neuverschriftlichte Sprachen der Völker der
lisch, sondern lateinisch geschrieben wird. UdSSR.) Moskva/Leningrad.
Wie sich die Entwicklung in den anderen Ge- Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. (Große Sowjet-
bieten gestalten wird, ist nach wie vor nicht enzyklopädie.) 1972. 7, Moskva.
absehbar. Borovkov, Alexander K. 1956. K voprosu ob uni-
fikacii tjurkskich alfavitov SSSR. (Zum Problem
der Unifizierung der Alphabete der Turksprachen
4. Literatur der UdSSR.) Sovetskoe vostokovedenie 4,
Alaverdov, K. 1933. K itogam pervogo plenum a 101—110.
Naučnogo soveta VCK NA. (Zu den Ergebnissen Com rie, Bernhard. 1981. The Languages of the
des ersten Plenum s des Wissenschaftsrates des All- Soviet Union. Cambridge.
unionszentralkom itees für das Neue Alphabet.) Dešeriev, Junus D. 1968. Sovetskij opyt jazykovogo
Pis’mennost i revoljucija 1, 6—13. stroitel’stva i razvitija literaturnych jazykov. (So-
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East: publications and writing systems, New York. Entwicklung von Hochsprachen.) Ėlista.
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negram otnosti v rajonach CČO. (Für eine totale Giljarevskij, R. S. & Grivnin, V. S. 1965. Oprede-
Beseitigung des Analphabetism us in den Verwal- litel’ jazykov m ira po pis’m ennostjam . (Sprachbe-
66.  Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung 813

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814 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

67. Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien

1. Zur Geschichte von Literalität und Literatur Mönche stehen sie tatsächlich durch. Dam als
in Äthiopien wie heute führt die Ausbildung von den tri-
2. Sozio-psychologischer Kontext vialen Stufen — Alphabet, Kirchentanz, Mu-
3. Linguistische Voraussetzungen der Verschrif- sik und Gram m atik — bis zur Kirchenge-
tung schichte und Poetik (Aklilu 1989, 1).
4. Methoden der Alphabetisierung Was die Literatur angeht, so sind bis zum
5. Fibeln und weiterführende Literatur 14. Jahrhundert keine Werke durch Hand-
6. Die Alphabetisierungs-Kampagne der Revo- schriften belegt; aber für das 12. und 13. Jahr-
lution hundert legen es schon die Briefe der Zagwe-
7. Die Folgen Kaiser (1190—1225) an zeitgenössische Kali-
8. Literatur fen und Patriarchen nahe, daß dieser Zeit-
raum literarisch kein Vakuum gewesen sein
kann. Das Ge‛ez war in dieser Zeit zwar keine
1. Zur Geschichte von Literalität und lebende Spache m ehr, aber es wurde weiter
Literatur in Äthiopien geschrieben, gelesen und gelehrt und bot sehr
bald den Boden für eine literarische Renais-
1.1. Die Anfänge sance. Die Geschichte der äthiopischen Lite-
ratur ist als eine Geschichte des paraphrasie-
Die Anfänge des äthiopischen Schrifttum s lie- renden Übertragens christlicher Literatur be-
gen im aksum itischen Stadtstaat des vierten zeichnet worden, wobei die griechischen und
Jahrhunderts (Bartnicki & Mantel-Niećko arabischen Schriften des Ostens als Vorlagen
1982, I, xv), und auf die gleiche Zeit führt dienten. Es ist hier nicht der Raum , die Ge-
auch die äthiopisch orthodoxe Kirche ihre schichte dieser Literatur auch nur zu skizzie-
Entstehung zurück. Der Klerus der ortho- ren. (Eine geraffte Darstellung bietet Ullen-
doxen Kirche lehrt in wohl ungebrochener dorff 1973, 131—151; vgl. Cerulli 1956.) Er-
Tradition das Schreiben und Lesen der äthio- wähnt werden m uß hier jedoch das Haupt-
pischen Sprache Ge‘ez (→ Art. 23) und tra- werk dieser Gattung, das zur Zeit des Königs
diert dam it eines der ältesten Bildungssystem e Am da Seyon I. (1314—1344) übersetzte ge-
überhaupt (Bowen & Horn 1976, 608; Haile schichtsform ende Werk Kebra Nagast —
G. 1976, 339). nicht zuletzt deshalb, weil sein Herzstück, die
Die Sprache dieser Kirche, Ge‛ez, hat sich Legende der Königin von Saba, seit m ehreren
etwa drei oder vier Jahrhunderte später zur Generationen in volkstüm liche Bildstreifen
heute bekannten Form verfestigt (Ullendorff übersetzt wird, m it am harischen Untertiteln.
1973, 117). Im gleichen Zeitraum bildete sich Es gibt auch originale Werke, wie z. B. die
im „Am hara“ genannten Baschilo-Flußtal Annalen und Lebensbeschreibungen der Kö-
aber schon eine Vorform derjenigen Sprache nige; einen Höhepunkt der Schriften dieser
heraus, die heute „Am harisch“ heißt (Bender Art stellt die illum inierte Vita des Königs
1983, 46). Die Funktion des Ge‛ez verengte Lalibela dar.
sich auf die einer Kirchensprache, als die sie Die äthiopische Literatur dieser Jahrhun-
auch heute noch verwendet wird (Ullendorff derte war, wie auch die äthiopische Musik
1973, 116). und Architektur, ganz auf christliche Them en
und Zielsetzungen festgelegt (Sergew 1972,
1.2. Das Goldene Mittelalter 292). Neben religiösen Lebensbeschreibungen
Das Schulsystem der Ge‛ez sprechenden Kir- und Herrscherchroniken brachte das „gol-
che bestand allerdings weiter, es breitete sich dene Mittelalter“ auch eine Blüte der reli-
aus und wurde auch in unserem Jahrhundert giösen Poesie hervor, die sich in vielen Versen
noch nicht vom Am harischen abgelöst (Aklilu und Hym nen über die Heiligen entfaltete
1989, 1). In ihrer gegenwärtigen Form datie- (Bartnicki 1982, I, 97). Die älteste bekannte
ren die orthodoxen Kirchenschulen aus dem Handschrift in Ge‛ez ist das Evangelienbuch
„goldenen Mittelalter“ der Kirche — dem 13. des Kaisers Am da Seyon aus dem 14. Jahr-
bis 16. Jahrhundert. Die Resistenz dieses hundert (Bartnicki 1982, I, 97).
Schulsystem s gegen jede spätere Veränderung Daß eine am harische Literatur existiert
erklärt sich schon aus der Intensität und der haben könnte, dafür gibt es als frühesten Be-
Dauer der Schulung: eine volle Ausbildung leg von einem unbekannten Verfasser das
kann dreißig Jahre dauern, und nur wenige Epos über die Feldzüge des Am da Seyon
67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien 815

(1329). Die Sprache dieser Texte kann nach ten „arabischen“, d. h. ausländischen Zeichen
Bender (1983, 48) als Pidgin- oder Kreol- (Sergew 1972, 279; Bender 1983, 48). Die er-
Vorform des heutigen Am harisch charakteri- sten in am harisch konzipierten größeren
siert werden. Sie enthielt deutliche Beim i- Schriftstücke waren Schulbücher, welche 1617
schungen aus verschiedenen nichtsem itischen für die portugiesischen Missionsschulen ge-
Sprachen — z. B. dem Sidam o (Bender 1983, schrieben wurden. Nach der Vertreibung der
46). Portugiesen gab es dann 200 Jahre lang keine
Was das Um feld der Literatur dam als an- Literatur dieser Art m ehr (Bowen & Horn
geht, lassen allerdings die Annalen und Rei- 1976,290; Haile G. 1976, 362).
seberichte aus der Zeit des „goldenen Mittel-
alters“ darauf schließen, daß — bei aller Ent- 1.4. Iyasu II.
faltung geistlichen Lebens in den Klöstern — als Mäzen der Alphabetisierung
die Kaiser und der Landadel einen prosaisch
ärm lichen Lebensstil führten und unter pei- Iyasu II. m uß auf dem Hintergrund des tra-
nigender Langeweile gelitten haben m ögen. ditionellen, vielleicht „ritterlich“ zu nennen-
Theater oder Musik als geistige Ereignisse gab den Erziehungsideals seiner Zeit (1730—1744)
es nicht, Lesen war Sache des Klerus (Merid als „aufgeklärter Herrscher“ gelten (Bartnicki
1987, 127). 1982, I, 200). Selbst im kulturbewußteren
Äthiopien des 18. Jahrhunderts war Iyasu
1.3. Die Unruhigen Zeiten eine ungewöhnliche Erscheinung. Die äthio-
pischen Zeitgenossen allerdings nannten ihn
Zur Zeit der islam ischen Kriegszüge Ah- Iyasu „den Kleinen“; denn im Vergleich zu
m ad Granjs (ab 1527) gingen viele der in seinem Vorgänger Iyasu I. hatte er sowohl
Klosterbibliotheken sorgfältig gesam m elten politisch als auch kriegerisch wenig Schwung
Ge‛ez-Schriftenin Raub und Brand verloren und Fortüne — dafür aber Gefallen am Schö-
— wie auch einige in am harischer Sprache nen. Er ließ in seinem Reiche bekanntm achen,
geschriebenen Regierungsdokum ente (Bart- daß jeder, der die Wissenschaften suche, zu
nicki 1982, I, 121). Mit jedem Buch ging die Hof willkom m en sei (Bartnicki 1982, I, 200).
Schreibarbeit von m ehreren Monaten verlo- Je höher die Stufe der Wissenschaften, desto
ren, das Pergam ent von m ehreren Ziegenher- reichere Genüsse solle der Wissensdurstige an
den — und oft das letzte Manuskript seiner der Tafel finden: Lesen und Schreiben werde
Art. Auf die Kriegszüge des Ahm ad Granj m it einfachen Speisen belohnt, die höheren
folgten weitere Unruhen: Kriegszüge der Wissenschaften m it Gerstenbier (Talla), die
Galla, Auseinandersetzungen m it dem Katho- Dichtkunst gar mit Met (Taj).
lizism us — zum Teil begleitet durch erkun- Iyasu schaffte auch die Voraussetzungen
dende oder polem isierende Schriften. Zur für eine Bereicherung der Literatur: Er regte
gleichen Zeit tat die äthiopische Literaturge- den Klerus an, Werke der Literatur des christ-
schichte in Europa einen wichtigen Schritt lichen Okzidents zu übersetzen und in den
voran: In Rom war näm lich eine kleine Druk- Klosterbibliotheken seines Reiches zu sam -
kerpresse m it äthiopischen Lettern eingerich- m eln. Eine große Anzahl von Handschriften
tet worden, und 1513 — also fast ein Jahr- ist heute noch in der durch ihn errichteten
zehnt vor Luthers Neuem Testam ent — wur- Bibliothek zu St. Gabriel auf einer der Inseln
den hier die Psalm en, das Hohelied, einige des Tana-Sees archiviert. Die Handschriften
Hym nen, eine Tafel des Alphabets und eine sind so zahlreich, daß sie bis heute kaum
Ge‛ez-Gram m atik gedruckt (Ullendorff 1960, ausgewertet werden konnten (Bartnicki 1982,
7; Conacher 1970, 45). Weil die äthiopische I, 201). Bis etwa 1755 entwickelt sich im Zuge
Kirche in dieser schwierigen Zeit eine stärkere der allgem einen kulturellen Belebung vor al-
Verbindung m it dem Volk der „Laien“ suchte, lem eine reiche religiöse und historische Lite-
kam es wohl auch zu einer stärkeren Teil- ratur, wobei die eigenständigen Werke eher
nahm e der Laien an der Unterweisung durch zur letzteren Gattung gehören. Werke ganz
Priester und Diakone (Aklilu 1989, 1). anderer Art, wie zum Beispiel Gram m atiken
In den Unruhen und Völkerbewegungen des Ge‛ez, entstehen in der etwas späteren
vor und nach 1600 war die am harische Spra- Gonder-Periode. (Bartnicki 1982, I, 203)
che zur lingua franca m ehrerer andersspra- In der darauffolgenden Epoche der „Zer-
chiger Gebiete geworden. Um der Aussprache splitterung“ (1755—1855) boten sich für das
von Palatal-Lauten in assim ilierten Lehnwör- literarische Schaffen keine guten Vorausset-
tern entgegenzukom m en, waren zusätzliche zungen (Conacher 1970, 46). Neben einigen
Sym bole geschaffen worden — die sogenann-
816 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

am harischen Werken gibt es relativ wenige (NLCCC 1984, 5; Tesfaye 1971, 369).
literarische Denkm äler aus dieser Zeit: m an-
che sind durch Brände vernichtet, andere viel- 1.7. Säkulare Schulen
leicht bis heute als Privatbesitz verborgen
(Bartnicki 1982, I, 365). Die erste säkulare Schule Äthiopiens wurde
1908 von Menilek II. in Addis Ababa gegrün-
1.5. Tewodros II. det (Aklilu 1989, 4). Nach dem oben (1.6.)
als Stifter der Nationalsprache Gesagten m ag einleuchten, daß eine solche
Schulgründung nicht allen Vertretern der or-
Mit Tewodros (1855—1868) begann eine neue thodoxen Tradition willkom m en war. Eine
Ära, auch im Verhältnis Äthiopiens zu Regierungserklärung erm utigte die Bevölke-
Schrifttum : Tewodros hatte das politische Po- rung, ihre Kinder zur Schule zu schicken (Mi-
tential einer einigenden Sprache erkannt und nistry 1990, 12; NLCCC 1984, 5). Was Me-
wies der am harischen Sprache neue Funktio- nilek sich für sein Land erhoffte, waren eine
nen zu: Nach vielen Jahrhunderten der Ge‛ez- Intensivierung der Kontakte, wie sie sich
Geschichtsschreibung wird die Staatschronik durch Dolm etscher, Übersetzer und Juristen
seiner Regierungszeit nun im zeitgenössischen ergeben würde — vor allem über das Fran-
Am harisch geschrieben. Die Chroniken seiner zösische (Aklilu 1989, 4; Bowen & Horn 1976,
Zeit sind nicht nur als historische Quellen 610). Die Post war inzwischen zu einer sehr
bedeutsam , sondern auch durch ihren litera- willkom m enen Einrichtung geworden. Addis
rischen Wert. Der Brief des Tewodros von Ababa war eine junge Stadt von fast 100 000
1862 an die Königin Victoria kann als welt- Einwohnern und wuchs. Verbindungen ins In-
geschichtlich folgenreiches Dokum ent be- land und Ausland, besonders m it ausländi-
trachtet werden; interessant ist er zugleich als schen Technikern, wurde aktiv gesucht. Das
eines der ersten am harisch geschriebenen Asyl, das Menilek den derzeit verfolgten ar-
Schriftstücke seiner Art (Moorehead 1983, m enischen Christen gewährt hatte, zahlte sich
214). als Entwicklungshilfe aus: Arm enier waren es
vor allem , die Zeitungen, Broschüren und Bü-
1.6. Menilek II. als Kommunikator cher druckten.
Am harisch übernahm langsam die Rolle
Menilek wurde durch den Sieg über die Ita- der führenden Literatursprache (Bartnicki
liener (1896) darin bekräftigt, daß m ehr Aus- 1982, I, 365 f). Es übernahm einige Funktio-
bildung und m ehr Kom m unikation seinem nen des Ge‛ez und wuchs vor allem durch den
Land guttun würden. Er öffnete viele neue Buchdruck schnell in neue Funktionen hinein.
Wege der Kom m unikation — Postwesen, Rom ane erschienen. Ab 1919 wurde Am ha-
Bahn, Straßen, Telegraphie — und schickte risch als volles Schulfach unterrichtet (Tesfaye
viele Studenten ins Ausland (NLCCC 1984, 1971, 369). An den über das Land verstreuten
5; Ullendorff 1973, 149; Bartnicki 1982, I, Missionsschulen wurden hier und da zwar
362). verschiedene äthiopische Sprachen verwen-
Die erste äthiopische Alphabetisierungs- det, vorwiegend aber europäische Sprachen
Proklam ation stam m t aus seiner Zeit (1906). und Amharisch (Bowen & Horn 1976, 610).
Religiöse Institutionen, so Menilek, sollten Unter Haile Sellase entstanden dann bis
Lesen und Schreiben unterrichten, und m ög- 1935 ca. 20 Regierungsschulen m it ca. 4200
lichst alle Kinder ab sechs Jahren sollten Al- Schülern, und dazu kam en ca. 100 Missions-
phabetisierungs-Schulen besuchen. Die näch- schulen m it ca. 5000 Schülern (Haile G. 1976,
sten Ansätze zur Alphabetisierung gab es 362).
dann erst wieder 1928, 1955 und schließlich
1979 (Ministry 1990, 27).
Seit m ehr als 16 Jahrhunderten hatte Ge‛ez 1.8. Kolonialistische Sprach- und
als die einzige Sprache gegolten, welche Kul- Schulpolitik
tur verm itteln könne. Als aber im m er m ehr Zur Zeit der italienischen Invasion (1935)
am harische Literatur unter das Volk geriet — wurden die m eisten äthiopischen Schulen ge-
seit 1911 auch im Druck — da entdeckten schlossen, und auch später standen den „Ein-
im m er m ehr orthodox geschulte Leser ihre geborenen“ nur wenige Schulen offen (Bowen
„Biliteralität“ (Wallace 1987). Die Kunst des & Horn 1976, 610). Eine lesende Elite konnte
Lesens, die sie im Ge‛ez erworben hatten, sich schon deshalb nicht bilden, weil viele
konnten sie ohne weiteres auf die Sprache Schulabgänger im Krieg ihr Leben verloren
ihres Alltags übertragen: Sie lasen Am harisch hatten (NLCCC 1984, 6).
67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien 817

Eine äthiopische Nationalsprache sollte es Ab 1958 wurde Am harisch zur Unterrichts-


aus kolonialfaschistischer Sicht nicht geben. sprache der Grundschulklassen (1—6) erklärt
Am harische Schulausbildung wurde einge- (Tesfaye 1971, 373). Einige Kirchenschulen
engt, Arabisch aber in Islam schulen, Zeitun- übernahm en das am harische Unterrichtspro-
gen und Rundfunk gefördert (Sbacchi 1985, gram m der Regierung (Bowen & Horn 1976,
162—163). Die italienischen Generalgouver- 617). Eine Regierungsverordnung m achte aus
neure ließen in ihren verschiedenen Provinzen der „Sprachakadem ie“ die „Am harische Aka-
den Unterricht jeweils in der Sprache abhal- dem ie“, weil dies nach der Verfassung von
ten, die ihnen opportun schien; hier Orom o, 1955 die offizielle Landessprache war (Aca-
dort Kafa usw. Exzellente Linguisten lieferten demy 1986, 1).
dieser Sprachpolitik die Analysen (Bowen & Schulausbildung m it Am harisch als Unter-
Horn 1976, 610; Sbacchi 1985, 160). Äthio- richtssprache blieb ein Problem . Diese Spra-
pische Politiker wittern seither ein divide et che war für die Mehrheit der Landbevölke-
impera in jeder Verwendung der Mutterspra- rung einfach ungebräuchlich oder unbekannt
chen. (Galperin 1981, 127). Interessanterweise wird
schon zu Zeiten des Kaisers (1971) em pfohlen,
1.9. Sprach- und Schulpolitik des Reiches für die ersten vier Schuljahre die Mutterspra-
chen der Schüler zu verwenden — wenigstens
Nach dem Scheitern der italienischen Inva- Orom o, Tigrinja, Som ali, Afar-Saho, Ara-
sion (1941) m ußte das äthiopische Schulsy- bisch, Kafa, Sidam o, Tigre und Wolaitta (Tes-
stem neu aufgebaut werden (NLCCC 1984, faye 1971, 83 f).
6; Bowen & Horn 1976, 610), und die gesam te In den 60er und 70er Jahren wuchsen m it
Schulbildung wurde 1941 dem neugestalteten der Schülerzahl auch die Problem e: 1971
Erziehungsm inisterium unterstellt (Ministry m ußte Schichtunterricht eingeführt werden;
1990, 13). Die Gründung einer „Äthiopischen die Zahl der vorzeitigen Schulabgänge stieg.
Akadem ie“ wurde 1942 proklam iert, um die Das gesam te Schulsystem wurde schließlich
Erforschung „der Sprache“ zu fördern (Aca- einer Revision unterzogen (Aklilu 1989, 4;
dem y 1986, 1 f). Mit „Sprache“ war die am - Ministry 1990, 13). Das Schulsystem war m it
harische Sprache gem eint; sie galt dem Kaiser einer Million Grundschüler überfordert. Da-
als einer Kraft, die das Im perium einen bei waren erst 20 Prozent aller äthiopischen
konnte. Die anderen äthiopischen Sprachen Kinder verschult, 25 Prozent davon in nicht-
wurden erfolgreich ignoriert, selbst in der staatlichen Schulen. Nichtstaatliche Schulen
Forschung. Ein Dekret von 1944 besagt: „Die fingen an, den Lehrplan der Regierung zu
allgem eine Unterrichtssprache in ganz Äthio- integrieren (ONCCP 1985,84; Galperin 1981,
pien soll Am harisch sein“ (Aym ro 1970, 173). 116; Sjöström 1977, 8). Einige kleine Islam -
Ab 1947 gab es am harische Gram m atik und schulen übernahm en ab 1970 teilweise den
Literatur als reguläres Unterrichtsfach (Tes- Lehrplan der Regierung.
faye 1971, 372). Die orthodoxe Kirche hatte schon früher
Das Erziehungsm inisterium m ußte dann Teile des allgem einen Lehrplans übernom -
1952, zehn Jahre nach seiner Gründung, ge- m en. In den 60er Jahren unterrichtete sie im -
stehen, daß Alphabetisierung ein „Projekt für m erhin halb so viele Schüler wie die Regie-
die Zukunft“ sei. Nur 732 Männer und 13 rung (Galperin 1981, 114; Haile G. 1976,
Frauen waren derzeit in m eist privaten 339). Für die protestantischen Kirchen hatte
Abendschulklassen eingeschrieben. Das Mi- der Genfer Lutherische Weltbund die Frage
nisterium stellte einen Plan zur „kontrollier- recherchieren lassen, welcher Bereich in den
ten Erweiterung der äthiopischen Schulbil- 60er Jahren vorrangig Entwicklungshilfe
dung“ auf. „Kontrolle“ bedeutete Einengung em pfangen m üsse. Die Antwort war: Alpha-
auf Am harisch und auf wohlhabende Schüler. betisierung. Ohne einen gewissen Grad von
Ähnlich 1955: Der Kaiser verlas in einer Al- Alphabetisierung seien keine anhaltenden
phabetisierungs-Proklam ation „Wir fordern ökonom ischen oder sozialen Verbesserungen
jeden analphabetischen Äthiopier zwischen 18 zu erwarten (Sjöström 1973, 15). Die Kirche
und 50 auf, in seiner Freizeit eine Grundaus- „Mekane Yesus“ folgte diesem Hinweis (Sjö-
bildung zu erwerben, nach der er Am harisch ström 1973, 18), und 1962 wurde ein sehr
lesen oder schreiben kann.“ Wie? Zum Bei- effektives Leseprogram m eingerichtet, das bis
spiel durch „Anstellung eines Privatlehrers„ zur Revolution über eine halbe Million Leser
(NLCCC 1984, 6). Schulbücher wurden 1955 ausbildete und 1991 noch ca. 1400 Schulen
ins Am harische übersetzt (Tesfaye 1971, 375).
818 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

unterhielt (Sjöström 1977, 8 f; Sjöström 1973, 3. Linguistische Voraussetzungen der


14; Haile M. 1969, 14; Edossa 1989, 52). Verschriftung
3.1. Sprachliche Institutionen
2. Sozio-psychologischer Kontext
Mehrere äthiopische Institutionen sind an der
Bis in dieses Jahrhundert waren Ethik und Verschriftung der Sprachen des Landes inter-
Wertsystem der äthiopischen Elite vom tra- essiert und beteiligt. Eine prim är „ausländi-
ditionellen Erziehungsideal des fähigen Krie- sche“ Verschriftung in arabischen oder latei-
gers bestim m t. Die Künste des Lesens und nischen Buchstaben liegt ihnen fern. Bald
Schreibens galten in diesem Wertsystem eher nach der Revolution von 1974 ließ z. B. die
als unedel; der Gelehrte verkörperte eher Sprachakadem ie diejenigen Sprachen identi-
Feigheit und Schläue als Mut und Edelm ut fizieren, die verschriftet werden sollten. Als
(Pankhurst 1968, 673; Bowen & Horn 1976, Kriterien galten Sprecherzahl und soziale
615: die schlim m sten Tiere sind die Skor- Funktion (Academ y 1986, 14). Die Lingui-
pione, die schlim m sten Leute die Gelehrten. stik-Abteilung der Universität erklärte sich in
Selbst im Rahm en der orthodoxen Kirche ihren Jahresberichten ebenfalls zur Hilfe be-
erfährt das Lesen und Schreiben eine relati- reit: Da feststehe, daß Leseprogram m e am
vierende Einschätzung. Um das nachzuvoll- wirksam sten in der jeweiligen Muttersprache
ziehen, m uß m an sich etwa vergegenwärtigen, durchgeführt würden, m üßten Linguisten in
daß ein theologischer Kom m entar aus einem Analyse und Verschriftung m itarbeiten (An-
Buche viel weniger Gewicht hat als das, was om ym us 1988, 44). Einige praktische Ent-
ein verehrter Lehrer aus dem Gedächtnis vor- scheidungen werden auch von den Drucke-
trägt (Heyer 1970, 143). reien, der äthiopischen Bibelgesellschaft und
Zur Einschätzung des Schreibens m einte natürlich von den Bauernvereinigungen der
Levine sogar noch vor kurzem , diese Tätigkeit Sprachgebiete getroffen.
werde als Handarbeit und deshalb schlechthin
erniedrigend erachtet wie auch jedes andere 3.2. Schrift und Lautsysteme
Handwerk (Levine 1965, 87). Ein Schriftstück
war zu heilig oder zu unheim lich für den Die Lautwerte der äthiopischen Silbenschrift
Alltag; einladend jedenfalls nicht. Bis zur Re- sind durch Am harisch als Nationalsprache
volution begegnete „Schrift“ dem Laien m eist vorgegeben (vgl. für eine Beschreibung Art.
nur als sakrale Schrift, als Talism an m it per- 23). Das heutige Am harisch hat die altäthio-
gam entenen Flüchen oder als Gerichtsakte. pischen Zeichen bewahrt, unterscheidet aber
Erst die Revolution m achte Poster und Papier z. B. im Gegensatz zum Tigrinja nicht m ehr
allgegenwärtig. alle velaren, pharyngalen und glottalen Laut-
Die Motivation, Lesen oder Schreiben zu werte.
lernen, war für große Teile der ländlichen Es gibt in Äthiopien vier große Sprachfa-
Bevölkerung entweder nicht sichtbar oder m ilien: die sem itischen, kuschitischen, om o-
nicht gegeben. In der Provinz Kafa zum Bei- tischen und die Nil-Sahara-Sprachen. Die
spiel brachte 1971 eine Untersuchung even- Lautsystem e dieser sehr verschiedenen Spra-
tueller Funktionen des Lesens oder Schrei- chen decken sich natürlich nicht m it den
bens das Ergebnis, daß die Werte der bäuer- Lautwerten, welche die Schriftzeichen in der
lichen Welt so wenig m it den Werten einer Landessprache haben; besonders die Vokal-
lesenden Welt gem einsam hätten, daß für die system e sind sehr voneinander verschieden
Kunst des Lesens keinerlei Funktion erkenn- (Wedekind 1990). Für kuschitische und om o-
bar sei: Jede Bem ühung um Alphabetisierung tische Sprachen hat z. B. Hailu Fulass einige
müsse fruchtlos bleiben (Beck 1971, 94—100). typische Differenzen beschrieben, und für
Die Lesekam pagne stand 1979 vor der Auf- eine Nil-Sahara-Sprache Sm alley (Hailu 1975,
gabe, sehr verschiedenen Kulturen gerecht zu 9; Sm alley 1963, 78). Im folgenden werden
werden, die sich auch in Arbeitszyklen und nur die typischen Unterschiede skizziert, wel-
Siedlungsform en unterschieden. Allein die che in der Verschriftungspraxis zu Problem en
Siedlungsform en variieren in Äthiopien von geführt haben.
nom adisch m obilen Hütten über Ansiedlun- Sem itische Sprachen können bis zu 5 Kon-
gen verschiedenster Form ierung bis zu großen sonanten durch Palatalisierung unterscheiden
Städten. Ort und Zeit der Leseklassen m ußten (Chaha). Bei den Vokalen gibt es System e von
dem entsprechen (Galperin 1981, 86; Stitz 5 bzw. 10 Vokalen (Chaha, Silti). Supraseg-
1974, 351—53).
67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien 819

m entale Kontraste sind nur in der Vokallänge che Gim ira bilden ein so reiches Inventar, daß
(Silti) zu bemerken. keine andere orthographische Lösung blieb
Kuschitische Sprachen können bis zu 4 Im - als diakritische Zeichen: Die Silbenzeichen
plosive haben (Konso), es kom m en bis zu 5 werden nach dem Muster der Vokal-Markie-
präglottalisierte Konsonanten vor (Gedeo), rung („U-“) m it einem seitlichen Strich links
ebenso pharyngale und glottale Konsonanten („-U“) m arkiert. Alveolare Affrikate in Gi-
(Afar, Som ali). Bei den Vokalen sind System e m ira werden m it einem der „überflüssigen“ S-
von 5 bzw. 10 Vokalen die häufigsten. An Laute geschrieben. Dentale Konsonanten
Suprasegm entalen gibt es Vokallänge und deuten „überflüssige“ Konsonanten-Sym bole
Konsonanten-Ge m ination, wobei Ge
m ina- des am harischen Inventars um . Velare Nasale
tion viele lexikalische Kontraste bildet. verwenden ein „überflüssiges“ Zeichen für
Om otische Sprachen können bis zu 6 re- /h/. In Majang z. B. ist dieser Laut ein volles
troflexe Frikative bzw. Affrikate und Ejektive Phonem . Die präglottalisierten Kontinuanten
haben. Palatalisierung verschiedener Konso- wie /’l ’m ’w/ in kuschitischen Sprachen des
nanten einschließlich Glottallaut ist belegt; Hochlands sind Konsonantenfolgen, darge-
außerdem gibt es alveolare Affrikate (Gim ira, stellt werden sie als 6. Form ‛ayn bzw. alef
Zayse). Bei den Vokalen sind System e von 5 plus /l/, plus /m /, plus /w/ usw., ein Problem
bzw. 10 Vokalen häufig. An Suprasegm enta- besteht nur darin, daß es gerade für das alef
len kom m en Vokallänge vor sowie häufige ungewöhnlich ist, keinen Vokal zu tragen.
lexikalische Konsonanten-Gem ination im Le- Palatalisierte Konsonanten in Chaha werden
xikon. Die Sprachen haben bis zu 6 Tonem e parallel zur Labialisierung durch ein diakri-
(Gimira). tisches Zeichen unterschieden.
Nil-Sahara-Sprachen können dentale Vokale: System e von 5 Vokalen nutzen nur
(Nuer) oder im plosive (Suri) Konsonanten 5 Vokalwerte des am harischen Siebener-Sy-
haben; velare Nasale (Majang) kom m en vor. stem s: /i e a o u/. Die „überflüssigen“ Vokal-
Die Vokale bilden System e von 5 bzw. 10 Vo- Ordnungen sind die der 1. Ordnung (Schwa)
kalen, wozu noch Modifikationen kom m en. und der 6. Ordnung (hoher Zentralvokal bzw.
System e von 7 oder 9 Vokalen unterscheiden Null). Die der 6. Ordnung werden als silben-
offene und geschlossene Vokale (Me’en) bzw. auslautende Konsonanten gelesen. Unschön
+ ATR und — ATR Vokale bzw. Behauchung und unökonom isch ist hier nur, daß gerade
(Anuak, Nuer). Die Suprasegm entalen sind die graphisch unm arkierte Form der 1. Ord-
Vokallänge und Ton, fast im m er sind es 2 nung gar nicht benutzt wird. System e m it 7
Toneme. oder 10 Vokalen, geschlossenen Mittelvoka-
len, ATR-Vokalen oder behauchten Vokalen
3.3. Die Orthographien wurden versuchsweise bei harm onischen Vo-
kalserien m it „h“ als suprasegm entalem Si-
Die Lösung der orthographischen Problem e gnal geschrieben; sehr problem atisch wird die
liegt teils in der Um deutung von „überflüs- Unterdifferenzierung dann, wenn sowohl Ton
sigen“ am harischen Silbenzeichen, teils in dia- als Gem ination als auch vokalische Länge in
kritischen Zeichen. Das Problem bei Um deu- der Schrift unterschlagen werden.
tungen besteht darin, daß der Übergang zum Suprasegm entale: Durch Vokallänge kon-
Lesen des Am harischen erschwert werden trastieren /i e a o u/ m it /ii ee aa oo uu/, und
könnte. Das Problem bei diakritischen Zei- das am harische Siebener-System wird m ei-
chen besteht darin, daß sie historisch, ästhe- stens so verwendet wie schon 1899 in der
tisch und von der Inform ationslast her für Orom o-Bibelübersetzung des Onesim us Ne-
eine Schrift wie die äthiopische nicht akzep- sib: Das unm arkierte /a/ (oft zentralisiert)
tabel sind. Entscheidungsgrem ien wie z. B. die wird durch das graphisch unm arkierte Zei-
Sprachakadem ie lehnen diakritische Zeichen chen (1. Ordnung) dargestellt, und das kurze
ab. /i/ bzw. Null durch den hohen Zentralvokal
Konsonanten: Im plosive werden orthogra- (6. Ordnung). Der Rest /e o u/ vs. /ee oo uu/
phisch wie glottalisierte Laute geschrieben. ergibt statistisch gesehen die kleinstm ögliche
Das ist phonetisch und psycholinguistisch ge- Zahl von Homographen (Hailu 1975, 7).
rechtfertigt, weil das dom inante Merkm al die Konsonanten-Gem ination wird wie mi
„Glottalisierung“, nicht aber die Plosions- Am harischen auch in den anderen Sprachen
„Richtung“ ist. Problem atisch wäre diese Lö- nicht wiedergegeben. Ein Problem liegt darin,
sung nur in Majang, wo die ursprünglichen daß dies in kuschitischen und om otischen
Im plosive und die neuen am harischen Lehn- Sprachen viel häufiger zu lexikalisch m ehr-
Ejektive koexistieren. Retroflexe in der Spra-
820 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

deutigen Lesungen führt als in sem itischen in einer anderen Reihenfolge richtig ausge-
Sprachen. Es hat Versuche gegeben, Gem i- sprochen werden. Dann erst wird die erste
nation durch Verdopplung der „Silben“-Zei- Epistel des St. Johannes Laut für Laut „ge-
chen anzuzeigen. Töne tragen in den bisher lesen„.
untersuchten Sprachen eine relativ geringe In- Zu bem erken ist, daß alle Texte in der
form ationslast. Sie werden nach Auswertung Kirchensprache Ge‛ez geschrieben sind. Seit
entsprechender Lesetests nicht repräsentiert; 1000 Jahren spricht niem and m ehr diese Spra-
selbst in der 6-Ton-Sprache Gimira nicht. che im Alltag (Bowen & Horn 1976, 608).
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß
auch eine dem Sinn des Textes gem äße Into-
4. Methoden der Alphabetisierung nation und Pausierung stufenweise geübt wer-
den m uß. Die „natürliche“ Intonation und
4.1. Methoden der Pausierung kann sich ja nicht aus dem Sinn
orthodoxen Kirchenschule des Textes ergeben, solange die Bedeutung für
den Schüler noch unbekannt ist. Der Sinn
Den Mittelpunkt äthiopisch orthodoxer Bil- dieser Texte ist aber nur für den von Interesse,
dung bildet die Kirchenschule und ihre uralte der in den Dienst der orthodoxen Kirche tritt.
Tradition. Die Eltern einiger um liegender
Höfe schicken ihre Knaben zur nächstge-
legenen orthodoxen Kirche, wo die kleine 4.2. Methoden der Islamschule
Gruppe sich dann regelm äßig um den Priester Die islam ischen Schulen Äthiopiens sind —
schart: die „Priester“-Schule (Ullendorff m ehr als anderswo — vom Stil der christli-
1973, 194). chen Kirche beeinflußt. Kleine Islam schulen
Das traditionelle Schulsystem der ortho- sind über alle islam ischen Teile und alle Städte
doxen Kirche unterscheidet drei Stufen: er- Äthiopiens verstreut. Wo es keine solche
stens das „Haus des Lesens“, wo das Alpha- Schule gibt, erhalten die Söhne oder Töchter
bet und das laute Lesen von Wörtern gelehrt islam ischer Eltern ihre allererste schulische
wird; zweitens das Studium spezifischer Texte Bildung von ihrem Vater (Hasselblatt 1974,
des orthodoxen Christentum s; den Höhe- 10).
punkt bildete das Studium von Liturgie, Der Lehrplan entspricht dem der islam i-
Dichtung und Kom m entaren (Haile G. 1976, schen Tradition. Hauptfach ist Arabisch
339; Bowen & Horn 1976, 608). (Hasselblatt 1974, 8). Zwei Hauptstufen gibt
Hier interessiert vor allem das „Haus des es: Erstens das Lesen der arabischen Schrift
Lesens“, weil dort in ungebrochener Tradition und des Korans. Dieser Unterricht hat je nach
äthiopische „Alphabetisierung“ betrieben Provinz verschiedene Nam en; in den Städten
wird. Die historische Bedeutung dieser Schu- heißt er „Scheich“-Schule, entsprechend dem
len ist offensichtlich. Aber auch die Anzahl orthodoxen Gegenstück „Priester“-Schule„.
der Schüler ist beträchtlich. Nach einer Schät- Zweitens folgt dann die höhere islam ische
zung von 1976 m uß es in Äthiopien etwa Schule, „Ilm “ genannt. Ähnlich der ortho-
15 000 dieser Schulen m it perm anent 300 000 doxen Schulung um faßt sie Jura, Gram m atik
Schülern geben (Haile G. 1976, 339). und geistliche Kom m entare (Haile G. 1969,
Das Lesen selbst zerfällt wieder in drei 1).
Stufen: Zuerst werden die Silbenzeichen ge- Das Lesenlernen — die erste Stufe also —
lernt und an der ersten Epistel des St. Johan- gilt als besonders schwierig. Die konsonanti-
nes geübt. Dann werden ausgewählte religiöse schen Grundform en jedes arabischen Buch-
Texte gelesen, und schließlich die Psalm en stabens stehen auf einer „Loh“ genannten
Davids (Haile G. 1976, 341). Das Alphabet gekalkten Holztafel, und diese Buchstaben
steht auf einem Pergam ent oder auf einer werden wie in der orthodoxen Kirchenschule
Papptafel. Es wird nach dem Takte eines m it einem Strohhalm identifiziert und jeweils
Strohhalm s Zeichen für Zeichen gesungen, als gesungen. Ähnlich wie in der orthodoxen
wäre er ein Taktstock. Die sogenannte „Qu- Schule besteht auch hier die Gefahr, daß die
tir“-Methode („Zählen“) läßt den Schüler zu- Schüler zwar die Tafel auswendig singen, aber
erst von links nach rechts, dann von rechts keine einzelnen Buchstaben identifizieren
nach links und schließlich von oben nach können. Dann werden die Konsonanten-
unten alle 231 Silbenzeichen lesen bzw. sin- Punkte gelernt. In ihrer Muttersprache singen
gen, bis er sie auswendig aufsagen kann. Die die Schüler dann z. B. „Alef hat keinen Punkt,
sogenannte /a bu gi da/-Methode soll sicher- Ba hat oben einen Punkt, Ta hat unten zwei
stellen, daß die einzelnen Silbenzeichen auch Punkte“ usw. (Haile G. 1969, 2). Nach einigen
67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien 821

Wochen folgt dann das Singen der Vokalna- analysiert werden, dann aber so behandelt
m en: „Alif Fatha A“ usw. (Haile G. 1969, 4). werden wie in der orthodoxen Tradition.
Als nächstes folgt das Lesen kurzer Ab- Die Silben-Methode sieht sich jedesm al
schnitte — wie in der orthodoxen Qutir-Me- neuer Kritik ausgesetzt, wenn eine neue Welle
thode. Es wird jedes Wort zunächst als eine der Pädagogik oder Linguistik sie erreicht. Es
Folge von Einzellauten gesungen und dann ist deshalb nicht trivial, hier daran zu erin-
als ganzes. nern, daß die beim Lesen aktivierten m ensch-
Die Schulung derjenigen Kinder, die nicht lichen Speicher- und Suchvorgänge sich weit-
von Haus aus Arabisch verstehen, heißt „Ba- gehend an Silben oder Vokalzentren orientie-
diya„. Badiya-Schüler verstehen so wenig von ren (Em m orey & From kin 1988; Hansen &
den Worten, die sie lesen, daß sie darin den Rodgers 1973, 62). „The syllable isn’t a bad
orthodoxen Kirchenschülern gleichen. Den unit to start from “ war der Schluß, den die
Abschluß dieser Schulbildung bildet dann das Alphabetisierungs-Spezialistin Sarah Gud-
Auswendiglernen m ehrerer Kapitel des Ko- schinsky aus der Arbeit an om otischen Fibeln
rans. Wer die Schule beendet hat, zitiert ge- zog (mdl. 1973).
legentlich wohl noch einen Koranvers, wird Eine typische am harische Fibel, wie sie
aber nach m ehreren Jahren Feldarbeit sogar etwa das Erziehungsm inisterium bis in die
das Alphabet vergessen haben (Haile G. 1969, 70er Jahre herausgab, führt jedes neue Silben-
4). zeichen durch eine Illustration ein, welche für
die erste Silbe des dargestellten Wortes steht.
4.3. Methoden der Diese Silbe wird daraufhin isoliert und dann
Alphabetisierungs-Kampagne ganz nach der Tradition der orthodoxen Kir-
chenschule in allen sieben Vokalen ergänzt
Eine Anfängerklasse in der Alphabetisie- (vergleichbar den Entsprechungen Hase —
rungs-Kam pagne begann norm alerweise da- Ha, Hugo — Hu, Hiebe — Hi usw.). Spätere
m it, daß ein großer Bogen Papier m it Silben- Lektionen bestehen aus Texten, deren Zeilen
zeichen an einen Baum gehängt wurde. Die nach Sinneinheiten geschnitten sind. Sie sol-
Zeichen sind nicht wie auf der Tafel der or- len den Neuling darauf einstim m en, daß
thodoxen Kirchenschule in der traditionellen Schrift nicht nur Silben bringt, sondern auch
Weise angeordnet, sondern nach der Form Sinn. In die Zeit Haile Sellases gehören zum
der Graphem e. Wie in der Kirche wird m it Beispiel die Sym bole zawd „Krone“ und zufan
einem Stock oder auch m it Kärtchen und „Thron“ als Illustration für /za/ und /zu/.
ausgeschnittenen Lettern das Erkennen und Beispielssätze erm üden m eist durch die Blässe
Lesen der Laute eingeübt (Ministry 1990, 29). und Arm ut, welche der Gattung „Lesebuch-
In einem nächsten Schritt sind die gelernten sätze“ eigen ist: „Hier ist ein großer Baum „
Silbenzeichen dann so kom biniert, daß sie in (Wallace 1987).
der Sprache der Kursteilnehm er sinnvolle Für die Fibeln der Alphabetisierungs-
Wörter ergeben. Im Unterschied zur ortho- Kam pagne gilt ebenfalls die traditionelle Sil-
doxen Kirchenschule also werden nicht Wör- benpädagogik. Die Silbenzeichen sind aller-
ter aus Ge‛ez-Texten geübt, sondern Wörter dings nicht nach der historisch überlieferten
der Sprache der Kursteilnehm er. Entspre- Reihenfolge angeordnet, sondern nach der
chend heißt es in einem der Berichte, die Ver- Zahl der „Füße“ jedes Zeichens — wodurch
wendung der 15 äthiopischen Sprachen habe dem Schüler zunächst alle graphem ischen Un-
den Unterricht sehr erleichtert (Ministry regelm äßigkeiten erspart werden. Neu sind
1990, 29). auch „bewußtseinsverändernde“ politische
Reizwörter oder Texte. Die Fibeln m ußten in
kurzer Zeit in alle 15 Sprachen der Kam pa-
5. Fibeln und gnen „übersetzt“ werden. Für eine Aufberei-
weiterführende Literatur tung jeder Fibel — etwa nach Lauthäufigkei-
Die uralte Tradition der äthiopischen Silben- ten, besonderen Funktionswörtern oder lin-
Methode verlangt, daß die Silben zuerst zitiert guistisch kontrolliert einzuführendem Wort-
bzw. gesungen und später zu Silbenfolgen auf- schatz — blieb keine Zeit. Die Planung und
gebaut werden. Diese Tradition beeinflußte Herstellung der Fibeln gehorchte zuerst po-
auch die Methoden der Regierungsschulen, litischen Gesichtspunkten, dann pädagogi-
Missionen oder der Alphabetisierungs-Kam - schen oder psycholinguistischen.
pagne — wo einige Wörter zwar nach Silben Bei den weiterführenden Broschüren der
Alphabetisierungs-Kam pagne von 1979 hat
822 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

die Arbeit der fibelschreibenden Intellektuel- werden konnte. Für 16 Sprachen wurden neue
len „vor Ort“ dazu geführt, daß sie die bäu- Fibeln und jeweils ca. 1000 Seiten neues Le-
erliche Sicht von „Fortschritt“ einnahm en — sematerial bereitgestellt (NLCCC 1984, 15).
etwa m it Them en wie „Ungeziefer“, „Bienen- Dann setzte sich 1979 eine der m assiv-
zucht“, „Mutterboden“, aber auch „Festtag“, sten Alphabetisierungs-Kam pagnen der Ge-
„Kindheitserinnerung“, „Sehnsucht„. Zuwei- schichte in Bewegung. Für die adm inistrati-
len gerierten sich die Broschüren aber so, als ven Leistungen wurden 1980 und 1982 das
m üßten sie vor allem den Geberländern oder Alphabetisierungs-Kom itee und die Bauern-
den Ideologen gefallen — etwa m it Them en vereinigungen seitens der International Rea-
wie „Entwicklung“, „Arbeitslohn“, „Bevöl- ding Association (IRA) und der UNESCO
kerungswachstum “ oder „Zusam m enarbeit„. ausgezeichnet. Geplant war anfangs, daß die
Der Stellenwert von Alphabetisierung ergab erste Alphabetisierungs-Runde im Som m er
sich im m er noch aus Lenins bekanntem Dic- 1979 eine gute Million Analphabeten unter-
tum , m it Analphabeten könne m an keine Re- richten sollte. Von der Zahl der tatsächlichen
volution machen. Anm eldungen waren aber selbst die Optim i-
sten des Planungsstabs überwältigt: fünfein-
halb Millionen (Galperin 1981, 128; NLCCC
6. Die Alphabetisierungs-Kampagne 1984, 5). Die darauffolgenden halbjährlichen
der Revolution Runden entsprachen dann eher den beschei-
Ein weit verbreiteter Analphabetism us lähm t deneren Schätzungen; eine gewisse Erm üdung
jeden Versuch, das Lesen zu lehren. Wenn war unverm eidlich. Bis zum Ende des ehem als
aber in einer Gesellschaft der Bevölkerungs- m arxistisch-leninistischen Mengistu-Regim es
anteil der Leser eine kritische Menge erreicht (1991) sind 24 solcher Alphabetisierungs-
hat, dann sehen sich die Analphabeten plötz- Runden organisiert worden — sam t vorbe-
lich dem sozialen Druck ausgesetzt, auch le- reitenden Sem inaren, Spendenaufrufen, Ma-
sen zu lernen (Sjöström 1973, 40). terialien, tatsächlichen Leseklassen und Be-
In den UNESCO-Statistiken zur Alpha- richten. Berichte aus der Provinz dokum en-
tieren zu Tausenden Details über Klassen-
betisierung lag Äthiopien vor der Revolution größe, Muttersprache und Erfolgsrate der
ganz unten: bei 7 Prozent (Ministry 1990, 27). Analphabeten unterm grünen Baum.
Vieles von dem , was die äthiopischen Studen- Lehrer war jederm ann, nach dem Spruch-
ten der 60er und 70er Jahre beunruhigt hatte, bandm otto „Wer lesen kann, soll lehren; wer
war m it den Fragenkreisen „Alphabetisie- es nicht kann, soll es lernen“ (Ministry 1990,
rung“ und „Inform ation“ verknüpft: Infor- 33). Ehe ein Alphabetisierungs-Lehrer aber
m ationen über Hungergebiete wurden von der den Unterricht aufnahm , wurde er in kurzen
Regierung zensiert, sozial Benachteiligte durf- Lehrgängen ausgebildet. Freiwillige wurden
ten oder konnten sich nicht artikulieren, Aus- rekrutiert — Begeisterte und Verdrossene. In
bildungsdefizite wurden nicht behoben, eth- den zehn Jahren bis 1989 gab es m ehr als 2
nische Minderheiten wurden übergangen und Millionen Freiwillige, darunter Lehrer, Sol-
Minoritätensprachen totgeschwiegen (Head daten, Polizisten, Angestellte der Regierung
1976, 636). Deshalb war die 1974 geforderte und anderer Organisationen, Arbeiter m it
egalitäre Alphabetisierung und Aufklärung Ausbildung, Mitglieder religiöser Vereinigun-
des Landes zunächst eine „Bewegung“, der gen und gebildetete Pensionäre (Ministry
sich viele Studenten m it Überzeugung an- 1990, 33).
schließen konnten. Als Ziele der Alphabetisierungs-Kam pagne
Gem äß dem Program m der Nationalen galten unter anderem : Lesen und Rechnen für
Dem okratischen Revolution wurde allen jeden, Entfaltung von Person und Arbeits-
äthiopischen Sprachen — es gibt etwas m ehr kraft, Stärkung des politischen Bewußtseins,
als 80 — die gleiche Bedeutung zuerkannt. Wohlergehen, Mündigkeit. Das weiterfüh-
Die „Am harische Akadem ie“ hieß nun „Aka- rende Program m war für diejenigen gedacht,
dem ie der äthiopischen Sprachen“ (Academ y die das erste Program m erfolgreich abge-
1986, 3—4). Eine neue Abteilung für Erwach- schlossen hatten. Die Motivierung wurde in
senenbildung wurde gegründet. Dort wurden den 80er Jahren vielfältig belebt: durch eine
Erfahrungen aller früheren Alphabetisie- Kolum ne „für den neuen Leser“ in jeder Ta-
rungs-Versuche studiert, dam it anschließend geszeitung, durch Radiosendungen, 14 Orts-
die „Nationale Arbeits-Kam pagne“ m it an- zeitungen und 9400 Leseräum e. Aus verschie-
ge
m essene m Unterrichts
m aterial versorgt denen Gründen haben m ehrere dieser Ein-
67.  Alphabetisierung und Literalität in Äthiopien 823

richtungen aufgehört, ihrem Zweck zu dienen besucht.


(NLCCC 1984, 22; Ministry 1990, 28—42). Ein weniger sichtbares Ergebnis ist dies:
Die Sprachen der Alphabetisierungs-Kam - Wer früher die dunklen Künste des Lesens
pagne waren zuerst Am harisch, Orom o, Ti- und Schreibens beherrschte, wurde eher ge-
grinja, Wolajta und Som ali. In der 4. „Runde„ m ieden — heute sieht er sich als fortschritt-
kam en Hadiya, Gedeo, Tigre, Kam bata und licher Staatsbürger bewillkom m net. Vor we-
Kunam a dazu, und in der 7. Runde Sidam o, nigen Jahren noch repräsentierte der „Anal-
Silti, Afar, Kafa-Moca und Saho. Mit diesen phabet“ den stolzen Kern des äthiopischen
15 Sprachen, so sagt das Alphabetisierungs- Reiches — heute sieht er sich als Randfigur
Kom itee, seien ca. 94 Prozent aller Bürger der Gesellschaft gebrandmarkt.
Äthiopiens m it Literatur in ihrer eigenen
Sprache versehen worden (NLCCC 1984,
22 f). 8. Literatur
Was die Sprachpolitik der äthiopischen Academ y of Ethiopian Languages. 1986. The Acad-
Übergangsregierung nach Mengistus Sturz em y of Ethiopian Languages: Facts and Figures.
(1991) betrifft, so garantiert sie für jede „Na- Addis Ababa.
tionalität“ das Recht, ihre eigene Sprache „zu Aklilu Melaku. 1989. Question of Language of
verwenden und zu entwickeln“ (Teil I, Artikel Instruction — The Case of Ethiopia. Paper pre-
2 a der Charta). Aufsehen hat erregt, daß der sented at the UNESCO Neida Regional Sem inar,
Unterricht in den Klassen 1—6 der regionalen Lagos. (Manuskr. 13 pp.)
Grundschulen nun in den betreffenden Spra-
chen erteilt wird; Anfang 1994 z. B. lagen neu Anonym us. 1988. The Departm ent of Linguistics.
übersetzte Schulbücher in Gedeo, Hadiya, Institute of Language Studies Newsletter. Addis
Kem bata, Orom o, Sidam a, Som ali, Tigre und Ababa University. 44—48.
Wolajta vor. Neu ist, daß sich die Repräsen- Aym ro Wondm agegnehu & Joachim Motovu (eds.)
tanten der m eisten kuschitischen und om oti- 1970. The Ethiopian Orthodox Church. Addis Ab-
schen Gruppen für die lateinische Schrift — aba.
also gegen die äthiopische Silbenschrift — Bartnicki, Andrzej & Mantel-Niećko, Joana. 1982.
entschieden haben. Geschichte Äthiopiens. 2 Bde. Leipzig. (Aus dem
Polnischen übersetzt von Renate Richter.)
Beck, Thom as Em il. 1971. Ethiopia, Kafa Province:
7. Die Folgen Realities of Language Use and Im peratives for
Die Spuren der Lesekam pagnen deuten auf Language Policy. University of California at Los
einige Veränderungen hin, wie sie wohl den Angeles Thesis. Los Angeles
Wandel von einer oralen Kultur zu einer Bender, Marvin L. 1983. The Origin of Am haric.
schriftlichen Kultur begleiten. Journal of the Institute of Language Studies, Addis
Zunächst sind da die kleinen Veränderun- Ababa University. 1/1, 41—52.
gen: Man rechnet m it Leuten, die schreiben Bowen, J. Donald & Horn, Nancy E. 1976. Lan-
können. Wo etwa statt m it einer Unterschrift guage Education. In: Bender, Marvin L. (ed.). 1976.
m it einen Fingerabdruck signiert wird, gibt The Non-Sem itic Languages of Ethiopia. Carbon-
es entschuldigende Bem erkungen. Medizini- dale, 608—634.
sche Aufklärung rechnet neuerdings m it Le- Cerulli, Enrico. 1968. Storia della letteratura etiop-
sern (Zein 1988, 8). Mündliche Nachrichten ica. Mailand. (3. Ausgabe; 1. Ausgabe Rom 1956)
und Gerüchte haben nicht m ehr die gleiche Conacher, J. R. H. 1970. General Survey Concern-
Funktion wie zu der Zeit, als es zur oralen ing Christan Literature in Ethiopia. Bible Church-
Kom m unikation gar keine Alternative gab. men’s Missionary Society. (Manuskript, 384 pp.)
Alphabetisierung ist zu einem Them a gewor- Edossa Rum icho. 1989. EECMY Literacy Pro-
den. Nicht nur in Plakaten und Zeitungen, gram. Notes on Literacy. Dallas, 51—54.
auch im Nationaltheater wurde Alphabetisie- Em m orey, Karen D. & From kin, Victoria A. 1988.
rung them atisiert: das Stück „Ha Hu nach The Mental Lexicon. In: Newm eyer, Frederick P.
sechs Monaten“ von Weggayyehu Niggatu (ed.). 1988. Psycholinguistics. (Linguistics: The
bringt eine besorgte Fam ilie auf die Bühne, Cambridge Survey. Bd. 3), 124—149.
deren Sohn nach sechs Monaten Kirchen-
Galperin, Georgi. 1981. Ethiopia: Population, Re-
schule nicht m ehr als die allerersten Silben-
sources, Econom y. Moskau. (Englische Überset-
zeichen gelernt hat: Ha Hu.
zung der revidierten russischen Ausgabe von 1981.)
Das viel plakatierte Ergebnis der äthiopi-
schen Alphabetisierung ist: Statt 7 haben nun Haile Gabriel Dagne. n. d. (1969). Traditional Lan-
70 Prozent der Bevölkerung einen Lesekurs guage Teaching in Ethiopia: The Case of Quran
Schools. (Manuskript, 4 pp.)
824 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Haile Gabriel Dagne. 1976. Non-Governm ent Office of National Com m ittee for Central Planning
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Moorehead, Alan. 1983. The Blue Nile. New York. Wedekind, Klaus. 1990. Status and Dynam ics of
(1. Ausgabe 1962.) Ethiopian Vowel System s. Journal of Ethiopian
National Literacy Cam paign Coordinating Com - Studies 22, 75—100.
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Pankhurst, Richard K. P. 1968. Econom ic History Disease in Ethiopia. Addis Ababa, 1—17.
of Ethiopia. Addis Ababa.
Klaus Wedekind, Addis Abeba (Äthiopien)

68. Literacy Movements in Central and South America


and the Caribbean

1. Introduction 1. Introduction
2. Cuban literacy campaign
3. Nicaraguan literacy crusade
Wagner 1987 states that during the last three
4. Brazilian Literacy Movement (MOBRAL)
decades illiteracy worldwide has been con-
and Fundacao (EDUCAR)
ceived of as a disease which can be eradicated,
5. Jamaican Movement for Adult Literacy
as a lack of political will which requires revo-
(JAMAL)
lutionary fervor to change, or as a sociocul-
6. Popular education tendencies
tural phenom enon which cannot be changed
7. Some research and development suggestions
without serious consideration of the cultural
8. References
824 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

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Ethiopia: Challenges and Prospects. Addis Ababa. ond Language Literacy. New York.
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(1. Ausgabe 1962.) Ethiopian Vowel System s. Journal of Ethiopian
National Literacy Cam paign Coordinating Com - Studies 22, 75—100.
m ittee (NLCCC). 1984. Every Ethiopian will be Zein Ahm ed Zein. 1988. Health and Health Serv-
literate and will rem ain literate. Addis Ababa. (Re- ices in Ethiopia: A General Survey. In: Zein Ahm ed
vidierte Auflage; 1. Auflage 1981). Zein & Kloss, Helm ut (eds.). 1988. Health and
Pankhurst, Richard K. P. 1968. Econom ic History Disease in Ethiopia. Addis Ababa, 1—17.
of Ethiopia. Addis Ababa.
Klaus Wedekind, Addis Abeba (Äthiopien)

68. Literacy Movements in Central and South America


and the Caribbean

1. Introduction 1. Introduction
2. Cuban literacy campaign
3. Nicaraguan literacy crusade
Wagner 1987 states that during the last three
4. Brazilian Literacy Movement (MOBRAL)
decades illiteracy worldwide has been con-
and Fundacao (EDUCAR)
ceived of as a disease which can be eradicated,
5. Jamaican Movement for Adult Literacy
as a lack of political will which requires revo-
(JAMAL)
lutionary fervor to change, or as a sociocul-
6. Popular education tendencies
tural phenom enon which cannot be changed
7. Some research and development suggestions
without serious consideration of the cultural
8. References
68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean 825

contexts in which it is em bedded. Illiteracy in as m uch to heighten political awareness as to


the Latin Am erican and the Caribbean con- provide technical assistance for the m inim ally
text has been approached either as a problem trained literacy field workers, prim arily sec-
of developm ent or as a problem of ideology. ondary and university students. These field
This article presents an overview of selected workers, called brigadistas because they were
literacy activities in Central and South Am er- organized in m ilitary fashion to continue the
ica and the Caribbean to provide a sense of revolutionary focus, received one week of
the viewpoints operant in the area in relation training prior to being paired with nonliter-
to the social acquisition and uses of reading ates across the country. Literacy workers were
and writing and to suggest som e priorities for expected to share all aspects of the learner’s
research and development. life, working alongside him during the work-
day and teaching before or after work hours.
In addition to preparing m aterials and train-
2. Cuban literacy campaign ing literacy workers, the technical section sur-
Street (1984, 206) suggests that „the revolu- veyed the populace to identify the nonliterates
tionary m otivation is ... crucial to the success and allocated the literacy workers. There were
of (m ass literacy) cam paigns.” The Cuban 268,420 teachers, students, housewives, and
and Nicaraguan literacy cam paigns are the factory workers, 3.9% of the population, who
m ost obvious exam ples in the Am ericas of functioned as literacy field workers and
the application of political will to illiteracy in 979,207 adults, approxim ately 15% of the
an effort to prom ote a particular political estim ated 6,938,700 population studied in the
ideology. Several factors contributed to the cam paign. Seventy-two percent of the learn-
success of the Cuban literacy cam paign. First, ers were able to dem onstrate first grade read-
it occurred at a tim e when revolutionary fer- ing and writing skills by the end of the cam -
vor sustained m ass involvem ent. Second, be- paign year (UNESCO 1988 a, 1988 b). These
cause of the hom ogeneity of the country the neoliterates were encouraged to continue their
cam paign involved only one language and schooling within the form al education system .
culture. Third, the nonliterate population was To encourage postliteracy study the Worker
relatively sm all in absolute term s. Finally, and Peasant Education Unit organized the
there are few inaccessible areas geographically “Battle for Grade 4”, expanded into the “Bat-
and a relatively sm all land m ass. Building on tle for Grade 6” (1976—1981), which reached
the literacy experiences of the revolutionary approxim ately 247,000 adults or 35% of the
groups during the conflict, the governm ent neoliterates. The “Battle for Grade 9”
was able to sustain the political will and the (1984—1986) reached 16% of the adult pop-
technical experience necessary for a m ass ulation. Currently, the average level of edu-
cam paign. Using a centralized approach, the cation for a Cuban adult is 6.4 grades. How-
organization of the cam paign was the respon- ever, according to 1988 UNESCO reports,
sibility of the National Literacy Com m ission, significant num bers of youth and adults (39%
with representatives from political, labor, in 1980) do not com plete prim ary school and
peasant, and revolutionary organizations. are therefore at risk of being functionally
The Com m ission was divided into technical, illiterate through disuse of their skills. There
financial, propaganda and publications sec- is no indication in any available study of the
tions. The technical section was responsible present Cuban literacy environm ent that the
for the developm ent of the didactic m aterials social uses of literacy changed as a result of
and the organization and overall function of the cam paign. Thus, it would appear that
the cam paign, the m ost com plex responsibil- although the skill of decoding print m edia
ity. Based on studies of the active vocabulary and the quantitative reduction of num bers of
of the urban and rural nonliterate, the Ven- absolute illiterates were im portant aspects of
ceremos (We Shall Conquer) prim er was de- the cam paign, the m ore im portant accom -
veloped using an eclectic analytic-synthetic plishm ent was the social restructuring.
m ethod with photographs and generative Thousands of urban residents, m ainly youth,
words selected to appeal to the Cuban adult were indoctrinated with the ideology of the
and to focus on a topic of national interest, revolution, giving them the opportunity to
such as the Organization of Am erican States, understand the lives of Cubans who had not
or on som e change in society (such as agri- had the benefits of education and social po-
cultural reform ) brought about by the revo- sition and neoliterates were oriented to their
lution. The teacher’s m aterials were designed new position in society. This period of ideo-
826 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

logical orientation m ade possible the m ore did not follow through on Freire’s ideas of
radical changes which were to develop as the allowing the learner to discover his own re-
revolutionary fervor was applied to post-rev- ality being geared instead to the specific po-
olutionary society. See further: Paulston 1972; litical strategy of unification. Literacy work-
Kozol 1978; Prieto Morales 1981; Bhola ers were trained in a series of weekend work-
1983 a, b, 1984 a, b; UNESCO 1988 a, b. shops and through national radio program s.
Much of the training of the literacy workers
focused on developing the worker’s ability to
3. Nicaraguan literacy crusade sustain and enrich the dialogue. Although the
The Nicaraguan literacy crusade was initiated dialogue was seen as central to the ideological
following the downfall of the Som oza gov- purposes of the crusade, by the end of the
ernm ent in July 1979. The crusade was con- crusade few literacy workers and learners fo-
ceived as a m eans of indoctrinating society cused on the dialog or on extracting m eaning
with revolutionary ideology following m any from the printed word because, in an effort
years of civil war. Miller 1985 states that to enable as m any as possible to finish the
without the political and spiritual will gen- prim er, m ost literacy workers and learners
erated by the revolution, it would not have were focusing entirely on decoding syllables,
been possible to undertake the crusade given reverting to traditional Latin Am erican read-
the financial situation of the Sandinista gov- ing education. The Nicaraguan crusade in-
ernm ent. In contrast to Cuba, som e of the volved approxim ately 700,000 learners, about
areas to be included in the Nicaraguan cru- 40% of the total population. 75% were rural
sade were difficult to reach from the m ain peasants. Alm ost 50% were wom en. Approx-
population centers and the target population im ately 400,000 were able to com plete a five-
included Sum o, Miskito, Ram a, and English part reading and writing test to be declared
creole speaking populations living along the literate by the end of the crusade. Since
Atlantic coast in relative isolation from the schools were required to have their students
dom inant Spanish-speaking culture. These participate, of the 60,000 literacy workers in-
m inority populations did not generally par- volved in the crusade in the rural areas, 85%
ticipate in either the revolution or in the orig- were teenagers (som e as young as twelve
inal crusade. A special effort was m ade to years) and their teachers. Another 35,000
work in their languages using translated prim - adults were involved in urban areas. In a very
ers which were not well received by all the real sense, both the Cuban and the Nicara-
population. Although both Cuba and Nica- guan literacy cam paigns were “children’s
ragua developed their teaching m aterials to wars” in that the m ajority of the literacy
prom ote a particular ideological perspective, workers and m any of the learners in each case
Nicaragua had the benefit of the experiences were young teenagers. Unlike the form al pri-
of Paulo Freire in determ ining m ethodology. m ary education which was used initially in
At that point in its developm ent, Freire’s Cuba following the cam paign, postliteracy in
m ethodology consisted in dialoging about Nicaragua was not intended as a step into the
them es considered to be fundam ental to the form al education system . Because of the an-
ontological conditioning of the learner, using tipathy with which the “som ocista” education
the dialogue as the source of the generative system was perceived, “sandanista” education
words which were later analyzed. Freire’s was intended to have a com pletely different
m ethodology at the tim e required the learner orientation, putting the educational process
to build a sentence from the generative word into the hands of those being educated. Ap-
which allowed considerable local variation in proxim ately one third of the neoliterates
content; the Nicaraguan m ethod extracted the form ed cooperative popular education study
generative word from an already form ulated groups (CEPs). Fully 25% of the leaders of
sentence, m aking possible m ore central con- these groups were them selves participants in
trol but also facilitating the teaching process CEPs; 4% were neoliterates; 32% had com -
for m inim ally prepared literacy workers. The pleted som e prim ary education. None of the
sentence functioned as a focus for thought literature reviewed m entioned studies in either
and action in sim ilar ways to political slogans Cuba or Nicaragua evaluating the social uses
in the revolutionary process. After dialogue, of literacy which the crusade m otivated nor
an eclectic analytic-synthetic m ethod was ap- any evaluation of the retention of literacy
plied to preselected words. However, Street skills am ong those who were declared literate
1984 indicates that the Nicaraguan prim ers but who did not participate in either continu-
68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean 827

ing education in Cuba or in CEPs in Nica- revolutionary ideology am ong the m asses en-
ragua. In sum m ary, Cuba and Nicaragua util- couraging them to determ ine their own social
ized the cam paign m odel of popular educa- and political goals. The BEM characteristics
tion to advantage. They m obilized around the of autonom y, liberation and em ancipation of
them e of the eradication of illiteracy; they the oppressed and of fusion between educa-
used m ultiplier chains for training; they em - tion and politics becam e the m odel for the
powered the nonprofessional with basic Brazilian Literacy Movem ent (MOBRAL),
teaching skills; they used m ass organizations however without the em ancipatory aspects.
for im plem entation; they used indigenous MOBRAL, founded on the driving force of
sym bols and art form s for m otivation; and the 1964 revolution which put a m ilitary gov-
they fused pedagogy, content and political ernm ent in power, with the intention of re-
socialization. What is uncertain is whether gaining control of education for the govern-
literacy in Cuba and Nicaragua has becom e m ent’s ends, attem pted to capitalize on the
an essential tool for individuals to cope with efforts of the BEMs by allowing each com -
social relations which m ake up the society in m unity to select its own goals within the lim its
which individuals work out their individual established by the centralized hierarchy. It
and collective hum an fulfillm ent. See further: attem pted to apply Freire’s concepts of con-
O’Gorm an 1978; Black & Bevan 1980; Car- sciousness raising but without perm itting so-
denal & Miller 1980; Arnove, 1981; Cardenal ciocultural and political involvem ent. In ad-
& Miller 1981; Cardenal & Miller 1982; Miller dition to not responding to the historical con-
1983; Bhola 1983 a, b; Hirshon 1983; Torres text, MOBRAL had several obstacles to over-
1983; Pothschuh & Tam ez 1983; Bhola com e in its efforts to eradicate illiteracy. It
1984 b; Rojo 1984; Street 1984; Torres 1985; lacked widespread popular revolutionary fer-
Miller 1985; Garcia 1986; Arnove 1986; Fals vor on which to build. It needed to consider
Borda 1986; Torres 1986; UNESCO 1988 a, a nonliterate population of approxim ately 20
b; Arnove 1988; Am adio 1987; Lam m erink m illion adults, twenty tim es that of Cuba, an
1989. extensive land m ass which included m any ar-
eas of difficult access and isolated indigenous
populations in addition to the Portuguese
4. Brazilian Literacy Movement speaking m ajority. The governm ent visualized
(MOBRAL) and Fundacao literacy as a m eans of conform ing the think-
(EDUCAR) ing of the m ajority to that of the m inority,
the owners of the nation’s resources, basically
As did m any Latin Am erican governm ents the opposite of what Cuba and Nicaragua
during the 1950’s and 1960’s, Brazil ap- attem pted. MOBRAL attem pted to include
proached literacy as a problem of educating health, recreation, sports, com m unity devel-
sufficient num bers of urban workers to sus- opm ent, and num erous cultural activities in
tain industrial developm ent. These workers addition to traditional literacy classes in all
were considered to be hum an resources in of the m ore than 3,500 m unicipalities of the
which an investm ent m ust be m ade if the country. Chosen by the centralized planning
developm ent goals of the governm ent were to agency, few of the projects related to the real
be reached. However, when the National needs of the learners. The extent of coverage,
Cam paign for Rural Education (1953—1963) the lack of relation to needs and the lack of
ended with neither significant im pact on num - preparation for and support of the field work-
bers of illiterates nor significant progress to- ers contributed to the lack of effectiveness of
wards developm ent goals, the governm ent re- MOBRAL. The effort was so m assive that it
alized that econom ic developm ent depended was not possible to m aintain the level of qual-
on factors other than education. During the ity control which the Nicaraguan and Cuban
sam e period of tim e, non-governm ent organ- cam paigns had m aintained. According to of-
izations (NGOs), principally the Rom an ficial records, 60% of the adults participating
Catholic church, developed base or popular in MOBRAL literacy classes did not becom e
com m unities through which to reach lim ited even m inim ally literate, m uch less function-
num bers of the urban m asses with a variety ally literate. By 1980, there were clear indi-
of educational program s. This “Basic Edu- cations in MOBRAL that the non-system atic
cation Movem ent” (BEM) developed from approach of the program would never accom -
the ideologies of liberation theology and plish in Brazil in 10 years the significant nu-
Freire’s conscientization and prom oted a m erical reduction in illiteracy that Cuba and
828 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Nicaragua had been able to accom plish in ple in 1975. A survey of the island population
one. The BEM popular education m odel indicated that only 18.8% of the population
(non-form al, holistic, form ative, universal, classified them selves as com pletely literate;
decentralized) cam e into conflict with the gov- 32% considered them selves com pletely non-
ernm ent’s schooling m odel of education (for- literate. Agricultural workers represented the
m al, individualistic, instrum ental, particular- largest group of nonliterates. JAMAL was
ist, centralized) in MOBRAL. Pushed by created in 1972 for the purpose of “reclam a-
UNESCO to develop a bridge between non- tion education”, providing access to basic ed-
form al and form al education, MOBRAL be- ucation and work skills for adults who for
gan the Program for Integrated Education whatever reason had not acquired these skills
(PEI) including professional, health and work prior to adulthood. Founded on the principle
education. The ideologies of the PEI caused that literacy, and adult education in the
loss of autonom y in the m ovem ent at which broader sense, is the cornerstone of develop-
point the field workers felt they were in a m ent, whether econom ic, social, or political,
crisis of ideologies. In an attem pt to reconcile JAMAL’s efforts were seen as fundam ental to
the conflict between the form al and nonfor- the creation of a m odern labor force. As such
m al m odels, Fundacao EDUCAR was it was a technological event but it lacked the
founded in 1985. EDUCAR opted for the revolutionary fervor which enabled the Cu-
system atic schooling m odel on the conceptual ban and Nicaraguan cam paigns to succeed.
level and the popular m odel on the opera- Rather than the specifically political ap-
tional level with one of its m ain goals being proach of Cuba and Nicaragua, JAMAL’s
to provide access to form al education for didactic m aterials were organized into the-
those involved in the nonform al sector. ED- m atic units such as self-im age, consum er ed-
UCAR contracts with NGOs and local agen- ucation, health and hygiene, and citizenship
cies to develop literacy and other popular and governm ent. All instruction is by volun-
education program s, functioning as consult- tary teachers. It is difficult to determ ine the
ant and trainer to locally designed and exe- effectiveness of the program due to lack of
cuted projects. In spite of the new nam e and evaluation and supervision. Although the
efforts to reconcile conflicting ideologies, Bra- program received a UNESCO prize for its
zil continues to have the highest num ber of efforts, adequate docum entation to describe
nonliterates in the Am ericas with half of the and evaluate JAMAL is not readily available.
states having m ore than 30% nonliterates and See further: Gordon 1985; Jules 1987;
nearly 50% of the total population being non- UNESCO 1988; Browne 1989; Jules 1990.
literate. In som e states 50% of the children
never enter school; 75% of the children who
enter do not continue beyond first grade, thus 6. Popular education tendencies
increasing the num bers of nonliterates. The There are presently two tendencies in literacy
Brazilian experience has served as a m odel in Latin Am erica and the Caribbean: that
for other Latin Am erican countries as gov- represented by UNESCO and the Regional
ernm ents, local com m unities and NGOs have Office for Education in Latin Am erica and
attem pted to develop education program s, the Caribbean (OREALC) as expressed in the
som e of which include literacy as part of their Principal Project for Education which tends
agenda. See further: Cairns 1975; Fundacao to join form al education and econom ic de-
EDUCAR 1976; Ministerio de Educación y velopm ent and that represented by the Coun-
Cultura Brazil 1978; O’Gorm an 1978; Cam - cil for Adult Education in Latin Am erica
pos 1980; Cunha da Costa 1980; Bandera (CEAAL) which tends to view literacy and
1981; do Carm o Chávez, Galvao & Coutinho education in general from a m ore politicized
1984; Rojo 1984; CREFAL & UNESCO perspective. UNESCO and OREALC initi-
1984; Latapi 1985; Garcia-Huidobro 1985; ated the Principal Project for Education in
UNESCO 1988 a; CEAAL 1988; Lovisolo 1980 in an attem pt to eradicate illiteracy in
1988; Becker Soares 1989. the region by the year 2000. The objectives
of the project are to extend coverage of pri-
5. Jamaican Movement for Adult m ary education to all children, to increase the
num ber of years of basic education to ten and
Literacy (JAMAL) to im prove the quality of instruction in form al
The English speaking island of Jam aica had schooling and by these m eans contribute to
a population of approxim ately 2 m illion peo- the changing of the political and social struc-
tures which exist in the region. The national
68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean 829

policies generated in response to the Principal Herrera 1990 a, b; Cam pos Carr 1990; OEA
Project are based on the idea that illiteracy 1991.
and sem iliteracy and the low levels of school- Even were official literacy efforts adequate
ing im pede national developm ent in the so- to deal with the nearly 50 m illion illiterates
cial, econom ic and cultural areas. It is clear over 10 years of age and the approxim ately
from the 1988 UNESCO report of national 25 m illion who have no schooling, m any in
efforts from 1980 to 1985 to im plem ent the the private sector who have experienced the
Principal Project that although the govern- failure of traditional developm ent m odels to
m ents of the region have put in place new which m ost Latin Am erican governm ents
program s and OREALC, in conjunction with subscribe have been seeking other solutions
the Regional Center for Literacy in Latin to the profound social problem s in the region.
Am erica (CREFAL) in Mexico, has organ- They recognize that illiteracy is just one as-
ized regional networks such as REPLAD in pect of the problem , and a relatively m inor
adm inistration and planning and REDALF one at that. The popular education m odel has
in literacy for training, developm ent of m a- its roots in the econom ic crisis, in social dis-
terials, docum entation and evaluation, that function and in grassroots efforts to forge
the statistical decrease of absolute illiterates popular dem ocracies throughout the area.
has been m inim al. To som e extent this reflects The experiences in Cuba, Nicaragua and Bra-
the slow pace of data gathering in the region zil serve as foundations for the m ultitude of
and the often unreliable statistics developed. private sector projects undertaken during the
It also reflects the increasing num bers of chil- last decade in response to the apparent failure
dren and youth who, due to the econom ic of traditional literacy-adult education-com -
crisis in Latin Am erica, leave school without m unity developm ent program s. Called vari-
com pleting prim ary education, thereby in- ously education for liberation, pedagogy of
creasing the ranks of illiterates, and the in- the oppressed, education for resistance and
creasing deterioration, according to Tedesco popular education, these popular m ovem ents
1987, of the quality of education being of- have, in large m easure, been the province of
fered, particularly in the m arginal areas m ost local com m unity organizations and NGOs
affected by illiteracy and sem iliteracy. Gov- rather than attem pts by national governm ents
ernm ents are slowly beginning to realize that to m ount m assive cam paigns. According to
the group of children between ten and four- Osorio 1990 popular education is an essen-
teen years of age who do not com plete pri- tially political activity whose m ain goal is to
m ary education m ust be counted am ong the contribute to the developm ent of attitudes
ranks of the illiterate at the point at which and skills which will enable the popular, op-
they stop attending school, not when they pressed or m arginal sectors of the population
reach 15 years of age. This large population to take control of their own sociopolitical
group, when included in education statistics, environm ent. Whereas the UNESCO m odel
will certainly swell the ranks of the illiterates. tends to treat the problem at the level of the
In spite of the num erous national efforts — individual, thus their focus on counting pop-
SENALEP in Bolivia, Monseñor Leonidas ulations, CEAAL and popular education pro-
Proaño in Ecuador, INEA in México, CA- ponents tend to see it as a societal level prob-
MINA in Colom bia, Andres Bello in Vene- lem . They find the cause of illiteracy and
zuela, CONALFA in Guatem ala, PLAN- poverty, the lack of econom ic developm ent,
ALFA in Honduras, ALFIN in Peru, for the failure of dem ocratic institutions, and
exam ple — governm ent efforts in the region other social ills in the failure of the system to
continue to show m inim al results. UNESCO adequately provide for the participation of
specialists expect that it will take at least four the m asses through education. It is seen as
tim es the present effort to eradicate illiteracy not prim arily a pedagogical problem , but
by the year 2000. See further: Blakely, Hall rather a social and political one. Thus the
& Kidd 1981; CREFAL 1982; CREFAL & solution does not necessarily lie in literacy,
UNESCO 1984; Valbuena, 1984; Ministerio but rather in political, social, cultural and
de Educación y Justicia Argentina 1986; Riv- econom ic orientation so that the popular sec-
ero Herrera 1986; UNESCO 1987; Ministerio tors, not the individual learner, becom e aware
de Educación Ecuador 1988; Ministerio de of the nature of the problem and begin to
Educación Peru 1988; UNESCO 1988 a—f; take concerted action to change the problem
Ferreiro 1988; Rivero Herrera 1986; Rivero situation. Picon, coordinator of popular ed-
ucation for CEAAL, indicates that in spite of
830 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

regional differences there are certain com - prom ote collaboration of the workers in the
m onalities in popular education in the area. plantation’s production. This philosophy of
These include the system atic and interdisci- reaching selected leaders in specific social
plinary developm ent of issues from the daily groups with specific skills seem s to be com -
lives of the participants, the training of team s m on am ong the num erous popular education
within grassroots organizations to be trainers, projects. In Chile the Padres e Hijos project
and the opposition to ideological dom ination is attem pting to involve rural parents in their
from non-popular sources. Popular education children’s education. Although there is no
program s are attem pting to arrive at balanced indication of im provem ent in literacy skills or
developm ent of the different dim ensions of use, there is som e evidence that the project is
the com m unity taking into account the needs causing im proved self-im age am ong both par-
for survival, organization, and self-reliance in ents and children (see Gajardo 1988). Projects
crisis situations. Traditional program s, which such as PERU-MUJER reach an extrem ely
Freire term ed “banking education”, pro- lim ited num ber of non-literates with literacy
m oted the transfer of inform ation from the instruction (see Núñez 1990). However, those
educator to the “ignorant” nonliterate. who do acquire the skills are m uch m ore likely
CEAAL and OREALC are working to- to retain them because they have acquired
gether in cooperative networks of NGOs and their skills in a specific context of use at a
governm ent agencies, sharing expertise in the point in tim e which they them selves deter-
areas of personnel training, m aterials devel- m ined. However, there is a question about
opm ent, program planning and evaluation. the ability of these individuals to apply their
These networks have had several interna- contextualized skills in other contexts.
tional training sem inars such as the literacy
workshops held in Montevideo in 1986 and
in Chile in 1988. Freire and Fals Borda, past 7. Some research and
and present presidents of CEAAL, have had development suggestions
m ajor im pact ideologically in popular edu- At the level of the researcher and the practi-
cation ideology. Freire 1985 has changed his cioner there has been a m ajor paradigm shift
original idea that conscientization through in the concept of the nonliterate; unfortu-
literacy would in itself change society to re- nately m any governm ents and international
alizing that conscientization is not sufficient agencies continue to treat nonliterates as if
without significant socioeconom ic and polit- they were ignorants who require literacy pro-
ical changes. Because of the broadbased na- gram s that assum e that the learner has no
ture of m any of the program s and projects knowledge on which to build. In national
and because their objective do not necessarily newspapers editorials regularly refer to non-
include skill in handling print m edia it is literates as “ignorant”. There continues to
im possible to evaluate their im pact on liter- exist the idea that acquiring literacy will au-
acy. In surveying the docum ents prepared by tom atically liberate the neoliterate from the
CEAAL less than 10% of the organizations bondages of poverty and oppression and will
which indicated they were involved in popular prom ote peace (see Osorio 1990; OREALC
education reported being involved in devel- 1990). One has only to observe the lives of
oping reading and writing skills at any level. m any literates who m ake m inim al use of lit-
Others becom e involved in a very lim ited eracy in their daily lives to realize that literacy,
m anner only when there is a dem and for per se, does not necessarily liberate. There
literacy skills within other aspects of the pro- have been significant shifts in the understand-
ject. As an exam ple, PERU-MUJER which ing of the nature and m eaning of literacy in
is involved in teaching Peruvian wom en their the last decade (see Harste 1990). Previously
legal rights, indicated that their involvem ent it was assum ed that literacy affected m ental
in literacy skills centered on only a few select and social processes at the m ost profound
leaders in their program s who realized that levels: cognitive skills, reasoning, growth of
they needed the skills in order to take over dem ocracy, of scientific institutions and of
leadership of the organization’s projects. the m odern nation state. Argum ents on every
Am igos del Pais and Rotary Clubs in Gua- side of the issue played im portant roles in
tem ala are collaborating in literacy work setting the ideologies of m any literacy cam -
am ong the workers on coffee and sugar cane paigns. Current studies challenge these as-
plantations, attem pting to reach the leaders sum ptions about the role and consequences
of the m igrant worker populations so as to
68.  Literacy Movements in Central and South Americaand the Caribbean 831

of literacy, see Street 1984; Schribner & Cole Bandera, Arm ando. 1981. Paulo Freire: un peda-
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analysis of som e selected literacy cam paigns of the
relations. Unfortunately m ost of this debate
twentieth century, with a m em orandum to decision
has yet to sift down to the practicioner and
makers. Paris.
the trainer.
There are as yet several unanswered ques- —. 1984 a. Aspectos curriculares de la postalfabe-
tions. First, what is an adequate definition of tización y la educación continua de los neoalfabe-
literacy? Are literacy and adult education pro- tos. Hamburg.
gram s in Latin Am erica practising a false —. 1984 b. Cam paigning for literacy: Eight natio-
econom y by prom oting a level of com petency nal experiencies of the twentieth century, with a
which perm its the individual to be controlled memorandum to decision makers. Paris.
by governm ent, m edia, or other bureaucra- Black, George & Bevan, John. 1980. The loss of
cies? Second, after so m uch effort expended, fear: Education before and after the revolution.
what is really known about achieving success, London.
assum ing success is defineable? Is there any Blakely, Robert, Hall, H. & Kidd, R. 1981. The
way other than num bers of people able to education of adults: Recent changes and present
sign their nam es to classify a literacy effort prospects. The Hague.
as successful? Third, since the industrialized Cairns, John. 1975. Mobral — The Brasilian literacy
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what is the role of the printed page in societies 2—10.
where the elite have jum ped ahead to elec- Cam paña Nacional de Alfabetización Monseñor
tronic m edia while the m asses rem ain pre- Leonidas Proaño. 1989. El aprendizaje y la ense-
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get any answers because we are not asking Cam pos Carr, Irene. 1990. The politics of literacy
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69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 835

69. The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy

1. Introduction works of m odern literature which contain up-


2. Literacy during the Republican Era wards of 3000 characters (Cream er 1992,
(1911—1937) 119).
3. The Mass Education Movement When the results of the Third Population
4. Missionaries Census of 1982 for China (not including
5. Literacy and the early CCP Hong Kong and Taiwan) were released, arti-
6. The War Years (1937—1949) cles began appearing in the Western press
7. The People’s Republic of China trum peting China’s “startling” low literacy
8. Summary and conclusion rates (e. g., Mirsky 1983). The 1982 census
9. References reported that 28.26 per cent of the total pop-
ulation above the age of twelve, or roughly
236 m illion people, were judged to be either
1. Introduction illiterate or sem i-literate (Population Atlas
Chinese is often described as one of the 1987, xx). This figure was indeed alarm ing in
world’s m ost difficult languages. One in- that it was m ore than the entire population
form ed observer has com m ented that it takes of the United States. From a historical per-
“the strength of Hercules” to learn Chinese spective, the figure was som ewhat encourag-
(Venezky 1985, 48), while another em inent ing. During the first half of this century, m any
language scholar has suggested that it “re- observers estim ated the illiteracy rate to be
quires the age of Methusaleh” to m aster it between 80 and 97 per cent (e. g., Meng 1929,
(Giles 1892, xii). Som e lesser inform ed com - 112; Yen 1925, 1). In isolated instances, the
m entators have even put forth the notion that figures were even higher. For exam ple, in
the very nature of the Chinese language has Shanxi Province the illiteracy rate was
inhibited the developm ent of abstract think- thought to be 99 per cent in 1911 (Gillin 1967,
ing, theoretical sciences, and logic am ong its 66—67). In the late 1920s, Y. C. Jam es Yen
native speakers (Logan 1986, 47, 114). Over (see Section 3.) surveyed a num ber of villages
the years m any have pointed to the “ideo- in northeastern China and found that is was
graphic” script, the prodigious num ber of not uncom m on for only one or two persons
characters (e. g., 50,000 plus) in the language, per village to be literate (Yen 1929 c, 129,
the profusion of dialects, the relatively recent 131). At about the sam e tim e in Shanghai,
notion of gram m ar, and the lack of an alpha- one study revealed that 76.3 per cent of the
bet as factors inhibiting literacy in China. The farm ers in the area where illiterate, while an-
one point m ost agree on is that fluency in other study of 230 worker fam ilies noted that
Chinese requires years of dedicated and con- 84.7 per cent of the boys and 97.9 per cent
certed effort. Basic literacy also necessitates of the girls had never attended school (Lam -
son 1935, 190, 192). When the Chinese Com -
no small amount of determination. m unist occupied the three province strong-
The Chinese term for “illiteracy” is hold of Shaanxi, Gansu, and Ningxia begin-
which literally m eans “script blind”. There ning in the m id-1930s, the illiteracy rate was
have been a num ber of m easures of illiteracy, estim ated to be 99 per cent (Seybolt 1971,
with m ost focusing on the num ber of Chinese 642). In southern China, especially in ethnic
characters a person can read and write. The m inority areas, illiteracy often exceeded 90
num bers have ranged from “a few hundred” per cent. In Liangsha, Guizhou, for instance,
(Rawski 1979, 140) to five hundred (Yu 1982, the rate was alm ost 98 per cent in the late
10) characters to be considered sem i-literate, 1940s (Yu 1982, 3). Even though these figures
and from 1000 to 2000 characters to be con- represent isolated exam ples, they reflect the
sidered literate (Seeberg 1990, 20; Yu 1982, m agnitude of the problem , especially in those
11; CNA 115, 6). It m ust be em phasized, instances relating to entire provinces. The
however, that even by knowing the upper 28.26 per cent illiteracy rate of 1982, there-
lim it of 2000 characters a person has but fore, m arked som ething of a significant
lim ited reading ability. He or she would not achievem ent for China. Equally significant
be able to read a Chinese newspaper such as was the reduction in the rate from the Second
People’s Daily, the official organ of the Chi- Population Census of 1964 which posted an
nese governm ent which uses about 2400 dis- illiteracy rate of 33.58 per cent (Population
tinct characters per issue (Zheng 1982), or Atlas 1987, xx). These figures suggest that
836 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m ore 50 m illion people becam e literate in the ucation roughly estim ated that in 1919 only
eighteen years between the two censuses. The one province (i. e., Shanxi, see Section 2.2.)
results of the 1990 census are even m ore en- had m ore than fifty per cent of their school-
couraging than those of 1982. According to age children in school, and m ore than half of
this count, the illiteracy rate for adults over the provinces had less than ten per cent
fifteen is 15.88 per cent (Zhang Lin 1990 b), (Djung 1934, 83). Sim ilarly, in 1929, the Bu-
m aking it one of the lowest in East Asia reau of Statistics estim ated that out of a total
(UNESCO, 12). It should be noted that the population of 480 m illion, less than 7.5 m il-
1982 census included illiterates from the age lion students were enrolled in prim ary schools
of twelve, while the 1990 census started at age (Facts 1930), while another estim ate put the
fifteen (Fang 1991, 117, 122). In any case, figure at 6.4 m illion (King 1929, 969). Lack-
China’s accom plishm ents since the early ing any sem blance of basic education, m il-
1980s can only be described as dram atic as lions of youths continued to swell the ranks
another 50 m illion achieved literacy in the of illiterates year after year. Som e critics sug-
eight years between the two surveys. gested that the governm ent was m ore con-
The im pressive achievem ents that the 1990 cerned with higher education than prim ary.
census figures represent can only be appreci- In a report sponsored by the League of
ated when m easured against the patchwork Nations, a team of international education
progress in literacy education in China since specialists found the situation in China in
the turn of the century. To com e to grips with 1932 as one in which there existed “an enor-
the problem of literacy in China, it will be m ous abyss between the m asses of the Chinese
necessary to exam ine a host of factors. Par- people, plunged in illiteracy, and not under-
ticularly im portant are specific literacy cam - standing the needs of their country, and the
paigns beginning in the 1910s, approaches to intelligentsia educated in luxurious schools
language instruction and language reform , and indifferent to the wants of the m asses”
and social and political instability. The liter- (Reorganisation 1932, 21). Despite these
acy problem has dem anded the attention of problem s, som e im portant advances did occur
all of China’s m odern-day leaders as they during this tim e period that had a positive
have attem pted to prom ote their vision of a effect on the promotion of literacy.
“New China”. A poorly educated citizenry
was seen as a stum bling block to m oderni- 2.1. Initial efforts in literacy education
zation early in the century. Today, as China
attem pts to enter the technologically-de- In 1912, the Ministry of Education set up the
pended Twentieth-First Century, the dem and Bureau of Social Education to oversee the
for an educated population is even m ore new governm ent’s educational program s out-
acute. Literacy is the first step towards m eet- side of the form al school system (Chang 1933,
ing that demand. 496). One wide-ranging program was a lecture
series for illiterates with the aim of instilling
in them a desire for learning.
2. Literacy during the Republican Era The lectures, delivered in special lectures
(1911—1937) halls or by roving lecture groups, dealt with
topics such as the achievem ents of the 1911
With the overthrow of the Qing Dynasty in Revolution to overthrow the Qing Dynasty,
1911, the im perial system in China cam e to the role of the new citizen in the republic, and
an end, leaving the country in political dis- public virtue (Chuang 1923, 3—9). By 1919,
array until the Nationalist (Kuom intang) there were m ore than 2000 lectures halls in
Party cam e to power in 1927. Even with the operation, each averaging three three-hour
ascendancy of the Nationalists between 1927 lectures per week (Chuang 1923, 5). The Bu-
and 1937, the county lacked the stability to reau also set up special schools for illiterates.
effect the sweeping changes necessary to pro- One type was continuing education schools
m ote the well-being of the people. Few areas ( ) for those over the age of sixteen
suffered as m uch as education. The govern- who had never attended school. In addition
m ent announced plans for com pulsory edu- to language, students were also taught m ath,
cation in 1906, 1912, 1915, 1920, 1930, 1935, citizenship, hygiene, and the like. In 1915,
but they were never im plem ented (Loh 1922; there were 79 such schools in operation, with
Djung 1934, 69—94; Ku 1941, 704—705). As a typical class in session for eighteen hours a
an exam ple of the ineffectiveness of the com - week for one year. By 1931, there were m ore
pulsory education laws, the Ministry of Ed-
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 837

than 20,000 of these schools, which were also and ordered all the literates to read them for
known as people’s schools ( ) them selves and then read them aloud to all
(Chang 1933, 497). Another type of special illiterates (Gillin 1967, 64; Chuang 1923, 21).
In 1918, Yan introduced a four-year pro-
school was half-day schools ( ) that gram of com pulsory education for children
featured three-year courses for the un- between the ages of seven and thirteen (Djung
schooled under sixteen. In 1918, alm ost 1934, 72). Anyone not sending their children
40,000 students were enrolled in 1614 half- to school was fined. Enrollm ent in Shanxi
day schools. The third type of school spon- prim ary schools subsequently rose from
sored by the Bureau was the so-called “lan- about 300,000 in 1916 to m ore than one m il-
guage-m ade-easy schools” ( ) lion in 1922 (Djung 1934, 74). In 1919, Yan
that specifically addressed language learning also instituted a com pulsory education law
for illiterates. The school norm ally took two for adults. The law stipulated that all under
years to com plete with twelve hours of class- the age of twenty-five who had not attended
room instruction per week. By 1915, there school had to enroll in one of the 2633 two-
were 4599 of these schools, with an average year continuation schools in the province
of three classes per school and thirty students (Chuang 1923, 22). To supplem ent the form al
per class (Chuang 1923, 9—13). — In early school system there were also 344 half-day
1929, the Ministry of Education initiated a schools, 3634 “language-m ade-easy schools”,
“Learn-to-Read Movem ent” in a num ber of and 46 open-air schools, as well as 244 schools
provinces (Chang 1933, 497), but these efforts especially for the poor (Chuang 1923, 21). All
were largely overshadowed by the Mass Ed- of these schools were free, and books were
ucation Movement (see Section 3.). provided by the provincial governm ent. Al-
Overall, the governm ent left the im plem en- though there are no precise figures, Shanxi’s
tation of its educational program s to local 99 per cent illiteracy rate in 1911 was appre-
officials who often lacked the necessary re- ciably reduced by the m id-1920s thanks in
sources and, perhaps, inclination to deal with large part to Yan’s com pulsory education
a problem as m assive as illiteracy. Govern- programs.
m ent resources usually were directed else-
where. For exam ple, the national budget for 2.3. The National Language Movement
fiscal year 1927—28 allocated a m ere 0.6 per The single m ost im portant event in the pro-
cent for education, when 87 per cent went to m otion of literacy in China was the publica-
the m ilitary (Much 1929, 48). One im patient
com m entator noted that based on the num ber tion of an article by Hu Shi ( , 1891—
of students graduating from governm ent- 1962) entitled “My Hum ble Proposals for the
sponsored literacy schools in 1933, it would Reform of Chinese Literature” (
take one hundred years to educate the illit-
erates then in existence (Chang 1933, 497). ) in the m agazine New Youth
2.2. The Shanxi experience ( ) on January 1, 1917. Hu, one of
Although the Nationalist governm ent was un- China’s leading intellectuals, advocated the
able to im plem ent com pulsory education on abandonm ent of classical Chinese in favor of
a national scale, several provinces such as the m odern vernacular. The classical lan-
Jilin and Jiangsu had a m easure of success in guage, based on the writings of the ancients,
doing so in the early 1920s (Loh 1922, 318— required years of dedicated study to m aster.
320). The m ost successful program at the tim e Im plicit in Hu’s article was the prem ise that
was in Shanxi Province, due prim arily to the unless the written language was changed to
support of warlord governor Yan Xishan reflect the contem porary spoken language,
any kind of m ass literacy would be im possi-
( , 1883—1960). Often referred to as ble. His rallying cry was “No dead language
the “Model Governor” of the “m odel prov- can produce a living literature” (Hu 1963,
ince”, Yan looked upon educating the people 51). Hu’s articles in New Youth, as well as
as part of his role as Confucian “gentlem an”, those written with Zhao Yuanren ( ,
and, equally im portant, as a m eans to pro- 1892—1982) in The Chinese Students’
m ote or propagandize his program s (Gillin Monthly (Zhao & Hu 1916), launched what
1967, 59—64). For instance, he had several cam e to be known as the “Literary Revolu-
m illion copies of “What the People Must tion” or “Literary Renaissance” in China that
Know”, a pam phlet describing his govern- legitim atized the vernacular as both a popular
m ent’s agenda, distributed in the late 1910s and scholarly written language.
838 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

The Chinese governm ent was also con- Chinese characters, the sym bols eventually
cerned with reform ing the Chinese language. cam e to be printed alongside them in lan-
With eight m ajor dialects and scores of sub- guage-learning texts, dictionaries, and certain
dialects in China, there was no real notion at newspapers. By printing the sym bols with the
this tim e of a standard spoken language. characters, the reader could sound out unfa-
There was the “official’s language”, generally m iliar characters and try to derive their m ean-
referred to as “Mandarin”, that was loosely ings from a knowledge of the spoken lan-
based on the Beijing (Peking) dialect and used guage and from context. Without these fun-
by officials when conducting governm ent dam ental linguistic reform s, especially the
business. However, the “language” was never changeover to the m odern vernacular and the
standardized and never used by the m asses. prelim inary efforts to establish a standard
The lack of a standard spoken language was language, all subsequent literacy m ovem ents
seen as a m ajor factor inhibiting both edu- would have been doom ed virtually from the
cation and national unity. In 1912, the Min- start.
istry of Education began addressing this
problem by convening the Com m ission to
Unify Pronunciation. Although the Com m is- 3. The Mass Education Movement
sion m ore or less failed in its m ission, the Except for a few governm ent program s and
Ministry later succeeded in sponsoring the several isolated cases such as in Shanxi, the
publication of A Dictionary of National Pro- m ost significant program s to com bat illiteracy
nunciation ( , 1919) and A Glossary in the Republican Era were m ounted by pri-
of Com m only Used Characters in the Na- vate groups and individuals. The founding of
tional Pronunciation ( , 1932) the National Association for the Prom otion
that helped to codify the spoken language, of Mass Education (
and A Dictionary of the National Language ) in August 1923 m arked the beginning
( , 1937—1945) that did likewise for of a m assive literacy effort in China. It was
the written language (Creamer 1992, 128—129). one of the first groups to focus national at-
The governm ent was also active in the tention on the literacy problem , and went on
m ovem ent to rom anize Chinese characters. to spearhead the literacy m ovem ent until the
Language and education reform ers, noting Communist Party came to power in 1949.
the difficulty of learning Chinese characters
as a factor contributing to the low literacy 3.1. Y. C. James Yen ( , 1893—1990)
rate, have frequently advocated the abolition
of characters in favor of a rom anized script Y. C. Jam es Yen was one of the earliest and
so that one could “spell” words based on their m ost successful advocates of m ass literacy in
(standardized) sound. Opponents of rom ani- China, and m any of his basic ideas and pro-
zation objected on linguistic and cultural gram s are still being used today to com bat
grounds, citing the huge body of Chinese illiteracy. Born in Bazhong, Sichuan, Yen was
literature that would be lost to future gener- educated both in China and the United States.
ations, the high degree of hom ophony in the After graduating from Yale University in
language that would m ake the spellings am - 1918, he volunteered to work for the YMCA’s
biguous, and the beauty of the written char- War Work Council in France. At that tim e
acter itself. The governm ent first took up the during World War I, there were m ore than
rom anization issue at the 1912 conference 200,000 Chinese laborers in France helping
that set up the Com m ission to Unify Pronun- with the war effort. Yen, as an education
ciation, but it was not until 1918 and 1928 secretary for the War Council, was introduced
that the Ministry of Education would issue to the problem s of illiteracy firsthand when
directives adopting a phonetic alphabet several laborers asked him to write letters for
( / ) for Chinese. On May them to their fam ilies in China. Soon there-
20, 1930, the governm ent started a cam paign after he was flooded with sim ilar requests and
to actively prom ote the alphabet by ordering cam e to realize the extent of illiteracy am ong
local departm ents of education to teach it in the workers. To attack the problem , Yen in-
all prim ary schools (Com pulsory 1930). The itiated a spare-tim e adult education program .
governm ent also required all public officials The first class consisted of forty workers be-
to learn the alphabet and had the Ministry tween the ages of twenty and fifty and m et
of Education conduct special courses in its for one hour a night over a four m onth pe-
use (Chang 1933, 496). Instead of replacing riod. At the end of the course, thirty-five had
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 839

“graduated” by writing a letter to their fam - supervised by an itinerant instructor; and


ilies in China and reading a specially prepared people’s question stations for itinerant illit-
newsletter written by Yen. With this initial erates (Yen 1925, 2—5).
success, the program mushroomed. At the sam e tim e, textbooks were revised
Three factors proved instrum ental to Yen for teaching what was called the “Foundation
success in France. The first was the develop- Character Course”. For over a period of four
m ent of a special textbook. Yen realized from and a half years beginning in France, Yen
the beginning that he would only be able to and his associates analyzed about 200 novels,
teach the workers basic literacy. He therefore short stories, business letters, public notices,
devised a list of approxim ately 1000 of the and the like written in the vernacular to de-
m ost com m only used Chinese characters and term ine the m ost com m on Chinese characters
restricted the textbook to those characters. (Yen 1929 d, 172—173). Based on these and
The second was the decision to teach vernac- sim ilar studies, Yen and his colleagues com -
ular Chinese instead of the literary language piled a four-part course entitled The People’s
then being used in virtually all publications Thousand-Character Lessons ( ),
in China. In this regard, Yen benefited from the first edition of which was published in
the groundbreaking work of language reform - 1921. Because of the various dem ands of lit-
ers such as Hu Shi and Zhao Yuanren. The eracy, separate textbooks were written for city
third factor was the publication of a news- dwellers, farm ers, and soldiers. Each textbook
paper entitled Chinese Workers’ Weekly was divided into twenty-four lessons, with
( ). The paper was written with one hour allotted per lesson so that the entire
the com m on characters taught in the courses course could be com pleted in ninety-six
and helped to keep the newly literate from hours. A typical lesson included a picture
falling into recidivism , a particularly acute depicting a particular situation, followed by
problem for new learners of Chinese charac- the lesson (usually written in rhym e to aid
ters. These three elem ents laid the foundation learning), and then a writing exercise. The
for Yen’s approach to literacy education objective of the course was to enable those
am ong the workers in France and would be who graduated to “write business letters, keep
used with even greater success upon his return accounts, and read sim ple [vernacular] news-
to China (Boorm an 1967—71, 4, 52; CB 1946, papers intelligently” (Yen 1929 a, 267). Yen’s
670; Yen 1929 a, 263; 1929 b). goal was to teach “a m axim um of practical
Yen returned to China in 1921 after first vocabulary within a m inim um tim e and at a
earning a Masters degree in History from m inim um cost” (Yen 1925, 2). Upon com ple-
Princeton University. Once back in China he tion of the course students were awarded the
renewed his relationship with the YMCA, be- degree of “Literate Citizen”.
com ing its secretary for public education, and Yen and his group conducted several local
continued to crystallize his ideas on literacy literacy cam paigns in the early 1920s to test
training. Yen divided illiterates into three their m ethods and to drum up popular sup-
groups: school-age children between six and port. The first cam paign in Changsha, Hunan
twelve years old, adolescents between twelve enrolled 2900 in literacy classes in 1922, and
and twenty-two years old, and adults twenty- another 3600 enrolled in Hankou (Wuhan),
three and older. Leaving the education of Hubei. The cam paign in Zhifu (the ancestral
school-age children to the governm ent, Yen hom e of Confucius), Shandong in late 1921
decided to concentrate his efforts prim arily and early 1922, is a typical exam ple Yen’s
on illiterate adolescents, and secondarily on techniques. First, a Mass Education Com -
adults. He also refined his teaching m ethods. m ittee, under the auspices of the local
His five basic m ethods were: the m ass m ethod YMCA, was organized that included local
for teaching between 200 and 500 students businessm en, labor and religious leaders,
that em phasized the visual presentation of m em bers of the press, and students and teach-
m aterials and group recitation aided by a ers. The com m ittee then undertook a m assive
stereopticon (Yen 1923, 13—18; Chang 1924); publicity cam paign that included putting up
the individual class m ethod for twenty to 1500 posters, issuing 600 official proclam a-
thirty students that used textbooks and a tions, distributing 20,000 leaflets, and pub-
blackboard; the chart m ethod for forty to lishing articles in the local press. The highlight
sixty students that em ployed charts, slides, of the publicity cam paign was a m ass m eeting
etc.; reading circles for sm all groups of stu- and parade with m ore than 15,000 people
dents that m et outside the classroom and was participating. Next, students and teachers
840 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

were recruited, and volunteers went door-to- “people’s reading circles” ( ).


door to identify likely students. In two days, Under the auspices of the National Associa-
2099 students ranging in age from seven to tion, Tao set up m ore than sixty circles in
sixty-seven were signed up for the classes. Beijing and Nanjing during the winter and
Finally, classroom s were set up throughout spring of 1923—1924. Each circle used Tao’s
the city and the courses began. Classes were version of the Lessons and, like Yen’s classes,
held one hour a day, six days a week, for four m et one hour a day for four m onths (Keenan
m onths, and of the 1600 students who com - 1977, 91). At Tao’s urging other prom inent
pleted the classes, 1147 were awarded literacy educators such as Hu Shi and Qiang Menglin
diplom a (Yen 1925, 6—9). Always m indful of ( , 1886—1964) set up sim ilar circles,
recidivism , Yen and his colleagues initiated and Tao him self set up additional circles in
continuing education program s for the stu- local prisons, factories, and various m ilitary
dents that included a second series of classes, units (Keenan 1977, 91). Tao went on to es-
a scholarship fund to help the m ore prom ising tablish a m odel educational village at Xiao-
students attend regular schools in the city, zhuang on the outskirts of Nanjing to test his
publishing a special series of fifty books and educational theory of the “unity of teaching,
pam phlets geared to the reading level of the learning, and doing”. The school em phasized
newly literate, and the prom otion of reading teacher training, but also conducted adult
clubs devoted to self-im provem ent and com - education classes for illiterates.
munity service (Yen 1925, 10—11). In the early 1930s, Tao form ed “work-
study groups” as a kind of self-help educa-
3.2. Tao Xingzhi ( , 1891—1946) tional program for the m asses. By 1932, there
Tao Xingzhi was educated both in Chinese were 300 people enrolled in units in Shanghai,
and m issionary schools in China, and in grad- and by 1934 there were sim ilar units in
uate schools in the United States. Reflect- twenty-one provinces throughout China. The
ing both worlds, he fashioned an approach units featured a “little teacher” system in
to learning he dubbed “life education” which school children were recruited to teach
illiterates (Boorm an 1967—71, 3, 246). By
( ), based, in part, on the educa- 1934, there was an estim ated ten thousand
tional theories of John Dewey (i. e. “education “little teachers” engaged in literacy work in
is life”), and the Neo-Confucian principles of the greater Shanghai area alone (Chu 1966,
the Chinese philosopher Wang Yangm ing 142). — Perhaps inspired by Tao’s efforts, the
( , 1472—1528, i. e., “the unity of governm ent of the Chinese city of Shanghai
knowledge and action”). Tao becam e actively went on to sponsor literacy classes in 1935
involved in the literacy m ovem ent in the early and 1936. In 1935, the governm ent conducted
1920s as a founding m em ber of the National a survey that identified 434,452 illiterates in
Association for the Prom otion of Mass Ed- the city. By the sum m er of 1936, a total of
ucation, and as the director general of its 4318 literacy classes were held with a total
m ain branch in Nanjing (Chu 1966, 34). In enrollm ent of 233,932 students, of which
collaboration with Zhu Jingnong ( , 115,315 passed the city-sponsored literacy test
1887—1951), he published a revised edition (School 1935, 700).
of The People’s Thousand-Character Lessons
in August 1923. As an indication of the pop- 3.3. Ding County — The Model County
ularity of the text, Volum e One reached its
162nd printing in October 1926 (Boorm an Yen and others in the Mass Education Move-
1967—71, 3, 244; Keenan 1977, 89; Peake m ent viewed literacy training as the first step
1932, 159). in m olding a “new citizen” for China. In 1926,
Initially, Tao focused on literacy training the group was invited by prom inent residents
for sm all groups of people outside the form al of Ding County, Hebei Province to put their
school system . One approach was the “chain- theories into practice. They went on to estab-
teaching m ethod” ( ) in which a lish experim ental agricultural, industrial,
health, and cultural stations in the county
literate m em ber of a group, for exam ple the that, until the Japanese invasion in 1937,
head of a fam ily, would teach another m em - m ade it a m odel for the nation to follow.
ber of the group, who would in turn teach Only of interest here, however, are Yen’s con-
another m em ber and so on (Keenan 1977, tinued refinements of his literacy program.
90). Another approach Tao favored for som e- Yen’s entree to Ding County was literacy
what larger groups was the form ation of training. In the late 1920s, the literacy rate
am ong the 400,000 residents in the county
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 841

was 20 per cent for those over the age of six students as they progressed to reading
(Gam ble 1954, 10). To address the learning unannotated text (Yen 1929 a, 267; 1925, 4;
needs of the county, a three-tiered educational 1929 d, 173).
system was established featuring instruction Supplem ental literacy training for the
in the classroom , in the hom e, and in the county at large was provided through the
county at large. Literacy training and con- Departm ent of People’s Literature and the
tinuing education were stressed in the first People’s Dram a Group. The literature de-
and third venues. Especially im portant in the partm ent continued to develop sim ple books
classroom setting were extension schools that and pam phlets geared to the needs of the
taught the “Thousand-Character” system , graduates of the literacy classes. Eventually,
people’s elem entary schools where experi- one thousand separate titles were produced
m ents were conducted to refine literacy edu- as part of the “People’s Library” series (Yen
cation, and people’s advanced schools where 1976, 235; Boorm an, 1967—71, 4, 52). A
research was undertaken to devise literacy newspaper entitled The Farm er ( ) fea-
standards (Yen 1976, 228—231). In the peo- turing articles on basic farm ing science, news,
ple’s elem entary school, the concept of com - and literature was also published. The dram a
pound words ( ) was introduced into the group staged a num ber of plays on educa-
literacy training program . Rather than teach- tional them es. Som e of the m ore popular in-
ing individual characters in isolation, char- cluded “The Handicaps of the Illiterate
acters were taught in com binations. In that Farm er”, “The Light of the Com m on People”
the spoken Chinese language is m ore poly- (i. e., the Mass Education Movem ent), and
syllabic (i. e., words com posed of two or m ore “The Princely Man” (Yen 1929 c, 160).
characters) than m onosyllabic (i. e., words By m id-1934, Yen and his colleagues had
m ade up of one character), a teaching ap- organized 844 literacy courses in Ding
proach that stresses words instead of individ- County with a total enrollm ent of 21, 170.
ual characters reinforces the learning process The illiteracy rate for m ales between the ages
by enabling the student to draw on his or her of fourteen and twenty-five was reduced from
knowledge of the spoken language. Abbrevi- about 80 per cent in the late 1920s to about
ated or sim plified form s of Chinese characters 10 per cent (Yen 1976, 261). By 1936, m ore
were also introduced in an effort to m ake than eighty thousand people had attained lit-
writing characters less com plicated (see Sec- eracy training either through the “Thousand-
tion 7.3.). Another im provem ent introduced Character” classes or through one of the 472
at this tim e was teaching the National Pho- People’s Schools (Buck 1945, 60). The Ding
netic Script during the first m onth of classes. County experim ent set the standard for lit-
These refinem ents helped to shorten the eracy education in China in the 1930s. In the
length of the course from four m onths to m id-1930, m ore than 800 “rural reconstruc-
three, and increased the num ber of characters tion centers” based on the Ding County
taught from 1300 to 1700 (Yen 1976, 229). m odel were started throughout China in co-
As part of their educational research in the operation with the national governm ent (CB
people’s advanced schools, the instructors de- 1946, 672). Between the years 1937 and 1945
term ined that the prim e ages for learning Chi- alone, while China was waging a war against
nese characters was between 14 and 22. This the Japanese on Chinese soil, and while the
inform ation allowed them to better focus Com m unist Party and the Nationalist Party
their recruitm ent drives and to tailor text- were vying for power, it has been estim ated
books to m eet the particular learning needs that m ore than 45 m illion people were taught
of this age group (Yen 1976, 230). basic literacy through the “Thousand-Char-
It was also during the Ding County years acter” program initiated by Jam es Yen and
that a new set of books was com piled to Tao Xingzhi, and sponsored by the National
supplem ent the textbooks. One book was The Association for the Prom otion of Mass Ed-
A. B. C. of the Phonetic Script that was used ucation (Gamble 1954, xx, 186).
to teach the National Phonetic Script, and
another was The People’s Copy Book that
was used to practice writing. The third book 4. Missionaries
in the series was The People’s Pocket Dic- Missionaries have long been attracted to
tionary that contained 4000 entries. The dic- China by the possibilities for spreading their
tionary was useful in the course, and also religions am ong the Chinese m asses. The suc-
proved to be a valuable reference tool for the cess or failure of the foreign m issions often
842 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

depended on their acceptance, first by the of m em bership (Bryson 1924, 327, 338). In
literate elite, and, second by the usually illit- May 1922, the National Christian Conference
erate com m oner who would m ake up the bulk in Shanghai called for a “cam paign for the
of their church. Som e of the forem ost m is- com plete rem oval of illiteracy am ong the
sionaries such as the Buddhist Kum arajiva Church m em bership” (Rawlinson et al. 1922,
(344—413) who arrived in China in 401 A. D., 292), and by 1924 m ore than 150 m ission
the Italian Jesuit Matteo Ricci (1552—1610) stations were reported to have been conduct-
who advised the Ming Dynasty (1368—1644) ing som e kind of literacy education. By the
court, and the Protestant Robert Morrison end of the 1920s, however, certain m ission-
(1782—1834) spent considerable tim e and ef- aries (e. g., Lacy 1931, 101) were openly crit-
fort learning Chinese and translating their ical of the apparent lack of attention and
religious works. The early m issionaries trans- resources being devoted to literacy training.
lated their literature into classical Chinese,
but, as such, was beyond com prehension of 4.1. The Five Year Movement
the m asses (Latourette 1920, 264). Later, they
began experim enting with rom anized trans- In an attem pt to revitalize the Christian effort
lations so that the illiterate could read the in China after setbacks due to the rise of
texts phonetically (Yang 1960; Ni 1948, 10— Chinese nationalism in the late 1920s, the
30). By the second half of the Nineteenth National Christian Council of China an-
Century there were rom anized versions of the nounced the initiation of the Five Year Move-
Bible for the Aom en, Ningbo, Shanghai, and m ent on January 1, 1930. One of the key
Wenzhou dialects, as well as version written elem ents of the m ovem ent was a rededication
in an “easy” classical style (Latourette 1920, to literacy teaching, and a special com m ittee
264, 431). was form ed to coordinate and prom ote the
Despite the availability of religious litera- issue (Cio 1931; Five 1930). The Council con-
ture written for the lower-educated m asses, tacted officials of the Mass Education Move-
literacy am ong Chinese church m em bers m ent at Ding County who agreed to conduct
was a continuing problem for the foreign a special literacy institute to teach m ission-
churches. Som e m issionaries conducted spe- aries their m ethods, especially the “Thou-
cial literacy classes for their converts. At sand-Character” system . The institute, held
about the tim e of the 1911 Revolution, Dong in m id 1930, was planned for thirty m ission-
Jing’an ( ), a Christian convert, de- ary representatives, but m ore than ninety ul-
tim ately attended (Rinden 1930, 630). One
veloped a literacy course for classical Chinese m issionary, Hugh Hubbard of the Am erican
called Six-Hundred Characters ( ) Mission Board, reported on his success with
that was taught in 200 m ission-sponsored the Thousand-Character Lessons over a six
schools in 1915. The num ber doubled by 1918 year period when his group taught m ore than
(Chuang 1923, 14; Han 1932, 149), but after 29,000 illiterates to read and write. Just as
the Literary Revolution sounded the death im portant to the m issionaries was Hubbard’s
knell for the classical language, Dong’s text report of a fifty-six per cent increase in church
was rendered useless for literacy training. m em bership during the sam e period (Rinden
Other m issions had success using Wang 1930, 632).
Zhao’s ( ) “Mandarin Alphabet” After the institute, the participants con-
( ) in which phonetic sym bols were ducted sim ilar training conferences for fellow
printed alongside the Chinese characters. One m issionaries in a num ber of cities throughout
m ission reported that ninety-five per cent of China, and literacy classes soon becam e a
its com m unicants were able to read the Bible regular part of the m issionary educational
written in this script (Han 1932, 148). program (Lane 1931, 121). For exam ple, the
These were som ewhat isolated approaches Church of Christ in Shandong Province con-
to the literacy problem . In the early 1920s, ducted 150 literacy classes in 1930 (Han 1932,
two surveys (Occupation 1922; Bryson 1924) 149), the Am erican Church Mission in Hubei
brought the issue into sharper focus for the Province taught m ore than 10,000 illiterates
m issionaries when it was estim ated that the between 1930 and 1933 (Hubbard 1933, 289),
literacy rate am ong Chinese com m unicants and by 1933 m issionaries at Baodingfu, Hebei
was about 50 per cent. Most m issionaries had enrolled m ore than 37,000 in their
found these rates em barrassing low, and som e “Thousand-Character” classes. In addition to
churches began requiring literacy or steady these large-scale efforts, sm aller m issionary
enrollm ent in literacy classes as a condition groups also were participating in the m ove-
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 843

m ent. The Nanjing Theological Sem inary op- and literacy classes” (Mao 1944, 185). Sec-
erated five literacy classes in the early 1930s ond, as the Party ranks began to swell in the
(Brown 1951, 241), and m issionaries at Hwa late 1930s and early 1940s, Party leaders had
(Hua) Nan College in Fuzhou developed a to rely increasingly on cadres drawn from the
special literacy course in the Spring of 1935 worker and peasant classes to im plem ent
to teach 250 local wom en to read (Chen 1936, Party policy directives at the grass-roots level.
252). With the apparent success of the Ding The ability of these cadres to read and com -
County m ethods, various m issionary groups prehend often com plicated policy and theo-
went on to produce special texts such as a retical docum ents becam e a prim ary concern
reader for farm ers (Darroch 1933, 220), “The of the Party leadership. Mao, in a speech
Thousand-Character Gospel” and “The delivered in 1942 entitled “Rectify the Party’s
Thousand-Character Old Testam ent” (Davis Style of Work”, addressed this issue by noting
1937, 157), and laid plans for an entire series that “[i]n order to study theory ... our cadres
of reading m aterials for literacy school grad- of working-class and peasant origin m ust first
uates (Rinden 1930, 632). By the end of the acquire an elem entary education. Without it
1930s, however, the m issionary m ovem ent, they cannot learn Marxist-Leninist theory”
and to a certain extent, the literacy m ovem ent (Mao 1942, 41). Two years later a docum ent
in general, were overtaken by calam itous issued by the Party’s Central Com m ittee re-
events on the national scene, especially the iterated this them e stating that “[i]f there is
m assive destruction and dislocation caused by not a com paratively high cultural level, the
the Japanese invasion in 1937, and the virtual m astery of Marxist-Leninist theory is im pos-
state of civil war between the Com m unist and sible.” Supplem entary education for cadres
the Nationalist forces that would last until was suggested that would “not be lim ited
1949. m erely to learning a certain num ber of char-
acters, but should include the ability to read
and write, and a general knowledge of history,
5. Literacy and the early CCP geography, social and political science, and
Not unlike the m issionaries, the leaders of natural science” (Com pton 1952, 77). Liter-
the Chinese Com m unist Party often stressed acy and basic education then were both im -
education, especially language learning, as portant social and political goals for the early
a way of spreading their doctrines am ong CCP.
the Chinese m asses. Mao Zedong ( Even before the establishm ent of the Chi-
nese Com m unist Party in 1921, people who
1893—1976), also an accom plished poet in would be drawn to the Party participated in
classical Chinese, frequently wrote on the im - the early m ass education cam paigns. Zhang
portance of basic education and literacy. Such Guotao ( , 1897—1979), a founding
education was im portant on two levels. First, m em ber of the Party, organized a Society for
the areas in which the Com m unist Party set Mass Education ( ) in Beijing in
up their bases of operations, especially after
its bloody split with the Nationalist Party in about 1919 that “advocated social reform
1927, were located in som e of the m ore back- through the education of the com m on m an”
ward regions of China. For exam ple, in the (Zhang 1971/2, 50). The society was involved
Shaanxi-Gansu-Ningxia base area in north- in the lecture m ovem ent of the tim e (see Sec-
west China in 1944, Mao found that of the tion 2.1.), and included other activists who
1.5 m illion people in the region “there [were] would becom e leaders in the CCP such as
m ore than 1,000,000 illiterates, ... 2000 prac- Deng Zhongxia ( , 1897—1933) and
titioners of witchcraft, and the broad m asses Luo Zhanglong ( , 1901—1949). Early
[were] still under the influence of supersti- Com m unists were also active in adult edu-
tion.” Mao referred to these problem s as the cation for workers, especially when the Party
“enem ies inside the m inds of the people”, focused on the urban proletariat as the van-
which were “often m ore difficult to com bat guard of their m ovem ent. Mao established a
... than ... Japanese im perialism .” He went workers’ night school in Changsha, Hunan in
on to “call on the m asses to arise in struggle 1917, Zhang and Deng did likewise in Beijing
against their own illiteracy, superstitions and in 1919, and the Shanghai Com m unist Group
unhygienic habits ... Hence, in our education set up a workers’ school in that city in 1920.
we m ust have not only regular prim ary and These schools taught basic literacy along with
secondary schools but also scattered, irregular a healthy dose of Marxist theory (Wang 1988,
village schools, newspaper-reading groups 6; Zhang 1971/2, 50).
844 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

5.1. The Jiangxi Soviet “culturally one of the darkest place on earth,”


where the peasant believed that water was
After 1927, the Party set up alternative gov- harmful to their health (Snow 1968, 234).
ernm ents or soviets, first in Ruijin, Jiangxi Until about 1940, CCP educators m ore or
from 1931—1934, and then in Yan’an, less continued the literacy program s begun in
Shaanxi from 1937—1947. During the Jiangxi Jiangxi. Another Society for the Liquidation
Soviet, the CCP em phasized basic education of Illiteracy was installed, and the Com m unist
by establishing m ore than 3000 “Leninist” Youth Corps was once again tapped to pro-
prim ary schools that were attended by alm ost vide the bulk of the teachers. The Corps was
90,000 pupils. The regular prim ary schools especially active in teaching soldiers in the
were augm ented by 6462 night schools for CCP arm y to read. In 1937, the arm y con-
adults that had an enrollm ent of 94,517, and sisted of alm ost 92,000 troops, and by 1940
by 32,388 reading groups that included the ranks had swelled to about 500,000. The
155,371 m em bers who had only basic literacy vast m ajority of the new recruits were drawn
skills (Mao 1934, 29). The CCP also estab- from the peasant class and were generally
lished a Society for the Liquidation of Illit- uneducated. The Corps form ed so-called
eracy under the direction of Qu Qiubai “Lenin Corners” am ong the arm y units that
( , 1899—1935), their com m issar of
offered daily classroom -like instruction in
education, that conducted literacy classes in Chinese characters. Corps m em bers were also
several hundred villages in the area. Teachers assigned to teach the soldiers while on m arch.
for these classes were often drawn from the During these tim es the m em ber would often
ranks of the Com m unist Youth Corps, a im provise a lesson by writing characters on
group that was often in the vanguard of the whatever paper was available, or in the sand
CCP literacy cam paigns. In addition to the with a sharp stick. Som e even carried a box
classes, CCP educators experim ented with of sand with them expressly for this purpose.
various ways to prom ote language learning. While encam ped the soldiers were encourage
One practice was the posting of signboards to write “newspapers” on walls or placards
inscribed with Chinese characters on the so they could practicing their new writing
roads leading to the farm ing fields so that the skills (Snow 1971, 53 f).
peasants could learn new words on their way The CCP developed their own Chinese
to and from work (Mao 1934, 29—30). Mao character prim ers and “cultural readers” for
claim ed that “[a]fter three or four years the use in the “Lenin corners” and other literacy
m ajority of the peasants in our soviet districts groups. The texts typically com bined lan-
in Jiangxi knew several hundred Chinese guage learning with an overt political m es-
characters and could read sim ple texts, lec- sage. Edgar Snow, the Am erican journalist,
tures, and our newspapers and other visited the Yan’an area and described a typ-
publications” (Snow 1968, 446). ical literacy class as follows (Snow 1969, 236):
... entering one of these little ‘social education
5.2. The Shaanxi-Gansu-Ningxia centers’ in the m ountains, you m ight hear these
Border Region people catechizing themselves aloud:
After several years in Jiangxi, the Com m unist What is this? This is the Red Flag.
were forced out of the area by Nationalist What is this? This is a poor man.
Party troops and em barked on the Long What is the Red Flag? The Red Flag is the flag
March that would eventually led them to of the Red Army.
Yan’an, Shaanxi in 1937. There the CCP set What is the Red Arm y? The Red Arm y is the
up the capital for their governm ent that con- army of the poor men!
trolled the three-province area of Shaanxi, And so on, right up to the point where, if he knew
Gansu, and Ningxia until 1947. During this the whole five or six hundred characters before
ten-year period the Party was able to test its anyone else, the youth [i. e., student] could collect
educational theories on a larger scale than in the red tassel or pencil or whatever was prom ised
Jiangxi. The task proved especially difficult [as a reward]. When farm ers and farm ers’ sons and
because of the ram pant poverty in the area daughters finished the book they could not only
that was reflected in the literacy rate of about read for the first tim e in their lives, but they knew
1 per cent. Xu Teli ( , 1877—1968), who had taught them , and why. They had grasped
the basic fighting ideas of Chinese Communism.
the CCP com m issar of education after the By early 1939, the CCP had established m ore
death of Qu Qiubai, described the area as than 6000 literacy units in the Shaanxi-
Gansu-Ningxia region, but the results ulti-
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 845

m ately proved disappointing (Seybolt 1971, to com bat illiteracy, and as such it received
648). Rapid advances had been m ade in the strong backing from Party leaders. I n an in-
regular school system with the num ber of terview with Edgar Snow, Mao explained the
students in prim ary school jum ping from situation as follows (Snow 1968, 446: italics
5600 in 1937 to 22,000 by 1939. With m ost in the original):
of the schools located in the m ore urban In order to hasten the liquidation of illiteracy here
areas, however, the hope of an education was we have begun experim enting with ... Latinized
still beyond the grasp of m ost fam ilies (Selden Chinese. It is now used in our Party school, in the
1971, 269). A m ore drastic approach to the Red Army Academy, in the Red Army, and in a
problem was obviously necessary. special section of the Red China Daily News. We
believe Latinization is a good instrum ent with
5.3. The Latinxua Sin Wenz Movement which to overcom e illiteracy. Chinese characters
are so difficult to learn that even the best system
Since Matteo Ricci’s first proposal in 1605, of rudim entary characters, or sim plified teaching,
there had been m ore than twenty m ajor ro- does not equip the people with a really efficient
m anizations system s put forth for Chinese by and rich vocabulary. Sooner or later, we believe,
the 1930s (Luo 1934). Som e of the system s we will have to abandon the Chinese character
were proposed specifically as an aid to learn- altogether if we are to create a new social culture
ing Chinese characters and m ost were de- in which the m asses fully participate. We are now
signed as an eventual replacem ent for the widely using Latinization, and if we stay here [in
characters. After lim ited success with their Yan’an] for three years the problem of illiteracy
literacy program , the CCP turned to a ro- will have been largely overcome ...
m anization system known as Latinxua Sin The CCP, like the Nationalists with their ver-
Wenz (Latinized New Script) to revitalize sion of a phonetic alphabet, gave the new
their effort. Rem iniscent of Jam es Yan’s ex- script the sam e legal status as Chinese char-
perience in France, the Latin Script m ove- acters. — Wu Yuzhang was nam ed to head a
m ent began in 1927 am ong Chinese workers cam paign to prom ote the Latin script. In
in Moscow. Several CCP intellectuals such as Novem ber 1941, the Latinxua Sin Wenz As-
Qu Qiubai and Wu Yuzhang ( , sociation was form ed in Yan’an with m ore
1878—1966) were also in Moscow at the tim e, than 1000 people attending its first m eeting,
and, under the influence of Soviet linguists after which branch associations were estab-
A. A. Dragunov and V. S. Kolokolov, devised lished in other CCP-controlled areas (Re-
an alphabet for Chinese in the hope of teach- form ing 1950, 108). Special classes were con-
ing the m ore than 150,000 illiterate Chinese ducted for CCP cadres to learn the script and
workers in the Soviet capital how to read (Ni it was used in literacy classes in the region.
1948, 115). After encouraging results teaching By about 1944, however, the Latin Script
the new alphabet, conferences were held in m ovem ent was all but abandoned (Seybolt
Vladivostok in 1931 and 1932 to further ex- 1971, 653). One reason for its failure was the
plore its potential. The Latin Script m ove- em phasis on learning how to read in the var-
m ent began in earnest in China in 1932, es- ious dialects rather than in the em erging na-
pecially after it attracted the attention of Lu tional language. Of the thirty Latin Script
Xun ( , 1881—1936), generally referred textbooks published, m ore than half were for
to as the “Father of Modern Chinese Liter- dialect speakers. Another reason was the lack
ature,” who wrote several essays extolling the of reading m aterial in the script itself. Be-
virtues of the script, although he never used tween 1935 and 1940, there were only fifty-
it in his writings. By 1936, the Latin Script two books published in the script for the
was endorsed in a declaration signed by re- general reader (Ni 1949, 556—567). In gen-
spected Chinese educators including Cai eral, there is scant reading m aterials in the
Yuanpei and Tao Xingzhi, prom inent authors Chinese dialects so that those who becam e
such as Mao Dun ( , 1896—1981) and “literate” using this system had little supple-
Guo Moruo ( , 1892—1978), as well m ental reading either in the Latin Script or
in their native dialect. Perhaps the m ain rea-
as political figures like Mrs. Sun Yat-sen son for its failure was that it proved to be
( , 1893—1981). Also, societies for ad- unpopular with the peasants. Michael Lind-
vancem ent of the script were form ed in vari- say, a British educator who visited the area
ous cities in China and abroad (Reform ing at the tim e, reported that the illiterate villag-
1950, 108). ers usually asked to be taught Chinese char-
The CCP seized on Latin Script as a tool acters instead of som e rom anized system , and
som e even wanted to learn classical Chinese
846 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

(Lindsay 1950, 47). Other reasons for the literacy program s despite the war. For ex-
failure of the Latinxua Sin Wenz Movem ent am ple, in Zhejiang Province, schooling was
include the m agnitude of the literacy problem com pulsory for all illiterates, and to m eet the
in the area, the transient nature of the Yan’an- need for teachers, all m iddle and norm al
based CCP governm ent, and the on-going school students, as well as college and uni-
war with the Japanese. Any kind of wide- versity students, were required to help teach
spread success in the illiteracy m ovem ent literacy classes during their sum m er vaca-
would have to wait until the political situation tions. Provincial officials went on to devise a
stabilized. three-year program to elim inate illiteracy
am ong the estim ated 2.8 m illion illiterates
under their jurisdiction, as well as a plan to
6. The War Years (1937—1949) provide free education for all school-age chil-
On July 7, 1937, Japanese forces staged a dren (Chekiang 1940, 277). In Kunm ing, Yun-
m ilitary incident on the outskirts of Beijing nan, literacy education also was m ade com -
that led to a state of war between the two pulsory for those between the ages of 16 and
nations that would last until the end of World 35, and roughly 30,000 people enrolled in one
War II. For alm ost eight years the Japanese of three three-m onth courses in 1940 (Yunnan
dom inated large sections of northeastern, 1940, 276—277). Likewise in Sichuan Prov-
eastern and central China. In addition to the ince, a three-year plan was instituted to edu-
m assive m ilitary and econom ic destruction cation the estim ated 16 m illion local illiterates
wrought by the Japanese m ilitary, the Chinese by the establishm ent of twenty thousand free
educational system was alm ost literally up- schools that would to accom m odate fifty pu-
rooted as schools and universities were pils each (Szechuan 1940, 398).
m oved, som etim es on the backs of the stu- The end of World War II brought only a
dents, into the relative security of the hinter- fleeting peace to China as civil war broke out
land. In spite of the strains of war, school between the Nationalists and the Com m unist
enrollm ent during this period actually in- that lasted until the Com m unist victory in
creased. Between 1937 and 1944, there was 1949. Although the literacy rate was not a
an increase of alm ost 28 per cent in prim ary prim ary concern during this period som e pro-
school attendance, m ore than 66 per cent in gress was m ade. In Guangzhou (Canton), for
m iddle schools, and 65 per cent at the college exam ple, a group known as the Guangzhou
and university level (Handbook 1947, 323— Mass Education Association organized liter-
328). — In March 1940, the Ministry of Ed- acy courses between 1947 and 1949 that en-
ucation for the Nationalist Governm ent con- rolled m ore than 15,500 students (Hsu 1948,
vened a National Conference on People’s Ed- 279). In northern China, literacy training for
ucation that passed regulations requiring all the peasants was often com bined with the
illiterates to receive schooling (Handbook Com m unist’s land reform m ovem ent, and it
1947, 323). According to Ministry estim ates, was reported to be one of the m ore heartily
roughly 23.2 m illion students enrolled in lit- em braced program s in the area (Yu Wah
eracy classes in the period 1941—1943, with 1949). The civil war ended with the Nation-
another 155 m illion, or 34 per cent of the alists fleeing to Taiwan where they went on
population, rem aining in need of such train- to achieve great success in literacy work, while
ing (Handbook 1947, 324). the Com m unists took control of the m ainland
Because of the war effort, resources were and struggled mightily with the problem.
severely strained and what literacy training
did occur was often piecem eal. In Guizhou 7. The People’s Republic of China
Province, for instance, each m iddle school
student was required to hand-copy at least When the Chinese Com m unist Party estab-
three m ass education textbooks each sem ester lished the People’s Republic of China in 1949,
for use in literacy and basic education classes the illiteracy rate was still thought to be 80
(Mass 1940, 146). Also, several of the univer- to 90 per cent, or about the sam e as it was in
sities that were relocated in the interior spon- 1911 (e. g., Abe 1961, 150; Cam paign 1990;
sored sum m er literacy classes by sending Illiteracy 1990). As the CCP faced the task of
groups of students and faculty into rural areas governing all of China, the need for a literate
to teach reading and writing, as well as hy- citizenry becam e all the m ore im portant, es-
giene, first aid, and child care (Texas 1943, pecially as they sought to m echanize agricul-
58). Several provinces attem pted large-scale ture and overhaul the industrial base. Reports
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 847

that there were m ore than 1600 com pletely the National Association for the Elim ination
illiterate CCP cadres in Beijing alone, and of Illiteracy headed by Chen Yi (
that m ore than half of clerks and office work- 1901—1972), a high-ranking m em ber of the
ers in China were illiterate was cause for CCP. Also in 1956, the Com m unist Party and
immediate concern (CNA, 13/5; 115/4). the State Council, China’s highest ruling
body, issued an am bitious directive calling for
7.1. The Commission for the the elim ination of illiteracy within three to
Elimination of Illiteracy five years (DeFrancis 1984, 214). Two groups,
rural youths and urban workers, were tar-
PRC efforts to com bat the literacy problem geted for attention. The Chinese Com m unist
began in Decem ber 1949, two m onths after Youth Corps was once again called upon to
the founding of the new governm ent, with the assist in a plan to educate 70 per cent of the
convening of the First National Conference estim ated 70 m illion illiterate or sem i-literate
on Educational Work. After two years of rural youth. Hu Yaobang ( , 1915—
sim ilar m eetings and directives concerning the
problem , the governm ent set up the Com m is- 1989), a vice-chairm an of the National As-
sion for the Elim ination of Illiteracy in No- sociation and head of the Com m unist Youth
vem ber 1952 with Chu Tu’nan ( , b. League, actually advocated the program the
previous fall in an article in People’s Daily
1899), a non-Com m unist, as chairm an (Yu (URS 1955, 26/1), and was later put in charge
1982, 13—14; Seeberg 1990, 165—166). One of im plem enting the plan. Hu suggested set-
of the first m ajor program s endorsed by the ting up evening schools (including both winter
com m ission was a cam paign to prom ote lit- schools and people’s schools [ ]), sm all
eracy education through the Rapid Read
Method ( ), a language-learning inform al study groups, and one-on-one teach-
system developed by Qi Jianhua ( ), a ing sessions for illiterates. The slogan of the
cam paign, geared to seasonal dem ands of the
vice-chairm an of com m ittee, while he was in farm ing calendar and the collectivization
the People’s Liberation Arm y in 1950. The m ovem ent then underway in the countryside,
m ethod consisted of three parts: learning the was “when not busy, study m ore; when busy,
Chinese phonetic alphabet, then character study less; and when very busy, take a break
recognition by word units (i. e., two or three from study” ( , ,
characters that com pose a word) with the
phonetic sym bols printed alongside the char- ) (URS 1955, 26/1; CNA, 115/2—4).
acters, and, finally, reading and writing sen- On January 4, 1956, the All-China Feder-
tences and short essays (Xinhua, 1952/2, 177; ation of Trade Unions announced its own
1952/3, 149; Lin 1953, 6). The system , said to plan to wipe out illiteracy am ong factory
teach 2000 characters in 150 hours of instruc- workers by 1958 by requiring all illiterates to
tion, was first used to teach illiterates in the spend six hours a week in literacy classes
Southwest m ilitary district in 1951 with m ore (URS 1956, 20/294). The general problem of
than 12,000 reportedly achieving literacy, and illiteracy in the factories was illustrated in an
then was used am ong the general population editorial in Worker’s Daily ten days later
with two m illion becom ing literate (Yao 1952, where it was estim ated that half of the work-
25; CNA, 33/5). After a few years, however, ers in production enterprises were illiterate,
it was found that the newly m inted literates and 60 to 70 per cent of those in coal m ining
had forgotten how to read and write as rap- and construction were illiterate as well (URS
idly as they had learned. By 1954, the Rapid 1956, 20/294; Struggle 1956).
Read Method was being widely criticized as In the m id and late 1950s national events
ineffective and was abandoned (CNA, 33/5; once again overtook the literacy m ovem ent.
184/5; Seeberg 1990, 167). At about the sam e First, following the Hundred Flowers m ove-
tim e there was apparent disarray in the fight m ent of 1957 when open criticism of the CCP
against illiteracy as different program s and was encouraged, an “anti-rightist” cam paign
directives were being issued by the Ministry took place in which those who spoke out
of Education, the Com m ission for the Elim - against the Party, especially intellectuals, were
ination of Illiteracy, and the editors of Peo- censured, leaving m any forever leery of CCP
ple’s Daily (CNA, 184/5). intentions. Second, the Great Leap Forward
of 1958—1961, in which Mao and the Party
7.2. The National Association for the attem pted to catapult the Chinese econom y
Elimination of Illiteracy into the m odern industrialized world, sapped
In 1956, the Com m ission for the Elim ination m uch of the m aterial and em otional resources
of Illiteracy was abolished and replaced by of the country and resulted in wholesale eco-
848 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

nom ic ruin and widespread fam ine. Any last- another (e. g., versus ).
ing advancem ents in literacy during this try- In 1955 and 1956, the governm ent also
ing period were difficult at best. One inform ed began prom oting a standardized spoken lan-
source estim ated that between 1950 and 1957 guage known as Putonghua ( ) or the
only 700,000 illiterates successfully learned
how to read and write, and the Worker’s com m on spoken language. Based on North-
Daily opined that the num ber of illiterates ern Chinese, particularly the Beijing dialect,
was actually increasing instead of decreasing Putonghua is the official spoken m edium for
(CNA, 329/4; 361/7). By 1958, the National all governm ent com m unication, is used on
Association for the Elim ination of Illiteracy national radio and television broadcasts, and
itself was apparently abolished (Klein & is used and taught in all schools. The govern-
Clark 1971, 1107). m ent sponsored the com pilation of A Diction-
ary of Modern Chinese ( ),
7.3. Language Reform an excellent m edium -size dictionary that was
eventually published in 1978, to help prom ote
In the m id-1950s, the PRC governm ent un- Putonghua (Cream er 1992, 130). Despite
dertook a three-pronged effort to reform the these efforts, the popularization of Putong-
Chinese language by introducing plans to hua has been only partially successful as any
sim plify characters, standardize the spoken visitor to a dialect area such as Shanghai or
language, and adopt a rom anization system . Guangzhou can attest. In such areas the local
Like earlier language reform s, one of the basic dialects are widely used in everyday personal
assum ptions of this effort was that if the com m unication, and m any who attem pt to
difficulties of learning the language could be speak Putonghua do so with a heavy local
reduced the literacy rate would be increased. accent. As for literacy, Putonghua has som e-
In January 1956, a few m onths before the what com plicated the issue in that an illiterate
literacy cam paigns in the countryside and fac- from a dialect region m ust learn Putonghua,
tories were launched, the State Council, the virtually a new spoken language, while also
Ministry of Education, and the Com m ittee to learning how to read and write (Serruys 1962,
Reform the Chinese Written Language an- 115).
nounced a plan to sim plify Chinese charac- In February 1958, the governm ent offi-
ters. In all, 515 characters were sim plified by cially adopted the Pinyin ( ) system for
either reducing the num ber of strokes used to
rom anizing Chinese characters. Unlike the
write a character (e. g., with five strokes earlier phonetic alphabet that used sym bols
versus with sixteen strokes), standardizing to represent sounds, the Pinyin system uses
variants under one form , or sim plifying com - Rom an letters. Like the earlier alphabets, lan-
ponent parts of characters (e. g., the left side guage reform ers have from tim e to tim e ad-
of versus the left side of ). Another list vocated the abolition of characters in favor
of 2000 characters was issued in February of Pinyin. The system is m ost com m only used
1964, but a list put forth in 1978 failed to as an arrangem ent schem e for dictionaries,
gain public acceptance and was ultim ately and for rendering place nam es on m aps and
withdrawn. The purpose of these plans was personal nam es in the non-Chinese press. Per-
to m ake Chinese characters sim pler to write haps the m ost significant use for Pinyin is in
and to reduce the num ber of characters in beginning language instruction where Chinese
general use, thus m aking the written language characters are first spelled in Pinyin to fam il-
easier to learn both by students beginning iarize the student with the sound of the word
their language training and by illiterates. and word boundaries before the actual writ-
Whether or not sim plification has achieved ing of the character is attem pted. Kuo Moruo
its purpose is open to question. The original once suggested that with the Pinyin system
com plex form of the characters have con- school students could accelerate their lan-
tinued to be used in Taiwan and the literacy guage learning by two years (Mills 1956, 518).
rate there has been consistently higher (e. g., These three language reform m easures have
65.4 per cent in 1951, 84.7 per cent in 1969, helped to standardize the Chinese language
and 94.4 per cent in 1990) than the rate in and have played im portant roles in subse-
the PRC (Republic 1991, 88—89). It is also quent literacy programs.
questionable whether it is easier to rem em ber
a character because it has several fewer 7.4. Wanrong and the Pinyin experiment
strokes, especially when it som etim es becom es In August 1958, educators in Wanrong
difficult to distinguish one character from County, Shanxi Province began experim ent-
ing with using Pinyin as a teaching aide for
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 849

language learning. As with the Rapid Read were “sent down the countryside to learn
Method, illiterates in Wanrong first learned from the peasants.” With the school system
the Pinyin spelling system , then words and in sham bles, the ranks of illiterates continued
phrases spelled in the system , then characters to grow, while m any of the newly literate once
with the Pinyin printed alongside, and, finally, again quickly forgot what they had learned
characters without the notations. The tim e to because of the lack of follow-up training (Yu
learn 1500 characters, the literacy standard at 1982, 18).
the tim e, was said to have been reduced from The situation did not begin to im prove
300 hours to about 100 (Li 1960). By October until Novem ber 1978 when the State Council
1958, 33,980 of 38,235 illiterates in the county issued another directive addressing the liter-
reportedly becam e literate using the Pinyin acy problem . The directive had three principle
system (Shanxi 1960, 11). objectives, nam ely, preventing new illiterates
The initial success of the Wanrong experi- with the im plem entation of a new five-year
m ent inspired the Central Com m ittee of the universal prim ary education system , reducing
Com m unist Party to issue a directive on April the num ber existing illiterates through literacy
22, 1960, that launched a nationwide literacy courses, and im proving post-literacy training
cam paign using the Pinyin teaching m ethod program s (Wang 1985, 59; Yu 1982, 19). The
(Com m em orating 1983, 83). As with the directive helped to revitalize the literacy
Rapid Read experience, the results achieved m ovem ent. In Heilongjiang Province, for ex-
in Wanrong were later called into question. am ple, a literacy cam paign was m ounted by
One inform ed Chinese observer has acknowl- literate youths and prim ary and secondary
edged that the figures were purposefully ex- teachers, and 1.57 m illion illiterates were
aggerated for publicity sake (DeFrancis 1984, taught to read and write (Wang 1985, 57).
211). It has also been reported that one-third Overall, one Chinese official estim ated that
of the newly literate soon lost their ability to approxim ately 12 m illion people becam e lit-
read and write, and that the rem aining two- erate during the period 1978—1980 (Yu 1982,
thirds were unable to read unannotated news- 20), which, if true, represents a m any fold
papers (Abe 1961, 158). According to the 1982 increase in two years over the entire first
census, the illiteracy rate in Wanrong for res- decade of the PRC.
idents above the age of twelve was alm ost 20 In the early 1980s, UNESCO becam e in-
per cent, m ore like the national average than creasingly involved in the literacy m ovem ent
the m odel for literacy education that it was in China. In 1982, it established training pro-
portrayed to be (Population Atlas 1987, 162). gram s for 5000 literacy teachers in ten prov-
inces. By the m id-1980s, several Chinese lo-
7.5. The Cultural Revolution and beyond cales were successful enough in their literacy
(1966—1989) efforts to win additional recognition from
UNESCO. Bazhong, Sichuan, the hom e
Despite the various directives and “im - county of Jam es Yen, had an estim ated illit-
proved” teaching m ethods, very little progress eracy rate of 90 per cent in 1949 and alm ost
was m ade in literacy education during the 100 per cent for wom en (Zhang & Wei 1987,
first decade of the PRC. According to one 17). By early 1980s, the literacy rate was im -
PRC statistical source, only 67,971 people proved to 90.87 per cent by the creation of
becom e literate between 1949 and 1958 (Ten an integrated network of schools throughout
1974, 137). By the early 1960s, one Chinese the county (Fines 1984, 10). The education of
education official acknowledged that the lit- fem ales in the county was given special atten-
eracy m ovem ent was, “basically at a stand- tion and approached by a special system
still” (Yu 1982, 17). The situation would only known as the “three perm issions” that al-
get worse in the m id-1960s as Chinese radi- lowed girls to bring their younger sisters or
cals, with the blessing of Mao Zedong, em - brothers to school with them , perm itted them
barked on the so-called Cultural Revolution. to go to school late and leave early as fam ily
Lasting from May 1966 to October 1976, the needs dictated, and established a m echanism
Cultural Revolution wreaked havoc on the for them to transfer between full-tim e and
educational system as m ost high schools and spare-tim e schools (Zhang & Wei 1987, 21).
colleges were closed during the late 1960s and In 1984, UNESCO awarded Bazhong its
early 1970s. Virtually an entire generation Nom a Prize in recognition for the dram atic
was denied access to secondary and higher turnaround in its literacy rate. Also during
education, while education itself was m ini- the m id-1980s, UNESCO awarded the Nom a
m ized as m any of China’s best and brightest
850 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Prize to Jilin Province, the Hadezhda K. China’s participation in the UNESCO-spon-


Krupckaya Prize to Wulian, Shandong, and sored International Literacy Year. Li, noting
the Journée Internationale d’Alphabetisation that China’s 220 m illion illiterates com prised
to Li County, Hunan for their literacy suc- one quarter of the world’s illiterate popula-
cesses (Zhang & Wei 1987, 19; Hou 1990, 46). tion, and that the popularization of science,
In addition to increased attention to liter- technology and agricultural production were
acy education, the positive results during the severely ham pered under such conditions,
1980s were achieved, in part, by the enforce- called on all levels of the governm ent and the
m ent of the Nine-Year Com pulsory Educa- society at large to m obilize for this effort “in
tion Law, and various incentive program s. the nam e of socialist construction” (Cam -
The com pulsory education law took effect on paign 1990). I n conjunction with Literacy
July 1, 1986 and featured a six-year prim ary Year, the governm ent convened a national
school and three-year junior m iddle school working conference in August attended by
system . By 1991, a record 97.87 per cent of Prem ier Li Peng ( ), after which the gov-
children between the age of 7 and 11 were ernm ent announced plans to elim inate illit-
attending school (Attendance 1992). Incentive eracy by the year 2000 (Zhang Lin 1990 a).
program s ranged from fines to m onetary re- Pointing toward the year 2000, the State
wards. For instance, Hebei Province issued a Education Com m ission established a national
Tem porary Provision on Education in 1984 literacy research center, and several organi-
that stipulated if parents did not send their zation such as the All-China Wom en’s Fed-
children to school by age seven, or withdrew eration, the Chinese Com m unist Youth
their school-age children from school, they League, and the Chinese Science Association
would be fined between 30 and 50 Chinese initiated program s and awards for im proved
dollars per year (approxim ately one-third to literacy awareness (Dong 1990). One of the
one-half of the average fam ily’s incom e) until m ore successful program s is Project Hope,
the child reached the age of 15 (Fines 1984, actually begun in October 1989. The project,
9). Fines were also m eted out in Houlianpo, run by the China Youth Developm ent Fund
Hunan, to illiterates who did not attend of Beijing and supported by private dona-
school, and, m ore im portantly, illiterates were tions, encourages prim ary and m iddle school
not allowed to hold elective office, work in students, especially in rural areas where stu-
village-sponsored enterprises, or obtain m ar- dents m ust pay between 40 and 50 Chinese
riage licences (Hou 1990, 47). In a m ore pos- dollars in tuition, to rem ain in school. Drop-
itive vein, in Wulian, Shandong, teachers’ pay outs are a particular concern as evidenced by
was linked to the num ber of students who the fact that m ore than 7.5 m illion young
achieved the required level in reading and people term inated their schooling in 1988
writing, with bonuses given to those teachers alone. Each potential drop-out in the project
who exceeded their quotas (Zhang & Wei is given 40 Chinese dollars as incentive to
1987, 19—20). In several provinces such as finish prim ary school. By April, 1992, Project
Jiangsu, Fujian, and Gansu, special literacy Hope had helped m ore than 30,000 students
regulations were introduced, as well as so- receive a prim ary school education (Project
called “study stim uli” that set deadlines for 1990, 6; Hope 1992).
elim inating literacy, including punishm ent for In addition to rural youth, wom en were
those who ignored the regulations. Going one also a m ajor concern during the Literacy Year.
step further, the governm ent issued additional It is estim ated that 70 per cent of China’s
literacy regulations in 1986 and 1988 stipu- illiterates and 83 per cent of school drop-
lating that local governm ents were directly outs are fem ale (Dong 1990; Illiteracy 1990;
responsible for elim inating illiteracy. As part Girls 1992; Cui 1990, 22). Just as alarm ing is
of the so-called “responsibility system ” being the fact that the infant m ortality rate is three
introduced at the tim e, the perform ance rat- tim es higher than the national average for
ing of cadres was tied to their efforts to pro- illiterate wom en (Zhou 1990). Also, as m ales
m ote literacy education (Illiteracy 1990; Cui continue to leave the countryside for oppor-
1990, 19). tunities in the cities, m ore and m ore rural
fem ales are left to assum e responsibility for
7.6. International Literacy Year (1990) farm ing and related rural econom ic develop-
m ent; tasks that are becom ing increasingly
On January 8, 1990, Li Tieying ( ), a literacy-dependent. The All-China Wom en’s
m em ber of the State Council and head of the Association launched program s in early 1989
State Education Com m ission, announced
69.  The Chinese Experiences and Models of Promotion of Literacy 851

that have continued well into 1992 to address gated to m ore pressing events unfolding on
these problem s by com bining educational the national stage. Num erous cam paigns were
program s with efforts to raise the self-esteem begun by groups ranging from dedicated edu-
of the wom en (Wom en 1992). In July 1990, cators such as Jam es Yen, to Christian m is-
UNESCO sponsored a special sym posium on sionaries, to the Chinese Com m unist Youth
illiteracy am ong wom en in Asia, and initiated Corps only to be negated by war, invasion or
a pilot program in Xuanwei, Yunnan to de- political folly.
velop new approaches to this difficult prob- While the national governm ent often paid
lem (Cui 1990, 22). but lip service to the im portance of literacy,
The num ber of people who becam e literate som e significant language reform s were un-
during the International Literacy Year is un- folding. The unification of the language was
clear. During the year newspapers reported as m uch a political issue as a social one, and
as m any as 3.6 m illion people between the as such was a higher concern. Language re-
ages of 15 and 40 enrolled in literacy pro- form ers from Hu Shi and Zhao Yuanren to
gram s by April, with 1.03 m illion becom ing groups such as the Com m ittee to Reform of
literate (Drive 1990), and 7.15 m illion in train- the Chinese Written Language have m ade far-
ing by August with 4.29 m illion achieving reaching contributions towards the standard-
literacy (Dong 1990). However, according to ization and system ization of the language,
a year-end report issued by the State Statis- especially with the adoption of the vernacular
tical Bureau for the year, 3,972,000 people language and the popularization of Putong-
becam e literate in 1990 (Statistical 1991, VII). hua. The positive effect that these reform s
Whatever the num bers, it is encouraging to have had on literacy education cannot be
note that for the year 1991 the Bureau re- over-emphasized.
ported that 5,483,000 people becam e literate Education has often been a luxury in
(Statistical 1992, 42). The year 1990 m ay well China. In the urban areas schools were for
rank as one of the m ost im portant years for those who could afford the tuition, while in
literacy in China. The unprecedented atten- the rural areas a good farm er was infinitely
tion paid to literacy has renewed national and m ore valuable than a good student. What
local interest in the issue that should go a laws did exit for com pulsory education were
long way towards the goal of elim inating il- largely ignored in both urban and rural
literacy in China. China. With the renewed attention to edu-
cation since the m id-1980s and literacy since
1990, the hopes for a literate China m ay well
8. Summary and conclusion be realized in the near future.
Of the m yriad of fundam ental social, eco- Literacy and language problem s will con-
nom ic and political challenges that China has tinue to exist, however. Recent newspaper
faced since the beginning of this century, lit- articles describing poor language skills am ong
eracy is not the m ost im portant. After m any m iddle school students (Xi 1992), college stu-
decades of alm ost continuous civil strife and dents (Zhu 1990), and the general public (Chi-
foreign invasion, ruinous econom ic planning, nese 1990; Zhai 1992; State 1992) continue to
and seem ing political insanity, the fact that be cause for concern. The new education sys-
literacy education has received the am ount of tem is also of concern to som e educators who
attention it has is note-worthy. This century- have called for a reevaluation, especially con-
long struggle has been an uphill battle from cerning greater em phasis on technical schools
the very beginning with m any hundreds of (Hot 1992). More im portantly, despite the
m illions of illiterates in need of specialized new boom in education there m ay not be
education. Even with the im pressive strides in enough trained people to m eet national needs.
literacy education in the last decade, there For exam ple, it was recently reported that by
rem ains m ore than 180 m illion illiterates in the year 2000 China will need an additional
China today. 38 m illion college graduates, but only about
The success that has been achieved in im - 15 m illion will graduate by that tim e at the
proving literacy during this century has been existing rate (Non-State 1992). At the sam e
due m ore to efforts to reform the Chinese tim e there is a pressing need to upgrade the
language and to restructure the form al edu- work force. In a 1991 survey conducted
cational system than with literacy education am ong workers in State-owned business in
per se. Concerted attem pts at literacy train- Shanghai, perhaps China’s m ost technologi-
ing, m ore often than not, have been subju- cally advanced city, it was found that less
852 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

than four per cent were considered highly CNA = China News Analysis. Hong Kong.
skilled (Zhai 1991). Learning a specific num - m
m
Come orating. 1983.
ber of Chinese characters m ay be considered (Com m em orating the twenty-fifth an-
a m ajor accom plishm ent for m ost illiterates, niversary of the Chinese Phonetic Alphabet). Chi-
but basic literacy alone is not enough to en- nese Language ( ) 2, 81—86.
able an individual to fully function in China
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nese Language. The Chinese Students’ Monthly. 9, Thomas Creamer, Takoma Park,
6 (April, 1916), 437—443; 10, 7 (May, 1916), 500— Maryland (USA)

70. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung


bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas

1. Sprachgruppen (b) Altaische Sprachen (24,12 Mio.)


2. Schriftarten — Mongolische Sprachen (5,51 Mio.): Mon-
3. Sprachenpolitik golen (4,81 Mio.), Dongxiang (0,37 Mio.), Tu
4. Probleme (0,19 Mio.), Dahuren (0,12 Mio.), Bonan
5. Perspektiven (12 212), Östliche Yugur (Gelbe Uiguren, ca.
6. Literatur 6000);
— Türkische Sprachen (8,58 Mio.): Uiguren
(7,21 Mio.), Kasachen (1,11 Mio.), Kirgisen
1. Sprachgruppen (0,14 Mio.), Salaren (87 697), Usbeken
In der Volksrepublik China leben neben den (14 502), Westliche Yugur (ca. 6000), Tataren
Han, die nach der Volkszählung 1990 1,0425 (4873);
Mrd. Menschen ausm achten und die wir als — Mandschu-Tungusische Sprachen (10,03
„Chinesen“ bezeichnen, 55 ethnische „Min- Mio.): Mandschuren (9,82 Mio.), Xibe (0,17
derheiten“ m it 91,2 Mio. Menschen, die na- Mio.), Ewenken (26 315), Orotschen (6965),
hezu alle eigene Sprachen sprechen. Die Hezhe (Golden, Nanaier 4245);
Nicht-Han Völker unterteilen sich in folgende (c) Austroasiatische Sprachen (0,45 Mio.)
Sprachgruppen (Zahlenangaben nach der — Mon-Khmer Sprachen (0,45 Mio.): Va
Volkszählung 1990): (0,35 Mio.), Blang (82 280), Deang (15 462);
(a) Sino-Tibetische Sprachen (55,28 Mio.) (d) Austronesische Sprachen
— Tibeto-Birmanische Sprachen (21,42 Mio.): — Malayo-Polynesische Sprachen: Gaoshan
Yi (Lolo, 6,57 Mio.), Tujia (5,70 Mio.), Ti- (Taiwan) (2909 in der VR; Sam m elbezeich-
beter (4,59 Mio.), Bai (1,59 Mio.), Hani (1,25 nung für die auf Taiwan lebenden Minoritä-
Mio.), Lisu (0,57 Mio.), Lahu (0,41 Mio.), ten Paiwan, Yami, Ami u. a.)
Naxi (0,28 Mio.), Qiang (0,20 Mio.), Jingpo (e) Koreanische Sprache: Koreaner (1,92
(0,12 Mio.), Pum i (29 657), Achang (27 708), Mio.)
Nu (27 123), Jinuo (18 021), Moinba (7475), (f) Indo-Europäische Sprachen
Drung (5816), Lhoba (2312); — Iranische Sprachen: Tadschiken (33 538);
— Thai-Sprachen (23,7 Mio.): Zhuang (15,5 — Slawische Sprachen: Russen (13 504).
Mio.), Bouyei (2,55 Mio.), Dong (2,51 Mio.), Lediglich die m oslem ischen Hui (Dunganen,
Li (1,11 Mio.), Dai (1,03 Mio.), Gelo (0,44 8,60 Mio.) verwenden die chinesische Spra-
Mio.), Shui (0,35 Mio.), Mulam (0,16 Mio.), che. Mandschuren und She sprechen heute
Maonan (71 968); überwiegend Chinesisch. Mandschurisch ist
— Miao-Yao-Sprachen (10,16 Mio.): Miao seit dem Ende der letzten Kaiserdynastie im
(7,40 Mio.), Yao (2,13 Mio.), She (0,63 Mio.); Aussterben begriffen. Die Sprache der Jing
wurde noch nicht klassifiziert.
70.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierungbei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas 855

Zhang Lin. 1990 a. China plans to wipe out illit- 509; 11, 8 (June, 1916), 567—593.
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Zhang, Shaowen & Wei, Lim ing. 1987. Com bating Zhou, Jie. 1990. China fights to end illiteracy.
illiteracy in China. Beijing Review, February 16, China Daily, November 23, 5.
17—21. Zhu, Yuan. 1990. Chen gave his word. China Daily,
Zhao & Hu [= Zhao Yuanren (Yuen R. Chao) and June 7, 6.
Hu Shi (Suh Hu).] 1916. The Problem of the Chi-
nese Language. The Chinese Students’ Monthly. 9, Thomas Creamer, Takoma Park,
6 (April, 1916), 437—443; 10, 7 (May, 1916), 500— Maryland (USA)

70. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung


bei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas

1. Sprachgruppen (b) Altaische Sprachen (24,12 Mio.)


2. Schriftarten — Mongolische Sprachen (5,51 Mio.): Mon-
3. Sprachenpolitik golen (4,81 Mio.), Dongxiang (0,37 Mio.), Tu
4. Probleme (0,19 Mio.), Dahuren (0,12 Mio.), Bonan
5. Perspektiven (12 212), Östliche Yugur (Gelbe Uiguren, ca.
6. Literatur 6000);
— Türkische Sprachen (8,58 Mio.): Uiguren
(7,21 Mio.), Kasachen (1,11 Mio.), Kirgisen
1. Sprachgruppen (0,14 Mio.), Salaren (87 697), Usbeken
In der Volksrepublik China leben neben den (14 502), Westliche Yugur (ca. 6000), Tataren
Han, die nach der Volkszählung 1990 1,0425 (4873);
Mrd. Menschen ausm achten und die wir als — Mandschu-Tungusische Sprachen (10,03
„Chinesen“ bezeichnen, 55 ethnische „Min- Mio.): Mandschuren (9,82 Mio.), Xibe (0,17
derheiten“ m it 91,2 Mio. Menschen, die na- Mio.), Ewenken (26 315), Orotschen (6965),
hezu alle eigene Sprachen sprechen. Die Hezhe (Golden, Nanaier 4245);
Nicht-Han Völker unterteilen sich in folgende (c) Austroasiatische Sprachen (0,45 Mio.)
Sprachgruppen (Zahlenangaben nach der — Mon-Khmer Sprachen (0,45 Mio.): Va
Volkszählung 1990): (0,35 Mio.), Blang (82 280), Deang (15 462);
(a) Sino-Tibetische Sprachen (55,28 Mio.) (d) Austronesische Sprachen
— Tibeto-Birmanische Sprachen (21,42 Mio.): — Malayo-Polynesische Sprachen: Gaoshan
Yi (Lolo, 6,57 Mio.), Tujia (5,70 Mio.), Ti- (Taiwan) (2909 in der VR; Sam m elbezeich-
beter (4,59 Mio.), Bai (1,59 Mio.), Hani (1,25 nung für die auf Taiwan lebenden Minoritä-
Mio.), Lisu (0,57 Mio.), Lahu (0,41 Mio.), ten Paiwan, Yami, Ami u. a.)
Naxi (0,28 Mio.), Qiang (0,20 Mio.), Jingpo (e) Koreanische Sprache: Koreaner (1,92
(0,12 Mio.), Pum i (29 657), Achang (27 708), Mio.)
Nu (27 123), Jinuo (18 021), Moinba (7475), (f) Indo-Europäische Sprachen
Drung (5816), Lhoba (2312); — Iranische Sprachen: Tadschiken (33 538);
— Thai-Sprachen (23,7 Mio.): Zhuang (15,5 — Slawische Sprachen: Russen (13 504).
Mio.), Bouyei (2,55 Mio.), Dong (2,51 Mio.), Lediglich die m oslem ischen Hui (Dunganen,
Li (1,11 Mio.), Dai (1,03 Mio.), Gelo (0,44 8,60 Mio.) verwenden die chinesische Spra-
Mio.), Shui (0,35 Mio.), Mulam (0,16 Mio.), che. Mandschuren und She sprechen heute
Maonan (71 968); überwiegend Chinesisch. Mandschurisch ist
— Miao-Yao-Sprachen (10,16 Mio.): Miao seit dem Ende der letzten Kaiserdynastie im
(7,40 Mio.), Yao (2,13 Mio.), She (0,63 Mio.); Aussterben begriffen. Die Sprache der Jing
wurde noch nicht klassifiziert.
856 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

2. Schriftarten
Ende der 40er Jahre besaßen 18 Nicht-Han
Völker eigene Schriften: Dai, Jingpo, Kasa-
chen, Kirgisen, Koreaner, Lahu, Lisu, Miao,
Mongolen, Naxi, Russen, Tataren, Tibeter,
Va, Uiguren, Usbeken, Xibe und Yi. Das
Mandschurische wurde nicht m ehr verwen- Abb. 70.1: Alte Schrift der Naxi
det, die Hui benutzten in religiösem Gebrauch
das Arabische, die She das Chinesische. Für
zahlreiche Nationalitäten wurden seit den
50er Jahren neue Schriften auf der Grundlage
des lateinischen Alphabets geschaffen. Die
verschiedenen Schriftarten lassen sich wie
folgt klassifizieren (→ Abb. 70.1—70.8):
(a) Bilderschriften: Dazu zählt etwa die
Dongba-Schrift der Naxi m it ca. 1300 Pik-
togram m en, die bis in dieses Jahrhundert hin- Abb. 70.2: Schrift der Yi aus dem Liangshan-Ge-
ein in Gebrauch war. Sie wurde von den Prie- birge
stern zur Abfassung von rituellen Texten ver-
wendet.
(b) Ideographische Silbenschriften: Die Schrift
der Yi, in der m ehrheitlich Monom orphem e,
zu einem kleineren Teil Polym orphem e ver-
wendet wurden und die eine gewisse Ähnlich-
keit m it archaischen chinesischen Zeichen
aufweist, sowie die Geba-Schrift der Naxi ge- Abb. 70.3: Uigurisch
hören in diese Kategorie.
(c) Varianten der chinesischen Schrift: Dazu
zählen die alten Schriftzeichen der Zhuang,
Dong, Shui und Bai, eine Mischung eigener
Zeichen m it chinesischen, wobei Aussprache
und Bedeutung der chinesischen Zeichen der
jeweiligen Muttersprache angepaßt wurden.
(d) Alphabetische Schriftarten, beruhend auf
— dem arabischen Alphabet, wurden von Abb. 70.4: Schrift der Dai aus Xishuangbanna
den türkischen Völkern (Uiguren, Kasachen,
Kirgisen, Usbeken und Tataren) verwendet;
— dem indischen Alphabet, sind bestim m end
für das Tibetische und die vier Schriften der
Dai (Daile, Daina, Daibeng und Jinping-
Dai);
— dem alten uigurischen Alphabet, prägten
die Schriften der Mongolen, Mandschuren
und Xibe. Die m ongolische Schrift hat sich
im 13./14. Jahrhundert auf Grundlage der Abb. 70.5: Schrift der Dai aus Dehong
uigurischen Schrift herausgebildet. Die Mon-
golen in Westchina (Region Xinjiang) ver-
wenden zum Teil noch das „Tod“, das auf
dem oiratischen Dialekt beruht und von der
klassischen m ongolischen Schrift abweicht. Naxi, Tu, Va und Zhuang sowie die Entwürfe
Die Schrift der Xibe wurde in Anlehnung an für die Schriften der Drung und Yao.
das Mandschurische entwickelt. — dem kyrillischen Alphabet, wie das Rus-
— dem lateinischen Alphabet, wie die neuen sische; die Verwendung kyrillischer Buchsta-
oder reform ierten Schriften der Bai, Bouyei, ben durch Kasachen oder Kirgisen wurde in
Dong, Hani, Jingpo, Lahu, Li, Lisu, Miao, den 50er Jahren abgeschafft.
— dem koreanischen Alphabet, das aus 11
Vokalen und 17 Konsonanten besteht und aus
der chinesischen Schrift entwickelt wurde.
70.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierungbei den nicht chinesisch sprechenden Völkern Chinas 857

3. Sprachenpolitik
Nach der Machtergreifung der Kom m unisten
war den Nicht-Han Völkern die volle Freiheit
der Entwicklung ihrer Sprachen und Schrif-
ten zugesagt worden. Das „Allgem eine Pro-
gram m für die Durchführung der Gebietsau-
tonom ie für die Nationalitäten“ von 1952 sah
zugleich vor, daß in den Gebieten m it „Auto-
nom ie“ Sprache(n) und Schrift(en) der ent-
sprechenden Nationalität(en) als Hauptver-
kehrssprache(n) benutzt werden sollten. 1951
beschloß die chinesische Regierung die Schaf-
fung von Schriften für die größeren schrift-
losen Nationalitäten. Ein 1955 aufgestellter
Entwicklungsplan sah vor, innerhalb von
2—3 Jahren die Sprachen der Nicht-Han Völ-
ker zu erforschen, ein Schriftsystem für die-
jenigen zu entwickeln, die keine Schrift be-
saßen, und die Schriften zu „reform ieren“,
die nach chinesischer Sicht einer „Reform „
bedurften. Dabei sollten die „entwickelten„
Schriften wie Tibetisch, Mongolisch und Xibe
im wesentlichen unverändert bleiben. Schrif-
ten, die wesentlich „religiösen Charakter“ tru-
gen, wie die Schriften der Dai (die vorwiegend
für buddhistische Sutren verwendet wurden),
sollten „reform iert“ werden. Für größere eth-
nische Gruppen ohne Schrift sollten Schriften
auf Grundlage des lateinischen Alphabets ge-
schaffen werden.
Bei den Miao soll dieser Prozeß folgender-
m aßen vonstatten gegangen sein: Eine 120
Personen um fassende Forschungsgruppe aus
Miao und hanchinesischen Miao-Experten
wurde zur Erfassung aller Dialekte in 35
Gruppen auf sieben Provinzen verteilt, in de-
nen Miao leben. Sie sam m elten die Ausspra-
che der Wörter gem äß dem Internationalen
Phonetischen Alphabet. U. a. ergab diese Un-
tersuchung, daß es vier separate Hauptdia-
Abb. 70.6 (links): Abb. 70.7 (rechts): lekte gab. Da nur ein geringer Teil des Wort-
Mongolische Tod-Schrift Schrift der Xibe schatzes Ähnlichkeiten aufwies, wurde die
Schaffung von Schriften für jeden einzelnen
Hauptdialekt beschlossen. Eine Schwierigkeit
ergab sich dadurch, daß die Sprachstruktur
der Miao-Sprachen 60—70 Grundtöne um -
faßte und einige Laute weltweit ohne Parallele
waren. Frühere, von Missionaren geschaffene
Schriften, hatten dieses Problem nur zum Teil
lösen können. Es wurde eine Schrift auf der
Grundlage des lateinischen Alphabets entwik-
kelt, wobei alle vier Hauptdialekte ein ge-
m einsam es Alphabet verwenden sollten, um
längerfristig eine Angleichung regionaler Va-
rianten und dam it die Schaffung einer ein-
heitlichen Standardsprache zu erreichen. Die
m eisten Laute dieses Alphabets (insgesam t
Abb. 70.8: Alte Schrift der Lisu
858 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

40) werden durch lateinische Buchstaben wie- der Verwendung der Sprachen und Schriften
dergegeben, die übrigen sind dem Kyrillischen in vielen Bereichen gegeben und gibt es —
oder dem Internationalen Phonetischen Al- zum indest in den größeren Sprachen — Zei-
phabet entlehnt, einige wurden neu geschaf- tungen, Zeitschriften und Bücher in begrenz-
fen. Für stim m hafte bzw. stim m lose, aspi- tem Um fang, doch die Problem e gehen tiefer.
rierte bzw. nichtaspirierte Konsonanten wur- Die Sprachen und Schriften der Nicht-Han
den verschiedene Buchstaben verwendet. Die Völker sind weitgehend auf die unteren Klas-
zehn Tonhöhen wurden durch zehn Konso- sen der Grundschule beschränkt, spätestens
nanten am Ende jeder Tonsilbe m arkiert, da- ab der Mittelschule wird Chinesisch zur
m it die richtige Tonhöhe erkennbar war. Als Hauptsprache. Dies geschieht u. a. m it dem
Aussprache jedes Dialekts wurde die Sprache Hinweis, Chinesisch sei die Lingua franca.
des jeweils bevölkerungsreichsten Gebiets ge- Selbst offiziellen Angaben zufolge gab es in
wählt bzw. des Gebiets m it dem größten Pre- 2/
3 aller Schulen für Angehörige ethnischer
stige (in der Regel das lokal anerkannte po- Minoritäten Anfang der 90er Jahre keinen
litische, wirtschaftliche und kulturelle Zen- Unterricht in Minoritätensprachen. Das Gros
trum). der Nicht-Han Kinder verläßt die Schulen m it
Auf diese Weise wurden bis Ende der 50er besserer Kenntnis der chinesischen als der
Jahre zehn neue Schriftsprachen geschaffen, eigenen Schrift. Die Folge ist, daß das Sprach-
drei „reform iert„. Die politischen „Kam pa- niveau der Nicht-Han Völker gering bleibt,
gnen“ ab Ende der 50er Jahre, m it denen Mao die Sprachen sich nur ungenügend entwickeln
das „Bewußtsein der Massen“ sowie der Ge- können. Sie werden zunehm end zur Sprache
sellschaft verändern wollte, führten zur Ein- der Landbevölkerung degradiert.
stellung all dieser Tätigkeiten. Die Nicht-Han Da die Beherrschung des Chinesischen ent-
Sprachen galten als Hort des Nationalism us scheidend für Einstellungen, Beförderungen
und der Rückständigkeit, allein das Chinesi- und Aufnahm e an höhere Lehranstalten
sche als Sprache des Fortschritts. Die „Kul- bleibt, sind Auffassungen wie die folgenden,
turrevolution“ (1966—76) führte dann zum auch unter den „Minoritäten“ weit verbreitet:
Verbot der Verwendung der Sprachen und die Schriften der „Minderheiten“ besäßen nur
Schriften der Nicht-Han Völker. einen sehr begrenzten Anwendungsbereich
Erst im Zuge der Reform - und Öffnungs- und hätten keine Zukunft, oder Schüler aus
politik ab 1979 wurde wieder an die Politik den Nicht-Han Völkern hätten genug dam it
der frühen 50er Jahre angeknüpft. Die Ver- zu tun, das Chinesische zu erlernen. Dies trifft
suche, den Nicht-Han Völkern die chinesische besonders auf Personen zu, die die Sprache
Sprache und Schrift aufzuzwingen, war ge- ihrer Nationalität nur noch gebrochen oder
scheitert. Die Menschen waren offensichtlich gar nicht m ehr beherrschen oder überwiegend
nicht bereit, sich dem Erlernen dieser für sie Chinesisch sprechen. Dieser Kreis um faßt zu
frem den Sprache zu unterziehen. Die An- einem hohen Prozentsatz Personen, die in
alphabetenquote blieb unverändert hoch, die Städten oder Stadtnähe wohnen, eine höhere
Anzahl von Personen m it höherer Bildung aus Bildung (weitgehend in Han-Um gebung) ge-
Nicht-Han Völkern gering. Ein „Autonom ie- nossen haben oder als Funktionäre tätig sind.
gesetz“ sicherte 1984 den Nicht-Han Völkern In der Vielnationalitätenprovinz Guizhou
die Freiheit des Gebrauchs und der Entwick- m achte diese Gruppe bereits Anfang der 80er
lung ihrer Sprachen und Schriften, Priorität Jahre 35% aller Angehörigen von Nicht-Han
für die Sprachen und Schriften der Nationa- Völkern aus. Die Kinder von Funktionären
litäten, die in einem Gebiet die Autonom ie oder Intellektuellen aus den „Minderheiten“,
ausüben sowie den Gebrauch im Unterricht aus denen die neuen nationalen Eliten her-
in Schulen m it einer Schülerm ehrheit aus den vorgehen, verstehen zum großen Teil die
„Minoritäten“ zu. Abgesehen davon, daß es Sprachen ihrer Eltern nicht m ehr. So werden
bisher keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt, diese Eliten sprachlich sinisiert. Wer eine Aus-
m it deren Hilfe derartige Rechtsansprüche bildung in hanchinesischer Um gebung genos-
durchgesetzt werden könnten, sind diese sen hat und statt seiner Muttersprache Chi-
Klauseln bis heute nicht realisiert worden. nesisch spricht, gilt als loyaler und besser
integrierbar und als separatistischen oder na-
tionalistischen Tendenzen weniger zugänglich.
4. Probleme Chinesisch ist nicht nur Lingua franca; dar-
Zwar wird die Sprachenpolitik heute nicht über werden zugleich hanchinesische Wertvor-
m ehr so restriktiv gehandhabt, ist die Freiheit stellungen und Verhaltensnorm en transpor-
tiert. Es fördert den Assim ilationsprozeß und
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 859

dient der Erhaltung des Vielvölkerstaates. sischen Begriffen. Daß diese Tendenz offiziell
Dieser Assim ilierungsprozeß ist bei vielen gefördert wird, erweist sich auch an Aussagen
Nicht-Han Völkern schon recht weit fortge- wie, daß es „der Wunsch aller Nationalitäten
schritten. Gleichwohl werden weiterhin neue sei“, daß Chinesisch „zur gem einsam en Spra-
Schriften geschaffen. Der Grund dafür liegt che“ werde.
weniger in der m inoritätenfreundlichen Hal-
tung der KP als in der Lehre, die diese aus
dem Versuch der Zwangssinisierung der 60er 6. Literatur
und 70er Jahre zog. Zahlreiche Untersuchun- Dreyer, J. T. 1978. Language Planning for China’s
gen ergaben, daß in Gebieten, in denen Chi- Ethnic Minorities. Pacific Affairs 51.
nesisch alleinige Unterrichtssprache ist, die
Schulbesuchsrate unter 50% lag, in Gebieten, Fu, Maoji. 1986. Zhongguo m inzu yuyan lunwenji
in denen zunächst die einheim ische Sprache (Abhandlungen über die Sprachen der Nationali-
und Schrift gelehrt wird, die Schulbesuchs- täten Chinas). Chengdu.
rate, das Niveau und Tem po der Erlernung Heberer, Thom as. 1984. Nationalitätenpolitik und
der chinesischen Sprache und die Motivation Entwicklungspolitik in den Gebieten nationaler
zum Erlernen dieser Sprache beträchtlich stie- Minderheiten in China. Bremen.
gen. In Gebieten, in denen Nicht-Han Völker —. 1990. China and Its National Minorities: Au-
kom pakt zusam m enleben, verstehen chinesi- tonomy or Assimilation? London.
schen Untersuchungen zufolge lediglich zwi- Luo, Runcang. (ed.). 1987. Zhongguo shaoshu
schen 5 und 20% der Personen über 12 Jahre m inzu yuyan (Die Sprachen der nationalen Min-
Chinesisch. derheiten Chinas). Chengdu.
Minzu yuwen yanjiu wenji (Aufsatzsam m lung über
Studien der Nationalitätensprachen). Xining 1982.
5. Perspektiven Poppe, N. 1965. Introduction to Altaic Linguistics,
Mit wachsender Ethnizität setzt bei großen, Ural-Altaische Bibliothek, Bd. XIV, Wiesbaden.
kom pakt zusam m enlebenden Völkern auch Prunner, G. 1967. Die Schriften der nichtchinesi-
ein sprachlicher Bewußtwerdungsprozeß ein. schen Völker Chinas. Studium Generale 8.
So wird von Ethnien m it verschiedenen Purnell, H. C. (ed.). 1972. Miao and Yao Linguistic
Schriften im Interesse der Gruppenidentität Studies. New York.
und eines einheitlichen Sprachbewußtseins Schwarz, H. G. 1962. Com m unist Language Poli-
eine einheitliche Standardsprache verlangt cies for China’s Ethnic Minorities: The First De-
(Miao, Yi, Mongolen, Dai, Yao). Die Dai cade. The China Quarterly 12.
setzten sogar die Wiederherstellung ihrer ur- Shafer, R. 1957/63. Bibliography of Sino-Tibetan
sprünglichen, in den 50er Jahren reform ierten, Languages, 2 vols., Wiesbaden.
Schrift durch, im Interesse der Kontakte zu —. 1966. Introduction to Sino-Tibetan, Wiesba-
Thailand. — Den großen Gruppen m it den.
Außenkontakten m ag eine weitere Entwick-
lung, die auch die Schulen und Hochschulen Tung, Tung-ho. 1953. Languages of China. Taipei.
erfaßt, gelingen. Den übrigen droht die Aus- Zhongguo m inzu guwenzi yanjiu (Studien über die
zehrung aufgrund der Beschränkung auf das alten Schriften der Nationalitäten Chinas), Peking
Land, die Grundschulen und die von der Re- 1984.
gierung geförderte Durchsetzung m it chine-
Thomas Heberer, Trier (Deutschland)

71. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

1. Allgemeines 7. Die ‘Massenalphabetisierung’ im 19. und 20.


2. Das Mittelalter: exklusive Schriftlichkeit Jahrhundert
3. Die Zeit bis 1500: Entwicklung der Funktio- 8. Literatur
nalität von Schriftlichkeit
4. Buchdruck und Reformation
5. Die verbesserte Papierherstellung und die Zeit 1. Allgemeines
der ‘Multimedialität’ (1550—1700)
Stellenwert und Verbreitung der Kulturtech-
6. Die Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert)
niken Lesen und Schreiben resultieren aus der
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 859

dient der Erhaltung des Vielvölkerstaates. sischen Begriffen. Daß diese Tendenz offiziell
Dieser Assim ilierungsprozeß ist bei vielen gefördert wird, erweist sich auch an Aussagen
Nicht-Han Völkern schon recht weit fortge- wie, daß es „der Wunsch aller Nationalitäten
schritten. Gleichwohl werden weiterhin neue sei“, daß Chinesisch „zur gem einsam en Spra-
Schriften geschaffen. Der Grund dafür liegt che“ werde.
weniger in der m inoritätenfreundlichen Hal-
tung der KP als in der Lehre, die diese aus
dem Versuch der Zwangssinisierung der 60er 6. Literatur
und 70er Jahre zog. Zahlreiche Untersuchun- Dreyer, J. T. 1978. Language Planning for China’s
gen ergaben, daß in Gebieten, in denen Chi- Ethnic Minorities. Pacific Affairs 51.
nesisch alleinige Unterrichtssprache ist, die
Schulbesuchsrate unter 50% lag, in Gebieten, Fu, Maoji. 1986. Zhongguo m inzu yuyan lunwenji
in denen zunächst die einheim ische Sprache (Abhandlungen über die Sprachen der Nationali-
und Schrift gelehrt wird, die Schulbesuchs- täten Chinas). Chengdu.
rate, das Niveau und Tem po der Erlernung Heberer, Thom as. 1984. Nationalitätenpolitik und
der chinesischen Sprache und die Motivation Entwicklungspolitik in den Gebieten nationaler
zum Erlernen dieser Sprache beträchtlich stie- Minderheiten in China. Bremen.
gen. In Gebieten, in denen Nicht-Han Völker —. 1990. China and Its National Minorities: Au-
kom pakt zusam m enleben, verstehen chinesi- tonomy or Assimilation? London.
schen Untersuchungen zufolge lediglich zwi- Luo, Runcang. (ed.). 1987. Zhongguo shaoshu
schen 5 und 20% der Personen über 12 Jahre m inzu yuyan (Die Sprachen der nationalen Min-
Chinesisch. derheiten Chinas). Chengdu.
Minzu yuwen yanjiu wenji (Aufsatzsam m lung über
Studien der Nationalitätensprachen). Xining 1982.
5. Perspektiven Poppe, N. 1965. Introduction to Altaic Linguistics,
Mit wachsender Ethnizität setzt bei großen, Ural-Altaische Bibliothek, Bd. XIV, Wiesbaden.
kom pakt zusam m enlebenden Völkern auch Prunner, G. 1967. Die Schriften der nichtchinesi-
ein sprachlicher Bewußtwerdungsprozeß ein. schen Völker Chinas. Studium Generale 8.
So wird von Ethnien m it verschiedenen Purnell, H. C. (ed.). 1972. Miao and Yao Linguistic
Schriften im Interesse der Gruppenidentität Studies. New York.
und eines einheitlichen Sprachbewußtseins Schwarz, H. G. 1962. Com m unist Language Poli-
eine einheitliche Standardsprache verlangt cies for China’s Ethnic Minorities: The First De-
(Miao, Yi, Mongolen, Dai, Yao). Die Dai cade. The China Quarterly 12.
setzten sogar die Wiederherstellung ihrer ur- Shafer, R. 1957/63. Bibliography of Sino-Tibetan
sprünglichen, in den 50er Jahren reform ierten, Languages, 2 vols., Wiesbaden.
Schrift durch, im Interesse der Kontakte zu —. 1966. Introduction to Sino-Tibetan, Wiesba-
Thailand. — Den großen Gruppen m it den.
Außenkontakten m ag eine weitere Entwick-
lung, die auch die Schulen und Hochschulen Tung, Tung-ho. 1953. Languages of China. Taipei.
erfaßt, gelingen. Den übrigen droht die Aus- Zhongguo m inzu guwenzi yanjiu (Studien über die
zehrung aufgrund der Beschränkung auf das alten Schriften der Nationalitäten Chinas), Peking
Land, die Grundschulen und die von der Re- 1984.
gierung geförderte Durchsetzung m it chine-
Thomas Heberer, Trier (Deutschland)

71. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland

1. Allgemeines 7. Die ‘Massenalphabetisierung’ im 19. und 20.


2. Das Mittelalter: exklusive Schriftlichkeit Jahrhundert
3. Die Zeit bis 1500: Entwicklung der Funktio- 8. Literatur
nalität von Schriftlichkeit
4. Buchdruck und Reformation
5. Die verbesserte Papierherstellung und die Zeit 1. Allgemeines
der ‘Multimedialität’ (1550—1700)
Stellenwert und Verbreitung der Kulturtech-
6. Die Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert)
niken Lesen und Schreiben resultieren aus der
860 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Notwendigkeit und der Funktion der ge- Techniken, also Handschrift und Druck. Hier
schriebenen Sprache und bem essen sich an weisen Exklusivität oder Intensität vor allem
der Anzahl derjenigen, die m it dieser Sprach- m it ihren Stückzahlen auf die Zahl der Leser
form um gehen können. Die Zahl der Alpha- hin. Die Anzahl von Handschriften, dann
betisierten ist schon für die Gegenwart aber vor allem die Jahresm enge an Titeln der
schwierig zu erm itteln, um so m ehr für ver- Druckwerke und die Auflagenstückzahlen
gangene Zeiten (→ Art. 62). sind eine wichtige Stütze der Kultur- und
Denn die m ehr oder m inder verbreitete Le- Buchgeschichtsforschung für die Bestim m ung
sebefähigung hinterläßt kein sichtbares Zei- des Verbreitungsvolum ens der Schriftlichkeit.
chen, und die Ergebnisse des Schreibens be- Hier wird versucht, von der Menge der ge-
dürfen personaler Zuordnungen, um Relatio- schriebenen Texte auf die Anzahl der Beherr-
nen zur Einwohnerzahl zu erm öglichen. Hier- scher der Kulturtechnik zu schließen.
für gibt es aber nur wenige Schnittstellen, wie — um gekehrt dazu geht die Beobachtung der
etwa Heiratsprotokolle oder Militärrekrutie- Ausbildungsm öglichkeiten danach aus, die
rungen m it entsprechenden Unterschriftser- Zahl derjenigen zu bestim m en, die aufgrund
fordernissen, die erst seit dem 18. Jahrhundert ihrer absolvierten (Schul- oder anders erwor-
in der nötigen Anzahl vorliegen (Hinrichs benen) Ausbildung Lesen und Schreiben ge-
1982). Die Beantwortung der Frage, wer ist lernt haben. Lesen- und Schreibenlernen be-
und vor allem wie viele sind in der Lage, Texte darf einer wie im m er gearteten institutionali-
in geschriebener Sprache zu lesen bzw. diese sierten (Sekundär-)Ausbildung, die als Schul-
zu schreiben, wird deshalb aufgrund von in- (und Universitäts)geschichte von der histori-
direkten Zeugnissen, Beobachtungen und In- schen Pädagogik erforscht wird.
dizien betrieben. Das Wissen über Stellenwert — diese Institutionalisierung unterliegt dem
und Verbreitung der Schriftlichkeit gibt aller- Einfluß der allgem einen Bewertung von ge-
dings weitreichende Aufschlüsse über die Or- schriebener Sprache im Prozeß der gesell-
ganisation von Staat, Gesellschaft und Kul- schaftlichen Organisation ihrer elem entaren
tur, so daß die Klärung dieser Schlüsselfunk- Bereiche (Recht, Verwaltung, Kultur, Reli-
tion von großem Interesse für alle die Diszi- gion). Dieser Einfluß hängt von der Bewer-
plinen ist, die m it der Erforschung histori- tung der Funktion ab, die der geschriebenen
scher Entwicklungen befaßt sind. Sprache zuerkannt wird. Hier ist zu fragen,
Bei den Versuchen, Genaueres über die inwieweit die geschriebene Sprache unerläß-
Durchdringung der Verständigung m it der ge- lich ist oder nur m öglich oder nur erwünscht.
schriebenen Sprache und dam it über den Denn dies hat natürlich Auswirkungen auf
Rückgang des Analphabetism us in Erfahrung den Drang zur Alphabetisierung des Einzel-
zu bringen, haben sich folgende Beobach- nen bzw. der ganzen Bevölkerung.
tungsfelder als aufschlußreich herausgestellt. — weniger beachtet in der allgem einen histo-
Sie werden allerdings von verschiedenen Wis- rischen Diskussion ist die Frage, ob denn
senschaften untersucht und sind deshalb nicht die vorhandenen sprachlichen Gegebenheiten
im m er so verbunden, daß die bestm ögliche überhaupt für ihre Verwendung als geschrie-
Analyse bereitstünde. Es sind dies vor allem: bene Sprache m it bestim m ten Anforderungen
— die Sam m lung der Äußerungen über le- an Regelkonsistenz, Einheitlichkeit oder Ab-
sende und schreibende Zeitgenossen, die zeit- straktheit genügen. Hier ist für Deutschland
genössischen Aussagen über die Verbreitung das Mehrsprachigkeitsproblem der geschrie-
von Lesen und Schreiben, ihre Verm utungen benen Sprache (Latein, z. T. Französisch und
um die m ögliche Rezeption von Texten, Buch- Deutsch) zu beachten, das für einen längeren
besitz und Lesefrequenz. Dieser naheliegende Zeitraum ausschlaggebend war und natürlich
Materialbereich birgt in sich schon alle An- die Erlernung der Kulturtechnik über eine
zeichen der Zufälligkeit, ist also untauglich Frem dsprache zahlenm äßig vor allem im Mit-
als Grundlage für Aussagen über flächendek- telalter und der frühen Neuzeit eingeschränkt
kende Verhältnisse und zudem kaum in seiner hat. Andererseits stellt die Sprachgeschichts-
Gänze erfaßt. Gleichwohl können sie Tenden- schreibung die Entwicklung des Deutschen
zanzeigen sein, wie etwa die Aussage (1530), fast ausschließlich als die einer geschriebenen
daß jeder „Bawer auff dem Land“ Predigten Sprache dar, wofür ein gewisser Zwang der
Luthers im Hause gehabt habe (Engelsing Quellenlage (schriftlicher Überlieferung) vor-
1973, 36). liegt, aber auch dezidierter Wille, nur die als
— die Konservierungs- und Wiedergabem ög- wichtigste Sprachform angesetzte „Entwick-
lichkeiten von geschriebener Sprache und ihre lung der ‘Neuhochdeutschen Schriftsprache’ „
zu verfolgen (L. E. Schmitt 1966).
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 861

2. Das Mittelalter: Dazu korrespondiert, daß selbst Kleriker oft-


Exklusive Schriftlichkeit m als nicht alphabetisiert sind, was sicherlich
auch dam it zusam m enhängen dürfte, daß das
Ausgangspunkt für die Übersicht über den schriftlich tradierte Wissen gerade in den ‘äl-
Vorgang und den Grad der Alphabetisierung teren’ Orden (Benediktiner und Zisterzienser)
in Deutschland ist der Stand im Mittelalter sogar als „verwerflich“ erscheinen konnte
(→ Art. 40, 41), so wie er aufgrund der m ög- (Berg 1986, 416).
lichen Beobachtungen erm ittelt werden kann. Das alles betrifft natürlich die lateinische
Hier ist festzuhalten, daß die spätlateinische Sprache, für die die genannte Alphabetisie-
Schriftkultur im fränkisch-deutschen Bereich rung unternom m en wird, so daß für die Ver-
fast ganz zum Erliegen kom m t. Ihre Tradie- schriftlichung und m ögliche Lektüre dieser
rung in Italien verm ag trotz gepfleger Ver- Ausbildungsum weg genom m en werden m uß.
bindungen hier nichts zu bewirken. Zu stark Entsprechend sporadisch sind denn auch die
ist das Selbstbewußtsein des bestim m enden Zeugnisse deutscher Schriftlichkeit vor 1200.
Adels, der dieses u. a. auch aus der Freiheit Das hat dazu geführt, daß die Literaturge-
und Spontanität des gesprochenen Wortes er- schichtsschreibung für diesen Zeitraum alles
hält: literarum peritia nemini militaturo obesse auf Deutsch Verschriftlichte als ihren Objekt-
heißt es in der Vita des hl. Eckbert (12. Jahr- bereich ansieht, näm lich vom Heldenlied über
hundert; Wendehorst 1986, 27) und Wolfram Übersetzungsliteratur bis zu Wörterverzeich-
von Eschenbach läßt sein Autoren-Ich apo- nissen, diesen dann aber m it dem Verlauf der
diktisch erklären: „schildes am bet ist m în art„ nachfolgenden Jahrhunderte im m er m ehr auf
(Parzival 115, 11). Die Beherrschung von Le- die genuine Literatur einschränkt. Sicherlich
sen und Schreiben ist beschränkt auf den Kle-
rus, der Rezeption und Produktion von Tex- resultierte diese Ausrichtung aus den Überlie-
ferungsbedingungen von Texten, doch hatte
ten als ‘Gottesdienst’ versieht, und auf die dies auch zur Folge, daß Stellenwert, Orga-
höhere, eher höchste Verwaltung des Reiches, nisation und Funktion von Schriftlichkeit
deren Beam te diese aufgrund einer klerikalen überbewertet wurde. Ihre starke, fast aus-
Ausbildung ausüben. schließliche Beachtung ist jedoch eine Veren-
Diese Ausbildung erfolgt in der Hauptsa- gung des Bildungs- und Literaturbegriffs auf
che in Dom - und Klosterschulen, wo die Kir- eine von Schreib- und Lesefähigkeit be-
che ihren Nachwuchs heranbildet, aber auch herrschte Kultur (Boehm 1986, Sp. 2196), die
in einer schola exterior werden Laien Ausbil- den dam aligen Um ständen und Bewertungen
dungsm öglichkeiten angeboten. Ihre Zahl ist der geschriebenen Sprache und der Schrift
allerdings nicht sehr groß. Für das 11. Jahr- nicht gerecht werden kann. Die Beschränkung
hundert zählt m an in Frankreich und am von Lesen- und Schreibenkönnen auf große
Rhein etwa 60 Dom - und Kathedralschulen Teile des Klerus und wenige Laien — die dies
(Engelbrecht 1982, 110); die Anzahl der Klo- z. B. auch im Privatunterricht erlernen kön-
sterschulen ist schwieriger zu erm itteln. Aber nen (Meyer 1983) — bedeutet keineswegs,
deren Schülerzahl von 10—30 ist auch bei der daß illiterat gleich ungebildet wäre. Ohne
Bevölkerungszahl von ca. 7 Millionen (1000) Zweifel beendet die lateinische Schriftlichkeit
bis 11 Millionen (1300) nicht geeignet, zu die reine Oralität im deutschen Sprachraum
einer Erhöhung des Alphabetisierungsgrades (Boehm 1986, Sp. 2198). Das klerikale ‘Mo-
beizutragen (Kellenbenz 1986, 120). nopol’ (Engelbrecht 1982, 135) bleibt aber
Da für das Priesteram t m eist die Lesefä- deshalb wirkungslos, weil sich für die deut-
higkeit genügte (Boehm 1986, Sp. 2198), ist sche Sprache kein langwieriger Um setzungs-
dam it nicht nur die gängige Trennung von prozeß abzeichnet — etwa in Form einer la-
Lesen- und Schreibenlernen festgehalten, son- teinisch-deutschen Mischsprache (Henkel &
dern vor allem auch der Stellenwert der Al- Palm er 1992, 16) —, diese vielm ehr schon
phabetisierung im Mittelalter: er war gering. früh gelungene sprachliche Gestaltungen auf-
Das kam vor allem in der sicherlich deutlichen weist (Isidorübersetzungen um 800), vor allem
‘Karolingischen Minuskel’ zum Ausdruck, die aber zum Ende des 12. Jahrhunderts m it der
m it ihrem ‘buchstabierenden’ Schreiben die höfischen Literatur eine Sprache sichtbar
einstm als vorhandene Kursive zurücknahm wird, die alle Merkm ale eines differenzierten
und den Schreibvorgang erheblich verlang- und durchstrukturierten Baues aufweist, so
sam te (Wendehorst 1986, 15). Ähnliches gilt daß eine Verschriftlichung und Tradierung
für den schwierig handhabbaren Schreibstoff außerhalb oraler Bezüge m öglich ist. Das ver-
(Pergam ent), der zudem sehr kostspielig war.
862 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

weist auf den Stellenwert verschrifteter Spra- herrscht wird, also m indestens ein Verm ittler-
che in dieser Zeit, die aufgrund ihrer Rück- netz von Rezipienten besteht (Lesen, Vorle-
bindung in die Lautlichkeit keineswegs den sen, Weitergeben).
m öglichen Prim at in der Organisation der Diese m üssen ihre Kenntnisse in einem
Verständigung erhält, da das m eiste Geschrie- Lernprozeß erwerben, der zunächst einm al
bene laut oder halblaut gelesen (bzw. vorge- beschwerlich erscheint. Er erfordert eine zu-
lesen) wird und sogar vorsprechend geschrie- sätzliche Mühe, denn m it der schon vorhan-
ben wird (Saenger 1982). Dies erhellt die denen m ündlichen Sprachfähigkeit liegen ei-
Kennzeichnung der Schrift als sekundär, gentlich ausreichende Kenntnisse vor. Mühe
näm lich als Repräsentations- und Tradie- und Anstrengung werden den Ausbildungs-
rungsm edium , nicht aber als selbständige in prozeß durch die Jahrhunderte bis heute be-
sich geschlossene sprachliche Gestaltungs- gleiten, da zur Einsicht in die Vorzüge die
m öglichkeit. Dam it m indert bzw. erübrigt Notwendigkeit und der Vorteil hinzukom m en
sich die Notwendigkeit zur Beherrschung die- m uß. Mit Lesen und Schreiben als Gottes-
ser Kulturtechnik, weil Analphabetism us dienst, wie dies die klerikale Schriftlichkeit
nicht den Ausschluß aus wichtigen Verstän- bestim m te, waren die Laien nicht zum Erler-
digungsbereichen zur Folge hat. Exem pla- nen zu bewegen, und der Anreiz anregender
risch hierfür ist die Praxis der Überm ittlung belletristischer Lektüre reichte gewiß nicht
durch Brief und gleichzeitige m ündliche Mit- aus. Zudem bedarf es für diese Ausbildung
teilung — sie ist m eist entscheidender als der einer Lernstätte, die von den Interessenten
öffentlich verlesene Brief (Köhn 1986). erst einm al eingerichtet und dann betrieben
werden muß.
Solches entstand aus der Entwicklung des
3. Die Zeit bis 1500: Wirtschafts- und Finanzwesens, das sich zu-
Entwicklung der Funktionalität von nehm end m ehr die Eigenschaften der Schrift-
Schriftlichkeit lichkeit zu Speicherung und Versendung von
Inform ationen zunutze m achte. Schriftliche
Der Zeitraum vom Spätm ittelalter bis zur Mitteilungen ersetzen in vielen Fällen die
Aufklärung — in Jahreszahlen: von 1250 bis beschwerlichen Reisen, Buchführung erm ög-
1750 — ist geprägt vom Wandel und der licht eine durchstrukturierte Planung (Wül-
Auseinandersetzung der Rezeptionsprinzipien fing 1983, Sp. 829). Kaufm ännische Kontore
geschriebener Sprache als dem allm ählichen entstehen in Italien und Flandern schon im
Übergang vom Ohr zum Auge m it den ent- 12. Jahrhundert, in Nord- und Oberdeut-
sprechenden Konsequenzen. Sie zeigen sich schland (Hanse; Nürnberg, Basel, Augsburg)
dann, wenn die quantitativ ergiebigen Berei- ab dem späten 13. Jahrhundert (Wendehorst
che der Verständigung m it den Mitteln und 1986, 28). Wie im progressiveren Italien be-
Anlagen der geschriebenen Sprache versehen treiben die Städte nunm ehr Schulen, die ganz
werden. Dies sind die Belange öffentlicher, unabhängig (Illm er 1971, 75) von klerikaler
rechtlicher, wirtschaftlicher oder finanzieller Ausbildung (Dom - und Klosterschulen) das
Auseinandersetzungen und Festlegungen, die Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen
viele oder gar jeden betreffen und deshalb anbieten. Nach kurzer lateinischer Orientie-
dann die Erlernung von Lesen und Schreiben rung werden hier Hindernisse in der Erler-
attraktiv, lukrativ oder notwendig m achen. In nung von Schreiben und Lesen beseitigt:
der Erforschung hat allerdings der qualitativ Deutsch wird zur geschriebenen Sprache, und
interessantere Teil der Schriftlichkeit, die Lite- die Schulen heißen in Absetzung zu den wei-
ratur, ein wesentlich höheres Interesse gefun- terbildenden Lateinschulen „Deutsche Schu-
den, so daß der Grad der Kenntnisse im Lesen len„. Sie breiten sich rasch aus und werden
oder gar Schreiben an deren Rezeption ge- im 14. Jahrhundert auch in kleineren und
m essen wurde und aus seinem geringen Anteil m ittleren Städten betrieben. Ergänzt werden
auf das Gesamt geschlossen wurde. diese „Deutschen Schulen“ durch die Pfarr-
Anregungen, Aufforderungen und Ange- schulen in Stadt und Land, die zwar auf den
bote zur Ausbildung erstehen im Spätm ittel- Gottesdienst abstellen, aber dadurch auch
alter, also ab. ca. 1250, im profanen Bereich, Elem entarkenntnisse verm itteln. Nim m t m an
dann aber auch im Bereich der religiösen und einen pyram idenförm igen Aufbau für die
Allgem einbildung. Schriftlichkeit kann ihre Ausbildung im Spätm ittelalter an, so kann
Verständigungs- und Darstellungsvorzüge die Anzahl der bekannten weiterführenden
besser dann entfalten, wenn sie vielfach be- Lateinschulen einen Eindruck für die sicher-
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 863

lich größere Zahl an Deutschen und Pfarr- es für Nürnberg sogar die Zahlenangabe „pei
schulen verm itteln. Für das Gebiet der heu- vier tausend lerkneblein und m aidlein“ im
tigen Republik Österreich werden im 14. Jahr- Verhältnis zu ca. 40 000 Einwohner (Endres
hundert 56 Lateinschulen nachgewiesen (En- 1983, 150), so daß, nim m t m an die schulisch
gelbrecht 1982, 361). ausgebildete, erwachsene Einwohnerschaft
Den Bem ühungen der Wirtschaft und des hinzu, der Grad der Alphabetisierung we-
Finanzwesens entspricht die sich nun entfal- sentlich höher gewesen sein m uß: Deutsch-
tende Schrifttätigkeit in Recht und Verwal- land hat um 1500 ca. 10 Mill. Einwohner
tung: Neben der Reichskanzlei nim m t der (Engelsing 1973, 19; 12 Mill.: Kellenbenz
Ausstoß von Rechts- und Verwaltungstexten 1980, 120; Wehler 1987, 69).
der landesfürstlichen und städtischen Kanz-
leien erheblich zu, und auch auf dem Lande
werden die ersten Dorfordnungen verschrift- 4. Buchdruck und Reformation
licht. Ein Ereignis des ausgehenden 15. Jahrhun-
Neben der Ausbildung und der Funktio- derts scheint wie kein anderes die Entwick-
nalität erfährt nun die Beherrschung der lung der Schriftlichkeit vorangetrieben zu
Schriftlichkeit eine Aufwertung: Mitte des 14. haben: die Erfindung des Buchdrucks und
Jahrhunderts bequem en sich auch die Lan- sein rascher Ausbau. Ohne Zweifel bewirkt
desfürsten dazu, selbst zu schreiben. Unter- dieser gravierende Veränderungen, allerdings
stützt und vorangetrieben wird diese Ent- zunächst nur in Randbereichen und erst lange
wicklung durch eine Veränderung im Pro- Zeit später auch beim Lesen- und Schreiben-
gram m der christlichen Unterweisung: Die lernen. Der Buchdruck und seine ausgebaute
Bettelorden überführten lateinisch orientier- Technik erm öglicht eine erheblich beschleu-
tes Bildungsgut in deutsche Predigten (Henkel nigte Herstellung größerer Stückzahlen eines
& Palm er 1992, 14) und boten eine verständ- Textes, eine weite Verbreitung und infolge-
liche zeitgenössische Allgem einbildung an, die dessen die gleichzeitige Verfügbarkeit für
Handbuch- und enzyklopädisches Wissen m it viele. Darin liegt die innovative Kraft, das
christlicher Exegese verband (Engelbrecht
1982, 182). Mom ent der Öffentlichkeit zu entwickeln,
welches aber erst in der Moderne seine volle
Die Bestim m ung des Grads der Alphabe- Wirkung entfaltet (Brem er 1986, 1384). Mit-
tisierung vor den auch für sie bedeutenden teilungen, Wissen, Fiktionen erhalten durch
Ereignissen des Buchdrucks und der Refor- den Druck einen größeren und dam it auch
m ation Ende des 15. und Anfang des 16. schnelleren Um satz. Diese neue Herstellungs-
Jahrhunderts leidet unter der Fixierung auf technik differenziert den Produktions- und
die schöne und Erbauungsliteratur. Engelsing Abgabevorgang, in dem das (Autoren-) Ma-
(1973, 20) referiert nur diese und kom m t auf nuskript nun gesetzt (Druckerei), verlegt (Ver-
höchstens 3—4 Prozent Lesefähige in der Ge- lag/Großhändler) und verkauft (Kolporteur,
sam tbevölkerung, was einem städtischen An- Buchhändler) wird, was den Herstellungsvor-
teil von 10 bis 30% entspräche (Wendehorst gang exklusiv m acht — etwa in dem Sinne,
1986, 32). Darin ist aber die Flut von Rechts- daß sich nur ausgewählte Texte für den Ver-
und Verwaltungsschrifttum nicht berücksich- trieb lohnen. Der Buchdruck und seine Er-
tigt, welches ja nicht nur geschrieben, sondern zeugnisse (Bücher, Flugschriften und -blätter)
auch gelesen werden m uß, ebensowenig wie sind von daher gesehen lediglich eine Verbes-
das Wirtschafts- und Finanzschrifttum , das serung auf der Angebotsseite, die keineswegs
sicherlich m it noch herberen Überlieferungs- eine unm ittelbare Verm ehrung des Lesen- und
verlusten belastet ist als das übrige. Die Zahl Schreibenlernens zur Folge hat. Das läßt sich
der Lesefähigen m uß von daher erheblich hö- an der Anzahl der gedruckten Bücher und
her gewesen sein — zum al Lesen im m er noch ihrer Sprache verdeutlichen: bis 1520 liegen
getrennt gelernt werden kann —, wenn auch in Deutschland nach Schätzungen 16,9 Mill.
die Lektürewahl nicht gleich ist. Das ergibt Exem plare gedruckt vor, davon sind 946 000
sich dann, wenn die Ausbildungsm öglichkei- auf Deutsch, also 5,6%, die restlichen im ex-
ten und ihre Frequenzen analysiert werden. klusiven Latein (Engelsing 1973, 18—19).
So gilt beispielsweise für Franken zu dieser Außerdem setzt der Kaufpreis Grenzen — ein
Zeit, daß dort alle Städte und die m eisten Buch kostet ein m ehrfaches Monatsgehalt
Märkte Elem entar- und weiterführende Schu- z. B. eines Schulm eisters; Flugschriften sind
len und ein entsprechend großes Einzugsge- allerdings preiswert (Engelbrecht 1982, 209).
biet haben (Endres 1983, 145). Für 1487 gibt
864 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Die Alphabetisierung bedarf des Anreizes, wird, ist ein weitgespanntes Program m zur
der Notwendigkeit und des Interesses an Lek- Institutionalisierung des Lernens (Lundgreen
türen. Insofern sind Druckm öglichkeiten und 1980, 17). Die Anfänge hierfür nutzen den
-werke Voraussetzungen, die genutzt werden kirchlichen Im petus für die Religionslehre
können. Das geschieht in dem aufwühlenden, und den ökonom isch günstigen Gruppenun-
die Bevölkerung m obilisierenden Versuch, die terricht (Zusam m enführung der Lernwilligen
Religion zu erneuern. Der Anreiz und die an einem Ort und zu einer Zeit), vor allem
Notwendigkeit, lesen zu lernen, geht zunächst aber die ausgebildete Infrastruktur der kirch-
von den reform atorischen Schriften aus, die lichen Organisation: die Geistlichen am Ort
eine hohe Frequenz aufweisen. Man schätzt, halten die Schulaufsicht und besorgen das
daß allein Luthers Publikum eine Million Lehrpersonal.
zählt (seine Schriften kam en in ca. 200 000 Diese Regulierungen des Ausbildungswe-
Häuser bei durchschnittlich fünf Lesern; En- sens konkurrierten nun m it den eher m arkt-
gelsing 1973, 29). Entscheidend war natürlich orientierten Angeboten der sog. Winkelschu-
die Ausrichtung des Glaubens auf den Wort- len, die sich auf die Verm ittlung der Kultur-
laut der Heiligen Schrift (sola scriptura: die technik, nicht aber die Erziehung überhaupt
Heilige Schrift als Ablösung der päpstlichen ausgerichtet hatten. Ihre Zahl ist unbekannt,
Autorität; vgl. Ehlich 1993, 189—190) und sie scheinen aber ein wichtiger Faktor in der
seine Übersetzung in eine allgem eine und Alphabetisierung gewesen zu sein, der neben
weitgehend verständliche deutsche Sprache, den etablierten Schulen weiterbesteht. Diese
so daß jeder anstrebte, eine Bibelausgabe zu erhalten durch die vielen Schulordnungen ent-
besitzen, zum indest aber Zugang und Kennt- sprechenden Rückhalt (Zwickau, Braun-
nis zu haben. Durch den hohen Verbreitungs- schweig und Kursachsen 1528; Mecklenburg
grad dieser Übersetzung und das häufige Aus- 1552; Württem berg 1559 u. a.; Schöneberg
wendiglernen von Teilen der Bibel wird die 1981, 156; Engelbrecht 1983, 44).
Grundlage für eine geordnete geschriebene Im protestantischen Bereich ergeben sich
Sprache bereitgestellt. Dies wird unterstützt daraus dann doch beachtliche Schul-, Lehrer-
m it der Durchsetzung des lutherischen Kate- und Schülerzahlen: 1580 hat Kursachsen in
chism us als obligatorischem Text der Elem en- rd. 40 Städten einen Lehrer, in rd. 45 Städten
tarschulen. 2—3 Lehrer und in rd. 20 Städten 4—7 Leh-
Hierin liegt denn auch das zweite Mom ent rer, in Dresden 200 Schüler an deutschen und
für die Verm inderung des Analphabetism us 70 an der Lateinschule, Lübeck zählt 1585 24
in der religiös orientierten Bevölkerungs- Schulen (Schöneberg 1981, 172 ff), Nürnberg
gruppe (also auch auf dem Lande). Die Re- zum Ende des 16. Jahrhunderts 75 deutsche
form atoren ordnen zwar vor allem die La- Schulen und sogar ein Überangebot an „teut-
teinschule neu und fördern deren Ausbau, schen Schulmeistern“ (Endres 1983, 150).
gleichzeitig aber kom m t es im Rahm en der In den rekatholisierten Ländern Süd-
zu erstellenden neuen Kirchenordnungen zu deutschlands kam es nach der Jahrhundert-
einer Übereinkunft m it den Interessen der m itte ebenfalls zu einer Erneuerung und Aus-
etablierten Territorialstaaten und Städte hin- weitung des Schulwesens durch Schulordnun-
sichtlich des Aufbaus einer zentralen Verwal- gen (Salzburg 1565, Wien 1579, Tirol 1586
tungsstruktur. Diese m uß sich der Schriftlich- u. a.; Engelbrecht 1983, 128—129).
keit bedienen und benötigt von daher ausge- Die Festigung der Orientierung am Latein
bildete Beam te in der Zentral-, aber eben auch im höheren Schulwesen beider Religionen
in der Provinzial-, Kreis- oder Ortsverwaltung (Melanchthons Reform en um 1530 und die
sowie als Ansprechpartner zunehm end m ehr jesuitische ratio atque Institutio studiorum„
Untertanen bzw. Bürger, die zum indest lesen, von 1599; Ham ann 1986, 34; Engelbrecht
besser aber noch auch schreiben können. Die 1983, 154) legte die Teilung der geschriebenen
Kirchenordnungen werden deshalb m it Schul- Sprachen in Latein und Deutsch bis weit in
ordnungen kom biniert, so daß nun der Staat die Moderne hinein fest. Dam it war die Ver-
zwar erstm als um die Ausbildung besorgt ist, bindung aller Bereiche der geschriebenen
allerdings im m er noch in Rücksicht auf die Sprache und ihrer Textarten erschwert und
religiöse Bindung: „Der Buchstabenglaube teilweise sogar verhindert (Gebrauchsverbot
[abgeleitet aus dem sola scriptura-Prinzip; für Deutsch an Gym nasien; Engelsing 1976,
s. o.] ist der Vater der Volksschule“ (Moog 40), so daß hierdurch die Entwicklung der
1967, 149). Alphabetisierung m öglicherweise verlang-
Was hier überspitzend zusam m engefaßt samt wurde (Schöneberg 1981, 151).
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 865

5. Die verbesserte Papierherstellung aus der Zeit von 1500 bis ins 19. Jahrhundert.
und die Zeit der ‘Multimedialität’ Diese besteht aus den Akten, Unterlagen,
(1550—1700) Gutachten etc. aller Rechtssprechungsinstan-
zen und -form en bis zum Reichshofgericht
Es ist allerdings die Frage, ob hier nicht die (Wien) und Kam m ergericht (Wetzlar), dem
exklusive Bildung und ihre Schriften als al- Verwaltungsschrifttum der Gem einden, Ge-
leiniger Teil für ein Ganzes genom m en wird, richte, Städte, Herrschaften bis zum Reichs-
das deutlich andere Anzeichen erkennen läßt. tag, also aller Verwaltungsinstanzen und -be-
Sicherlich stagniert die Buchproduktion und hörden des Alten Reichs, dem Wirtschafts-,
im m er noch dom inieren die lateinischen Titel Steuer-, Finanz- und speziellen Verwaltungs-
(Engelsing 1976, 43). Doch bleibt dabei un- schrifttum der Grundherrschaften. Natürlich
beachtet, daß eine m öglicherweise folgenrei- gehören die Schreiber und Leser vieler dieser
chere Erfindung die Produktionsm öglichkei- Texte dem ohnehin ausgebildeten Stand der
ten in der geschriebenen Sprache erheblich kleinen Schicht von geschätzten 10—15% an.
vereinfachte, vor allem preislich erschwinglich Dennoch wird neuerdings m it der Erfor-
m achte: der Beschreibstoff Papier und seine schung der ländlichen Rechtsquellen (Blickle
im m er weiter verbesserten Herstellungsm ö- 1989) deutlich, daß die ländliche Bevölkerung
glichkeiten. Nach Errichtung von Papierm üh- m it der sie betreffenden Schriftlichkeit befaßt
len Ende des 14. Jahrhunderts gab es schon war (Knoop 1992, 181—192). Denn die dort
im 15. Jahrhundert ein reichliches und preis- niedergelegten Bestim m ungen gingen aus Ver-
wertes Angebot (Engelbrecht 1982, 243). Mit handlungen hervor, dienten dem Rechtsfrie-
der Einführung des leichter zu handhabenden den und der Wirtschaftsregelung und waren
Gänsekiels — statt der Rohrfeder — und der für beide Teile, also auch für die ländliche
Kursive steht dem schnellen Notieren, Fest- Bevölkerung, justitiabel. Welche Ausm aße
halten von Texten, Produktion von Notizen dieses Schrifttum angenom m en hat, m ag eine
und Schriftsätze ein geeignetes Instrum enta- Mengenangabe aus dem Bereich des Herz-
rium zur Verfügung. ogtum s Württem berg illustrieren. Dort be-
Folgerichtig geht die Produktion von läuft sich die Anzahl der Textart „Lagerbuch
handgeschriebener Schriftlichkeit nicht zu- bzw. Urbar“ — also Bestandsaufzeichnungen
rück, sondern wächst erheblich an. Denn er- vor allem rechtlichen und wirtschaftlichen In-
stens ist der Buchdruck als Textherstellung halts — für den Zeitraum von 1500—1900
kom plizierter (Manuskript bis Druck), zwei- auf 15 000 Bände oder 800 lfd. m Regalfläche.
tens erfordert er für die Produktion und Re- Hochgerechnet auf das vergleichbare Schrift-
zeption eine vorausgehende und begleitende tum im ganzen Reich würde dies bei dem
m anuelle Schriftlichkeit, drittens aber gibt es
sehr viele Schreibnotwendigkeiten, für die der Ansatz ‘Bevölkerung von Württem berg 1/38’
Druck gar nicht lohnt oder zu kostspielig ist. — etwa Mitte des 18. Jahrhunderts
Diese m anuelle Schriftlichkeit unterliegt frei- 450 000 : 17 Millionen (Wehler 1987, 70) —
lich einem hohen Verbrauch und ist von daher an die 570 000 Bände allein dieser Textart
mit hohen Überlieferungsverlusten behaftet. ergeben (Richter 1979, 26). Die Menge der
Trotzdem ist die Fülle des Bewahrten so ‘Beraine’ aus Baden (Richter 1979, 33: 12 000
erheblich, daß dieser Produktionsbereich na- Bände) oder die Sichtung der fränkischen Ge-
türlich für die Bewertung der Alphabetisie- m eindearchive (Scherzer 1976, 40) bestätigen
rung herangezogen werden m uß. Das gilt zu- dies in der Tendenz. Diese Fülle handschrift-
nächst einm al für die Texte der im weitesten lichen Schrifttum s wird noch ergänzt durch
Sinne wissenschaftlichen und Gebrauchslite- das reichliche kirchliche und private (Ausbau
ratur sowie der Belletristik, die nicht zum des rein handschriftlichen Postwesens), so daß
Druck kom m t, gleichwohl aber produziert vom Textangebot und der alltäglichen Not-
und rezipiert wird (Bremer 1986, 165—167). wendigkeit der Um setzung das Ausm aß der
Wieder ist es die direkte Nutzanwendung Alphabetisierung anders gesehen werden
zur Verbesserung von geregelten Abläufen, m uß. Denn viele Indizien sprechen dafür, daß
die zur Produktion von Schriftlichkeit in vie- die Verwendung der geschriebenen Sprache
len Bereichen der alltäglichen Verständigung geläufiger war.
führt. Die Fülle schriftlicher Texte ist heute Hier ist zunächst die Veränderung in der
noch greifbar vor allem in den Bereichen der Präferenz der Universitätsfakultäten zu nen-
Rechtsprechung und -verhandlung, der Ver- nen, die natürlich am ehesten greifbar ist und
waltung, des Wirtschafts- und Finanzwesens m it dem sprunghaften Anstieg der Jura-Stu-
866 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

denten gegenüber den bis dahin dom inieren- im Bereich der Verwaltung und des Rechts-
den Theologen anzeigt, daß Rechtsprechung wesens in die Schriftproduktion aufzunehm en
und Verwaltung ausgebaut werden (Schöne- (Kästner et al. 1986, 1357), setzt die Gruppe
berg 1981, 157). Bedeutsam für die Sicht auf der Rezipienten, also Leser dieser Textgrup-
die m öglichen Ausbildungswege ist hierbei, pen, im m er noch in der kleinen Schicht der
daß ein hoher Anteil der Studenten aus den Buchleser an: Adel, Patrizier, Gelehrte/Lite-
unteren Bevölkerungsschichten kom m t (En- raten und ihre Bibliotheken (1360—1361).
gelbrecht 1983, 205 u. ö.). Dem entspricht die Mit diesem exklusiven Blick auf die Bücher-
schon genannte Ausweitung der öffentlichen rezipienten bleiben die Schriftrezipienten der
Verständigung durch die Schriftlichkeit in vie- Rechts-, Verwaltungs-, Wirtschafts- und
len Territorien und Städten, was andererseits Finanzliteratur unberücksichtigt, obwohl sie
die entsprechenden Fähigkeiten in den Äm - doch an der Form ulierung, der Reaktion und
tern, vor allem aber auch den Dörfern vor- der Lektüre aktiv beteiligt sind (vgl. hierzu
aussetzt (z. B. Schriftfähigkeit für die Dorf- Glück 1987, 189 ff).
verwaltung in Kursachsen: Klein 1983, 830 u. Aber es gibt noch einen weiteren Bereich
834). Die Verwaltungen achteten deshalb zu- geschriebener Sprache, der auch den unteren
nehm end darauf, daß sie schriftfähige Vertre- Bevölkerungsschichten zugänglich zu sein
ter einsetzten, und erhoben dies zum Einstel- scheint, weshalb deren Lesefähigkeit größer
lungskriterium (Wunder 1986, 90). Diese war anzusetzen ist. In der Zeit zwischen dem 16.
zuvörderst über die Schule zu erwerben, doch und dem 19. Jahrhundert entsteht eine große
kam alsbald die entsprechende Ratgeberlite- Anzahl von Textproduktionen in geschriebe-
ratur auf: die Schreiblehrbücher (das erste ner Sprache bzw. Mitteilungsform en, die in
bekannte von Fabian Frangk 1525; Engelsing Teilen geschriebene Sprache enthalten. Texte
1973, 34—35). Diese waren natürlich für die solcher Art sind Schwank- und Erzählsam m -
Herstellung von handschriftlichen Texten ge- lungen, Kalender, Ratgeberliteratur, Einblatt-
dacht und werden deshalb auch ausdrücklich drucke und ‘Zeitungen’, bzw. Neuigkeitsblät-
den Verwaltungsbeam ten em pfohlen bzw. so- ter u. v. andere m ehr. Wenn Siegert (1978, Sp.
gar ausgehändigt. Sie sind z. T. selbst hand- 592) auf diese Textarten verweist und m it
schriftlich für den spezifischen am tlichen Ver- ihnen gegen die Annahm e geringer Alphabe-
ständigungsprozeß angelegt (Richter 1979, tisierung argum entiert, dann ist ein entschei-
63). dendes Mom ent dabei zu berücksichtigen: der
Das sind allerdings nur Sym ptom e und An- Status der geschriebenen Sprache bzw. die
näherungswerte an eine m öglicherweise hö- Vielfältigkeit ihrer Rezeption. Dadurch, daß
here Alphabetisierung als in der diesbezügli- das laute Lesen als Existenzform der geschrie-
chen Literatur angenom m en wird. Hier geht benen Sprachform gerade in den unteren Be-
m an davon aus, daß in dem Zeitraum von völkerungsschichten aber auch für bestim m te
1550 bis 1750 die Rate stagniert (Martino Textbereiche (Belletristik) noch lange nach
(1976, 111) schätzt das literarische Publikum dem Hum anism us und auch über das 18.
auf 60 000) und allenfalls eine absolute Zu- Jahrhundert hinaus gültig war, kam der ge-
nahm e zu verzeichnen ist aufgrund der zum schriebenen Sprache keine Eigenständigkeit
Ende des 17. und im 18. Jahrhundert wieder zu (Schön 1987, 100 ff). Sie war, wie die zeit-
zunehm enden Bevölkerungszahl (Engelsing genössische Beobachtung zu Recht feststellte,
1973, 50: 5—10% 17. Jh.; 62: 15% für 1770). ‘sekundär’, wurde also nicht als selbständige
Dem liegt allerdings die Vorstellung zu- Überm ittlung genutzt (Knoop 1993, 222). Mit
grunde, daß vor allem Bücher gelesen werden der ‘Verlautbarung’ der geschriebenen Spra-
und aus ihrer Zahl auf die m öglichen Leser che war diese in einen weitreichenden sinnli-
rückgeschlossen werden kann. Dies kulm i- chen Prozeß eingebunden (Schön 1987, 83 ff),
niert in dem sachlich richtigen Titel „Volk der dazu führte, daß der Besitz von Schrift-
ohne Buch“ (Schenda 1970), der aber gerade texten im m er auch seine Verm ittlung an an-
nicht auf die bevorzugte bzw. notwendige dere bedeutete, sei es als Weitererzählen oder
Lektüre der Bevölkerung abhebt, vor allem das exzessiv wahrgenom m ene Vorlesen
nicht auf die handschriftliche. Vielm ehr liegt (Schön 1987, 180 u. 242).
dieser Analyse die Vorstellung von der ‘guten’ Dam it ist die sim ple Entgegensetzung ‘ge-
Lektüre zugrunde und die ist verm öge ihres sprochene’ und ‘geschriebene’ Sprache rela-
Anspruchs exklusiv, näm lich hinsichtlich Vor- tiviert. Mit dem Aufkom m en des Medium s
aussetzung, Inhalt und Preis. Auch ein neue- Schrift, erst recht aber m it der Fülle geschrie-
rer Versuch, die Textsorten des „Alltags“ auch bensprachlicher Texte seit 1500, gibt es keine
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 867

reine Qualität m ehr, also auch keine Sprache 200 000 gedruckte Schriften, davon knapp ein
m ehr, die allein den Gesetzen m ündlicher For- Drittel auf Deutsch (Engelsing 1973, 43 f;
m ulierung und Tradierung (Assm ann & Ass- Wehler 1987, 304). Zeitungen und Flugschrif-
m ann 1988) folgen könnte. Denn die Fixie- ten, die nun verm ehrt aufkam en, bereicherten
rung im Schrifttext entscheidender Mitteilun- sicherlich das Angebot, hoben aber die Ex-
gen richtet auch das Sprechen eines jeden auf klusivität dieser Form der geschriebenen und
die Form ulierung hin aus (Knoop 1993). Die gedruckten Sprache nicht auf. Diese am ehe-
kulturelle und soziale Organisation des Le- sten erfaßbaren Schrifttexte hatten einen in
bens in der frühen Neuzeit war allerdings etwa gleichbleibenden Leserkreis vor allem
solcherm aßen, daß sie ihre Mitteilungen auch unter den Gelehrten im weitesten Sinne (v.
und gerade aus der stum m en und sinnlichen Ungern-Sternberg 1980, 137). Textart (zur
Eingeschränktheit in die für sie entscheidende Hälfte Theologisches) und Anschaffungs-
gesellige Sinnlichkeit um setzte. Erst spätere preise (ein Buch kostete in etwa das Monats-
Zeiten entdecken die reichhaltigen Möglich- einkom m en eines Schulm eisters; Martino
keiten, die in der Einschränkung dieser Sinn- 1976, 110) bewahrten diese Exklusivität. Adel
lichkeit liegen. In der frühen Neuzeit wurde und untere Schichten hatten andere Bildungs-
die geschriebene Sprache nicht nur verlaut- und Lesebedürfnisse und verspotteten die
bart, sie wurde auch m it anderen Medien Buchgelehrsam keit (Engelsing 1976, 50—51)
verbunden und unterstützt, näm lich durch bzw. letztere fürchteten bei zuviel Lektüre
das Bild auf den vielfältigen Mitteilungsfor- einen Rückgang der Arbeitsm oral (Engelsing
m en der „Bilderzeitungen“, Bilderbogen, il- 1973, 79 ff).
lustrierten Flugblättern bis hin zu den Spiel- Die Zahlen für Schulen und Schulbesuch
karten (Brückner 1979), Ton bzw. Melodie werden genauer, insbesondere die größeren
vor allem der Liedertexte weitgespannter In- Städte verfügen durchweg über m ehrere öf-
haltsbereiche — Zeitungslieder, Gesellschafts- fentliche Schulen. Auch auf dem Lande ver-
lieder, geistliche Lieder — (Brednich 1974; festigte sich der Schulbesuch wenigstens wäh-
Moser 1981) oder Gestik bzw. Gebärde im rend der Winterm onate, so daß die Schätzun-
weltlichen, geistlichen oder Kalender(schau)- gen auf den Schulbesuch von etwa einem
spiel (Hess 1976; Martens 1981; Moser 1981). Viertel der Kinder hinauslaufen (Engelsing
Die Einbindung der geschriebenen Sprache 1976, 49). Die geschriebene Sprache und ihre
in vielfältige Um setzungsm öglichkeiten ge- Texte haben sicherlich einen festen Platz im
stattete es dem Einzelnen, den dam aligen Um - Verständigungsgefüge der frühen Neuzeit ge-
ständen entsprechend an Erbauung, Unter- funden, aber der Prim at der Verlautlichung
richtung und Inform ation teilzuhaben, ohne gerade auch im Alltagsschrifttum von Ver-
unbedingt um fassende oder grundlegende waltung, Recht und Trivialliteratur erübrigen
Lese- oder gar Schreibfertigkeiten zu erwer- eine durchgängige Beherrschung von Schrei-
ben. Andererseits war ausreichend Anreiz ben und Lesen.
vorhanden, sich diese Fertigkeiten eher infor-
m ell, aber auch form ell (Schule) anzueignen.
Diese gem ischten Verhältnisse zeichnen das 6. Die Zeit der Aufklärung
16., 17. — m it seinem kriegsbedingten Rück- (18. Jahrhundert)
gang der Bevölkerung und jeglicher Produk- Dieses Verhältnis zu Lesen und Schreiben ver-
tion — und den Beginn des 18. Jahrhunderts änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts
aus und stellen einen Zustand dar, der tref- grundlegend. Abzulesen ist dies an dem er-
fend m it dem Begriff der ‘Multim edialität’ heblich verm ehrten Leseangebot aufgrund
gekennzeichnet wird (Breuer 1985, 35). des rasch ansteigenden Buchdrucks, des Ta-
Diese hatte zur Folge, daß der Anreiz zu gesschrifttum s und des Verwaltungs- und
einer Ausweitung des m assenhaften und or- Rechtsschrifttum s. Die Zahl der gedruckten
ganisierten Schreiben- und Lesenlernens aus- Schriften beträgt im 18. Jahrhundert rund
blieb. Das ist ablesbar an der Bücherproduk- 500 000, wovon allerdings allein zwei Drittel
tion des Zeitraum s (1550—1750): sie sta- in die aufstrebende Zeit des Jahrhundertendes
gnierte, ging während des Dreißigjährigen fallen (Wehler 1987, 304). Lange unterschätzt,
Krieges natürlich stark zurück und erreichte hat sich das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen
erst wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts kräftig entwickelt und erreichte m it ca.
die alte Größe der frühen Jahrzehnte des 17. 300 000 Stück geschätzter Gesam tauflage ca.
Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert entstanden 3 Mill. Leser (Wehler 1987, 307). Die Begrün-
868 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

dung des m odernen Staatswesens beruht auf Ablösung der ‘Wiederholungslektüre’ aus der
der Bürokratisierung der Verwaltung verm öge Kultur der Multim edialität führt. Diese war
der Schriftlichkeit, so daß hier ebenfalls Not- in den Begriffen von Engelsing „intensiv“,
wendigkeiten zur Lektüre und zum Schreiben d. h. konzentriert auf eine Textart — m eistens
in großer Zahl entstehen (Lundgreen 1980, die Bibel — und erbrachte die Kenntnis dieser
27). Zur Jahrhundertm itte wird auch die Texte durch Wiederholung bis hin zum Aus-
Schreibleistung erstm als faßbar: eine flächen- wendigkönnen. Nun wird die Lektüre „exten-
deckende Erfassung der Signierfähigkeit in siv“, so daß nach der Lektüre des einen wei-
vor allem westlichen Regionen des Reichs tere Texte gelesen werden, was ja am Anstieg
zeigt eine Schreibfähigkeit bei m ehr als 60% der Zeitungsexemplare deutlich wird.
der ländlichen (!) Bevölkerung an (Hinrichs Die Lektüre wird nun so extensiv, daß als-
1982). bald Stim m en laut werden, die vor einer aus-
Diese Angebote und Notwendigkeiten re- brechenden Lesesucht warnen — sie halte von
sultieren aus einer Um gestaltung der Funk- der Arbeit ab — und die anzeigen, daß das
tionalität der Schriftlichkeit: die geschriebene Lesen gerade in den unteren, ‘arbeitenden’
Sprache erhält einen anderen Stellenwert und Bevölkerungsschichten signifikant Fuß gefaßt
wird zur beherrschenden Sprachform . Diese haben m uß (Engelsing 1973, 79; Schön 1987,
Veränderung wird von den Zeitgenossen 243). Denn an einer Ausbildung in Lesen und
durchaus registriert. Die lexikalischen Bestim - Schreiben ist nun nicht m ehr allein das neu-
m ungen von ‘Sprache’ ändern sich. ‘Rede, gierige Individuum interessiert, sondern der
sermo’ wird zu einem grundsätzlichen ‘Aus- m ittlerweile entwickelte neuzeitliche Verwal-
drucksverm ögen’, das alleinige Anliegen der tungsstaat, der zum indest lesefähige Unter-
Rhetoriken (Rede) tritt zugunsten des viel tanen braucht, um seine zentral orientierte
schwereren Schreibens in den Hintergrund Weisungs- und Organisationsstruktur nutzen
(Knoop 1993, 222), so daß das Verdikt, das zu können. Deshalb wird der Ausbildung
Kant dann über die Rede ausspricht, hier m ehr staatliche Aufm erksam keit zuteil und
seine Entsprechung hat: sie sei keiner Achtung das vorhandene Schulangebot in die zuneh-
würdig, da sie eine Kunst sei, die sich der m end m ehr ausgesprochene Schul p f l i c h t
Schwäche der Menschen bediene (KrdU § 53). umgewandelt.
So kom m t es, daß sich die Stim m en m eh- In kleineren Staaten kam es schon im
ren, die auf eine Individualisierung des Lesens 17. Jahrhundert zur Form ulierung des ver-
abheben, also die Entbindung aus der m ulti- pflichtenden Schulbesuchs (Weim ar 1619; vor
m edialen Geselligkeit, vor allem aber der Ver- allem aber im sog. Gothaer Schulm ethodus
lautbarung der Schriftlichkeit. Dies geht ein- von 1642; Württem berg 1649; Wehler 1987,
her m it einer gravierenden Um gestaltung der 285), in Preußen (Generallandschulreglem ent
Lesetechnik bzw. des Leseverhaltens. Waren 1763), Sachsen (1763) und Bayern (1774) erst
bisher letztlich viele Sinne an der Rezeption im 18. Jahrhundert. Zusätzlich dazu wurde
der geschriebenen Sprache beteiligt, insbeson- auch eine schulische Verwaltungsstruktur auf-
dere der Gehörsinn als eigentlicher Bereich gebaut, die sich von den ‘geistlichen Angele-
der Rezeption, so geht m it der alleinigen Lek- genheiten’ absetzte (Preußisches Oberschul-
türe auch der Prim at der Rezeption an den kollegium 1787; bayerisches ‘General-, Schu-
Gesichtssinn, das Auge über. Das zuneh- len und Studien-Direktorium ’ 1799). Auch
m ende stum m e Lesen beläßt den entnom m e- das Problem einer spezifischen Lehrerausbil-
nen Sinn der Lektüre beim Individuum , das dung wurde angegangen (Lehrersem inare in
nun ganz im Sinne der aufklärerischen, m o- der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; Kuhle-
dernen Ideen diesen prüft, beurteilt und dann m ann 1992, 99—100). Selbstverständlich litt
für sich selbst darüber entscheidet. Die Kon- das Schulwesen unter dem sporadischen Be-
zentration auf das alleinige Augenlesen hat such (‘Winterschule’), fehlender oder schlecht
zwei Konsequenzen: die Lektüre wird schnel- ausgebildeter Lehrer und der m inim alen fi-
ler und erm öglicht dadurch eine größere Ka- nanziellen Ausstattung (Kuhlem ann 1992,
pazität, dem um gekehrt das höhere Lektü- 105). Es gibt jedoch in den einzelnen Ländern
reangebot zum Jahrhundertende entspricht des Alten Reichs eine große Schwankungs-
und das ja dann bis heute exorbitant hohe breite hinsichtlich des Schulbesuchs, so daß
Zahlen erreicht hat. Der Anreiz dieser Lek- die pauschalen Schätzungen über die Alpha-
türe besteht in dem Neuen, Interessanten oder betisierung im ganzen deutschen Sprachgebiet
Wichtigen, das zur Kenntnis genom m en wer- auf ca. 25% (Engelsing 1973, 62) deshalb kein
den soll, will oder m uß und das zu einer sprechendes Abbild geben, weil einzelne Re-
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 869

gionen sehr stark vorangekom m en waren: der Schriftlichkeit voll einsehbar geworden,
Württem berg, Sachsen, Thüringen, Gotha weshalb der Ausbildungsinstitution Schule
oder Oldenburg m it z. T. über 60% Schreib- eine zentrale Bedeutung zukam . Die großen
fähigen um 1800 (Hinrichs 1982). Anstrengungen für ihren Ausbau, ihre Kon-
Im 18. Jahrhundert kam en auch die Be- solidierung, ihre funktionierende Organisa-
m ühungen um die Einheitlichkeit der Sprache tion, die nun im 19. Jahrhundert unternom -
zu dem Ergebnis einer Kodifikation der Norm m en werden, resultieren allerdings nicht nur,
und dam it einer Zurückdrängung der regio- m öglicherweise gar nicht einm al in erster Li-
nalen oder dialektalen Besonderheiten in der nie aus der Absicht, die Kulturtechnik Lesen
geschriebenen Sprache. Diese Einheitlichkeit, und Schreiben zum Zwecke der Lektüre, m ög-
vor allem aber die Regelregistrierung, war licherweise sogar noch der ‘guten Literatur’,
Voraussetzung für die rein visuelle Lektüre des Buches also, zu vermitteln.
(‘Augenlesen’) und die entsprechende Weiter- Denn die nun ergriffenen Maßnahm en zur
gabe in den Folgetexten (Knoop 1990; 1993). Belehrung aller ‘schulpflichtigen’ Kinder m it
Für diese Regulierung wurde vor allem die Lesen- und Schreibenkönnen wird von der
Morphologisierung der Sprache ausgenutzt Notwendigkeit dazu nicht gedeckt. Der Rück-
und in das Schriftbild der Wörter eingebracht gang der Alphabetisierung vieler Einwohner
(Eisenberg 1983, 63). Sie gewährleistet eine im späteren Alter m ag zwar als ‘Kulturverfall’
ökonom isch sinnvolle und hierarchisch hö- registriert werden, strukturell betrachtet deu-
here Orientierung der Schrift an der Wortbil- tet das eher auf eine nachlassende oder gar
dung. Gleichwohl gewann die daraus abge- nicht erforderliche Funktion der geschriebe-
leitete Orthographie einen ungebührlichen nen Sprache in bestim m ten Bereichen des Le-
Stellenwert in der Lernhierarchie, der seine bens und Arbeitens bei einigen Gruppen der
Plausibilität erst aus der Verknüpfung m it der Bevölkerung hin (König 1977, 139): „Schrift-
notwendig gewordenen Aufgabe der Anlei- kultur setzt keine Massenalphabetisierung
tung und Regulierung der Untertanen durch voraus“ (Glück 1987, 175). Der Verzicht auf
die sich als ‘Wohlfahrtsstaat’ verstehende Ob- eine ‘Alphabetisierung der Massen’ stößt al-
rigkeit erhält. Der Selbstzweck des Lesen- und lerdings auf den Widerspruch nicht nur der
Schreibenlernens wird m it der Agentur Schule Kulturinteressierten, sondern vor allem des
in einen Erziehungsgang eingebunden, der Gewerbes und der Verwaltung, die m it dem
unter das Stichwort „Sozialdisziplinierung„ Lesen- und Schreibenlernen offensichtlich
zu stellen ist (Oestreich 1968) und ein ‘or- m ehr verbinden als nur die Erlernung einer
dentliches Verhalten’ innerhalb einer nun ar- Kulturtechnik. Vielm ehr wird hier eine In-
beitsteilig werdenden Gesellschaft und Öko- strum entalisierung bestim m ter Erfordernisse
nom ie zum Ziel hat (Lundgreen 1980, beim Erlernen und Einüben von allgem ein
30—31). notwendigen Verhaltensweisen vorgeno
m -
Als „Industrie“ m einte es den durchgän- m en. Schreibenlernen und das nunm ehr an-
gigen Fleiß im Gewerbeleben und Ackerbau, gestrebte ‘Augenlesen’ haben Abstraktions-
der zu einer Kontinuität der Arbeitsleistung vorgänge zur Voraussetzung, die vom ‘Still-
führen sollte, so daß die zunehm end divers sitzen’ über die Konzentration bis zur Pla-
werdende Herstellungs- und Erwerbsstruktur nung (des Textaufbaus) und dem Bedenken
auf die entsprechend ausgebildeten und be- der Schrittabfolge bzw. dem Rückerinnern
reiten Teilnehm er rechnen konnte (Wehler oder textlichen Rückbezug reichen.
1987, 286). In einer erzieherischen Aktion können
diese kognitiven Werte in die erwünschten
Fähigkeiten eines verläßlichen Staatsbürgers
7. Die ‘Massenalphabetisierung’ um gesetzt werden (Wehler 1987, 283), der
im 19. und 20. Jahrhundert dann über eine verinnerlichte Ordnung,
Pünktlichkeit, Fähigkeit zur Zeiteinteilung,
Die Notwendigkeit von Lesen- und Schrei- Sinn für Folgerichtigkeit und Konzentration
benkönnen aufgrund der Dom inanz der ge- verfügen sollte (vgl. Glück 1987, 180 ff). Wel-
schriebenen Sprache geht einher m it dem che Bedeutung diese Instrum entalisierung bis
erheblich verbesserten und erweiterten An- in das 20. Jahrhundert hinein hatte, m ag der
gebot der Medien. Revolutionäre Neuerun- Kam pf um die staatlichen Mittel für den
gen in Herstellung, Vertrieb und Preisgestal- Schulausbau belegen, der diese vom dam als
tung m achten die Lektüre erschwinglich (vgl. fast sakrosankten Militärhaushalt erfolgreich
Glück 1987, 190 ff). Nun war die Funktion abzweigte, und zwar aufgrund des Argu-
870 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

m ents, das nach den Reichsgründungskriegen lerdings nicht das gewünschte pädagogische
(1864, 1866 und 1871) fast schon stereotyp Um feld boten (Engelsing 1973, 74): es waren
angebracht wurde: der deutsche Schulm eister, zum großen Teil Mehrzweckräum e, die unter
sprich seine Ausbildung der späteren Solda- anderem auch dem Nebenhandwerk des Leh-
ten, habe diese Siege herbeigeführt (Engelsing rers dienten. 1896 gab es dann 36 100 Schul-
1973, 102). häuser (Engelsing 1973, 105).
Diese Aufgabenstellung der Schule als Ele- Das Interesse, die Einsicht in die Notwen-
m entarerziehungs- und Bildungsinstitut erfor- digkeit des Lesen- und Schreibenlernens
dert die lückenlose Erfassung aller Kinder, so reichten natürlicherweise nicht aus, um alle
daß das Lesen- und Schreibenlernen über die- schulpflichtigen Kinder in den als unabding-
sen erweiterten Aspekt zu einer Alphabetisie- bar gedachten Erziehungs- und Bildungspro-
rung m öglichst aller (‘Massenalphabetisie- zeß einzugliedern. Neben dem Schulzwang
rung’) wird. Um die letzten zu erfassen, reicht und seinen Mitteln zur Durchsetzung m ußten
aber die Feststellung einer Schulpflicht nicht weitere Kontrollgrem ien gebildet werden, die
aus. um die ordnungsgem äße Durchführung des
Es erfolgt deshalb eine Altersfestlegung für Unterrichts besorgt waren und deshalb für
den Schulbesuch (ab 6 Jahre) und die Nor- die Lehrer und ihre Arbeit zuständig waren.
m ierung der Schulpflicht als Schul z wa n g, Durchaus in Fortführung der alten Verbin-
so daß das Fernbleiben sanktioniert wer- dung von Kirche und Unterricht wurde die
den konnte (Lundgreen 1980, 33). Haft oder örtliche Schulaufsicht auch im 19. Jahrhun-
Geldstrafen brachten den gewünschten Erfolg dert vom Ortsgeistlichen wahrgenom m en,
(Engelsing 1973, 102). Für das Jahr 1816 wur- sehr zum Ärger der sich em anzipierenden
den für Preußen 2,2 Mill. schulpflichtige Kin- Lehrer (wachsendes Ansehen der Schulaus-
der gezählt, von diesen besuchten 1,3 Mill. bildung, Stellenwert des Lehrers, Besoldung
(= 60%) die öffentlichen Schulen (Kuhle- und Ausbildung). Die 1794 im Allgem einen
m ann 1992, 107). Bis 1864 verdoppelt sich Landrecht für Preußen getroffene Entschei-
diese Zahl auf ungefähr 2,9 Mill. Kinder. 1895 dung hielt sich grundsätzlich bis 1918, wenn
kam en Schulversäum m nisse im ganzen Reich auch seit 1872 zunehm end m ehr die neuge-
kaum noch vor (igs. 500 bei 5,3 Mill. Schul- schaffene Gruppe der Rektoren und Haupt-
kindern; Engelsing 1973, 105). Der völlige lehrer die Schulaufsicht übernahm en (Bölling
Wegfall des Schulgeldes wurde 1888 verfügt 1983, 62 ff u. 85). Methodisch hatte der Un-
(Bölling 1983, 13). Wie zu erwarten, ent- terricht deutliche Verbesserungen erfahren.
sprach dieser Quote der Aufbau der Infra- Lesen- und Schreibenlernen erfolgten nun-
struktur nicht. Denn die Um wandlung des m ehr endgültig kom biniert, näm lich orientiert
nebenberuflichen Lehreram ts über eine Se- an der Schreiblesem ethode, die Friedrich Frö-
m inarausbildung in einen Hauptberuf benö- bel 1826 vorgeschlagen hatte. Diese konnte
tigte m ehr Zeit als die Um setzung des Schul- aber dann erst richtig Fuß fassen, als in der
zwangs. Schülerfrequenzen bis zu 90 auf einen Mitte des Jahrhunderts das Schreibgerät ent-
Lehrer oder eine Lehrerin waren die Folge scheidend verbessert wurde. Bis dahin hatte
(Mitte des 19. Jahrhunderts; Bölling 1983, die Naturfeder das Schreiben zu einem Zei-
65), erst 1931 lag sie bei 40 (ebda. 14). Ab chenvorgang bestim m t, während nun die
1826 war der Zugang zum Lehreram t über Stahlfeder flüssiges und kontinuierliches
eine Abschlußprüfung geregelt; die Besoldung Schreiben ermöglichte (Engelsing 1973, 126).
blieb kärglich, m eist weniger als der Land- Das Lesen- und Schreibenlernen für alle
gendarm (Bölling 1983, 71), und m ußte oft stellt sich also als eine große Kraftanstren-
aus Naturalabgaben und Landnutzung (bis gung der politischen, sozialen und kulturellen
ins 20. Jahrhundert) erzielt werden. Kräfte in Staat und Gesellschaft heraus. Es
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der gelang erst im Verbund m it einem erweiterten
Verdienst der Volksschullehrer dann aller- Erziehungsgedanken und bedurfte vieler ko-
dings das zweieinhalbfache eines Industrie- ordinierender, organisatorischer und kontrol-
arbeiters. Diesem Aufschwung war der durch- lierender Maßnahm en, um den Erfolg sicher-
gängige Ausbildungszwang im Sem inar (2 bis zustellen. Soweit das überhaupt zu m essen ist,
3 Jahre) vorausgegangen (Ende 19. Jahrhun- vor allem hinsichtlich der Aussage über alle
dert; Bölling 1983, 56). Einwohner eines Staates, so dürfte am Ende
Der Staat nahm sich des Ausbaus der des 19. Jahrhunderts das Ziel erreicht gewesen
Schulhäuser an, deren Zahl zum Jahrhun- sein: fast alle Einwohner können zum indest
dertbeginn in Preußen 20 400 betrug, die al- in ihrer Jugend Lesen und Schreiben. Die
71.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland 871

Zahl der analphabeten Eheschließenden be- Jahrhunderts. Internationales Archiv für Sozialge-
trug 1899 in Preußen ca. 1% (Engelsing 1973, schichte der deutschen Literatur 4, 130—178.
99). Außenseiterm ilieus (Krim inelle, Nicht- Ehlich, Konrad. 1993. Rom — Reform ation — Re-
seßhafte), vor allem aber die im 20. Jahrhun- stauration. Transfor
m ationen von Mündlichkeit
dert zunehm ende Bildkultur und -m itteilung und Schriftlichkeit im Übergang zur Neuzeit. In:
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72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika 873

72. Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in England


und Nordamerika

1. Einleitung 10%. Ein Zensus in den USA ergab 1900


2. Bedeutet Alphabetisierung ökonomischen 6,2% Analphabeten unter der weißen und
Fortschritt? 44,5% unter der nichtweißen Bevölkerung
3. Bedeutet allgemeine Schulpflicht universale (Kaestle 1985, 31 f). Diese Zahlen scheinen
Alphabetisierung? die heutzutage in England, Kanada und den
4. Ist Alphabetisierung Voraussetzung für die USA vielerorts beschworene Alphabetisie-
Teilnahme an demokratischen Prozessen? rungskrise zu belegen. Doch was steckt da-
5. Schlußbemerkung hinter? Entwickeln sich Literalität und Al-
6. Literatur phabetisierung der Engländer und Nordam e-
rikaner rückläufig? Sind Engländer und
Nordam erikaner heute weniger alphabetisiert
1. Einleitung als vor rund hundert Jahren? Was bedeutet
Am 22. Juli 1983 berichtete der Daily Tele- eigentlich Alphabetisierung? Wie wird dieser
graph, daß entsprechend einer kürzlich pu- Begriff definiert? Wie wird der Standard der
blizierten Untersuchung 10% aller 23jährigen Alphabetisierung festgelegt, wie erhoben?
Engländer nicht ausreichend lesen und schrei- Fragen, auf die es nicht e i n e wissenschaftlich
ben könnten, um ihren Alltag zu bewältigen, nachweisbare Antwort, sondern viele ver-
und England eine Alphabetisierungskatastro- schiedene relative Antworten gibt, abhängig
phe von unvorstellbarem Ausm aß drohe vom jeweiligen geschichtlichen, sozialen, öko-
(etwa 3,5 Millionen erwachsene Analphabe- nom ischen, kulturellen und politischen Kon-
ten). In Kanada erschien 1987 der Southam - text: m an wird nicht als zukünftiger Anal-
Bericht (Calam ai 1987), der — auf im Jahre phabet geboren, sondern zum Analphabeten
1987 durchgeführten Tests basierend — 24% gemacht.
der erwachsenen Kanadier ab 18 Jahren als
Analphabeten ausweist. In den USA löste 1.1. Definition
1985 Kozols Buch ‘Illiterate Am erica’ Bestür- Da es nicht eine Alphabetisierung, sondern
zung durch den Hinweis aus, daß jeder dritte viele Erscheinungsform en der Alphabetisie-
erwachsene Am erikaner nicht fähig sei, dieses rung oder viele Literalitäten gibt, kann es
Buch zu lesen. Kozol sprach von 25 Millionen auch keine allgem eingültige Definition geben.
erwachsenen Am erikanern, die weder eine Alphabetisierung ist eine Variable des Kon-
Giftwarnung auf einer Pestizid-Dose, einen texts. Alphabetisiert ist eine Person, „die sich
Brief vom Lehrer ihrer Kinder noch die erste an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer
Seite einer Zeitung lesen könnten und von Gruppe und Gem einschaft beteiligen kann,
weiteren 35 Millionen, deren Lese- und bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen er-
Schreibkenntnisse zu gering seien, um ihr All- forderlich ist, und an der weiteren Nutzung
tagsleben regeln zu können. Er wies ebenfalls dieser Fähigkeiten für ihre eigene Entwick-
darauf hin, daß die USA dam als auf Platz 49 lung und die ihrer Gem einschaft“ (UNESCO
der Alphabetisierungsratenliste von 158 Mit- 1986, 4). Die Anforderungen an die Lese- und
gliedsstaaten der Vereinten Nationen rangier- Schreibfertigkeiten des Einzelnen steigen also
ten. Diese Daten ließen sich durch weitere m it dem Alphabetisierungsgrad seiner Um -
Zahlen- und Krisenm eldungen von Journali- gebung. Alphabetisierung wird hier als soziale
sten, Wissenschaftlern, Statistikern und Re- Praxis verstanden und schließt dam it die Be-
gierungssprechern beliebig verm ehren, die oft deutung von Literalität m it ein. Eine Unter-
sogar die in der Literatur für den Zeitraum scheidung zwischen Alphabetisierung als Er-
um die Jahrhundertwende veröffentlichten werb bestim m ter Schreib-, Lese- und Rechen-
Zahlen zu übertreffen scheinen. So gibt bei- fähigkeiten und Literalität als deren Anwen-
spielsweise Levine (1986, 93) für England um dung als gesellschaftliches Kom m unikations-
die Jahrhundertwende eine Alphabetisie- mittel wird hier nicht vorgenommen.
rungsrate von 97% aller Männer und Frauen
an. Graff (1979, 19) nennt für die erwachsene 1.2. Standards
Bevölkerung von drei Städten in der kana-
dischen Provinz Ontario schon zur Zeit um Die Standards, nach denen beurteilt wird, ob
1861 eine Alphabetenrate von weniger als eine Person als alphabetisiert gilt, haben sich
Quelle Grad der Literarität Bevölkerung Verwendung in Zeit ihrer Verwendung Zusätzliche Variable 874
Volkszählung Fragen: lesen und Gesamte erwachsene Kanada, USA Handschriften: Alter, Geschlecht, Beruf,
schreiben, Bevölkerung (theoretisch); 19. Jahrhundert Geburtsort, Religion, Fa-
lesen/schreiben Alter variabel, z. B. über milienstand und Struktur,
Unterschrift/Zeichen 20 Jahre, 15 Jahre, 10 Jahre Wohnort, wirtschaftliche
(Kanada nur 1851, Daten
1861)
Testamente Unterschrift/Zeichen 20—50% der männlichen Kanada, USA, Kanada ab dem Beruf, Mildtätigkeit, Fami-
erwachsenen Verstorbenen; England, Frankreich 18. Jahrhundert, USA liengröße, Wohnort, Ver-
2—5% der weiblichen er- usw. ab 1660, übrige ab 16./ mögen, Geschlecht
wachsenen Verstorbenen 17. Jahrhundert
Notariatsakte Unterschrift/Zeichen 5—85% der männlichen Kanada, USA Ab dem 18. Jahrhundert Beruf, Wohnort, Wert des
lebenden erwachsenen Landes, Art des Verkaufs
Landbesitzer; 1% oder
weniger der Frauen
Inventare In Büchern verzeichne- 25—60% der männlichen Kanada, USA, Ab dem 17. Jahrhundert Wie bei Testamenten
ter Besitz erwachsenen Verstorbenen; England, Frankreich (Quantität variiert nach
3—10% der weiblichen er- usw. Land und Datum)
wachsenen Verstorbenen
Depositen Unterschriften/Zeichen Unsicher; möglicherweise Kanada, USA, Ab dem 17. Jahrhundert Ev. Alter, Beruf, Ge-
selektiver als Testamente, England, Europa (Gebrauch und Erhal- schlecht, Geburtsort,
möglicherweise umfassen- tung variiert) Wohnort
der, Frauen manchmal in-
kludiert
Heiratsregister Unterschrift/Zeichen Fast alle (80% +) jungen England, Ab 1754 in England; ab Beruf, Alter, Geschlecht,
Männer und Frauen, die Frankreich, 1650 in Frankreich Name u. Beruf der Eltern,
heiraten (in England) Nordamerika Wohnort (Religion —
Nordamerika)
VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit
Katechetische Lesen, Auswendig- Unklar, scheint jedoch sehr Schweden, Finnland Nach 1620 Beruf, Alter, Zensusklasse,
Prüfungsauf- lernen, Verständnis, verbreitet Wohnort, Name und Stand
zeichnungen Schreibprüfungen der Eltern, Familiengröße,
Ortswechsel, periodische
Verbesserung
Ansuchen Unterschrift/Zeichen Unsicher, möglicherweise Kanada, USA, Ab dem 18. Jahrhundert Beruf oder Stand,
sehr selektiv, meistens nur England, Europa Geschlecht, Wohnort,
Männer Ansichten über Politik und
Gesellschaft
Rekrutierungs- Unterschrift/Zeichen Wehrpflichtige oder Europa, bes. Frank- 19. Jahrhundert Beruf, Gesundheitszustand,
listen oder Frage nach Lesen Rekruten (nur Männer) reich Alter, Wohnort, Bildung
und Schreiben
Strafregister Fragen: lesen, gut lesen Alle Inhaftierten Kanada, USA, 19. Jahrhundert Beruf, Alter, Geschlecht,
usw. England Religion, Geburtsort,
Wohnort, Familienstand,
Sitten und Gewohnheiten,
Angaben über Verbrechen
Geschäfts- Unterschrift/Zeichen 1. Alle Angestellten Kanada, USA, 19.—20. Jahrhundert 1. Beruf, Löhne
unterlagen 2. Kunden England, Europa 2. Konsumniveau, Wohn-
ort, Kredit

Bibliotheksauf- Entlehnte Bücher Mitglieder oder Entlehner Kanada, USA, Spätes 18., frühes Titel der entliehenen Bü-
72. Entwicklung von Literalität Alphabetisierung in England und Nordamerika

zeichnungen England 19. Jahrhundert cher, Mitgliedschaft in


einem Klub
Anträge (Land, Unterschrift/Zeichen Alle Antragsteller Kanada, USA, 19.—20. Jahrhundert Beruf, Wohnort, Familien-
Arbeit, Pension England, Europa geschichte
etc.)
Zusammen- Fragen oder direkte Variiert stark Kanada, USA, 19.—20. Jahrhundert Einige oder alle der oben
fassende 1 Tests England, Europa angeführten
Datenquellen

1 Volkszählungen, Bildungsumfragen, Berichte von Statistischen Ämtern, Sozialberichte, Berichte von Regierungsausschüssen, Gefängnisaufzeichnungen usw.

Abb. 72.1: Quellen für die historische Untersuchung von Literalität in Nordamerika und Europa (Graff 1991, 6, 18 f)
875
876 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

in England und Nordam erika über Jahrhun- Kreuzen, signiert waren. So gibt es aber auch
derte hinweg ständig geändert. kom plette Strafregister aller Inhaftierten eini-
So wurde beispielsweise in England im Mit- ger Anstalten des 19. Jahrhunderts, in denen
telalter ein sehr hoher elitärer Standard an- die Antworten der Insassen auf die Frage
gesetzt. Als alphabetisiert oder literatus wurde nach ihren Lesekenntnissen verm erkt sind
bezeichnet, wer Übung im Lesen und Diktie- (Graff 1987).
ren lateinischer Texte hatte, nicht aber not-
wendigerweise das Handwerk des Schreibens 1.4. Quellen
selber ausübte. Dies wurde vom Berufsschrei-
ber ausgeübt, der nicht zu den Alphabetisier- Auch die für die historische Untersuchung
ten zählte (→ Art. 4). Der typische Vertreter von Alphabetisierung in England und Nord-
des m ittelalterlichen englischen literatus war am erika herangezogenen Quellen ergeben ein
ein Mann, der das Ideal des Gelehrten klas- unvollständiges Bild. Seit dem 16./17. Jahr-
sischer Bildung verkörperte. Da die Mehrheit hundert wurden in England und den USA, in
derjenigen, die Latein lesen konnten, Kir- Kanada seit dem 18. Jahrhundert Unter-
chenm änner waren, wurden die Begriffe cle- schriften unter Testam enten ausgewertet, seit
ricus und literatus ab dem 12. Jahrhundert in dem 17. Jahrhundert in allen drei Ländern
England als Synonym e gebraucht (Clanchy Inventare des in Büchern verzeichneten Be-
1993). Später galt viele Jahrhunderte lang in sitzes sowie Depositen, seit dem 18. Jahrhun-
England und Nordam erika derjenige als dert in Kanada und den USA Notariatsakten,
alphabetisiert, der seine eigene Unterschrift seit 1754 in England Heiratsregister, seit dem
leisten konnte. Im Laufe dieses Jahrhun- 18. Jahrhundert in allen drei Ländern Ansu-
derts wurden die Ansprüche im m er höher ge- chen, im späten 18./frühen 19. Jahrhundert
schraubt. Während in den USA beispielsweise Bibliotheksaufzeichnungen, im 19. Jahrhun-
1929 der Abschluß von 4 Schuljahren als ein- dert Strafregister, in Kanada und den USA
ziges Kriterium für eine erfolgreiche Alpha- auch Volkszählungen und schließlich im 19.
betisierung genannt wird, 1947 der von 5 und und 20. Jahrhundert wiederum in allen drei
1980 bereits der von 8 Schuljahren, wird in Ländern Geschäftsunterlagen, Antragsfor-
den neunziger Jahren diskutiert, ob 12 Jahre m ulare, Volkszählungen, Bildungsum fragen,
Schulbesuch zum Alphabetisiertsein ausrei- Sozialberichte, Berichte von Regierungs-
chen (Eurich 1990, 225). Die inhaltlichen An- ausschüssen, Gefängnisaufzeichnungen usw.
forderungen reichen vom Lesen einer Zei- (Graff 1987); vgl. Abb. 72.1.
tungsannonce, Adressieren eines Briefum - Auf dieser schwankenden, heterogenen Ba-
schlags, Ausfüllen eines Form ulars oder dem sis unterschiedlichster Definitionen, Stan-
Lesen eines Stadtplans bis hin zum Lesen und dards, Erhebungsm ethoden und Quellenm a-
Interpretieren eines kom plizierten, m it Me- terialien wird der Vergleich zwischen Alpha-
taphern und literarischen Anspielungen ge- betisierung dam als und heute, von Land zu
spickten Textes, dessen Aussage auf andere Land, selbst innerhalb eines Landes zur sel-
Situationen anzuwenden ist. ben Zeit absurd und die Interpretation histo-
rischer Daten zum Roulettespiel. Welche hi-
storische Aussagekraft hat zum Beispiel die
1.3. Erhebungsmethoden Feststellung, daß beim Eintritt der USA in
Auch das Spektrum der Erhebungsm ethoden den ersten Weltkrieg 25% der am erikanischen
ist breit. Es reicht vom Auszählen von Un- Soldaten Analphabeten waren (Gordon, Pon-
terschriften (Clanchy 1993; Schofield 1968) ticell & Morgan 1991, 22)? Was bedeutet die
über die Selbsteinschätzung bis hin zu kom - Tatsache, daß beispielsweise in der Diözese
plexen Tests und Interviews. Da viele frühe Norwich in England im Zeitraum von 1580
Dokum ente verschollen, andere zufällig und bis 1700 85% der Arbeiter Dokum ente nicht
oft nur schlecht erhalten sind, verleiten die unterschreiben (Cressy 1981, 108), sondern
erhaltenen Schriftzeugnisse leicht zu Speku- nur m it drei Kreuzen abzeichnen konnten, wo
lationen. Der jeweilige Personenkreis variiert noch nicht einm al sicher ist, ob dies nicht
in Größe, Altersgruppe, Geschlecht, Berufs- eher Ausdruck der Gottesfurcht von durchaus
zugehörigkeit und Nationalität. So konnten Schreibkundigen war? Was nützt es, als Beleg
beispielsweise je nach Land 20—50% der Te- für das Alphabetisiertsein im England nach
stam ente m ännlicher, 2—5% weiblicher Ver- der norm annischen Eroberung im Jahre 1066,
storbener des 16./17. Jahrhunderts darauf als es nebeneinander eine weltliche und eine
überprüft werden, ob sie m it der Unterschrift geistliche Rechtssprechung gab, das Bestehen
oder nur m it Zeichen, wie den bekannten drei des den Gesetzesüberschreitern üblicherweise
72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika 877

vorgelegten Lesetests anzuführen, m it dem die nachzuweisen. Während vor den wirtschaft-
Kleriker von den Laien unterschieden werden lichen Einbrüchen die eingeschränkten Lese-
sollten? Verm utet m an doch, daß viele Laien und Schreibfertigkeiten für Arbeiter in einer
die norm alerweise als Lesetest vorgelegten Autofabrik oder in einem Stahlwerk anschei-
Verse des 51. Psalm s auswendig gelernt hat- nend kein ernstzunehm endes wirtschaftliches
ten, um das Lesen vortäuschen und so in den Handicap darstellten, wird denselben Arbei-
Genuß der m ilderen kirchlichen Rechtsspre- tern, als neu entdeckte Analphabeten stig-
chung kom m en zu können — und dam it in m atisiert, die Schuld an der Rezession zuge-
die Statistik der alphabetisierten Kleriker auf- wiesen. Hat der Analphabetism us dieser Ar-
genommen wurden (Levine 1985, 61). beiter die wirtschaftliche Rezession verur-
So fragm entarisch und fragwürdig diese sacht oder ist deren Ausgrenzung Folge weit-
auf so unterschiedlichsten Grundlagen und reichender wirtschaftlicher und technologi-
Definitionen von Alphabetism us basierenden scher Veränderungen?
Zahlen sein m ögen, so häufig wurde ihr An- Nach Graff (1991 a, 10 f) stellt „die Bezie-
steigen in der ab etwa 1960 aufkom m enden hung zwischen Alphabetisierung und den
Historiographie der Alphabetisierung positi- Prozessen wirtschaftlicher Entwicklung ...
vistisch interpretiert und als Ursache von ge- eines der herausragendsten Beispiele wider-
sellschaftlichen Prozessen angesehen (wie bei- sprüchlicher Muster dar. Entgegen Populär-
spielsweise Modernisierung, Entwicklung, wissenschaft und Gelehrtenweisheit fanden
Urbanisierung, Industrialisierung, höherer fi- die Haupt(fort)schritte in Handel, Kom m erz
nanzieller Einkom m en des einzelnen, ökono- und sogar in der Industrie zu Zeiten und an
m ischer Entwicklung der Gesellschaft, höhe- Orten m it erstaunlich niedriger Alphabetisie-
rer Zivilisationsstufe, größeren dem okrati- rung statt; andererseits haben sich die höhe-
schen Bewußtseins und Verhalten, differen- ren Alphabetisierungsniveaus nicht als Sti-
zierterer Form en des Denkens und der Ab- m uli für die m oderne ökonom ische Entwick-
straktion). Die Suche nach Kausalitäten und lung erwiesen“ (Übers. d. Verf.). Dennoch
Lösungen der gegenwärtigen sogenannten Al- durchzieht der Ruf nach Alphabetisierung als
phabetisierungskrise Englands und Nordam e- Vorbedingung für individuelles und nationa-
rikas hat viele dieser tradierten, m it der Ent- les wirtschaftliches Wachstum bis in die Ge-
wicklung von Alphabetisierung assoziierten genwart hinein die Geschichte der Alphabe-
Erkenntnisse und „Mythen“ (Graff 1979) auf- tisierung — oft geäußert, selten belegt, erst in
gebrochen, ihren widersprüchlichen Charak- letzter Zeit kritisch hinterfragt und als wider-
ter aufgezeigt, ihre Einbettung in kom plexe sprüchlich erkannt. So war beispielsweise der
gesellschaftliche Vorgänge bestätigt und so zu der am erikanischen Industrie nahestehende
einer neuen Sichtweise der Entwicklung der Horace Mann, der von 1837 bis 1848 Secre-
Alphabetisierung beigetragen. Aus diesem tary des Massachusetts Board of Education
Blickwinkel wird im folgenden der Versuch war, ein vehem enter Verfechter der Ansicht,
unternom m en, drei der herköm m lichen Kor- daß eine Nation, je besser sie alphabetisiert
relationen zu hinterfragen: Alphabetisierung sei, desto schneller nicht nur den m oralischen
bedeutet ökonom ischen Fortschritt (Zf. 2); und intellektuellen, sondern vor allem den
allgem eine Schulpflicht bedeutet universale m ateriellen und kollektiven Reichtum ihrer
Alphabetisierung (Zf. 3); Alphabetisierung ist weniger gebildeten Nachbarn in den Schatten
Voraussetzung für die Teilnahm e an dem o- stellen und überflügeln könne (Stevens 1987,
kratischen Prozessen (Zf. 4). 118 f). In Kanada äußerte sich 1848 ganz ähn-
lich Egerton Ryerson, der Chief Superinten-
dent of Education für Westkanada, indem er
2. Bedeutet Alphabetisierung darauf hinwies, daß jeder Mechaniker lesen
ökonomischen Fortschritt? und schreiben können m üsse, daß schulisch
Aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der gebildete Arbeitskraft produktiver sei als
70er Jahre des 20. Jahrhunderts sind in Eng- nicht schulisch gebildete Arbeitskraft (Graff
land und Nordam erika viele Menschen ar- 1987, 162). Mehr als hundert Jahre später
beitslos geworden. Beim Versuch eines Ar- richtet die Regierung in den USA einen of-
beitsplatzwechsels scheitern viele von ihnen fenen Brief m it dem Titel „A Nation at Risk„
an der Unfähigkeit, die nötigen Form ulare an die am erikanische Bevölkerung, in dem sie
auszufüllen oder das in Arbeitseintrittstests als Auslöser des drohenden Niedergangs der
erwartete Schreib-, Lese- und Rechenniveau USA als wettbewerbsfähiger Wirtschafts-
m acht die rudim entären Schreib-, Lese- und
878 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Rechenkenntnisse von 23 Millionen erwach- und Wirtschaftswachstum ins Wanken bringt.


senen plus 13% aller 17jährigen Am erikaner In einer auf Interviews m it US-am erikani-
anprangert. Erwähnt werden auch die Un- schen Arbeitern basierenden Studie weist sie
sum m en von Geldern, die die Wirtschaft und nach, daß auch heutzutage aus der Sicht der
das Militär jährlich für Alphabetisierungs- Arbeiter sowohl die bei Arbeitsantritt ver-
kurse der Arbeitnehm er bzw. der Soldaten langten als auch die in Kursen angebotenen
ausgeben m üssen (National Com m ission Alphabetisierungskenntnisse für den Arbeits-
1983, 8 f). Am häufigsten und auch am kon- prozeß nicht nur nicht erforderlich, sondern
troversesten wird in diesem Zusam m enhang sogar dysfunktional sind. Sie legt die Ver-
die Industrielle Revolution Englands disku- m utung nahe, daß der Taylorism us nach wie
tiert. Cipolla (1969) ist davon überzeugt, daß vor seine Opfer verlangt, Alphabetisierung als
das hohe Alphabetisierungsniveau Englands Mittel zur Integration und zur Anpassung an
um 1750 Ursache für das im Vergleich zu m echanisierte Arbeitsprozesse benutzt wird,
anderen Ländern verhältnism äßig frühe Ein- statt die Arbeitsbedingungen an die Men-
treten der Industriellen Revolution in Eng- schen anzupassen.
land ist. Sie scheint das Beispiel zu sein, das
die von den Arbeitskraftkapital-Theoretikern
Bowm an und Anderson erarbeitete Regel be- 3. Bedeutet allgemeine Schulpflicht
weist, daß zum wirtschaftlichen Aufschwung universale Alphabetisierung?
einer Nation 40% der Bevölkerung alphabe- Spätestens nach Einführung der allgem einen
tisiert sein m üssen. Schofield (1981) und Graff Prim arschulpflicht in England 1870 (Elem en-
(1987) stehen dieser These skeptisch gegen- tary Education Act), in Kanada 1859 (Public
über. Weit wichtiger als die Alphabetisierung Instruction Act) und in den Vereinigten Staa-
ist ihrer Meinung nach im Prozeß der öko- ten von Am erika 1918 (Com pulsory School
nom ischen Entwicklung die Um stellung des Attendance Law) war m an hier wie in anderen
Arbeitskräftepotentials auf bisher unge- westlichen Industrienationen von einer fast
wohnte Arbeitsweisen der Fabrikarbeit, die hundertprozentigen Alphabetisierung der Be-
Gewöhnung an strikte industrielle Verhal- völkerung überzeugt. Etwa seit Anfang der
tensweisen, Regeln und Rhythm en. Das dis- 70er Jahre wurde jedoch m it der strukturellen
ziplinierende und assim ilierende Potential von Arbeitslosigkeit ein neues Phänom en des
Alphabetisierung, nicht aber die Fähigkeit des Analphabetism us erkannt: Viele Menschen —
Lesens, Schreibens und Rechnens scheint in in den USA nim m t m an bis zu 30% an —,
diesem Um stellungsprozeß relevant und von die m indestens 8 Jahre lang die Schule besucht
Politikern, wie beispielsweise Horace Mann haben, können zwar einzelne Buchstaben ent-
oder Egerton Ryerson, frühzeitig erkannt und ziffern und schreiben, sie aber nicht zum Sinn-
als Motor der kapitalistischen Marktwirt- zusam m enhang verbinden und schon gar
schaft eingesetzt worden zu sein (Stevens nicht kom plexe Texte m it Verständnis aufneh-
1987; Graff 1987). Zensusdaten des vorigen m en oder schreiben. Hat die Schule versagt?
Jahrhunderts ethnographisch neu interpretie- Ist die Schule hinter den Ansprüchen techni-
rend, hat Graff in einer Untersuchung der sierter Gesellschaften zurückgeblieben? Sind
Arbeits- und Lebensverhältnisse in drei Städ- die Lehr- und Lernm ethoden veraltet? Ist das
ten der kanadischen Provinz Ontario zur Zeit Niveau der Lehrerausbildung gesunken?
Ryersons herausgefunden, daß alphabetisierte Sowohl in England, Kanada und den USA
und nicht-alphabetisierte Personen dort in werden Stim m en laut, die die Schuld an der
fast allen Arbeiter- und Handwerksberufen verm eintlichen Alphabetisierungskrise den
vertreten waren. Analphabetism us war offen- Schulen zuweisen. Regierungen und Wirt-
sichtlich weit weniger eine Ursache von wirt- schaftskreise klagen, Gelder in kom pensie-
schaftlicher Benachteiligung als die in diesen rende, von den Schulen nicht m ehr gewähr-
Städten herrschenden Vorurteile gegen eth- leistete Alphabetisierungsm aßnahm en inve-
nische Minderheiten. Gekoppelt m it der Zu- stieren zu m üssen. Die Form el „Allgem eine
gehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit Schulpflicht bedeutet allgem eine Alphabeti-
wirkte Analphabetism us sich nachteilig aus; sierung“ geht nicht mehr auf.
Analphabetism us ist hier m ehr ein Sym ptom England, Kanada und die USA (nur die
als eine Ursache von wirtschaftlicher Benach- weiße Bevölkerung der USA) waren bereits
teiligung. Hull (1993) bestätigt, daß der eth- vor Einführung der allgem einen Schulpflicht
nographische Forschungsansatz die positivi- weitgehend alphabetisiert. Lange vor Einfüh-
stische Beziehung zwischen Alphabetisierung
72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika 879

rung der staatlichen Schule wurden Kinder ringe Bedeutung zugem essen; wie in den Petty
im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrich- Schools wurden nur diejenigen im Schreiben
tet, wobei allerdings das Verm itteln von Le- und anschließend auch im Rechnen unterrich-
sekenntnissen weitaus stärker verbreitet war tet, die verhältnism äßig „gut“ lesen konnten.
als das von Schreibkenntnissen. In England Ab 1780 wurden Sonntagsschulen gegründet,
vertrauten Eltern im frühen Mittelalter Kin- die sich noch ausschließlicher auf Moral- und
der, die sie in der Kunst des Schreibens aus- Religionsunterricht beschränkten und ledig-
bilden lassen wollten, den Klöstern an. Spä- lich m inim ale Lesekenntnisse verm ittelten —
testens seit dem späten Mittelalter gab es pri- was Engels übrigens m it der Bem erkung kom -
vate kirchliche Grammar Schools, in denen m entierte, daß in England die Sonntagsschu-
zunächst die zukünftige Priesterschaft, seit len der Staatskirche, der Quäker und zahlrei-
dem 15. Jahrhundert auch der Landadel im cher anderer Sekten das Schreiben nicht lehr-
Lesen der lateinischen Sprache und Gram - ten, da es für sonntags eine zu weltliche Ange-
m atik unterrichtet wurde (Schofield 1968, legenheit sei (Cipolla 1969, 34). Im 19. Jahr-
316 f). Schließlich besuchten auch Kinder hundert schließlich expandierte das Er-
niedrigerer sozialer Schichten diese Schulen, ziehungswesen stark durch die Schulgründun-
um sie jedoch m eist nach dem Erwerb m ini- gen der „Nationalen Gesellschaft für die
m aler Kenntnisse wieder zu verlassen. Mit der Ausbildung der Arm en nach den festgefügten
Reform ation begann im 16. Jahrhundert, un- Grundsätzen der einen Kirche„. Aus Sorge
terstützt durch die Erfindung des Buchdrucks vor den m oralisch zersetzenden Auswirkun-
und des billigen Papiers, die Verbreitung der gen einer gottlosen Erziehung wurde auch ein
Bibel in der Landessprache. Während der Ka- gewisses Maß an m oralischer und religiöser
tholizism us eine Bildkultur blieb, die das Le- Erziehung beibehalten.
sen der Bibel in der Landessprache per Gesetz Daneben gab es im 19. Jahrhundert auch
verbot, war der Protestantism us eine Schrift- Schulen, die unterschiedlichen Institutionen
kultur. Im Kam pf gegen den Katholizism us angegliedert waren, wie Workhouse Schools
war es Absicht des Protestantism us, dessen und Industrial Schools, zu deren Besuch die
Kom m unikationsm ittel durch ein anderes zu Kinder von ihren Arbeitgebern freigestellt
ersetzen. „Gottes Volk sollte ein literates Volk werden sollten. Doch Unwilligkeit auf seiten
sein, eines, das Gottes Wort aus dem Studium der Arbeitgeber wie auch der Kinder führte
der gedruckten Seite entnim m t“ (Stone 1991, zu unregelm äßigem Schulbesuch und dadurch
150). Um die Arm en der Religion näher zu wahrscheinlich zu nicht m ehr als fehlerhaften
bringen, erachteten es die Katholiken für not- Lesekenntnissen. Eine Erziehung zu Diszi-
wendig, „das Abbild zu verehren“, während plin, Pünktlichkeit und Anpassungsfähigkeit
es die Protestanten vorzogen, die Menschen lag weit m ehr im Interesse der Arbeitgeber.
bibelfest zu erziehen. Seit dem 16. Jahrhun- Die lange Zeit existierende Dame School, in
dert gab es eine Anzahl sogenannter Petty der m eist eine ältere Frau in ihrer Wohnung
Schools, in denen nach Erlernen des Lesens rudim entäre Lese- und Schreibkenntnisse ver-
auch das Schreiben unterrichtet wurde. Im m ittelte, starb im 19. Jahrhundert allm ählich
späten 16. Jahrhundert begann sich der Le- aus. Der religiöse Wettkam pf der verschie-
seunterricht in englischer gegen den in latei- denen Kirchen und Sekten des nachreform i-
nischer Sprache durchzusetzen. Seit dem 17. stischen religiösen Pluralism us jedoch endete
Jahrhundert gab es neben den Grammar nicht m it der Einführung der allgem einen
Schools eine Reihe von Privatschulen, deren Schulpflicht durch das Ausbildungsgesetz von
Besuch sehr teuer war und dam it ausschließ- 1870, das staatliche Unterstützung für die be-
lich den Kindern wohlhabender Eltern vor- stehenden kirchlichen Schulen vorsah. Das
behalten blieb. Der Mangel an Bildungsein- Gesetz wurde von m anchen als Instrum ent
richtungen für die Arm en bis zum Ende des betrachtet, die seit kurzer Zeit wahlberech-
17. Jahrhunderts erregte Sorge um die sozia- tigte Arbeiterschicht den Nonkonform isten
len und m oralischen Folgen des Fehlens eines abspenstig zu m achen, „über subtile und un-
Unterrichts in den christlichen Glaubensarti- lautere Methoden der Nation das Messer an
keln. Zur Abschaffung dieses Mangels wur- den Hals zu setzen, ein Messer, das sich
den m it Spendenm itteln Arm enschulen ge- Schule nennt, in denen der priesterliche Ein-
gründet, deren Schwerpunkt auf m oralischem fluß Dom inanz hätte, und in denen gearbeitet
und religiösem Unterricht lag. Dem Unter- würde ... für die Macht der Tories und ihre
richt im Lesen und Schreiben wurde nur ge- Politik.“ (The Congregationalist. 31. Jan.
1872. In: Stone 1991, 152).
880 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Auch in Nordam erika wurden Kinder tism us, Nationenbildung und Industrialisie-
lange vor Einführung der allgem einen staat- rung (Stevens 1987, 99; Castell & Luke 1986,
lichen Schulpflicht in privaten und Gem ein- 95). Alphabetisierung war das Instrum ent zur
deschulen unterrichtet. Die Alphabetisierung Förderung des m oralischen und zivilen Ge-
des „gewöhnlichen“ Kindes fand im Eltern- horsam s, der nationalen Zusam m engehörig-
haus, in der Kirche, in Geschäften oder in keit. Zu diesem Zweck wurden die protestan-
Arm enschulen statt. Die m eisten Gem einden tischen Methoden des sturen und repetitiven
hatten einklassige Schulen, in denen Kinder Katechism uslernens übernom m en. Lesen be-
unterschiedlicher Altersstufen, deren Arbeits- deutete prim är Mem orieren, um auf vom
kraft von ihren Fam ilien nicht benötigt Lehrer gestellte Fragen die antizipierte Ant-
wurde, neben Lese-, Schreib- und Rechenun- wort geben zu können. Mangel an kritischer
terricht Moral- und Religionsunterricht er- Reflexion und die Unfähigkeit, das Erlernte
hielten. Die Kinder wohlhabender Eltern be- situativ anwenden zu können, sind nicht An-
suchten elitäre private Lateinschulen. Trotz zeichen eines Verfalls der schulischen Alpha-
der recht unterschiedlichen Verm ittlung betisierung, sondern Sym ptom eines lang an-
sprachlicher Kom petenz und Wissenstoffs dauernden durch die Alphabetisierungskrise
scheint die Mischung aus form alem und in- aufgedeckten Prozesses (Resnick, L. 1990,
form alem Unterricht, aus Fam ilien- und Kir- 21). Durch die Einführung der allgem einen
chen- und Arbeitsplatzerziehung (Lehre) eine Schulpflicht ist die Schule in England und
weitgehend alphabetisierte Bevölkerung her- Nordam erika zur gesetzlich bestim m ten Al-
vorgebracht zu haben. In Kanada war durch phabetisierungsinstitution für alle geworden.
dieses lose organisierte Schulwesen Mitte des Ein gleiches Niveau der Alphabetisierung für
18. Jahrhunderts die Mehrheit der Schüler alle hat sie bisher nicht erreicht und vielleicht
alphabetisiert, in den USA 90% der erwach- auch nicht gewollt (Resnick & Resnick 1977,
senen weißen Bevölkerung (Castell & Luke 370; Kaestle 1991).
1986, 89). Es ist daher zweifelhaft, ob das
prim äre Ziel der Einführung der staatlichen
Schulpflicht die universale Alphabetisierung 4. Ist Alphabetisierung Voraussetzung
war. In Kanada gab es bereits Mitte des 19. für die Teilnahme an
Jahrhunderts, nachdem Egerton Ryerson in demokratischen Prozessen?
Ontario das existierende Schulsystem staat-
„In halb-alphabetisierten Ländern hofieren Dem -
lich zu unterstützen begann, (freiwilligen) Zu-
agogen Teenager“ (Auden in Pattison 1982, 190,
gang zur Schule für alle. Auch in vielen Staa-
Übers. d. Verf.).
ten der USA erhielten Kinder gesetzlich die
„Die Bürger der Vereinigten Staaten m üssen wis-
Möglichkeit des freien Besuchs von Schulen,
sen, daß in unserer Gesellschaft Personen, die nicht
die vorher nur einer kleinen Elite vorbehalten
das für diese neue Ära notwendige ... Alphabeti-
gewesen waren. Auch in Nordam erika war
sierungsniveau besitzen, rechtswirksam das Wahl-
die Verm ittlung von Alphabetisierung be-
recht verlieren werden, nicht nur in bezug auf m a-
stim m t von religiösen, ethischen und ideolo-
teriellen Lohn, der m it guter Leistung einhergeht,
gischen Machtkäm pfen. Theorie und Praxis
sondern auch in bezug auf die Chance, voll an
der Alphabetisierung und des Unterrichts an
unserem nationalen Leben teilzunehm en“ (Natio-
den Lateinschulen wurden weitgehend aus
nal Commission 1983, 7, Übers. d. Verf.).
England übernom m en. Während allerdings
Kanada noch gegen Ende des 19. Jahrhun- Setzen dem okratische Prozesse tatsächlich
derts Lehrpläne und Schulbücher für den alphabetisierte Bürger voraus? Alphabetisiert
Lese-, Schreib- und Rechenunterricht aus zu sein, seit langem öffentlich als Bürgerrecht
England im portierte, hatten die USA inzwi- proklam iert, wird seit der „Alphabetisie-
schen eigene Schulbücher entwickelt, um sich rungskrise“ erneut auch zur Bürgerpflicht er-
von europäischem Kolonialism us zu befreien hoben. Dies war in den USA schon einm al
und eine eigene Sprache, Literatur und ein der Fall, als insbesondere die irischen Ein-
Nationalbewußtsein hervorzubringen. In Ka- wanderer als Ignoranten verschrieen waren:
nada als Land des britischen Com m onwealth 1855 wurde in Connecticut ein Gesetz ver-
dagegen schm ückten britische Flaggen die abschiedet, das den Wählern das erfolgreiche
Klassenräum e, das kanadische Nationalbe- Absolvieren eines Alphabetisierungstests vor-
wußtsein sollte sich am britischen Vorbild ori- schrieb. Jeder Wähler m ußte in der Lage sein,
entieren. Die Alphabetisierung im 19. Jahr- alle Artikel der Verfassung zu lesen. 1857 er-
hundert stand im Kräftefeld von Protestan- ließ Massachusetts einen Test für angehende
Wähler, der eine Schreibkom ponente enthielt.
72.  Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Englandund Nordamerika 881

Mississippi führte 1890 einen Alphabetisie- rung, die kulturelle Entwicklung (zu der er
rungstest ein, der Schwarze von der Wahl die Alphabetisierung zählt) und die Dem o-
ausschließen sollte. Sieben weitere Südstaaten kratisierung Englands als ineinander verwo-
folgten diesem Beispiel (Levine 1986). Die bene Bestandteile einer „langen Revolution“,
Verm utung liegt nahe, daß dam als wie heute die sich von Generation zu Generation fort-
der alphabetisierte Bürger nicht unbedingt als setzt. Gleichzeitig bleibt das Wechselspiel zwi-
der dem okratischere, sondern als der beein- schen. Industrialisierung, Schulpflicht, De-
flußbarere erwünscht ist. Bieten aber um ge- m okratie und der Alphabetisierung wider-
kehrt die englischen und nordam erikanischen sprüchlich. Am bivalent bleibt auch die Be-
Dem okratien auch gleiche Alphabetisierung- wertung der Expansion von Alphabetisie-
schancen für jederm ann? Frauen und Mi- rung:
granten sowie die schwarze Bevölkerung der „Kein Them a [der Geschichte der lesenden
USA waren lange von der Alphabetisierung Öffentlichkeit] ist zentraler in unserer Kultur-
ganz ausgeschlossen. Die gesetzlich gewährte geschichte, denn der Diskurs über Qualität
Möglichkeit des Zugangs zur Schule hat die und der Diskurs über Dem okratie sind hier
soziale Stratifikation nicht grundlegend ver- untrennbar erscheinend m iteinander verfloch-
ändern können. Mit der Alphabetisierung ten, und dies hat den kulturellen Diskurs im -
verm itteltes staatlich kontrolliertes bürgerli- m er wieder in eine Sackgasse geführt, was
ches Wissen — oft gar in einer Unterrichts- zutiefst entm utigend und verwirrend ist„
sprache vorgetragen, die nicht die Mutter- (Williams 1961, 158, Übers. d. Verf.).
sprache ist — hat oft eher zur Ausgrenzung
als zur beabsichtigten Assim ilation beigetra-
gen (Botstein 1990). Ogbu (1990, 1992) hat 6. Literatur
in m ehreren Forschungsarbeiten nachgewie-
Barr, Rebecca, Kam m il, Michal L., Mosenthal, Pe-
sen, daß der Analphabetism us der von ihm
ter B. & Pearson, P, David (ed.). 1991. Handbook
beschriebenen Minderheitsgruppen nicht Ur-
of reading research vol. 2. New York.
sache, sondern Folge ihrer Ausgrenzung ist.
Dies bedeutet nicht allein, daß viele Men- Botstein, Leon. 1990. Dam aged literacy. Illiteracies
schen, die das Lesen und Schreiben noch nicht and American democracy. Daedalus 119, 55—84.
erlernt haben, aus einem Lebenskontext aus- Calam ai, Peter. 1987. Broken words. Why 5 m illion
gegrenzt sind, in dem das Anwenden dieser Canadians are illiterate. The Southam literacy re-
Fähigkeiten sinnvoll wäre. Darüber hinaus port. Toronto.
bleibt ihnen — legitim iert durch die Dem o- Cassidy, Jack & Gray, Mary Ann. 1992. United
kratie — der Weg zur Alphabetisierung ver- States. In: Hladczuk & Eller, 413—436.
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73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 883

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present. 1969, no. 42, 77—82.] 1978].
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(ed.). 1981. Writing. The nature, developm ent, and London.
teaching of written com m unication. Hillsdale,
N. J.] Ursula Giere, Hamburg (Deutschland)

73. Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

1. Zur Themenstellung m an lange Zeit an, deren Bevölkerung sei


2. Analphabetismus alphabetisiert. Die allgem eine Durchsetzung
— Probleme einer Defini- der Schulpflicht schien die Verm ittlung lite-
tion raler Fähigkeiten in einem hinreichenden
3. Die Entstehung des Analphabetismus Maße zu garantieren. Wurden dennoch An-
4. Konzepte der Alphabetisierung alphabeten auffällig, so hielt m an diese für
5. Möglichkeiten der Prävention von Analpha- tragische Einzelfälle. In der Tat waren Ein-
betismus zelschicksale bekannt: Fehlende Beschulung
6. Literatur aufgrund von Kriegsfolgen, Flucht und Ver-
treibung; auch galten Kinder von fahrenden
Berufsgruppen (Schausteller, Kesselflicker)
1. Zur Themenstellung und sozialen Randgruppen (wie angehörige
Die Them enstellung scheint auf den ersten nichtseßhafter Minoritäten) als potentielle
Blick paradox zu sein: Ein Merkm al für ein Analphabeten. Auch war vorstellbar, daß ein-
entwickeltes Industrieland ist eine weitgehend zelne Individuen aufgrund m angelhafter kog-
literale Bevölkerung. So wurde gerade für die nitiver Voraussetzungen nicht lesen und
Entwicklungsländer in der fehlenden Alpha- schreiben lernten (Analphabetism us als Aus-
betisierung eines Großteils der Bevölkerung druck m angelnder Intelligenz). Dies alles war
ein Hem m nis für eine rasche ökonom ische jedoch kein Grund, sich m it dem Niveau der
Entwicklung gesehen (vgl. UNESCO 1965, allgem einen Literalität zu beschäftigen. So
wurde der Aspekt der Alphabetisiertheit seit
1969). Aufgrund solcher Überlegungen hat 1912 bei den Volkszählungen im Deutschen
die UNESCO seit ihrer Gründung im Jahre Reich nicht m ehr berücksichtigt: Die Men-
1946 eine Vielzahl von Alphabetisierungs- schen, die sich nicht als alphabetisiert aus-
kam pagnen in allen Regionen der Welt un- weisen konnten, die also bei der Rekrutie-
terstützt (vgl. als Überblick die kom m entie- rung, der Heirat oder der dem zuständigem
rende Bibliographie: Giere, Ouana & Rana- Am t persönlich vorgetragenen Geburtsan-
weera 1990; vgl. auch die Sam m elbände Dave, zeige eines Kindes nicht m it dem eigenen Na-
Ouane & Perera 1986; Dave, Ouane & Ra- m en unterschreiben konnten, gab es praktisch
naweera 1986; Dave, Perera & Ouane 1984 nicht m ehr. Seither lebten die Menschen in
und Dave, Perera & Ouane 1985, die einen den Industriegesellschaften in dem Glauben,
Überblick geben über die jüngeren Alphabe- jeder Mensch sei literal.
tisierungsbem ühungen in Entwicklungslän- Dies änderte sich in den sechziger Jahren,
dern, sowie die Artikel 62—71 in diesem als zunächst in Ländern m it Berufsarm een
Handbuch). Für die Industrieländer nahm
73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 883

Stagl, Gitta, Dvorak, Johann & Jochum , Manfred Thom pson, E. P. 1988. The m aking of the English
(ed.). 1991. Literatur, Lektüre, Literalität. Wien. working class. Harm ondsworth.[reprint of the 1980
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Arnove, Robert, F. & Graff, Harvey J. (ed.). Na- laity in the Middle Ages. New York. (Research and
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Stone, Lawrence. 1991. Nachweis für Literalität. strum ents V3, B4. Paris. [Adopted by the General
In: Stagl et al., 147—154. [Übers. aus Past and Conference at its 20th session, Paris, 27 Novem ber
present. 1969, no. 42, 77—82.] 1978].
Szwed, John F. 1988. The ethnography of literacy. Venezky, Richard L. 1991. The developm ent of
In: Kintgen, Eugene R., Kroll, Barry M. & Rose, literacy in the industrialized nations of the West.
Mike (ed.). Perspectives on literacy. Carbondale, In: Barr et al., 46—67.
303—311. [repr. from Whitem an, Marcia Farr William s, Raym ond. 1961. The long revolution.
(ed.). 1981. Writing. The nature, developm ent, and London.
teaching of written com m unication. Hillsdale,
N. J.] Ursula Giere, Hamburg (Deutschland)

73. Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern

1. Zur Themenstellung m an lange Zeit an, deren Bevölkerung sei


2. Analphabetismus alphabetisiert. Die allgem eine Durchsetzung
— Probleme einer Defini- der Schulpflicht schien die Verm ittlung lite-
tion raler Fähigkeiten in einem hinreichenden
3. Die Entstehung des Analphabetismus Maße zu garantieren. Wurden dennoch An-
4. Konzepte der Alphabetisierung alphabeten auffällig, so hielt m an diese für
5. Möglichkeiten der Prävention von Analpha- tragische Einzelfälle. In der Tat waren Ein-
betismus zelschicksale bekannt: Fehlende Beschulung
6. Literatur aufgrund von Kriegsfolgen, Flucht und Ver-
treibung; auch galten Kinder von fahrenden
Berufsgruppen (Schausteller, Kesselflicker)
1. Zur Themenstellung und sozialen Randgruppen (wie angehörige
Die Them enstellung scheint auf den ersten nichtseßhafter Minoritäten) als potentielle
Blick paradox zu sein: Ein Merkm al für ein Analphabeten. Auch war vorstellbar, daß ein-
entwickeltes Industrieland ist eine weitgehend zelne Individuen aufgrund m angelhafter kog-
literale Bevölkerung. So wurde gerade für die nitiver Voraussetzungen nicht lesen und
Entwicklungsländer in der fehlenden Alpha- schreiben lernten (Analphabetism us als Aus-
betisierung eines Großteils der Bevölkerung druck m angelnder Intelligenz). Dies alles war
ein Hem m nis für eine rasche ökonom ische jedoch kein Grund, sich m it dem Niveau der
Entwicklung gesehen (vgl. UNESCO 1965, allgem einen Literalität zu beschäftigen. So
wurde der Aspekt der Alphabetisiertheit seit
1969). Aufgrund solcher Überlegungen hat 1912 bei den Volkszählungen im Deutschen
die UNESCO seit ihrer Gründung im Jahre Reich nicht m ehr berücksichtigt: Die Men-
1946 eine Vielzahl von Alphabetisierungs- schen, die sich nicht als alphabetisiert aus-
kam pagnen in allen Regionen der Welt un- weisen konnten, die also bei der Rekrutie-
terstützt (vgl. als Überblick die kom m entie- rung, der Heirat oder der dem zuständigem
rende Bibliographie: Giere, Ouana & Rana- Am t persönlich vorgetragenen Geburtsan-
weera 1990; vgl. auch die Sam m elbände Dave, zeige eines Kindes nicht m it dem eigenen Na-
Ouane & Perera 1986; Dave, Ouane & Ra- m en unterschreiben konnten, gab es praktisch
naweera 1986; Dave, Perera & Ouane 1984 nicht m ehr. Seither lebten die Menschen in
und Dave, Perera & Ouane 1985, die einen den Industriegesellschaften in dem Glauben,
Überblick geben über die jüngeren Alphabe- jeder Mensch sei literal.
tisierungsbem ühungen in Entwicklungslän- Dies änderte sich in den sechziger Jahren,
dern, sowie die Artikel 62—71 in diesem als zunächst in Ländern m it Berufsarm een
Handbuch). Für die Industrieländer nahm
884 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Bedenken an einer hinreichenden Alphabeti- wurde, wenn m an lediglich jenen Teil der Be-
sierung der Soldaten aufkam en; angesichts völkerung zugrunde legte, der jene Sprache,
der kom plizierter werdenden Waffentechno- in der in den Schulen alphabetisiert wird, als
logien erforderten im m er neue Tätigkeiten in Muttersprache spricht. Solche Schätzungen
der Wartung und Bedienung von Waffen die wurden vorgenom m en von Forschern, die
Einbeziehung von kom plexen schriftsprach- sich Ende der 70er Jahre m it der Untersu-
lichen Anteilen. Doch blieb zunächst jene chung von Alphabetisierungsinitiativen be-
Auffassung vorherrschend, daß es sich wei- faßten, die seit Beginn der 70er Jahre in m eh-
terhin um ein Problem kleiner sozialer oder reren Ländern Europas entstanden waren
ethnischer (und sprachlicher) Minoritäten (vgl. Ham m ink 1981; Fisher 1981). Denn es
handele. Nur langsam drang in das öffentliche hatten sich in vielen Ländern bereits in den
Bewußtsein, daß es sich hier um ein grund- 70er Jahren Alphabetisierungsinitiativen ge-
legendes strukturelles Problem in der Ent- bildet, in denen noch keine nationale Koor-
wicklung des Literalitätsniveaus in entwickel- dination der Arbeit stattfand (vgl. hierzu die
ten Gesellschaften handelte. Das Problem Berichte in Drecoll & Müller 1981; dieser
einer m angelhaften allgem einen Literalität Band dokum entiert die erste nationale Kon-
existierte, so wurde zunehm end deutlich, ferenz zur Problem atik des Analphabetism us,
nicht nur in ökonom isch unterentwickelten die in der Bundesrepublik Deutschland statt-
Regionen der Länder m it m angelnder Infra- fand). In Großbritannien lernten 1975 bereits
struktur im Bildungswesen. So nahm m an in 70 000 Erwachsene lesen und schreiben (vgl.
Italien zunächst an, das Problem sei auf Ar- Fisher 1981, 91 f), eine Zahl, die nur verständ-
beiter beschränkt, die in den südlichen Pro- lich wird — auch im Vergleich zu anderen
vinzen eine relativ kurze Schulzeit absolviert Ländern —, wenn m an berücksichtigt, daß
hatten (vgl. Moroni 1981, 106; dort heißt es: die BBC eine große Kam pagne gestartet
„Laut einer nationalweiten Bestandsauf- hatte, in der für das Lesen- und Schreibenler-
nahm e vom Jahre 1971 haben 73% der über nen geworben wurde; diese große Zahl der
15 Jahre alten Italiener keinen Pflichtschulab- Lerner konnte nur erreicht werden, weil sich
schluß, die sogenannte ‘terza m edia’, was dem in Großbritannien auch für die Alphabetisie-
achten Pflichtschuljahr entspricht.“). Doch rung ein System herausbildete, das viele frei-
bald zeigte sich, daß quer durch alle Regionen willige Tutoren integrierte. Doch stellte die
(und auch bei Menschen, die form al ausrei- britische Regierung bereits Mitte der 70er
chend beschult wurden) Problem e bei der Be- Jahre größere Beträge zur Koordination der
wältigung des schriftsprachlichen Alltags be- Alphabetisierungsarbeit zur Verfügung, wie
standen. Auch spätere Untersuchungen in der Fisher (1981) berichtet. Seit 1980 gehört das
Bundesrepublik Deutschland (vgl. Kretsch- Them a in allen entwickelten Industrieländern
m ann et al. 1990, 14 f) nehm en an, daß 4 bis zum Diskurs der Erwachsenenbildung. Viele
5% eines Schülerjahrgangs „ohne ausrei- Regierungen förderten Forschungen zum
chende Schriftsprachkom petenz aus den all- Them a: So gab das Bundesm inisterium für
gem einbildenden Schulen entlassen werden.„ Bildung und Wissenschaft eine Studie in Auf-
Dabei betonen die Autoren, daß ihre (im Ver- trag (vgl. Ehling, Müller & Oswald 1981; Os-
gleich zu anderen in einschlägiger Literatur wald & Müller 1982) und förderte m ehrere
vorfindbaren) Annahm en zu eher niedrigen Projekte, die beim Deutschen Volkshoch-
Zahlen führen. Wenn m an z. B. jene Men- schulverband angesiedelt wurden (vgl. Fuchs-
schen hinzunim m t, die als alphabetisiert gel- Brüninhoff, Kreft & Kropp 1986; Fuchs-Brü-
ten, jedoch aufgrund gravierender schrift- ninhoff, Kreft & Waldm ann 1985; Horn &
sprachlicher Schwierigkeiten (z. B. Recht- Paukens 1985; 1987; Horn, Paukens & Har-
schreibproblem en) auf einen beruflichen Auf- ting 1988; Kreft 1985). Diese Projekte sollten
stieg verzichten (m üssen) und auch im pri- Urachen des Analphabetism us untersuchen,
vaten Bereich schriftliche Tätigkeiten eher die bestehenden Alphabetisierungsinitiativen
verm eiden, so steigt die von Kretschm ann et koordinieren (wobei der Frage nach der Ent-
al. (1990) genannte Zahl beträchtlich. wicklung von Unterrichtskonzepten und -m a-
Spätestens seit 1980 wird das Problem des terialien besondere Bedeutung zukam ) und
Analphabetism us in allen westlichen Indu- den Aspekt Analphabetism us und Medien
striestaaten als gravierend betrachtet. Grob (vgl. hierzu Horn & Paukens 1985; 1987) un-
geschätzt m ußte m an für jedes Land ca. 3 bis tersuchen: Gibt es einen Zusam m enhang zwi-
5% „funktionale Analphabeten“ annehm en, schen der Nutzung von audio-visuellen Me-
wobei der Prozentsatz kaum anders geschätzt dien und dem Analphabetism us? Wie lassen
73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 885

sich die Medien für eine Alphabetisierungs- for enabling him to continue to use reading,
kam pagne nutzen, wie sie z. B. von der BBC writing and calculation for his own and the
gestartet wurde? Im Sam m elband von Fase com m unity’s developm ent.“ (Com m ission of
et al. (1992) finden sich weitere Hinweise auf the European Com m unities 1988 — zit. n.
vergleichbare Regierungsaktivitäten im Rah- Slavenburg 1992, 3: dort wird nachdrücklich
m en der Europäischen Gem einschaft; Espe- betont, daß eine solche Definition für die
randieu, Lion & Benichou (1984) und Freynet Alphabetisierungsarbeit in Industrieländern
(1985; 1986) zeigen die französischen Bem ü- operationalisiert werden m üsse). Eine Ope-
hungen. Daß die Them atik v. a. seit Ende der rationalisierung dieser Definition im Hinblick
70er Jahre auch im Hinblick auf die Indu- auf die Industrieländer ist sicherlich nicht ein-
striestaaten intensiv diskutiert worden ist, fach; sie wird auf einer gründlichen Auswer-
zeigt ein Blick in jüngere einschlägige Biblio- tung der bisherigen Erfahrungen aufbauen
graphien (vgl. Giere & Hautecœur 1990; Giese m üssen. Diese Erfahrungen besagen, daß im
1991; Hubertus 1991 a). In allen westeuropä- Zeitalter der Inform ation und der m odernen
ischen Industrieländern gehört die Alphabe- Kom m unikationstechnologien Schrift keines-
tisierungsarbeit m ittlerweile zum festen Be- falls an Bedeutung verloren hat. Im Gegenteil:
standteil der Erwachsenenbildung. Durch In- Das Anfertigen von kurzen Notizen während
itiative von Praktikern und Forschern und eines Telefongesprächs, die Lagerhaltung m it
m it Unterstützung von UNESCO und der Hilfe einer elektronisch gespeicherten Daten-
Kom m ission der Europäischen Gem einschaft bank, das Lesen von Laufzetteln u. ä. dringt
wird die Alphabetisierungsarbeit m ittlerweile in im m er neue Berufsbereiche vor und ver-
international diskutiert, so z. B. der im m er langt von allen Menschen, die in einer solchen
wichtiger werdende Aspekt der Verbindung Sparte tätig sind, schriftsprachliche Kennt-
von Alphabetisierung und allgem einer Grund- nisse. Im Zuge weiterer Rationalisierung kann
bildung (vgl. Giese & Gläß 1989). v. a. dort eingespart werden, wo Menschen
als kom m unikative Schnittstellen tätig sind:
Die traditionelle Tätigkeit eines Meisters in
2. Analphabetismus — einem KFZ-Reparaturbetrieb, als Mittler
Probleme einer Definition zwischen Kunden, der Werkstatt, der Ersatz-
Der Begriff des „funktionalen Analphabeten„ teillagerhaltung, der Rechnungsabteilung, des
spielte bereits in den Kam pagnen der Verkaufs und anderen Bereichen kann von
UNESCO in der Dritten Welt eine große einem elektronisch gestützten Kom m unika-
Rolle (→ Art. 62—64). Mit diesem Begriff tionssystem übernom m en werden, wenn alle
sollte deutlich gem acht werden, daß der er- an diesem Zusam m enspiel Beteiligten m it die-
forderliche Um fang der alphabetischen Fä- sem kom m unizieren könnten. Dies Beispiel
higkeiten an den Anforderungen der Kultur, zeigt, daß in den entwickelten Industrielän-
in der die Menschen leben, orientiert sein dern tendenziell schriftsprachliche Fähigkei-
m üsse. Das erforderliche Niveau der Litera- ten gefordert werden (und zwar von nahezu
lität kann nicht abstrakt definiert werden, allen Menschen in nahezu allen Arbeitsberei-
sondern m an m uß die Anforderungen, die die chen), die über den engen Betriff des Lesens
Gesellschaft an die Lese-Schreibfähigkeiten und Schreibens hinausgehen und Fähigkeiten
stellt, m it berücksichtigen. Analphabeten im zur technisch verm ittelten schriftlichen Kom -
Wortsinne (also Menschen, die das Alphabet m unikation einschließen. Der Begriff funktio-
nicht kennen) finden wir in den Industrielän- naler Alphabetisiertheit wird in den nächsten
dern nicht. Nahezu jeder, der in der aktuellen Jahren (und sei es unter einem anderen Stich-
Diskussion als Analphabet bezeichnet wird, wort) weiterhin diskutiert werden müssen.
weiß um die Existenz des Alphabets, ist es Zunächst einm al ist festzuhalten, daß jene
doch in seiner Um welt allgegenwärtig. Er Menschen an Alphabetisierungsm aßnahm en
wird als Analphabet bezeichnet, weil er nicht teilnehm en, die große Problem e haben, ihr
lesen und schreiben kann, zum indest nicht in alltägliches Leben zu organisieren: Menschen,
einem Maße, um in seiner Lebensum welt die von Entlassung bedroht sind, die bei Ar-
nicht aufzufallen. Wir zitieren die UNESCO- beitsver
m ittlungsstellen als Analphabeten
Defintion: „A person is functionally illiterate aufgefallen sind und nun als unverm ittelbar
who cannot engage in all those activities in gelten. Auch persönlichere Motive sind vor-
which literacy is required for effective func- findbar: die Angst vor der Einschulung der
tioning of his group and com m unity and also eigenen Kinder, denen m an dann nicht beim
Lesen und Schreiben helfen kann, oder der
886 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Wunsch, sich aus der Abhängigkeit von Per- wordenen Verm ittlung des Lesens und Schrei-
sonen zu befreien, die für die Betroffenen bens in den Schulen annim m t, in m angelnder
schriftsprachliche Tätigkeiten stellvertretend Qualität des schulischen Unterrichts und in
übernehm en. Es finden sich jene in den Al- m angelnden Lernvoraussetzungen der Schü-
phabetisierungsm aßnahm en, deren Schwie- ler, viel zu kurz. Er berücksichtigt nicht die
rigkeiten im alltäglichen Leben so gravierend grundlegende Um gestaltung der ökonom i-
geworden sind, daß sie keinen anderen Aus- schen und kulturellen Lebenszusam m enhänge
weg sehen, als nachträglich lesen und schrei- in den Industrieländern. In diesem Rahm en
ben zu lernen. Neben funktionalem Analpha- wurden nahezu alle Bereiche der Mündlich-
betism us ist auch der Begriff des sekundären keit entzogen und in einen schriftlichen Dis-
Analphabetism us zu erwähnen. Hierm it wird kurs überführt. Dieser Prozeß hat sich gleich-
darauf hingewiesen, daß bei einer Reihe von sam hinter dem Rücken der Handelnden voll-
Analphabeten sich ihr schriftsprachliches Lei- zogen, und nun sind viele von den Konse-
stungsverm ögen nach Beendigung der Schul- quenzen überrascht. Die m odernen Industrie-
zeit zurück entwickelt. Das Niveau schrift- gesellschaften waren lange Zeit noch als
sprachlicher Fähigkeiten m uß relativ hoch m ündliche verfaßt, zum indest was die Mehr-
entwickelt sein (z. B. im Bereich der Ortho- zahl der Menschen, die in ihnen lebten, an-
graphie), dam it es auch dann erhalten bleibt, ging. Dort, wo Schrift den Diskurs dom i-
wenn die Fähigkeiten über längere Zeiträum e nierte, waren die Spezialisten unter sich; dort,
nicht angewendet werden. Nach wie vor gilt wo Schrift das Leben der norm alen Bürger
jedoch, daß die Zahl derjenigen, die an Al- beeinflußte, gab es m enschliche Schnittstellen,
phabetisierungsm aßnahm en teilnehm en, mi Verm ittler zwischen schriftlichen und m ünd-
Verhältnis zur Zahl derjenigen, die als Anal- lichen Kom m unikationszusam m enhängen (z.
phabeten gelten, sehr gering ist. So geben B. Schalterbeam te, Sachbearbeiter für den
Fuchs-Brüninghoff et al. (1986, 44 ff) für 1986 Publikum sverkehr, Verkäufer usw.). Im Rah-
in der Bundesrepublik Deutschland eine Zahl m en von Rationalisierungsm aßnahm en ver-
von knapp 6000 Teilnehm ern (ohne Kurse in schwinden viele solcher m enschlichen Schnitt-
Justizvollzugsanstalten) an; diese Zahl ist stellen; sie werden durch schriftliche (Form -
kontinuierlich gestiegen, da weitere Einrich- blätter, Antragsform ulare) oder m aschinelle
tungen Kurse eingerichtet haben. Dennoch (Autom aten, Term inals) ersetzt. Moderne In-
dürften 1993 kaum m ehr als 12 000 Teilneh- dustriegesellschaften haben alle Nischen ver-
m er in Alphabetisierungskursen Unterricht nichtet, in denen die schlecht alphabetisierten
erhalten. Angesichts der Zahl von derzeit ca. Menschen in der ersten Hälfte dieses Jahr-
30 000 bis 40 000 Schulabgängern, die als hunderts leben konnten: als Hilfsarbeiter in
funktionale Analphabeten bezeichnet werden der Landwirtschaft, auf dem Bau und in den
m üssen (vgl. Kretschm ann u. a. 1990), eine Häfen. Kein Unternehm en ist m ehr bereit,
eher geringe Zahl. zum Wochenende Lohntüten auszuhändigen;
jeder m uß in der Lage sein, ein Konto zu
führen.
3. Die Entstehung des Auch im Bildungswesen selbst kom m t der
Analphabetismus schriftlichen Kom m unikation (und schrift-
Wie konnte nun aber der Analphabetism us sprachlich strukturierten Tätigkeiten) im m er
in den Industrieländern entstehen? In vielen größere Bedeutung zu, ob es um die Verm itt-
m odernen Kulturen ist die Angst verbreitet, lung oder um das Abfragen von Wissen und
die jeweils nachfolgende Generation lerne we- Fähigkeiten geht. Dies beginnt bereits in der
niger als die vorangehende. Tatsächlich liegt Grundschule, in der im m er größere Teile des
eine solche Verm utung nahe, wenn ein Pro- Lernens schriftlich durchgeführt werden.
blem wie der Analphabetism us relativ plötz- Dort wo Unterricht m ündlich abläuft, werden
in starkem Maße schriftliche Elem ente inte-
lich in das Bewußtsein der Öffentlichkeit tritt; griert. Jeder Schüler, der in den Anfängen des
das Selbstverständnis als Kulturnation gerät Schriftspracherwerbs Problem e in der Aneig-
ins Wanken. So waren in der Bundesrepublik nung alphabetischer Fähigkeiten hat, wird in
Deutschland Anfang der achtziger Jahre allen anderen Lernbereichen behindert, da
Schlagzeilen wie „Analphabetism us im Land diese beständig solche Fähigkeiten vorausset-
der Dichter und Denker“ zu verstehen. Doch zen. In den Bildungssystem en sind schrift-
greift ein Erklärungsansatz, der eine geringere sprachliche Fähigkeiten unverzichtbar gewor-
Alphabetisierungsrate in einer schlechter ge- den. Sie m üssen in relativ einheitlicher Ge-
73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 887

schwindigkeit angewendet werden können. m ag zweifelhaft erscheinen. Die bisherigen di-


Langsam e Leser und Schreiber können dem daktischen Argum ente zur Diskussion um
vorgegebenen Takt nicht folgen. Pauschalisie- eine Orthographiereform zielen in die Rich-
rend kann m an sagen, daß Schüler, die nicht tung, die orthographischen Regeln leichter
nach vier Schuljahren (oder wom öglich noch durchschaubar zu m achen. Ob sie dann leich-
früher) ein solches durchschnittliches Niveau ter von Kindern anzueignen wären, bleibt un-
der schriftlichen Fähigkeiten erworben haben, klar. Der Effekt, von orthograhischen Feh-
zwangsläufig aus der gesam ten weiteren schu- lern auf die intellektuellen Fähigkeiten der
lischen und späteren beruflichen Bildung her- Schreiber zu schließen, könnte so noch ver-
ausfallen. Folgerichtig wird bei der Frage stärkt werden. Dennoch ist unzweifelhaft, daß
nach den Möglichkeiten der Prävention von viele Analphabeten das Schreiben völlig auf-
Analphabetism us bereits der (m angelhafte) gegeben haben, weil sie wegen orthographi-
Erwerb der Schriftsprache in der Grundschule scher Fehler diskrim iniert und bloßgestellt
untersucht. Dabei stellt m an fest, daß m an wurden. Eine alternative Möglichkeit zur Or-
über den norm al verlaufenden (weil erfolg- thographiereform , wie sie für das Deutsche
reichen) Aneignungsprozeß selbst relativ we- gegenwärtig diskutiert wird, könnte in einer
nig weiß; um so problem atischer ist es dann, stärkeren Liberalisierung von Teilbereichen
Störungen des Aneignungsprozesses korrekt der Orthographie liegen, um zu sehen, wel-
zu diagnostizieren. Solche Untersuchungen chen Gebrauch die Schreiber selbst m achen,
zum Schriftspracherwerb in der Grundschule, wenn m ehrere richtige Schreibungen zugelas-
wie sie z. B. von Dehn (1985; 1988 a; 1988 b) sen würden.
durchgeführt wurden, lassen auch wichtige Zusam m enfassend können wir feststellen,
Konsequenzen erwarten, die zu einer Neuord- daß nicht die durchschnittlichen schrift-
nung des Unterrichts im Lesen und Schreiben sprachlichen Leistungen eines Schülerjahr-
führen könnten, um allen Schülern den Er- gangs in den letzten Jahrzehnten schlechter
werb zu erleichtern. geworden sind, sondern daß sich die gesell-
Die Existenz der Rechtschreibnorm en schaftlichen Kom m unikationsprozesse in den
kann ebenfalls als ein indirekter Faktor für letzten Jahrzehnten in einem starken Ausm aß
die Entstehung von Analphabetism us in eini- um strukturiert haben, so daß eine bloß m ünd-
gen Fällen betrachtet werden. Die Fähigkeit, liche Existenz m ittlerweile fast unm öglich ge-
ein Schriftsystem norm gerecht zu beherr- worden ist: Die gesellschaftlichen Anforde-
schen, ist relativ leicht zu beurteilen. Die Or- rungen an die allgem einen orthographischen
thographie ist genorm t. Es ist leicht festzu- und schriftsprachlichen Fähigkeiten sind
stellen, ob ein Wort richtig oder falsch ge- schneller gestiegen als das durchschnittliche
schrieben worden ist. In schriftsprachlichen Leistungsniveau. Dennoch hat jeder Anal-
Äußerungen gibt ein Mensch auch sich selbst phabet seine eigene Biographie. Untersuchun-
ein Stück preis; beherrscht er Lesen und gen zu solchen Biographien (vgl. Döbert-
Schreiben, kann dies zur Selbstdarstellung ge- Nauert 1985; Börner 1993) zeigen, daß unter
raten, ob es sich nun um einen persönlichen heutigen Bedingungen Analphabetism us sehr
Brief an einen Freund oder um das Vorlesen viel m ehr ist, als nur eine fehlende Fertigkeit;
eines Witzes aus der Zeitung handelt. Der funktionaler Analphabetism us ist in literalen
funktionale Analphabet m uß solchen Situa- Industriegesellschaften ein kom plexes Syn-
tionen aus dem Wege gehen; er ist stets in der drom sozialer Behinderung, dessen psycho-
Gefahr, sich zu verraten, sich bloßzustellen. soziale Auswirkungen derart gravierend sein
Man darf in unserer Kultur unm usikalisch können, daß ihm m it bloßen unterrichtlichen
und m athem atisch unbegabt sein, lesen m uß Maßnahm en nicht beizukom m en ist. So
ein jeder können, und in m angelhafter Ortho- gehören zu allen Alphabetisierungskursen
graphie wird wesentlich m ehr gesehen, als sozialpädagogische Begleit
m aßnahm en. In
eben die m angelhafte Aneignung einer Fähig- m anchen Fällen erweist sich eine Therapie als
keit. Mit der Schriftsprache ist es eben so, notwendig (vgl. z. B. Schlösser 1989), um den
daß nur der sie verwenden kann, der das Betroffenen eine Auseinandersetzung m it der
System (von einigen wenigen Zweifelsfällen Schriftsprache zu ermöglichen.
einm al abgesehen) vollständig beherrscht. Die
Bedeutung orthographischer Sicherheit ist je-
ner in den Grundrechenarten vergleichbar; 4. Konzepte der Alphabetisierung
wer sie nicht beherrscht, tut gut daran, allem In allen Bereichen stand die Alphabetisierung
Schriftlichen aus dem Wege zu gehen. Ob eine zunächst vor dem Problem , geeignete Päd-
Rechtschreibreform hier eine Lösung brächte, agogen und geeignetes Unterrichtsm aterial zu
888 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

finden. Es ist offensichtlich, daß Erwachsene Gruppen (auch an verschiedenen Orten und
nicht m it dem Material unterrichtet werden in verschiedenen Institutionn) eingesetzt wer-
können, das für Erstkläßler konzipiert wurde. den konnten. Hierdurch gerieten Analpha-
Die Alphabetisierung von Erwachsenen ist beten m iteinander in Kontakt und erfuhren
dennoch eine höchst widersprüchliche Ange- selbst, daß sie nicht zu einer kleinen Gruppe
legenheit, da allen Beteiligten bewußt ist, daß gehörten. (Viele Analphabeten glauben bis zu
sie diese Fähigkeiten eigentlich im Kindesalter dem Zeitpunkt, zu dem sie den Sprung wagen,
hätten erwerben m üssen. Dies unterscheidet sich zu einem Kurs anzum elden, daß sie allein
die Alphabetisierungsarbeit in entwickelten m it ihrem Problem unter lauter Alphabeti-
Ländern ganz erheblich von jener in nicht sierten leben.) Solche Versuche, den Lese-
entwickelten Ländern, in denen ein Großteil Schreib-Lernprozeß von den Teilnehm ern
der Bevölkerung keine Möglichkeit hatte, als und ihren sozialen Erfahrungen aus zu or-
Kind in der Schule lesen und schreiben zu ganisieren (häufig unter dem Begriff „Sprach-
lernen. Aus der Sicht von Analphabeten in erfahrungsansatz“ subsum m iert — vgl. hierzu
Ländern m it einem funktionierenden Schul- und zu konkurrierenden Ansätzen die Bei-
system ist ihr Defizit zu allererst auf ein Ei- träge in Kreft 1985), ließen zunächst einm al
genverschulden zurückzuführen. Dies ist die das Problem des system atischen sprach- und
Außensicht ihrer literalen Um welt, und diese schriftstrukturellen Arbeitens unberücksich-
Sicht wird von den Betroffenen übernom m en. tigt. Man vertraute darauf, daß die Motiva-
Es ist deshalb unum gänglich, daß in den Kur- tion der Teilnehm er stark genug sei, solche
sen auch über den eigenen gescheiterten Lern- strukturellen Zusam m enhänge selbst sich an-
prozeß reflektiert wird; dabei ist streng zu zueignen. Dem gegenüber gingen sprachsyste-
unterscheiden zwischen einer didaktisch-päd- m atische Ansätze (v. a. die „Morphem m e-
agogischen Sichtweise, die die Lerner psy- thode“) von strukturellen Besonderheiten des
chisch stabilisieren soll, ihnen Erklärungen an Schriftsystem s aus: Für das deutsche Schrift-
die Hand geben soll, um die Anstrengungen system ist es z. B. charakteristisch, daß die
eines Lese-Schreib-Lernprogram m s als Er- Schreibung einzelner Morphem e konstant
wachsener durchzustehen, und einer forschen- bleibt, auch wenn sich die Aussprache der
den Sichtweise, die sich bem üht, Erkenntnisse betreffenden Morphem e in anderer lautlicher
über typische Analphabetenbiographien zu Um gebung ändert (→ Art. 127); die Schrei-
sam m eln, um hieraus Konsequenzen für eine bung von „Hund — Hunde“ folgt diesem
frühzeitigere Prävention bei besonders ge- Prinzip. Solche sprachsystem atischen Ansätze
fährdeten Kindern und Jugendlichen zu zie- kom m en dem Wunsch der Teilnehm er entge-
hen. gen, m öglichst kein Wort m ehr falsch zu
Zu Beginn orientierte sich die Alphabeti- schreiben. Die Teilnehm er arbeiten dann m it
sierungspraxis in den Industrieländern an den einzelnen Morphem en, den „Wortbau-
zwei Modellen: der Alphabetisierung, wie sie steinen“, und kom binieren sie zu verschiede-
in der Dritten Welt praktiziert wurde und/ nen Wörtern und kleinen Sätzen. Der Nach-
oder an der schulischen Alphabetisierung im teil dieses Verfahrens liegt auf der Hand: Die
eigenen Land. Beide Orientierungen erwiesen Lerner werden nicht dazu angehalten, spon-
sich als problem atisch. Die Orientierung an tane Schreibversuche zu wagen; ihre schrift-
schulischen Methoden m achte in den Kursen liche Kom m unikationsfähigkeit bleibt für
den Teilnehm ern im m er wieder klar, daß es eine sehr lange Zeit ihres Lernprozesses sehr
sich eben um einen Gegenstand handelte, den eingeengt, was neue Motivationsproblem e
norm alerweise sechs- bis achtjährige Kinder schaffen kann.
sich relativ m ühelos aneignen; zudem kennen Wir nähern uns einer sehr heiklen Frage
die Lerner solche Methoden ja aus ihrem eige- der Alphabetisierungsarbeit in Ländern wie
nen gescheiterten Lernprozeß. Wenn schon der Bundesrepublik Deutschland, der Frage
häufiger Fibeltexte als inadäquat in bezug auf nach dem Erfolg. Die Alphabetisierungsarbeit
die kindliche Realität kritisiert werden, so wird öffentlich gefördert; sie ist für die Insti-
sind sie es in bezug zu jener von erwachsenen tutionen, die sie tragen, eher ein Verlustge-
Analphabeten erst recht. Von daher stand schäft, da von den Teilnehm ern allenfalls ge-
recht bald die Entwicklung von erwachsenen- ringe Gebühren erhoben werden können. Die
gerechten Lernm aterialien und Unterrichts- Frage, in welchem Zeitraum ein erwachsener
form en im Mittelpunkt. Ein wichtiges Mittel funktionaler Analphabet lesen und schreiben
war das Erstellen von Lernerbiographien im lernen kann, ist nicht zu beantworten. Die
Unterricht, die dann zwischen verschiedenen Lebensgeschichten von Analphabeten sind zu
73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 889

verschieden, das kom plexe Syndrom des An- Möglichkeit bestand, lesen und schreiben zu
alphabetism us so verschieden ausgeprägt, die lernen, zu erwarten. Unabhängig jedoch, wie
aktuellen Lebens- und Lernum stände diver- die Erfolge im Lesen und Schreiben der Teil-
gieren so stark, daß hier zuverlässige Progno- nehm er im einzelnen beantwortet werden
sen allenfalls in Einzelfällen m öglich sind. m üssen, dürften die Mittel, die in die Alpha-
Einige lernen sehr schnell, sehr viele sehr lang- betisierungsarbeit fließen, gut investiert sein,
sam , einige nähern sich dem Gegenstand helfen sie doch, im m ense Folgekosten, die
Schriftsprache auf eine Art und Weise (z. B. sich aus dem funktionalen Analphabetism us
m it dem Ziel, sich m öglichst alle Wortbilder ergeben, zu begrenzen.
einprägen zu wollen), die wenig erfolgver- Eine wichtige Frage im Rahm en von Al-
sprechend scheint. Aufgrund eigener Beob- phabetisierungskonzepten ist sicherlich jene
achtungen m öchte ich aber die Hypothese der Aufklärung der Öffentlichkeit und der
aufstellen, daß nur sehr wenige Erwachsene, Inform ation potentieller Teilnehm er. In dem
die eine gescheiterte Lese-Schreib-Lernkar- Maße, in dem über Möglichkeiten des Ler-
riere hinter sich haben, in der Lage sind, sich nens öffentlich berichtet wird, geraten An-
der Schriftsprache auf eine so unbefangene, alphabeten in ihrem unm ittelbaren Lebens-
experim entelle Weise zu nähern, wie sie für um feld unter Druck. Die Fam ilie, Freunde,
Schulkinder (und auch Schreiber im Vorschul- Arbeitskollegen erwarten jetzt, daß der Be-
alter) typisch ist. Dadurch haben diese Kinder troffene lesen und schreiben lernt, obwohl es
die Möglichkeit, durch praktisches Um gehen wom öglich gar nicht erforderlich ist, weil der
m it der Schriftsprache, durch das Verarbeiten Betroffene einen modus vivendi gefunden hat,
von Korrekturen, durch das Erproben neuer der jetzt in Gefahr gerät. Da kann der
Strategien sich das deutsche Schriftsystem an- Wunsch, die Öffentlichkeit aufzuklären, in
zueignen, ohne dafür die expliziten Regelfor- Kollision geraten m it der Selbstverständlich-
m ulierungen eines Rechtschreib-Duden zu keit, Analphabeten nicht zusätzlich zu stig-
kennen. In gewisser Weise kann zwischen m atisieren. Als ein großes Problem hat sich
dem (erfolgreichen) Schriftspracherwerb eines im m er herausgestellt, wenn Werbung und das
Kindes und seinem Mutterspracherwerb eine Bildungsangebot nicht hinreichend aufeinan-
Parallele gesehen werden. Das jeweilige Sy- der abgestim m t sind; es ist für Analphabeten
stem wird intuitiv in der Kom m unikation m it in aller Regel unzum utbar, wenn sie kein Ler-
Erwachsenen angeeignet, ohne daß es bewußt nangebot finden, nachdem sie sich dazu
rekonstruiert werden m üßte. Beim Schrift- durchgerungen haben, um ein solches nach-
spracherwerb m uß allerdings die Motivation zusuchen.
(oder der Zwang) hinreichend groß sein, da- Die Erfolge in der Alphabetisierungsarbeit
m it der Erfolg sich einstellt, da ja die m ünd- können nicht nur an den Lernfortschritten
liche Kom m unikation als Alternative stets zur der Teilnehm er auf dem Gebiet des Lesens
Verfügung steht. Für den m ündlichen Sprach- und Schreibens gem essen werden, schon des-
erwerb kann m it guten Gründen von der Exi- halb nicht, weil der Analphabetism us ein
stenz eines Spracherwerbsm echanism us aus- kom plexes Ganzes darstellt und für jeden Be-
gegangen werden, der aufgrund eines gerin- troffenen eine Fülle psycho-sozialer Problem e
gen sprachlichen Inputs die m uttersprachliche mit sich bringt.
Gram m atik generiert. Die schnellen Lernfort-
schritte der erfolgreichen schriftsprachlichen
Lerner lassen verm uten, daß dieser Mecha- 5. Möglichkeiten der Prävention von
nism us auch in der Aneignung des m utter- Analphabetismus
sprachlichen Schriftsystem s m itbeteiligt ist.
Sollte diese Annahm e richtig sein, so wäre Auch wenn wir oben kritisiert haben, daß die
hier eine Erklärung für das langsam e Lernen Entstehung des m odernen sekundären An-
erwachsener Analphabeten gefunden, auch alphabetism us zu sehr aus individuellen Pro-
für die Tatsache, daß sie wesentlich stärker blem en der betroffenen Menschen erklärt
kognitiv in die Strukturen des Schriftsystem s wird, so ist dennoch unstrittig, daß eine in-
eindringen m üssen, um annähernd norm ge- dividuelle Prävention des Analphabetism us
recht zu schreiben. Interessante Ergebnisse zu erforderlich ist.
dieser noch offenen Frage wären von Ver- Auch wenn bislang system atische Unter-
gleichen des Lernens erwachsener Analpha- suchungen über die Erfolge der Alphabetisie-
beten m it dem von erwachsenen Lernern aus rungsarbeit nicht vorliegen, so ist deutlich,
Kulturen, in denen in der Kindheit keine daß Schüler m it unzureichender Lese-Schreib-
890 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Leistung in ihrer gesam ten Ausbildung ge- m ehr zur Verfügung. Der Zwang zur Litera-
handicapt sind. Auch scheinen die intuitiven lität ist absolut geworden.
Zugriffsweisen, die Kinder bei der Aneignung
orthographischer System e haben, bei Jugend-
lichen und Erwachsenen nicht m ehr in einem 6. Literatur
solch starken Maße ausgeprägt zu sein. Dies Barton, David. 1990. Researching literacy in in-
bedeutet, daß der schriftsprachliche Lernpro- dustrialized countries: Trends and prospects. Avec
zeß eines Erwachsenen langwieriger ist, als un résumé français. Hamburg.
der eines Kindes. In gewisser Weise ergeben
sich Parallelen zum (Frem d-)Sprachenlernen: Bataille, Leon (ed.). 1976. A turning point for li-
Ein kleines Kind kann ohne große bewußte teracy. Adult education for development. Oxford.
Reflexion eine zweite Sprache neben seiner Börner, H. 1993. Sprachbewußtheit funktionaler
Muttersprache lernen; Erwachsene brauchen Analphabeten am Beispiel ihrer Äußerungen zu
sehr viel m ehr Anleitung, sehr viel m ehr Er- Verschriftungen. Ms. PH Ludwigsburg.
klärungen. Bleibt der Frem dsprachenerwerb Buhofer, Annelies. 1983. Das alltägliche Schreiben
ungesteuert, so wird die Gram m atik kaum im Berufsleben. Eine Analyse am Beispiel eines
korrekt erworben. Ähnliches kann über den Industriebetriebs in der deutschen Schweiz. In:
Erwerb der geschriebenen Sprache gesagt Grosse, S. (ed.), Schriftsprachlichkeit. Düsseldorf,
werden: Für das kindliche schriftsprachliche 137—179.
Lernen ist es charakteristisch, daß es im Rah- Burke, Gerald & Rum berger, Russell. (ed.). 1987.
m en des prim ären Spracherwerbs angesiedelt The future im pact of technology on work and ed-
ist, es verläuft zu einem großen Teil unbewußt ucation. London.
für den Lerner ab. Es sind häufig Sprünge zu Carpenter, Tracy. 1986. The right to read. Tutor’s
beobachten in dem Sinne, daß ein Kind plötz- handbook for the SCIL Program Student Centred
lich große Fortschritte m acht, was zu der Individualized Learning. Toronto.
Verm utung Anlaß gibt, daß hier im Aufbau Com m ission des Com m unautes Europeennes (ed.).
eines funktionalen System s neue Beziehungen 1985. Les itinéraires analphabetisme. Bruxelles.
hergestellt worden sind und nicht nur einzel- Dave, R. H., Ouane, A. & Perera, D. A. 1986.
nes hinzugelernt worden ist. Erwachsene An- Learning Strategies for Post-Literacy and Contin-
alphabeten hingegen lernen langsam , konti- uing Education in China, India, Indonesia, Nepal,
nuierlich. Sie m üssen ihren Lernprozeß sehr Thailand and Vietnam . Outcom es of an Interna-
viel bewußter reflektieren und strukturieren. tional Research Project of the Unesco Institut for
Neue Untersuchungen in diesem Zusam m en- Education in co-operation with the Germ an Com -
hang (vgl. Börner 1993) lassen erwarten, daß mission for Unesco. Bonn, Hamburg.
sich hier auch neue Perspektiven für die Al- —. (ed.). 1986. Learning Strategies for Post-Lit-
phabetisierung in der Grundschule ergeben: eracy and Continuing Education in Brazil, Colom -
Dort, wo Kindern der eher intuitive Zugriff bia, Jam aica and Venzuela. Outcom es of an Inter-
auf das Schriftsystem nicht gelingt, könnten national Research Project of the Unesco Institut
dann solche (in der Erwachsenenalphabetisie- for Education in co-operation with the Germ an
rung erprobten) Verfahren stärkerer Lenkung Commission for Unesco. Bonn, Hamburg.
und Bewußtm achung des Lernprozesses auch
ihnen einen kontinuierlichen Lernfortschritt —. (ed.). 1984. Learning Strategies for Post-Lit-
ermöglichen. eracy and Continuing Education in Mali, Niger,
Der Versuch, Analphabetism us bereits in Senegal and Upper Volta. Outcom es of an Inter-
der Grundschule zu verhindern, ist unerläß- national Research Project of the Unesco Institute
lich. Gerade wenn sich herausstellen sollte, for Education organized in co-operation with the
daß es Kinder gibt, die individuelle Voraus- German Commission for Unesco. Bonn, Hamburg.
setzungen m itbringen, die einem ungestörten —. (ed.). 1985. Learning Strategies for Post-Lit-
Erwerbsprozeß entgegenstehen, so wäre nach eracy and Continuing Education in Kenya, Nigeria,
jetziger Erkenntnis nur eine Konsequenz rat- Tanzania and United Kingdom . Outcom es of an
sam : Eine noch stärkere Konzentration auf International Research Project of the Unesco In-
das Lesen- und Schreibenlernen. Konzepte, stitut for Education organized in co-operation with
die (einer falschen pädagogischen Liberalität the Germ an Com m ission for Unesco. Bonn, Ham -
verpflichtet) eher schulische Freiräum e und burg.
Schutzzonen bereitstellen (wie es im Rahm en Dehn, Mechthild. 1985. Zur Beobachtung von
der Legasthenie-Diskussion zu beobachten Lernprozessen und Lernschwierigkeiten in Lese-
war) wären strikt abzulehnen. Die Kulturen und Schreibkursen. Konsequenzen für Forschung
der entwickelten Industrieländer stellen sol- und Fortbildung von Kursleitern. In: Giese,
che Freiräum e im alltäglichen Leben nicht 11—30.
73.  Literalität und Analphabetismus in modernen Industrieländern 891

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74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität 893

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—. 1969. Literacy and developm ent: Introduction
Therapie bei Analphabeten. In: Giese & Gläß,
to functional literacy. Bankog.
175—194.
—. 1982. La lutte contre l’analphabétism e et pau-
Sch
m idtke, Hans-Peter. 1981. Analphabetis
m us
vreté dans les pays industrialisés. Paris.
unter der zweiten Generation der Arbeitsm igran-
ten. In: Drecoli & Müller, 69—74. Vedovelli, Massim o. 1989. Instrum entale Alpha-
betisierung, funktionale Alphabetisierung und
Siebert-Ott, Gesa. 1988. Überlegungen zu m etho-
kom m unikative Entwicklung. In: Giese & Gläß,
dischen Ansätzen der Schriftsprachverm ittlung in
133—144.
der Alphabetisierung Erwachsener aus linguisti-
scher Sicht. In: Harting, 191—194. Vélis, Jean-Pierre. 1987. La France illitrée. Paris.
Slavenburg, Jan H. 1992. Illiteracy in the European Walsh, Margret. 1989. Die Alphabetisierung und
Com m unity: Research Problem s and Research Grundbildung Erwachsener in England und Wales.
Findings. In: Fase et al., 1—13. In: Giese & Gläß, 51—56.
U. S. Congress. 1986. Illiteracy in Am erica. Joint Wells, Alan. 1987. Adult literacy: its im pact on
hearings before the House Subcom m ittee on Ele- young adults in the United Kingdom . In: Prospects
m entary, Secondary and Vocational Education. (17) 2, 259—265.
Washington D. C. Witteveen, Han. 1989. Rechnen als Teil der Alpha-
UNESCO. 1987. Workshop europäischer Bildungs- betisierung in der Grundbildung von Erwachsenen.
experten zur Prävention von funktionalem Ana- In: Giese & Gläß, 99—108.
lphabetism us und zur Integration Jugendlicher in Wrolstad, Merald E. & Fisher, Dennis F. (ed.).
die Arbeitswelt. Schlußbericht und Em pfehlungen. 1986. Toward a new understanding of literacy. New
Paris. York.
—. 1950. Literacy education: a selected bibliogra- Heinz W. Giese, Ludwigsburg (Deutschland)
phy.
—. 1953. Progress of Literacy in Various Countries.
Paris.

74. Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität

1. Begriff und Funktion der Zensur m it dem die Tätigkeit der Zensur m eistens
2. Zur Geschichte der Zensur identifiziert wird, „den Sinn des Begriffes
3. Zur Geschichte der Zensur in Deutschland Zensur entscheidend geprägt“ haben (Otto-
4. Auswirkungen der Zensur Fölsing 1984, 230). Kienzle & Mende (1980,
5. Literatur 231) definieren Zensur als ein „Mittel sozia-
ler Kontrolle zur Aufrechterhaltung bestehen-
der Produktionsverhältnisse“, das auf „Ent-
1. Begriff und Funktion der Zensur m ündigung der Mehrheit der Bevölkerung„
Die Zensur (lat. censura = strenge Prüfung, hinzielt. Als Herrschaftsm ittel in den Hän-
Beurteilung; im röm ischen Staat war das Zen- den einer m achtausübenden Interessengruppe
sorenam t ein Am t des „Sittenrichters“) be- dient die Zensur der Wahrung der Machtpo-
deutet autoritäre Kontrolle von künstleri- sition und der Privilegien dieser Gruppe. Da-
schen, publizistischen und wissenschaftlichen m it trägt sie zur Stabilisierung der jeweils
Aussagen vor oder nach ihrer Einführung in herrschenden Ideologie sam t ihrem Werte-
den Kom m unikationsum lauf. Das wichtigste und Norm enkanon bei. Sie verhindert die
Merkm al der Zensur ist die Prüfung von Aus- Einbeziehung bestim m ter Them en und Pro-
sagen auf ihre m ögliche Wirkung hin und blem e in den Kom m unikationsum lauf und
nicht eine der beiden alternativen Folgen des begünstigt zugleich ihre Tabuisierung. Eine
Zensurverfahrens — Verbot oder Erlaub- wichtige Funktion der Zensur besteht in der
nis —, obwohl diese, insbesondere das Verbot, Diskrim inierung bestim m ter sozialer Grup-
74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität 893

Sandhaas, Bernd & Schneck, Peter. (ed.). 1991. —. 1956. Literacy teaching: a selected bibliography.
Lesenlernen — Schreibenlernen. Beiträge zu einer —. 1964. World literacy programme. Paris.
interdisziplinären Wissenschaftstagung aus Anlaß —. 1965. Literacy as a factor in developm ent. Paris
des Internationalen Alphabetisierungsjahres. Bre- (Minedlit 3)
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—. 1969. Literacy and developm ent: Introduction
Therapie bei Analphabeten. In: Giese & Gläß,
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unter der zweiten Generation der Arbeitsm igran-
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betisierung, funktionale Alphabetisierung und
Siebert-Ott, Gesa. 1988. Überlegungen zu m etho-
kom m unikative Entwicklung. In: Giese & Gläß,
dischen Ansätzen der Schriftsprachverm ittlung in
133—144.
der Alphabetisierung Erwachsener aus linguisti-
scher Sicht. In: Harting, 191—194. Vélis, Jean-Pierre. 1987. La France illitrée. Paris.
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Com m unity: Research Problem s and Research Grundbildung Erwachsener in England und Wales.
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experten zur Prävention von funktionalem Ana- In: Giese & Gläß, 99—108.
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74. Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität

1. Begriff und Funktion der Zensur m it dem die Tätigkeit der Zensur m eistens
2. Zur Geschichte der Zensur identifiziert wird, „den Sinn des Begriffes
3. Zur Geschichte der Zensur in Deutschland Zensur entscheidend geprägt“ haben (Otto-
4. Auswirkungen der Zensur Fölsing 1984, 230). Kienzle & Mende (1980,
5. Literatur 231) definieren Zensur als ein „Mittel sozia-
ler Kontrolle zur Aufrechterhaltung bestehen-
der Produktionsverhältnisse“, das auf „Ent-
1. Begriff und Funktion der Zensur m ündigung der Mehrheit der Bevölkerung„
Die Zensur (lat. censura = strenge Prüfung, hinzielt. Als Herrschaftsm ittel in den Hän-
Beurteilung; im röm ischen Staat war das Zen- den einer m achtausübenden Interessengruppe
sorenam t ein Am t des „Sittenrichters“) be- dient die Zensur der Wahrung der Machtpo-
deutet autoritäre Kontrolle von künstleri- sition und der Privilegien dieser Gruppe. Da-
schen, publizistischen und wissenschaftlichen m it trägt sie zur Stabilisierung der jeweils
Aussagen vor oder nach ihrer Einführung in herrschenden Ideologie sam t ihrem Werte-
den Kom m unikationsum lauf. Das wichtigste und Norm enkanon bei. Sie verhindert die
Merkm al der Zensur ist die Prüfung von Aus- Einbeziehung bestim m ter Them en und Pro-
sagen auf ihre m ögliche Wirkung hin und blem e in den Kom m unikationsum lauf und
nicht eine der beiden alternativen Folgen des begünstigt zugleich ihre Tabuisierung. Eine
Zensurverfahrens — Verbot oder Erlaub- wichtige Funktion der Zensur besteht in der
nis —, obwohl diese, insbesondere das Verbot, Diskrim inierung bestim m ter sozialer Grup-
894 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

pen, um m ögliche system konträre gesell- und Ordnung retten können“ (Otto-Fölsing
schaftliche Entwicklungen zu verhindern und 1984, 230), stellen weitere leserbezogene legi-
die bestehende Sozialstruktur aufrechtzuer- m
ti ierungsstrategische Argu
m entations
m ittel
halten. dar. Die Legitim ierung einzelner Zensurein-
griffe kann aus der Perspektive eines Nor-
1.1. Träger der Zensur m enkanons oder unter Berufung auf die Ka-
tegorie der öffentlichen Meinung erfolgen.
Träger der Zensur sind vor allem : der Staat,
die Kirche, politische Parteien, gesellschaftli- 1.3. Zensurverfahren und -maßnahmen
che Instanzen, kulturelle Gruppen, einzelne
Institutionen, die im Produktionsprozeß der Die geschichtlich belegten Zensurverfahren
Medien (z. B. in Verlagsredaktionen) tätig können (1) je nach dem Verhältnis zwischen
sind, und die Autoren selbst. Entscheidend dem Zeitpunkt der Textveröffentlichung und
dabei ist, daß der Zensurträger „die Macht dem des Zensureingriffs sowie (2) nach der
dazu hat, die Zensurm aßnahm en zu vollstrek- Grundlage, auf der der Eingriff basiert, un-
ken“ (Ogan 1988, 10), wobei hier das Bestre- terschieden werden. Zu (1): In der Literatur-
ben nach Mobilisierung der öffentlichen Mei- geschichte gab es hauptsächlich zwei Zensur-
nung und des „Norm bewußtseins“ (das vor verfahren: die Vor- oder Präventivzensur
„schädlichen Einflüssen“ bewahrt werden wurde angewandt, bevor ein Text gedruckt
m uß) eine große Rolle spielt. Der Differen- wurde; die Nach- oder Prohibitivzensur da-
ziertheit der Zensurträger (Staat, Kirche, Ge- gegen betrifft bereits veröffentlichte Texte.
sellschaftsgruppen) entsprechen drei Argu- Darüber hinaus gibt es die Rezensur, die sich
m entationsbereiche für Zensureingriffe: der auf Neuauflagen bezieht, falls das Zensurver-
politische (Argum ente: Verrat, Subversion, fahren wiederholt wird. Zu (2): Besonders
Staatsgefährdung), der religiöse (Gottesläste- politisch orientierte Zensurträger (z. B. poli-
rung, Häresie) und der m oralische Argum en- tische Parteien) kennen „form elle Zensur
tationsbereich (Verleum dung, Sittenlosigkeit, (aufgrund von Zensurvorschriften und Ge-
Obszönität, Pornographie, Jugendgefähr- setzen) und inform elle bzw. strukturelle Zen-
dung). Nach Otto-Fölsing (1984, 231) stellen sur (aufgrund von ökonom ischen, politischen
die einzelnen Argum ente willkürlich interpre- (und) psychischen Kontrollm echanism en ...„
tierte, em otional geladene und unpräzise (Ogan 1988, 181).
Sam m elbegriffe dar; sie werden oft nur als Zensurm aßnahm en stellen repressive Mit-
Vorwand benutzt, wenn z. B. das Argum ent tel dar, die den Autor und/oder seinen Text
„Pornographie“ als Ersatz-Argum ent für sowie die Situation der Kultur in dem je-
Zensurm aßnahm en gebraucht wird, „falls weiligen Land betreffen. Zu den autorbezo-
(Pornographie) m it Kritik an der bestehenden genen Maßnahm en gehören Disziplinierung,
Autorität verbunden ist“ (Schütz 1990, 15). Einschüchterung des Autors, Sanktionen,
Schreibverbot, Zwang zur Em igration, Ge-
1.2. Die Legitimierungsstrategien der Zensur fängnisstrafe und physische Vernichtung.
Zu den textbezogenen Maßnahm en zählen
Die Legitim ierung der Tätigkeit der Zensur (kenntlich gem achte oder optisch nicht er-
erfolgt hauptsächlich unter Hinweis auf den kennbare) Tilgung unerwünschter Textpas-
Bereich der verm uteten Eigenschaften und der sagen, Textm anipulation/-änderung (Entstel-
verm eintlichen Prädestination der Em pfänger lung der Textintention) und Publikationsver-
(Leser). In diesem Sinne (ebenfalls als Ersatz- bot. Als Zensurm aßnahm en, die sich auf die
Argum ente) werden drei Ursachenkom plexe Situation der Kultur beziehen, können solche
genannt, die Zensurm aßnahm en legitim ieren Maßnahm en wie negative Beeinflussung der
sollen: (1) die „eigene Bewußtseinsstufe (der Produktion (z. B. durch reduzierte Papierzu-
Leser), die sich nicht zu helfen weiß“ (Em rich teilung), der Distribution und Rezeption
1968, 219) und Unfähigkeit zu kritischer Re- (z. B. durch Manipulation von Buchbespre-
zeption bedeutet. Bezeichnend ist, daß hier chungen), Lizenzierungszwang u. a. angese-
vor allem „die Unm ündigkeit und das Schutz- hen werden.
bedürfnis bestim m ter gesellschaftlicher Grup-
pen unterstellt“ werden (Kienzle & Mende
1980, 231). (2) Die „Inkom petenz dieser ge- 2. Zur Geschichte der Zensur
sellschaftlichen Gruppen in bestim m ten Be-
reichen“ sowie (3) der theologische Begriff Die Geschichte der Zensur ist ein Teil der
„von der Schwäche und Verderbtheit des Geschichte der jeweiligen Machtsystem e, die
Menschen, vor denen ihn nur strenge Verbote durch m ehr oder weniger lückenlose Kon-
74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität 895

trolle m enschlicher Äußerungen versucht ha- nen über Autor und Herausgeber um gangen
ben, ihr Inform ationsm onopol zu bewahren werden konnten. Im 17. Jahrhundert gab es
und von der herrschenden Ideologie abwei- praktisch keine neuen Zensurgesetze. Zwei
chende Meinungen und unbequem e Stand- Tendenzen waren dam als für das Funktionie-
punkte zu unterdrücken. Zensur gab es bereits ren der Zensur charakteristisch: „Während
im griechischen und röm ischen Altertum ; sie die Territorialstaaten im Reich ihre Zensurin-
betraf z. B. „gottlose“ Schriften der Sophisten stitutionen ausbauten, führte der Liberalis-
(Protagoras), Schriften des Philosophen Ana- m us der Universitäten und die den Druckern
xagoras, griechische Bühnenstücke im anti- gewährte Freiheit in den benachbarten Nie-
ken Rom und Ovids Gedichte; seine „Ars derlanden dazu, daß das Land ‘zu einem Zen-
Am andi“ ist im röm ischen Staat aus den öf- trum der Gelehrsam keit und des Journalism us
fentlichen Bibliotheken entfernt worden. Be- im Europa des 17. Jahrhunderts’ wurde„
reits dam als kam es (auch in China) zu (Schütz 1990, 23 f). Unter Karl VI. und Maria
Bücherverbrennungen. Im Mittelalter entwik- Theresia (die eine weltliche „Zensurhofkom -
kelte sich die Zensur zu einem System , das m ission“ gegründet hat) kam es zwar zu Ver-
sich nicht m ehr auf Einzelfälle beschränkte, öffentlichungsverboten und Sanktionen gegen
sondern eine „Triade“ aus Glaubens-, Sitten- Autoren (Goethe, Werther; Schubart, Deut-
und Staatsschutz bildete. Die katholische Kir- sche Chronik), es wurde aber 1764 die Thea-
che, „der m ächtigste Zensor in der Ge- terzensur und unter Joseph II. (1781) die Bü-
schichte“ (Schütz 1990, 13), hat im 15. und cher- und Zeitschriftenzensur aufgehoben,
16. Jahrhundert rechtliche Grundlagen für was die Verbreitung von aufklärerischen
Zensurm aßnahm en geschaffen. So hat 1487 Schriften erm öglicht hat. Jedoch stieß das
Papst Innozenz VIII. eine Bulle erlassen, in em anzipatorisch m otivierte Interesse des Bür-
der vom Mißbrauch des Buchdrucks und von gertum s an Lesestoffen, die als Medium des
der Notwendigkeit, eine Präventivzensur ein- bürgerlichen Selbstverständnisses funktio-
zuführen, die Rede ist. Die Bulle wurde 1515 nierten, auf m assiven Widerstand staatlicher
durch Papst Leo X. erneuert. Durch eine wei- und kirchlicher Herrschaftsinstanzen.
tere Bulle (1542 vom Papst Paul III. erlassen,
1543 als Zensuredikt an Buchhändler und 3.1. Vormärz
-drucker gerichtet) wurde eine Druck- und
Verkaufsgenehm igungspflicht eingeführt, wo- Dieser Widerstand ist in der Zeit des Vor-
bei die Genehm igung nur von der Inquisition m ärz, der „Hoch-Zeit des Zensurbeam ten„
erteilt werden konnte. Parallel dazu wurden (Schenda 1981, 21), für viele Autoren spürbar
in Venedig, Florenz und Mailand die ersten geworden — besonders nach den Karlsbader
Listen verbotener Bücher aufgestellt. Ihren Beschlüssen (1819), die für Druckerzeugnisse
nachhaltigen Ausdruck fanden die Zensur- unter 20 Druckbogen (Zeitungen, Zeitschrif-
bestim m ungen der katholischen Kirche in ten) eine Präventivzensur einführten, und
dem 1559 unter Papst Paul IV. auf dem Konzil nach den Beschlüssen des Frankfurter Bun-
von Trient erlassenen Index librorum prohi- destags (1835), die als Maßnahm en gegen die
bitorum. Der Index, der bis 1967 seinen durch Vorm ärzliteratur von Fürst Metternich initi-
Exkom m unikation gesicherten Rechtscharak- iert wurden. Zu den von den dam aligen Zen-
ter hatte, enthielt unter anderem solche Na- surm aßnahm en betroffenen Autoren gehör-
m en wie Boccaccio, Voltaire, Gide und Joyce; ten H. Heine, K. Gutzkow, L. Börne, L. Wien-
seine letzte Ausgabe ist 1948 erschienen. barg, H. Laube, Th. Mundt, G. Herwegh,
G. Freiligrath und K. Marx.

3. Zur Geschichte der Zensur in 3.2. Wilhelminisches Deutschland


Deutschland Das Wilhelm inische Deutschland hat die in
Die protestantische Kirche hatte keinen ver- der Verfassung von 1849 garantierte Mei-
gleichbaren (zentralen) „Index“; für Zensur- nungs- und Pressefreiheit bald wieder einge-
fragen waren die einzelnen Landeskirchen zu- schränkt. Die Präventivzensur war zwar ab-
ständig. Die Konsequenz war, daß die Zen- geschafft, aber es gab differenzierte Kontroll-
surgesetze der protestantischen Kirche (ver- m echanism en, die (besonders für die Presse)
glichen m it denen der katholischen Kirche) m it finanziellen Konsequenzen verbunden
weniger wirksam waren (was 1570 auf dem waren (Kautionszahlungen u. dgl.). Das So-
Reichstag in Speyer kritisch hervorgehoben zialistengesetz (1878) führte zu zahlreichen
wurde) oder durch irreführende Inform atio- Verboten von Büchern und Zeitschriften. Die
896 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

häufigsten Zensurargum ente lauteten: De- es die „Parteiam tliche Prüfungskom m ission
m oralisierung (G. Hauptm ann, Die Weber, zum Schutz des NS-Schrifttum s“, und das
1892/93), Gotteslästerung (F. Wedekind, Die Reichsm inisterium für Volksaufklärung und
Büchse der Pandora, 1892/1902), Majestäts- Propaganda war die oberste Kontrollinstanz.
beleidigung (H. Mann, Der Untertan, 1911/ Diese Instanzen konnten sich gegenseitig kon-
14) und „undeutsche Gesinnung“ (C. Stern- trollieren; sie waren „die größte und wirksam -
heim, Komödien, 1911—15). ste Zensurbehörde, die es bis dahin in
Deutschland gegeben hatte“ (Breuer 1982,
3.3. Weimarer Republik 235).
In der Weim arer Republik wurde die Insti- 3.5. Bundesrepublik Deutschland
tution der Zensur abgeschafft. Ihre Funktion
haben im Klagefall Rechtsinstanzen über- In der Bundesrepublik ist Meinungsfreiheit
nom m en. Häufig vorgebrachte Einsprüche im Grundgesetz (Artikel 5) garantiert; der
waren Unzucht und Pornographie (A. Satz „eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet,
Schnitzler, Der Reigen, 1896/97 entstanden daß die Kontrolle der geltenden Norm en
und erst 1982(!) aufgeführt), Gotteslästerung „nicht von staatlichen Zensurbehörden aus-
(W. Hasenclever, K. Tucholsky, E. Glaeser), geübt werden darf“ (Breuer 1982, 249), ins-
Verstoß gegen das „Gesetz zum Schutz der besondere daß eine staatliche Präventivzensur
Republik“ (J. R. Becher), „Gefährdung des nicht stattfinden darf. Eine Prohibitivzensur
deutschen Ansehens“ (Verfilm ung des Ro- kann nur im Klagefall von einem ordentlichen
m ans von E. M. Rem arque „Im Westen nichts Gericht angeordnet werden. Dennoch können
Neues“, 1930), „kom m unistische Tendenz„ einige Beispiele für Prohibitivzensur genannt
(Brechts Film Kuhle Wam pe, 1932). Dagegen werden: (1) Schwierigkeiten m it der Veröf-
konnten in der Weim arer Republik viele fentlichung des Rom ans Mephisto (1936)
kriegsverherrlichende Rom ane und Schriften von K. Mann m it der Begründung, der Ro-
(von E. Jünger, F. Schauwecker, H. Zöberlein, m an verletze „Persönlichkeitsrechte von G.
J. M. Wehner, E. E. Dwinger, W. Beum el- Gründgens„. Der Rom an erschien in der
burg, E. Maass, H. Zerkaulen, H. Steguweit BRD erst 1980; (2) „Liste der jugendgefähr-
u. a.) erscheinen. denden Schriften“ (der Bundeszentrale für ju-
gendgefährdende Schriften); 1962 wurde die
3.4. Drittes Reich Aufnahm e der Novelle Katz und Maus von
G. Grass (1961) in diese Liste vom hessischen
Die Zensur im Dritten Reich hatte die Auf- Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Ge-
gabe, „gegen den Mißbrauch der deutschen sundheitswesen beantragt; (3) Schwierigkei-
Sprache“ einzuschreiten und den sog. „jüdi- ten m it der Aufführung der Stücke von B.
schen Intellektualism us“ zu überwinden. Al- Brecht, R. Hochhuth, R. W. Fassbinder und
lerdings stellt die am 10. Mai 1933 stattge- (4) m it der Veröffentlichung des Buches „Mut
fundene Bücherverbrennung „kein einschnei- zur Meinung“, hrsg. von I. Drewitz und W.
dendes Datum in der deutschen Zensurge- Eilers, m it Beiträgen von H. Böll, K. Stiller
schichte“ dar (Breuer 1982, 230); die Natio- und K. Staeck.
nalsozialisten haben näm lich schon lange vor
der „Machtergreifung“ sog. „schwarze Li- 3.6. Deutsche Demokratische Republik
sten“ geführt (bereits 1913 ist ein antisem iti-
sches Literaturlexikon — „Sem i-Kürschner„ In der ehem aligen DDR (vergleichbar m it
von Ph. Stauff — erschienen). Loyalitäts- anderen früheren Staaten der sog. „sozialisti-
bekundungen, „Treuegelöbnisse“, Entfernun- schen Dem okratie“) oblag die Steuerung und
gen aus der Preußischen Akadem ie der Kün- Kontrolle der Buch- und Zeitschriftenpro-
ste, Verfolgung oppositioneller Intellektueller, duktion dem 1951 gegründeten „Am t für
Em igration von über 300 Schriftstellern und Literatur und Verlagswesen„. Das Am t führte
Publizisten zeugen von einer beispiellosen Zer- Präventivzensur durch, kontrollierte die Ver-
störung des literarischen Lebens in Deutsch- lagspläne und entschied über Papierzuteilung.
land nach 1933, an der die Zensur einen we- Von den Kontrollm aßnahm en waren prak-
sentlichen Anteil hatte. Im Dritten Reich war tisch alle Autoren (darunter z. B. B. Brecht)
die Publikationskontrolle praktisch lückenlos. betroffen, ebenso von personalpolitischen
Schriftsteller und Publizisten m ußten entwe- Maßnahm en (E. Bloch, H. Mayer, P. Huchel
der der Reichsschrifttum s- oder der Reichs- u. a.). Einige haben Ende der 50er und An-
pressekam m er, die wirksam e Überwachungs- fang der 60er Jahre die DDR verlassen. Ein
instrum ente waren, angehören. Außerdem gab Liberalisierungsprozeß begann (im Rahm en
74.  Das System der Zensur und seine Auswirkungen auf die Literalität 897

des sog. „Neuen Ökonom ischen System s“) m ente und Kom m unikationsstrategien ge-
Anfang der 60er Jahre. Nach 1971 m achte ben. Beispiele: die „verdeckte Schreibweise„
sich eine weitere Liberalisierungstendenz be- im Dritten Reich (Roterm und 1989, 150 ff),
m erkbar (Chr. Wolf, U. Plenzdorf, V. Braun), „sklavensprachliche“ Ausdrucksform en, neue
die jedoch m it der Ausbürgerung W. Bier- oder teilweise neue Gattungen: Flugblätter,
m anns in eine neue Phase trat. Viele Schrift- literarisch-graphische-film ische Form en, po-
steller verließen die DDR oder wurden aus- litische Lieder u. a.
gewiesen (Th. Brasch, S. Kirsch, G. Kunert,
J. Becker u. a.), einige wurden verhaftet und 4.3. Auswirkungen auf das kulturelle Leben
zu Geldstrafen verurteilt (R. Havem ann, S.
Heym ). Die Jahre 1986/87 „brachten eine ge- Die Tätigkeit der Zensur bewirkt, daß das
wisse Entkram pfung“ (Ogan 1988, 157); die Interesse der Leser an Literatur zurückgeht
Autoren konnten z. B. leichter als vorher Aus- und eine allgem eine Entleerung des Buch-
reisegenehmigungen erhalten. m arktes erfolgt, was eine geistige Stagnation
und Nivellierung des künstlerischen Niveaus
nach sich zieht. Eine bisher zu wenig berück-
4. Auswirkungen der Zensur sichtigte Konsequenz der Zensurtätigkeit liegt
darin, daß nach der Aufhebung der Zensur
Unabhängig vom politischen System bewirkt eine Überbewertung der bis dahin inoffiziell
die Tätigkeit der Zensur eine Uniform ierung (im Untergrund) verbreiteten und für oppo-
der Literatur, Publizistik und anderer Schaf- sitionell gehaltenen Literatur erfolgt. Bei-
fensbereiche, Elim inierung bestim m ter The- spiele: Überbewertung und einseitige Bevor-
m en und Problem e, Rückkehr zu konventio- zugung der Literatur der sog. „Inneren Em i-
nellen Form en, Entpolitisierung und Eskapis- gration“ nach 1945 oder Überbewertung der
m us und allgem eine Banalisierung der The- Schriften von Autoren, die in den früheren
m en und Form en. Insbesondere lassen sich „sozialistischen“ Ländern im Untergrund ver-
die Auswirkungen der Zensur auf folgende öffentlicht wurden und nach der „Wende„
Bereiche feststellen: offiziell erscheinen konnten.
4.1. Auswirkungen auf die Situation der
Autoren 5. Literatur
Dazu gehören konzeptionelle Schwierigkei- Breuer, D. 1982. Geschichte der literarischen Zen-
ten, Schreibhem m ungen, m aterielle Schwie- sur in Deutschland. Heidelberg.
rigkeiten, Sanktionen, Exil, „innere Em igra- Drewitz, I. & Eilers, W. (ed.). 1980. Mut zur Mei-
tion“, Resignation, Verzweiflung, Selbstm ord nung. Gegen zensierte Freiheit. Eine Sam m lung
und physische Vernichtung durch die Macht- von Veröffentlichungen zum Them a Selbstzensur.
haber (m indestens 17 Schriftsteller und Pu- Frankfurt a. M.
blizisten sind im Dritten Reich um gekom m en Em rich, W. 1968. Polem ik. Streitschriften, Presse-
oder erm ordet worden). In diesen Problem - fehden und kritische Essays um Prinzipien, Metho-
bereich gehört auch das Phänom en der Selbst- den und Maßstäbe der Literaturkritik. Frankfurt
zensur. Sie ist die Konsequenz einer perfekt a. M.
funktionierenden Zensur und stellt eine Form
Fügen, H. N. 1973. Zensur als negativ wirkende
internalisierter Zensur dar. In Zeiten, in denen
Institution. In: Lesen. Ein Handbuch. Hrsg. von
die Selbstzensur funktioniert, „geht die Zahl
A. C. Baumgärtner. Hamburg.
der Zensureingriffe zurück und der Staat
sonnt sich im Schein der Meinungsfreiheit„ M. Kienzle & D. Mende (ed.) 1980. Zensur in der
(Kienzle & Mende 1980, 40). Eine andere BRD. Fakten und Analysen. München.
Konsequenz kann allgem eine Politisierung Marcuse, L. 1984. Obszön. Geschichte einer Ent-
der Autoren und einen Übergang von der rüstung. Zürich 1984.
literarischen Tätigkeit zu unm ittelbarer poli- Ogan, B. (ed.). 1988. Literaturzensur in Deutsch-
tischer Aktivität bedeuten. land. Stuttgart.
Otto, U. 1968. Die literarische Zensur als Problem
4.2. Auswirkungen auf die Textgestaltung der Soziologie der Politik. Stuttgart.
Otto-Fölsing, U. 1984. Die Zensur. In: Spektrum
Neben solchen Erscheinungen wie Elim inie-
der Literatur. Hrsg. von B. Clausen und L. Clausen.
rung bestim m ter Them enbereiche, Konven-
Gütersloh.
tionalität und Banalisierung kann es Ansätze
zur Entwicklung neuer Textgestaltungsele- Roterm und, E. 1989. Herbert Küsels ‘Dietrich Ek-
kart’-Artikel vom 23. März 1943. Ein Beitrag zur
898 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Herm eneutik und Poetik der „verdeckten Schreib- Schütz, H. J. 1990. Verbotene Bücher. Eine Ge-
weise“ im ‘Dritten Reich’. In: Viktor Žm egač zum schichte der Zensur von Hom er bis Henry Miller.
60. Geburtstag. Hrsg. von D. Borchm eyer. Tübin- München.
gen. Ziegler, E. 1983. Literarische Zensur in Deutsch-
Schenda, R. 1981. Zur Geschichte des Lesens. In: land 1819—1848. München.
Literaturwissenschaft. Grundkurs 1. Hrsg. von H.
Brackert und J. Stückrath. Hamburg. Czesław Karołak, Poznań (Polen)

75. Copyright

1. Allgemeines rerseits ist für den Schutz der geistigen wie


2. Schutzgegenstand des Urheberrechts materiellen Interessen der Urheber zu sorgen.
3. Der Urheber
4. Inhalt des Urheberrechts 1.2.  Mit dem Term inus ‘Urheberrecht’ asso-
5. Nutzung des Urheberrechts ziiert m an ein auf den Urheber ausgerichtetes
6. Literatur Recht, vor allem einen persönlichkeitsrecht-
lichen Schutz. Beim Term inus ‘copyright’ da-
gegen liegt der Akzent m ehr auf dem wirt-
1. Allgemeines schaftlichen Aspekt.
Überall in der Welt ist in letzter Zeit über
1.1.  Unter Urheberrecht versteht m an das die wirtschaftliche Bedeutung des Urheber-
Recht, das der Schriftsteller, Kom ponist, rechts nachgedacht worden. Der Anteil der
Künstler oder ein anderer entsprechender sog. Urheberrechtsindustrie — Verlagswesen,
Schöpfer an seinem Werk hat. Die Vorschrif- Presse, Hörfunk, Fernsehen, Theater, Film
ten des Urheberrechts sind in den Urheber- usw. — am Bruttosozialprodukt betrug in
rechtsgesetzen der verschiedenen Länder nie- Schweden schon nach einer im Jahre 1982
dergelegt. Gewöhnlich um fassen diese Ge- durchgeführten Untersuchung 6,7%. Die
setze auch Bestim m ungen über sog. ver- Zahlen für die USA, England, Holland und
wandte Schutzrechte, u. a. über den Rechts- Finnland sind niedriger, sie liegen bei ca. 3%.
schutz der ausübenden Künstler. Das Recht Gleichviel, ob die prozentualen Anteile nun
des Fotografen wird in einigen Ländern zum nach diesen oder jenen Kriterien errechnet
Urheberrecht gezählt, aber in anderen wie- wurden, auf jeden Fall ist klar, daß die Be-
derum wird der Rechtsschutz von Fotografien deutung des Urheberrechts in letzter Zeit
durch spezielle eigene Rechtsnormen geregelt. deutlich gestiegen ist. Über Com puter, Bild-
In Artikel 27 der Menschenrechtserklärung und Tonträger, Satellitenfernsehen usw. wer-
der UNO heißt es: den in stark zunehm endem Maße dem Ur-
„1. Jeder Mensch hat das Recht, am kul- heberrecht unterliegende Werke zum Betrach-
turellen Leben der Gem einschaft frei teilzu- ten, Hören und Lesen überm ittelt. Das Ur-
nehm en, sich der Künste zu erfreuen und am heberrecht hat sich z. B. bei den GATT-Ver-
wissenschaftlichen Fortschritt und dessen handlungen zu einem wichtigen handelspoli-
Wohltaten teilzuhaben. tischen Faktor entwickelt.
2. Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz
der m oralischen und m ateriellen Interessen, 1.3.  Die Geschichte des Urheberrechts be-
die sich aus jeder wissenschaftlichen, literari- ginnt m it der Erfindung der Buchdrucker-
schen oder künstlerischen Produktion erge- kunst, also in der westlichen Welt etwa um
ben, deren Urheber er ist.„ das Jahr 1450. Als die Anzahl der Buchdruk-
Der Artikel zeigt deutlich die einander wi- kereien stieg, entstanden wirtschaftliche Ri-
derstrebenden Interessen, die bei der Abfas- siken in der Hinsicht, daß die eine Druckerei
sung des Urheberrechts in Einklang zu brin- dasselbe Werk zu drucken begann, das eine
gen sind. Einerseits sind die Forderungen andere schon zur Veröffentlichung ausersehen
einer freien Inform ationsverm ittlung zu be- hatte. Um das Risiko für die Druckereien zu
rücksichtigen und den Interessierten zu er- beseitigen, begann m an m it der Vergabe von
m öglichen, an den Errungenschaften der Wis- Druckprivilegien (→ Art. 6). Als deren älte-
senschaft und Kunst teilzuhaben, aber ande-
898 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

Herm eneutik und Poetik der „verdeckten Schreib- Schütz, H. J. 1990. Verbotene Bücher. Eine Ge-
weise“ im ‘Dritten Reich’. In: Viktor Žm egač zum schichte der Zensur von Hom er bis Henry Miller.
60. Geburtstag. Hrsg. von D. Borchm eyer. Tübin- München.
gen. Ziegler, E. 1983. Literarische Zensur in Deutsch-
Schenda, R. 1981. Zur Geschichte des Lesens. In: land 1819—1848. München.
Literaturwissenschaft. Grundkurs 1. Hrsg. von H.
Brackert und J. Stückrath. Hamburg. Czesław Karołak, Poznań (Polen)

75. Copyright

1. Allgemeines rerseits ist für den Schutz der geistigen wie


2. Schutzgegenstand des Urheberrechts materiellen Interessen der Urheber zu sorgen.
3. Der Urheber
4. Inhalt des Urheberrechts 1.2.  Mit dem Term inus ‘Urheberrecht’ asso-
5. Nutzung des Urheberrechts ziiert m an ein auf den Urheber ausgerichtetes
6. Literatur Recht, vor allem einen persönlichkeitsrecht-
lichen Schutz. Beim Term inus ‘copyright’ da-
gegen liegt der Akzent m ehr auf dem wirt-
1. Allgemeines schaftlichen Aspekt.
Überall in der Welt ist in letzter Zeit über
1.1.  Unter Urheberrecht versteht m an das die wirtschaftliche Bedeutung des Urheber-
Recht, das der Schriftsteller, Kom ponist, rechts nachgedacht worden. Der Anteil der
Künstler oder ein anderer entsprechender sog. Urheberrechtsindustrie — Verlagswesen,
Schöpfer an seinem Werk hat. Die Vorschrif- Presse, Hörfunk, Fernsehen, Theater, Film
ten des Urheberrechts sind in den Urheber- usw. — am Bruttosozialprodukt betrug in
rechtsgesetzen der verschiedenen Länder nie- Schweden schon nach einer im Jahre 1982
dergelegt. Gewöhnlich um fassen diese Ge- durchgeführten Untersuchung 6,7%. Die
setze auch Bestim m ungen über sog. ver- Zahlen für die USA, England, Holland und
wandte Schutzrechte, u. a. über den Rechts- Finnland sind niedriger, sie liegen bei ca. 3%.
schutz der ausübenden Künstler. Das Recht Gleichviel, ob die prozentualen Anteile nun
des Fotografen wird in einigen Ländern zum nach diesen oder jenen Kriterien errechnet
Urheberrecht gezählt, aber in anderen wie- wurden, auf jeden Fall ist klar, daß die Be-
derum wird der Rechtsschutz von Fotografien deutung des Urheberrechts in letzter Zeit
durch spezielle eigene Rechtsnormen geregelt. deutlich gestiegen ist. Über Com puter, Bild-
In Artikel 27 der Menschenrechtserklärung und Tonträger, Satellitenfernsehen usw. wer-
der UNO heißt es: den in stark zunehm endem Maße dem Ur-
„1. Jeder Mensch hat das Recht, am kul- heberrecht unterliegende Werke zum Betrach-
turellen Leben der Gem einschaft frei teilzu- ten, Hören und Lesen überm ittelt. Das Ur-
nehm en, sich der Künste zu erfreuen und am heberrecht hat sich z. B. bei den GATT-Ver-
wissenschaftlichen Fortschritt und dessen handlungen zu einem wichtigen handelspoli-
Wohltaten teilzuhaben. tischen Faktor entwickelt.
2. Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz
der m oralischen und m ateriellen Interessen, 1.3.  Die Geschichte des Urheberrechts be-
die sich aus jeder wissenschaftlichen, literari- ginnt m it der Erfindung der Buchdrucker-
schen oder künstlerischen Produktion erge- kunst, also in der westlichen Welt etwa um
ben, deren Urheber er ist.„ das Jahr 1450. Als die Anzahl der Buchdruk-
Der Artikel zeigt deutlich die einander wi- kereien stieg, entstanden wirtschaftliche Ri-
derstrebenden Interessen, die bei der Abfas- siken in der Hinsicht, daß die eine Druckerei
sung des Urheberrechts in Einklang zu brin- dasselbe Werk zu drucken begann, das eine
gen sind. Einerseits sind die Forderungen andere schon zur Veröffentlichung ausersehen
einer freien Inform ationsverm ittlung zu be- hatte. Um das Risiko für die Druckereien zu
rücksichtigen und den Interessierten zu er- beseitigen, begann m an m it der Vergabe von
m öglichen, an den Errungenschaften der Wis- Druckprivilegien (→ Art. 6). Als deren älte-
senschaft und Kunst teilzuhaben, aber ande-
75.  Copyright 899

stes wird das im Jahr 1469 in Venedig an dazu, daß die Gesetzgebung eines der Kon-
Johann von Seyer vergebene Privileg erwähnt. vention beigetretenen Staates die in der Kon-
In China wurde die Buchdruckerkunst of- vention gestellten Forderungen zu erfüllen
fensichtlich schon in den 80er Jahren des 11. hat. Da diese sehr m inuziös sind, sind die
Jahrhunderts erfunden. Hundert Jahre da- Urhebergesetze der ca. 80 Vertragsstaaten in
nach wurden den Druckereien ähnliche Pri- den wichtigsten Teilen weitgehend kongruent.
vilegien eingeräum t wie später im 15. Jahr- Nach der Berner Konvention sind die dem
hundert in Europa. Zwischen dem chinesi- Urheber zustehenden Rechte nicht an die Er-
schen und dem europäischen Privilegiensy- füllung von Förm lichkeiten gebunden. Des-
stem dürfte jedoch kein Zusam m enhang be- halb konnten die USA, wo im allgem einen
standen haben. eine am tliche Registrierung erforderlich war,
Den Ehrentitel des ersten Urheberrechts- nicht beitreten. Da außerdem die Mindestfor-
gesetzes hat das im Jahre 1709 in England derungen der Berner Konvention für viele
erlassene „The Statute of Queen Anne“ er- Länder zu hoch waren, wurde m it der Abfas-
halten. Gem äß diesem wurde dem Urheber sung eines anderen Abkom m ens begonnen,
persönlich für eine befristete Zeit das alleinige dem sich m ehr Länder anschließen konnten.
Recht eingeräum t, sein Werk zu vervielfälti- Das sog. Welturheberrechtsabkom m en wurde
gen. Das Urheberrecht wurde som it als ein 1952 unterzeichnet. Diesem traten die USA
dem Urheber vom Gesetzgeber eingeräum tes zwei Jahre und die Sowjetunion zwei Jahr-
befristetes und genau beschränktes Recht zehnte später bei.
betrachtet. Dieselben Ausgangspunkte lagen Heute sind auch die USA nach der Revi-
auch der später in den USA geschaffenen sion ihrer Urheberrechtsgesetzgebung der
Urheberrechtsgesetzgebung zugrunde. Berner Konvention beigetreten. Die Urheber
Das kontinentaleuropäische Urheberrecht aus den verschiedenen Ländern der Erde er-
entstand als Produkt der Französischen Re- halten heutzutage für ihre Werke fast in allen
volution. Der Ausgangspunkt der Urheber- Ländern im Prinzip den gleichen Schutz. Zwi-
rechtsgesetzgebung wich von der englischen schen den Gesetzen der einzelnen Länder be-
darin ab, daß m an dem Urheber ein m it der stehen dennoch auch große Unterschiede z. B.
Schöpfung eines Werkes entstandenes geisti- in bezug auf die Schutzfrist, von anderen De-
ges Eigentum an seinem Werk zusprach. tails gar nicht zu reden.
Obwohl die Andersartigkeit der theoreti-
schen Ausgangspunkte bei der Gesetzgebung
bem erkenswert ist, wichen die praktischen 2. Schutzgegenstand des
Anwendungen nicht entscheidend voneinan- Urheberrechts
der ab.
2.1.  Schutzgegenstand des Urheberrechts sind
1.4.  Die Urheberrechtsgesetze eines jeden schriftliche und künstlerische Werke. In eini-
Staates sind nur in dem jeweiligen Staat gel- gen Ländern (z. B. in Deutschland) werden
tendes Recht. Schon ziem lich früh gelangte zusätzlich zu diesen beiden Gruppen nam ent-
m an zu der Überlegung, daß der Urheber- lich wissenschaftliche Werke erwähnt.
rechtsschutz nicht greifen konnte, wenn er Die Urheberrechtsgesetze enthalten ge-
nicht auch den Werken von ausländischen wöhnlich einen sog. Werkkatalog bzw. einen
Staatsbürgern gewährt würde und wenn er in Katalog der Werkarten, deren Schöpfer
den verschiedenen Ländern sehr unterschied- Schutz genießen. Zu diesen Werkarten gehö-
lich wäre. 1886 wurde die Berner Überein- ren Schriftwerke (seien sie nun literarisch oder
kunft zum Schutz von Werken der Literatur wissenschaftlich), m ündliche Werke wie Re-
und Kunst unterzeichnet. Die Konvention ba- den, Musik- und Film werke, Werke der Tanz-
siert auf den Grundsätzen der Inländerbe- kunst, der bildenden Künste und der Bau-
handlung und der Mindestrechte. Ersteres be- kunst, Produkte der sog. angewandten Kunst,
deutet, daß jedes Vertragsland einen Staats- Computerprogramme usw.
bürger eines anderen Vertragslandes in bezug Der Katalog der Werkarten um reißt das
auf das Urheberrecht wie einen eigenen Feld, auf dem Urheberrecht überhaupt in Be-
Staatsbürger behandeln m uß. Der letztere tracht kom m en kann. Ungeschützt bleiben
Grundsatz besagt, daß ein Vertragsland einem som it z. B. Erfindungen, wissenschaftliche
Staatsbürger eines anderen Vertragslandes die Theorien und Ideen sowie z. B. Wettbewerbs-
im Abkom m en ausgewiesenen Mindestrechte verfahren. Der Werkkatalog der Urheberge-
zu gewähren hat. In der Praxis führt dies setze ist jedoch nur ein Beispielkatalog der
900 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

üblichsten zu schützenden Werkarten. Auch heberrechte des Arbeitnehm ers auf den Ar-
für andere als in dem Katalog erwähnte beitgeber übergehen. Werden keine Verein-
schriftliche und künstlerische Werke kann de- barungen getroffen, steht m an vor Schwierig-
ren Schöpfer Urheberrechtsschutz erhalten. keiten. Zur Lösung einer solchen Situation ist
Dem Übersetzer und dem Bearbeiter steht vorgeschlagen worden, daß die Urheberrechte
ein Urheberrecht für ihre eigene schöpferische als in dem Maße auf den Arbeitgeber über-
Leistung zu. gegangen angesehen werden, wie zur Verwirk-
lichung des Zwecks des Arbeitsvertrages not-
2.2.  Jedoch nicht jede beliebige schriftliche, wendig ist.
bildliche u. ä. Schöpfung genießt Urheber-
rechtsschutz. Schutz wird nur eigenständigen
Werken gewährt. So heißt es z. B. in § 2 des 4. Inhalt des Urheberrechts
deutschen Urhebergesetzes: „Werke im Sinne
dieses Gesetzes sind persönliche geistige 4.1.  Das Urheberrecht besteht aus einer
Schöpfungen.“ Diese Forderung bedeutet, Gruppe von Rechten, die entweder Verwer-
daß das Werk vom individuellen Geist des tungsrechte oder Urheberpersönlichkeits-
Urhebers geprägt sein m uß. In der Urheber- rechte sind.
rechttheorie spricht m an oft von statistischer Die Verwertungsrechte sind in der Form
Einm aligkeit: ein Werk ist eigenständig, wenn von Alleinrechten verwirklicht. Indem er diese
m it großer Wahrscheinlichkeit niem and an- nutzt, kann der Urheber den Gebrauch seines
deres das gleiche Werk geschaffen hätte. Wei- Werkes kontrollieren. Sie sind ferner die
terhin wird verlangt, daß die Individualität Grundlage dafür, daß der Urheber den wirt-
und Eigenständigkeit ein gewisses Niveau schaftlichen Nutzen aus seinem Werk ziehen
aufweisen m uß, eine sog. Gestaltungshöhe. kann.
Ob diese Gestaltungshöhe erreicht ist oder Verwertungsrechte sind einerseits das Ver-
nicht, entscheidet letzten Endes das Gericht vielfältigungsrecht und andererseits das
aufgrund des Gesam teindrucks nach je nach Recht, das Werk der Öffentlichkeit anzubie-
Werktyp wechselnden Kriterien. Bei Schrift- ten.
werken z. B. wird die Anforderung relativ Die Herstellung von Vervielfältigungsstük-
leicht erreicht. Ungeschützt bleiben lediglich ken bedeutet, dem Werk eine physische Ge-
Kurznachrichten, gewöhnliche Anzeigen, Wa- stalt zu geben, m . a. W. seine körperliche Fest-
renkataloge usw. legung. Jeder, der einen Artikel m it der Hand,
Bei der Beurteilung der Gestaltungshöhe der Schreibm aschine oder einem Textverar-
ist kein Platz für künstlerische Kriterien. Hin- beitungssystem schreibt, fertigt ein Vervielfäl-
sichtlich des Schutzes befinden sich m inder- tigungsstück dieses Werkes an. Derjenige, der
wertige Werke in der gleichen Position wie dieses dann m ittels Fotokopie oder Druck
hochwertige. vervielfältigt, fertigt ebenso Vervielfältigungs-
stücke davon an. Vervielfältigungen lassen
sich vom gesam ten Werk oder einem Teil da-
3. Der Urheber von herstellen; wer ein kurzes Zitat aus einem
Werk kopiert, fertigt also ein Vervielfälti-
3.1.  Ein Urheberrecht steht dem jenigen zu, gungsstück des Werkes an.
der ein Werk geschaffen hat. Das Recht ist Der Öffentlichkeit angeboten wird das
entstanden, wenn ein Werk geschaffen wor- Werk in Abhängigkeit vom Werktyp durch
den ist. Als Schöpfer eines Werks kann nur Auf- bzw. Vorführung (z. B. ein Film werk),
ein Mensch in Frage kom m en, niem als eine durch Verbreitung seiner Vervielfältigungs-
juristische Person (z. B. eine Gesellschaft) und stücke in der Öffentlichkeit (z. B. ein Schrift-
auch nicht z. B. ein Com puter. In einigen werk) oder durch öffentliche Ausstellung
Ländern jedoch wird z. B. Film produzenten (z. B. ein Gemälde).
ein ursprüngliches Urheberrecht gewährt In einigen Ländern enthält das Urheber-
(z. B. in den USA). gesetz eine Vorschrift über eine Vergütung
Ein Werk kann m ehrere Urheber haben, für Schriftsteller dafür, daß ihre Werke in
deren gemeinsame Schöpfung das Werk ist. öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen werden
Ein großer Teil der Werke wird in Arbeits- können (z. B. der Bibliotheksgroschen in
oder Dienstverhältnissen geschaffen. Der Ar- Deutschland). In anderen Ländern (z. B. in
beitgeber und der Arbeitnehm er können ver- Finnland) sind solche Bibliotheksvergütun-
einbaren, ob und in welchem Maße die Ur- gen aus dem Urheberrechtssystem ausgeglie-
dert.
75.  Copyright 901

4.2.  Von den Urheberpersönlichkeitsrechten auch in vielen Ländern durch Fotokopie oder
sind die üblichsten das Recht auf Anerken- entsprechende Verfahren Vervielfältigungs-
nung der Urheberschaft bzw. das Recht, bei stücke von Werken m it Genehm igung der die
dem Gebrauch des Werks die Erwähnung des Urheber vertretenden Organisation herstellen
Nam ens des Urhebers zu verlangen und ein — also ohne die Erlaubnis jedes einzelnen
Respektierungsrecht bzw. das Recht zu for- Urhebers einzuholen.
dern, daß das Werk nicht in einer Weise ge- Die Urheberrechtsgesetze einiger Länder
ändert oder in einem solchen Zusam m enhang lassen die Herstellung von Vervielfältigungs-
wiedergegeben wird, der geeignet ist, die per- stücken ohne Erlaubnis des Urhebers für die
sönlichen Interessen des Urhebers am Werk besonderen Bedürfnisse von Sehgeschädigten
zu verletzen. zu.
Zu den Urheberpersönlichkeitsrechten wird Vielfältige andere Beschränkungen lassen
in einigen Ländern nam entlich das Recht des sich finden.
Urhebers gezählt zu entscheiden, ob und wie
er sein Werk veröffentlicht (z. B. in Deutsch- 4.4.  Das Urheberrecht dürfte in keinem Land
land). In anderen Ländern (z. B. in allen skan- ohne Beschränkungen in Kraft sein. Nach der
dinavischen Ländern) wird diese Entschei- Berner Übereinkunft ist das Urheberrecht
dungsgewalt als Verwertungsrecht betrachtet, während der Lebenszeit des Urhebers und
obgleich es zweifelsohne einen starken per- wenigstens 50 Jahre danach in Kraft. In
sönlichen Charakter hat. Deutschland z. B. dauert der Schutz bis 70
Jahre nach dem Tod des Urhebers. Nach dem
4.3.  Die angeführten Verwertungsrechte des Welturheberrechtsabko mm en beträgt die
Urhebers sind auf viele Weise beschränkt, so- Schutzfrist 25 Jahre.
wohl wegen privater Interessen als auch aus
kulturellen und sogar sozialen Gründen. Die
Beschränkungen weichen in den verschiede- 5. Nutzung des Urheberrechts
nen Ländern voneinander ab und sind auch
auf unterschiedliche Weise verwirklicht. 5.1.  Sein Urheberrecht kann der Urheber vor
Dam it das Urheberrecht die Handlungs- allem dadurch nutzen, daß er — außer indem
freiheit von Privatpersonen nicht zu stark be- er Vergütungen und Bestrafung für erfolgte
schränkt, ist im allgem einen jedem erlaubt, Rechtsverletzungen verlangt — Verträge m it
von veröffentlichten Werken einige Verviel- Verlegern, Schallplattengesellschaften, Film -
fältigungsstücke zum privaten und sonstigen produzenten usw. abschließt.
eigenen Gebrauch herzustellen. Hinter dieser Vollständig kann der Urheber sein Urhe-
Beschränkung des Urheberrechts stecken berrecht im allgem einen nicht einem anderen
auch Überwachungsschwierigkeiten: der Ur- übertragen. Die Übertragung des Urheber-
heber kann nicht kontrollieren, was z. B. im rechts geschieht stattdessen gewöhnlich so,
Familienkreis geschieht. daß der Urheber einem anderen das Recht
Der Zweck des Zitierens ist es, eine Hilfe einräum t, einzelne Kom ponenten seines Ur-
beim geistigen Schaffensprozeß zu sein. Zitate heberrechts (Anfertigung von Vervielfälti-
werden vor allem in wissenschaftlichen Wer- gungsstücken, Verbreitung, Vorführung usw.)
ken verwendet, um etwas zu belegen, als zu- zu gebrauchen. Der Schöpfer eines Schrift-
sätzliche Erläuterung, im kritischen Sinne werks kann z. B. einem Verleger das Recht
usw. Die Urhebergesetze erlauben im allge- einräum en, Vervielfältigungsstücke von sei-
m einen das Zitieren, wenn es anständigen Ge- nem Werk herzustellen und der Öffentlichkeit
pflogenheiten entspricht und in einem dem anzubieten oder einem Theater das Recht,
Zweck angemessenem Umfang geschieht. sein Werk aufzuführen. Für dieses Nutzungs-
Allgem ein ist das Alleinrecht des Urhebers recht handelt der Urheber m it dem Verleger
im Kirchen-, Schul- oder Unterrichtsge- bzw. Theater eine Vergütung aus. Das dem
brauch u. a. dadurch beschränkt, daß Teile Verleger oder Theater eingeräum te Recht
eines Werkes ohne Erlaubnis des Urhebers in kann entweder exklusiv oder einfach sein. In
dort verwendete Anthologien übernom m en ersterem Falle erhält der Verleger das Allein-
werden dürfen. Die Wiedergabe und das recht für die Veröffentlichung des Werks und
Überspielen von Werken auf Ton- oder Bild- das Theater für die Aufführung des Werks.
träger für Unterrichtszwecke liegen ebenfalls Aber der Urheber kann auch ein beschränktes
oft außerhalb der Verfügungsgewalt des Ur- Exklusivrecht einräum en: der Verleger erhält
hebers. Für Unterrichtszwecke kann m an das Alleinrecht, das Werk in einem bestim m -
ten Gebiet, zu einer bestim m ten Zeit, in einer
902 VI. Gesellschaftliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit

bestim m ten Sprache usw. zu veröffentlichen. z. B. die SACEM in Frankreich und die
Die Rechte lassen sich noch weitgehender auf- GEMA in Deutschland. Neuerdings, nach-
teilen: dem Verleger wird z. B. das Recht über- dem vor allem die Reglem entierung des Fo-
tragen, ein Werk als ‘gewöhnliches’ Buch zu tokopierens zugenom m en hat, sind auch ent-
veröffentlichen, und dem Urheber bleibt so- sprechende Organisationen zur Überwachung
m it das Recht, es als Buchclubbuch, Taschen- der Nutzung und Verwertung von Schriftwer-
buch, Fortsetzungsrom an usw. zu veröffent- ken entstanden.
lichen. Diese Rechte kann er dann an einen
anderen Verleger veräußern. Der Theaterdi-
rektor wiederum braucht vielleicht überhaupt 6. Literatur
kein Alleinrecht: ihm reicht m öglicherweise
Cheng-si, Zheng. 1990. Copyright in China, in An-
die bloße Genehm igung (Lizenz), das Werk
cient Tim e, Today and in Future. Internationale
aufzuführen. In diesem Fall können andere
Gesellschaft für Urheberrecht e. V. Jahrbuch —
Theater auf Wunsch das Recht erhalten, das-
Yearbook — Revue Annuelle — Anuario 1990,
selbe Stück gleichzeitig aufzuführen.
75—78.
Über einige der zentralsten, die Übertra-
gung des Urheberrechts betreffenden Verträge Despois, Henri. 1978. Le droit d’auteur en France.
wie z. B. den Verlagsvertrag, enthalten die Paris.
Gesetze der verschiedenen Länder im allge- Dietz, Adolf. 1978. Das Urheberrecht in der Euro-
meinen höchst detaillierte Vorschriften. päischen Gemeinschaft. Baden-Baden.
Haarm ann, Pirkko-Liisa. 1992. Tekijänoikeus, lä-
5.2.  Im Zeitalter der heutigen Massennutzung hivikeudet ja vikeus valokuvaan. Helsinki.
von Werken wachen in vielen Sektoren darauf Hubm ann, Heinrich. 1987. Urheber- und Verlags-
spezialisierte Organisationen über die Ver- recht. München.
wirklichung des Urheberrechts: anstelle einer Jam es, E. P. Skone, Mum m ery, John F., Jam es,
individuellen Überwachung ist m an som it zu J. E. Rayner, Latm an, Alan & Silam n, Stephen.
einer Kollektivüberwachung übergegangen. 1980. Copinger and Skone Jam es on Copyright.
In den m eisten Fällen ist die Überwachungs- London.
aufgabe m it dem Einzug und der Abrechnung Schricker, Gerhard (ed.). 1987. Urheberrecht.
der zu entrichtenden Vergütungen verbunden. München.
Die ältesten dieser Organisationen sind im
Interesse der Kom ponisten entstanden, wie Pirkko-Liisa Haarmann, Helsinki (Finnland)
Tafel/Plate I

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