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Niklas Luhmann

Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung


In: Luhmann, Niklas / Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1990
(Suhrkamp)

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Unterscheidungen verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen gemacht werden. Das heißt auch:
sie können gewählt werden. Man macht die eine oder die andere Unterscheidung, um etwas be-
zeichnen zu können. Jede Bezeichnung setzt eine Unterscheidung voraus – auch dann, wenn das,
wovon sie etwas unterscheidet, gänzlich unbestimmt bleibt. Sagt man Sokrates, so meint man So-
krates und niemanden sonst. In diesem Falle fällt das, wovon das Bezeichnete unterschieden
wird, mit dem zusammen, wovon die Unterscheidung selbst unterschieden wird. In anderen Fäl-
len kommt diese Unterscheidung der Unterscheidung hinzu. Zum Beispiel wird etwas als groß
bezeichnet, um es von Kleinem zu unterscheiden, nicht dagegen von etwas Leisem (laut/leise)
und oder etwas Langsamem (schnell/langsam).
Ungeachtet dieses Unterschiedes von unterscheidenden Unterscheidungen und nichtunterschei-
denden Unterscheidungen, den wir hier nicht weiter verfolgen wollen1, kommt eine Unterschei-
dung nur vor, wenn sie gemacht wird. Wenn sie nicht gemacht wird, wird sie nicht gemacht. Sie
ist nur eine Operation, hat also einen über Zeit vermittelten Bezug zur Faktizität. Sie realisiert
sich selber, allerdings nur für einen Moment, und sie muß sich dann am Bezeichneten ihrer Kon-
tinuierbarkeit und ihrer Wiederholbarkeit versichern, um sich zu de-arbitrarisieren.
Wir wollen eine Operation, die etwas unterscheidet, um es zu bezeichnen, Beobachtung nennen.
Ohne Unterscheidungen sind Beobachtungen nicht möglich. Mit Unterscheidungen geraten sie

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Und zwar: um den Paradoxieverdacht zu vermeiden, der aufkommen könnte, wenn man fragt, ob dieser Unterschied
selbst eine unterscheidende oder eine nichtunterscheidende Unterscheidung ist. »Unterschied« (in Unterscheidung
von »Unterscheidung«) dient uns mithin als Paradoxieabwehrbegriff. Natürlich nur: im Moment.

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unter die Bedingungen der Zeit, das heißt: in den Bann der Frage, ob eine De-arbitrarisierung ge-
lingt oder nicht. Wenn sie gelingt, nimmt man an, daß die Operation der Beobachtung weltad-
äquat läuft. Wenn sie gelingt, nimmt man außerdem an, daß das Problem der Paradoxie geschickt
vermieden ist. Sehr zu Unrecht, wie eine genauere Analyse immer wieder zeigen kann.
Somit gilt qua Definition: ohne Beobachtung keine Unterscheidung. Das heißt dann zugleich: der
Beobachter selbst ist die erste Unterscheidung2. Aber: wie ist er das? Will man ihn unterscheiden,
erfordert das eine weitere Beobachtung – sei es die eines anderen Beobachters, sei es die dessel-
ben Beobachters zu einem späteren Zeitpunkt. Daraus folgt, daß Beobachtungen nur in einem
Netzwerk von sozialer und zeitlicher Ausdehnung möglich sind, in dem es zu rekursiven Beob-
achtungsverhältnissen kommen kann. In einem solchen Netzwerk ist dann jede Beobachtung die
erste Beobachtung, sofern sie als solche beobachtet wird. Und es gibt keinen Anfang und kein
Ende des Beobachtens, sofern nicht das Beobachten schon angefangen und noch nicht aufgehört
hat. Der Begriff des Beobachtens zwingt mithin dazu, Beobachtungsverhältnisse zweiter Ord-
nung, also ein Beobachten von Beobachtungen – zu beobachten.
Damit ist noch nicht geklärt, was beobachtet wird, wenn Beobachtungen beobachtet werden. Da
Beobachten Unterscheiden ist, kann es nur darum gehen zu beobachten, mit Hilfe welcher Unter-
scheidungen ein Beobachter beobachtet. Jede Unterscheidung ist mithin Unterscheidung eines
Beobachters, der hinreichend ausgerüstet ist, um sie zu machen3. Jede Unterscheidung ist also
konditionierte Willkür.4 Auch wenn jemand Sein/Nicht-

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2 So, in Anwendung der »Laws of Form« von George Spencer Brown (2. Aufl. London 1971), Fritz B. Simon, Un-
terschiede, die Unterschiede machen: Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psy-
chosomatik, Berlin 1988, S. 44.

3 Wir lassen in dieser Abstraktionslage ganz offen, ob es sich um einen Menschen oder um eine Maschine, ein Ge-
hirn, ein Bewußtsein oder ein Kommunikationssystem handelt. Das sind bereits Unterschiede der Ausrüstung des
Beobachters.

4 Ein offener (und erläuterungsbedürftiger) Widerspruch zur kantischen Begriffsbildung. Für Kant war Willkür gera-
de bestimmt durch das Fehlen empirischer Bedingtheiten, und der Sinn dieses Begriffs lag in seiner Unterscheidung
vom positiven (aber ebenfalls: empirisch unbe-

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sein oder Gegenstand und Erkenntnis oder wahr/nichtwahr unterscheidet, kann man noch fragen:
warum gerade so und nicht anders.
Fragt man nach den Konditionierungen des Beobachters, dann beobachtet man den Beobachter,
dann beobachtet man beobachtende Systeme5. Als immer schon konditionierte Operation kann
sich keine Beobachtung der Beobachtung entziehen. Es gibt kein Entrinnen. Es gibt keinen unbe-
obachtbaren, keinen extramundanen Standort für Beobachter. Oder anders gesagt: die Theorie der
Beobachtung beobachtender Systeme ist eine auf sich selbst an- wendbare Universaltheorie.

II

Ohne die erkenntnistheoretischen Implikationen dieser Darstellung hier weiter zu verfolgen, neh-
men wir uns nunmehr eine bestimmte Unterscheidung vor, nämlich die von Anfang und Ende.
Das Wichtigste ist bereits gesagt. Auch diese Unterscheidung kommt nur vor, wenn sie vor-
kommt. Es gibt also keinen Anfang und kein Ende als Tatsachen, die man unabhängig von einem
Beobachter feststellen könnte (schon deshalb nicht, weil es ja auch gar keinen unabhängigen Be-
obachter gibt6). Wenn man einen Anfang oder ein Ende feststellen will, muß man also das Sys-
tem, das anfängt, beobachten. Und wenn man feststellen will, wie es möglich ist, Anfang und
Ende zu beobachten, muß man
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dingten) freien Willen. Diese Begrifflichkeit war aber nur mit Hilfe der Unterscheidung empirisch/transzendental
formulierbar, während Systemtheorie und Kybernetik der Beobachtungsverhältnisse (second order cybernetics) gera-
de leugnen, daß es empirisch Unkonditioniertes überhaupt geben kann. Ein Begriff wie Willkür wird dann zum Hin-
weis, daß daraufhin der Beobachter beobachtet werden muß.

5 Siehe die Forschungen, die sich heute als Neokybernetik oder als Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnen; vor al-
lem Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981. Dt. Übersetzung (Auswahl), Sicht und Einsicht:
Versuche einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985.

6 Ohnehin weiß man ja spätestens seit den Antinomien der reinen Vernunft (erste Antinomie), daß dies, auf die Welt
angewandt, zu einem empirisch unauflösbaren Widerspruch und dadurch zum transzendentalen Idealismus führen
würde.

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einen Beobachter beobachten. Das Anfangen selbst kann nur anfangen7.
Die Frage, was beobachtet wird, wenn ein Anfang bzw. ein Ende beobachtet wird, läßt sich leicht
beantworten. Es handelt sich immer um das Wirksamwerden bzw. Unwirksamwerden von Be-
schränkungen, und zwar in beiden Fällen: mit noch nicht feststehenden Konsequenzen, so daß
der Beobachter auf weiteres Beobachten verwiesen wird. Das führt aber nur auf zwei weitere Fra-
gen. Die erste lautet: wie ein Beobachter beobachtet, wenn er Anfang und/oder Ende beobachtet 8.
Die zweite lautet: wer beobachtet? Oder anders gefragt: wer sieht einen Anfang bzw. ein Ende in
bestimmten Ereignissen und wer vielleicht nicht? Die Klärung der »Wie-Frage« ist Vorausset-
zung für die Klärung der »Wer-Frage«. Wir müssen daher zunächst klären, wie man beobachtet,
wenn man einen Anfang oder ein Ende beobachtet.
Hier gilt es vor allem, einen wichtigen Punkt zu beobachten. Da es sich um eine Unterscheidung
handelt, gibt es keinen Anfang ohne Ende und kein Ende ohne Anfang (so wie es auch nichts
Großes ohne Kleines, nichts Heißes ohne Kaltes gibt). Gewiß kann man, wenn man nur die eine
Seite der Unterscheidung be- zeichnen will, die andere im Unbestimmten lassen, also zum Bei-
spiel offenlassen, wann und wie das aufhört, was angefangen hat. Die Unterscheidung erreicht ihr
Ziel in der Bezeichnung der einen oder der anderen Seite, und unterscheidungspragmatisch kann
man sich oft damit begnügen. Nur kann man die Frage nach dem Ende nicht mehr eliminieren,
wenn man meint, einen Anfang feststellen zu können; und das gleiche gilt, in Umkehrung, für das
Ende. Wer von Anfang spricht und bestreitet, daß das
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7 Auch das französische Sprichwort hält dies fest: il faut commencer par le commencement. Dazu Hans Robert Jauß,
»Il faut commencer par le commencement!«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und
Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik, Bd. XII, München 1987, S. 562-570.

8 Zur Klarstellung des »und/oder«. Man muß von »und« sprechen, wenn man die Komponente Unterscheidung
meint, dagegen von »oder«, wenn man die Komponente Bezeichnung meint. Da beides unentbehrliche Bestandteile
der Operation Beobachtung sind, kann die Operation als Einheit nur mit dieser Doppelterminologie bezeichnet wer-
den. Wir werden diese Umständlichkeit im folgenden jedoch nur beachten, wenn es auf diesen Grad der Genauigkeit
ankommt.

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Angefangene ein Ende haben könne, ist in eine falsche Terminologie geraten 9. Die alteuropäische
Tradition (und noch Rousseau) hatte dies zu der Regel verdichtet: si qua finiri non possunt, extra
sapientiam sunt: sapientia rerum terminos novit10. Wer etwas beginnt, ohne ein Ende abzusehen,
handelt unklug. Ebenso ist aber auch das, was angefangen hat, erst feststellbar, wenn es am Ende
angekommen ist.
Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß es sich bei »Anfang und
Ende« um eine Unterscheidung zweiter Stufe handelt, nämlich um eine Unterscheidung, die eine
andere Unterscheidung voraussetzt, und zwar die von »Vorher und Nachher«. Die Unterschei-
dung »Anfang und Ende« setzt ein zweimaliges »Vorher und Nachher« voraus, nämlich am An-
fang und am Ende. Verdeutlichen wir uns dies an Hand einer Skizze:

Anfang -------------------------------------------------------- Ende

Vorher/Nachher Vorher/Nachher

Die Unterscheidung Vorher/Nachher ist viel breiter und anspruchsloser verwendbar, vor allem in
der historischen Forschung: Europa vor und nach der Erfindung des Buchdrucks, vor und nach
der Syphilis, vor und nach der Einführung der Kartoffel, vor und nach der Erfindung der Artille-
rie etc. Will man je- doch feststellen, daß etwas und was etwa damit »angefangen« hat, kommt
man um die Frage nach dem Ende nicht mehr herum. Dann definiert man eine Periode, etwa die
Neuzeit, die dann solange dauert, bis der Buchdruck (etwa durch Computerzugang) ersetzt wird,
bis die Syphilis medizinisch kontrollierbar ist etc. Will man sich auf eine solche Ende-Bestim-
mung nicht einlassen,
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9 Natürlich kann man für eine normative bzw. evaluative Terminologie optieren und sagen, mit Freiheit, Demokratie,
Frieden, Erziehung etc. habe es zwar angefangen, solle es aber nie zu Ende sein. Aber gerade dann ist, da eine solche
Terminologie nur einen kontrafaktischen Sinn hat, interessant, genauer zu klären, unter welchen Umständen es dann
damit zu Ende wäre – und sei es nur, um sich rechtzeitig auf ein Vermeiden des Endes vorbereiten zu können.

10 Seneca Epistula 94,16 zit. nach Philosophische Schriften, Bd. 4, 2. Aufl., Darmstadt 1987, S.424

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sollte man auch die Bestimmung eines Anfangs vermeiden. Es genügt dann die einfache
Vorher/Nachher-Unterscheidung. Die Aggregation zweier Vorher/Nachher-Unterscheidungen
durch die Anfang/Ende-Unterscheidung bringt also einen Sinnzuwachs, der dem einfachen Ereig-
nis, das das Vorher vom Nachher trennt, als eine anspruchsvollere Sinngebung aufgedrängt wird.
Das muß man als Konditionierung des Unterscheidens akzeptieren – mit dem Trost, daß man ja
gar nicht so unterscheiden muß, sondern man sich mit der einfacher gebauten Beobachtung von
Vorher und Nachher ins Getümmel begeben kann.
Die Unterscheidung Anfang/Ende schränkt mithin die Freiheits- grade ein, mit denen die
Vorher/Nachher-Unterscheidungen gehandhabt werden. Sie wählt aus der Menge der möglichen
Anwendungen der Unterscheidung von »Vorher und Nachher« einige wenige aus, die sich zur
Markierung von Anfängen bzw. Enden eignen. Man kann dies als Reduktion von Komplexität
zum Aufbau von Komplexität bezeichnen oder auch als Herstellung von Indifferenz für das Viele
zur Ermöglichung der Beobachtung des Besonderen (Abkopplung). Das kann, muß aber nicht be-
deuten, daß die Verbindung von Anfang und Ende über kanalisierte Kausalitäten, also gleichsam
technologisch, gesichert sein muß. Es genügt die Markierung selbst, um den Beobachtungsprozeß
zu steuern; und jedenfalls wird es unter hochkomplexen Bedingungen zunehmend unwahrschein-
lich, daß jemand ausgerechnet den Anfang als Ursache für das Ende in Anspruch nimmt.
Neben dieser technologischen Falle ist auch die Sinnfalle zu vermeiden. Man darf nicht davon
ausgehen, wozu zum Beispiel die Unterscheidung von Materie und Geist (Geist immer oben!)
verführen könnte, daß die höherstufige Unterscheidung höheren Sinn hat oder sogar im Sinne ei-
nes Emergenzkonzeptes Sinn erst produziert. Gewiß, es gibt Sinn, der erst durch solche Aggrega-
tionen ermöglicht wird, aber auch dann wäre es unzutreffend, Sinn ebenenspezifisch zu lokalisie-
ren, ihn gewissermaßen materiell dem Geiste zuzurechnen. Sinn ist Selektion, und der Sinn der
Unterscheidung von Anfang und Ende ist daher immer mitbe- dingt durch das, wovon und wor-
aufhin selegiert wird. Auch die Indifferenz gegen zahllose andere Verwendungen der Unterschei-
dung von »Vorher und Nachher« gehört mit zum Sinn der Unterscheidung von »Anfang und
Ende«.

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Die Unterscheidung von Vorher und Nachher dient der Definition eines Ereignisses. Die Unter-
scheidung von Anfang und Ende dient der Definition einer Periode. Die Unterscheidung
Vorher/Nachher ist daher viel einfacher zu handhaben. Sie kommt am Ereignis zur Evidenz. Man
geht als Schüler ins Klassenzimmer und ist dann unter der Aufsicht des Lehrers (und eventuell
kann man sich trösten: nur für eine Stunde). Die Unterscheidung von Anfang und Ende ist nie in
dieser Weise evident. Daher ist hier auch die Wahrscheinlichkeit größer, daß verschiedene Beob-
achter Verschiedenes sehen, und zwar auch und gerade dann, wenn sie alle die Unterscheidung
Anfang und Ende anwenden. Soll hier dann Konvergenz des Beobachtens und eventuell Konver-
genz des Folgehandelns gesichert werden, ist man in höherem Maße auf Standardisierungen an-
gewiesen, etwa auf die Uhr oder auf den Kalender oder auch auf organisierten Vollzug der Ope-
rationen. Aber was bedeutet das für den »Sinnzuwachs«, wenn derart technische Bedingungen
eingesetzt werden müssen?
Wenn Erzieher nicht aufhören können zu erziehen, so deshalb, weil sie nie autorisiert waren zu
beginnen. (Dasselbe gilt für Exegeten, Interpreten, Hermeneuten jeder Art.) Sie können keine
Perfektion erkennen, die Gesellschaft läßt das nicht mehr zu. Sie müssen daher sich externen Zei-
chen fügen, sie müssen sich beobachten lassen – und im Zweifel: durch Organisation.

III.

Diese Überlegungen führen bereits auf unsere zweite Frage: auf die Frage, wer beobachtet. Bei
alltäglichen, wahrnehmungsnahen Beobachtungen kann man sie oft vernachlässigen, wenn man
nicht als Therapeut oder Kriminalist unter besonderen Ansprüchen operiert, also als Beobachter
des Beobachters besonders gefordert ist. Wenn nicht, dann verläßt man sich auf hinreichende
Gleichsinnigkeit. Bei aggregierenden Unterscheidungen wird das mehr und mehr anders, und das
Interesse muß sich dann von der Frage, was beobachtet wird, auf die Frage, wie beobachtet wird
und wer beobachtet, verlagern. Das ist unter komplexen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen
mehr und mehr der Fall, und die Kybernetik zweiter Ordnung wird genau deshalb entwickelt, da-
mit auch dafür hinreichende Beobachtungskompetenzen zur

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Verfügung stehen (ein Argument der Beobachtung dritter Ordnung).
Nimmt man Anfang und Ende in einem absoluten Sinne, kommt nur Gott als Beobachter ohne ei-
genen Anfang und ohne eigenes Ende in Betracht. Adam jedenfalls nicht.11 Das hatte, wie andere
Fälle von Extrempositionen des Kleinsten und Größten, des Äußersten und Innersten, des
Schnellsten und Langsamsten, Nikolaus von Kues zur These einer coincidentia oppositorum ge-
führt. In Gott ist nichts unterschieden, also auch Anfang und Ende Dasselbe, und der Eindruck,
daß es den Unterschied von Anfang und Ende gebe, kommt nur durch »contractio « der Welt auf
bestimmte Bewegungen zustande. Nur das Beobachten der Menschen ist an derartige Unterschei-
dungen gebunden, während Gott ante omniam differentiam existiert. Diese Auflösung des Pro-
blems (wie aller Unterscheidungen) in einer die Einheit aller Unterscheidungen garantierenden
Gotteslehre ist die vielleicht eindrucksvollste Lösung unseres Problems. Sie bleibt aber gebunden
an die Festigung der »docta ignorantia« durch den Glauben an Gott.
Dem weicht die Systemtheorie mit dem Postulat eines rekursiven Beobachtens von Beobachtern
aus.12 Die Beobachtung des Beobachters kann sich dann an die für diesen typischen bzw. indivi-
duell bezeichnenden Konditionierungen halten. Diese kann man auf sehr verschiedene Weise sor-
tieren, etwa in der Manier des 19. Jahrhunderts nach (1) Zeitgeist, (2) soziale Klasse und (3) psy-
chologisch. Die Möglichkeiten des Unterscheidens nehmen zu, nicht ab, wenn man im Bereich
der Kybernetik zweiter Ordnung operiert. Hier soll nur eine einzige dieser Möglichkeiten explizit
erörtert werden, die Unterscheidung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung.

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11 »For man to tell how human life began / is hard; for who himself beginning knew«, meint Adam in Miltons Para-
dise Lost – zit. nach Sir Henry Newbolt (Hrsg.), Poems of John Milton, London: Nelson o.J. (1924), S. 177 f.

12 Theorietechnisch heißt dies, daß nur noch von möglichen Unterscheidungen (verschiedener Beobachter) gespro-
chen wird und die für den Cusaner wichtige Unterscheidung zwischen Ununterschiedenheit und der Unterschieden-
heit mehrerer Unterscheidungen aufgegeben wird. Oder anders gesagt: Mögliche Unterscheidungen genügen und
brauchen nicht in einer wirklichen Einheit rückversichert zu werden.

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Normalerweise denkt man bei Beobachtung an Fremdbeobachtung, und besonders das Anfangen
und Beenden scheint einen Beobachter zu erfordern, der gleichzeitig mit dem Anfangen bzw. Be-
enden in Operation ist und bleibt, also kontinuiert. Eben deshalb ist bei dieser Unterscheidung die
Möglichkeit der Selbstbeobachtung ein Problem, das besondere Aufmerksamkeit verdient. Wie
kann ein System seinen Anfang und sein Ende beobachten? Und vor allem: wie kann es das An-
fangen und Beenden seines Beobachtens, also seines Unterscheidens beobachten, wenn der An-
fang schon selbst eine Unterscheidung ist und das Ende noch eine Unterscheidung erfordert?
Natürlich kann ein System sein eigenes Anfangen und Enden nicht im Moment des Anfangens
und Endens beobachten, sondern nur zwischendrin. Der Anfang kann nur im nachhinein erzählt
werden, und die Erzählung wird auf die Folgen des Angefangenhabens reagieren. Am Anfang
war das Wort. Oder am Anfang war der Mord, wenn man Rene Girard glauben will. 13 Erst nach
dem Anfang bildet sich eine Mythologie, die erzählt, wie es angefangen hat und sich dabei be-
stimmen läßt durch die Probleme, die sich aus dem Anfang bereits ergeben haben. Die Mytholo-
gie hängt von den Problemen ab, die nachher zu bewältigen oder zu verdecken waren; so zum
Beispiel von Unsicherheiten, die sich daraus ergeben, daß man nach dem Anfang zwar weiß, daß,
aber nicht wie es zu Ende gehen wird. Das System beobachtet mithin sein Schonangefangenha-
ben und sein Aufhörenkönnen. Immer ist dabei schon etwas nicht mehr zu ändern anderes aber zu
beschleunigen oder noch zu verhindern. Um die eigene Beobachtung im Hinblick auf ihr Anfan-
gen oder Enden erfassen zu können, bedarf es im übrigen des Umwegs über einen externen Beob-
achter, der die Einheit des Vorher/Nachher am Anfang bzw. am Ende garantieren kann. Man
könnte auch sagen: die Selbstbeobachtung des Anfangens und Endens läuft auf eine Paradoxie
hinaus14, und die Externalisierung, also die Abwälzung des Problems auf einen externen Beob-
achter, dient der Entpara-

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13 Le bouc émissaire, Paris 1982.

14 Siehe dazu für ähnliche Grenzfälle dieser Art auf Grund der Spencer Brownschen Logik Ranulph
Glanville/Francisco Varela, »Your Inside is Out und Your Outside is In (Beatles 1968)«, in: George Lasker (Hrsg.),
Applied Systems and Cybernetics, Bd. II, New York 1981, S. 638-641; Ranulph Glanville, »Distinguished and Exact
Lies«, in:

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doxierung der Selbstbeobachtung. Das ändert aber nicht das geringste daran, daß nur geschieht,
was geschieht, und kein System außerhalb seiner Grenzen oder vor seinem Anfang oder nach sei-
nem Ende operieren kann. Ein System kann also nur so verfahren, daß es sich so beobachtet, als
ob es von außen wäre. Und hierfür braucht man einen technischen Behelf, etwa die Uhr oder den
Kalender.
Verfügt man über diese Behelfe, gewinnen Anfang und Ende eine gewisse Unbestreitbarkeit – so
wie die registrierte Stunde der Geburt und, wie anzunehmen, auch des Todes. Im übrigen ist gera-
de die Freiheit der Thematisierung von Anfang und Ende aus der Mitte heraus bemerkenswert.
Man kann sich nach den Um- ständen richten – wenn man zum Beispiel sagen möchte, wann eine
Liebesbeziehung angefangen und wann sie aufgehört hat15, oder wann eine Revolution angefan-
gen und wann sie aufzuhören hat.

IV.

Das, was der Unterscheidung von Anfang und Ende ihre Einheit verleiht, kann in zeitlicher Hin-
sicht auch als Periode bezeichnet werden. Je nachdem, was man als Periode bezeichnen will, re-
gulieren sich Anfang und Ende. Damit ist nicht gesagt, daß man Beliebiges kombinieren könnte;
sondern wiederum nur: daß man den Beobachter beobachten muß, wenn man etwas über die
Konditionierungen erfahren will, auf Grund deren er so und nicht anders unterscheidet.
Auch die Ansprüche an die Interdependenzverdichtung in der Periode können variiert werden.
Will man zum Beispiel technologischen Ansprüchen genügen, müssen Sonderbedingungen erfüllt

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Robert Trappl (Hrsg.), Cybernetics and Systems Research 2, New York 1984, S. 655-662

15 Wer sagt das, und vor allem: wer sagt das dem anderen, ist eines der großen Themen der Liebessemantik gewe-
sen. Deswegen die Tendenz zum Zuvorkommen im Anfangen und der Mythos der »Liebe auf dem ersten Blick« und
deswegen das schwierige Taktieren beim Abkühlen der Beziehung. Wohlgemerkt: jeder Teilnehmer ist für sich
selbst ein ausreichend überzeugungskräftiger Beobachter. Die Frage ist, wie das Kommunikationssystem Liebe sein
eigenes Anfangen und Enden beobachten, das heißt: wie es darüber kommunizieren kann.

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werden. Technologie ist nichts anderes als die Beobachtung der Verhältnisse mit Hilfe von »heil
und kaputt« im Hinblick auf Reparatur oder Ersatz.16 Dazu sind erhebliche Reduktionen erforder-
lich. Zum Beispiel müssen Strukturen und sonstige Konditionierungen gegen Rückwirkungen aus
dem Verlauf der Operationen abgesichert werden – zumindest so weit, daß der Rest dann als Pan-
ne oder als Verschleiß definiert werden kann. Dem entspricht eine relativ deutliche Abgrenzung
nach vorne und nach hinten, die technologische Prozesse vor anderen auszeichnet. Wohlgemerkt:
es handelt sich nicht um einen besonderen Sachverhalt in der Realität (etwa um eine besondere
Typik von vorfindbarer Kausalität), sondern um eine Beobachtung bzw. Beschreibung, die den
Vorteil mit sich bringt, Einsatzentscheidungen zu erleichtern. Es ist leichter anzufangen, wenn
man weiß, wie es läuft, wie man erkennen kann, wenn Fehler gemacht werden oder etwas kaputt
geht, und wie man sich dann helfen kann. Oft nennt man solche Prozesse auch teleologisch, ziel-
gerichtet, zweckorientiert. Dabei kann es bleiben, wenn man unter telos/Ziel/Zweck strikt das in
Aussicht genommene Ende versteht. Aber der Technologiebegriff gibt noch zusätzliche Informa-
tionen über die Art, wie solche Perioden zustande kommen und wo- durch sie gegen andere Be-
obachtungen und Beschreibungen derselben Welt differenziert sind.
Welche historischen und gesellschaftsstrukturellen Gründe auch immer dazu geführt haben: an-
scheinend korreliert der steigende Bedarf für eine technologische Weltbetrachtung mit Perioden-
haftigkeit der Prozesse und mit Projekten als Organisationsform. Die Abstraktion, die das Beob-
achtungsschema der Technologie erzwingt, ist nur auf Zeit akzeptabel. Auf lange Zeit läßt sich
die Rückwirkungsimmunisierung (Norbert Bischof) der Konditionierungen ohnehin nicht auf-
rechterhalten. Hier gilt ein neuer, auf Zeit bezogener kategorischer Imperativ: Wer anfangen will,
muß auch aufhören können. Die Unterscheidung von Anfang und Ende muß auf jeden Fall limi-
tieren, gleichgültig ob das Ziel er- reicht ist oder nicht. Die Periode ist auch dann zu Ende, wenn
die

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16 Ein modifizierter Technologiebegriff könnte auf fehlerfrei/fehlerhaft abstellen im Hinblick auf Lernen. Vgl. dazu
den Einleitungsaufsatz in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz:
Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1982

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Unerreichbarkeit des Zieles feststeht, wenn die Reparatur sich nicht mehr lohnt, wenn eine Er-
satzbeschaffung nicht mehr möglich ist oder wenn allzu gravierende Fehler passiert sind (eine
technologische Variante von Todsünde). Das Ende ist, bezogen auf diese Art von Perioden, kein
Wertbegriff, sondern ein Kriterium. In noch kruderen Fällen wird es einfach durch einen Termin
markiert: Was bis zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft ist, geht überhaupt nicht mehr. Diese Form
wird vor allem dann gewählt, wenn das Ende zugleich Anschlußfähigkeiten ordnet, also mit den
Anfängen anderer Personen zeitlich annähernd zusammenfallen muß.
Technologisch/nichttechnologisch – das ist nur eine der im Zusammenhang mit Periodenbildung
relevanten Unterscheidungen. Eine andere wird mit dem Begriff der Karriere markiert. 17 Karrie-
ren müssen, um sich bemerkbar zu machen, bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllen. Sie
bestehen aus Sequenzen von Perioden, die aneinander anschließen (nicht notwendig zeitlich un-
mittelbar) und aufeinander aufbauen. Die Perioden werden dann noch einmal höher aggregiert.
Sie aggregieren selbst je ihre Anfänge und Enden, aber dies kann, wenn sie Teilstücke einer Kar-
riere sein sollen, nicht beliebig geschehen, sondern jeweils im Hinblick auf Anschlußwerte. Au-
ßerdem sind die Anfänge bzw. Enden der Perioden durch eine Kombination von Selbstselektion
und Fremdselektion bestimmt (also durch eine weitere Unterscheidung markiert), wobei das Ge-
wicht je nach Umständen mehr auf Selbstselektion (Ausrichtung eigener 1nteressen, Bewerbung)
oder mehr auf Fremdselektion (Beurteilung, Zulassung, Rekrutierung) liegen kann. In beiden
Hinsichten sind Freiheitsgrade variabel und einschränkbar. Dadurch wirkt die Karriere insgesamt
als kontingent, und dies ermöglicht, erleichtert, ja erzwingt ihre Zurechnung auf das, was die Ein-
zelperson »leistet«. Die Karrieren können entsprechend einer standardisierten sozialen Bewer-
tung nach oben führen oder nach unten oder auch in eine Ruhelage, in der dann nur noch die er-
reichte Position gehalten werden muß.
Nachdem die soziale Schichtung (Stratifikation) immer weniger

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17 Vgl. die knappe Darstellung in: Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssys-
tem, Neudruck Frankfurt am Main 1988, S. 277 ff.

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in der Lage ist, Individuen der Gesellschaft zuzuordnen, scheinen je individuelle (aber doch über
Fremdselektion beeinflußte) Karrieren die Funktion der Inklusion in die Gesellschaft zu überneh-
men.18 Man ist, was man geworden ist. Teilnahme an Positiv- oder Negativ- oder Nullkarrieren
ist Teilnahme an Gesellschaft, während die Teilnahme an den Funktionssystemen der Politik oder
des Rechtes, der Wirtschaft oder der Erziehung, der Religion oder des Medizinsystems durch de-
ren Inklusionsautonomie geregelt wird – nicht unabhängig von den Karrieren und auch nicht
ohne Rückwirkung auf sie, aber doch nach eigenen strukturellen Bedingungen.
Wir belassen es bei diesen beiden Beispielen: technologische Prozesse und Karrieren. Die Mög-
lichkeiten einer Supracodierung von Perioden sind damit gewiß nicht ausgeschöpft, aber es han-
delt sich um für die moderne Gesellschaft besonders typische Einrichtungen, an denen man den
Aufbau einer Ordnung von temporalen Unterscheidungen studieren kann. All das setzt das nicht
außer Kraft, sondern arbeitet nur aus, was wir generell über Unterscheidungen wissen. Es handelt
sich immer um Konstruktionen eines Beobachters, immer zugleich um faktische Operationen des
Beobachtens und Beschreibens, die ihrerseits von den Konditionierungen des Beobachtens ab-
hängen. Und es handelt sich um willkürliche Unterscheidungen (was aber nur heißt, daß man be-
obachten muß, wer sie trifft), die einem De-arbitrarisierungsprozeß unterworfen werden, in dem
sie sich bewähren oder nicht bewähren. Technologische Prozesse und Karrieren sind demnach
De-arbitrarisierungen, die zugleich Willkür als Kontingenz wiederzulassen. Nur so kann denn
auch unter solchen Bedingungen Anfang und Ende unterschieden werden.

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18 Hierzu näher Niklas Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und
Semantik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149-258 (231 ff.).

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