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himmelreich

Es ist schon eine sehr geheimnisvolle und rätselhafte Sa-


che, wie Nico und Tiny zu einer richtigen Weltraumrakete
kommen. Und als sie dann gemeinsam mit der Schildkröte
Line in unbekannte Fernen starten, erleben sie die sonder-
barsten Abenteuer. Sie lernen die Schwerelosigkeit des
Weltraums kennen und die Anziehungskraft fremder Ster-
ne, die auf ihr Raumschiff nicht ohne Einfluß bleibt.
Schließlich landen sie auf einem merkwürdigen Planeten,
der von seltsamen Wesen, den Utzebules, bewohnt wird.
Und damit beginnt eine Kette aufregender und gefährlicher
Abenteuer, in denen die drei beweisen müssen, wie man
sich auch unter ganz außergewöhnlichen Verhältnissen in
einer fremden Welt zurechtfindet.
Diese Geschichte, die schon mehrfach gesendetes Hörspiel
viele Jungen und Mädchen begeisterte, ist ein ebenso
spannen des wie modernes Abenteuerbuch, aus dem man
gleichzeitig auch noch viele wichtige Dinge erfährt.

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf

-1-
bestimmt!!!

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LOTHAR STREBLOW

Raketenreise
zu den
Utzebules

-3-
Einband und Illustrationen:
MICHAEL HAYWARD

ISBN 3 7966 0476 5


© Schwabenverlag Ruit bei Stuttgart-
1974

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Gesamtherstellung SV-Druck Ruit

FÜR
MEINEN KLEINEN
GROSSEN SOHN

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NICOS NEUE RAKETE

Es fing eigentlich alles recht harmlos an.


Nico hatte eine funkelnagelneue Rakete
bekommen, eine richtige kleine Modell-
Weltraumrakete: als Belohnung für sein
gutes Schulzeugnis. Und dann war er mit
seinen Eltern in die großen Schulferien
gefahren, auf einen Zeltplatz ans Meer.
Jetzt saß er vor dem Zelt im Gras und
betrachtete voll Besitzerstolz seine Rake-
te. Er hatte sie mit Hilfe seines Vaters
zum ersten Mal zusammengebaut. Und er
konnte sich gar nicht satt sehen daran.
Sie stand steil aufgerichtet an der Ab-
schußrampe und funkelte und glänzte in
der Sonne. Es war wirklich eine prächtige
Rakete. Und sie konnte sogar fliegen und
an Fallschirmen wieder zur Erde gleiten.
Gar zu gern hätte er sich selber in die
Raumkapsel gesetzt und sich in den Welt-
raum schießen lassen. Aber damit mußte
er noch warten, mußte erst groß und er-
wachsen werden und sehr viel lernen.
Manchmal fand er es furchtbar lästig,
noch ein kleiner achtjähriger Bub zu sein.
Und er seufzte tief und sehr laut.
»Was hast du denn?« fragte Tiny, das
kleine Mädchen aus dem Nachbarzelt,
teilnahmsvoll. Nico runzelte unwillig die

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Stirn. Er mochte Tiny sonst ganz gern,
aber da sie ein Jahr jünger war als er und
in der Schule eine Klasse tiefer ging, be-
handelte er sie immer ein bißchen von
oben herab. »Das verstehst du nicht«,
sagte er kurz. »Hm«, machte Tiny.
»Stimmt etwas nicht mit deiner Rakete?«
»Unsinn«, knurrte Nico.
Tiny setzte sich neben ihn ins Gras und
musterte eine Weile stumm die Rakete.
Schließlich sagte sie nachdenklich:
»Hübsch ist sie Ja, nur ein bißchen
klein.«
Nico nickte zustimmend:
»Reinsetzen können müßte man sich.
Und richtig starten!«
»Das wäre fein«, sagte Tiny begeistert.
»Würdest du mich dann mitnehmen?«
Nico zog erstaunt die Brauen hoch.
»Wieso denn dich? Du bist doch ein Mäd-
chen!«
»Na und?« sagte Tiny ein wenig schnip-
pisch. »Es gibt auch Frauen als Raumfah-
rerinnen. Ich glaube, bei den Russen. Das
weißt du wohl gar nicht?«
Nico schluckte heftig. Er mochte es nicht
sehr gern, wenn Mädchen recht hatten.
»Naja«, sagte er rauh. »Aber die ersten
Mondfahrer waren Männer.«

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Tiny lächelte schelmisch.
»Also haben wir beide recht. Nimmst du
mich nun mit?«
»Hm«, machte Nico. Dann sagte er un-
wirsch: »So ein Quatsch. Es geht ja gar
nicht.«
»Eigentlich schade«, murmelte Tiny
kleinlaut. Sie schien über irgend etwas
sehr angestrengt nachzudenken, sagte es
aber nicht und ging langsam und mit ge-
krauster Stirn zum Strand. »Mach’s gut«,
rief sie ihm noch zu. Nico stand seufzend
auf. Er hatte plötzlich keine Lust mehr,
mit seiner Rakete zu spielen. Die erinner-
te ihn nur daran, daß er noch so klein
war. Und daran wollte er nicht erinnert
werden, jedenfalls jetzt nicht. Er wollte
lieber nach Line, seiner Schildkröte, se-
hen und ihr ein schönes Löwenzahnblatt
bringen. Line fraß leidenschaftlich gern
Löwenzahn. Vor Jahren hatten sie Line in
Montenegro gefangen. Jetzt war sie ganz
zahm und fraß aus der Hand. Und wenn
sie wegfuhren, kam Line immer mit: sie
gehörte zur Familie. Außerdem hatte Line
Eigenschaften, die Nico sehr schätzte:
Line konnte stundenlang geduldig zuhö-
ren, ohne ihn mit unbequemen Fragen zu
unterbrechen. Und sie war trotz ihrer
stattlichen Größe von einem Viertelmeter

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ihm gegenüber doch ziemlich klein. Bei
ihr kam er sich schon beinahe erwachsen
vor. Und das konnte er jetzt brauchen.
Gerade wollte er zum Zelt gehen, da
kamen seine Eltern in Badesachen her-
aus. Und sein Vater rief: »Kommst du mit
ins Wasser, Nico?«
Auch nicht schlecht, überlegte Nico.
Vielleicht war Tiny noch am Strand, und
sie konnten zusammen Wasserball spie-
len?
»Klar!« rief er zurück. »Ich komme!«
Er schnappte seinen Ball, Badehose hat-
te er schon an, und rannte hinter seinen
Eltern her zum Strand. Seine neue Rake-
te hatte er völlig vergessen.

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TINY UND DIE GIESSKANNE

Als Nico ans Meer kam, sah er seine El-


tern durch die flache Brandung springen.
Sie bespritzten sich lachend gegenseitig
mit Wasser und winkten ihm zu, er möge
hereinkommen. Aber er hatte keine Lust.
Suchend sah er sich um. Dann entdeckte
er Tinys knallroten Badeanzug. Sie war
sehr beschäftigt, ihre kleine Gießkanne
mit Meerwasser zu füllen.
»Hör mal, Tiny«, rief er, »spielst du mit
Wasserball?«
Tiny schüttelte ihren Wuschelkopf.
»Keine Zeit«, sagte sie geheimnisvoll.
»Was machst du denn da?« fragte er
überflüssigerweise.
Tiny lachte.
»Wird nicht verraten«, sagte sie pru-
stend.
Sie schöpfte noch einmal und ver-
schwand, vorsichtig ihre randvolle Gieß-
kanne balancierend, eilig zwischen den
Zelten.
»So was Albernes«, knurrte Nico und
sah ihr wütend nach.
Langsam stapfte er ins Wasser. Das
Meer war warm und hatte kaum Wellen,

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genau richtig zum Wasserballspielen.
Aber mit wem? Seine Eltern tobten aus-
gelassen und wüst spritzend durch die
Brandung. Er rief. Aber sie hörten ihn na-
türlich nicht. Nico wurde noch wütender.
Das sollte ich mal machen, dachte er,
einfach nicht hören, wenn man ruft. Nur
Kinder müssen immer hören. Wenn ich
doch bloß endlich erwachsen wäre! Und
plötzlich fiel ihm seine Rakete ein. Mit ein
paar gewaltigen Sätzen sprang er an den
Strand und lief, so schnell er konnte, zu-
rück zum Zeit. Und was er dort sah, ließ
ihn wie angewurzelt stehenbleiben.
Seine Rakete war weg! Nur ein kleines
Mädchen stand dort in einem knallroten
Badeanzug. Das mußte Tiny sein. Sie
starrte wie gebannt auf etwas, das er
nicht erkennen konnte. Er stürmte auf sie
zu und schrie schon von weitem:
»Wo hast du meine Rakete?«
Tiny wandte sich erschrocken um. »Dei-
ne Rakete?« sagte sie erstaunt. »Da steht
sie doch. Kannst du nicht mehr gucken?«
Nico kam heran. Tatsächlich, da stand
die Rakete an ihrem Platz. Er hatte sie
nur nicht sehen können, weil Tiny genau
davor stand. Er atmete erleichtert auf.
Und er schämte sich ein bißchen wegen
seiner grundlosen Verdächtigung. Aber

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das wollte er sich nicht anmerken lassen,
vor Tiny schon gar nicht. »Und was
machst du hier?« fragte er barsch. Tiny
lächelte geheimnisvoll.

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»Ich beobachte was«, flüsterte sie.
»Was denn?«

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Tiny schüttelte den Kopf und betrachte-
te gespannt die Rakete, als erwarte sie
etwas ganz Besonderes. Plötzlich hob sie
ihre Gießkanne und spritzte noch ein paar
Tröpfchen über die Rakete.
»Bist du verrückt!« brüllte Nico. »Die
Rakete wird doch ganz naß!«
»Soll sie ja«, sagte Tiny ernsthaft. »Au-
ßerdem ist sie es schon.«
Nico verschlug es die Sprache. Er starr-
te entsetzt auf seine Rakete. Tiny hatte
recht. Die Rakete war pitschnaß, von
oben bis unten, überall auf ihr glitzerten
dicke Wassertropfen in der Sonne.
»Warst du das?«
»Natürlich«, antwortete Tiny und
schlenkerte vergnügt ihre Gießkanne.
»Ich habe sie gegossen.«
»Du hast sie gegossen?« stammelte Ni-
co fassungslos. »Na klar«, sagte Tiny eif-
rig. »Und jetzt passe ich auf, ob sie
wächst.«
Nico spürte plötzlich eine ungeheure
Wut. »Du dummes Stück!« schrie er au-
ßer sich. »Mach bloß, daß du weg-
kommst!«
Zornbebend ging er auf Tiny los. Und
das kleine Mädchen wich entsetzt zurück.
Da sagte eine Stimme: »Was soll denn

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das Gebrüll?«
Nicos Eltern waren aus dem Wasser ge-
kommen und betrachteten etwas verblüfft
die erregten Kinder. »Diese Tiny«, keuch-
te Nico vor mühsam unterdrückter Wut,
»sie hat die Rakete mit der Gießkanne
begossen.«
»Und warum?« erkundigte sich Nicos
Vater und gab sich Mühe, ernst zu blei-
ben.
Tiny kam zaghaft heran, dicke Kuller-
tränen in den hellblauen Augen.
»Ich wollte ihm doch helfen«, flüsterte
sie verschüchtert. »Nico war so traurig,
weil seine Rakete so klein ist und er nicht
damit fliegen kann. Und da habe ich sie
gegossen, damit sie noch wächst.«
»So ein Blödsinn«, knurrte Nico.
Nicos Mutter strich Tiny tröstend über
den Wuschelkopf.
»Tiny hat es doch nur gut gemeint«,
sagte sie lächelnd. »Und sie tut es be-
stimmt nicht wieder.«
»Aber die Rakete ist hin«, maulte Nico.
»Naß ist sie«, sagte sein Vater beruhi-
gend. »Weiter gar nichts. Und sie wird
auch wieder trocken. Laß sie einfach in
der Sonne stehen.«
Damit ging sein Vater zum Zelt. Und

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seine Mutter sagte noch:
»Nun vertragt euch wieder.«
Aber Nico hatte genug von Tiny. Er
nahm sich vor, nie wieder mit ihr zu spie-
len, überhaupt nie mehr mit Mädchen.
Und er sagte: »Hau ab, du Mädchen!«
Tiny schluchzte, dicke Tränen rollten
über ihr sonnengebräunten Wangen.
Langsam wandte sie sich um und trippel-
te mit ihrer Gießkanne davon. Plötzlich
drehte sie sich noch einmal um und rief
trotzig: »Und sie wächst doch!«

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NÄCHTLICHE ÜBERRASCHUNG

Nico wälzte sich unruhig in seinem


Schlafsack. Er schlief schlecht, denn der
Tag war zu aufregend gewesen. Und er
träumte lauter wirres Zeug: von Gieß-
kannen und riesigen Wassertropfen auf
seiner Rakete. Und die Tropfen wuchsen
und wuchsen, bis von der Rakete nichts
mehr zu sehen war. Plötzlich schreckte er
auf und blinzelte. Und er seufzte erleich-
tert. Er lag im Zelt, auf seiner Luftmatrat-
ze. Draußen war es still. Es mußte mitten
in der Nacht sein. Nur der Vollmond stand
als undeutlich heller Fleck über dem Zelt-
dach. Beruhigt wollte er sich auf die an-
dere Seite drehen, da fiel ihm etwas ein:
die Rakete. Hatte er vorhin wirklich nur
geträumt? Was war mit den riesigen
Wassertropfen? Und was war mit seiner
Rakete? Er gab sich alle Mühe, aber er
konnte nicht wieder einschlafen. Erst
mußte er nachsehen.
Vorsichtig schälte er sich aus dem
Schlafsack, um seine Eltern nicht zu wek-
ken. Einmal quietschte leise die Luft ma-
tratze. Er hielt den Atem an, doch nichts
rührte sich. Seine Eltern schliefen. Er
rutschte weiter nach vorn. Das Schwierig-

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ste war der Reißverschluß am Zeltein-
gang. Der machte immer so ein rat-
schendes Geräusch. Ganz langsam zog er
ihn auf, so viel nur, daß er bequem
durchschlüpfen konnte, und kroch hinaus.
Das Vorzelt stand offen. Er hatte es ge-
schafft. Nico blinzelte in das bleiche Licht
des Mondes. Es war sehr hell draußen.
Eine richtige südliche Vollmondnacht.
Aber das interessierte ihn jetzt nicht.
Noch etwas (schlaftrunken tappte er in
das feuchte Gras, den Blick suchend nach
unten gerichtet. Doch er kam nicht weit.
Eine riesige metallisch schimmernde
Wand versperrte ihm den Weg. Er-
schrocken sah er auf. Er wußte genau,
daß es auf dem Campingplatz keine Wän-
de gab. Jedenfalls nicht solche, und schon
gar nicht aus Metall. Und doch war hier
etwas, das wie eine Wand aussah. Er rieb
sich die Augen und trat ein paar Schritte
zurück. Und jetzt begriff er. Das war kei-
ne Wand. Das war ein riesiges zylindri-
sches Gebilde, oben mit einer Spitze
drauf. Es war: eine Rakete. Eine richtige
ausgewachsene Rakete!
Sprachlos vor Staunen starrte er empor.
Das Mondlicht glitzerte auf dem Metall.
So stand er eine Weile, ganz versunken in
den Anblick. Plötzlich hörte er ein Ge-

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räusch. Eine helle, dünne Stimme rief lei-
se seinen Namen, immer wieder. Er sah
sich um. Und da sah er Tiny. Sie stand
direkt neben ihm. »Da staunst du, Nico?«
sagte sie triumphierend. Nico sagte gar
nichts. Er sah nur abwechselnd von Tiny
zur Rakete und wieder zu Tiny. Und er
fragte sich ernsthaft, ob er nun träume
oder wache. Aber das war im Moment
nicht herauszufinden. »Hm«, machte er
gedehnt. Tiny kicherte.
»Nun sag schon was, los«, forderte sie
ein wenig ungeduldig und stupste ihn
leicht an die Schulter. Nico schrak zu-
sammen. Die Berührung war echt. Es
hatte ihn tatsächlich jemand gestupst.
Das mußte wirklich Tiny sein. Er sah sie
ganz deutlich im Mondlicht. Und wenn
Tiny wirklich war, dann war es auch die
Rakete.
»Hm«, seufzte er noch einmal.
»Siehst du«, erklärte Tiny mit unver-
kennbarem Stolz. »Ich habe recht ge-
habt. Sie ist gewachsen.«
Nico fand das alles sehr verwirrend. Er
war darauf gefaßt gewesen, seine Rakete
pitschnaß und bedeckt mit riesigen Was-
sertropfen vorzufinden, wie er es ge-
träumt hatte. Und jetzt war auf einmal
alles ganz anders. Irgendwie paßte das

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nicht zusammen: diese gewaltige Rakete,
und dann diese Tiny mit ihrer albernen
Gießkanne, Er schüttelte den Kopf.
»Zwick mich mal«, sagte er ein wenig
ratlos. Tiny lachte.
»Du meinst wohl, du träumst?«
Immer noch lachend zwickte sie ihn
kräftig in den Arm. »Auutsch«, machte
Nico.
Tiny hatte ihn ziemlich heftig gezwickt.
Das würde einen blauen Fleck geben.
Aber das war jetzt unwichtig. Da stand
die Rakete, riesengroß und wohl hundert
Me ter hoch. Ein gewaltiges Ding, viel
größer, als er es von Bildern kannte. Er
ließ Tiny einfach stehen und ging rund
um die Rakete. Ein bißchen unheimlich
war ihm dabei. Und er erwartete jeden
Augenblick, daß die Rakete verschwinden
würde. Aber sie blieb.
Als er wieder zurückkam, sagte Tiny:
»Glaubst du mir nun, daß sie gewachsen
ist?«
»Hm«, machte Nico, noch ein wenig
zweifelnd.
»Hm«, äffte Tiny ihn nach. »Außer hm
kannst du wohl überhaupt nichts mehr
sagen, was? Und du willst ein Junge
sein?«

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»Quatsch«, knurrte Nico und kam sich
ein bißchen dumm vor.
»Gar kein Quatsch«, sagte Tiny ärger-
lich. »Wenn ich sie nicht gegossen hätte,
wäre sie immer noch ganz winzig klein.
Und jetzt ist sie groß und dick und lang
und eine richtige Rakete. Wie findest du
das?«
»Prima«, sagte Nico, jetzt hellwach.
»Und du meinst, das ist wirklich meine
Rakete?«
»Natürlich«, erklärte Tiny überzeugt.
»Man muß nur richtig gießen, dann
wächst alles.«
Nico zog die Brauen hoch. Er hatte so
was noch nie gehört.
»Auch Raketen?« meinte er nachdenk-
lich.
»Das siehst du doch«, sagte Tiny ener-
gisch. »Und jetzt starten wir. Los, sei
nicht so schlafmützig!«

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START INS UNBEKANNTE

Nico kletterte als erster die steile Leiter


hinauf. Tiny blieb ihm dicht auf den Fer-
sen. Schnell hatten sie die Raketenspitze
erreicht. Die Luke war nur angelehnt. Und
mit einem Satz sprangen sie in die ge-
räumige Kapsel.
»Toll«, sagte Nico begeistert. Tiny nick-
te.
»Und wie das blinkt und glitzert. Ein
richtiger Zauberkasten.«
»Unsinn«, entgegnete Nico. »Das sind
die Bedienungsknöpfe.«
Diese Unmenge von Schaltern, Hebeln,
Kontrollämpchen und seltsamen techni-
schen Vorrichtungen war faszinierend. Er
konnte sich gar nicht satt sehen daran.
Nachdenklich kratzte er sich hinter dem
Ohr. Ihm fiel plötzlich ein, daß er keine
Ahnung hatte, wie man eine Rakete be-
dienen muß. So kompliziert hatte er sich
das nicht vorgestellt. Aber irgendwie
mußte er das her auskriegen. Auf keinen
Fall durfte er sich vor Tiny blamieren. Zu-
nächst einmal mußte er Zeit gewinnen.
»Und wo fliegen wir hin?« fragte er.
»Vielleicht zum Mond?«
Tiny schüttelte heftig ihren Wuschel-

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kopf. »Auf keinen Fall«, sagte Tiny ent-
schieden. »Der Mond ist mir viel zu stei-
nig. Und Steine mag ich nicht. Außerdem
waren schon die Amerikaner dort. Wir
müssen etwas Neues entdecken.«
Nico fand das einleuchtend. Tiny war of-
fenbar gar nicht so dumm, wie er gedacht
hatte. Aber wohin? Die Venus fiel ihm ein,
und Mars und Saturn. Aber diese Namen
kannte jeder. Das war auch nicht das
richtige. Es mußte etwas völlig Neues
sein. Und ganz weit weg. Er dachte ange-
strengt nach. Irgendwo hatte er mal ei-
nen ganz seltsamen Namen gelesen. Da
müßten sie hin. Und dann fiel ihm der
Name ein. »Beteigeuze«, sagte er mit
bedeutungsvoller Miene. »Beteigeuze?«
wiederholte Tiny zweifelnd. »Das klingt
aber komisch. Gibt es das überhaupt?«
»Natürlich«, sagte er streng. »Ein biß-
chen weiß ich schließlich auch.«
»Na gut«, meinte Tiny. »Dann los.«
Nico zögerte.
»Moment noch«, sagte er ausweichend.
»Ich will erst noch die Line holen.«
»Die Line? Warum?«
»Schildkröten sind kluge Tiere. Das
kann uns nützlich sein. Außerdem sind
wir nicht so allein, falls auf Beteigeuze

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niemand wohnt.«
Tiny nickte zustimmend. »Aber beeil
dich.«
Nico kletterte schnell hinab, holte Line
aus ihrer Schlafkiste und turnte mit ihr
die Leiter wieder hinauf. Als er oben an-
kam, hörte er zu seiner Verblüffung eine
fremde Stimme. Sie kam aus der Raum-
kapsel. Hastig stieg er durch die Luke.
»Mit wem sprichst du denn da?« fragte
er. »Mit der Kontrollstation natürlich«,
antwortete Tiny, als sei es das Selbstver-
ständlichste von der Welt. »Hm, hm«,
machte Nico. »Und was sagt sie?«
»Wir sollen die Raumanzüge anlegen.
Dort liegen sie.«
Nico setzte Line vorsichtig auf den Bo-
den und sah sich um. Tatsächlich, da la-
gen zwei türkisblaue Raumanzüge. Und
daneben die Helme, Aber ob die paßten?
Jedenfalls konnten sie nichtgut in ihren
Schlafanzügen fliegen. »Hilf mir mal bit-
te«, sagte Tiny.
Sie schlüpfte in ihren Raumanzug und
versuchte, den Verschluß zuzumachen.
Aber sie schaffte es nicht. Irgend etwas
klemmte. Nico lachte.
»Ein Zipfel von deinem Schlafanzug. Du
hast ihn eingeklemmt. Und jetzt siehst du

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aus wie eine Puppe mit Schwanz.«
»Huch«, machte Tiny. »So was bin ich
aber nicht. Hilf mir doch endlich.«
Nico zupfte ein wenig, bis der Verschluß
zuging. Dann zog er seinen Raumanzug
an. Er paßte. Und auch die Helme paßten
wie für sie gemacht. Sie sahen beide wie
richtige Raumfahrer aus.
Tiny betrachtete sich aufmerksam.
»Meinst du, daß ich den Beteigeuzern so
gefalle?« meinte sie schließlich.
Nico fand die Frage albern. Aber ehe er
antworten konnte, war plötzlich wieder
die fremde Stimme im Raum. »Fertig zum
Countdown?« fragte die Stimme. Nico biß
sich auf die Lippen. Was sollte er sagen?
Er hatte keine Ahnung. Zwar wußte er,
was Countdown bedeutet. Das war das
Auszählen bis zum Start. Aber was er da-
bei zu tun hatte, wußte er natürlich nicht.
Doch Tiny nahm ihm die Antwort ab.
»Fertig«, sagte sie unbefangen.
Na schön, dachte Nico. Vermutlich brau-
che ich dabei gar nichts zu tun, und alles
geht automatisch. Er fand das sehr beru-
higend. Und er sah hinüber zu seiner
Schildkröte.
Line gähnte verschlafen und suchte ge-
mächlich nach einer Ecke, wo sie sich

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verkriechen konnte. Offenbar interessier-
te sie sich wenig für Raumfahrt. Plötzlich
klang wieder die Stimme aus dem Laut-
sprecher. Langsam zählte sie abwärts.
»Es geht los«, sagte Nico heiser. »Los,
hinsetzen!«
Und dann ging es los. Ein ohrenbetäu-
bender Lärm ließ die Kapsel erzittern, Sie
wurden mit unheimlicher Gewalt in ihre
Sessel gedrückt. Und beide spürten ein
sonderbares Gefühl in der Magengrube.
Aber es dauerte nicht lange. Der Lärm
wurde schwächer und hörte schließlich
ganz auf. Und der Druck ließ nach. Sie
konnten sich wieder bewegen. »Uff«,
machte Nico erleichtert.
Und Tiny murmelte undeutlich: »Heiliger
Bimbam!«
Sie waren beide ein wenig blaß um die
Nase. Aber sonst fühlten sie sich ganz
wohl. Der Start war gelungen.

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AUF GROSSER FAHRT

Nico betrachtete gespannt die Instrumen-


te und überlegte, was als nächstes zu tun
sei. Er hatte gehört, daß Raketen von
Computern gesteuert wurden. Aber der
Kommandant konnte sie auch selbst
steuern. Das kam ganz auf die Lage an.
Im Moment jedenfalls hatte er offenbar
nichts zu tun. Er sah sich beruhigt um
und entdeckte einen Schaltplan über der
Armaturentafel. Interessiert studierte er
die vielen Zeichen. »Wirst du daraus
schlau?« fragte Tiny neugierig. »Klar«,
sagte Nico. »Kein Problem für mich.«
Tiny seufzte unter ihrem Helm. »Aber
bequem ist das nicht«, meinte sie. Es war
wirklich nicht sehr bequem. Zwar konnten
sie sich durch die eingebauten Mikropho-
ne und Kopfhörer gut verständigen, aber
die schweren Helme waren doch ziemlich
lästig.
»Ich komme mir vor, als hätte ich einen
Kürbis als Kopf«, maulte Tiny.
»Raumfahrt ist eben doch nichts für
Mädchen«, sagte Nico und grinste. Tiny
zog einen Flunsch.
»Unsinn«, sagte sie. »Das kommt nur,
weil ich noch etwas klein bin. Und außer-

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dem ist es blöd, daß wir Helme brauchen.
Line braucht ja auch keinen.«
Das stimmte. Die Schildkröte hatte vor-
hin einfach ihren Kopf unter den Panzer
gezogen. Jetzt kam sie gemächlich quer
durch die Kapsel gekrabbelt und beäugte
aufmerksam die vielen bunten Lämpchen.
»Tatsächlich«, murmelte Nico verblüfft.
»Line braucht genauso Luft zum Atmen
wie wir. Und wenn Line atmen kann, kön-
nen wir es auch. Es muß also Luft in der
Kapsel sein.«
Schnell nahmen sie ihre Helme ab und
atmeten ein paar mal tief durch.
»Wie auf der Erde«, sagte Tiny aner-
kennend. »Wirklich toll.«
Nico schnupperte noch etwas skeptisch.
»Stimmt«, erklärte er dann. Aufseufzend
stupste Tiny ihren Helm in eine Ecke.
»Endlich«, stöhnte sie. »Ich habe wirklich
nicht gern einen Kürbiskopf.«
»Vorsicht«, mahnte Nico. »Die Helme
sind kompliziert und empfindlich. Und wir
brauchen sie sicher noch. Außerdem sind
sie schick.«
Tiny schwieg betroffen.
Nico wandte sich wieder dem Armatu-
renbrett zu. Vorhin beim Start hatte er
beobachtet, daß hintereinander drei Kon-

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trollämpchen aufleuchteten und wieder
erloschen. Was konnte das gewesen sein?
Vielleicht die Zündung der drei Raketen-
stufen? Möglich. Auf jeden Fall war offen-
bar nichts schiefgegangen. Alles schien
normal zu arbeiten.
»Alles in Ordnung?« fragte die Laut-
sprecherstimme. »Klar«, antwortete Nico
ruhig.
Die Stimme schwieg. Das Raumschiff
zog ruhig seine Bahn. Nico sah zu Tiny
hinüber. Aber Tinys Sessel |war leer. Sie
stand vor einem der dick verglasten
Bullaugen, hatte den Mund weit offen und
starrte mit großen Kulleraugen auf etwas,
das sie ganz zu fesseln schien.
Neugierig trat er hinzu. Und er spürte,
daß auch er Kulleraugen bekam. Was er
sah, war wirklich überwältigend. Und es
war viel spannender und aufregender als
im Fernsehen. Draußen vor dem Bullauge
schimmerte die Erde, ein ungeheurer
bläulicher Ball, der fast den ganzen Him-
mel verdeckte. Und über dem gekrümm-
ten Rand lag der Himmel wie nacht-
schwarzer Samt.
»Schön«, flüsterte Tiny leise.
So standen sie eine Weile, ganz versun-
ken in den faszinierenden Anblick. Plötz-
lich rief Tiny aufgeregt:

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»Und wo ist der Mond? Nico, hörst du
nicht? Wir müssen aufpassen, daß wir
nicht mit ihm zusammenstoßen!«
»Unsinn«, knurrte Nico unwirsch. Aber
ganz so sicher fühlte er sich nicht. Und er
eilte hinter Tiny her von Bullauge zu
Bullauge, um nach dem Mond zu suchen.
Endlich, beim letzten, quiekste Tiny auf:
»Da ist er!«
Nico starrte hinaus. Tatsächlich, das
mußte der Mond sein. Aber so groß?
»Hm«, machte er unsicher. Tiny wandte
sich ängstlich um. »Ist er das wirklich?«
fragte sie zaghaft. »Ja, sicher«, sagte Ni-
co tapfer. »Und je näher wir ihm kom-
men, desto größer wird er. Das ist ganz
klar. Also muß das der Mond sein.«
Tiny schien überzeugt. »Wie klug du
bist«, sagte sie anerkennend. Und Nico
dachte geschmeichelt: Eigentlich ist sie
sehr nett, die kleine Tiny. Dann vertiefte
er sich wieder in den Schaltplan. Er muß-
te das unbedingt herauskriegen. Egal wie.
Schließlich war er der Kommandant. Und
Kommandanten müssen mit ihrem Raum-
schiff Bescheid wissen.
Mit einem Mal schrak er zusammen.
»Vier Stunden Schlafpause«, tönte die
Stimme aus dem Lautsprecher. »Huch«,
machte Tiny verdutzt.

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Nico überlegte kurz. »Und die Flugrich-
tung?« fragte er. »Wie programmiert«,
sagte die Stimme. »In vier Stunden ge-
ben wir Wecksignal.«
Nico erwiderte nichts. Er betrachtete
das Armaturenbrett und dann die Schild-
kröte, die friedlich in einer Ecke saß. Line
schlief bereits, als habe sie das Komman-
do genau verstanden.
»Eine schöne Bescherung«, murmelte
er. Tiny kam langsam zu ihrem Sessel
zurück. »Ich mag aber nicht schlafen«,
maulte sie und stampfte mit dem Fuß.
»Auf der Erde kommandieren einen die
Eltern. Und nicht mal in einem Raumschiff
kann man machen, was man will. Immer
wird herumkommandiert. Puh!«
»Ruhig«, zischte Nico. Aber Tiny murr-
te: »Jetzt fängst du auch noch an!«
Da tönte die Lautsprecherstimme schon
wieder: »Bitte, die Schlafpause einhal-
ten.«
»Da hast du es«, sagte Nico ärgerlich.
Tiny starrte ihn verblüfft an. »Hören die
denn alles mit?« fragte sie leise. Nico
nickte. »Vermutlich ja.«
»Oh weia«, machte Tiny. »So was
Dummes.«
»Quatsch«, brummte Nico. »Los, jetzt

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wird geschlafen.«
Aber ganz so schnell ging das nicht. Sie
waren beide viel zu aufgeregt. Und sie
hätten viel lieber etwas anderes getan als
Schlafen: aus den Bullaugen in den
nächtlichen Raum geschaut oder den
Schaltplan studiert und sich überhaupt
mit dem Raumschiff und ihrer tollen Fahrt
durch den Weltraum beschäftigt. Doch sie
lehnten sich beide gehorsam in ihre Ses-
sel zurück. Und nach einer Weile schliefen
sie tatsächlich ein.

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DIE FLIEGENDE SCHILDKRÖTE

Ein durchdringendes schrilles Geräusch


tönte durch die Raumkapsel. Tiny öffnete
träge die Augen und schloß sie wieder.
Alles kam ihr unwirklich vor: das metalli-
sche Schimmern der Kapselwände, das
magische Glühen der vielen bunten Si-
gnallämpchen auf der Armaturentafel und
all die seltsamen Hebel und Schalter. Sie
glaubte zu träumen. Nur das verrückte
schrille Geräusch störte sie. Krampfhaft
riß sie die Augen auf. Nein, sie träumte
nicht. Sie saß tatsächlich in einer Raum-
kapsel auf dem Sessel. Und im Sessel
daneben saß Nico und schlief. Jetzt be-
griff sie. Und sie dachte: Verflixt, hat der
aber einen guten Schlaf. Sie gähnte herz-
haft und wartete, daß Nico endlich aufwa-
che. Doch als das schrille Geräusch ver-
stummte und Nico immer noch schlief,
wurde sie unruhig. »Aufwachen, Nico!«
rief sie. »Das Wecksignal!«
Sie hob den Arm, um ihm einen ermun-
ternden Stups zu geben. Und sie wunder-
te sich, denn ihr Arm war ganz leicht, als
habe er plötzlich das Gewicht verloren.
»Uuuaaach«, machte Nico verschlafen.
Na endlich, dachte Tiny. Sie fühlte sich
jetzt ganz munter und sah sich neugierig

-33-
um. Und vor Verblüffung blieb ihr der
Mund offen stehen. Die Schildkröte
schwebte direkt über ihr mitten in der
Luft!
Eine Weile saß Tiny wie gebannt. Dann
schrie sie aus Leibeskräften: »Nico, die
Line fliegt!«
Erschrocken zuckte Nico zusammen.
Schlaftrunken blinzelte er in die Gegend.
Und man sah ihm an, daß er sich erst zu-
rechtfinden mußte. Aber bei ihm ging es
etwas schneller als bei Tiny.
»Warum brüllst du denn so entsetz-
lich?« fragte er noch etwas träge. »Ist
was?«
»Und ob!« fauchte Tiny. »Du bist mir
ein schöner Kommandant. Alles ver-
schläfst du. Sogar das Wecksignal. Und
alles andere auch. Los, guck dich mal
um!«
Nico tat es. Aber nach oben sah er
nicht. »Es ist doch alles in Ordnung«,
knurrte er verdrießlich. »Was soll also
dein Gebrüll?«
Tiny kicherte.
»Guck mal an die Decke«, sprudelte sie.
Nico sah nach oben. Verdutzt rieb er sich
die Augen, denn er glaubte, er sähe nicht
recht. »Siehst du, die Line fliegt«, rief Ti-

-34-
ny triumphierend. Nico sagte erst einmal
gar nichts. Er beobachtete die Schildkröte
und dann die Armaturentafel der Kapsel.
Alles schien normal zu funktionieren.
Aber seit wann konnten Schildkröten flie-
gen? Das war sonderbar. Spukte es im
Raumschiff? Oder war Line gar nicht Line,
sondern ein Raumgeist in Gestalt einer
Schildkröte? Er kratzte sich nachdenklich
hinter dem Ohr. Und mit einemmal fiel es
ihm wie Schuppen von den Augen: die
Schwerkraft! Die Rakete hatte, während
sie schliefen, das Schwerefeld der Erde
verlassen. Und jetzt waren sie im schwe-
relosen Raum. Das war des Rätsels Lö-
sung. Daß ihm das nicht gleich eingefal-
len war. Sein Vater hatte ihm das einmal
ganz genau erklärt. Er hatte es sich da-
mals nur nicht richtig vorstellen können.
Und jetzt erlebte er es selbst. Die Line
flog gar nicht, sie schwebte. So einfach
war das. »Na und?« sagte er schmun-
zelnd. »Warum sollen Schildkröten nicht
fliegen? Meine Line kann das eben.«
»So ein Blödsinn!« fauchte Tiny wütend.
»Wieso Blödsinn?« grinste Nico. »Du
siehst doch, daß sie es kann. Schau nur,
wie sie mit den Beinen rudert.«
Sie blickten beide zu Line hinauf. Es sah
wirklich zu drollig aus: eine Schildkröte

-35-
freischwebend in der Luft. Sie konnten
sich zwar nicht vorstellen, was eine
Schildkröte beim Fliegen dachte, aber Li-
ne schien sich dabei sehr wohl zu fühlen.
Bedächtig ruderte sie mit ihren vier kur-
zen stabilen Beinen, hatte den schlanken
Hals weit aus dem Panzer herausge-
streckt und äugte aufmerksam in die Ge-
gend. Es machte ihr offensichtlich Spaß.
Und sie kam auch tatsächlich voran. Ge-
mächlich ruderte sie über Tinys Kopf hin-
weg in Richtung auf die Armaturentafel
zu. Vermutlich interessierten sie die vie-
len bunten Lämpchen. Und die beiden sa-
hen ihr zu.
»Toll«, murmelte Tiny. Nico lachte.
»Paß auf«, sagte er betont ruhig. »Das
kann ich auch.« Er stieß sich leicht von
seinem Sessel ab. Und schon schwebte er
seitlich über Tiny mitten in der Kapsel. Es
war ein ganz sonderbares Gefühl.
»Huch«, machte Tiny entsetzt. »Kannst
du vielleicht zaubern?« »Klar«, grinste
Nico.
Er streckte seinen Arm nach unten und
zog Tiny sanft am Ohr. Und tatsächlich
spürte Tiny, wie der Sessel unter ihr weg-
sank und sie frei in die Kapsel hinein-
schwebte.
»Huch«, machte sie noch einmal. Sie

-36-
zappelte und strampelte und versuchte,
sich irgendwo festzuhalten. Aber durch
die heftige Bewegung drehte sie sich
plötzlich um ihre eigene Achse, so daß
oben und unten vertauscht waren. »Auf-
hören!« schrie sie. »Sofort aufhören da-
mit!« Nico prustete vor Lachen. »Das
geht doch gar nicht«, kollerte er ver-
gnügt. Inzwischen war er an der Decke
der Kapsel gelandet und kroch langsam
an der Wand hinunter auf seinen Sessel
zu. Er fand das wahnsinnig lustig. Trotz-
dem tat ihm die kleine Tiny leid, die so
gar keine Ahnung hatte, was eigentlich
mit ihr geschah. »Warte«, sagte er trö-
stend. »Ich hole dich.« Vorsichtig stellte
er sich auf den Sessel, hakte sich mit ei-
nem Fuß an der Armlehne fest, packte
Tinys linkes Bein und zog sie langsam zu
sich herab.
Aufatmend schmiegte Tiny sich in ihren
Sessel. Sie war ganz blaß um ihre kleine
Stupsnase, und ihre großen Augen blick-
ten erschrocken auf Nico. »Nur keine Auf-
regung«, erklärte er beruhigend. »Das
alles ist ganz natürlich. Wir sind einfach
im schwerelosen Raum. Und da ist das
eben so.« Tiny musterte ihn stirnrun-
zelnd. »Stimmt das auch?« fragte sie
zweifelnd. »Stimmt«, bestätigte Nico.

-37-
»Im schwerelosen Raum haben wir
praktisch kein Gewicht. Und die Line na-
türlich auch nicht. Daher kommt das.«
»Aha«, machte Tiny.
Allmählich erholte sie sich wieder von
ihrem Schreck. Und dann meinte sie:
»Eigentlich ganz hübsch.«
Plötzlich gab es einen leichten Plumps.
Erschrocken sahen die beiden in die Rich-
tung des Geräusches. Es war Line. Sie
war auf ihrer Ruderwanderung quer durch
die Luft der Kapsel schräg vor die Wand
gestoßen und durch den Aufstoß gegen
die Armaturentafel getrieben worden. Je-
denfalls saß sie jetzt mitten zwischen den
Schaltern und Kontrollämpchen und
schnappte andächtig nach einem knallro-
ten Schalter. Und ehe Nico, durch die
Schwerelosigkeit behindert, zu ihr kom-
men konnte, hatte Line den Schalter mit
ihren kräftigen Kiefern gepackt und in ei-
ne andere Stellung gedrückt. Irgendwo in
der Rakete gab es einen dumpfen Stoß.
Sonst geschah nichts. »So ein Mist!«
knurrte Nico wütend. Aber jetzt war dar-
an nichts mehr zu ändern. Endlich bekam
er Line zu fassen. Er schnappte sie, gab
ihr einen leichten Klaps auf das Hinterteil
ihres Panzers und setzte sie in eine Ecke.
»Damit sie nicht wieder solchen Unfug

-38-
macht«, brummte er.
»Ist denn was passiert?« fragte Tiny ein
wenig ängstlich.
Nico schüttelte langsam den Kopf. Er
wollte Tiny nicht schon wieder beunruhi-
gen, denn im Grunde schämte er sich
noch ein bißchen wegen vorhin. Aber er
hatte jetzt doch allmählich einige Zweifel
an einem guten Ausgang ihrer Weltraum-
reise.

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STERN IN SICHT

Eine ganze Weile waren sie nun schon mit


ihrer Rakete durch den Weltraum gezo-
gen. Nach der Panne mit Line und dem
knallroten Schalter hatte Nico aufmerk-
sam die Armaturentafel und das Verhal-
ten der Rakete beobachtet, doch er hatte
nichts Außergewöhnliches feststellen
können. Nichts schien gegen vorher Ver-
ändert. Und so hatte er sich allmählich
wieder beruhigt.
Tiny hatte den Vorfall offenbar völlig
vergessen. Und ssie hatte sich, genau wie
Nico, inzwischen auch an die Schwerelo-
sigkeit gewöhnt. Behutsam und vorsichtig
bewegte sie sich durch die Kapsel, um
nicht jedesmal gleich an der Decke zu
landen.
Jetzt ging sie gerade wieder zu ihrem
Lieblingsplatz vor dem Bullauge, um nach
draußen zu spähen. Doch es mußte wohl
das falsche gewesen sein, denn sie sah
nur kurz durch und lief zum nächsten.
Und dann wieder zum nächsten, und so
fort, bis sie mindestens ein mal durch je-
des Bullauge geschaut hatte. Und ihr Ge-
sicht wurde dabei immer ratloser. Plötz-
lich sagte sie mit zitternder Stimme: »Sie
ist weg!«

-40-
»Wer ist weg?« fragte Nico. »Die Erde.
Einfach weg!«
»Blödsinn«, grunzte Nico.
Er erhob sich gemächlich und spähte
der Reihe nach durch sämtliche Bullau-
gen. Aber er wurde nun doch allmählich
unruhig, denn von der Erde war tatsäch-
lich weit und breit nichts zu sehen. Was
sollte das nun schon wieder bedeuten?
»Komische Sache«, murmelte er vor sich
hin. Tiny schluchzte auf: »Ich finde das
gar nicht komisch.«
»Ruhig«, knurrte Nico. »Komisch oder
nicht, jedenfalls ist sie weg. Oder viel-
mehr nicht weg: wir können sie nur von
hier aus nicht sehen.«
Aber Tiny fand das gar nicht beruhi-
gend. »Das ist doch dasselbe«, schluchz-
te sie weiter. »Hör auf«, sagte Nico un-
geduldig. »Heulen nützt jetzt auch
nichts.«
Tiny wischte sich gehorsam die Tränen
ab und begann von neuem, durch sämtli-
che Bullaugen zu spähen. Mit einem Mal
schrie sie wieder: »Und der Mond ist auch
weg!«
Nico holte tief Luft. Und er ersparte sich,
selbst noch einmal durch die Bullaugen zu
sehen. »Klar«, sagte er mühsam be-

-41-
herrscht. »Ist doch alles ganz klar. Der
Mond ist viel kleiner als die Erde. Und
wenn wir die Erde von hier aus nicht se-
hen können, sehen wir den Mond erst
recht nicht. Ist doch klar?«
Tiny nickte noch etwas zweifelnd.
»Hm«, machte sie. »Wenn du meinst?«
Nico seufzte abgrundtief. Er begriff mit
einem Mal, daß sie sehr weit von der Erde
entfernt sein mußten, sehr sehr weit.
Ziemlich hoffnungslos ging er noch ein-
mal von Bullauge zu Bullauge. Er tat es
eigentlich nur, weil er nicht wußte, was er
sonst tun sollte. Und er ließ sich viel Zeit
dabei. Doch an dem letzten Bullauge
stieß er plötzlich einen wilden Schrei aus:
»Dort!«
Tiny eilte so schnell wie möglich zu ihm.
»Was ist dort?« fragte sie aufgeregt.
»Sieh nur«, stammelte er. »Sieh!«
Und jetzt sah es Tiny auch: vor ihnen
strahlte ein gewaltiger rosaroter Stern.
»Ist das die Erde?« fragte Tiny am gan-
zen Leibe zitternd.
Nico schüttelte den Kopf.
»Nein«, erklärte er ernst. »Die Erde ist
blau, jedenfalls vom Weltraum aus gese-
hen. Das dort muß ein anderer Stern
sein. Du siehst ja, er ist rosarot. Und er

-42-
ist jetzt schon fast so groß wie vorhin die
Erde.«
»Und hübsch ist er«, flüsterte Tiny be-
geistert. »Hm«, machte Nico wortkarg.
Mit einem Mal lachte Tiny strahlend auf.
»Weißt du, was das ist?« rief sie. »Das ist
Beteigeuze. Wir sind da!«
Nico schluckte krampfhaft. Er hatte kei-
ne Ahnung, wo sie eigentlich waren und
was das für ein Stern sein konnte. Und
ihm wurde ziemlich unheimlich bei dem
Gedanken. Denn er sah, daß sie dem
fremden rosaroten Stern immer näher
kamen.
Er überlegte. Wenn sich doch bloß end-
lich die Kontrollstation auf der Erde wie-
der melden würde. Aber sie meldete sich
nicht. Alles blieb still, unheimlich still. Nur
irgendwo war ein seltsames kratzendes
Geräusch. Er sah sich um.
Line krabbelte gemütlich an der gege-
nüberliegenden Wand hinauf.
Er ließ sie krabbeln, denn er hatte jetzt
keine Zeit für Schildkröten. Er mußte
nachdenken.

-43-
DIE LANDUNG

Tiny war vor dem Bullauge stehengeblie-


ben. Sie fand den riesigen rosaroten
Stern wunderschön. Und sie überlegte,
wie es dort wohl aussehen würde. Für sie
war es völlig selbstverständlich, daß sie
dort landeten. Und sie konnte die Zeit
kaum erwarten. Dann fiel ihr etwas auf.
»Schau doch, Nico!« rief sie. »Man sieht
fast keinen Himmel mehr. Nur noch den
Stern. Wir müssen schon ganz nahe
sein!«
Nico antwortete nicht. Er saß wieder in
seinem Sessel vor der Armaturentafel
und studierte eifrig den Schaltplan. Und
er fand, was er suchte: eine Anweisung
für Landemanöver. Das zu wissen konnte
auf keinen Fall schaden. Trotzdem hoffte
er immer noch, daß die Kontrollstation
sich wieder melden oder sonst etwas un-
ternehmen würde. Schließlich hatte die
Stimme vorhin gesagt, es sei alles pro-
grammiert. Warum meldete sie sich bloß
nicht?
Plötzlich bekam er einen dumpfen
Schlag auf den Kopf. Und ein schwerer
klumpenartiger Gegenstand rollte über
seine Schulter hinweg in seinen Schoß.
»Auuh«, stöhnte Nico und rieb sich die

-44-
schmerzende Stelle.
Tiny bog sich vor Lachen.
»Diese Line«, prustete sie. »Sie ist von
der Decke direkt auf deinen Kopf gefal-
len.«
Nico blickte noch etwas benommen auf
den Gegenstand in seinem Schoß. Es war
tatsächlich die Schildkröte. Der Sturz hat-
te ihr offenbar nichts geschadet. Sie war
gerade dabei, ihre Beine wieder auszu-
strecken, und äugte noch etwas verdutzt
aus ihrem Panzer. »So ein Biest«, mur-
melte er undeutlich. »Macht nichts als
Unsinn.«
Nachdenklich betrachtete er die Schild-
kröte. Irgendetwas stimmte da nicht Wie-
so war Line heruntergefallen? Wieso fiel
sie überhaupt? Im schwerelosen Raum
konnte doch eigentlich gar nichts fallen?
Oder? Und er sagte zu Tiny: »Komm mal
schnell her!«
»Warum?« fragte Tiny erstaunt.
»Schnell, schnell, es ist wichtig!«
Tiny lief die paar Schritte zu ihm hin-
über. Nico beobachtete sie gespannt. Sie
lief tatsächlich, lief leichtfüßig auf ihn zu.
Sie schwebte nicht. Sie lief! Er stutzte:
das war des Rätsels Lösung! »Merkst du
was?« rief er aufgeregt. Tiny blieb ver-

-45-
blüfft vor ihm stehen: »Was soll ich mer-
ken?«
»Du läufst! Merkst du’s nicht? Du bist
eben gelaufen, nicht geschwebt! Weißt
du, was das bedeutet?«
Tinys Gesicht war ein einziges Fragezei-
chen. »Die Schwerkraft«, erklärte Nico
erregt. »Wir haben wieder Gewicht, sonst
könntest du gar nicht laufen. Und deshalb
ist Line von der Decke gefallen.«
Tiny begriff allmählich. »Du meinst, der
Stern.?«
»Genau«, sagte Nico. »Wir sind im
Schwerefeld des rosaroten Sterns.«
Er sprach nicht weiter. Gespannt beo-
bachtete er die Armaturentafel. Dort wa-
ren jetzt einige Lämpchen aufgeleuchtet.
Aber die KontraIIStation meldete sich
noch immer nicht. Er mußte handeln,
sonst würden sie auf dem fremden Stern
zerschellen. Gut, daß er jetzt Bescheid
wußte. Er gab sich einen Ruck. »Schnell
die Helme auf«, kommandierte er heiser.
»Und hinsetzen und anschnallen. Wir lan-
den. Und halt’ die Line fest!«
Nico setzte Line auf Tinys Sessel und
stülpte seinen Helm über. Tiny hatte
wortlos ihren Helm geschnappt, obwohl
sie den gar nicht mochte. Schon saß sie

-46-
auf ihrem Platz, die Schildkröte auf dem
Schoß. Als sie angeschnallt waren, zün-
dete Nico die Steuerraketen zum Wen-
den. Das Raumschiff drehte folgsam in
Gegenrichtung. Sie atmeten auf. Alles
schien einwandfrei zu funktionieren.
»Und jetzt die Bremsraketen«, flüsterte
Nico tonlos. Er schaute noch einmal kurz
auf den Schaltplan und drückte sorgfältig
nacheinander ein paar Knöpfe. Ein Ge-
räusch klang auf, wie ein fernes Donnern.
Und sie spürten, wie sie fest auf ihre Sit-
ze gepreßt wurden. Es war, als ob ihr
Gewicht immer mehr zunähme: ein selt-
sames Gefühl. Die Rakete bremste ab.
Dann erlosch das Geräusch. Eine unheim-
liche Stille erfüllte die Raumkapsel. Sie
wagten kaum zu atmen. Nico sah auf. Vor
den Bullaugen schimmerte ein sonderbar
grelles Licht. Es sah aus, als glitten sie
durch ein Meer von rosaroter Milch. Sonst
war nichts zu erkennen. Und immer tiefer
sank das Raumschiff. Dann gab es einen
ganz sanften Stoß. Die Rakete stand. Sie
waren gelandet.

-47-
AUF FREMDEM BODEN

Eine Weile warteten sie gespannt, ob ir-


gend etwas passieren würde. Aber es ge-
schah nichts. Alles blieb ruhig. Auch von
draußen kam nirgendwo ein Geräusch.
Niemand schien sich für sie zu interessie-
ren. Der rosarote Stern war offenbar eine
durchaus angenehme Gegend. »Uff«,
sagte Nico erleichtert. »Wir sind gelan-
det.«
Tiny nickte ernsthaft. »Auf Beteigeuze«,
murmelte sie entzückt. Nico war nicht
ganz so sicher. Es war ihm auch ziemlich
egal, ob sie auf Beteigeuze gelandet wa-
ren oder auf irgendeinem anderen Stern.
Hauptsache war, daß sie gut gelandet
waren. Und das waren sie wohl. Jeden-
falls schien die Rakete keinen Schaden
genommen zu haben. Und das war das
Wichtigste, schließlich mußten sie ja wie-
der zur Erde zurück. Doch das hatte noch
Zeit. Erst wollten sie einmal den unbe-
kannten Stern erkunden.
Sie lösten die Haltegurte und standen
vorsichtig auf. Das ging ohne Schwierig-
keiten. Der Stern besaß offenbar genü-
gend Schwerkraft. Nur kam ihnen alles
viel leichter vor als auf der Erde. Doch
das schadete nichts, im Gegenteil, das

-48-
konnte lustig werden. Und das seltsame
rosarote Licht mit dem milchigen Schim-
mer beunruhigte sie etwas. Aber da wür-
den sie schon noch irgendwie dahinter
kommen. »Steigen wir jetzt aus?« fragte
Tiny ungeduldig. »Klar«, sagte Nico. »Ich
glaube, wir können es wagen. Nur die
Sauerstoffgeräte müssen wir noch um-
schnallen.«
Eilig setzte Tiny die Schildkröte, die sie
immer noch in der Hand gehalten hatte,
auf den Boden der Kapsel und schnappte
sich eins der Geräte. Es sah aus wie ein
Rucksack und wurde auch genau so ge-
tragen. Als sie mit Nicos Hilfe die Luft-
schläuche montiert hatte, schnupperte sie
neugierig. Alles funktionierte einwandfrei.
Nico war schon fertig. Er hatte inzwi-
schen die Luke geöffnet und sah hinaus.
Aber er sah nur diese seltsame rosarote
Milch. Sonst war nichts zu erkennen.
Immerhin: die Rakete stand völlig ruhig.
Also mußte unten fester Boden sein. Und
wenn der Boden das schwere Raumschiff
aushielt, mußte er auch sie tragen kön-
nen. Nico holte die zusammengerollte
Strickleiter und ließ sie aus der Luke glei-
ten. Und er wunderte sich ein bißchen,
daß das so langsam ging. Dann kletterte
er vorsichtig hinab, immer tiefer, bis er

-49-
so etwas wie festen Grund unter den Fü-
ßen spürte. Seine Vermutung stimmte
also. Aber zu sehen war nichts. »Kommst
du?« rief er zu Tiny hinauf. »Natürlich«,
rief Tiny zurück.
Kurze Zeit später stand sie neben ihm.
Doch er sah kaum ihre Umrisse.
»Wie im Nebel«, murmelte er ein wenig
bedrückt. Tiny hatte im Moment andere
Sorgen. »Dieser Helm«, stöhnte sie.
»Muß man hier wirklich immer mit die-
sem blöden Ding herumlaufen?«
»Ich glaube schon«, sagte Nico. »Wir
haben doch keine Ahnung, ob wir die Luft
hier atmen können.«
»Hm«, machte Tiny. »Eine komische
Luft. Sieht aus wie Himbeermilch.«
Nico wurde ernst.
»Jedenfalls müssen wir dicht zusam-
menbleiben«, sagte er streng. »Damit wir
uns nicht verlieren. Selbst unsere riesige
Rakete ist kaum zu erkennen.«
Tiny schwieg eine Weile. Dann sagte sie
ruppig: »Ich finde, das ist ein reichlich
doofer Stern.«
Plötzlich wurde das rosarote Licht heller.
Es schien seine Quelle direkt hinter dem
Horizont zu haben. Und die Helligkeit
nahm allmählich immer mehr zu. Die bei-

-50-
den schwiegen betroffen und starrten zu
der fernen Lichtquelle. Jetzt konnten sie
sich beide schon recht gut erkennen. Und
auch die Rakete ragte deutlich wie ein
gewaltiger hoher Turm neben ihnen auf.
»Die Sonne«, flüsterte Tiny leise. Nico
murmelte etwas Undeutliches. Ihm fiel
ein, daß sie ja gar nicht wußten, wo sie
eigentlich waren. Und deshalb war er
auch nicht sicher, ob das die Sonne war.
Jedenfalls wurde es offenbar hell. Und
dieser verflixte rosarote Milchnebel wurde
durchsichtiger. Das war die Hauptsache.

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EIN SONDERBARER STERN

Neugierig blickten die beiden sich um.


Aber soweit sie sehen konnten, schien
alles topfeben: kein Baum und auch kein
Strauch, kein Berg und kein Hügel. Und
auch der Boden schien lediglich aus die-
sem sonderbar rosarot Milchigen zu be-
stehen. Immerhin konnte man darauf
laufen.
»Verrückte Gegend«, murmelte Nico.
»Und was nun?« fragte Tiny zaghaft.
Aber ehe Nico sich eine Antwort einfallen
lassen konnte, geschah etwas sehr Selt-
sames. Ein dunkler Klumpen schwebte
plötzlich zwischen ihnen nieder und
plumpste sanft vor ihre Füße, wo er lie-
gen blieb. Es war Line, die Schildkröte.
Erschrocken beugten sie sich herab. Sie
fürchteten, daß es mit Line nun endgültig
vorbei war. Vorsichtig nahm Nico sie hoch
und betrachtete sie traurig. Und er er-
schrak zum zweiten Mal.
Die Schildkröte fauchte unwillig und be-
gann zu strampeln.
»Huch, die faucht ja!« rief Tiny ver-
dutzt. »Also ist sie gar nicht tot.«
Nico schüttelte nachdenklich den Kopf.
Auf der Erde wäre Line bei einem Sturz

-52-
aus solcher Höhe sicher tot gewesen.
Aber hier war offenbar alles anders. »Das
muß an der veränderten Schwerkraft lie-
gen«, meinte er. »Schon vorhin ist mir
das aufgefallen, als ich die Strickleiter
herunterließ. Und auch als ich hinunter-
kletterte. Hier ist alles viel leichter, ver-
mutlich ähnlich wie auf dem Mond. Des-
halb hat der Sturz Line nichts gescha-
det.«
Tiny seufzte erleichtert.
»Da bin ich aber froh«, sagte sie klein-
laut. »Denn diesmal war ich schuld an
Lines Unfug. Ich habe vergessen, die Lu-
ke zu schließen.«
»Macht nichts«, sagte Nico großzügig.
»Aber was machen wir jetzt mit der Li-
ne?«
»Mitnehmen natürlich.«
Nico setzte die heftig zappelnde Line auf
den Boden. Und jetzt sah er erst, was das
für ein sonderbarer Boden war. Der
Grund war weich und nachgiebig wie
Gummi. Und das Sonderbarste: der gan-
ze Boden war mit haardünnem rosarotem
Gras bewachsen. »Guck dir das an«,
murmelte er verblüfft. Tiny tat es.
»Ein Stern aus Kaugummi!« rief sie be-
geistert. »Und auch noch mit Haaren

-53-
drauf, mit rosaroten Haaren. Huch, ist
das toll!«
Eine Weile hockten sie am Boden und
untersuchten neugierig die seltsamen
Haare.
»Ob das wohl Pflanzen sind?« meinte
Tiny. »Weiß ich nicht«, antwortete Nico.
»Aber es könnte sein.«
»Hm«, machte Tiny nachdenklich.
»Dann müßten sie auch riechen.«
»Möglich.«
Plötzlich fiel Tinys Blick auf Line, die ein
paar Schritte entfernt durch das Haargras
kroch und eifrig daran schnupperte.
»Natürlich riecht es«, erklärte sie über-
zeugt. »Sonst würde Line nicht daran
schnuppern. Wir können es bloß nicht rie-
chen, weil wir diese blöden Helme aufha-
ben.«
»Was?« brüllte Nico auf einmal los. Tiny
starrte ihn verständnislos an. »Warum
brüllst du denn so?«
Nico schien plötzlich völlig aus dem
Häuschen. »Begreifst du denn nicht?«
sprudelte er aufgeregt. »Der Stern hat
Luft, richtige Luft zum Atmen. Sonst wäre
die Line längst tot. Vor Aufregung überall
das Neue haben wir es bloß noch nicht
gemerkt. Dabei atmet die Line schon die

-54-
ganze Zeit die Luft dieses Sterns. Und sie
scheint sie ganz ausgezeichnet zu vertra-
gen.«
Tiny sagte erstmal gar nichts. Dann
murmelte sie leise: »Stimmt tatsächlich.«
Nico beobachtete gespannt die Schild-
kröte. Aber die schien sich sehr wohl zu
fühlen. Sie wirkte sogar noch lebhafter
und munterer als auf der Erde. »Können
wir das auch?« fragte Tiny neugierig.
»Vermutlich«, bestätigte Nico.
Tiny begann sofort, an ihrem Helm her-
umzubasteln. »Dann aber nichts wie weg
mit diesem albernen Kürbiskopf«, erklär-
te sie energisch.
Und ehe Nico sie daran hindern konnte,
hatte sie schon die Schläuche gelöst und
den Helm abgenommen. Mit weit geöffne-
ten Nüstern sog sie die Luft ein. »Hm, wie
das riecht«, flüsterte sie entzückt. »Wie
Rosen und Pudding und Erdbeereis.«
»So ein Quatsch«, grunzte Nico. Aber er
nahm seinen Helm ebenfalls ab und
schnupperte. Es roch wirklich ganz phan-
tastisch. »Na sowas«, murmelte er. »Das
riecht tatsächlich wie in einer Bonbonfa-
brik.«
»Prima«, jubelte Tiny. »Vielleicht gibt’s
hier auch welche!«

-55-
»Was soll es geben?« „Bonbons natür-
lich!
»Blödsinn«, sagte Nico ärgerlich. »Sieh
dich mal um. Alles flach wie ein Brett. Wo
soll es da überhaupt etwas geben?«
Tiny krauste die Stirn.
»Naja«, meinte sie nachdenklich. »Aber
irgendwo muß der Geruch doch herkom-
men. Dann müssen wir eben suchen.«
«Also gut«, sagte Nico. »Ich bringe nur
schnell unsere Helme und Sauerstoffgerä-
te hinauf. Dann können wir gehen. Irgen-
detwas müssen wir hier ja schließlich un-
ternehmen. Zum Beispiel: Bonbons su-
chen.«
Grinsend stieg er die Leiter hinauf. Und
als er wieder zurück war, gingen sie los.

-56-
EIN MERKWÜRDIGER SONNENAUFGANG

Sie waren schon eine ziemliche Weile ge-


wandert, aber die Gegend zeigte nicht die
geringste Veränderung. Wenn sie nicht ab
und zu zurückgeschaut und dabei gese-
hen hätten, wie ihre Rakete allmählich
immer kleiner wurde, hätten sie glauben
müssen, noch an derselben Stelle zu ste-
hen wie vorhin. Nur eines war ihnen auf-
gefallen: es wurde allmählich immer hel-
ler. Und nur der Himmel und der ferne
Horizont zeigten noch diesen seltsamen
dichten milchigrosaroten Nebel. Mit einem
Mal deutete Tiny aufgeregt zum Horizont.
»Sieh doch!« rief sie. »Da geht die Sonne
auf!«
Über den Horizont schob sich langsam
eine riesige rosarote Scheibe. Sie war viel
größer, als man die Sonne von der Erde
aus sieht. Aber sie war längst nicht so
hell. Es sah aus, als habe man eine ge-
waltige Sonne hinter einer dichten Ne-
belwand versteckt.
Fasziniert starrten die beiden auf die ei-
genartige Naturerscheinung. Und Nico
überlegte krampfhaft, ob das nun die
Sonne sei oder nicht. Schließlich schüttel-
te er etwas ratlos den Kopf. »Was ist los
mit dir?« fragte Tiny. »Ich weiß nicht«,

-57-
sagte Nico ausweichend. »Hier ist alles so
anders. Sogar die Sonne.«
»Na und?« meinte Tiny. »Das ist doch
ganz natürlich. Wir sind doch auch auf
einem anderen Stern.«
Sie wollte noch mehr sagen, aber das
Wort blieb ihr buchstäblich im Hals stek-
ken. Denn direkt neben der eben zur
Hälfte aufgegangenen Sonne tauchte eine
zweite Sonne auf, noch größer als die er-
ste. »Nein«, murmelte Tiny tonlos. »Das
gibt es doch gar nicht.«
»Hm«, machte Nico zweifelnd.
Wortlos sahen die beiden dem Aufgang
der zweiten Sonne zu. Und es war keine
Täuschung: dort standen tatsächlich zwei
Sonnen am Himmel. »Verrückt so was«,
knurrte Nico. Tiny hatte sich inzwischen
wieder etwas gefaßt. »Dann ist das also
doch nicht unsere Sonne«, meinte sie
stirnrunzelnd. »Oder was meinst du, Ni-
co?«
»Hm«, machte Nico wieder. »Auf jeden
Fall sind es zwei. Stimmt doch?«
»Es sind zwei«, bestätigte Tiny.
»Also gut«, überlegte Nico weiter.
»Wenn wir beide zwei Sonnen sehen,
kann es gar nicht unsere Sonne sein. Ist
doch klar?«

-58-
»Klar«, sagte Tiny und wollte sich
nochmal mit einem Blick überzeugen.
Doch plötzlich schrie sie: »Nein, nein,
nein, nein, nein! Da ist ja noch eine!«
Nicos Blick folgte Tinys weit ausge-
streckter Hand zum Horizont, wo sich der
Rand einer riesenhaften rosaroten Sonne
langsam emporschob. Und diese dritte
Sonne war noch größer als die beiden er-
sten zusammen.
Verschüchtert faßten die beiden sich an
den Händen. Und Nico drückte die zap-
pelnde Line fest an seine Brust. So stan-
den sie, bis alle drei Sonnen völlig aufge-
gangen waren und sie mit einem milden
Licht überstrahlten.
»Hm«, machte Nico nach einer Weile.
»Also drei.«
Entschlossen setzte er Line neben sich
auf den Boden und musterte aufmerksam
die Gegend. Seit die drei Sonnen aufge-
gangen waren, war es viel heller gewor-
den. Trotzdem war es kaum wärmer,
denn die Sonnen lagen offenbar alle hin-
ter einer dichten Nebelschicht, die den
ganzen Himmel und den Horizont bedeck-
te. Auch das milchigrosarote Licht war
geblieben, nur war es jetzt viel stärker.
Und man konnte jetzt auch viel weiter
sehen.

-59-
»Hübsch ist es hier«, rief Tiny begei-
stert. »Ein Stern mit drei Sonnen. Das
finde ich fabelhaft!«
Nico schüttelte nachdenklich den Kopf.
Dann sagte er entschieden:
»Das ist gar kein Stern. Das ist ein Pla-
net. Ein Planet wie die Erde, nur daß er
eben drei Sonnen hat. Eigentlich ist das
ganz normal.«
»Wieso normal?« fragte Tiny verdutzt.
»Eigentlich sind es doch zwei zuviel?«
»Nur für uns Erdbewohner«, erklärte Ni-
co. »Aber im Weltraum gibt es viele Pla-
neten mit mehreren Sonnen. Und der hier
ist eben einer davon.«
Tiny blickte Nico bewundernd an. »Ist
das auch wahr?« fragte sie noch ein we-
nig unsicher. »Natürlich«, antwortete Ni-
co ein bißchen großspurig. »Und jetzt
wollen wir endlich diesen verrückten Pla-
neten besichtigen. Ich glaube, da hinten
ist etwas, das anders aussieht als hier.«

-60-
IM PILZWALD

Nico nahm seine Schildkröte auf, faßte


Tiny an der Hand und stiefelte los. Er hat-
te vorhin nach dem Aufgang der drei
Sonnen etwas entdeckt. Von weitem sah
es aus wie ein langer dunkler Strich. Aber
gab es das überhaupt: einen Strich in der
Landschaft? Da mußte etwas anderes da-
hinterstecken. Und das wollte er heraus-
kriegen.
»Was meinst du, was das ist?« fragte
Tiny neugierig. »Keine Ahnung«, murmel-
te Nico. »Auf jeden Fall wird es langsam
größer.«
Als sie näher herankamen und der
dunkle Strich immer breiter und höher
wurde, meinte Tiny: »Ich glaube, das ist
Wald.«
»Wenn es hier überhaupt Wald gibt«,
antwortete Nico zweifelnd.
Ohne daß sie es merkten, liefen sie mit
einem Mal schneller. Sie waren beide sehr
neugierig. Und nach kurzer Zeit konnten
sie schon ein paar Einzelheiten erkennen.
Das war kein Strich, es war vielmehr eine
Art Wand: so ähnlich wie auf der Erde ein
Waldrand von Ferne aussieht. Nur daß
hier alles rosarot war. Und dann entdeck-

-61-
ten sie auch so etwas wie Bäume, aber
die sahen ganz komisch aus. »Guck mal,
Bäume!« rief Tiny.
Nico kniff die Augen zusammen und er-
klärte dann überzeugt:
»Nein, keine Bäume. Jedenfalls keine
richtigen.« »So ein Unsinn«, sagte Tiny.
»Falsche Bäume gibt es ja gar nicht.«
»Das werden wir sehen«, knurrte Nico.
Und wie auf Verabredung rannten sie bei-
de auf die sonderbaren Gebilde zu, die
vor ihnen in den rosaroten Nebelhimmel
hochragten. Plötzlich blieb Nico stehen.
»Pilze!« schnaufte er. »Es sind Pilze!«
Tiny war ebenfalls stehengeblieben und
betrachtete abwechselnd die sonderbaren
Gebilde und ihren dagegen winzig kleinen
Begleiter. Nachdenklich legte sie ihren
Zeigefinger an die Nase und meinte: »Ei-
gentlich sind es mehr Pilzbäume. Oder
auch Baumpilze. Jedenfalls sind sie so
groß wie Bäume, auch wenn sie wie Pilze
aussehen. Wir haben wieder mal beide
recht.«
Und bei dem letzten Satz kicherte sie
vergnügt. Nico fand das albern.
»Das ist doch egal«, knurrte er unwillig.
»Pilzbäume oder Baumpilze! So ein
Quatsch! Das sind ganz einfach riesen-
große Pilze!«
Aber Tiny kicherte weiter.

-62-
»Na schön«, sagte sie glucksend. »Und
das ganze ist dann eben ein Pilzwald.«
Nico nickte ergeben.
»Einverstanden«, brummte er. »Und
jetzt werden wir deinen Pilzwald besichti-
gen.«
Sie gingen noch etwas näher, aber bis
ganz heran trauten sie sich nicht gleich.
Es war tatsächlich ein Wald: ein Wald aus
lauter Pilzen. Und sie sahen ähnlich aus
wie die Pilze auf der Erde, nur waren sie
viel viel größer: so hoch wie ausgewach-
sene Bäume, mit gewaltigen Pilzschirmen
und dicken vorgewölbten Bäuchen, — so
dick, daß man meinte, vor einem Haus zu
stehen. Und dazwischen standen kleinere
Pilze in allen möglichen Größen. Aber alle
hatten sie diese seltsame rosarote Grund-
farbe, die im Licht der drei Sonnen in al-
len Schattierungen schimmerte. Manche
wirkten beinahe violett, andere wieder
fast gelblich. Und wieder andere leuchte-
ten in Farben, die es auf der Erde gar
nicht gab. Es war ein überwältigendes
Farbenspiel. Eine Weile standen die bei-
den ganz versunken in den Anblick. Dann
flüsterte Tiny aufgeregt: »Guck doch, der
dort sieht aus wie ein Steinpilz. Und der
da drüben könnte ein Hexenröhrling sein.
Es sind überhaupt ziemlich viele Röhrlin-
ge dabei, alle möglichen Sorten. Und da

-63-
hinten steht eine ganze Morchel-
versammlung.« »Hm«, machte Nico.
Er war sehr beeindruckt von Tinys
Pilzkenntnissen, denn er selbst wußte
über Pilze eigentlich gar nichts.

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Nur eine Sorte kannte er. Und dann ent-
deckte er auch einen, der so aussah.

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»Und das ist ein Fliegenpilz«, verkünde-
te er nicht ohne Stolz und zeigte auf ein
riesiges baumlanges Gebilde. »Stimmt«,
bestätigte Tiny und machte ein er-
schrockenes Gesicht. »Ich hoffe nur, daß
die Fliegen hier nicht auch so groß sind.«
Nico sah sich betroffen um. Dann mur-
melte er beruhigend:
»Ich glaube, hier gibt es gar keine Flie-
gen.«
Tiny schien beruhigt.
»Komm«, sagte sie. »Wir wollen uns im
Schatten etwas ausruhen. Wir sind weit
gelaufen. Und mir tun meine Füße verflixt
weh.«
Nico fand die Idee gut.
Langsam und vorsichtig traten sie zwi-
schen die riesigen Pilze. Im Schatten ih-
rer gewaltigen Schirme war es angenehm
kühl. Aufatmend setzten sie sich in das
weiche rosarote Haargras, das den gan-
zen Boden zwischen den Pilzen bedeckte.
Es roch phantastisch, viel stärker noch als
vorhin. Ein betäubend süßer Duft. Die
beiden fühlten sich mit einem Mal sehr
schläfrig. Auch Line gähnte dösig. Und
nach einer Weile waren sie fest einge-
schlafen.

-66-
EINE TOLLE GESCHICHTE

Als Nico die Augen öffnete, sah er sich


verblüfft um. Es dauerte eine ganze Zeit,
bis er sich darauf besann, wo sie sich ei-
gentlich befanden. Dann entdeckte er Ti-
ny neben sich in ihrem schicken Rauman-
zug. Und ihm war alles klar. Behaglich
dehnte er seine Glieder. Er fühlte sich
wieder völlig frisch.
»Auf geht’s!« rief er unternehmungslu-
stig.
Tiny fuhr erschrocken hoch und rieb sich
die Augen. Sie gähnte herzhaft und mur-
melte schläfrig:
»Mach doch nicht so einen Krach.«
Aber plötzlich wurde sie ganz munter,
sprang auf die Füße und fragte:
»Weißt du, wie lange wir geschlafen ha-
ben?«
Nico schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung«, sagte er unbeküm-
mert. »Aber das macht nichts. Hier ist
jedenfalls noch alles genauso wie vor-
hin.«
Tiny sah aufmerksam musternd in die
Runde. Offenbar hatte Nico recht. Die
drei Sonnen schienen unentwegt und
standen kaum ein Stückchen weiter. Und

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auch im Pilzwald war alles unverändert.
Nur etwas fehlte. »Die Line ist weg!« rief
sie plötzlich. Nico bekam einen Schreck.
Er kannte sich mit Schildkröten recht gut
aus. Und er wußte, daß Line ziemlich
schnell laufen konnte, wenn sie wollte.
Aber vorhin war sie doch auch so dösig
gewesen? Sehr weit konnte sie also nicht
sein. Aber wo?
»Sie wird sich zum Schlafen irgendwo
verkrochen haben«, meinte er. »Wir
müssen sie suchen.«
»So eine Frechheit«, stöhnte Tiny. »Ein-
fach auszubüchsen!«
Nico grinste nur.
Dann begannen sie beide, in verschie-
denen Richtungen zu suchen. Aber das
war recht schwierig. Denn die Pilze stan-
den teilweise ziemlich dicht. Und nach
kurzer Zeit hatten die beiden sich aus den
Augen verloren. Tiny war schon ganz ver-
zweifelt. »Nico! Nico!« rief sie laut durch
den Pilzwald. »Was ist?« rief Nico zurück
und lief wieder in Richtung auf ihren
Schlafplatz zu, wo Tiny ihm bekümmert
entgegensah.
»Mir ist von den vielen Pilzen schon
ganz pilzig«, seufzte sie. »Und die Line ist
auch nirgends zu finden.«

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»Hm«, machte Nico. »Diese Sucherei ist
wirklich blöd. Dabei habe ich so einen
Hunger.«
»Ich auch«, gestand Tiny kleinlaut.
Nico verzog nachdenklich sein Gesicht.
Dann hellte sich seine Miene auf.
»Ob wir mal von den Pilzen probieren?«
meinte er. »Sicher sind da auch eßbare
dabei.«
Tiny nickte erfreut und zeigte auf einen
kleineren rosaroten Steinpilz, dessen obe-
ren Rand sie gut erreichen konnten.
»Den da vielleicht«, sagte sie. »Das
scheint eine Art Steinpilz zu sein.«
Vorsichtig brachen sie jeder ein winziges
Stück vom Rand ab und schnüffelten dar-
an.
»Merkst du was?« rief Nico plötzlich tri-
umphierend. »Deine Bonbonfabrik! Das
ist sie!«
Tiny, die ja genau wußte, wie Pilze ge-
wöhnlich riechen mußten, war verblüfft.
»Nein«, murmelte sie. »Pilze, die wie
Bonbons riechen, das ist toll!«
»Und sie schmecken auch so!« brüllte
Nico begeistert und biß schon ein neues
Stück ab. Jetzt war auch Tiny nicht mehr
zu halten. Sie kauten beide mit vollen
Backen bis der ärgste Hunger gestillt war.

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Dann meinte Nico besorgt: »Aber wo
steckt unsere Line?«
Plötzlich geschah etwas ganz Sonderba-
res. Obwohl sie beide eigentlich keine
Stimme hörten, vernahmen sie doch
deutlich: »Hier bin ich.«
Verblüfft starrten sie sich an. Dann sa-
hen sie sich suchend um. Aber es war
nirgends etwas zu sehen. »Ich glaube, es
spukt«, murmelte Nico.
»Blödsinn«, klang es wieder von ir-
gendwoher. »Schildkröten spuken nicht.
Das solltet ihr Schafsköpfe eigentlich wis-
sen.«
Tiny riß entsetzt die Augen auf. »Die Li-
ne«, flüsterte sie fassungslos. »Hm«,
machte Nico und kratzte sich hinterm
Ohr. Plötzlich sah er Line gemächlich her-
ankrauchen. Sie kaute noch und hatte
offensichtlich gerade ausgiebig von den
Pilzen gefressen.
»Na, ihr beiden«, sagte sie gemütlich.
»Hat es euch geschmeckt?«
Nico kauerte sich vor Line auf den Bo-
den und betrachtete sie neugierig.
»Sag mal, Line«, fragte er streng. »Seit
wann kannst du denn mit uns reden?«
Line gähnte zunächst einmal sehr unbe-
fangen. Dann sagte sie bedächtig: »Seit

-70-
wir diese Pilze gegessen haben.«
»Die Pilze?« fragten die beiden wie aus
einem Mund. Line nickte gelassen.
»Diese Pilze haben einen besonderen
Saft«, erklärte sie, »Und dieser Saft för-
dert die Verständigung. So einfach ist
das.«
Die beiden hörten verwundert zu. Und
irgendwie fanden sie das auch sehr ein-
leuchtend. Denn eines wußten sie:
Schildkröten gab es schon sehr sehr lan-
ge, viel länger als Menschen. Und deshalb
hieß es allgemein, Schildkröten seien sehr
weise. Vielleicht waren sie es wirklich?
Und deshalb beschlossen sie, ihre Schild-
kröte in Zukunft sehr respektvoll zu be-
handeln.

-71-
SELTSAME BEWOHNER

Line hielt das Gespräch offenbar für be-


endet. Sie machte kehrt und tappelte
gemächlich tiefer in den Pilzwald hinein.
Und die beiden folgten ihr langsam. Mit
einem Mal blieb Tiny stehen. »Und wenn
wir uns nun verlaufen?« fragte sie ängst-
lich.
Line beruhigte sie.
»Schildkröten verlaufen sich nicht«,
sagte sie würdevoll. »Ich finde immer da-
hin, wo ich hin will.«
»Das stimmt«, bestätigte Nico. »Schild-
kröten haben einen tollen Orientierungs-
sinn.«
Tiny nickte erleichtert. Und so wander-
ten die drei immer weiter, kosteten da
und dort von einem Pilz und fanden es
herrlich, daß ihnen die Leckereien buch-
stäblich in den Mund wuchsen. Plötzlich
schrie Nico auf.
»Da!« brüllte er. »Seht doch! Dieses
komische Ding da oben!«
Wie angewurzelt blieben sie stehen,
über ihnen schwebte ein seltsamer Ge-
genstand: groß und rund wie ein Fußball
und buntschillernd wie eine Seifenblase.
Und an der Seifenblase hingen lange

-72-
dünne Fäden, die bei jeder Bewegung
hin- und herwedelten. Tiny drängte sich
schutzsuchend an Nicos Seite und flüster-
te:
»Was kann das sein?«
»Weiß nicht«, murmelte Nico.
Line schwieg und lugte aufmerksam aus
ihrem Panzer hervor auf das seltsame
Ding. Die Seifenblase kam langsam tiefer,
immer tiefer, bis sie direkt über ihren
Köpfen schwebte. Dort blieb sie fadenwe-
delnd hängen. Und jetzt entdeckten die
beiden, daß die Seifenblase auch eine Art
Gesicht hatte, zumindest so etwas wie
Augen: rosarot und ungefähr handteller-
groß und in der Mitte einen knallroten
Punkt wie eine überreife Kirsche. Und aus
diesen Augen musterte das sonderbare
Ding sie neugierig. »Huch«, machte Tiny.
»Das ist ja unheimlich.«
»Still«, zischte Nico.
Aber die Seifenblase rührte sich nicht
vom Fleck. Line schob gemächlich ihren
langen Hals aus dem Panzer, legte den
Kopf ein wenig schief und sagte gemüt-
lich:
»Guten Morgen.«
Die Seifenblase hielt ruckartig ihre We-
delfäden still und wandte sich zu der

-73-
Schildkröte. Dann sagte sie mit einer
schrillen hohen Diskantstimme: »Guten
Morgen. Was macht ihr hier?«
»Laufen«, antwortete Line gelassen.
»Was ist das?« fragte die Seifenblase.
»So was«, sagte Line und machte es
vor.
Die Seifenblase sah aufmerksam zu.

-74-
»Sehr umständlich«, bemerkte sie und
wandte sich dann an Tiny und Nico:
»Macht ihr das auch so?«

-75-
Die beiden schüttelten die Köpfe und lie-
fen ein paar Schritte hin und her.
»Aha, Zweibeiner«, sagte die Seifenbla-
se. »Also eine andere Sorte. Und was
macht ihr sonst noch?«
»Pilze naschen«, antwortete Line.
»Weiß ich«, sagte die Seifenblase. »Alle
naschen hier Pilze, wegen der Verständi-
gung. Aber es sind gar keine.«
»Was sonst?« fragte Line interessiert.
Die Seifenblase gab eine Art drolliges
Kichern von sich.
»Wird nicht verraten«, erklärte sie wür-
devoll und wackelte heftig mit ihren We-
delfäden.
»Auch gut«, sagte Line freundlich.
»Hauptsache, sie schmecken.«
Die Seifenblase wedelte sich dicht vor
Tinys und Nicos Nase und fragte streng:
»Warum sagt ihr nichts? Seid ihr
stumm?«
Tiny schüttelte heftig den Kopf.
Nico machte: »Hm.«
Er hatte sich allmählich von seiner Ver-
blüffung wieder erholt. Und jetzt überleg-
te er krampfhaft, wie dieses seltsame
sprechende Ding wohl anzureden sei.
Sollten sie es nun Siezen oder Duzen?

-76-
Siezen war höflicher und in diesem Fall
auch angebrachter, schließlich kann ten
sie sich ja gar nicht. Außerdem wirkte das
sonderbare Wesen irgendwie erwachsen.
Also mußte man wohl Sie sagen. Aber:
mußte das nun Herr oder Frau Seifenbla-
se heißen? Oder überhaupt nicht Seifen-
blase? Sie hatten ja keine Ahnung, ob es
überhaupt eine war. Jedenfalls konnten
Seifenblasen eigentlich gar nicht reden.
Oderdoch? Vielleicht konnten sie es hier?
Wegen der Pilze? Nico fand das alles sehr
kompliziert. Endlich sagte er ent-
schlossen.
»Ich heiße Nico. Und das kleine Mäd-
chen heißt Tiny. Und das dort ist die Line.
Und wie heißt du?«
Er stockte. Jetzt hatte er die Seifenblase
doch geduzt.
Aber die schien das nicht zu stören.
»Utzebule«, sagte sie freundlich.
»Ein hübscher Name«, meinte Tiny.
»Wir heißen alle so«, erklärte die Sei-
fenblase.
»Wie verwirrend«, murmelte Nico und
versuchte, sich das vorzustellen.
Tiny zog nachdenklich ihre Stirn kraus.
Dann fragte sie:
»Ich denke, ihr heißt Beteigeuzer?«

-77-
Die Seifenblase kicherte.
»Nein«, sagte sie belustigt. »Warum
denn das?«
»Weil euer Stern Beteigeuze heißt«, er-
klärte Tiny ernst.
»Stimmt nicht«, entschied die Seifen-
blase. »Bei uns heißt immer alles anders,
als ihr denkt. Ist doch ganz klar.«
Die beiden schwiegen verblüfft. Aber si-
cher hatte die Seifenblase recht. Schließ-
lich hieß auf der Erde in den verschiede-
nen Sprachen auch immer alles anders.
Dann mußte es hier wohl auch so sein.
Plötzlich stieß die Seifenblase einen ent-
setzlich schrillen Quiekser aus. Und dann
kamen von allen Seiten Seifenblasen an-
geschwebt: größere und kleinere und
ganz klitzekleine mit winzigen Wedelfäd-
chen. »Guck mal«, rief Tiny entzückt.
»Lauter Utzebules.«
Daraufhin kicherten die Seifenblasen al-
le los. Es war ein unbeschreiblicher Lärm.
Sie hüpften begeistert mit ihren Wedel-
fädchen wackelnd um sie herum und
schienen sich unbändig zu freuen.
»Mahlzeit«, schrie die erste Seifenblase
in den Lärm. Und wie auf Kommando
sausten die Utzebules zwischen die sie
umgebenden Pilzbäume und begannen

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genießerisch zu knabbern.
»Also essen«, sagte Nico trocken. »Mir
scheint, das ist ein Festmahl zu unserem
Empfang.«
Tiny nickte zustimmend.
Aber ehe sie etwas sagen konnte,
schwebten vier große schillernde Seifen-
blasen heran. Und in ihrer Mitte hielten
sie an ihren Wedelfäden ein riesiges
Stück Pilzfleisch von ungewöhnlicher Far-
be. Vorsichtig setzten sie es vor ihnen ab.
»Guten Appetit!« riefen sie im Chor und
entschwebten. Die beiden griffen emsig
zu. Und sie futterten, bis sie sich die Bäu-
che halten mußten und vom vielen Essen
ganz schläfrig wurden.
»Komm, laß die Utzebules allein weiter-
futtern«, stöhnte Nico. »Wir machen erst
einmal ein kleines Nickerchen.«
»Gute Idee«, seufzte Tiny und rieb sich
ihr Bäuchlein.
Und die erste Seifenblase rief herüber:
»Immer los!«
Gemächlich machten sie es sich unter
einem dicken Pilz bequem. Und ehe sie
einschliefen, sagte Tiny noch:
»Eigentlich sind sie doch furchtbar nett,
die Utzebules.«

-79-
DAS GEFÄHRLICHE El

Nico mußte schon eine Weile geschlafen


haben, als ihn plötzlich etwas an der Nase
kitzelte. Unwirsch wischte er sich über die
Nase, aber das Kitzeln kam immer wie-
der. Und dann mußte er gewaltig niesen.
Noch etwas verschlafen blickte er sich um
und mußte lachen. Direkt vor seinem Ge-
sicht tanzte eiine klitzekleine Seifenblase
und trieb ein neckisches Spiel. Sie ließ
sich einfach vom Luftstrom seines Atems
treiben. Wenn er ausatmete, wurde sie
ein Stück davongeblasen. Und wenn er
einatmete, wurde sie so dicht an sein Ge-
sicht herangezogen, daß ihre winzigen
Wedelfädchen ihn an der Nase kitzelten.
»So ein kleines Luder«, knurrte er belu-
stigt und pustete ein wenig.
Die kleine Seifenblase hüpfte er-
schrocken auf einen dicken Pilz. Dort
blieb sie sitzen und beobachtete ihn
ängstlich.
»Komm ruhig herunter«, rief Nico. »Nur
hör auf zu kitzeln, sonst muß ich wieder
niesen.«
»Ich kitzle dich ja gar nicht«, murmelte
Tiny noch im Halbschlaf.
»Du nicht, aber dieses verflixte kleine

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Utzebulchen.«
Langsam richtete Tiny sich auf.
»Was redest du da eigentlich?« erkun-
digte sie sich träge.
»Guck dort«, erklärte Nico. »Das kleine
Biest da auf dem Pilz hat mich im Schlaf
an der Nase gekitzelt.«
»Aha«, machte Tiny und rieb sich die
Augen. »Und wo sind die anderen?«
Nico guckte etwas verdutzt in die Ge-
gend. Tatsächlich war nirgendwo jemand
zu sehen. »Weiß ich nicht«, murmelte er.
»Vermutlich sind sie auch schlafen ge-
gangen.«
Aber Nico täuschte sich. Die Seifenbla-
sen schliefen nicht. Im Gegenteil, sie wa-
ren sogar sehr aufgeregt. Denn sie hatten
etwas außerordentlich Beunruhigendes
entdeckt.
»Dort sind ja welche!« rief Tiny mit ei-
nem Mal. Zwischen den Pilzbäumen kam
eine ganze Kolonne Seifenblasen würde-
voll herangeschwebt. Das sah sehr drollig
aus, aber ihre Gesichter waren ernst.
Stumm bildeten sie einen Halbkreis um
die beiden. Und die Seifenblase, mit der
sie zuerst gesprochen hatten, verharrte
direkt vor ihnen.
Plötzlich hatte Nico einen Einfall. Er

-81-
spitzte die Lippen und pustete die Seifen-
blase kräftig an, so daß sie ein Stück
durch die Luft taumelte. Aber die Seifen-
blase fand das gar nicht lustig. Sie brem-
ste sofort ab, machte kehrt und wedelte
sich dicht vor seiner Nase. »Laß den Un-
sinn«, sagte sie streng. »Ich habe mit dir
zu reden.«
Nanu, dachte Nico und betrachtete sie
neugierig. Und da entdeckte er etwas
Merkwürdiges. Zwischen ihren Wedelfä-
den hielt die Seifenblase einen sonderba-
ren Gegenstand. Es sah aus wie ein klei-
ner, nicht ganz runder Ping-Pong-Ball.
Oder auch wie ein kleines weißes Vogelei,
so ähnlich jedenfalls. Und mit diesem Ge-
genstand fuchtelte die Seifenblase ihm
direkt vor der Nase herum.
»Habt ihr das mitgebracht?« fragte die
Seifenblase mit schriller Stimme.
»Nein«, antwortete Nico erstaunt. »Du
lügst«, sagte die Seifenblase. »Bei uns
gibt es nichts, das eine weiße Farbe hat.
Und das Ding hier ist weiß. Also könnt
nur ihr es mitgebracht haben.«
»Hm«, machte Nico und kratzte sich
nachdenklich hinterm Ohr. Ihm fiel ein,
daß hier tatsächlich alles irgendwie rosa-
rot war. Alles was sie bisher gesehen hat-
ten: das komische Haargras, die riesen-

-82-
haften Pilze, sogar die Luft und auch die-
se seltsamen Utzebule-Seifenblasen-
Lebewesen. Alles rosarot in den unter-
schiedlichsten Farbtönen. Etwas Weißes
schien es auf diesem sonderbaren Plane-
ten wirklich nicht zu geben. Aber was
konnte das sein?
»Zeig mal her«, sagte Nico entschlossen
und nahm den Gegenstand aus den We-
delfäden der Seifenblase. Vorsichtig dreh-
te er das Ding zwischen den Fingern.
Und dann lachte er so laut, daß die Sei-
fenblasen entsetzt zurückwichen. Er wuß-
te, was es war. »Aha«, machte die Sei-
fenblase vieldeutig. Nico grinste.
»Weißt du, was das ist?« sagte er ver-
gnügt. »Das ist ein Ei!«
»Ist das etwas Gefährliches?« fragte die
Seifenblase streng.
»Wieso gefährlich?« murmelte Nico ver-
dutzt. »Weil ihr es versteckt habt! Wir
haben es gefunden, gut verborgen zwi-
schen angeknabberten Pilzstückchen. Al-
so ist es gefährlich!«
Plötzlich rief Tiny aufgeregt:
»Die Line! Sicher hat Line das Ei gelegt
Du hast mir doch davon erzählt.«
»Klar«, sagte Nico. »Das macht sie öf-
ter.«

-83-
Die Seifenblase schwieg einen Moment.
Dann fragte sie lauernd: »Legt ihr auch
Eier?«
Die beiden lachten.
»Nein«, sagte Nico. »Nur unsere Schild-
kröte.«
»Und warum tut sie das?«
»Natürlich wegen der Fortpflanzung«,
antwortete Nico. »Nach einer Weile
kommt aus dem Ei eine kleine Schildkröte
heraus.«
Aber jetzt wurde die Seifenblase böse.
»Das gibt es ja gar nicht!« behauptete
sie. Nico schwieg. Er hatte keine Ahnung,
was er darauf erwidern sollte. Doch Tiny
hatte einen Einfall. »Bei euch gibt es das
vielleicht nicht«, erklärte sie ener gisch.
»Aber bei uns ist das so. Und es ist sehr
dumm, etwas zu bestreiten, nur weil man
nichts davon weiß.«
Die Seifenblase packte mit ihren Wedel-
fäden das Ei und nahm es an sich. Dann
verkündete sie schrill: »Gut. Wir werden
prüfen, ob das stimmt. Aber wenn etwas
Schlimmes dabei passiert, werdet ihr ver-
pilzt!«

-84-
IN GEFANGENSCHAFT

Die Seifenblase stieß ein seltsam krei-


schendes Geräusch aus. Und dann stürz-
ten sich die anderen Seifenblasen von
allen Seiten wüst quieksend auf die bei-
den, umfuchtelten sie mit ihren Wedelfä-
den und trieben sie auf einen gewaltigen
dunkelrosaroten Pilz zu. Die beiden flüch-
teten erschrocken. Und sie waren sehr
froh, als sie in dem Pilz eine Öffnung ent-
deckten, in die sie hineinkriechen konn-
ten. Aufatmend verbargen sie sich in der
dunklen Höhle.
»Hihihihihi!« tönte es schrill von drau-
ßen. »Jetzt seid ihr gefangen!«
Und plötzlich wurde es immer dunkler.
Die Seifenblasen schleppten unermüdlich
eine Menge Pilzstücke herbei und stopften
sie in die Öffnung der Höhle, bis sie völlig
verschlossen war. Kein Lichtschimmer
drang mehr herein. Dann wurde es still.
Tiny schluchzte: »Ich hab solch eine
Angst.«
Auch Nico spürte ein ziemlich unange-
nehmes Gefühl in der Magengegend. Aber
so schnell ließ er sich den Mut nicht neh-
men.
»Immer mit der Ruhe«, brummelte er.

-85-
»Heulen nützt jetzt auch nichts. Wir soll-
ten lieber nachdenken. Irgendwie müssen
wir doch hier wieder herauskommen.«
»Aber wie?« fragte Tiny kleinlaut. »Das
weiß ich auch noch nicht.«
Tiny schluchzte noch ein bißchen. Plötz-
lich sagte sie zornig:
»Ich finde die Utzebules gar nicht mehr
nett. Wie kann man nur einen so hüb-
schen Namen haben und dann so graus-
lich böse sein!«
»Blödsinn«, knurrte Nico. »Das ist doch
völlig unlogisch.«
Tiny biß sich auf die Lippen und
schwieg. Nico überlegte angestrengt,
aber ihm fiel im Moment nichts ein.
Nach einer Weile fragte Tiny:
»Was heißt das eigentlich: verpilzen? Ob
das etwas sehr Schlimmes ist?«
»Keine Ahnung«, brummte Nico. »Viel-
leicht sollen wir hier in diesem Pilz einge-
sperrt bleiben, bis wir selbst ein Stück
Pilz geworden sind.«
»Schrecklich«, stöhnte Tiny.
»Aber nur, wenn wir hier drin bleiben«,
beruhigte Nico sie. »Und das werden wir
auf keinen Fall.«
»Und wie willst du das machen?« fragte

-86-
Tiny hoffnungsfroh. »Paß auf«, erklärte
Nico. »Sicher ist dieser Pilz eßbar.
Jedenfalls riecht er ganz gut und auch
irgendwie süßlich. Wir essen einfach an
einer Stelle ein Loch hinein, bis wir hin-
durchkriechen können.«
»O fein!« jubelte Tiny. »Wie im Schla-
raffenland durch den Reisbrei.«
»Stimmt«, grinste Nico. »Und was wir
nicht essen können, werfen wir hier in die
Höhle; groß genug ist sie ja.«
Tiny zog ein bedenkliches Gesicht.
»Aber der Pilz ist so furchtbar dick«,
meinte sie ernüchtert.
»Ach was«, knurrte Nico. »Los, anfan-
gen!«
Eifrig begannen die beiden, Pilzstücke
aus der Innenwand herauszubohren. Aber
das war viel schwieriger, als sie gedacht
hatten. Der Pilz war tatsächlich sehr groß
und dick. Und das Pilzfleisch war alt und
ziemlich zäh. Außerdem schmeckte es ein
bißchen muffig. Seufzend gab Tiny es auf.
Aber dann hatte sie einen Einfall:
»Warum bohren wir eigentlich nicht
dort, wo wir hereingekommen sind? Da
müßte es doch viel leichter gehen?«
»Donnerwetter«, brummte Nico aner-
kennend. »Du bist ein kluges Mädchen.«

-87-
Mit neuem Eifer suchten sie nach der
früheren Öffnung. Doch auch das war
nicht einfach. Denn in der Höhle war es
stockdunkel. Und als sie endlich glaubten,
den verstopften Eingang gefunden zu ha-
ben, erlebten sie eine neue Enttäu-
schung. Der klebrige Pilzsaft hatte die
einzelnen Stücke inzwischen zu einer zä-
hen Masse verbacken. Trotzdem ging es
ein wenig leichter als an der alten Stelle.
Und diese Pilzstücke schmeckten auch
besser.
»Wenigstens etwas«, murmelte Nico.
Verbissen wühlten die beiden weiter. Sie
hatten keine Ahnung, wie lange sie schon
an der Öffnung arbeiteten. Nur an ihren
klebrigen Händen und ihren müden Glie-
dern spürten sie, daß es schon ziemlich
lange sein mußte. Doch allzu groß waren
ihre Fortschritte nicht. Endlich legten sie
eine Pause ein. »So was Dummes«,
maulte Tiny. »Was muß die Line auch auf
fremden Sternen Eier legen. Das macht
man doch nicht.«
»Quatsch«, knurrte Nico. »Line legt Ei-
er, wenn sie muß. Dafür kann sie nichts.
Diese Utzebules sind an allem schuld. Wie
kann man nur Eier für gefährlich halten!
So ein Blödsinn!«
Tiny weinte wieder ein bißchen. »Es hat

-88-
doch alles keinen Zweck«, schluchzte sie.
»Wenn aus dem Ei nichts rauskommt,
sperren uns die Utzebules wieder ein.
Und wir werden verpilzt.«
Nico antwortete nicht.
Er wußte genau, daß Tiny recht hatte.
Das war wirklich ein Problem. Zwar hatte
Line zu Hause im Garten oft die Gesell-
schaft anderer Schildkröten aus der
Nachbarschaft, doch niemand konnte wis-
sen, ob das Ei wirklich befruchtet war.
Und selbst wenn das zuträfe, nützte es
gar nichts, wenn das Ei nicht die richtige
Temperatur bekam. Und wer weiß, was
die Utzebules mit dem Ei anstellten.
Nico stöhnte abgrundtief. Schließlich
sagte er tröstend: »Wir werden auf jeden
Fall aus diesem verflixten Pilz ausbre-
chen. Und dann nichts wie weg zu unse-
rem Raumschiff. Vermutlich ist Line schon
dort und wartet auf uns.«
Tiny nickte beruhigt und gähnte. »Ich
bin so müde«, murmelte sie leise. »Ich
auch«, antwortete Nico. »Sicher buddeln
wir schon eine ganze Ewigkeit.«
»Bestimmt«, meinte Tiny schläfrig.
»Weißt du was?« sagte Nico. »Wir ruhen
uns ein bißchen aus und buddeln dann
weiter. Einverstanden?«

-89-
Doch Tiny gab keine Antwort mehr. Sie
war schon eingeschlafen. Und kurz darauf
schlief Nico auch.

-90-
LINE ALS RETTER

Tiny und Nico schliefen den tiefen Schlaf


der Erschöpfung. Und weil es in dem tü-
ren- und fensterlosen dunklen Pilz nie-
mals hell wurde, hätten sie wohl noch
sehr lange geschlafen – wenn nicht etwas
Unvorhergesehenes passiert wäre.
Nico hatte sich im Schlaf gerade auf die
andere Seite gewälzt, da spürte er, wie
ihn etwas in den Finger zwickte. Entsetzt
fuhr er hoch und stieß einen dumpfen
Schrei aus.
»Nur keine Aufregung«, sagte plötzlich
eine Stimme neben ihm. »Ich wollte bloß
mal sehen, wo ihr eigentlich steckt.«
»Die Line«, murmelte Nico erleichtert.
Er war sofort hellwach und stupste Tiny
aufgeregt in die Seite.
»Wach auf, Tiny!« schrie er. »Line ist
da!«
Tiny rieb sich verschlafen die Augen.
Aber dann begriff sie alles.
»Linchen!« rief sie begeistert. »Wo
kommst du denn her?«
»Von draußen natürlich«, brummte Line
gemütlich. »Von draußen?« fragten die
beiden wie aus einem Munde.
»Woher denn sonst?« brummelte Line.

-91-
»Und wie bist du hereingekommen?«
»Ich habe mich durch den Pilz gewühlt«,
erklärte Line ruhig. »Ihr habt nur nichts
davon gemerkt, so fest habt ihr geschla-
fen: tiefer als eine Schildkröte im Winter-
schlaf.«
Die beiden lachten.
»Und wie hast du uns gefunden?« fragte
Nico. Line gähnte zunächst einmal aus-
giebig. Dann sagte sie bedächtig:
»Immer der Reihe nach. Ich werde euch
alles erzählen. Hört zu: Als nach unserer
Unterhaltung mit dieser drolligen Seifen-
blase plötzlich all die anderen vielen Ut-
zebules auftauchten, habe ich mich ver-
zogen. Es war mir einfach zuviel Betrieb.
Und das mag ich nicht. Ich suchte mir
etwas abseits ein stilles Plätzchen und
legte mein Ei. Mir war gerade danach.
Dann habe ich ein Weilchen geschlafen.
Und als ich wieder wach wurde, war mein
Ei weg. Das fand ich sehr unfein, denn ich
mag nicht, wenn man mir die Eier mopst.
Später sah ich dann, wie die Utzebules
euch mit meinem Ei vor der Nase herum-
fuchtelten und euch schließlich hier ein-
sperrten. Dann wedelten sie davon. Und
mein Ei nahmen sie mit. Also folgte ich
ihnen, um zu sehen, was sie damit mach-
ten. Das ging ziemlich langsam, denn so

-92-
schnell wie die Utzebules bin ich nicht.
Aber dann entdeckte ich sie – und ein
Stückchen weiter auch mein Ei. Und na-
türlich hatten sie Unfug damit getrieben.
Es lag nämlich im Schatten. Da habe ich
es einfach an ein sonniges Plätzchen ge-
rollt, damit es schön gewärmt wird. Denn
das ist wichtig, sonst wird nichts daraus.
Und dann bin ich den Weg zurückgelau-
fen, um euch zu suchen. Den Pilz hatte
ich mir ja gemerkt. Und jetzt bin ich da.«
»Prächtig«, rief Tiny. »Du bist ein klu-
ges Tierchen.«
»Und wie hast du dich so schnell durch
den dicken Pilz gewühlt?« fragte Nico in-
teressiert. »Wir haben es nämlich von
hier aus auch versucht. Aber weit sind wir
dabei nicht gekommen.«
»Eigentlich ging das gar nicht: so
schnell«, erklärte Line gemächlich. »Und
ich habe erst zwischendurch ein kleines
Nickerchen gemacht, um mich etwas aus-
zuruhen. Euch kam das nur nicht so lange
vor, weil ihr die ganze Zeit geschlafen
habt. Aber natürlich kann ich mich mit
meinen scharfen Krallen besser durch et-
was hindurchwühlen als ihr mit euren
Menschenpfoten.«
»Klar«, sagte Tiny. »Nur warum ist es
hier drin trotzdem noch so dunkel?«

-93-
Nico überlegte kurz. Dann meinte er:
»Vermutlich sind die losen Pilzstücke
nachgerutscht. Und deshalb kann kein
Licht herein.«
»Dann aber nichts wie raus!« rief Tiny
ängstlich. »Sonst klebt das Zeug womög-
lich wieder zusammen.«
»Nur keine Angst«, murmelte Line be-
ruhigend. »Ich wühle uns schon heraus.«
Nico erhob sich lebhaft.
»Also los!« kommandierte er. »Ich habe
jetzt genug von dieser pilzigen Dunkel-
kammer.«
Mit vereinten Kräften begannen sie, sich
durch den Pilz zu wühlen. Jetzt ging es
mit einemmal viel leichter. Line kroch
vornweg und kratzte mit den Krallen ihrer
kräftigen Vorderbeine die Pilzstücke aus
dem schmalen Durchgang, den sie vorhin
gegraben hatte. Und die beiden vergrö-
ßerten den Gang so weit, daß sie hin-
durchkriechen konnten. Nach kurzer Zeit
sahen sie schon einen Lichtschimmer, der
immer stärker wurde, je mehr sie voran-
kamen. Und plötzlich wurde es ganz hell.
Sie waren durch. Aufatmend krochen sie
ins Freie. »Und was nun?« fragte Tiny
und richtete sich auf. Nico musterte miß-
trauisch die Gegend. Aber im Pilzwald
rührte sich nichts. Niemand war zu se-

-94-
hen, kein Laut zu hören. Nur die drei rie-
sigen rosaroten Sonnen schienen unent-
wegt. Und es sah so aus, als habe sich
überhaupt nichts verändert.
»Zum Raumschiff!« rief Nico. »Da sind
wir auf jeden Fall sicher.«
Er nahm Line auf den Arm, damit sie
schneller vom Fleck kamen. Und dann
stapften sie mit großen Schritten auf den
Rand des Pilzwalds zu.

-95-
NEUE FREUNDE

Sie waren noch gar nicht weit gegangen,


da hörten sie mit einemmal ein sehr ei-
genartiges Geräusch. Es klang wie ein
fernes unwirkliches Singen. Und es kam
immer näher.
»Wie hübsch«, flüsterte Tiny entzückt
und blieb lauschend stehen. »Aber was
kann das sein?«
»Weiß nicht«, knurrte Nico unwirsch.
»Ist auch egal. Wir müssen weiter.«
Doch sie kamen nicht weiter. Plötzlich
war das seltsame Singen direkt über ih-
nen. Und als sie aufblickten, entdeckten
sie diie Ursache des Geräusches. Es wa-
ren – die Utzebules! Sie schwebten dicht
unter den gewaltigen Schirmen der Pilz-
bäume, mindestens hundert Stück!
Vor Schreck wagten Tiny und Nico sich
nicht zu rühren. Langsam schwebten die
Utzebules herab. Dabei wurde das son-
derbare Geräusch immer lauter. Und jetzt
sahen die beiden auch, wie es zustande-
kam. Mit blitzschnellen Bewegungen
schlugen die Utzebules ihre langen We-
delfäden aneinander, spielten gewisser-
maßen auf sich selbst Gitarre. Und es
klang sehr hübsch. Plötzlich erlosch das

-96-
Geräusch. Und die Seifenblase, mit der
sie zuerst gesprochen hatten, löste sich
aus dem Kreis der anderen und kam auf
sie zugeschwebt. »Wir müssen uns bei
euch entschuldigen«, sagte sie feierlich.
»Denn wir haben euch großes Unrecht
getan.«
»Hm«, machte Nico verblüfft.
»Und wir haben uns sehr dumm benom-
men«, fuhr die Seifenblase fort. »Man soll
wirklich nie etwas behaupten, was man
nicht weiß.«
»Stimmt«, brummte Line befriedigt.
»Aber was ist denn auf einmal los?« frag-
te Tiny aufgeregt. »Seid ihr denn gar
nicht böse, weil wir euch ausgebüxt
sind?«
»Nein, nein«, sagte die Seifenblase be-
gütigend. »Im Gegenteil. Es ist nämlich
etwas ganz Außerordentliches gesche-
hen.«
Sie winkte zu den anderen hinüber. Dar-
aufhin kamen vier große Seifenblasen
angeschwebt, die mit ihren Wedelfäden
gemeinsam ein stattliches Stück Pilz zwi-
schen sich trugen. Und auf dem Pilzstück
saß etwas Winziges drauf.
»Ein kleines Tier«, erklärte die Seifen-
blase strahlend. »Und es krabbelt herum

-97-
und ist sehr niedlich.«
»Ein Schildkrötenbaby!« quietschte Tiny
vor Begeisterung.
Nico starrte verdutzt auf die klitzekleine
Schildkröte, der man es ansah, daß sie
gerade erst ausgeschlüpft sein mußte.
»Nanu«, murmelte er erstaunt. »Das
dauert doch sonst viel länger.«
»Schon«, meinte Line. »Aber bei drei
Sonnen geht es eben schneller. Und au-
ßerdem ist es hier schön warm. Babys
mögen das.«
»So ist es«, verkündete die Seifenblase
freundlich. »Und wie gefällt euch unsere
Musik?«
»Fabelhaft«, erklärte Tiny eifrig.
Die Seifenblase wackelte befriedigt mit
ihren Wedelfäden und erläuterte:
»Es ist das Versöhnungskonzert. Jetzt
sind wir Freunde.«
»Einverstanden«, nickten die beiden er-
leichtert. Daraufhin setzte die Musik wie-
der ein, daß es weithin durch den Pilzwald
hallte. Und alle lauschten sehr andächtig.
Nur Line gähnte.
Die Seifenblase beobachtete sie. Und als
die Musik verklungen war, sagte sie ent-
zückt:

-98-
»Wenn Schildkröten gähnen, sind sie
besonders niedlich.«
»Nein, müde«, brummte Line. »Und das
könnt ihr euch gleich merken: Schildkrö-
ten müssen viel schlafen, vor allem die
Babys.«
»Aha«, machte die Seifenblase ver-
ständnisvoll und beugte sich über das
Schildkrötenbaby: »Ich glaube, es
schläft.«
Auf einen Wink hin schwebten die vier
Seifenblasen mit dem Baby auf dem Pilz-
stück zu Boden und setzten es vorsichtig
ab.
»Und was ist sonst noch zu beachten?«
erkundigte sich die Seifenblase.
Statt einer Antwort kniete Nico sich ne-
ben Line nieder und kraulte sie liebevoll
unterm Kinn. Und Line streckte ihren Hals
aus dem Panzer, so weit sie konnte. Sie
hielt ganz still, zwinkerte nur hin und
wieder behaglich mit den Augen. »Krau-
len haben sie sehr gern«, erklärte Nico.
»Oh«, rief die Seifenblase.
Und wie auf Kommando kamen die Ut-
zebules von allen Seiten herangestürmt
und umfuchtelten die verdutzte Line, die
sofort den Kopf einzog. Aber das nützte
nicht viel. Mit ihren dünnen Wedelfäden

-99-
fuhren sie Line unter den Panzer und be-
gannen, sie unter dem Kinn zu kraulen.
Es kitzelte fürchterlich. »Hihihihi«, kicher-
te Line. »Nicht so wüst.«
Die Utzebules hörten sofort auf.
»So war das nun auch nicht gemeint«,
brummelte Line gemütlich und schob den
Kopf wieder hervor. »Nur immer einer
hübsch nach dem anderen.«
»Halt!« rief Nico lachend dazwischen.
»Wir haben doch hier kein Kitzelfest.«
Alle lachten.
Und die große Seifenblase sagte: »Aber
ein Fest haben wir. Und außerdem haben
wir noch viele Fragen.«
Sie schwebte auf Nico zu, strich ihm mit
ihren We delfäden über den Haarschopf
und erkundigte sich höflich:
»Was ist das?«
»Haar«, sagte Nico verblüfft. »Und wozu
braucht man das?« fragte sie weiter. Ko-
mische Frage, dachte Nico und antworte-
te nach einer Weile:
»Man braucht es überhaupt nicht, man
hat es.«
»Wir haben so etwas nicht«, sagte die
Seifenblase ein wenig traurig. »Schade,
es sieht so hübsch aus.«

-100-
Tiny drängte sich eifrig vor. »Meins ist
noch hübscher«, erklärte sie stolz. »Dann
gib mir bitte etwas ab«, bat die Seifen-
blase. »Du hast sowieso zuviel davon.«
»Wieso zuviel?« fragte Tiny ein bißchen
empört. »Lange Haare sind doch etwas
sehr Feines!«
»Natürlich«, bestätigte die Seifenblase.
Tiny war schon wieder versöhnt. Sie faßte
in ihren Haarschopf, zog ein langes seidi-
ges Haar heraus und reichte es der Sei-
fenblase.
»Bitte sehr«, sagte sie höflich und
machte einen Knicks. »Danke schön«,
flüsterte die Seifenblase. Sie angelte ent-
zückt nach dem Haar und versuchte, es
sich irgendwo oben anzukleben. Aber es
hielt natürlich nicht. Sie versuchte es
immer wieder, bis sie vor Aufregung ihre
Wedelfäden so mit dem Haar verheddert
hatte, daß sie sich kaum noch bewegen
konnte. Das sah sehr komisch aus.
»So ein Blödsinn«, brummte Line.
»Schildkröten haben doch auch keine
Haare und sind trotzdem glücklich.«
Die Seifenblase hörte auf zu zappeln
und bemühte sich, das Haar vorsichtig
abzustreifen, was ihr nach einer Weile
auch gelang. Dann gab sie es Tiny zurück
und bemerkte:

-101-
»Ich fürchte, es wird nicht halten.«
»Ohne bist du viel hübscher«, sagte Ni-
co tröstend. Tiny kicherte.
Die Seifenblase hatte ihren Kummer
schnell vergessen. »Und jetzt kommt das
Festmahl!« verkündete sie. Es wurde tat-
sächlich ein Festmahl. Von allen Seiten
brachten die Utzebules die köstlichsten
Pilze angeschleppt: welche, die nach Ho-
nig schmeckten, nach Erdbeerpudding
und nach Schokoladeneis. Und die beiden
futterten, bis einfach nichts mehr in ihre
Bäuche paßte. Als sie endlich fertig wa-
ren, seufzte Tiny genießerisch: »Hier
könnte ich es ewig aushalten.«
»Ich auch«, stimmte Nico zu. »Aber ir-
gendwann müssen wir ja auch mal wieder
zur Erde zurück.«
»Wie schade«, maulte Tiny.
»Das ist wirklich sehr schade«, sagte
die Seifenblase bedauernd. »Doch wir
verstehen das natürlich. Aber wenn ihr
wiederkommt, könnt ihr so viele Pilze es-
sen, wie ihr wollt.«
»Machen wir bestimmt«, erklärte Nico
vergnügt. »Und jetzt auf zum Raum-
schiff.«

-102-
ABSCHIED VON DEN UTZEBULES

Die Seifenblase stieß einen ihrer entsetz-


lich schrillen Quiekser aus. Offenbar war
das eine Art Signal zum Sammeln. Und
als alle versammelt waren, bildeten sie
über den Köpfen der drei eine riesige
Wolke aus Seifenblasen, die sie mit ihren
unzähligen Wedelfäden geschickt empor-
hob und wie an einem Luftballon sicher
durch den Pilzwald geleitete. Kurze Zeit
später erreichten sie schon den Rand des
Pilzwaldes, Und nun ging es noch schnel-
ler. Wie ein Sturmwind fegten sie über
die weite, flache, von rosarotem Haargras
bewachsene Ebene.
»Heiliger Bimbam!« schrie Tiny. »Die
düsen ja ab wie Miniaturraketen!«
Nico grinste. Ihm machte das Spaß. Er
war nur etwas besorgtwegen Line, diewar
schließlich sowas nicht gewöhnt. Aber Li-
ne schien das nicht zu stören. Sie hatte
den Kopf ein wenig schräg gelegt und
äugte neugierig nach unten.
Mit unheimlicher Geschwindigkeit näher-
ten sie sich ihrem Raumschiff. Schon
tauchte es gleich einem gigantischen
schimmernden Pfeil am Horizont auf. Die
Seifenblasen rasten mit ihrer Last direkt
auf die Spitze der Kapsel zu.

-103-
Nico erschrak. Wenn sie nun dagegen-
prallten? Nicht auszudenken!
»Halt!« brüllte er aus Leibeskräften.
»Abbremsen! Langsam abbremsen!«
Doch seine Sorge war unbegründet. Die
Utzebules zogen eine elegante Schleife
rund um das Raumschiff und setzten sie
sanft neben der Strickleiter ab. »Fffffft«,
machte Line und murmelte: »Ich bin auch
schon bequemer gereist.«
Die Utzebules hörten es zum Glück
nicht. Und die große Seifenblase, die of-
fenbar eine Art Utzebule-Häuptling war,
erkundigte sich: »Nun, wie gefiel euch
das?«
»Prächtig«, strahlte Nico. Tiny nickte
eifrig.
Plötzlich kamen die vier Seifenblasen
mit der kleinen Schildkröte auf dem Pilz-
stück angeschwebt und setzten es vor
ihnen nieder.
»Euer Baby«, sagte der Utzebule-
Häuptling. Line betrachtete es eine Weile
nachdenklich und erklärte dann:
»Ich glaube, wir lassen es hier. Welt-
raumreisen sind noch nichts für Babys.
Und das Klima ist hier ganz ausgezeich-
net. Außerdem seid ihr sehr nette Wesen.
Da wird es sich wohl fühlen.«

-104-
»Ist das wahr?« rief der Utzebule-
Häuptling erfreut. »Dann hätten wir ja ein
richtiges kleines Erdenkind.«
Line nickte bedächtig:
»Ihr müßt es nur gut füttern, am besten
klitzekleine Pilzstückchen. Und baut ihm
eine kleine Höhle zum Schlafen. Schild-
kröten brauchen so was. Sonne sucht es
sich schon von allein.«

-105-
»Machen wir«, erklärte der Utzebule-
Häuptling. »Und vielen Dank für euer
Vertrauen.«
»Aber dann hat es doch gar keine

-106-
Schildkrötengesellschaft«, wandte Tiny
mitleidig ein. »Wir kommen ja wieder«,
tröstete Nico. »Und dann legt Line wieder
ein Ei, damit das Baby Gesellschaft hat.«
»Wunderbar!« riefen die Utzebules ganz
begeistert. »Und nun los«, sagte Nico
energisch. »Wir müssen starten. Und
vorher müßt ihr alle noch in den Pilzwald
zurück. Da seid ihr sicher, wenn ich die
Startraketen zünde.«
»Aha«, machte der Utzebule-Häuptling.
»Das ist sehr einleuchtend.«
»Also alles klar«, stellte Nico fest. Der
Utzebule-Häuptling schwebte dicht vor sie
hin, verneigte sich liebenswürdig und
sagte feierlich: »Wir wünschen euch eine
gute Fahrt und baldige Rückkehr. Habt
Dank für euren Besuch. Auf Wiederse-
hen.«
»Auf Wiedersehen!« jubelten die Utze-
bules im Chor. »Auf Wiedersehen!« riefen
die drei. Und dann waren die Utzebules
verschwunden wie ein Spuk.

-107-
RÜCKKEHR ZUR ERDE

Endlich saßen sie wieder in der Kapsel


ihres Raumschiffs, die Strickleiter war
eingezogen, die Luke dichtgemacht. Es
konnte losgehen.
Line hatte sich schon in ihre Lieblings-
ecke verkrochen. »Puh«, machte Tiny.
»Jetzt müssen wir wieder diese doofen
Helme aufsetzen.«
Aber sie folgte gehorsam Nicos Beispiel
und schnallte sich dann an.
»Auf geht’s«, sagte Nico kurz.
Er studierte stirnrunzelnd noch einmal
die Startanleitung und verglich sie mit
den Schaltern auf der Armaturentafel. Es
schien alles ganz einfach. Entschlossen
zündete er die Startraketen.
Und dann ging alles ganz schnell. Plötz-
lich erzitterte die Kapsel von einem oh-
renbetäubenden Lärm. Sie schmiegten
sich unter dem gewaltigen Druck in ihre
Sessel. Und sie spürten wieder dieses
sonderbare Ge fühl in der Magengrube,
das aber bald nachließ, als der Lärm ver-
klang. Es war alles genau wie bei ihrem
Start von der Erde, nur daß hier alles viel
schneller zu gehen schien.
Nico atmete auf. Es war geschafft. Da

-108-
flüsterte Tiny ängstlich: »Wir haben das
Zählen vergessen.«
Nico bekam einen Schreck. Aber er faß-
te sich schnell wieder.
»Na und?« sagte er betont gleichmütig.
»Wir sind doch ganz ordentlich gestartet.
Das ist schließlich die Hauptsache.«
Tiny kicherte:
»Du bist mir vielleicht ein sonderbarer
Kommandant.«
Nico spürte, wie er einen roten Kopf be-
kam. Aber das konnte Tiny unter seinem
Helm nicht erkennen. Das fiel ihm gerade
noch rechtzeitig ein, und er verkniff sich
eine ruppige Antwort. Außerdem wurde
seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes
gelenkt. Aus seinen Kopfhörern klang
plötzlich ein eigenartiges Tuten. »Nanu?«
brummte er verdutzt. »Was tutet denn
da?«
»Das Rufzeichen«, erklärte eine fremde
Stimme. »Unsere Verbindung war eine
Zeitlang unterbrochen. Jetzt funktioniert
sie wieder. Wie geht es euch?«
»Gut«, murmelte Nico erleichtert. »Hat
sich inzwischen etwas ereignet?« erkun-
digte sich die Stimme.
Nico zögerte einen Moment. Dann ant-
wortete er: »Wir haben den Stern der Ut-

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zebules besucht. Es war nett dort.«
»Aha«, sagte die Stimme. »Ihr habt
vorhin plötzlich eine Richtungsänderung
vorgenommen, deshalb seid ihr dort ge-
landet.«
Nico schwieg verblüfft. Denn er wußte
genau, daß er nichts dergleichen getan
hatte. »Das war die Line«, zischelte Tiny
vergnügt. »Waaas?« knurrte Nico aufs
höchste erstaunt. Tiny kicherte wieder:
»Weißt du nicht mehr? Aber ich! Das
war auf der Hinfahrt, als Line an dem ro-
ten Schalter herumgeknabbert hat.«
Nico verschlug es buchstäblich die Spra-
che. Da fragte die Stimme aus dem Kopf-
hörer: »Was sagtet ihr soeben? Wir ha-
ben euch nicht verstanden.«
Nico gab einen ellenlangen Seufzer von
sich und murmelte dann:
»Nichts von Bedeutung. Das war ganz
privat.«
»So«, machte die Stimme, aber sie
fragte nicht weiter. Eine Weile herrschte
Stille, und Nico hing seinen Gedanken
nach. Er war noch ziemlich verwirrt über
diese Neuigkeiten. Was hätte dabei bloß
alles passieren können? Trotzdem: es war
ja noch einmal alles gut gegangen.
»Diese Line«, brummelte er kopfschüt-

-110-
telnd vor sich hin. Plötzlich war die Stim-
me wieder da und erklärte: »Wir haben
inzwischen alle Systeme überprüft. Das
Raumschiff funktioniert einwandfrei. Ab
jetzt übernehmen wir die Steuerung. Ihr
könnt schlafen.«
»In Ordnung«, sagte Nico erleichtert.
Die Stimme schwieg. Und auch das Tu-
ten kam nicht wieder. Tiny gähnte.
»Diesmal habe ich ausnahmsweise
nichts gegen Schlafen«, meinte sie. »Ich
bin ganz verflixt müde.«
»Stimmt«, gab Nico zu. »So eine Welt-
raumreise ist doch ziemlich anstren-
gend.«
Und ehe sie es sich versahen, waren sie
beide schon fest eingeschlafen. Und sie
schliefen so lange, tief und fest, bis ein
sanfter, dumpfer Stoß sie weckte. Schläf-
rig rappelte Nico sich auf und lauschte. Es
war still, völlig still. Die Rakete rührte
sich nicht. »Ich gliaube, wir sind gelan-
det«, flüsterte Tiny. »Scheint so«, grunz-
te Nico.
Sie lösten Helme und Gurte und schlüpf-
ten flink aus ihren Raumanzügen. Dann
lugten sie neugierig durch die Bullaugen.
Draußen war es Nacht. Und als sie ihre
Augen an das Dunkel gewöhnt hatten,

-111-
sahen sie, daß die Rakete mitten zwi-
schen den Zelten auf dem Campingplatz
stand, genau an ihrer alten Stelle. Nie-
mand war zu sehen. Und nichts schien
gegen früher verändert. »Na so was«,
murmelte Tiny. »Ist es nun noch Nacht
oder schon wieder?«
»Ist doch egal«, brummelte Nico, der
plötzlich an seine Eltern und an noch so
einiges dachte, »Das werden wir schon
noch früh genug erfahren. Los, ausstei-
gen.«
Er öffnete die Luke, ließ die Leiter hinab
und angelte Line aus ihrer Schlafecke
hervor. Tiny war inzwischen schon hinun-
tergeklettert. Schnell folgte er ihr und
sprang von der letzten Sprosse auf den
Boden in das kühle, feuchte Gras.
»Brrr«, machte Tiny. »Ist das aber kalt
hier.«
Nico schwieg. Er betrachtete ganz
versunken den stählernen Rumpf der Ra-
kete, der silbern im Mondlicht glänzte.
»Komisch«, sagte er nach einer Weile.
»Jetzt kommt es mir so vor, als seien wir
eben nur mal eingestiegen und dann wie-
der raus. Und alles scheint mir wie ein
Traum.«
»Mir auch«, flüsterte Tiny. Nico schüt-

-112-
telte verwundert den Kopf. »Was wohl
unsere Line dazu sagen wird?« meinte er
leise und streichelte Line liebevoll über
den Panzer. Aber Line sagte nichts. Sie
schlief den tiefen Schlaf der Schildkröten,
wie es sich gehört.

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INHALT

Nicos neue Rakete


Tiny und die Gießkanne
Nächtliche Überraschung
Start ins Unbekannte
Auf großer Fahrt
Die fliegende Schildkröte
Stern in Sicht
Die Landung
Auf fremdem Boden
Ein sonderbarer Stern
Ein merkwürdiger Sonnenaufgang
Im Pilzwald
Eine tolle Geschichte
Seltsame Bewohner
Das gefährliche Ei
In Gefangenschaft
Line als Retter
Neue Freunde
Abschied von den Utzebules
Rückkehr zur Erde

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