Professional Documents
Culture Documents
3.2.3 Zivilisierung
Katharina Rutschkys Absicht war, eine dunkle Schattenseite der Pädagogik zu zeigen, die in der
pädagogischen Geschichtsschreibung sonst ausgeblendet wurde: eine gewaltsame, uns heute
grausam erscheinende Härte gegen das Kind, die insbesondere auf eins zu zielen scheint: seine
Unterwerfung unter den pädagogischen (Erwachsenen-)Willen. Ihre Interpretation ist
psychoanalytisch geprägt; sie führt die in diesen Texten deutlich werdenden gewaltsam gegen das
Kind gerichteten Tendenzen auf innere Konflikte der Erzieher zurück, die, indem sie angeben,
wie mit dem Kind fertig zu werden sei, versuchen, mit ihrer eigenen unterdrückten Triebnatur
fertig zu werden. Es sei also im weitesten Sinne der unbewältigte Konflikt von Natur und
Vernunft (in psychoanalytischer Terminologie: von Es und Über-Ich) im Menschen, der sich in
diesen Texten unbewusst manifestiere, als ein Konflikt nämlich, den der als Autor auftretende
Erzieher selbst in sich keineswegs hinter sich gelassen habe, dessen Bewältigung er aber vom
imaginären Standpunkt dessen predige, der sich schon ganz in der Vernunft befindet.
Es handelt sich um eine Sammlung von Texten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Dies wirft die
Frage auf, ob und, wenn ja, wie das, was sie zeigen, ein charakteristisches Merkmal der Pädagogik
seit jener Zeit war und ist – und nicht lediglich psychische Verirrungen und Deformationen von
Personen darstellte und weiterhin darstellt, die mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte nicht klar
gekommen sind und daher, wenn es das damals schon gegeben hätte, eigentlich einer
therapeutischen Behandlung bedurft hätten. (Eine solche Rezeption hat diese Quellensammlung
bei der schweizerischen antipädagogischen Psychoanalytikerin Alice Miller erfahren, die in ihrem
Buch „Am Anfang war Erziehung“ Erziehung überhaupt als symptomatischen Ausdruck
unbewältigter eigener Konflikte interpretiert, als Hinweis auf eine psychische Deformation, der
prophylaktisch nur zu begegnen sei durch die Abschaffung von Erziehung/Pädagogik.)
Rutschky stellt in ihrer Einleitung zu dem Buch einen Zusammenhang her zwischen der
Schwarzen Pädagogik und dem historischen Prozess des Übergangs von vormodernen zu
modernen Gesellschaften und bezieht sich dabei auf die Theorie des Soziologen Norbert Elias,
der dafür den Begriff des Zivilisationsprozesses prägte. Für Elias war dies der Zeitraum vom 10.-18.
Jahrhundert. Für diese Zeit konstatierte er eine zunehmende Disziplinierung des individuellen
Verhaltens, indem an die Stelle äußerer Kontrolle zunehmende Selbstkontrolle und an die Stelle
der Angst vor realer Strafe zunehmende Gewissensangst trat, also die Rechtfertigung vor einer
inneren Norminstanz.
Der von Elias beschriebene historische Prozess bezog sich vor allem auf alltägliche
Lebensverrichtungen und -vorgänge wie Essen, Sexualität, Ausscheidungen. Dass man seine
Notdurft nicht unter dem Fenster eines Aufenthaltsraums von Damen verrichtet, musste am
Hofe lebenden Adligen noch im 16. Jahrhundert eingeschärft werden; ebenso, dass man beim
gemeinsamen Essen nicht auf den Tisch spuckt, die Verdauungswinde unter Kontrolle hält oder
kein gebrauchtes Taschentuch weiter verleiht. Der Gebrauch von Essbesteck wurde erst recht spät
üblich. Dass sexuelle Betätigungen etwas Intimes seien, war ebenfalls eine Auffassung, die sich
erst spät durchsetzte und mit der Erfindung des Schlafraums als eines nicht-öffentlichen
Privatraums zusammenhing.
All dies zeigt an, dass allmählich das Triebhafte und Unkontrollierte im Menschen, auch seine
Lust an Gewalt, an ihrer Ausübung ebenso wie am Zuschauen, moralisch, d.h. in Ansehen dessen,
was allgemein als schicklich und anständig angesehen wurde, herabsank und der willentlichen
Zügelung, einer Verkünstlichung des Verhaltens weichen musste, die gesellschaftliches Ansehen
verlieh.
„Elias zeigt, daß das, was heute ‚erwachsen’ oder ‚zivilisiert’ heißt, in einem noch überschaubaren
Zeitraum aus einem archaischen Material von Trieben und Affekten entstanden ist. Der
Abschluß dieses Prozesses … koinzidiert mit dem Auftreten der Erziehung von Nicht-
Erwachsenen.“ (Rutschky 1977, XLI)
„Die Psychologie dieser Menschen [in vormoderner Zeit] muß eine andere gewesen sein als die
heutige. … Wenn das ‚soziale’ Leben so ausschließlich von Realangst, allenfalls schon
Vergeltungsangst als einem Vorläufer des Gewissens geregelt war, dann kann der psychische
‚Binnenraum’ des einzelnen, in dem heute Triebwünsche und Realitätsanforderungen
gewissermaßen vorverhandelt und vorentschieden werden, nicht sehr groß gewesen sein.“
(Rutschky 1977, XXXV)
Die Außenkontrolle durch herrschaftliche Gewalt wich mit dem Übergang zur Moderne der
Selbstkontrolle durch die Vernunft. Die Normierung des Verhaltens war dadurch einer Instanz
unterworfen, die als in jedem Menschen von Natur aus potenziell gegeben angesehen wurde und
als Quelle des Willens als eines wahrhaft menschlichen galt. Damit war die Unterordnung
fordernde Instanz ins Zentrum eines jeden Menschen gerückt: Soweit er Vernunftwesen war, war
es auch er selbst, der sich disziplinierte und eben darin seine Freiheit lebte: sich selbst bestimmte,
sich selbst das Gesetz seines Handelns gab. So war der Prozess der Zivilisation zu seiner höchsten
Konsequenz geführt.
Auf diese Weise war nun der Abstand, der zwischen dem Menschen des 10. Jahrhunderts und
dem des 18. Jahrhunderts bestand, zum Abstand geworden zwischen dem Kind und dem
Erwachsenen; d.h. dieser Abstand hatte sich in demselben Zeitraum zunehmend vergrößert. Und
damit hatte sich auch der Prozess des Erwachsenwerdens dahingehend verändert, dass die
Entwicklungsleistung, die zu vollbringen ist, ungleich größer geworden war.
Rutschky zitiert Elias:
„Die Distanz zwischen dem Verhalten und dem ganzen psychischen Aufbau der Kinder auf der
einen, der Erwachsenen auf der anderen Seite vergrößert sich im Laufe des Zivilisationsprozesses
… Der spezifische Prozeß des psychischen ‚Erwachsenwerdens’ in den abendländischen
Gesellschaften, der den Psychologen und Pädagogen heute oft genug Anlaß zum Nachdenken
gibt, ist nichts anderes als der individuelle Zivilisationsprozeß, dem jeder Heranwachsende in den
zivilisierten Gesellschaften als Folge des jahrhundertelangen, gesellschaftlichen
Zivilisationsprozesses von klein auf automatisch in höherem oder geringerem Grade und mit
mehr oder weniger Erfolg unterworfen wird. Man kann daher die Psychogenese des
Erwachsenenhabitus in der zivilisierten Gesellschaft nicht verstehen, wenn man sie unabhängig
von der Soziogenese unserer ‚Zivilisation’ betrachtet. Nach einer Art ‚soziogenetischem
Grundgesetz’ durchläuft das Individuum während seiner kleinen Geschichte noch einmal etwas
von den Prozessen, die seine Gesellschaft während ihrer großen Geschichte durchlaufen hat.“
(Elias 1939 zit. in [Rutschky 1977, XXXIII])
Bevor ich nun wieder auf die Pädagogik zu sprechen komme, hören Sie erneut Bach, den 2. und
3. Satz des 3. Brandenburgischen Konzerts, von dem Sie eingangs den ersten Satz hörten.
Diesmal allerdings in einer merkwürdigen Variante. Achten Sie auf den Begleittext, den ich der
Plattenhülle entnommen habe.
Musik: Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 3, G-Dur (BWV 1048).
2. Satz: Adagio (Kadenz). 3. Satz: Allegro.
Walter Carlos am Moog-Synthesizer
„Diese Schallplatte ist ein absolutes Novum. Sie ist weder eine
‚Dreißigzentimeterstereoklassiklangspielplatte‘ noch eine simple ‚dufte Popscheibe‘. Wer also
dem gewaltigen Thomaskantor nur in mystischer Klausur und enger Mensur begegnen mag, als
‚Wort Gottes‘-Ersatz auf Originalinstrumenten, der zucke zurück. – Wer da andererseits glaubt,
ein maniriertes, oberflächliches ‚Dubdadeduuuhh‘ Geriesel als wohltuend entspannende Ohren-
und Seelenspülung rezeptfrei zu beziehen, auch der sei gewarnt. Hier wütet kein drummer,
zwitschern keine shugarbabies, seufzt kein melancholisch gestreicheltes Becken. Die Bach-‚Titel‘
sind genau nach der Original-Partitur aufgenommen. Wer jedoch aufgeschlossen genug ist,
musikalisches Neuland zu betreten, mit Bach in neue Klangdimensionen vorzustoßen, wer
Experimente nicht scheut und Musik oder fantastische Stereotechnik oder beides zusammen
liebt, den können wir entwarnen. Mehr noch: wir können ihm ein einmaliges Abenteuer, eine
galaktische Klangraumfahrt anbieten bis an die – bei uns leider so ferne – Grenze zwischen ‚E‘
und ‚U‘, wo das Ernsthafte unterhaltend wird und umgekehrt. Auf denn, folgen wir J. S. Bach auf
seinen Abenteuern im Land der Elektronen. It's exciting! It's revolution! It's an exciting
revolution! …
Glanzstück der Platte ist unstreitig das Brandenburgische Konzert Nr. 3 in G-dur. Die
Bezeichnung der Originalbesetzung lautet: ‚Tre Violini, tre viole, e tre Violoncelli col Basso per
il Cembalo‘, also neunstimmiges Streichorchester + Cembalo. Hierbei wechseln häufig
Sologruppen mit dem Tutti ab. Als Überleitung vom 1. zum 2. Satz schrieb Bach nur eine
‚phrygische‘ Kadenz (2 Akkorde), die dem Cembalospieler Gelegenheit zur Improvisation gab. In
der Konzertpraxis unterbleibt dies zumeist, hier aber ziehen Walter Carlos und Benjamin
Folkman alle Register ihres Wunderapparates und bringen eine hinreißende Demonstration
seiner wie ihrer Fähigkeiten zuwege: die faszinierende Mischung von ‚modern sound‘ und
barockem Stilgefühl. Der 3. Satz ist ein überschäumender Kehraus – der Genius Bachs und die
Elektronen sprühen nur so. Befreit von der Erdenschwere des großen Orchesters, ungehemmt
von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und sprödem, widerstandsetzendem Material offenbart
Bachs Musik bei klarster Linienführung aller Stimmen ein wesentliches Merkmal, das gerade die
Jazz und Unterhaltungsmusik unserer Tage … an ihr fesselt: ‚Bach swingt‘!“
Ich möchte Sie besonders auf eine Textstelle des Begleittextes aufmerksam machen: „Befreit von
der Erdenschwere des großen Orchesters, ungehemmt von gravitätsbefrachteter Leiblichkeit und
sprödem, widerstandsetzendem Material offenbart Bachs Musik …“
In der herkömmlichen Aufführungspraxis muss sich die Form am Material verwirklichen. Am
Klang von Orchesterinstrumenten hat das Material Anteil, aus dem sie sind: Holz, Haare,
Metall, Därme. Der Musiker arbeitet sich an diesem Material ab, müht sich, ihm seinen
spezifischen Klang zu entlocken, das Instrument zum Singen zubringen. Musik ist – ihrer
technischen Seite nach betrachtet – noch weitgehend Handwerk; gebunden an die
Möglichkeiten, welche das Naturmaterial bietet, und an die Fähigkeiten und Begabungen, die in
der Leiblichkeit des Musikers schlummern. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem das
Handwerk von der industriellen Produktionsweise abgelöst wird; in dem die Produktion sich
„befreit von der Erdenschwere“ der Landarbeit, nicht weiter „gehemmt“ von der Leiblichkeit der
arbeitenden Menschen „und sprödem, widerstandsetzendem Material“. Maschinen und
Kunststoffe treten ihren Siegeszug an.
Eine solche Wende vollzieht sich jetzt auch in der Musik. Sound- und Rhythmus-Maschinen
beginnen Ende der 60er Jahre in die Musik einzudringen; synthetische Klänge verdrängen
zunehmend die Klangwelt der herkömmlichen Musikinstrumente. Sie werden nicht mehr der
Natur entlockt, sondern frei konstruiert. In der Tat: Das ist in einem gewissen Sinne die
Wiederholung des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiete der musikalischen Produktion. Die Form
emanzipiert sich vom Material.