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Band 14
Gottfried Eberle
1978
VORWORT
Die Anregung zu der vorliegenden Studie ging aus von meinem geschätzten Leh-
rer an der Technischen Universität Berlin Herrn Prof. Dr. Carl Dahlhaus. Er hat
mich damit auf eine Materie hingewiesen, die vom ersten Augenblick an bis zur
Fertigstellung des Manuskripts mein Interesse fesselte und wachhielt. Seine eige-
nen Aufsätze über Skrjabin haben mir Anregungen gegeben und meinem Denken
die Richtung gewiesen. Er war es auch, der die Dissertation betreut und ihr Ent-
stehen mit Rat und Tat gefördert hat. Dafür sei ihm an dieser Stelle sehr herz-
lich gedankt. Ihm und Herrn Prof. Dr. Rudolf Stephan gilt ferner mein Dank für
die Aufnahme der Dissertation in die Reihe der "Berliner musikwissenschaftlichen
Arbeiten".
Während der Beschäftigung mit meinem Thema habe ich von vielen Seiten
freundliche Unterstützung erfahren. Reichen Dank schulde ich der Direktorin des
Skrjabin-Museums in Moskau, Frau Tatjana Saborkina, die mir großzügigen Ein-
blick in die Schätze ihres Instituts gewährte und sich stets aufgeschlossen zeigte
für meine Fragen. Zu danken habe ich ferner dem Glinka-Museum in Moskaufür
die Erlaubnis zur Einsichtnahme in die Skizzen Skrjabins. Mit besonderer Dank-
barkeit denke ich an die Gastfreundschaft und Hilfe, die mir Maria und Elena
Skrjabin, die Töchter des Komponisten, zukommen ließen.
Folgenden Verlagen bin ich sehr verbunden für die freundliche Genehmigung
zum Abdruck von Notenbeispielen: M. P. Belaieff Musikverlag, Frankfurt; Boosey
& Hawkes Music Publishers Ltd. , London; Robert Forberg/P. Jurgenson Musik-
verlag, Bonn-Bad Godesberg; Anton J. Benjamin, Hamburg und Universal-Edition,
Wien.
I NHALT
VORWORT 3
1. EINLEITUNG 5
1.1 Bericht über den Stand der Forschung 6
1.2 Problemstellungen. Zur Methode der Arbeit 11
2. DER GRUNDAKKORD DES "PROMETHEUS" 14
2.1 Die Oberton-These 14
2.2 Zur historischen Genesis der Prometheus -Harmonie 16
2.3 Zum Verhältnis von Terzen- und Quartenschichtung 32
2.4 Reduktion auf einen Akkord 41
3. DAS "KLANGZENTRUM" 49
3.1 Der Terminus 49
3.2 Klangzentrum und Zwölftonreihe 51
3.3 Klangzentrum und Akkord 53
3.4 Klangzentrum und Tonart 61
3.5 Zur Frage der "Polytonalität" 67
3.6 Zum Verhältnis von Melodie und Harmonie im Klangzentrum 70
4. ENTWICKLUNG DER HARMONIK NACH DEM "PROMETHEUS" 76
4.1 Erweiterung der Quartenstruktur 79
4.2 Chromatische Modifikation der Prometheus-Harmonie 83
4.3 Vom Prometheus-Akkord zur symmetrischen Grundskala.
Weitere Strukturierung des Klangzentrums 99
4.4 Die Skizzen zur "Vorbereitenden Handlung" 111
5. HARMONIK UND FORM 120
5.1 Tritonus- und Quintverhältnis 120
5.11 Schlußbildungen 121
5.12 Das Tritonusverhältnis in der zweiteiligen Form 123
5.13 Die Tritonusbeziehung in der Sonatenform 126
5.2 Kadenz und Sequenz 130
5.3 Bedeutungswandel der Sonatenform 133
BIBLIOGRAPHIE 138
5
1. EINLEITUNG
"Ist es möglich, einen Musiker wie Skrjabin mit irgendeiner Tradition in Ver-
bindung zu bringen? Wo kommt er her? Wer sind seine Vorfahren?" 1
Die Frage, die Stravinskij in seiner "Musikalischen Poetik" stellt, läßt sich
durchaus beantworten. Die Tradition, aus der Skrjabin herauswächst, ist frei-
lich weniger in Rußland zu suchen. Er gehört nicht zu den Komponisten, die eine
nationale Musik wollen, welche sich speist aus heimischer Folklore. Er orien-
tiert sich eher in Richtung Westen. Das Idol seiner Jugend ist Chopin, um die
Jahrhundertwende spielt eine Zeitlang Wagner für ihn eine Rolle, zumal in den
symphonischen Werken, und Parallelen zu Lisztschem Denken und Komponieren
begegnen in allen Schaffensphasen. Der Einfluß Liszts ist der Punkt, der Skrja-
bin mit den Petersburger "Jungrussen" und deren Nachfahren verbindet, die ihm
ansonsten, in ihrer Ästhetik vor allem, denkbar fern sind. Die Unterscheidung
zwischen Nationalrussen und "Westlern" (zapadniki), die schon für das 19. Jahr-
hundert zu grob war, hat am Anfang des 20. vollends an Triftigkeit verloren. Zu
viele Fäden laufen zwischen den Richtungen und den einzelnen Komponisten hin
und her. Und am Ende trifft sich Skrjabin - und das wird erst in jüngster Zeit
gesehen - in der Strukturierung seines musikalischen Materials mit der national-
russischen Schule. Skrjabin "gelangt, mit seltsamer Koinzidenz - auf seinem
eigenen Weg - zu denselben Modi wie andere russische Komponisten (Glinka,
Rimskij -Korsakov, Ljadov) " 2.
Offenkundig aber zielt Stravinskijs Frage nicht eigentlich auf Skrjabins musi-
kalische Herkunft - über die dürfte sich Stravinskij im Klaren gewesen sein -,
sondern sie sucht eine Erklärung für den Bruch mit der Tradition, den Skrjabin
schließlich vollzog: Wohin ging er? Wie geriet er gerade auf diesen Weg?
Auch Skrebkov besteht darauf, Skrjabins späte Musik sei nicht atonal, neu
an ihr sei nur die Behandlung der Tonalität 1. Sehr treffend und plastisch
ist jedoch sein Wort vom "Akkord im Akkord". Damit ist die "melodisch-the-
matische Akzentuierung einer Gruppe von Akkordtönen" innerhalb einer viel-
tönigen Harmonie gemeint, das Herausheben eines Teilaspektes aus dem kom-
plexen Ganzen. Skrebkov erkennt darin "Elemente organisierter Polytonalität" 2.
Diesen Aspekt entfaltet Sergej Pavcinskij in einer umfangreichen Studie zum
Spätstil 3. Wichtig ist sein Hinweis: "Die verbreitete Bestimmung der Melodik
des späten Skrjabin als gebaut nach den Tönen der Harmonie ist unzureichend. "4
Er schlägt die Unterscheidung von "melodischer und harmonischer Tonika" vor 5.
Gewaltsam wirken freilich viele Einzelanalysen, die auf der These von der
"allergrößten Nähe zu den harmonischen Strukturen und der Dur-Moll-Melodik
der klassischen Musik" 6 gründen.
In den letzten Jahren wächst auch innerhalb der sowjetischen Musikforschung
die Bereitschaft, in der Skrjabin-Analyse das beharrliche Festhalten an Kate-
gorien der funktionalen Tonalität aufzugeben. Dobrynin zögert nun nicht mehr,
zu konstatieren: "Die stilistischen Veränderungen in der besagten Periode (um
op. 60. D. Verf. ) erweisen sich als äußerst bedeutend, denn sie berührten selbst
das 'Allerheiligste', die Dur-Moll-Grundlage des tonalen Denkens, das früher
bei Skrjabin unerschütterlich war. Das Wesen der jetzt vor sich gehenden Wand-
lungen muß charakterisiert werden als Tod der Tonalität im früheren, traditio-
nellen Sinn des Wortes. " 7 Zugleich glaubt er aber in den allerletzten Werken
eine Rückkehr zur Tonalität ausmachen zu können: "Solche Werke wie die Pré-
ludes op. 74, Nr. 2 und 4, sind bei aller stilistischen Neuheit völlig tonal in
der traditionellen Bedeutung des Wortes. " Bedenkenswert ist seine These von
einem "System", das "isomorph" zum traditionellen gebildet ist; es bedeutet
"die Abstraktion der Funktion von ihren gewohnten konkreten 'Trägern' und ihre
Übertragung auf vollkommen anderes Material" 8 . Dobrynin schlägt von daher
Begriffe wie "Quasi-Tonika" und "Quasi-Dominante" vor.
Ausdrücklich unter historischem Aspekt betrachtet Daniel Vladimirovic
Zitomirskij die Skrjabinsche Harmonie in einem Aufsatz des gleichen Sammel-
bandes 9. Er prägt für das Grundmaterial des Spätstils den Begriff des "Tonzen-
trums", der auffallende Ähnlichkeit hat mit dem Terminus "Klangzentrum" bei
Zofia Lissa (deren umfangreiche Skrjabin-Studien merkwürdigerweise in der
1 Zitomirskij, a. a. O. , S. 355.
2 L. Hoffmann-Erbrecht, Skrjabins "Klangzentrenharmonik" und die Atonali-
tät, in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß
Bonn 1970, Kassel u. a. 1971, S. 436ff.
3 a. a. 0. , S. 346.
4 C. Dahlhaus, Struktur und Expression bei Alexander Skrjabin, in: Musik
des Ostens 6, Kassel u. a. 1972, S. 197ff.
5 A. Forchert, Bemerkungen zum Schaffen Alexander Skrjabins. Ordnung und
Ausdruck an den Grenzen der Tonalität, in: Festschrift Ernst Pepping zum
70. Geburtstag, Berlin 1971, S. 436ff. (= Forchert, Bemerkungen)
6 A. Ratiu, Le systéme harmonique de Scriabine, rumänisch in: Muzica XXII
(Bukarest) 1972, H. 2, S. 17ff. und H. 3, S. 15ff. , frz. ebenda XXIII, 1973,
H. 1, S. 41ff. und H. 2, S. 43ff.
7 Ratiu, a.a.O. 1973, H. 2, S. 49.
11
dessen, woraus sie sich entwickelt hat, erschließen. Und andererseits ist der
so betrachtete "Prometheus" der Schlüssel, der das Verständnis der späteren
Werke eröffnet.
Wird seine Genesis und Struktur im Auge behalten und von daher Skrjabins
Weiterentwicklung verfolgt, bleibt man gefeit vor dem Abgleiten in Spekulation.
Die Untersuchung wird ausgehen von der Harmonik, fraglos der zentralen Ka-
tegorie bei Skrjabin.
Harmonik meint zum einen die Struktur der Zusammenklänge. Stellung ist
zu nehmen zu den Theorien über die Genesis des Prometheus-Akkords, und
ein eigener Standpunkt ist zu entfalten. Ferner ist die Weiterentwicklung der
Akkordstrukturen bis hinein in die Skizzen zum "Mysterium" zu verfolgen.
Harmonik ist zum anderen die Verknüpfung der Zusammenklänge. Wie et-
wa gestaltet sich harmonische Fortschreitung nach Aufgabe der funktionalen
Tonalität? Dabei ergibt sich in der Konsequenz die Frage - um mit dem deut-
schen Titel eines Buches von Schönberg zu reden - nach den "formbildenden
Tendenzen der Harmonie". Wie konstituiert sich Form, wenn funktionale To-
nalität nicht mehr das Bezugssystem liefert? In welches Verhältnis gelangt das
neue Kompositionsverfahren seit dem "Prometheus" zu tradierten Formen, auf
die weiterhin reflektiert wird (zur Sonatenform etwa), inwieweit modifiziert
es sie oder gerät in Widerspruch zu ihnen?
Skrjabin sagte in Bezug auf den "Prometheus": "Melodie und Harmonie - das
sind zwei Seiten eines Prinzips... Harmonie wird Melodie und Melodie Har-
monie. " 1 Dabei liegt näher, das Gewicht eher auf die erste Hälfte des zweiten
Satzes zu legen, die Melodie als auseinandergefaltete Harmonie zu begreifen 2.
Ganz so eindeutig ist der Sachverhalt jedoch nicht. Skrjabins "Prinzip" der
Integration von Simultaneität und Sukzession ist, wie zu zeigen sein wird, nicht
so streng wie das der Schönbergschen Zwölftontechnik.
Die Melodie, die zum "Prometheus" hin immer mehr von der Harmonie auf-
gesogen wird, bewahrt sich stets einen Rest von Selbständigkeit und Beweglich-
keit. Skrjabins Kompositionsverfahren geht nicht allein vom Klangkomplex aus,
von dem die melodischen Gestalten abgeleitet werden, sondern setzt gleicher-
maßen am melodischen Einfall an, der im Kompositionsprozeß erst dem inte-
grierenden Prinzip eingeschmolzen wird. Der Dialektik von Melodie und Har-
monie wird nachzuspüren sein. Ferner ist zu überlegen, was unter Voraus-
setzung der neuen Techniken die Gleichzeitigkeit von verschiedenen melodi-
schen Linien bedeutet, die "Polyphonie", deren sich Skrjabin rühmt, bzw. die
"Polytonalität", von der Pavcinskij spricht.
Daß Melodie und Harmonie immer wieder in Spannung zueinander treten,
sich der totalen Integration entziehen, bewahrt Skrjabins Musik - dies sei als
These vorweggenommen - vor der stets drohenden Erstarrung, ist Vorausset-
zung dafür, daß die strenge Konstruktion noch Ausdruck freigibt.
Die Erweiterung und Modifikation der erreichten Ordnung um des Ausdrucks
willen gerinnt aber stets wieder zu neuer, womöglich noch intensiverer Struk-
turierung. Das Problem der Vermittlung von Struktur und Ausdruck stellt sich
auf jeder Entwicklungsstufe neu.
Ausdrücken will Skrjabins Musik mehr als jede Musik zuvor. Sie macht sich
anheischig, nichts Geringeres als eine Weltanschauung in Tönen auszudrücken
und darzustellen. Aufgabe dieser Arbeit kann es nicht sein, den ganzen Aus-
drucksradius der Musik Skrjabins auszumessen. Das erforderte eine eigene
Studie 1.
Gelegentlich wird jedoch auch auf den folgenden Seiten etwas vom Ausdrucks-
gehalt Skrjabinscher Musik aufscheinen. Er ist nicht abzulösen von den Tönen,
er gehört ästhetisch zur Sache, denn er wirkt entscheidend auf die Formung
ein.
Skrjabins Worte sind ernstzunehmen: "Meine Gedanken und Ideen gehen ein
ins Werk wie die Klänge. Ich arbeite an ihnen wie am Werk. " 2
Die erste Abhandlung, die über den "Prometheus" in deutscher Sprache erschien,
ist ein Artikel des russischen Musikschriftstellers Leonid Sabaneev, eines en-
gen Vertrauten Skrjabins in den letzten Lebensjahren, der in zahlreichen Pu-
blikationen sich zum Vorkämpfer des Komponisten machte. Gedruckt wurde die
Arbeit an exponierter Stelle, in dem von Vassilij Kandinskij und Franz Marc
1912 herausgegebenen Münchner Almanach "Der Blaue Reiter" 1. Da er grund-
legend ist und folgenreich war, fordert er eine ausführlichere Stellungnahme.
Nach Sabaneev ist dies die Grundharmonie des Werkes:
ton-These gewesen, habe gar seine Harmonie aufgrund von akustischen Speku-
lationen gefunden 1 . Das ist keineswegs der Fall. Sabaneev berichtet in seinen
Erinnerungen an Skrjabin, daß er selbst, als Mathematiker und Physiker, die-
se These entwickelt und sie Skrjabin nahegebracht habe, der sie zunächst mit
mäßigem Interesse aufnahm: "Ich finde intuitiv meine Klänge und Harmonien,
und mögen Akustiker sie lehren, wenn es für sie nötig ist. Mir ist es angenehm,
wenn lehrhafte Daten mit meiner Intuition zusammenfallen, und das ist schließ-
lich auch unvermeidlich. Bei mir galt immer der Primat der Intuition. Natür-
lich, das Prinzip der Einfachheit fordert, daß Wissenschaft und Intuition zusam-
menfallen. " 2 Und ebendies sagt auch Sabaneev im besagten Artikel zuvor aus-
drücklich: "Diese Evolution (der Skrjabinschen Harmonie) ging auf rein intuiti-
vem Wege vor sich." 3 Und er skizziert in Skrjabins Schaffen die Entwicklung
bis zu dieser Harmonie von Opus 1 ab. Diesem Aspekt aber wurde in der deutsch-
sprachigen Musikforschung erst relativ spät nachgegangen. Sabaneev versäumt
auch nicht, sogleich hinzuzufügen, daß die betreffenden Obertöne erheblich von
der temperierten Stimmung abweichen (in der schließlich Skrjabin komponiert).
Spekulationen von der Art etwa, ob nicht Skrjabin eigentlich Obertöne gemeint
habe, seine Harmonien entsprechend zurechtgehört habe usf. , entgegnete schon
1916 der russische Musiktheoretiker Arsenij Avraamov mit dem zutreffenden
Hinweis, daß die Entwicklung zum Prometheus -Stil hin überhaupt nur auf der
Grundlage des temperierten chromatischen Systems möglich gewesen sei 4.
Dem wird unten ausführlicher nachzugehen sein.
Erst 1957 wird im deutschsprachigen Musikschrifttum von Carl Dahlhaus
(an etwas entlegener Stelle und darum wohl kaum rezipiert) die Obertonthese
entschieden abgewiesen: "... daß er (der Prometheus-Akkord) ein synthetischer
Akkord sei, gebildet aus dem 8. - 14. Partialton (c-d-e-fis-g-a-b), ist so wenig
eine Erklärung seiner musikalischen Bedeutung, daß vielmehr Skrjabins Beru-
fung auf die Partialtonreihe oder 'Naturtonreihe' selbst der Erklärung bedarf.
Der Ursprung des Akkords ist nicht in der von der Natur ge gebenen Naturton-
reihe, sondern in der Geschichte der Harmonik zu suchen" 5. Und später schreibt
er zum gleichen Thema: "Der Intervallbestand der Naturtonreihe reicht, wenn
man bis 20 zählt, von der Oktave bis zum Viertelton und umfaßt Brauchbares
6
ne-
ben Unbrauchbarem. Die Naturtonreihe rechtfertigt alles, also nichts. " Bleibt
also die Beantwortung der Frage, was die Oberton-These denn nun eigentlich
erklären sollte.
Der Zweck dürfte zum einen Apologie, im voraus sozusagen, gewesen sein.
Den zu erwartenden Widerständen gegen den Prometheus-Stil, dem Argument,
1 Karl Laux schreibt: "Dieser Akkord ist keine musikalische Erfindung, son-
dern eine mathematische Konstruktion." (Die Musik in Rußland und in der
Sowjetunion, Berlin 1956, S. 226.)
2 L. Sabaneev, Vospominanija o Skrjabine (Erinnerungen an Skrjabin), Mos-
kau 1924, S. 64. (=Sabaneev, Vospominanija)
3 L. Sabaneev, Prometheus, a. a. O. , S. 113.
4 A. Avraamov, Ultrachromatism i omnitonal'nost', in: Muzykal'nyj sovremen-
nik 1916, Nr. 415.
5 C. Dahlhaus, Alexander Skrjabin, in: Deutsche Universitätszeitung 1957,
XII, S. 18ff.
6 C. Dahlhaus, Struktur und Expression bei Alexander Skrjabin, in: Musik
des Ostens 6, 1972, S. 199.
16
er sei willkürlich oder gar chaotisch, sollte die Spitze abgebrochen werden mit
dem Hinweis, sie sei nicht nur konsequent entwickelt worden, sondern auch
ganz "natürlich". Ferner sollte wohl die Tatsache erklärt werden, die im fol-
genden Absatz steht: "Den erhaltenen Akkord hält Skrjabin für eine Konsonanz,
und tatsächlich ist er eine Ausdehnung des gewohnten Begriffs eines Konsonanz-
akkords, d. h. eines Akkords, welcher keine Auflösung verlangt." 1 Die Aussage
trifft zu: Die Grundharmonie des Prometheus wird von Skrjabin nicht länger als
Dissonanz begriffen und behandelt: "Das ist ... eine Grundharmonie, eine Kon-
sonanz. " 2 Daß diese Harmonie nicht mehr auflösungsbedürftig ist, sucht Sa-
baneev an anderem Ort damit zu erklären, daß ihre Töne im Bewußtsein zum
Obertonklang verschmelzen (Muzykal'nyj sovremennik 1916, Nr. 415). Daß der
Konsonanz grad von Akkorden mit der relativen Einfachheit der zugrundeliegen-
den akustischen Proportionen und mit Carl Strumpfs Verschmelzungstheorie er-
klärt wurde, lag im Zuge der Zeit. In dem Jahr, als Sabaneev seinen Artikel
für den "Blauen Reiter" abfaßte, hatte Schönberg in seiner Harmonielehre den
Unterschied von Konsonanz und Dissonanz als graduellen, nicht prinzipiellen
bestimmt, und die geschichtlich sich vollziehende Emanzipation von Klängen,
die einmal als Dissonanz galten, als ein Fortschreiten zu den höheren Partial-
tönen interpretiert 3 . Nachdem schon Leonhardt Euler den relativ konsonanten
Charakter des Dominantseptakkords damit erklärt hatte, daß er die Obertöne 4
bis 7 repräsentiere, hatte G. Capellen am Anfang des 20. Jahrhunderts auch
noch den Dominantnonakkord zu den "Naturklängen" gerechnet, weil er auf den
Tönen 1 bis 9 der Obertonreihe fuße 4 . In diesem Sinne fortzufahren lag nahe.
Im Prometheus-Akkord freilich häufen sich die Abweichungen des temperierten
Systems von den Verhältnissen der Obertonreihe doch sehr. Zumal der 13. Ober-
ton ist ja dem As näher als dem A. Und das Fis, in der Obertonreihe um etwa
einen Viertelton tiefer, steht in der Grundform des Prometheus-Akkords an ei-
ner Stelle, die ganz und gar nicht der Ordnung in der Obertonreihe entspricht.
Eine hinreichende Interpretation der Genesis und Funktion der Prometheus-
Grundharmonie liefert jedenfalls nur eine historische Betrachtungsweise.
Der angeführte Ausschnitt kadenziert nach der Haupttonart Fis-Dur. Die Pro-
metheus -Harmonie, mit der das Beispiel beginnt, steht auf der Doppeldominante
Gis und hat nur partiell, in der Mitte, Quartenstruktur. In Quarten geschrieben
sieht sie so aus:
Eis und Cisis lösen sich, als freie Nebentoneinstellungen, als große Sext, bzw.
übermäßige Quart, zur Quint eines Dominantseptakkords auf.
Sehr ähnlich ist eine Stelle, die sich bereits im zweiten Satz der Vierten
Klaviersonate op. 30 findet:
T. 7 u. 8:
Der Akkord entsteht auf dem dritten Achtel. Der Grad seiner Selbständigkeit
ist hier sogar höher: Die frei einsetzende Sext löst sich nicht in der gleichen
Stimme zur Quint auf, sondern springt, melodisch motiviert, in die None des
dominantischen Akkords, die übermäßige Quart wendet sich erst zur Sexte,
bevor sie in die Quinte geht. Die Quinte wird in der Oberstimme umspielt - ei-
ne melodische Formel, die für Skrjabin seit den ersten Werken charakteristisch
ist. Die Umspielung der Quinte im Dominantnonakkord betrachtet das
Riemann-Lexikon als Wurzel der Prometheus-Harmonie 1 . Der Artikel "Mystischer Ak-
kord" - so pflegte man im Skrjabin-Kreis die Prometheus-Harmonie zu nennen -
rekurriert auf eine Stelle im Scherzo op. 46:
Zwei Aspekte sind hierbei für sie entscheidend: zum einen die Tatsache, daß
der Akkord bei Chopin mit Vorliebe in einer Lagerung auftritt, wie sie auch für
den Prometheus-Akkord und seine Vorformen kennzeichnend ist: Die kleine Sep-
time (von Zofia Lissa als Summe zweier reiner Quarten interpretiert) liegt im
Baß, darüber bauen sich Tritonus und reine Quarte auf. Zum andern die rela-
tive Selbständigkeit, mit der er bei Chopin auftreten kann: Die Sexte wird nicht
als Dissonanz behandelt (also beispielsweise als Vorhalt stufenweise zur Quin-
te aufgelöst), sondern setzt frei ein und geht im Terzsprung zum Grundton der
Tonika. Und das wird als erster Ansatz gesehen zu einer völligen Emanzipation
vom funktionalen Kontext, wie sie sich mit dem Prometheus-Akkord vollzogen
hat.
Wie die Sexte so fest in die Dominantharmonie gerät, zeigt Zofia Lissa nicht.
Das ist jedoch nicht unerheblich für Skrjabins Verwendung des "Chopin-Akkords".
Im Beispiel, das Zofia Lissa anführt, verquicken sich offensichtlich zwei histo-
rische Tendenzen harmonisch-melodischer Evolution:
Chopin, Ballade F-Dur, T. 40 - 46
Einerseits wird die Sexte als freier Vorhalt zur Quinte in den Dominantsept-
akkord eingeführt und überspringt ihre Auflösung 1. Diese gängige Erklärung
des Akkords ist aber nicht erschöpfend. Im angeführten Beispiel verfestigt sich
die "harmoniefremde" Sexte noch in einem anderen, gewissermaßen umgekehr-
ten Sinn, der gegen Schluß des Beispiels immer deutlicher hervorgekehrt wird,
je mehr der Akkord auf unbetonten Taktteil rückt: die Sexte ist Vorausnahme
er sich zuvor bei Weber und Spohr finde ("Über die Verbindungen zwischen
der Harmonik von A. Skrjabin und der Harmonik von Fr. Chopin", in: Kon-
greßbericht Warschau 1960, S. 335ff.)
1 Arno Forchert interpretiert den Chopin-Akkord "als Resultat eines gleich-
sam phasenverschobenen Zusammentreffens der melodischen Bewegung in
den Grundton mit der harmonischen Bewegung in die Tonika: die melodische
Antepenultima trifft auf die harmonische Penultima". (Bemerkungen zum
Schaffen A. Skrjabins, in: Festschrift Ernst Pepping, Berlin 1971, S. 306
Anm. )
20
der Tonikaterz. Als solche geht sie in den Akkord ein durch Zusammenziehung
der bei Chopin häufigen Schlußformel:
Chopin, Prélude op. 28, Nr. 2
Die in die Akkordquinte As aufgelöste Sexte klappt noch einmal zurück und nimmt
dabei zugleich die Terz der folgenden Tonika voraus. Jedoch aus der Perspektive
des zu Skrjabins Zeit bereits geläufigen Chopin-Akkords, einer Dominante also,
in der die Sexte statt der Quinte bereits fester Akkordton geworden ist, läßt das
As sich auch als Wechselnotenbildung auffassen. Das Verhältnis von Akkordton
und harmoniefremdem Ton wird ambivalent. Solche Dialektik wird bei Skrjabin
wiederholt zu konstatieren sein und prägt die harmonische Entwicklung hin zum
Prometheus-Akkord entscheidend.
Skrjabins Verwendung des Chopin-Akkords ist übrigens so exzessiv nicht.
Zur mittleren Schaffensperiode hin läßt sie sogar stark nach und nimmt erst
wieder vor dem "Prometheus", nun in der Form mit der None, zu. Sie bewahrt
vornehmlich den zuletzt beschriebenen Vorausnahme-Charakter, taucht also
vornehmlich an Schlüssen auf. Auch der Chopin-Akkord in der späteren Erwei-
terung durch die None - eine bei Chopin noch seltene Form - steht gern in Pe-
nultima-Position:
op. 52, 3
I m vorletzten Klang wird durch die Sexte der Dominante ein Tonikaelement
vorausgenommen. Die Tonika erscheint aber hier nicht mehr in der Dreiklangs-
form, sondern ihrerseits überlagert vom Penultimaakkord der Dominante. Die
Dominant-Tonika-Differenz, das Wesen der klassischen Schlußbildung, ist hier
bis auf einen kargen Rest geschwunden. Die letzte Phase ist erreicht, bevor der
Dominantakkord seine Funktionalität gänzlich abschüttelt und als beziehungsfrei-
er Grundklang die Basis neuer harmonischer Prinzipien wird (vgl. auch den
Schluß von op. 57, Nr. 1). Dies ist zwar eine auffällige Verwendung des Domi-
nantnonakkords mit der Sexte, einer wichtigen Vorform des Prometheus-Akkords.
Sie erscheint jedoch zu selten, um dessen schließliche Universalität zu begrün-
den.
Bevor aber anderen Wurzeln nachgespürt wird, gilt es, vorläufig zusammen-
zufassen, was der Chopin-Akkord für Skrjabins Schaffen bedeutet:
Der Chopin-Anhänger Skrjabin übernimmt von seinem Idol zunächst, wahr-
scheinlich unreflektiert, neben anderen Sprachmitteln den "Chopin-Akkord",
vielfach durchaus nicht in der kühnsten Form der Anwendung und hält sich vor-
nehmlich an dessen Antizipationsaspekt. Die Anwendung bleibt begrenzt, geht
sogar mit der Entwicklung von Skrjabins persönlicher Sprache zurück. Erst
mit der Weiterentwicklung der Dominantharmonie zum Nonakkord gewinnt er
wieder an Interesse aufgrund seiner Quartenstruktur, die durch die None erwei-
tert wird, und des damit verknüpften Klangkolorits. Am reizvollsten vielleicht
wird das in der vorprometheischen Periode genützt in dem Charakterstück "
Fragilité" op. 51, Nr. 1:
Die Disposition des Klaviersatzes, die das ganze Stück hindurch ähnlich bleibt,
hebt, etwa im zweiten Takt, vom gut verschmelzenden, legato vorzutragenden
Harmoniefundament in der linken Hand den oberen Teil der Akkordstruktur, der
durch reine Quarten gekennzeichnet ist, deutlich ab vermittels Lage und Artiku-
22
Im ersten Akkord steht neben dem Sext- ein Quartvorhalt. Beide Vorhalte wer-
den im zweiten Akkord regulär aufgelöst. Der erste Akkord ist aber so gesetzt,
daß er nicht nur in Bezug auf den zweiten gehört wird, sondern seine eigene Ak-
kordfarbe entfalten kann (er ist durch eine Pause isoliert, durch einen Akzent
unterstrichen). Die aber ist geprägt durch drei reine Quarten und eine große
Septime. Klangideen dieser Art macht Skrjabin bereits in frühen Werken zur
Grundlage eines ganzen Stücks und schafft damit Vorformen der einheitlichen
Klangtechnik des "Prometheus". Das Prélude op. 11, Nr. 3 enthält im dritt-
letzten Takt die Klangidee in nuce:
späteres Wort: "Die Melodie ist eine auseinandergefaltete Harmonie ... ", das
er erst im Blick auf den Prometheus -Stil gesprochen hat. Die meisten Neben-
töne werden zwar irgendwann flüchtig in konventioneller Manier aufgelöst. Das
ändert aber wenig an dem sehr statischen koloristischen Klangbild, dem etwas
von der Sphäre der Pentatonik anhaftet.
Zur Prometheus -Harmonie führt indes nicht allein das Eindringen von Neben-
tönen in die terzgeschichtete Dominantharmonie, sondern auch chromatische
Veränderungen, Alterationen am tradierten Akkordbild. Noch im "Feuillet d'Al-
bum" op. 58, das während der Arbeit am Prometheus entstand und als erstes
Klavierwerk auf dessen harmonischer Technik basiert, ist die übermäßige
Quart über dem Grundton vielfach als chromatisch erniedrigte Quinte notiert:
Diese Takte kreisen innerhalb der Prometheus -Harmonie, auf Fis transponiert:
Im dritten Takt ist in der rechten Hand die übermäßige Quarte His notiert, ent-
sprechend der Quartenstruktur des Prometheus-Akkords; der erste Ton der lin-
ken Hand im ersten Takt aber ist als C, als verminderte Quint notiert (in den
Skizzen taucht übrigens auch hier gelegentlich das His auf) 1.
Die tiefalterierte Quinte im Dominantseptakkord ist ein Charakteristikum
des Skrjabinschen Idioms seit den frühesten Werken. Ihre Funktion ist zunächst,
ganz im überkommenen Sinn, die Leittonspannung der Dominante zu verdoppeln:
zum Grundton der folgenden Tonika führt zusätzlich der Leitton von unten, der
VII. diatonischen Stufe der Leitton von oben, von der tiefalterierten II. Stufe her.
Solche chromatische "Zangenbewegung" zum Grundton (oder zur Quinte) wird
essentiell für Skrjabins Stil.
Das folgende Beispiel zeigt zugleich die sehr typische Lage des Tritonus-
intervalls im Baß:
1 Vgl. dazu die Analyse von C. Dahlhaus in der Deutschen Universitätszeitung
a. a. 0. , wo er in Bezug auf diesen Ton bemerkt, "daß sein Ursprung als
Stimmführungs- oder Akkorddissonanz für die Kompositionstechnik gleich-
gültig geworden ist". Darum ist die doppelte Notation möglich.
24
Die Weiterführung der Leittöne ist bei Skrjabin freilich von Anfang an frei
von jeder Schulmäßigkeit: Sie erfolgt in anderen Stimmen, anderen Oktavlagen,
vollzieht sich auf Umwegen.
Poeme op. 32, Nr. 1
ohne daß diese hier in den Akkordton einmünden würden. Dies geschieht
dann erst im letzten Takt.
Ganz ähnlich in "Ironies" op. 56, 2 ab Takt 4, wo sich die herkömmlichen
Verhältnisse von Nebenton und Akkordton verkehrt haben: die Akkordquin-
te G wird als Vorhalt zum chromatischen Nebenton Fis behandelt:
27
Wie subtil die Beziehung zwischen beiden Akkorden, speziell den differie-
renden Tönen, in der Phase vor dem "Prometheus" wird, wie sich die Ausein-
andersetzung zwischen beiden Harmonien abspielt, hat Arno Forchert in differen-
zierten Analysen gezeigt 1.
Anhand der Anfangstakte des "Po e me Languide" op. 52,3 demonstriert er,
wie die Sexte als "Sonderfall affektiv geladener extremer Quintalteration" er-
reicht wird, wie da der Prometheus-Akkord gleichsam als "Akkord mit doppelt
übermäßiger Quinte" entsteht. Mit einer solch festgelegten Bestimmung gibt
sich aber Forchert nicht zufrieden. Er sieht das Verhältnis zwischen Quinte
und Sexte in diesem Stadium der Skrjabinschen Harmonik in seiner ganzen Viel-
schichtigkeit, erfaßt die Dialektik von Akkord- und Stimmführungsdissonanz
aufs Schärfste: "Zwar kann er seiner Herkunft nach als akkordimmanenter Son-
derfall extremer Quintalteration, als Akkord mit doppelt übermäßiger Quinte
angesehen werden. Andererseits ist diese Alteration aber das Ergebnis eines
melodischen Prozesses, der dem Akkord freilich nicht gleichsam von außen
zustößt, sondern sich an ihm und in ihm selbst vollzieht. Könnte man die "Eman-
zipation der Dissonanz" unter historischem Aspekt auf die Formel bringen, daß
i mmer wieder ursprüngliche Stimmführungsdissonanzen sich zu Akkorddissonan-
zen sedimentieren, so wird hier, am Ende des Prozesses, das Verhältnis auf
den Kopf gestellt: der Akkord treibt melodische Fortschreitungen aus sich her-
aus." 2
Daß Skrjabin nach einer Phase, in der sich Dominantnonakkorde mit hoch-
alterierter Quinte und mit großer Sexte etwa die Waage halten, sich schließlich
für die letztere Form als Ausgangspunkt der Prometheus-Harmonik entscheidet,
läßt sich erklären: Der schließlich eliminierte Dominantseptnonakkord mit dis-
alterierter Quinte ist ein "Ganztonakkord", das heißt, er enthält alle Töne der
Ganztonskala, die im temperierten System die Teilung der Oktave in 6 gleiche
Teile darstellt.
Zu betonen ist aber, daß bei Skrjabin der Akkord eben nicht aus der Zu-
sammenziehung der leittonlosen, funktional neutralen Ganztonskala gleichge-
wichtiger Stufen zum Klang resultiert, wie vielfach in der Musik des franzö-
sischen Impressionismus, sondern daß er sich in funktionalem Zusammen-
hang gerade aus der Schärfung und Häufung der Leittönigkeit, aus der Alte-
ration der Dominantharmonie ergibt. Das ist zu beachten, ehe voreilig Paral-
lelen zur zeitgenössischen Musik konstruiert werden. Partielle Übereinstim-
mungen im Klangeindruck sind noch nicht ohne weiteres Anlaß, Skrjabin das
Etikett des "Impressionisten" anzuheften. Die Unterschiede werden rasch deut-
lich, wenn Skrjabins Stücke vor op. 58 etwa mit den Ganztonpartien des Prélu-
de "Voiles" von Debussy verglichen werden. Groß ist der Abstand selbst noch
von jenem Stück, das französischem Komponieren der Zeit vielleicht am näch-
sten steht, dem "Enigme" op. 52, 2:
Die ganze Passage verweilt, abgesehen von Takt 56, in der Dominantharmonie,
und die beiden Ausschnitte aus der Ganztonskala in den Takten 52 und 61 er-
weisen sich deutlich als Auseinanderfaltung der alterierten Dominantharmonie.
Gleichwohl haben die Eigenheiten von Ganztonharmonik für Skrjabins Kom-
ponieren Konsequenzen, mit denen er rechnen muß: Der angeführte Ganztonak-
kord ist enharmonisch identisch mit seinen Transpositionen um einen oder meh-
rere Ganztöne (große Terz, Tritonus usf.). Anders ausgedrückt: Es gibt nur
zwei Ganztonakkorde, zwei Ganztonsysteme, die um einen Halbton voneinander
differieren.
29
Hierher gehört auch Forcherts Feststellung, daß der Sexte in der Phase
vor dem "Prometheus" "noch am ehesten melodische Energie innewohnt". Ihre
Ausdrucksmöglichkeiten "gehen freilich in dem Maße zurück, in dem die Sexte
als fester Akkordbestandteil in den Grundakkord integriert wird" 1. Das Aus-
drucksproblem stellt sich für Skrjabin immer wieder neu.
Nun läßt sich auch Zofia Lissas These abschließend beurteilen. Das Charak-
teristische des "Chopin-Akkords" war für sie gewesen, daß die Sexte zum
Grundton die Quinte des terzgeschichteten Akkords ersetzt, daß eine Auflösung
in die Quinte übergangen wird. Forcherts Untersuchung der Schaffensphase vor
dem "Prometheus" ergab aber gerade, daß die Etablierung der Sexte im Akkord
sich in enger Wechselbeziehung zur Quinte vollzieht, aus der sie musikalischer
Ausdruck hervortreibt und die sie, im Zuge des Spannungsabfalls, sich wieder
zurückzieht.
Vielleicht läßt sich nun so formulieren: Der "Chopin-Akkord" mit seiner
charakteristischen Form lag für Skrjabin historisch bereit und wurde von ihm
zunächst als Stilmittel ganz im tradierten Sinn und Zusammenhang übernommen,
später aber, mit der Ausbildung seiner individuellen Sprache, als Nonakkord
gleichsam neu entwickelt, neu mit Spannung aufgeladen im Kraftfeld einer ganz
spezifischen Skrjabinschen Eigenheit, der extremen Labilität der Quinte, die
wohl überhaupt das charakteristischste Merkmal der Harmonik Skrjabins bis
zum "Prometheus" ist.
1 Forchert, a. a. 0. , S. 308.
2 So von B. de Schloezer in: Scriabine, Revue Musicale II (1921), S. 30f.
33
Die Harmonie des ersten Taktes ist auf den ersten Blick die Subdominante mit
Septe in der Haupttonart Fis-Dur, läßt sich aber hinsichtlich des folgenden
Taktes zugleich als Dominantharmonie deuten (dafür spricht die Ähnlichkeit
mit dem formal analogen Takt 9), mit freien Vorhalten der Quarte und der
Sexte, welch letztere über die kleine Sexte zur Quinte führt. Mit einer "neapo-
litanisch" gefärbten Wendung und der bereits geläufigen quintumspielenden Me-
lodieformel kadenziert die erste Phrase in den Takten 5 bis 7 zur Dominante,
die mit Septime und None auftritt! Die durch "Terzaufstockung" (E. Kurth) er-
weiterte Form des Dreiklangs hat hier dessen entspannende, abschließende,
keine weitere Lösung mehr fordernde Funktion übernommen, ganz analog dem
Phänomen, welches Ernst Kurth am Tristan-Stil beschrieben hat 1 , dem diese
Sonate Skrjabins viel verdankt. In die Harmonie schiebt sich zudem eine freie
Leittoneinstellung zur Quinte, deren Strebewirkung erst nach einer Pausenun-
terbrechung ihre Erfüllung findet. So entsteht eine ziemlich vollständige Vor-
form des Prometheus -Akkords (noch ohne Sexte). Im folgenden Takt ist die
Quinte bereits wieder hochalteriert - es entsteht dem Klangbild nach der Tri-
stan-Akkord -, treibt in Takt 9 chromatisch weiter in die große Sexte - hier
stehen die oberen vier Töne des Prometheus -Akkords, durchaus in Quartenfor-
mation - und sinkt chromatisch in die Quinte zurück. Das in den vorigen Kapi-
teln Festgestellte läßt sich nun erweitern, in eine allgemeinere Fassung brin-
gen: Der Prometheus-Akkord schält sich im Zuge von chromatischen Bewegun-
gen heraus, die durch die Quinte des Dominantnonakkords, von der Quarte zur
Sexte und umgekehrt, streichen.
Was hier in einem harmonisch logischen und in der Stimmführung folgerich-
tigen Zusammenhang an Klängen durchlaufen wird, kann in dem langsamen Tem-
po auch hinreichend in seiner isolierten Klang- und Farbwirkung erfaßt werden,
wird auch unabhängig vom Kontext goutiert. Daraus zieht Skrjabin am Ende des
Satzes die Konsequenz - auch in ein und demselben Satz vollzieht sich bei ihm
oft schon harmonische Evolution.
Quartenakkorde wie der in Takt 9 entstehen hier nicht mehr im Durchgang in-
nerhalb von chromatischen Zügen, die durch terzgeschichtete Harmonien strei-
chen, sondern werden frei aufgetürmt. Die aufwärtsstrebende Quarte aus dem
Kopfmotiv des Satzes (Takt 2) hat hier die Auflösungstendenz von Sexte und No-
ne - noch zu Anfang teilweise als Dissonanz behandelt - überspielt. Der gemäß
der Prometheus-Harmonie gebildete Akkord in Takt 52 hat bereits einen hohen
Grad von Emanzipation erreicht; die folgende regulär dominantische Weiterfüh-
rung hat, zumal sie in einem anderen Register erfolgt, demgegenüber kaum
mehr das Gewicht einer Auflösung. Die Takte 55 und 56 zeigen eine etwas andere
Struktur. Der erste Takt des Satzes erweist sich nun im Nachhinein endgültig
als Dominantharmonie. Die Sexte springt wieder ab in die None. Eingeführt
wird sie aber als Tredezime einer "terzaufgestockten" Dominantharmonie. (Die
Frage, wann von Tredezime, wann von Sexte zu sprechen ist, wird unten grund-
sätzlich erörtert werden.) Für diese Deutung spricht auch die Entfaltung dieses
Taktes zu Beginn des zweiten Satzes.
An der Nahtstelle zwischen den beiden Sätzen der Sonate sind also zwei Prin-
zipe des Akkordbaus, Terzen- und Quartenschichtung, deren Konfrontation ge-
radezu die harmonische Idee des Werks ausmacht, in elementarer Form ne-
beneinandergesetzt.
Damit ist aber nun der Ort erreicht für die grundsätzliche Erörterung einer
Frage, die im Zusammenhang mit Skrjabin immer wieder aufgeworfen wird:
Liegt dem Akkordbau Terzen- oder Quartenstruktur zugrunde? Der Auseinan-
dersetzung bedarf, genauer gesprochen, die These, der Prometheus-Akkord
sei die Umlagerung eines terzgeschichteten Tredezimakkords zu einem Quarten-
akkord 1.
Danach wären Fis und A also nicht Ergebnis extremer Disalteration der Quin-
te bzw. unaufgelöste, in den Akkord eingefrorene freie Vorhalte der übermäßi-
gen Quarte und großen Sexte zur Quinte, sondern große Undezime und große
Tredezime einer über die None hinaus weitergetriebenen Terzenschichtung.
1 Sie wird vertreten etwa von P. Collaer, Geschichte der modernen Musik,
Stuttgart 1963, S. 336f.
Ebenso von V. Dernova in "Garmonia Skrjabina", Leningrad 1968, S. 10,
wo sie ausdrücklich dafür plädiert, zwischen Quartenstruktur und Anord-
nung in Quarten zu unterscheiden.
35
Die These kann sich auf Skrjabin selbst stützen. Interessant dabei, wie er
"Terzaufstockung" und Alteration für die Ausdruckskraft der Harmonie verant-
wortlich macht: "Ich finde, je mehr höhere Töne in der Harmonie sind, desto
strahlender ist sie, desto schärfer und blendender. Aber es war nötig, diese
Töne so zu ordnen, daß es eine logische Ordnung ergibt. Und ich nahm den ge-
läufigen Tredezimakkord, der in Terzen angeordnet ist. Aber es geht weniger
darum, hohe Töne anzusammeln. Damit er glänzend wurde, die Idee des Lichts
ausdrückte, mußte in dem Akkord eine große Anzahl erhöhter Töne sein. Und
so erhöhe ich: Ich nehme erst die große, helle Dur-Terz, dann erhöhe ich die
Quinte (sic!) und die Undezime - und so erhalte ich meinen Akkord, der ganz
erhöht ist und deshalb wirklich strahlend. "1
Wenn das mit der Erhöhung der Quinte nicht ein Hör-, Gedächtnis- oder
Schreibfehler Sabaneevs ist, hätte auch Skrjabin die Sexte als erhöhte Quinte
begriffen. Das stimmt dann allerdings nicht recht mit dem ersten Teil des Zi-
tats zusammen, wo vom Tredezimakkord die Rede ist. Aber völlig wider-
spruchsfreie theoretische Logik ist von Skrjabin nicht unbedingt zu erwarten.
Weiter sagt Skrjabin dann laut Sabaneev aber auch: "Früher wurden die Harmo-
nien doch nach Terzen oder, was dasselbe ist, nach Sexten verteilt. Ich aber
beschloß, sie nach Quarten oder, was dasselbe ist, nach Quinten zu konstruie-
ren." 2
Nicht unwichtig ist, daß diese Äußerungen nach der Fertigstellung des
"Prometheus" gemacht wurden. Der Weg zu dessen Stil ist in Wirklichkeit
differenzierter.
Einige grundsätzliche Überlegungen sind jetzt unerläßlich: Die Frage, ob
Undezim- und Tredezimakkorde als selbständige Harmonien oder als Vorhalts-
bildungen zu einfacheren Harmonien zu interpretieren sind, ist weniger eine
systematische Frage als eine historische. Ernst Kurth hat Simon Sechters The-
orie vom Terzenaufbau der Harmonik historisiert, indem er zeigte, wie im Zu-
ge des 19. Jahrhunderts die Erweiterungen des Dreiklangs durch "Terzaufstok-
kung" zum Sept-, Nonakkord usf. die Funktion desselben übernehmen 3 . Von
Undezim- und Tredezimakkorden wäre dann zu sprechen, wenn sukzessive
Terzenschichtung wirklich komponiert ist wie in jener gern angeführten Über-
leitung von Seitenthema zur Schlußgruppe im ersten Satz der Siebenten Sym-
phonie von Bruckner (T. 103 - 123) 4 und/oder wenn der Akkord unvorbereitet
eingeführt wird, zumindest relative Selbständigkeit erlangt hat, sich mit ei-
gener Klangwirkung entfaltet und entweder spät oder gar nicht in eine einfa-
chere Harmonie aufgelöst wird.
Terzenschichtung über die None hinaus tritt in auffälliger Form bei Skrja-
bin erstmals zu Beginn der Ersten Symphonie op. 26 auf, in Verbindung mit
Quintenschichtung 5.
1 Sabaneev, Vospominanija o Skrjabine (Erinnerungen an Skrjabin), Moskau
1925, S. 220.
2 Bemerkenswert ist an der kuriosen Formulierung, daß sie die traditionel-
le Umkehrbarkeit der Intervalle voraussetzt.
3 E. Kurth, Romantische Harmonik, a. a. 0. , S. 229ff.
4 E. Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik, Bern 1913,
S. 39ff.
A. Halm, Harmonielehre, Leipzig 1905, S. XXIX-XXXI.
5 An Einleitungen, Ausgangs - und Ruhepunkten ist sie auch weiterhin vornehm-
36
Der erste Klang ist die Subdominante in Sextakkordlage; ihm werden - hier ein-
mal im Klangaufbau nach unten - nach und nach drei Quinten untergeschoben; am
Ende liegt ein Undezimakkord der Dominante über einem Tonika-Orgelpunkt. Die
Undezime ist jedoch nicht - was erst dem Prometheus-Akkord entspräche - hoch-
alteriert. Subdominant- und Tonika-Elemente halten sich die Waage. Das ver-
leiht der Harmonie etwas Unbestimmtes, Statisches. (Von der tonalitätsauflö-
senden Wirkung von Terzaufstockung wird im folgenden Kapitel die Rede sein.)
Das erste Thema, das sich aus ihr erhebt, umschreibt sie, fächert sie auf, ein
Verfahren, das Züge des Prometheus-Stils durchaus vorausnimmt. Der Spitzen-
ton Gis der Melodie, die in sich gleichfalls harmonisch unentschieden bleibt,
schichtet die Harmonie noch um eine weitere Terz zur Tredezime auf. Erst mit
ihrem letzten Ton erfolgt in der Harmonie die Auflösung der Undezime E zu Dis
und die Klärung zur Dominantharmonie.
Harmonisch ähnlich, im Ausdruckscharakter jedoch ganz anders, setzt die
letzte Etüde aus op. 42 an:
lich eingesetzt, zumal in der III. Symphonie (z. B. erster Satz, Überleitung
zur Schlußgruppe; Anfang des dritten Satzes).
37
Zwei nach dem Muster von Dominantharmonie strukturierte, aber nicht mehr
als solche fungierende Akkorde auf C und Ges stehen nebeneinander, als "abso-
lute Fortschreitungswirkung" 1 . Auf C steht ein Tredezimakkord, auf Ges ein
Undezim-Akkord, dessen Quinte hochalteriert ist. In Takt 3 sind Teile der Har-
monie zu Quartenstruktur gelagert. Erst hier vollzieht sich, was in den vorigen
Beispielen von Terzenschichtung noch nicht zu beobachten war.
Das Verhältnis von "Terzaufstockung" und Quartenstruktur der Akkorde bei
Skrjabin stellt sich nunmehr so dar: Erweiterung des Terzenaufbaus über den
Sept-Non-Akkord hinaus und das Eindringen von partieller Quartenstruktur in
die Klangbildung sind zunächst zwei getrennte Tendenzen innerhalb der Entwick-
lung von Skrjabins Harmonik. Terzaufstockung über die None hinaus setzt rela-
tiv spät und zuerst sehr vereinzelt im diatonischen Bereich ein und gewinnt spät
an selbständiger Bedeutung. Zunächst bringt sie Akkordformen hervor, die der
Prometheus-Harmonie noch keineswegs entsprechen (vgl. die Beispiele aus der
I. Symphonie und der Etüde op. 42,8 mit der reinen Undezime). Partielle Quar-
tenstruktur der Klänge hingegen war schon recht früh zu konstatieren. Und sie
ergab sich in den angeführten Beispielen durchaus nicht aus Umschichtung von
Tredezim-Akkorden, vielmehr dadurch, daß Nebentöne in die Terzenstruktur
der Akkorde eindrangen und sich allmählich als Akkordtöne etablierten. Häufig
wurde die koloristische Wirkung der Quarte genutzt. Erinnert sei an das Pré-
lude op. 11,1 und das Charakterstück "Fragilité". Daß Quartenstrukturen auch
motivisch bedingt sein können, hat die Analyse der 4. Sonate gezeigt. Daß die-
se Entwicklung später konvergiert mit dem Auftreten quartenhaltiger Akkord-
strukturen, die "extreme Quintalteration" hervortreibt, wurde dargestellt. Sie
stößt schließlich auf den historischen Prozeß von Terzenschichtungen bis zur
Tredezime, die sich mehr und mehr emanzipieren und innerhalb derer zuletzt
die Undezime hochalteriert wird. Der "Prometheus" ist der Punkt, in dem die
Emanzipationsprozesse zusammenfallen. Der terzengeschichtete Tredezimak-
kord und sein quartgeschichtetes Pendant,
deren Evolution sich - noch einmal sei es unterstrichen - nicht parallel, son-
dern auf ganz verschiedenen Wegen vollzieht, werden nun beide als nicht mehr
auflösungsbedürftig begriffen. Nun erst läßt sich der eine als Umschichtung des
anderen begreifen und handhaben. Nicht aber ist die Umschichtung zum Quar-
tenakkord eine Stufe, die historisch nach der Terzaufschichtung zum Trede-
zimakkord erfolgt 1.
Nun läßt sich das Verhältnis des Prometheus-Akkords zu Schönbergs Quar-
tenakkorden bestimmen 2:
Skrjabins Prometheus-Akkord ist ganz allmählich auf dem Boden terzenge-
schichteter funktionaler Harmonik gewachsen. Er weicht vom Septnonakkord
der Dominante nur dadurch ab, daß - jetzt ganz allgemein gesprochen - die
Quinte durch die übermäßige Quarte und die Sexte ersetzt ist. Daher rührt auch
sein spezifischer Aufbau, der neben einer verminderten Quarte und dem zwei-
maligen Tritonus nur zwei reine Quarten enthält im Unterschied etwa zum Quar-
tenakkord der I. Kammersymphonie op. 9 von Schönberg, der nur aus reinen
Quarten besteht - ein Akkord, der in Skrjabins Werk nirgendwo vorkommt. Un-
geachtet seiner Herkunft aus einer Terzharmonie ist aber der Prometheus-Ak-
kord als Quartenakkord gemeint. Und nicht nur wird das spezifische Klangva-
leur von Quartenschichtungen breit genutzt und - wie zu zeigen sein wird - wei-
ter entfaltet, sondern die Quart bleibt auch Strukturelement eines noch zu be-
schreibenden eigenen geschlossenen Quartensystems, das nach dem "Prome-
theus" neben Terzenstrukturen auftritt, die weiterhin für Skrjabin eine Rolle
spielen.
Schönberg schreibt in seiner Harmonielehre: "Die Quartenakkorde treten,
wie wahrscheinlich alles, was später als technisches Mittel allgemein gebräuch-
1 Vgl. dagegen Hanns Steger, a. a. O. , S. 12: "Der nächste Schritt in der Ent-
wicklung der Skrjabinschen Harmonik (nach der Terzaufschichtung bis zur
Tredezime. D. Verf.) ist die Umschichtung vom Terzen- zum Quartenauf-
bau." Zudem ist das angegebene Beispiel aus der 5. Sonate fehlerhaft. Der
Prometheus-Akkord in Quartformation kommt in dem Stück zwar in T. 267
vor, steht aber nirgendwo neben seinem Pendant in Terzschichtung.
Zu schematisch sieht auch M. Kelkel (a. a. O. , III. Band, S. 13) die Entwick-
lung zum Prometheus-Akkord. Danach vollzieht sie sich (ohne daß diese
These am Werk belegt würde) in folgenden 5 Etappen:
1. Dominantseptakkord und Dominantnonakkord;
2. Tief- oder Hochalteration der Quint im Dominantseptnonakkord;
3. "Unterdrückung der Quinte" (!) und Terzaufschichtung bis zum Undezim-
akkord;
4. Erweiterung dieses Akkords zum Tredezimakkord
5. Umschichtung desselben zum Quartenakkord.
2 Daß Schönberg und Skrjabin ihre kompositorische Entwicklung damals ge-
genseitig verfolgt hätten, ist wohl auszuschließen. Skrjabin hat nach 1910
erst Schönbergs Klavierstücke op. 11 kennengelernt. Schönberg dürfte an-
39
lich wird, beim ersten Erscheinen in der Musik als impressionistisches Aus-
drucksmittel auf. "1
Es ist hier nicht der Ort, auf den problematischen Begriff des Impressionis-
mus in der Musik einzugehen. Gemeint sind hier mit "impressionistischen Aus-
drucksmitteln" Klangmittel, die außermusikalische Zustände, zumal Naturein-
drücke spiegeln - Schönberg führt eine Hornstelle aus dem letzten Satz der Pa-
storalsymphonie von Beethoven und den Klang der entfernten Jagdhörner im II.
Akt von Wagners "Tristan" an -, in einem allgemeineren Sinn aber - und auf
ihn zielt Schönberg vornehmlich - Klänge, die vom Bedürfnis diktiert sind, un-
gewöhnliche Eindrücke, Unerhörtes zum Ausdruck zu bringen: "In diesem Sin-
ne ist jeder wahrhaft große Künstler Impressionist: feinste Reaktion auf die
leisesten Anregungen offenbart ihm das Unerhörte, das Neue. " 2
Technisch gesprochen wären es Bildungen, die - um mit Ernst Kurth zu re-
den - durch ihre "absolute Klangwirkung", durch den "Eigeneffekt des einzelnen
Akkords " 3 aus dem harmonischen Kontext herausstechen. Sie können einerseits
der Tendenz folgen, den funktionsharmonischen Zusammenhang aufzusprengen,
sich ganz zu isolieren - was auf "Impressionisten" im landläufigen Sinn wie
Debussy zutrifft - oder aber als neues Sprachmittel in den Zusammenhang in-
tegriert werden - diese Richtung beschreibt Schönberg. Und er charakterisiert
damit zugleich sein eigenes und Skrjabins Verfahren. Schönbergs oben ange-
führter Satz über Quartenakkorde trifft da recht genau. Quarten kristallisieren
sich zunächst um ihres Klangvaleurs willen, einer bestimmten Klangidee wegen
innerhalb von Terzenharmonie heraus, bleiben aber anfänglich eingebunden in
einen funktionalen Zusammenhang und werden schließlich die Basis einer neu-
en, die Tonalität auflösenden und liquidierenden Harmoniestruktur. Darin sind
Skrjabin und Schönberg sich ähnlich - beide bleiben nicht "Impressionisten". Die
Struktur im einzelnen aber nicht nur, sondern ebenso die Genesis und Anwen-
dung der Quartenakkorde ist eine gänzlich verschiedene. Zuerst tauchen bei
Schönberg, wie er selbst in seiner Harmonielehre (S. 482) darstellt, Akkorde
aus reinen Quarten ganz vereinzelt in seiner "Symphonischen Dichtung" Pelleas
und Melisande" auf:
Das sind nicht Akkorde, die sich wie bei Skrjabin allmählich aus dem Terzen-
system herausgeschält haben, sondern harmonische Einfälle sui generis, die
zunächst in "Pelleas und Melisande" als Enklave in einen harmonischen Kontext
herkömmlichen Zuschnitts eingelassen sind. In der Kammersymphonie treten
Quartenakkorde der überkommenen Terzenschichtung als Klangbildungen glei-
chen Gewichts gegenüber. Auch sie sind nicht dem Terzensystem entwachsen,
sondern werden nachträglich zu ihm in Beziehung gesetzt.
Im Beispiel aus "Pelleas und Melisande" lösen sich die Quartenakkorde durch
chromatische Fortführung der oberen Töne und durch Quartfall im Baß in Moll-
sextakkorde auf. Zu Anfang der Kammersymphonie wird der Quartenakkord erst
aufgeschichtet, dann chromatisch verändert und schließlich als freie Leittonein-
stellung in einen F-Dur-Dreiklang aufgelöst. Wenn Schönberg dazu schreibt:
.. die Quarten breiten sich architektonisch über das ganze Gefüge aus und ge-
ben allem, was vorkommt, ihr Gepräge ... ihre Eigentümlichkeit durchdringt
die gesamte harmonische Konstruktion" 1, so ist das etwas übertrieben. Quar-
tenharmonik bleibt Enklave, wenn auch nun breiter ausgedehnt (Ziffer 76-79, 85).
Die Vermittlung zum Terzensystem vollzieht sich stets mit einem ähnlichen
Handgriff wie in den Anfangstakten. Engere Vermittlung, gegenseitige Durch-
dringung von Terzen- und Quartenharmonik zeigen erst spätere Werke, etwa die
Lieder op. 14.
Bei Skrjabin sind Quartenharmonien von vornherein eng verknüpft mit Ter-
zenharmonik auf dem Boden der funktionalen Tonalität gewachsen und bedürfen
im "Prometheus" und anderen Werken der Vermittlung nicht mehr: Der Quarten-
akkord kann als Umschichtung eines terzgeschichteten Tredezimakkords behan-
delt werden und vice versa.
Bisher wurde untersucht, wie sich die Struktur des Prometheus-Akkords her-
auskristallisiert hat. Erklärt ist indes noch nicht, wodurch er zur alleinigen
Harmonie wird, die, transponierbar auf alle 12 chromatischen Stufen, das ge-
samte Werk bestreitet.
Zunächst ist der Frage nachzugehen, auf welchem Wege sich zwischen den
diatonischen Stufen die chromatischen Stufen ausbreiten und als gleichgewich-
tig etablieren, bis schließlich die Hierarchie der Stufen - Haupt-, Nebenstu-
fen, alterierte Stufen - gänzlich aufgehoben ist.
Die Erweiterung der Harmonik, der Ausbau der Zwischenstufen, vollzieht
sich vornehmlich über eine spezifische harmonische Region, die des "Neapo-
litaners" 1. Skrjabin folgt einer Tradition des 19. Jahrhunderts, die den nea-
politanischen Sextakkord der IV. Stufe als Umkehrung eines Dreiklangs der er-
niedrigten II. Stufe begreift und ihn durch diese ersetzt. Skrjabin selbst ver-
wendet ihn im Frühwerk auch gern als Quartsextakkord.
Um wieder das Vorbild Chopin zu zitieren:
Prélude op. 28, 20; Schluß
Der Vordersatz (T. 1 - 6) kadenziert mit der neapolitanischen Wendung zur Do-
minante, der Nachsatz (T. 7 - 12) analog zur Tonika. Die folgende Phrase (T. 13 -
18) endet mit der Zwischendominante zur Subdominante (die in Form des neapo-
litanischen Sextakkords nach der Zäsur folgt), ihre Sequenzierung (T. 19 - 24)
mit der Dominante; danach werden die Takte 1 - 12 wiederholt. Die Zäsuren der
Form sind also durch die Hauptfunktionen Tonika, Subdominante und Dominante
bezeichnet (das bleibt so bis unmittelbar vor den "Prometheus"), zu denen je-
weils mit der Wendung IIn - V kadenziert wird. Die entfernteren Beziehungen
zur Haupttonart prägen die Binnenstruktur der Abschnitte. Im Vorder- wie im
Nachsatz der ersten Periode (T. 1 - 12) ist der neapolitanischen Stufe jeweils
noch eine Zwischendominante vorgeschaltet.
Auf diesem Weg gelangen bereits vier erniedrigte Stufen (Des, Es, Ges und
As) in die Tonart C-Dur, zwei weitere (Ces und B) bringt eine neapolitanische
Kadenzierung zur Doppelsubdominante im Mittelteil.
Eine der ersten derartigen Stellen bei Skrjabin findet sich im Prélude op.
35,2, wo die erniedrigte II. Stufe sogar bereits bis zur None aufgestockt ist:
Die beiden Harmonien von Takt 9 und 10 sind schwer mehr als Subdominanten
und Dominanten aufzufassen, zumal der tonikale Bezugspunkt nicht folgt. Die
Tritonusfortschreitung hat sich bereits zur "absoluten Fortschreitungswirkung"
emanzipiert und wird als solche ziemlich wörtlich sequenziert. Die Septakkor-
de auf den beiden Stufen haben ein Tritonusintervall gemeinsam, das vom einen
Akkord in den anderen übergehalten wird (so war es schon im Chopin-Beispiel)
und das die kräftige Fundamentfortschreitung
Wenn schließlich im Septakkord der beiden Stufen die Quinte tiefalteriert
wird, werden sie enharmonisch identisch:
Gehen wir zunächst von der Baßfortschreitung aus. Ges und C sind ernie-
drigte II. und V. Stufe zu einer verschwiegenen Tonika, F, der Subdominante
der Haupttonart C-Dur. Vor Ges stehen die Zwischendominanten ersten und
zweiten Grades. Zusammen mit der rechten Hand werden aber die Verhältnisse
komplizierter, ambivalenter. Über As und Des stehen Dominantseptakkorde,
über Ges steht ebenfalls ein solcher - so wird das jedenfalls in Analogie zu den
vorhergehenden Septakkorden gehört. Die Septime Fes jedoch ist als E notiert,
45
und der Akkord erhält damit eine andere Deutung. Er wird, ungeachtet des Tri-
tonussprungs im Baß, dadurch funktional bereits identisch mit der folgenden Har-
monie, einem Dominantseptakkord zu F-Dur.
Einige Takte später steht diese Stelle nochmals mit modifiziertem Auftakt:
Hier ist nun das Umgekehrte der Fall: eine Tritonusfortschreitung G-Des ist no-
tiert; gehörsmäßig aber lassen sich Auftakt und Abtakt auf die gleiche harmo-
nische Stufe G (Ces=H) beziehen.
So wie der Anfang der Phrase geschrieben ist, sieht er nicht wie die Fort-
schreitung IIn - V aus, sondern wie die Fortschreitung V - Beides wird das-
selbe. Aufgrund der Tritonusfortschreitung, die die Oktave in zwei gleiche
Distanzen teilt (G-Des = Des-G), und enharmonischer Identitäten wird das Ver-
hältnis Subdominante-Dominante umkehrbar. Schließlich löst sich die Tritonus-
fortschreitung ganz von ihrem funktionalen Ursprung, wird in ihrer "absoluten
Fortschreitungswirkung" ohne Bezug auf eine Tonika erfaßt und eingesetzt.
Gleich gebaute oder ähnliche Akkorde stehen schließlich, ihrer funktionalen
Charakteristik entkleidet, auf Fundamenten von der Distanz eines Tritonus (vgl.
oben das Beispiel aus op. 52, 1).
Ein bedeutender Schritt weiter in dieser Richtung ist im Prélude op. 48,1
getan:
Hier sind zwar die Enden der Abschnitte durchaus noch eng auf die Tonalität
Fis bezogen; die Tritonusfortschreitung des Anfangs jedoch als
Subdominant-Dominantbeziehung noch auf eine verschwiegene Tonika zu beziehen (es wäre
die erniedrigte VII. Stufe), scheint verfehlt.
46
Hier ist der IV. Stufe H, die nicht mehr als Subdominante fungiert, sondern
wie alle anderen Akkorde die Struktur der Dominantseptharmonie übernommen
hat, ein ähnlich gebauter Akkord im Tritonusabstand vorgeschaltet (neben der
Septime ist die Sexte fest in ihm etabliert und bleibt ebenso unaufgelöst). Die
erste Fortschreitung wird eine kleine Terz höher sequenziert, der zweite Ak-
kord aber ähnlich wie im voraufgehenden Beispiel vom Dominantseptakkord auf
D zum Dominantseptakkord auf Gis, der Doppeldominante der Haupttonart, um-
gedeutet. Diese geht zur Dominante (Takt 3), die durch das Pendeln des Basses
zwischen Grundton Cis und tiefalterierter Quinte G ihrerseits ambivalent bleibt
in Richtung auf die tritonusverwandte Stufe. Die Fortschreitung, die hier eine
scheinbare ist und zuvor eher ein Rücken von ähnlichen oder gleichen Akkord-
strukturen war, rastet danach (T. 5 -9 mit Auftakt) schließlich vollends ein zu
einem Pendeln zwischen den Stufen C und Fis, auf denen Akkorde errichtet sind,
die nur wenig voneinander abweichen. Jedes weitere "Fortschreiten" wird zur
Rückkehr zum Ausgangspunkt. Als Konsequenz bleibt danach nur noch das end-
gültige Zusammenrutschen der Akkorde in einen einzigen, der Stillstand des
Pendels im Prometheus-Akkord, "in dem zwei harmonische Stufen 'aufgehoben'
sind" 1.
(Scriabins Later Music, in: The Music Review XXVI, 1965, S. 19)
47
2. Die Akkordstruktur der Dominante, die sich nach und nach zum Septnon-
klang mit gespaltener Quinte, dem Prometheus-Akkord, entwickelt, wird auf
alle anderen Stufen übertragen. Sie verdrängt deren spezifische Funktion. Funk-
tionale Differenzen werden mehr und mehr eingeebnet. Die Stufen 'In und V wer-
den bereits in der Form des Dominantseptakkords mit tiefalterierter Quinte en-
harmonisch identisch. Oder, umgekehrt ausgedrückt: Der Akkord wird funktio-
nal zweideutig. Der Dominantseptnonakkord mit disalterierter Quinte schließ-
lich, ein Ganztonakkord, unmittelbarer Vorläufer des Prometheus-Akkords, ist
auf den sechs Stufen der Ganztonskala enharmonisch identisch (oder umgekehrt:
sechs verschiedenen Tonarten zugehörig). Funktionale Vieldeutigkeit mündet
ein in den gänzlichen Verlust der tonalen Funktion. Am Ende steht der eine Ak-
kord, auf 12 gleichberechtigte, nicht länger mehr hierarchisch differenzierte
Stufen transponierbar.
Dieses Stadium von Harmonik, das Skrjabin einige Zeit festhält, nur langsam
modifiziert, streift Alban Berg zur gleichen Zeit, um 1908, vorübergehend.
In diesem Lied ist bis Takt 8 auf jeder Stufe der gleiche, nach Schönbergs Ter-
minologie "vagierende" Akkord errichtet: ein Septakkord mit tiefalterierter
Quinte bzw. mit freiem, zur Quinte nicht aufgelöstem Vorhalt der übermäßigen
Quarte. (Der Unterschied, der einer der historischen Genese ist, die Identität
des Klangbilds jedoch nicht tangiert, ist auf diesem Stadium der "Emanzipation
der Dissonanz" fast irrelevant geworden wie im Prometheus-Akkord Skrjabins,
dessen übermäßige Quarte in op. 58 ja auch - ganz ihrer zweifachen Herkunft
gemäß - gleichermaßen als verminderte Quinte notiert erscheint; siehe das
Beispiel oben 1.
1 Dahlhaus, Deutsche Universitätszeitung a. a.O . : "Arnold Schönbergs Aus-
druck 'Emanzipation der Dissonanz ' besagt entweder nur, daß die Dissonanz
nicht mehr aufgelöst, sondern festgehalten wird, oder zugleich, daß ihr Ur-
sprung als Stimmführungs- oder Akkorddissonanz für die Kompositionstech-
nik gleichgültig geworden ist."
48
Berg schließt sein Stück auch mit dem gleichen Akkord, eine sinnvolle Kon-
sequenz, die Skrjabin zwar am Ende von op. 58, nicht aber am Ende des "Pro-
metheus" zu ziehen wagt. Der Akkord steht auf Es, der I. Stufe der vorgezeich-
neten Tonart. Er wird also - und das ist interessant auch im Blick auf Skrjabin -
hier nicht mehr als Dominante (obwohl strukturell von ihr herkommend), son-
dern offenbar als Tonika begriffen, oder - vielleicht richtiger - schon als funk-
tionsneutraler Grundakkord ähnlich wie der Prometheus-Akkord.
Wie sich an diesem der Wandel von der Auffassung als Dominantakkord zur
Handhabung als Grundakkord vollzieht, ist an einigen Stücken in der zeitlichen
Nähe des "Prometheus" abzulesen 1. Der Languido-Teil der Einleitung zur Fünf-
ten Klaviersonate verharrt in einer bis zur Quindezim aufgestockten Terzenhar-
monie auf Fis. Es scheint, ihr Grundton hat die Tonartbezeichnung des Stücks -
Fis -Dur eben - bestimmt. Sie hat ihren dominantischen Bezug auf ein virtuelles
H-Dur verloren oder ist zumindest auf dem Weg dazu 2 .
An dieser Sonate wird im übrigen auch ablesbar, daß bei Skrjabin Terzauf-
stockung bis zur Tredezime (oder bis zur Quindezime) noch einen weiteren Weg
(über die bisher beschriebenen hinaus) zur Auflösung der funktionalen Tonalität
bezeichnet. Ein Akkord, der auf der Dominante bis hinauf zur Doppel-Oktave
aus Terzen getürmt ist, faßt die Dreiklänge der Tonika, Subdominante und Do-
minante zugleich in sich, saugt die funktionale Differenz der Hauptstufen, die
die klassisch-romantische Harmonik begründet hatte, in sich auf. Von ihm ist
ähnliches zu sagen wie oben vom Prometheus-Akkord: In ihm ist die Unterschei-
dung von harmonischen Stufen, harmonischen Funktionen, aufgehoben, ganz im
ambivalenten Hegelschen Sinn.
3. DAS "KLANGZENTRUM"
Das Thema ist nicht Zusatz zum ausgehaltenen Akkord, der das Klangzentrum
auf A darstellt,
hingesetzte Akkorde, Quartenakkorde zumal, sind die Pfeiler, um die sich das
melodische Geschehen rankt, zwischen die die harmonische Entwicklung einge-
spannt ist, von denen sie sich durch geringfügige, oft chromatische Akkordmo-
difikationen entfaltet und in die sie zurückkehrt.
Srkjabins "Klangzentrum" jedoch bleibt ganz in sich beschlossen, ohne Ent-
wicklung, saugt in sich auch das Melodische auf, das - um Skrjabins eigenes
Wort zu gebrauchen - als "auseinandergefaltete Harmonie" erscheint. Die Mo-
difikation, die ihm widerfährt, bleibt zunächst eine vergleichsweise geringfü-
gige (die oben konstatierte Erniedrigung der None am Beginn des "Prometheus"
ist die einzige Modifikation des Grundakkords, die im Werk vorkommt).
Skrjabins Klangzentrentechnik bleibt ausschließlicher, strenger, integrie-
render. Womit lediglich eine Feststellung getroffen, keinesfalls ein Werturteil
zugunsten Skrjabins gefällt sein soll. Denn die Selbstbeschränkung, die Konzen-
tration auf ein sehr begrenztes Material, welche jene Einheitlichkeit stiftet,
bringt zugleich die Ausdrucksprobleme mit sich, an denen Skrjabins Komponie-
ren seit dem "Prometheus" stets laboriert und auf die noch einzugehen sein
wird.
Bleibt man sich nur des spezifischen Gehalts bewußt, den der Terminus bei
Zofia Lissa besitzt, so besteht kein Anlaß ihn preiszugeben. Er wird im be-
schriebenen Sinn in der vorliegenden Arbeit verwendet 1.
dert", einer Vorformung des Materials also. "Jeder Komponist muß selbst an
dem durch die Zwölftonskala gegebenen Tonmaterial dieses einleitende Gestal-
ten vornehmen, welches im tonalen System schon von vornherein durch die Ton-
art aufgedrängt wurde." 1 Dieses Vorgeformte bildet "die Grundlage, das Ma-
terial und das Beziehungszentrum von allem, was im gegebenen Stück sowohl
horizontal wie vertikal erscheint" 2 . Jenseits dessen beginnen jedoch bereits
die Unterschiede, die Zofia Lissa zwar zum Teil durchaus sieht, aber unter-
bewertet, vielleicht aus der Genugtuung heraus, eine Vorform der Dodekapho-
nie entdeckt zu haben.
Eine Gleichwertigkeit der 12 chromatischen Stufen ist für den späten Skrja-
bin nur insofern Voraussetzung, als das Klangzentrum grundsätzlich auf alle
diese Stufen transponiert werden kann. Eine gewisse Hierarchie der Transposi-
tionen wird allerdings jeweils hergestellt. Ein bestimmtes Klangzentrum stellt
meist Ausgangs- und Endpunkt einer Komposition dar - in Analogie zur tradi-
tionellen tonartlichen Geschlossenheit 3 - , und die Transpositionsstufen sind
nach strengem Plan in diesen Rahmen eingespannt, freilich nicht auf ihn bezo-
gen wie die Tonleiterstufen auf eine Tonika. Gewisse Distanzverhältnisse, wie
etwa das des Tritonus, genießen Priorität.
Bei der Vorformung des Materials, der Wahl des Klangzentrums, werden
die 12 Töne des temperierten Systems durchaus nicht als gleichgewichtig be-
handelt. Es wird eine Auswahl getroffen von zunächst 6, später mehr Tönen 4,
die den stabilen Kern des Klangzentrums bilden, dem die übrigen Töne als Va-
rianten oder als "harmoniefremde Töne" untergeordnet sind.
Entscheidend ist - und das hebt Zofia Lissa hier schon in aller Deutlichkeit
hervor 5 -, daß das Klangzentrum im Akkord der funktionalen Tonalität wurzelt
und nicht in der melodischen Gestalt wie die Zwölftonreihe.
Erst wenn man erkennt, wieviel dem Klangzentrum zunächst noch vom tradi-
tionellen Akkordbegriff anhaftet, versteht man seine Eigenart und entgeht den
Aporien, in die eine "Reihenanalyse" bei Skrjabin zwangsläufig führt, weil sie
nicht triftig ist 6.
1 Lissa, a. a. O. , S. 16f.
2 Lissa, a.a.O., S. 20.
3 Das Verhältnis des Klangzentrums zum herkömmlichen Tonartbegriff wird
in Kapitel 3.4 dargelegt.
4 Unzutreffend ist Zofia Lissas Behauptung: "Die Skalen von Skrjabin sind
i mmer sechsstufig", a. a. O. , S. 18, Anm. 3.
5 Sie entfaltet den Gedanken später in dem bereits besprochenen Aufsatz
"Zur Genesis des 'Prometheischen Akkords' bei A. N. Skrjabin", a. a. O.
6 Erinnert sei an Helga Boegners Arbeit "Die Harmonik der späten Klavier-
werke Skrjabins", a. a. O. , die Sabaneevs Interpretation des Prometheus-
Akkords aus der Obertonreihe übernimmt, dabei ständig in Schwierigkeiten
gerät, weil sich die Töne dieser "Reihe" nicht fügen wollen, und schließ-
lich eine "Untertonreihe" zu Hilfe nimmt.
3.3 KLANGZENTRUM UND AKKORD
Folgende Merkmale sind es, die die Technik des Klangzentrums - stets ist noch
vom Stadium des "Prometheus" die Rede - mit dem überkommenen Akkordbe-
griff verknüpfen und entscheidende Unterschiede zur orthodoxen Zwölftontechnik
ausmachen 1:
1. Es bleibt dem Klangzentrum ein deutlicher Grundtonbezug. Die Quarten-
form des Prometheus-Akkords, die Sabaneev in seinem Artikel angab, ist als
Grundform anzusehen. Darauf deutet schon das oberste System der Prometheus-
Partitur, das die Töne für das Farbenklavier enthält. Die eine der beiden Stim-
men gibt stets den Baßton der Harmonie in der beschriebenen Grundform, also
den Grundton an. Diesem Ton sind auch die Farben zugeordnet 2 . Mit einem
Klang, in dem der Grundton mit dem Baßton zusammenfällt, schließen die Stücke
zumeist (vielfach beginnen sie auch mit ihm). Diese Akkordform wird gegenüber
Umkehrungen bevorzugt.
2. Mit der ausgedehnten Nutzung von verschiedenen Umkehrungen und Lage-
rungen des Grundakkords wird gleichfalls an die bisherige Auffassung vom Ak-
kord angeknüpft. Der ausgehaltene Klang am Anfang des "Prometheus" (s. Bei-
spiel S. 50) repräsentiert eine Umlagerung des Grundakkords auf A. In der obe-
ren Hälfte bewahrt er die Quartstruktur des Grundakkords, in der unteren Hälf-
te nimmt er Quintstruktur an.
3. Die Auseinanderfaltung des Klangzentrums zur Sukzessivität wird wie die
traditionelle Akkordzerlegung gehandhabt. Die Reihenfolge der Töne ist frei im
Gegensatz zur Zwölftontechnik. Einzelne Töne werden innerhalb des Klangzen-
trums beliebig wiederholt. Auch das wird durch das soeben angeführte Beispiel
illustriert: Für das Hornthema werden 4 Töne des ausgehaltenen Grundakkords
herausgegriffen 3 und in freier Folge, mit zahlreichen Tonwiederholungen, zur
melodischen Gestalt angeordnet.
4. So wie innerhalb der Dur-Moll-Tonalität ein oder zwei Töne bereits den
Dreiklang und seine Funktion vertreten konnten, so können auch Ausschnitte aus
dem Klangzentrum das ganze Klangzentrum vertreten.
5. Am Klangzentrum werden gelegentlich einige Töne chromatisch verändert,
analog den Alterationen am herkömmlichen Akkord. Vornehmlich wird die None,
aber auch die Sexte und die Terz erniedrigt. Das B innerhalb der angeführten
Hornmelodie stellt eine solche "Tiefalteration" der None im Klangzentrum auf
A dar.
1 Dem Verfasser ist klar, daß sich die Praxis des Zwölftonkomponierens
durchaus nicht stets mit dem Regelkanon deckt, wie ihn etwa der Schönberg-
Schüler Josef Rufer darstellt ("Die Komposition mit zwölf Tönen", Berlin
und Wunsiedel 1952). Doch mußte hier für den angestrebten Vergleich ein
bestimmter Orientierungspunkt gewählt werden.
2 Zu Skrjabins Zuordnung von Ton und Farbe siehe Sabaneev in "Der Blaue
Reiter" a. a. O. , S. 112. Die zweite Stimme des "Luce"-Systems durchläuft
in langen, mehrere Takte gehaltenen Noten die Ganztonleiter zwischen Fis
und Fis (mit kleinen Unterbrechungen).
3 Das B der Melodie bleibe vorerst ausgeklammert.
6. Schließlich treten, in sehr geringer Anzahl zunächst, zum Klangzentrum
"harmoniefremde Töne". Stammtöne des Klangzentrums pendeln aus zu (im all-
gemeinen chromatischen) Wechselnoten, Durchgänge, ebenfalls zumeist chroma-
tisch, schaffen geschmeidige Verbindung zwischen zwei Transpositionen des
Klangzentrums (Durchgänge zwischen den Tönen eines Klangzentrums sind auf
dem Stadium des "Prometheus" fast ausgeschlossen). Es gibt freie Leittoneinstel-
lungen zu Stammtönen. Aus dem einen Klangzentrum können Töne noch ins folgen-
de übergehalten werden; umgekehrt werden Töne des zweiten Klangzentrums vor-
ausgenommen, während das erste noch herrscht. Es bleibt also im Klangzentrum,
anders als in der Zwölftonreihe, eine Hierarchie der Töne, innerhalb derer me-
thodisch grundsätzlich drei Ebenen zu unterscheiden sind:
1. die Stammtöne (im "Prometheus" und anderen Werken C-Fis-B-E-A-D), die
fast das vollständige, aber eben doch nicht das ausschließliche Material für
die Komposition abgeben und gleichzeitig erklingen können;
2. die chromatischen Modifikationen 1 , die "Alterationen" einzelner Stammtöne,
die sich von diesen dadurch abheben, daß sie nicht gleichzeitig mit ihnen an-
geschlagen werden 2;
3. harmoniefremde Töne.
Einzelanalyse allerdings zeigt, daß die hier aus methodischen Gründen ge-
troffene Unterscheidung keine starre Abgrenzung bezeichnet. Die Übergänge sind
fließend. Es gibt neben Werken, in denen chromatische Modifikationen am Klang-
zentrum nur vereinzelt auftauchen, auch solche, in denen dem Stammton und sei-
ner chromatischen Variante das gleiche Gewicht zukommt, ja, wo bündig kaum
mehr zu entscheiden ist, was Stammton, was Variante ist. So spielt in der 7. So-
nate op. 64 die Form des Klangzentrums mit großer None (die der Prometheus-
Harmonie entspricht), keine ausgedehntere Rolle als die Form mit der kleinen
None. Die beiden Varianten sind bestimmten Formteilen, dem Hauptsatz und
dem Seitensatz etwa, zugeordnet. Vom Formablauf des Werks her gesehen ist
die Fassung mit kleiner None das Primäre, der gegenüber die große None spä-
ter als "Aufhellung" eingeführt wird. Historisch aber ist sie das Sekundäre, ei-
ne "Trübung" der früher konzipierten Prometheus -Harmonie, eine Schärfung
ihres sich verlierenden Dissonanzcharakters. Später wechseln Varianttöne nicht
nur ab, sondern erklingen gleichzeitig. Varianttöne werden selbst Stammtöne
in einem erweiterten Klangzentrum.
Andererseits können chromatische Modifikationen von Stammtönen an ande-
rer Stelle als harmoniefremde Töne erscheinen und umgekehrt. Im mehrfach er-
wähnten ersten Thema des "Prometheus" steht die kleine None als "Tiefaltera-
tion " der großen, in einem zweiten Thema (T. 26ff.) ist die übermäßige Oktave
als freie Leittoneinstellung zur großen None notiert:
Der eine Takt repräsentiert das unvollständige Klangzentrum auf H (ohne Eis),
der andere das auf G (ohne Cis) 1 . Der Ton Gis aus dem ersten Klangzentrum
wird ins nächste übergehalten, ist aber dort, obwohl er in die große None A
weitergeht, nicht als übermäßige Oktave notiert, sondern als kleine None, als
Variantton des Klangzentrums auf G. Skrjabin will, obwohl seine Klangzentren
ineinandergleiten, hier die Transpositionsstufen deutlich voneinander abheben -
der Taktstrich trennt auch harmonische Einheiten -, will das integrierende Mo-
ment des Klangzentrums unterstreichen. Damit ist eine allgemeine Tendenz
Skrjabins bezeichnet: Wie vor dem "Prometheus" harmoniefremde Töne sich
mehr und mehr zu integralen Akkordbestandteilen verfestigen, so bleibt nun
auch weiter die Tendenz bestehen, Töne, die zunächst nicht zum Grundvorrat
1 Daß nach dem Stammton E noch das Dis, die übermäßige Quinte, erscheint,
bezeichnet die Übergangssituation des Werks: Das Schwanken zwischen gro-
ßer Sexte und übermäßiger Quinte (bzw. kleiner Sexte in Takt 8 des Stücks),
das als charakteristisch für die vorprometheische Phase bestimmt wurde,
ist noch nicht restlos verschwunden.
des Klangzentrums gehörten, ihm zunächst als Varianttöne und schließlich als
Stammtöne zu subsumieren. Solche Verschiebungen, solche Übergänge von ei-
ner Ebene der Hierarchie auf die andere sind Signum der weiteren harmonischen
Entwicklung nach dem "Prometheus".
Zur Analyse von "harmoniefremden Tönen" in der Phase des "Prometheus"
sei der Überschaubarkeit wegen ein kleines Stück aus dieser Zeit herangezogen,
in dem sich auf engem Raum die verschiedenen Arten von harmoniefremden Tö-
nen drängen: "Feuillet d'album" op. 58. Es ist zudem als Dokument des Über-
gangs von funktionaler Tonalität zur Klangzentrentechnik interessant 1. Es han-
delt sich dabei um das frühste abgeschlossene Werk, das der neuen Technik ge-
horcht. Skrjabin hat es bereits am 20. Februar 1910 im Konzert vorgetragen.
Der "Prometheus" ist erst im Herbst 1910 in Moskau fertiggestellt worden.
Der erste Takt entfaltet das Klangzentrum auf Cis; vorausgenommen ist die No-
ne des Klangzentrums auf G, mit dem der folgende Takt beginnt und das in der
Quartenformation erscheint. Dieses G ist aber in der Luce-Zeile gar nicht aus-
gewiesen. Die oberen beiden Töne, E und A, sind vielmehr als doppelter freier
Vorhalt zum Klangzentrum auf Cis begriffen, das auf dem fünften Achtel erscheint
(das F der linken Hand ist als Eis zu denken). Dessen obere Töne werden nun um-
gekehrt auf dem siebten Achtel Doppelvorhalt zum Klangzentrum auf G, das nun
auch in der Luce-Zeile angegeben ist.
Klangzentren im Tritonusabstand kippen - wie die Akkorde der erniedrigten
II. und der V. Stufe in der vorprometheischen Phase - leicht ineinander um. Sie
haben, enharmonisch betrachtet, vier Töne gemeinsam, und eben die beiden
Töne, in denen sie differieren, sind in diesem Beispiel von einem Klangzentrum
ins andere übergehalten.
Kühner noch sind Klangzentren im Tritonusabstand im folgenden Beispiel in-
einandergeschoben:
Prometheus, T. 20-24
Takt 20 steht das Klangzentrum auf Es (das As ist aus der vorhergehenden Har-
monie übergehalten). Mit Takt 21 setzt das Klangzentrum auf A ein. Die Trompe-
ten behalten aber noch die obere Hälfte vom vorigen Klangzentrum, die beiden
reinen Quarten, auf dem ersten Achtel des Taktes bei. Die Töne werden nicht
schulmäßig als Vorhalte stufenmäßig weitergeführt, sondern springen ab in die
drei oberen Töne des neuen Klangzentrums. Indem Skrjabin zwei Klangzentren
i m Tritonusabstand ineinanderdrängt, die oberen Hälften heraushebt, unterstreicht
er kräftig das Element der reinen Quarte und gewinnt ein charakteristisch gefärb-
tes melodisch-harmonisches Motiv.
Eine "Vorhaltsbildung" hatte diese im Tritonusintervall hin- und herspringen-
den Doppelquarten begründet. Ins Motiv einmal eingefroren, emanzipieren sie
sich von ihrem Ursprung und blitzen in der Folge frei als "klangzentrenfremde
Töne" auf (T. 23 und 24 und im weiteren Verlauf des Werks). Solche Freiheiten,
die Skrjabin meist so sorgfältig vorbereitet wie hier, beleben die etwas einför-
mige Klangzentren-Harmonik. Das Ausscheren aus der gewählten Norm erscheint
sogleich aber wieder legitimiert durch die streng symmetrische Struktur des aus
dem Rahmen fallenden Motivs.
Von hier ist es nicht mehr weit bis zur regelrechten Vermischung von Klang-
zentren. Das folgende Beispiel widerlegt schon Clemens-Christoph von Gleichs
Behauptung: "Kombination von Klangzentren, kommt nicht vor." 1
Prometheus, T.199/200
Das System des Farbenklaviers weist hier zwar nur den Ton C als Grundton
eines Klangzentrums aus; in den Klavierpart mischt sich aber deutlich das Klang-
zentrum auf Fis, an dem wiederum die reinen Quarten hervorgehoben werden.
An einer einzigen Stelle in der Prometheus -Partitur sind in der Luce-Zeile
drei (statt wie sonst zwei) Töne notiert. Hier sind in der Tat Elemente aus drei
Klangzentren kombiniert:
Prometheus, T. 305 - 308
Das könnte den Eindruck suggerieren, als hätte Skrjabin ein neues Tongeschlecht
geschaffen, ähnlich dem bisherigen Dur oder Moll. Skrjabin selbst hat offenkundig
diese Leiter als Variante von Dur angesehen. In seinen Skizzen findet sich an
einer Stelle eben diese Leiter, auf H transponiert, mit dem ausdrücklichen schrift-
lichen Zusatz: H-Dur. Auf einem Entwurf für ein Konzertprogramm schreibt
Skrjabin: "Poèmes op. 69, C, Des. " (Es handelt sich um Stücke, die nach dem
"Prometheus", in Klangzentrentechnik, geschrieben sind). Ein anderer Programm-
zettel für einen Klavierabend des Komponisten gibt für die 7. Sonate op. 64 die
Tonalität Fis an. Sabaneev ordnet in seinem Katalog der Werke Skrjabins nicht
nur der 7. , sondern auch der 6. und 8. Sonate - sicher im Sinne des Autors - ei-
ne Tonalität zu: G und A. Schließlich finden sich auch in der Jurgenson-Ausgabe
der drei Etüden op. 65, die Skrjabin noch selbst überwacht hat, Tonalitätsanga-
ben 1 . In jedem dieser Fälle ist die Tonalität nach dem Grundton des Klangzen-
trums bestimmt, mit dem das Stück endet (und häufig auch beginnt).
Skrjabin verkennt offenbar einen wesentlichen Unterschied zwischen seiner
Klangzentrentechnik und der Dur-Moll-Tonalität. Dort waren die Stufen der Ska-
la in Bezug auf ihren Grundton verschieden gewichtet, sie waren Träger von Drei-
klängen unterschiedlicher Funktion, die zueinander in dialektische Beziehung tra-
ten. Die Tonleiter war als Ausfaltung der Hauptfunktionen Tonika, Subdominante
und Dominante zu verstehen. Skrjabins Skala jedoch stellt die Ausfaltung eines
einzigen, auf dem Grundton errichteten, homogenen Klangkomplexes dar, dessen
Teile in komplementärer Beziehung zueinander stehen und nicht gegeneinander
abgestuft sind. Das B der Skala ist nicht Leitton zum A, sondern kann mit ihm ge-
meinsam im Akkord angeschlagen werden. Ebensowenig wohnt dem Fis noch ei-
ne Leittonstrebung inne (das G, das später ins Klangzentrum aufgenommen wird,
kann dann gleichfalls mit ihm gemeinsam erklingen). Die Leiter, zu der sich die
Töne des Prometheus-Akkords ordnen lassen, ist also kein historisch vorgege-
benes System von Tonbeziehungen wie eine Dur- oder Mollskala, sie ist vielmehr
die skalenmäßige Darstellung eines Tonvorrats, der als Gebrauchsskala aus der
allein vorgegebenen Materialskala der 12 chromatischen Töne für ein bestimmtes
Werk ausgewählt wurde.
Eine solche Skala, deren Leittönigkeit neutralisiert ist, die einen Tonkomplex
repräsentiert, liegt bereits auf weite Strecken einem Stück zugrunde, das einige
Zeit vor dem "Prometheus" entstanden ist. Es handelt sich um das Prelude Opus 51,
Nr. 2 in a-Moll, das letzte Mollstück überhaupt, das Skrjabin komponierte, in sei-
nem Charakter einzigartig im Kontext seines OEuvres.
1 All diese Daten sind einem Aufsatz von Sergej Pavcinskij entnommen: "O
krupnych fortepiannych proizvedeniach Skrjabina pozdnego perioda" (Über
Skrjabins große Klavierwerke der späten Periode) in: "Skrjabin Sbornik
stat'ej; k stoletiju so dnja rozdenia" (Sammelband von Aufsätzen zum 100.
Geburtstag), Moskau 1973, S. 429.
Die ersten drei und die letzten neun Takte basieren auf einer a-Moll-Skala mit
erhöhter IV. Stufe (und die Takte 8 bis 11 auf deren Quinttransposition ).
Aber weder das Dis noch das F fungieren als Leitton zur Quinte; ersteres springt
ständig ab zum Grundton, letzteres wird zusammen mit der Quinte E angeschla-
gen. Die VII. , im harmonischen Moll leittönige Stufe, kommt gar nicht zur An-
wendung. Die besagten Takte stehen bereits gleichsam in einem einzigen Klang-
zentrum, innerhalb dessen keine Fortschreitung stattfindet 1.
Skrjabin hatte, während er an der Entwicklung der Tonordnung des "Prome-
theus" arbeitete, offenkundig vorübergehend die Idee, ein ganzes Werk oder doch
zumindest große Passagen aus einem einzigen untransponierten Klangzentrum -
das für ihn als Tonart galt - zu entwickeln. Er notiert auf einem Skizzenblatt die
Skala des Prometheus mit dem zusätzlichen Ton G, der im "Prometheus" kaum,
jedoch im gleichzeitigen Poeme Opus 59, Nr. 2 und in späteren Werken eine Rol-
1 Interessant dann die Fortführung des Anfangs in Takt 4. Das seiner Leitton-
funktion entkleidete Dis wird enharmonisch zum Es umgedeutet, das nun wie-
der leittönig innerhalb eines funktionalharmonischen Kontextes wirkt. Es
wird Septe einer Zwischendominante zur neapolitanischen Stufe der Haupt-
tonart.
le spielt. Auf jeder Stufe errichtet Skrjabin nun nicht etwa Dreiklänge, sondern
den siebentönigen Quartenakkord, der die Töne der Skala komplett enthält.
beit erst nach deren Abschluß zugänglich wurde, eine umfangreiche Syste-
matik der Tongemeinsamkeiten auf und legt ausführlich dar, nach welchen
Regeln Skrjabin sie nutzt (a. a.O. , Bd. III, S. 19ff.).
1 H. Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Wies-
baden 1969, S. 120. Das zugehörige Musikbeispiel auf Seite 192 sind die
Schlußtakte von Milhauds "Saudades do Brazil" VIII.
2 Riemann Musik-Lexikon, 12. Auflage, Sachteil Mainz 1967, S. 741.
Aber auch diese Definition deckt die angegebene Stelle bei Skrjabin nur zum
Teil. Es fehlt dort das Moment der "deutlichen Unterscheidung" der tonalen Ebe-
nen, das zu Buddes Begriff von Polytonalität gehört und meist durch einen beson-
deren Kunstgriff bewerkstelligt wird: "Häufig werden weit entfernt stehende Ton-
arten (z. B. in Kleinsekund- oder Tritonusabstand) miteinander verbunden. " 1 Das
trifft auf das Busoni-Beispiel zu. Skrjabin jedoch koppelt verwandte Klangzentren,
die viele Töne gemeinsam haben. Es ist ihm nicht um die klangliche Reibung zu
tun, welche sich aus der Kombination von Klängen ergibt, die weit auseinander-
liegenden Tonarten angehören. Die verschiedenen Klangzentren an der angeführ-
ten Stelle lassen sich zwar in der Analyse auseinanderhalten, im Klangbild jedoch
durchdringen sie sich, verschmelzen zu einem Umgreifenden Klangkomplex.
Skrjabins Klangstil drängt insgesamt mehr auf Integration als auf Kollision.
Es ist im Verlauf dieser Arbeit dargestellt worden, daß Skrjabin gerade nicht
bei der Konfrontation von Harmonien im Tritonusabstand verharrt, sondern de-
ren Unterschied zu nivellieren trachtet, die im Rahmen der Tonalität weite Ent-
fernung zu überbrücken und schließlich aufzuheben sucht. Die auf Seite 28 be-
schriebenen Schlüsse, wo Dominante und Tonika in den letzten Klang zusammen-
rutschen, sind eher singulär in seinem Schaffen. Sie setzen die Tradition jener
Simultanbildungen fort, die es seit Beethovens "Eroica" (Einsatz der Reprise des
ersten Satzes), der "Pastorale" (Schlußsatz) gibt. "Das zeitliche Nacheinander
des Funktionsablaufs verschränkt sich in ein zuständliches Ineinander." 2 Budde
spricht auch das als bitonal an (glücklicher und konsequenter wäre in diesem
Falle vielleicht der andernorts gebräuchliche Terminus "bifunktional").
Charakteristischer für den späten Skrjabin ist eine andere Form von "Poly-
tonalität". Aus dem Komplex des Klangzentrums, das von seiner Genesis her
Synthese mehrerer harmonischer Funktionen ist und das stets eine gewisse Viel-
deutigkeit bewahrt, werden immer wieder einzelne Segmente durch Lagendispo-
sition oder Instrumentation hervorgehoben, die für sich genommen einfachere
1 Budde, ebenda.
2 Budde, ebenda.
Klänge repräsentieren als das Ganze; es handelt sich dabei vielfach um Dur-
oder Molldreiklänge. Diese Segmente treten aber nicht in Spannung, in Reibung
zum Rest des Klangzentrums. Es tritt nur durch besondere Beleuchtung ein Teil-
bereich aus dem Klangzentrum hervor.
Seine Wurzel hat dieses Verfahren in Techniken, wie sie die vielberedete
Klangfläche der Hörner am Anfang des zweiten Akts von Wagners "Tristan und
Isolde" verkörpert: Ein "stehender" Klang, dem innerhalb des Gesamtzusammen-
hangs durchaus eine bestimmte harmonische Funktion zuzuschreiben ist, erreicht
einen gewissen Grad von Selbständigkeit, von klanglicher Eigenwirkung und ist so
disponiert, daß sich ein bifunktionaler Eindruck ergibt: "Funktionell ist die Stelle
Figuration eines Dominantseptnonakkords (F-A-C-Es-G) in B-Dur. Die Selbstän-
digkeit tritt aber schon so stark heraus, daß man geneigt sein kann, die Stelle
als eine frühe bitonale Episode aufzufassen." 1 Ähnliches findet sich vielerorts
im "Poème de l'Extase", z. B. kurz vor Schluß:
Auf der Suche nach dem Wesen und der Genesis "polytonaler" Wirkungen bei
Skrjabin ergeben sich Einsichten in das Verhältnis von Melodie und Harmonie,
durch die gängige Vorstellungen revidiert werden.
Das Hornthema zu Beginn des "Prometheus" notiert Sabaneev im "Blauen Rei-
ter" nicht mit B, sondern mit Ais.
In das Thema ist eine Fülle von Korrespondenzen und Spiegelungen eingegan-
gen, die ihm einen festgefügten, in sich geschlossenen zentripetalen Charakter
verleihen 1, plastische Verkörperung des von Skrjabin intendierten Ausdrucks:
die schlummernde, in sich befangene, ihrer selbst noch nicht bewußte schöpfe-
rische Kraft, die erst durch das Feuer des Prometheus zur Entfaltung gebracht
wird.
Für die selbständige Wertung der Melodie plädiert2Sergej Pavcinskij im Vor-
wort einer größeren Arbeit über Skrjabins Spätwerk , ohne daß er offenbar Skiz-
zen Skrjabins, also den Schaffensprozeß kennt. Er betont zu Recht: "Die verbrei-
tete Bestimmung der Melodik des späten Skrjabin als gebaut nach den Tönen der
Harmonie ist unzureichend." 3 Er schlägt vor, terminologisch zwischen "melo-
discher und harmonischer Tonika" zu unterscheiden. Das ist im Blick auf den
späten Skrjabin methodisch nicht ganz abwegig. Pavcinskij verkennt freilich über
seinen melodischen Analysen oft, daß der harmonische Untergrund doch zumeist
den tonalen Eindruck der Melodie wesentlich beeinflußt, verkennt überhaupt gänz-
1 Daß Skrjabin seine Themen oft bewußt in dieser Weise durchkonstruiert, be-
legt (neben melodischen Skizzen Skrjabins) ein Bericht Sabaneevs (Vospomina-
nija, a. a. O. , S. 220), nach dem der erste melodische Gedanke des Poème
de l'Extase
1 Pavcinskij, a. a. O. , S. 36.
Vor dem Hintergrund des Klangzentrums auf C schlägt das Klavier in der linken
Hand einen Ostinato an, der sich zunächst als Teil des Fis-Dur-Dreiklangs hö-
ren läßt. Dazu schichtet die rechte Hand Akkorde von a-Moll auf, die sich bald
nach D-Dur, der "Tonart der None" wenden. Allenfalls hier wäre wirklich von
einem dissonanten Aufeinanderprallen deutlich von einander abgesetzter tonaler
Elemente und Schichten zu sprechen.
I m allgemeinen aber - noch einmal ist es zu unterstreichen - bedeutet "Poly-
tonalität" bei Skrjabin nicht den Zusammenstoß von Klängen aus zwei möglichst
voneinander entfernten, gleichgewichtig auftretenden Tonarten. Sie meint viel-
mehr das verschiedenartige Hervorheben einzelner, in sich harmonisch einfa-
cher Partikel aus einem vieltönigen, vieldeutigen Klangkomplex. Nicht prallen
Ganzheiten aufeinander, sondern an einem Ganzen wird durch wechselnde Be-
leuchtung von Teilaspekten dessen komplexes, schillerndes Wesen entfaltet.
Mit der chromatischen Modifikation des Prometheus-Akkords erschließen
sich neue Möglichkeiten, "Akkorde im Akkord" 1 zu bilden. Bei Tiefalteration
der None im Prometheus-Akkord auf C ergeben die drei oberen Töne - verwech-
selt man die None Des enharmonisch zu Cis - den A-Dur-Dreiklang. Es läßt
sich - mit Pavcinskijs Terminologie - aus dem Klangzentrum eine "Tonart der
großen Sexte" herausziehen. Ebendies geschieht am Anfang der häufig angeführ-
ten 7. Sonate 2 , die unmittelbar nach dem Prometheus, noch vor der 6. Sonate,
fertiggestellt wurde.
Von der Akkordunterlage, die, der Orthographie gemäß, eindeutig auf C als
Grundton zu beziehen ist, hebt sich ein melodisches Signal ab, das als zerlegter
A-Dur-Dreiklang gehört werden kann. Im Zusammenhang dieses Kapitels interes-
siert an dieser "polytonalen" Stelle ein bislang nicht beachteter Aspekt ihrer Ent-
stehung, der überraschende Aufschlüsse über das Verhältnis von Melodie und Har-
monie in Skrjabins Schaffensprozeß gibt.
Sicher ist hier freilich nicht, ob diese beiden Takte einmal so aufgeschrieben
waren, oder ob sie nach dem Gehör von Sabaneev notiert sind. Dieser Fassung
nach wäre zunächst an eine Koppelung des A-Dur-Signals mit einer Harmonie
auf Fis (von der Struktur des Dominantseptakkords) gedacht gewesen 3 . Als tief-
ster Ton wird jedoch bereits das C angeschlagen, als Quinte. In der Endfassung
erst erscheint das Ganze integriert in ein Klangzentrum auf C. Und es darf die
These gewagt werden, daß hier die Absicht, den melodischen Gedanken zu be-
wahren, zur chromatischen Modifikation des Prometheus-Akkords veranlaßt hat,
in dem nun die kleine None sich ziemlich fest etabliert, nachdem sie im "Prome-
theus" lediglich als Trübung der großen (oder als Leitton zu ihr) aufgetreten war.
Von einer bestimmten Ausdrucksvorstellung diktierte melodische Strebungen
halten - wie in der Zeit vor dem "Prometheus" - die zur Erstarrung tendierende
Akkordstruktur in Bewegung und bewirken stete Weiterentwicklung, Lockerung
und schließliche Auflösung der Struktur des Klangzentrums.
Während er in der Endfassung eindeutig auf die Basis G bezogen ist, war er vor-
her offensichtlich vom Klangzentrum auf Cis her (Tritonusabstand!), bei enhar-
monisch so gut wie gleichem Tonvorrat, gedacht.
31
1 Glinka-Museum Moskau, Ø 40 ' Blatt 15.
4. ENTWICKLUNG DER HARMONIK NACH DEM
"PROMETHEUS"
Die Überschrift dieses Kapitels stößt bereits mitten hinein in eine Streitfrage,
die höchst unterschiedliche Antworten gefunden hat. Wohin gelangt Skrjabins Har-
monik in seinen letzten 5 Jahren noch? Entwickelt sie sich überhaupt noch wesent-
lich weiter?
Dahlhaus schreibt im Zusammenhang mit dem "Feuillet d'Album" op. 58, ei-
nem Gelegenheitswerk aus der Zeit der Arbeit am "Prometheus": "Skrjabin hält
fest, mit dem starren Blick des Grüblers, was nur ein Übergang ist. In dem
Grundakkord, seiner zusammenfassenden Formel für das harmonisch 'Moderne',
will er, zugleich mit der Dominantfunktion, die Geschichte der funktionalen Har-
monik zum Stillstand bringen; ein Stück Geschichte, dem die Zukunft abgeschnit-
ten wird, soll als Natur gelten, die 'von Anfang an da war, auch bevor wir sie
entdeckten' (Busoni)" 1 . Damit ist ein kritischer Punkt angesprochen. Es scheint
nicht von ungefähr, daß der "Prometheus" weit weniger bekannt, geschweige
denn populär geworden ist als das vorangehende "Poème de l'Extase", das sich
noch im Rahmen der funktionalen Tonalität bewegt. Eine gewisse Starre und Mo-
notonie des Klangbilds im "Prometheus", die aus dem Einrasten der Harmonik
in einen einzigen Akkord resultiert, ist nicht zu verkennen. Das "Po è me de l'Ex-
tase" ist zwar bereits auf weite Strecken geprägt von Akkorden, die dem Prome-
theus-Akkord nahestehen. Sie sind jedoch in sich noch beweglich, sind noch nicht
gänzlich geronnen zu dem einen Klang. Sie alternieren ferner mit anderen Akkord-
formen, übermäßigen Dreiklängen, Nebenseptakkorden usf.
Vor allen Dingen aber beziehen sie sich, wie entfernt auch immer, noch auf
ein tonales Zentrum und gewinnen von daher Leben und Ausdruck. Skrjabin hat
diese Fäden zur Geschichte der Harmonik im "Prometheus" gekappt, ohne sich
jedoch entschieden von der Vergangenheit abzusetzen. Er sprengt einen einzel-
nen Akkord, dessen Herausbildung seine ureigene Leistung ist, aus dem funktio-
nalen Kontext heraus, ohne ihn in ein neues Spannungsgefüge einzubinden. Er
bleibt hängen auf dem einen, von Vergangenheit und Zukunft zugleich isolierten
Klang.
Dieser Schritt spiegelt in der Tat ein gestörtes Verhältnis zur Geschichte,
das in engem Zusammenhang steht mit Skrjabins Solipsismus, einem Charakter-
zug, der nun in immer extremerer Form bei ihm hervortritt. Skrjabin tut zu-
letzt jede Musik der Vergangenheit einschließlich der bisherigen eigenen als
"klassisch" ab. Nunmehr soll das endgültige "Prinzip" des Komponierens gefun-
den sein; Musikgeschichte soll durch ihn erst eigentlich beginnen und zugleich
zu ihrem Ende kommen - das "Mysterium" war als Ziel der Geschichte über-
haupt gedacht. Die Theorie, daß Skrjabins Harmonie Naturklang sei, geht zwar,
wie nachgewiesen wurde, auf Sabaneev zurück, nicht auf Skrjabin selbst; doch
muß sie schließlich Skrjabins Empfinden sehr entgegengekommen sein: "Ich
Das Prélude op. 59, Nr. 2, ist 1910, spätestens unmittelbar nach Fertigstel-
lung des "Prometheus", womöglich noch während der Arbeit an der Symphoni-
schen Dichtung, entstanden. Jedenfalls sind in das Stück die Erfahrungen aus den
umfangreichen Studien zum "Prometheus" eingegangen, die bei weitem nicht alle
Verwendung in dem Werk fanden. Skrjabin hat hier offenbar Klangkonstellationen,
die er für den "Prometheus" nicht verwerten konnte, die ihn aber ihrer Ausdrucks-
kraft wegen reizten, zur Entfaltung bringen wollen. Dem ersten Eindruck nach un-
terscheidet sich das Klangbild schroff von dem des "Prometheus", mehr noch von
dem des ersten Stücks unter der gleichen Opuszahl, eines zarten, filigranhaften
Poème ("avec grace et douceur"), das auf der Prometheus-Harmonie basiert. Das
Prellude bezieht seinen aggressiven Charakter ("sauvage, belliqueux") unter ande-
rem aus Akkordbildungen von höherem Dissonanzgrad. Das Intervall der großen
Septime, Klänge aus reiner Quart und Tritonus, die im "Prometheus" einge-
schmolzen waren im relativ konsonanten Klangzentrum, kommen hier in voller
Schärfe zur Geltung (daneben stehen allerdings auch, durch komplizierte Ortho-
graphie verschleiert, Molldreiklänge - auch das im Gegensatz zum Poème). Den-
noch ist Forcherts Annahme irrig, das Stück sei "harmonisch weitgehend frei ge-
staltet" 1, habe also mit der Klangzentrentechnik des "Prometheus" nicht viel zu
tun. Das Prélude hält vielmehr nicht nur geradezu starr an jener strengen Ton-
ordnung fest (was zu seinem spezifischen Ausdruck mit beiträgt), sondern be-
nutzt zudem als Klangzentrum eine Erweiterung und Modifikation des Prometheus-
Akkords, die relativ geringfügig scheint, freilich einschneidend genug ist in ihrer
Wirkung.
Daß der Prometheus-Akkord im Hintergrund steht, führt das Stück selbst vor.
Skrjabin legt häufig am Ende einer Komposition deren harmonische Wurzel bloß.
Die letzten 8 Takte entfalten hier nichts anderes als den Prometheus-Akkord auf
der Basis C; nur im Schlußakkord ist die None tiefalteriert - eine Variante, die
bereits vom "Prometheus" her geläufig ist. Vorbereitet ist sie im Takt 53 und
dem analogen Takt 25, spielt jedoch sonst in dem Stück keine Rolle. Wesentlich
einschneidender ist eine andere Modifikation, die das ganze Stück über bis hin
zur Coda fest beibehalten wird: die chromatische Erniedrigung der Terz. Auf
diese Weise geht der letzte Rest des Charakters einer Dominantharmonie ver-
loren. Eine weitere große Septime (Es-D) dringt ins Klangzentrum ein (zusätz-
lich zu B-A). Ferner wird der sechstönige Quartenakkord nun um eine zusätz-
liche reine Quarte zur Siebentönigkeit "aufgestockt". Dies ist also das Klangzen-
trum des Stücks (in Klammern stehen die untergeordneten Varianttöne).
Die Harmonie des "Prometheus" bleibt bis hinein in die letzten Werke Orientie-
rungspunkt. Skrjabin hat aber offenkundig gespürt, daß er selbst kürzere Werke
nicht allein mit ihr, ohne jede Modifikation, bestreiten kann. So führt er viel-
fältige Varianten ein. Die verschleiern jedoch eher wieder die ursprüngliche
Quartenstruktur als daß sie sie heraushöben.
Im Poème op. 69, Nr. 1, einem allerdings für seine Entstehungszeit (1912/13)
recht retrospektiven Stück, konfrontiert er die Prometheus-Harmonie mit jener
Ganztonharmonie, von der sie sich einst in geringfügiger, aber wirksamer Dif-
ferenz abhob und absetzte: dem Septnonakkord mit doppeltem Leitton zur Quinte
(bzw. mit disalterierter Quinte).
I m 3. und 4. Takt steht dieser Akkord auf As (Takt 1 und 2 entfalten den Prome-
theus -Akkord auf C mit instabiler None). Im Takt 4 gehen D und Fes als doppelte
Leittoneinstellung noch einmal in ganz konventioneller Manier in die Quinte. Die
kleine Sexte Fes ist im Takt 3 als übermäßige Quinte E notiert. Weitere Varian-
ten enthält das Stück nicht.
Gleichfalls an die Tradition knüpft die mehrfach schon erwähnte "Tiefaltera-
tion" der None des Prometheus-Akkords an. Zunächst nur als lokale Einfärbung
angewandt, setzt sie sich mehr und mehr durch. Sie bringt eine weitere vermin-
derte Quarte in den Klang ein; es bleibt nur mehr eine einzige reine Quarte. De-
ren Kolorit, das im Prélude op. 59, Nr. 2 weiterentfaltet worden war, wird nun
also zurückgedrängt. Und das gilt fast für das gesamte weitere Schaffen Skrja-
bins.
Das Poème Nocturne op. 61 wechselt lebhaft zwischen beiden Formen der No-
ne und gewinnt dadurch Variabilität des Ausdrucks. Das "Kapriziöse" ("avec une
grâce capricieuse") des Hauptgedankens resultiert eben aus diesem ständigen
Changieren.
Dazu kommt, daß beim Auftauchen der kleinen None immer stark die Tritonus -
transposition (G) des an sich unverrückt auf der Basis Des verharrenden Klang-
zentrums hereinspielt. Doppeldeutigkeit liegt bereits im Auftakt. So wie er no-
tiert ist, ist er auf die Basis G bezogen (Grundton, kleine None, große Terz).
Er läßt sich aber auch bereits - bei enharmonischer Umdeutung des H zum Ces
der Basis Des zuschlagen.
Grundsätzliche Einsichten in den Charakter, ja den Symbolgehalt der beiden
Akkordvarianten vermittelt der Übergang zum Seitensatz, der von Skrjabin mit
detaillierten, ungewöhnlichen Ausdrucksangaben versehen ist:
Die Form mit kleiner None hat bei Skrjabin oft den Charakter des noch Unent-
falteten, bei sich Verweilenden. Vielfach wird diese Akkordform als Trübung be-
griffen gegenüber dem Akkord mit großer None, der - zumal in der Form ohne
Sexte oder gar ohne die übermäßige Quarte - Ausdruck von Klarheit, von Rein-
heit ist. Dieser nimmt nun bei Skrjabin die Stelle ein, die früher dem Dreiklang
zukam, ist also auch schlußfähig.
In Takt 29 des Beispiels setzt sich die große None durch - typisch für lyri-
sche Seitengedanken bei Skrjabin überhaupt - und gleitet seufzerartig ("avec lan-
gueur"), scheinbar in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von freiem
Vorhalt und Akkordton, in die übermäßige Oktave. Die Notation zeugt von sub-
tiler Empfindung für feine Ausdrucksvaleurs. Nicht ist das Gis als Trübung der
None, als As, notiert, sondern als Leitton aufwärts. Als Wechselnote aufgefaßt,
hat es nun eine gänzlich andere Bedeutung und Wirkung als zuvor das As.
Von ähnlichem Charakter ist der Seitensatz der 7. Sonate. In diesem Werk
sind größere Partien von einer der beiden Akkordvarianten durchgängig geprägt.
So hält die ganze Hauptgruppe sowie die anschließende Episode im Sechsachtel-
takt ("avec une sombre majesté. "), die zum Seitensatz führt, an der kleinen None
fest. Von umso intensiverer Ausdrucks- und Kontrastwirkung ist die Aufhellung
zur großen None, die sich innerhalb des Seitengedankens vollzieht:
In dem Po è me "Flammes sombres" op. 73, Nr. 2 ist die kleine None relativ
stabil beibehalten, steht auch im Schlußakkord. Die Sexte jedoch oszilliert; die
große Sexte erfährt ständig chromatische Erniedrigung.
Welches Maß an Flexibilität des Satzes die Mobilität von Tönen des Klangzen-
trums ermöglicht, sei demonstriert an einer der drei Etüden op. 65.
Die Idee des Zyklus war, ein modernes Pendant zu den Oktaven -, Terzen- und
Sextenetüden der Tradition zu schaffen, mit Intervallen, deren konstante Parallel-
führung bis dahin nicht oder kaum gewagt worden war. Ende Juni 1912 schreibt
Skrjabin aus Beatenberg in der Schweiz an Sabaneev: "Ich gebe Dir nun Bescheid
über eine Sache, die für mich erfreulich ist, für Dich vielleicht ohne Interesse,
und sehr schmerzhaft für alle Verteidiger des klassischen Glaubens: Ein Kompo-
nist, den Du kennst, hat drei Etüden geschrieben! In Quinten (Entsetzen!), in No-
nen (wie pervers!) und ... in großen Septimen (das letzte Sakrileg! ?). Was wird
die Welt sagen? ... "
Auch diese Etüden jedoch basieren auf der Technik des Klangzentrums, auf
der Harmonie des "Prometheus". Hier das "letzte Sakrileg":
Als Klangzentrum fungiert nichts anderes als die Variante des Prometheus-
Akkords mit tiefalterierter None (und gelegentlich zusätzlich eingesetzter Quinte
wie in den meisten Werken seit dem "Prometheus"). Aus diesem Grundmaterial
lassen sich, bei Ausnutzung verschiedener Lagerungen, drei große Septimen
herausziehen (B-A, Des-C, G-Fis); das ist sein Vorzug unter dem Blickwinkel
der Strukturidee des Stücks.
In den letzten fünf Takten wird das Klangzentrum auf der Basis Des entfaltet.
Der Schlußakkord schlägt die Kerntöne an, Grundton, Terz, Septime und None,
der Auftakt dazu bringt die Sexte, und die zur Vollständigkeit noch ausstehende
übermäßige Quarte zum Grundton, das G, erscheint im viertletzten Takt in der
linken Hand. Die Figuration, innerhalb der dieser Ton steht, läßt sich gleich-
zeitig auch, enharmonisch umgedeutet, als Septakkord auf dieses G als Basis
beziehen. Diese Doppeldeutigkeit (wieder handelt es sich um die Tritonusbezie-
hung) drückt sich am Anfang des fünftletzten Taktes auch in der Orthographie
aus: hier steht statt Eses D, als Quinte zu G. Diese Notation ist freilich durch
das Vorhergehende motiviert. Der Anfang einer fünftaktigen Coda ist zugleich
Endpunkt einer Sequenz aus vier halbtaktigen Gliedern, die sich je im Abstand
einer kleinen Terz wiederholen. Mit dem fünften Glied, das im Ansatz noch er-
scheint, ist demnach der Ausgangspunkt der Sequenz, die Basis G wieder er-
reicht (vier kleine Terzen summieren sich zur Oktave) und wird sogleich ver-
schränkt mit der folgenden Transpositionsstufe Des. Interessant ist die Binnen-
struktur der Sequenzglieder. Das erste - bei "molto accelerando" - teilt sich in
zwei Transpositionsstufen des Klangzentrums, G und Des, die jeweils nur eine
Zählzeit gehalten werden - ein für Skrjabin ungewöhnlich rascher harmonischer
Rhythmus. Der schnelle Wechsel aber wird gemildert durch den engen Zusam-
menhang, der zwischen den Transpositionsstufen geschaffen wird. Ihn muß eine
sehr ungebräuchliche Modifikation des Klangzentrums stiften: die große None
über G wird chromatisch erhöht; aufgefangen wird die Kühnheit jedoch durch die
enharmonische Identität der resultierenden Septime mit der übernächsten, die
über der Basis Des steht und - ebenso wie die folgende - im unmodifizierten
Klangzentrum aufgeht. Der Ausbruch wird nachträglich legitimiert. Gleichzei-
tig ist auf diese Weise ein enger Zusammenhang zwischen den Sequenzgliedern
geschaffen. Ende des einen und Anfang des nächsten bilden Septimen, die enhar-
monisch identisch sind. Die Sequenz wird dadurch äußerst flüssig und organisch.
Die Durchführung der kompositorischen Idee des Stückes forderte Lizenzen,
die sich Skrjabin in der Behandlung des Klangzentrums erlauben mußte. Sie aber
machen den Satz geschmeidig, beleben das Klangbild und stiften zugleich auch
wieder strukturelle Stringenz auf anderer Ebene: Ohne die geringste Abweichung
ist in der rechten Hand die Parallelführung eines festen Intervalls durchgehalten.
Ein Blick noch auf den Anfang: Die ersten zwei Takte sind eine Art Motto, vom
Folgenden abgesetzt durch ein ritardando und einen langausgehaltenen Akkord.
Der 2. Takt erfüllt das Klangzentrum auf Cis, enharmonisch dem Schluß entspre-
chend, und exponiert zwei klangzentreneigene große Septimen. Der erste Takt
enthält einen Quartvorhalt zur Terz; eine Subdominant-Dominant-Wirkung in Be-
zug auf eine nicht erscheinende Tonika schwingt mit. Der Typus des Anfangs in
tonaler Musik, der erst auf die Tonika hinzielt, wird hier nachgebildet. Der drit-
te Takt führt neue Septimen ein, die sich nicht vollständig mit dem unmodifizier-
ten Grundmaterial decken; E-Dis bezeichnet die erniedrigte Terz und die große
None über dem Grundton Cis; die folgende Septime F-E läßt sich entweder -
mehr der Orthographie entsprechend - dem Klangzentrum des nächsten Taktes
(auf B) als integraler Bestandteil subsumieren oder noch, enharmonisch umgedeu-
tet, als Gleichzeitigkeit von großer und kleiner Terz über Cis hören.
Diese doppelten Bezugsmöglichkeiten machen einen Reiz dieses Stücks (und
der späten Musik Skrjabins überhaupt) aus.
Unter den kleineren Klavierstücken Skrjabins gibt es ein einziges, das Poeme
op. 69, Nr. 2, das zwischen zwei deutlich unterschiedenen Klangzentren alter-
niert und sie bestimmten Formteilen zuordnet. Sie sind jedoch verwandt genug,
um als verschiedene Modifikationen der Prometheus-Harmonie sofort erkennbar
zu sein.
Vermittelt sind sie ferner dadurch, daß ihnen ganz ähnliche melodische Ge-
stalten zugeordnet sind: mehr oder minder hastig aufwärtsstrebende Gesten.
Sehr komplex gelagert ist die Dialektik von Einheit und Differenzierung des
Klangzentrums in der 8. Sonate op. 66. Auf engstem Raum geballt findet sie sich
bereits in den ersten Takten.
Der Grundakkord des Werks steht auf dem schweren Taktteil: Die Prometheus-
Harmonie (plus reiner Quinte) auf A, der "Tonalität" der Sonate, aufgeschichtet
in Terzen zum Tredezimakkord. Was aber ist jeweils die Harmonie auf dem leich-
ten Taktteil, die ihrerseits Terzaufstockung erfährt? Drei Thesen stehen zur De-
batte:
1. Sie repräsentiert ein eigenes, zweites Klangzentrum - dafür sprechen die
erheblichen Differenzen zum Grundakkord und die starke Fortschreitungswirkung.
Dem gut in sich verschmelzenden Grundakkord steht ein dissoziierter Klang ge-
genüber, in dem C-Dur- und Es-Dur-Dreiklang gleichsam "bitonal" aufeinander-
stoßen.
2. Sie ist eine Modifikation des Grundakkords über der gleichen Basis - da-
für spricht eine Anzahl von gemeinsamen Tönen zumal zwischen den ersten bei-
den Akkorden. Diese These vertritt Cheetham. Er notiert den "set" des Werks
als Quartenakkord mit drei "modal variants" folgendermaßen 1:
Die Erniedrigung von großer None und Terz wäre eine durchaus gebräuch-
liche Modifikation, ganz ungewöhnlich allerdings das Alternieren von übermäßi-
ger Quarte und reiner Quarte.
3. Dem ersten Akkord liegt eine Transposition des Grundakkords zugrunde -
dafür spricht Takt 2: Dem Grundakkord auf A folgt seine Transposition auf C (oh-
ne Tredezime).
Die Antwort, die bündig erst die Sonate in ihrer Ganzheit erteilt, sei vorweg-
genommen: Jede der drei Thesen hat ihre Richtigkeit, die Sachverhalte spielen
ineinander, durchdringen sich gegenseitig, und darin gerade liegt die harmoni-
sche Idee des Werks, die in seinem Verlauf zur Entfaltung kommt. Der Grundak-
kord kippt, bei chromatischer Erniedrigung dreier Töne, in seine Transposition
um eine kleine Terz aufwärts um (Takt 4). Und der erste Akkord, eine weniger
einschneidende Modifikation des Grundakkords, bleibt einerseits eng bezogen auf
die Form, von der er abgeleitet wurde - so das Verhältnis zwischen Auftakt und
Abtakt zu Beginn -, andererseits löst er sich als gesondertes Klangzentrum mit
eigener Intervallstruktur, eigener Grundtönigkeit, von seinem Bezugspunkt; das
geschieht in den Takten 4 und 5, wo nun der partiell melodisch aufgefächerte An-
fangsakkord zum Grundakkord auf Es weiterführt. Dieser Prozeß der Emanzipa-
tion eines zweiten Klangzentrums ist im weiteren Fortgang verschränkt mit ei-
nem Prozeß, der die Einheit des Klangzentrums immer deutlicher hervorhebt.
Die weitere Differenzierung, Kontrastierung zweier verschieden strukturier-
ter Klangzentren ist in den ersten Takten weiterzuverfolgen. Die melodische Auf-
faltung des ersten Akkords ist in Takt 6 transponiert wieder aufgegriffen, in den
Takten 8 und 10 fortgeführt und um weitere Töne bereichert. Was als Ableitung
vom Grundakkord eingeführt wurde, ließ von Anfang an eine starke Beziehung auf
einen eigenen Grundton (C nämlich) hervortreten und stellt ihn nun mehr und
mehr heraus. In der so gewonnenen eigenen Form, die durch den Moll- bzw.
Dur-Dreiklang mit großer Septime geprägt ist, bestreitet er schließlich zwei
ausgedehnte Partien der Durchführung allein ("tragique. Molto piu vivo", T. 188-
212 und "Molto piu vivo" agitato T. 266-293).
Hier das harmonische Schema der ersten Partie:
Es ist der Bezug auf die angegebenen Grundtöne gemeint, nicht etwa der auf die
Grundtöne eine kleine Terz tiefer.
Zugleich aber wird im Fortgang des Stücks die Zusammengehörigkeit von
Grundakkord und Ableitung immer evidenter, und zwar dadurch, daß die Modi-
fikation des Grundakkords bis hin zur Form des "zweiten Klangzentrums" Schritt
für Schritt vorgeführt wird. Im Takt 5 klingt ein knappes Motiv auf, getragen
von einem Akkord in partieller Quartenformation, der das unmodifizierte Klang-
zentrum auf Es repräsentiert. Beim Eintritt des Hauptsatzes (Allegro agitato
T. 22), der in Takt 5 erstmals angedeutet wurde, ist jedoch bereits die große
Terz zur kleinen erniedrigt. Der Nachsatz des Hauptgedankens (ab T. 26) hellt
sie vorübergehend wieder zur großen Terz auf. Das Changieren zwischen gro-
ßer und kleiner Terz ist im folgenden breit entfaltet; charakteristische Stationen
sind die Takte 34, 52 (molto piu vivo) sowie die Takte 58 (allegro) und 63ff. , wo
große und kleine Terz querständig zueinander gelagert werden. In Takt 82 er-
scheint eine Formation, die dem abgeleiteten "zweiten" Klangzentrum bereits
entspricht; aus ihr wächst schließlich der Seitengedanke (tragique) heraus, der
bereits in Takt 3 erstmals aufgeklungen war (im mittleren System) und den Grund-
akkord samt einer seiner Modifikationen überspannt hatte. Hier nun ist die Mo-
difikation des Grundmaterials so eng verstrebt mit der Ausgangsform, daß kein
Zweifel mehr besteht über die Zusammenhänge: Für die Takte 80 -95 gilt durch-
gängig die Basis F mit changierender Terz und None, nicht etwa vorübergehend
die Basis As. Das schließt nicht aus, daß die Takte 82 und 83 bei ihrer Wieder-
kehr in Takt 119f. enharmonisch umgedeutet werden (H ist nun als Ces notiert)
und nun wirklich im Sinn des "zweiten" Klangzentrums auf den Grundton As be-
zogen sind. Die endgültige Entscheidung bringt letztlich erst die Schlußphase
der Sonate (prestissimo), die durchgängig in das Klangzentrum auf A integriert
ist (wie schon die erste Hälfte des Presto zuvor). Die Ableitung eines "zweiten
Klangzentrums" vom Grundakkord wird nun als solche ganz deutlich. Sie alter-
niert in leichtem Pendelschlag mit dem unmodifizierten Grundakkord. Eine chro-
matische Linie abwärts zuerst im mittleren System auftauchend, durchläuft alle
instabilen Töne des Grundmaterials mit ihren chromatischen Varianten (
Dis-D-Cis-C-H-B).
9:
94
Es ist, als wollte dieser Schluß verkünden, was Skrjabin einmal in seinen
philosophisch-literarischen Aufzeichnungen notierte: "Die Vielheit war einför-
mig. Die Einheit erfüllte die Vielheit mit ihrem Bewußtsein und die Vielheit war
i m Bewußtsein der Einheit (die Einheit strahlte die Vielheit aus). "1
Skrjabin vollzieht auf der Grundlage der Klangzentrentechnik gleichsam ein
Stück Musikgeschichte, die des 19. Jahrhunderts nämlich, noch einmal in kom-
primierter Form. Der Prometheus-Akkord hat für ihn die Rolle übernommen,
die einst der Dreiklang innehatte. Und wie an diesem werden nun am Prometheus-
Akkord mehr und mehr chromatische Veränderungen eingeführt; die Verknüpfungen
zwischen den Transpositionsstufen werden durch chromatische Beziehungen, chro-
matische Durchgänge dichter, flüssiger - wie zuvor die Dreiklangsverbindungen.
Doch selbst hinter einem so geschärften, scheinbar komplizierten chromati-
schen Satzbild, wie es im ersten Prélude aus Skrjabins letztem vollendeten Werk-
zyklus op. 74 vorliegt, ist die Klangzentrenordnung klar erkennbar.
liche Gewichtung der Töne außer Acht. Die Besonderheit des Stücks liegt ge-
rade darin, daß die Melodie nun wieder mehr ist als "auseinandergefaltete
Harmonie". Von einer totalen Integration von Horizontale und Vertikale nach
Art der Dodekaphonie kann hier keine Rede sein.
Der erste Takt des Hauptsatzes, welcher in Takt 39 (allegro) beginnt (bis da-
hin reicht die Einleitung), läßt sich auf zweierlei Weise auffassen: entweder wird
die große Septime über dem F-Dur-Dreiklang als freier Vorhalt zur kleinen be-
trachtet - das entsprach der bis dahin in den letzten Werken Skrjabins vorherr-
schenden Klangzentrenstruktur -, oder die kleine Septime wird als Trübung der
großen angesehen - das liegt näher, wenn man von den beiden vorhergehenden
Takten ("lumineux vibrant") ausgeht, in denen die große Septime fest im Akkord
etabliert ist. Eine Entscheidung zu treffen, wäre der Sache unangemessen. Ihr
Wesen liegt in dieser Ambivalenz. Beide Fassungen des Klangzentrums, die mit
großer und die mit kleiner Septime, werden innerhalb der Sonate gleichrangig
behandelt, und die Form vermittelt zwischen ihnen 1.
In der Einleitung, die insgesamt auf As steht, wird zunächst die kleine Septi-
me Ges eingeführt . Sofort nach dem Doppelstrich jedoch, in Takt 10, wird in
1 Stegers Annahme eines Undezimakkords F-A-C-Es-G-H als Klangzentrum
reicht nicht aus (s. NZfM 1972/1, S. 12).
2 Daß sie in jenem arpeggierten Klang in Takt 3, der aus einem anderen Re-
der linken Hand die große Septime frei eingeführt als Beginn einer chromatischen
Linie, die bis zur Quinte abwärtssteigt. Kontrapunktiert zu ihr ist in der Ober-
stimme ein chromatischer Zug von der Quinte aufwärts, der in Takt 11 bereits
ins Schwanken zwischen großer und kleiner Septime gerät. Ähnliches geschieht
in den Takten 17 bis 20 in der linken Hand, darauf wieder in der Oberstimme.
Die letzte Phase der Einleitung beginnt in Takt 33 große und kleine Septime im
Triller zu vereinen - erster Keim zu jener grandiosen klirrenden Akkordtriller-
passage am Ende der Durchführung, die bis in die Nähe von Clusterbildungen
vorstößt.
Der Endpunkt und Ausdruckshöhepunkt der Einleitung insistiert auf der großen
Septime. Der Hauptsatz, der unmittelbar danach ausgelöst wird, ist dann Syn-
these, Ergebnis eines Prozesses, der Einleitung im besten Sinn des Wortes ist.
Nach und nach hat sich herausgeschält, was nun im Hauptsatz prägnante Gestalt
gewonnen hat.
Die obere Schicht des Klangzentrums, das in dieser Einleitung in klarer Terz-
schichtung auftritt, hat sich in chromatische Züge aufgelöst, die sämtliche zwölf
Töne durchstreichen (vgl. vor allem auch die Coda der Sonate) und eine Unter-
scheidung von klanzentreneigenen Tönen, chromatischen Varianten und Durchgän-
gen als irrelevant erscheinen lassen. Getragen ist das aufgelöste Satzbild aber
von einem umso stabileren, lapidareren Akkordunterbau, dem Dur- oder Moll-
Dreiklang 1.
gister hereinklingt und von Skrjabin als "Naturlaut" angesehen wird, als Fis
notiert ist, ist eine feine Caprice. Sie weist darauf hin, daß in dieses Klang-
zentrum stets seine Tritonustransposition mit hereinspielt (an harmonisch
analoger Stelle, Takt 154, ist übrigens Ges notiert).
1 Diese Analyse deckt selbstverständlich nur Teile, allerdings wesentliche
Teile der Sonate. Das Werk ist reich genug, um noch andere Formen der
Klangbildung zu enthalten. So spielt etwa im Seitensatz (T. 73ff. ) das Klang-
zentrum des "Prometheus" eine tragende Rolle: eine anschließende homopho-
ne Partie zeigt partielle Quartenstruktur des Akkordbaus.
Ein weiterer Schritt zu strengster Strukturierung der Grundskala ist bereits
in der 6. Sonate op. 62 getan. Das Grundmaterial wird bereichert um die Quinte G
(was im Prélude op. 59, Nr. 2 und in anderen Stücken bereits zu konstatieren war)
sowie um die kleine Terz Es, die nun nicht länger nur als Variante der großen
fungiert, sondern mit gleichem Gewicht neben sie tritt, also auch gleichzeitig
mit ihr erklingen kann. Damit ergibt sich eine Skala, innerhalb derer Halbton
und Ganzton in regelmäßiger Folge alternieren:
Sie gehört zu den Skalen, die Messiaen später als "Modi mit begrenzter
Transpositionsmöglichkeit" systematisiert hat 1. Diese "Modi" (die nichts mit
den antiken und mittelalterlichen zu tun haben) setzen die temperierte Stimmung
voraus und gründen auf der Unterteilung der Oktave in gleiche Distanzen. Eine
Aufspaltung in 3 Teile etwa ergibt große Terzen, deren Summierung den über-
mäßigen Dreiklang, der sich nur dreimal um einen Halbton versetzen läßt; da-
nach ist bereits eine Umkehrung des Ausgangsakkords (die die gleiche Intervall-
struktur hat) erreicht. Die vierfache Teilung der Oktave, die den verminderten
Septakkord ergibt, ist nur zweimal transponierbar, die sechsfache Teilung schließ-
lich, die Ganztonskala, nur einmal. Letztere ist in Messiaens System der Erste
Modus, auf dessen Anwendung in der Komposition Messiaen selbst verzichtet, weil
er von Debussy und Dukas bereits ausgeschöpft worden sei. Messiaen spürt, wie be-
grenzt er als Ausdrucksmittel ist. Skrjabin hatte ihn, wie erwähnt, nur gestreift.
Charakteristikum der weiteren Modi Messiaens ist nun, daß jeder der gleich gro-
ßen Teile der Oktave in sich weiter geteilt wird, so aber, daß jeder Teil präzis
die gleiche intervallische Binnenstruktur erhält. Damit bleibt die begrenzte Trans-
ponierbarkeit des Modusgerüsts erhalten. Aus der Unterteilung der kleinen Terz
in Halbton plus Ganzton entsteht der Zweite Modus.
Der also wird von Skrjabin erreicht - Messiaen weist selbst beiläufig darauf
hin 2.
Die rechte Hand ist auf die Basis Es, die linke auf die Basis C bezogen.
Voll bewußt der Eigenschaften des hier erschlossenen Materials, der Ein-
heit einer Tonordnung wie dieser, zeigt sich Skrjabin im Prélude op. 74, Nr. 3:
An die Stelle der Transposition des wie immer auch modifizierten Prome-
theus -Akkords ist die übergreifende, mehrere Transpositionen in sich aufsau-
gende Ordnung des symmetrischen Zweiten Modus als Basis der ganzen Kompo-
sition getreten. Er wird recht streng gehandhabt. Angereichert ist er nur mit
einer Durchgangsnote (jeweils der dritte Ton des Grundmotivs). Daß sich inner-
halb dieser Ordnung jede beliebige musikalische Gestalt intervallgetreu um eine
kleine Terz oder einen Tritonus transponieren läßt, macht sich Skrjabin in der
Behandlung des melodischen Grundgedankens zunutze. Daß dieses System im
Tonvorrat identisch ist mit den Transpositionen in den genannten Intervallen,
spiegelt sich nun auch in der Orthographie. Sie drückt adäquat die komposito-
rische Sachlage, die enharmonischen Identitäten aus. Obwohl die zweite Hälfte
des Stücks (ab Takt 13) die getreue Transposition der ersten um ein Tritonusin-
tervall abwärts ist, wird alles einheitlich auf die Grundskala mit der Basis Fis
bezogen - sie ist in den letzten Takt in Abwärtsrichtung ausgebreitet 1.
Daher rührt auch, daß das erste Melodieintervall zunächst als verminderte
Oktave (Ais-A) notiert ist, am Anfang der zweiten Hälfte des Stücks jedoch als
große Septime (E-Dis). Und obwohl etwa in Takt 6 die Prometheusharmonie (mit
tiefalterierter None) auf der Basis A erscheint, ist eben nicht eine tiefalterierte
None B notiert, sondern Ais. Die Transpositionen überkommener Akkordformen,
die im Klangbild noch hörbar sind, sind aufgehoben in einer umgreifenden Ma-
terialordnung.
Skrjabin schreibt einheitlich nur Tonerhöhungen, nur Kreuze. Das gemahnt
etwas an eine Notationsneuerung, die der Skrjabin-Anhänger Nikolas Obuchov
1915 erfand, entsprechend seiner "harmonie de douze sons sans redoublements",
die er bereits 1914, im Entstehungsjahr dieses Skrjabin-Préludes, entwickelt hat-
te. Gemäß der völligen Gleichberechtigung der 12 Töne des temperierten Systems,
von der er ausging, entwickelte er seine Notation in Anlehnung an die Klaviatur,
die nur 12 Tasten innerhalb der Oktave hat:
1 Auch die ersten Kompositionen Messiaens, die sich dieser Modi bedienen
(die Klavierpréludes etwa), beziehen diese auf einen Grundton. Mehr noch:
sie tragen Vorzeichen, die sich von der gleichnamigen Durtonart ableiten.
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Er hat sechs Töne mit dem Zweiten Modus gemeinsam und hat sich bei Skrjabin
auch auf ähnlichem Wege herausgeschält.
Er unterscheidet sich von diesem durch den Ganzton zu Beginn (der anderer-
seits mit der Grundskala des "Prometheus" übereinstimmt), durch die kleine
Sexte und - am auffälligsten - durch die große Septime, die zusätzlich zur klei-
nen hinzutritt. Dieser Ton findet sich bereits immer wieder in den Studien aus
der Zeit des "Prometheus", wo er der Grundskala dieses Werks am Ende noch
angehängt wird. Kompositorisch genutzt wird er erst spät. Innerhalb der 10. So-
nate wird er, wie oben konstatiert, neben der kleinen Septime klangzentreneigen.
Die beiden verwandten Modi werden in dem angesprochenen Stück, dem Poeme
op. 71, Nr. 1 konfrontiert.
Skrjabin gelangt zum chromatischen Total also auf einem ganz spezifischen
Weg: durch die allmähliche konsequente Erweiterung des Prometheus -Akkords
oder durch Akkordschichtung nach anderen Prinzipien, nicht aber wie Schönberg
über eine melodische Grundgestalt mit fester Tonfolge, die schließlich die strik-
te Zwölftönigkeit ohne Tonwiederholung annimmt.
Ob die Skrjabinschen Zwölftonakkorde im musikalischen Zusammenhang nur
vereinzelt, etwa an bestimmten Höhepunkten, erscheinen sollten oder ob Skrja-
bin bereits ihre Auseinanderfaltung in die Sukzessivität oder gar ein striktes
Zwölftonsystem im Blick hatte, läßt sich anhand dieser Skizzen nicht entschei-
den. Wahrscheinlich ist das letztere nicht. Zwölftonmelodien stehen jedenfalls
nicht in den Aufzeichnungen. Skrjabin dachte auch zuletzt weniger in fixen Ton-
reihen als in Tonkomplexen, Tonvorräten, die innerhalb einer bestimmten Zeit-
einheit stabil bleiben. Er ist mehr an der ständigen Permutation der Töne des
Grundmaterials interessiert. Aufschlußreich in dieser Hinsicht sind die Passa-
gen, die von der melodischen Gestalt ausgehen. Auf Seite 47 oben notiert er eine
achttönige Skala, die dem Messiaenschen 2. Modus entspricht, und versucht nun
auf den folgenden Zeilen durch Auswahl aus diesem Vorrat und durch permanen-
te Vertauschung der Töne verschiedene melodische Gestalten zu gewinnen. Die
rigorose Tonordnung seit dem "Prometheus" hatte Skrjabins melodischer Erfin-
dung zweifellos Fesseln angelegt. Er sucht sie nun hier, unter strenger Wahrung
des "Prinzips", durch Ausprobieren anzuregen.
Die 2 letzten Zeilen zeigen die für den letzten Skrjabin typischen in sich kreisen-
den Tonformeln, die meist doch nur als Umschreibung von Akkorden wirken, wie
sie auf Seite 29 oben - mit dem gleichen Tonvorrat in unterschiedlicher Lagerung -
stehen.
"Tod - weißer Klang" notiert Skrjabin zu diesen drei Takten, die in der Fak-
tur dem Prélude op. 74,2 ähneln, das Skrjabin ebenfalls mit dem Tod in Verbin-
dung brachte. Die Musik pendelt formelhaft innerhalb einer Harmonie, deren
Kern der A-Dur-Dreiklang ist. Solche Partien bieten Ansatzpunkte für eine Ana-
lyse der Symbolik von harmonischen Bildungen Skrjabins.
Jedenfalls wäre die "Vorbereitende Handlung" stilistisch vielfältiger gewor-
den als das Spätwerk Skrjabins insgesamt. Am überraschendsten wirkt das aus-
gedehnteste Fragment, das diese 55 Seiten enthalten. Es ist eine 16 Takte lange
Fugenexposition (warum Kelkel sie "ultrachromatisch" findet, erläutert er nicht):
Das Thema dürfte kaum ein spontaner melodischer Einfall sein: es wirkt
eher konstruiert, sehr eckig. Um nur wenige Momente anzusprechen: Der erste
Takt, dessen 4 Töne die verschwiegene Achse C chromatisch und in symmetri-
scher Anordnung umkreisen, wird im zweiten Takt sequenziert. Das erste Inter-
vall des dritten Takts, die Sexte, umgreift chromatisch den bisher ausgemesse-
nen Ambitus; ein Verfahren der Materialentfaltung, das etwas an den mittleren
Webern erinnert: Nach und nach werden durch chromatische Nachbarschaft und
chromatische Umgreifung die 12 Töne erschlossen, ohne noch streng und sich
jede Wiederholung versagend als Reihe aufzutreten. Der vierte Takt ist zwar
nicht intervallgetreu, aber von der Kontur her der Krebs des dritten. Die Gestalt-
höhe dieses Fugenthemas ist wegen der minimalen Differenzierung der Noten-
werte dennoch gering. Die Beantwortung des Dux erfolgt - wie könnte es bei Skrja-
bin anders sein - nicht im Quint-, sondern im Tritonusabstand. Der Kontrapunkt,
der beibehalten wird, zeichnet sich ähnlich wie das Thema eher durch Ungelenk-
heit aus als durch Prägnanz. Die weitere Konzeption der Stimmen scheint von ei-
ner ungefähr ausgewogenen Verteilung der 12 Töne bestimmt zu sein. Der lineare
Impuls versandet jedoch völlig. Die Stimmen verlieren immer mehr an melodi-
scher Substanz. Das wird auch Skrjabin erkannt haben, als er diesen Versuch
abbrach.
5. HARMONIK UND FORM
Harmonik - dieser Begriff bezieht sich nicht nur auf den Aufbau von Akkorden,
sondern auch auf deren Verknüpfung, auf die Entfaltung von Akkordverbindungen
in der Zeit. Damit wirkt Harmonik hinein in die Strukturierung von musikalischem
Ablauf; der Harmonik wohnen "formbildende Tendenzen" (A. Schönberg) inne.
Basierte klassisch-romantische Form auf der - wie stark immer erweiterten -
tonalen Kadenz, so entzieht sich Skrjabin diese Grundlage der Formbildung mit
der Preisgabe der funktionalen Tonalität und der Etablierung der Klangzentren-
technik. Wie aber konstituiert sich nun Form, wenn der Übergang von
Klangzentrum zu Klangzentrum nicht eigentlich mehr ein Fortschreiten ist, nicht mehr
den Wechsel der Akkordfunktion innerhalb der Tonart bezeichnet; wenn keine Mo-
dulation mehr stattfindet, sondern die diastematische Verschiebung einer gleich-
bleibenden Ganzheit, die sich im Grunde selbst genug ist und der Zuordnung auf
ein umgreifendes harmonisches Bezugssystem enträt, die nicht mehr in dialek-
tische Beziehung zu einem Anderen tritt, sondern sich als Monade abkapselt?
Verzicht auf die Funktion von Spannung und Entspannung, die bisher die Form
trugen, schafft völlig neue Voraussetzungen für die Formbildung. Wie aber ver-
hält sich Skrjabin zum Widerspruch zwischen seiner verräumlichenden Klang-
technik und der musikalischen Zeit; wie disponiert er seine statischen Tonkom-
plexe im Formablauf? Was etwa faßt die weiterhin angewandte Formbezeichnung
"Sonate" in sich, wenn die Tonalität, die einst Voraussetzung war für die Heraus-
bildung der Sonatenform, zerfallen ist?
Zunächst jedoch sei von der kleinsten Zelle musikalischer Formbildung aus-
gegangen, dem Übergang von einer Transpositionsstufe des Klangzentrums zur
andern.
Die beiden letzten Akkorde haben noch durchaus kadenzierende Wirkung, wenn-
gleich dieser Schluß eigentümlich in der Schwebe bleibt zwischen authentisch
und plagal. Isoliert vom Kontext betrachtet ließe sich die Fortschreitung so deu-
ten: eine Wechseldominante (die Wechseldominante hat seit je enge Beziehung zur
Subdominante 1 ), welche die Dominante überspringt und unmittelbar in die Toni-
ka führt. Die ausführlichere Analyse des Stücks in Kapitel 3.4 hat jedoch bereits
angedeutet, daß diese Erklärung nicht erschöpfend ist und den Stellenwert des
Stücks innerhalb der Entwicklung Skrjabins nicht präzis träfe. Wesentliche Par-
tien des Stücks nämlich (z. B. die oben abgedruckten Schlußtakte) zeigen die Ten-
denz, die Leittönigkeit und damit den dominantischen Charakter des Dis und F
zu neutralisieren und sie der Tonika oder - allgemeiner gesprochen - einer inte-
gralen Grundharmonie, einem Klangkomplex zu subsumieren, der auf das Klang-
zentrum vorausweist.
Einen entscheidenden Schritt weiter geht jedoch die Schlußbildung von "Flam-
mes sombres" op. 73, Nr. 2.
Sie ist der harmonischen Formel T-D-T nachgebildet, ersetzt sie aber durch
eine Klangzentrenfolge auf den Tönen F-H-F. Die einander scheinbar entgegen-
gesetzten Harmonien haben jedoch zwei wesentliche Töne, nämlich A und Dis
(Es), gemeinsam, mehr noch: der Baßton der einen Transposition des Klangzen-
trums (es hat die Form des Prometheus-Akkords mit erniedrigter None) ist je-
weils in der anderen akkordeigen, wird dort nur (sehr typisch für Skrjabin) aus-
gespart, um die Fortschreitungswirkung nicht noch weiter einzuebenen. Denn
Wiederum ist der kadenzierende Quintfall durch den Tritonusfall ersetzt. Nicht
aber ereignet sich, wie der erste Klangeindruck suggerieren könnte, ein "Fort-
schreiten" zwischen Klangzentrentranspositionen im Tritonusabstand (etwa C-
Fis), sondern die Penultima ist nichts anderes als eine Umlagerung des
Ultima-Klangs ; der Schlußfall vollzieht sich innerhalb der gleichen Harmonie 2 . Solche
Schlüsse stellen also nicht die Grundpolarität einer funktionalen Tonalität dar,
sondern allenfalls die Doppelgesichtigkeit der einzigen Harmonie. So erscheint
am Ende des letzten Préludes Skrjabins op. 74, Nr. 5 der gleiche musikalische
Sachverhalt in zwei unmittelbar nebeneinandergerückten enharmonischen Ver-
sionen:
Notiert ist ein Wechsel der Transpositionsstufe des Klangzentrums von A nach
Es beim Übergang von der 2. zur 3. Halben des vorletzten Takts. Doch der Tri-
tonussprung im Baß, der sich als kräftige Fundamentfortschreitung geriert, ist
ebensowenig eine solche wie der Tritonusfall am Anfang desselben Taktes und
zum Schlußtakt hin. Beide Klangzentren umfassen, von enharmonischen Differen-
zen abgesehen, den gleichen Tonvorrat, und die Diastematik der Oberstimme ist
dieselbe. Es ist, als wollte Skrjabin hier noch einmal kompositorisch und ortho-
graphisch demonstrieren, daß er mit dem symmetrischen Modus das "Prinzip"
1 Ähnlich ist der Schluß in op. 74, Nr. 5.
2 Ähnliche Schlüsse finden sich in op. 59, Nr. 1, op. 73, Nr. 1, op. 71, Nr. 2,
op. 67, Nr. 1.
gefunden hat, das die stärkste Polarität, die es im Dur-Moll-System einst gab,
die des Tritonus, endgültig und ohne Rest in sich aufsaugt. Nicht "Polarität auf
höherer Ebene" ist erzielt, sie ist vielmehr aufgehoben in einem umgreifenden
Ganzen.
Nach allem Bisherigen kann es kaum verwundern, wenn nun auch in der Sonaten-
hauptsatzform, die Skrjabin bis zuletzt im Grundriß bewahrt, Haupt- und Seiten-
gedanke in der Exposition vielfach im Tritonus- statt im Quintabstand stehen.
(Häufig ist daneben auch der Terzabstand.) Der Themendualismus, an dem Skrja-
bin etwas liegt, soll also auch durch die Unterschiedlichkeit der "Tonart" unter-
strichen werden. Dadurch allein war freilich das Wesen dieser Entwicklungsform
nie bestimmt gewesen. Hinzu kam, daß jede dieser Tonarten sich als solche in
der Kadenz ausprägen und befestigen konnte und der Übergang zwischen ihnen sich
durch Umdeutung von tonaler Funktion, durch Modulation vollzog . All dieser Mit-
tel hatte sich Skrjabin seit dem "Prometheus" beraubt; Tonart, Kadenz und Modu-
lation hatte er liquidiert.
Indem er das Klangzentrum bei Seitengedanken um eine halbe Oktave verschiebt,
tut er nichts, was spezifisch wäre für diesen Punkt der Form: derlei Rückung ist
allgegenwärtig als einziges Mittel der harmonischen Veränderung. Welche Möglich-
keiten außer denen der thematischen und fakturellen Kontrastierung hat aber Skrja-
bin überhaupt noch, um traditionelle Kategorien wie Hauptsatz oder Überleitung zu
erfüllen?
Weitere Stücke mit ähnlichem Formgrundriß: op. 59, Nr. 2, op. 71, Nr. 1
und op. 74, Nr. 3. Im letzten Stück kann sich die getreue transpositorische
Abbildung der ersten Hälfte durch die zweite bereits innerhalb des symmetri-
schen Rasters des Messiaenschen Zweiten Modus abspielen.
Das Poeme-Nocturne op. 61, das dem Grundriß der Sonatenhauptsatzform
folgt, exponiert zunächst einen viertaktigen Hauptgedanken auf den Stufen Des
und A, sequenziert ihn sogleich eine große Sekunde höher (Es und H), spaltet
Teile des Gedankens ab und gelangt über As und G (Vorausnahme der Stufe des
Seitensatzes) in Takt 15 zurück nach Des, womit offenbar eine gewisse Geschlos-
senheit des Hauptsatzes hergestellt werden soll. Bloße Stufengleichheit von An-
fang und Ende kann freilich nicht die innere Abrundung der Kadenz T-S-D-T be-
wirken. Das Ende eines Formteils wird hier im Grunde nur bezeichnet durch
das Wiederaufgreifen des Anfangs in Takt 17, das einen weiteren Abschnitt (T. 17 -
28) signalisiert, der als Überleitung gedacht ist. Darauf deutet freilich nur die
Tatsache, daß dieser Teil in der Reprise ausgelassen ist, damit nun der Seiten-
satz unmittelbar neben den Hauptsatz auf die gleiche Stufe gerückt werde. Denn
die Mittel des kompositorischen Fortgangs sind die nämlichen wie im Hauptsatz:
der melodische Gedanke wird sequenziert. Den Begriff der Überleitung scheint
Skrjabin dadurch erfüllen zu wollen, daß er die Distanz zwischen Haupt- und
Seitensatz (Des-G) genau in der Mitte halbiert: er schiebt die Stufe E ein. Glie-
derung und Ordnung im harmonischen Ablauf - das wird mehrfach noch zu zeigen
sein - sucht Skrjabin durch Regelmäßigkeiten in der Disposition der Stufendistan-
zen herzustellen. In der harmonischen Differenzierung von Haupt- und Seitensatz
verfährt Skrjabin nach traditionellem Modell: Dem harmonisch schweifenden Haupt-
satz steht der auf eine Stufe zentrierte Seitens atz gegenüber, der harmonische
Rhythmus ist ruhiger geworden 1. Skrjabin scheint hier sogar etwas wie tonale
Befestigung durch Nachbildung der klassischen Kadenz intendiert zu haben. In
T. 35/36 werden der Stufe G die kleine Ober- und Unterterz als Trabanten zuge-
sellt; freilich leisten sie nicht, was Ober- und Unterdominante zur tonalen Festi-
gung leisteten. Doch hier ist nun der Ort, um die Frage von Kadenz und Sequenz
grundsätzlich zu diskutieren.
1 C. Dahlhaus weist auf die harmonische Sequenz zu Anfang der 7. Sonate hin,
die nach und nach alle Stufen der Ganztonleiter, der sechsfachen Teilung der
Oktave, berührt. (Alexander Skrjabin, Aus der Vorgeschichte der atonalen
Musik, in: Deutsche Universitätszeitung XII, 1957.)
2 E. Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 22.
von Regelmäßigkeiten in der Grundtonordnung ebenso wie in der Exposition.
Mehrmals rekurriert die Durchführung auf die Grundtongruppierung H-D-F-As,
die vierfache Teilung der Oktave.
Das nämliche Prinzip liegt der Schlußgruppe der Exposition zugrunde (Stufen:
A-C-Es-Fis-A) und verleiht ihr eine gewisse innere Geschlossenheit. Grundsätz-
liche Unterschiede in der Disposition der harmonischen Stufen sind es also nicht,
die es gestatten, die Kategorien von Exposition, Durchführung und Reprise auch
noch bei der Analyse von späten Skrjabin-Sonaten beizubehalten. Die Differenzie-
rung erfolgt auf anderen Ebenen, in der Art der Verarbeitung und Kombination
des melodischen Materials, im Rhythmischen und Koloristischen, in der Faktur
des Klaviersatzes 1.
Wäre also auf der Ebene des Harmonischen von permanenter Durchführung zu
sprechen? Soweit damit die stete Transposition eines relativ stabilen Grundma-
terials auf verschiedene Stufen gemeint ist, gewiß. Wird damit jedoch die Ent-
wicklung, der Prozeß vollzogen, den die zahlreichen verbalen Kommentare in
dieser 6. Sonate anzeigen, vom "concentré" des Anfangs über die Vorgangsbe-
schreibung "le rêve prend forme" bis zu hochdynamischen, dramatischen Wor-
ten wie "avec entrainement" und "l'épouvante surgit"? Auf der Ebene des Klang-
zentrums kaum. In der 6. Sonate macht es zwar immerhin geringfügige Modifi-
kationen durch, wird zum Ende des Stücks hin angereichert, aufgefüllt (s. Kap.
4. 3). Das trifft aber auf andere Sonaten nicht in dem Maße zu und noch weniger
auf die kleineren Stücke. Da wird das Klangzentrum nicht oder kaum entfaltet.
Seine von vornherein gesetzte, quasi vorgeformte Struktur wird ständig wieder-
holt (nur auf verschiedenen diastematischen Ebenen). Skrjabins Musik ist da,
pointiert ausgedrückt, permanente Exposition. Dynamik ist das Wesen der Skrja-
binschen Sonatenform nur äußerlich, wird durch Verdichtung der Ereignisse in
der Zeit, durch Tempobeschleunigung, bewirkt. In Wirklichkeit sind die harmo-
nischen Elemente, die Klangzentren auf einer bestimmten Stufe, in sich abgekap-
selt, nicht weiterweisend, eher statisch, allenfalls durch "Pseudo-Osmose" 2
miteinander verknüpft: Die Ränder überlappen sich gelegentlich. Das Klangzen-
trum entspricht recht genau dem, was Stockhausen von den Elementen der Mo-
mentform sagt: "Man durchmißt in kürzester Zeit den ganzen Erlebnisbereich,
und so gerät man in einen schwebenden Zustand: die Musik 'bleibt stehen' " 3.
Skrjabin hat die Tendenz zur Verräumlichung in seiner Musik selbst gesehen:
"Scheint euch nicht, daß Musik die Zeit verzaubert, daß sie sie ganz anhalten
kann?" 4 Und an anderer Stelle sagt er: "Raum erschaffen, heißt: jeden seiner
Momente mit dessen ganzer Vergangenheit und Zukunft erschaffen. " 5 Auf die
Komposition angewandt, heißt das: Jeder musikalische Moment ist deshalb mit
seiner ganzen Vergangenheit und Zukunft erschaffen, weil er der gleichen Struk-
Die bisher umfangreichsten Bibliographien der neueren Zeit finden sich bei Cle-
mens-Christoph von Gleich, Die sinfonischen Werke von Alexander Skrjabin,
Bilthoven 1963, und bei Varvara Dernova, Garmonija Skrjabina, Leningrad 1968,
wo vor allem die russischsprachige Literatur umfassend zusammengestellt ist.
Hier sollen nur die Schriften angeführt werden, die mit dem Gegenstand der
Arbeit zu tun haben, und deren Lektüre der Fertigstellung der Dissertation vor-
anging.
I. QUELLEN
A. Musikalische Ausgaben
Polnoe sobranie socinenij dlja fortepiano (GA der Klavierwerke), drei Bände,
hrsg. v. K. N. Igumnov (Bd. I/II), L. Oborin und J. I. Milstein (Bd. III), Moskau
1947 - 1953.
Darauf fußend:
Ausgewählte Klavierwerke, hrsg. v. G. Philipp, sechs Bände, Leipzig 1966 - 1974.
Prométhée, Le Poèm de Feu op. 60, Edition Russe de Musique, Berlin-Moskau
1911.
B. Schriften