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Irving Wohlfarth

Anachronie
Interferenzen zwischen Walter Benjamin und W. G. Sebald

Für Cornelia

Bibliothèque où les livres se sont fondus les uns dans les autres et où les titres se
sont effacés. 1
Das Ausfindigmachen der Wahrheit ist [. . .] das Geschäft des von Benjamin als
das Wappentier der Melancholie beschriebenen Hundes, in dem wir, wie auch
Kafka wusste, ›das Bild des unermüdlichen Forschers und Grüblers besitzen‹. 2

Benjamins Werk nimmt einen einzigartigen Platz in Sebalds Œuvre ein, die Rezeption
wirkt aber gefiltert und gestört. Dieses doppeldeutige Verhältnis kann am besten an Aus-
terlitz studiert werden. Gemeinsame Motive sind hier die »Wiederkehr des Flaneurs«, die
»Metaphysik der Zeit«, »geheime Verabredungen« mit der unterdrückten Vergangenheit,
ihrer beider Forschung knüpft an das »Passagenprojekt« an. Aber Benjamins Projekt
weicht in Austerlitz einem autobiographischen Imperativ, die revolutionäre Ausrichtung
fällt weg, der Flaneur wird wieder entpolitisiert. Gewiss, diese Verschiebungen und In-
terferenzen zeigen die große dazwischen liegende Tendenz- und Zeitenwende an. Aber es
fragt sich, ob Sebalds anachronisches Rückzugsgefecht nicht auch anachronistisch, seine
unzeitgemäße Melancholie nicht auch allzu zeitgemäß und heute von Benjamin her nicht
nur zu verfechten, sondern auch anzufechten ist.

Benjamin’s work looms large in Sebald’s oeuvre, yet its reception is muted and disturbed.
This ambiguous relation is best studied in Austerlitz. Many common motifs are in evi-
dence here: the »return of the flaneur«, a »metaphysics of time«, »secret assignations«
with the oppressed past, indeed a kind of Arcades Project. The latter is, however, replaced
midway by an autobiographical quest, its revolutionary thrust falls away, the flaneur is
depoliticised. While these shifts mark the larger historical ones, they also raise the ques-
tion whether Sebalds »anachronic« stance isn’t also an anachronistic posture, his untimely
melancholy also of the times.

1
Pierre Mabille, zit. in Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann
u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. V, 1. Frankfurt / M. 1972–89, S. 490. Künftig unter
der Sigle GS.
2
W. G. Sebald: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. München / Wien 2003, S. 112. Künftig
unter der Sigle CS.

DOI 10.1515/iasl.2008.020
Anachronie 185

1. »Unter Saturn geboren«

. . . als hätten im Kunstwerk die Männer einander verehrt wie Brüder, einander
dort oft ein Denkmal gesetzt, wo ihre Wege sich kreuzten. 3

Am Ende von Walter Benjamins Prosastück »Ich packe meine Bibliothek aus –
Eine Rede über das Sammeln« – verschwindet der umgezogene Autor, »wie recht
und billig«, ins Gehäuse seiner wiederaufgestellten Bücher.4 Wie der Abgang des
chinesischen Malers, der auf seinem letzten Bild mit einem Lächeln in den Tür-
spalt eines gemalten Häuschens verschwindet,5 stellt dieses Bild einen Autor vor,
der im Begriff steht, ins eigene Werk – und damit in die ihn enteignende Wahr-
heit – zu verschwinden.6 Hierzu gesellt sich das spielerische Verschwinden einer
anderen seiner Lieblingsfiguren: das »bucklicht Männlein«.7 Benjamin hat eigene
und fremde Schriften immer so zusammenmontiert wie jener verborgene »Meister
im Schachspiel« seine Züge kombiniert: nämlich im Kampf gegen den »Feind«.8
Erst nachträglich wurden seine verstreuten Schriften eingesammelt, womit dann
ersichtlich wurde, dass sie die Bruchstücke eines einzigen Werks, die Momente
einer langfristigen und vielschichtigen Strategie darstellen. Hierzu gehört das Sam-
meln und Verwenden oft versteckter Zitate. Benjamins Gesammelte Schriften
werden nun seit ihrer Eingemeindung in die Weltbibliothek ihrerseits überall zi-
tiert. Aber die dabei verfolgte Strategie, sofern es sich um eine solche handelt, ist
meistens die des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs und steht somit in krassem
Widerspruch zu seiner eigenen revolutionären Theorie und Praxis des Zitats.9 Im
Folgenden werden wir es bei Sebald mit einer Zitierpraxis zu tun haben, die
beiden Extremen gleichermaßen fernsteht: der kommunistischen Revolution und
dem kapitalistischen Markt.

3
W. G. Sebald: Nach der Natur. Frankfurt / M. 1995, S. 8. Künftig unter der Sigle NN.
4
GS, IV, I, S. 396.
5
Vgl. GS, IV, I, S. 262–263. »Das Selbst wird ›als Verschwindendes gerettet durch Ver-
kleinerung‹. Dieses Eingehen ins Bild ist nicht Erlösung; aber es ist Trost« (GS, III,
S. 382). Das Zitat ist aus Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Äs-
thetischen. Tübingen 1933.
6
Vgl. hierzu die »Erkenntniskritische Vorrede« zu Ursprung des deutschen Trauer-
spiels, GS, I, 1, S. 216.
7
Vgl. hierzu Irving Wohlfahrt: ›Märchen für Dialektiker‹. Walter Benjamin und sein
bucklicht Männlein. In: Klaus Doderer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderlitera-
tur. Weinheim 1988, S. 121–176.
8
Vgl. zum »Schachautomaten«, zum »Feind« und zum »buckligen Zwerg«, der die
Hand der Puppe – und an anderer Stelle die Feder des Schriftstellers – heimlich lenkt
GS, I, 2, S. 693, 695 u. GS, IV, I, S. 304; und zum Schachspiel des Lebens samt den
»Winkelzügen« des Schriftstellers (im Zusammenhang mit Nabokov und Benjamin)
CS, S. 190. – Im Folgenden wird Benjamins letzte, ihrerseits hochgradig intertextuelle
Schrift »Über den Begriff der Geschichte« die »Thesen« genannt.
9
Vgl. hierzu Manfred Voigt: Zitat. In: Michael Opitz / Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins
Begriffe. Bd. 2. Frankfurt / M. 2000, S. 826–850.
186 Irving Wohlfarth

Hinter jedem Buch des Komparatisten und poeta doctus Sebald steckt ein um-
fangreicher Handapparat. Neben den Schriften anderer Wahlverwandter wie Sir
Thomas Browne, Elias Canetti, Franz Kafka oder Vladimir Nabokov10 nehmen
die Benjamins einen zentralen, vielleicht den zentralsten Platz ein.11 Es ist nicht

10
Seine glänzendsten Seiten, schreibt Sebald über Nabokov, erwecken den Eindruck,
unser weltliches Treiben werde von einer auswärtigen Spezies beobachtet, »deren
Emissäre gelegentlich eine Gastrolle spielten in dem von den Lebendigen aufgeführten
Theater. So wie sie uns, erscheinen wir ihnen dann, nach Nabokovs Konjektur, als
flüchtige, transparente Wesen von unsicherer Provenienz und Bestimmung« (CS,
S. 185). Im Verlauf dieses – »Traumtexturen« betitelten – Textes entsteht ein vieldeu-
tiges Assoziationsnetz: Emissar – Emigrant – Schriftsteller – Gespenst – Schmetter-
ling(sjäger). Von Nabokovs Hauptbeschäftigung – der »Geisterkunde« – sei seine be-
kanntere Leidenschaft – »die Wissenschaft von den Nachtfaltern und Schmetterlin-
gen« – »wahrscheinlich nur ein Seitenzweig« gewesen (ebd.). Als einen »butterfly
man« lässt Sebald Nabokov selber durch Die Ausgewanderten geistern und die »Gast-
rolle« übernehmen, die dieser den über, hinter oder neben uns stehenden Emissären
und Grenzgängern zuschreibt. Vgl. dazu W. G. Sebald: Die Ausgewanderten (künftig
unter der Sigle DA). Frankfurt / M. 2002, S. 26f., 151, 170, 259, 319, 321. Könnte es
sein, dass Benjamins Gastrolle in Sebalds Oeuvre darum so oft verschwiegen wird,
weil sie sich als allzu ubiquitär erweisen würde? Auch in der »Kleinen Anmerkung zu
Nabokov« tritt er eher inkognito auf. Um das »jenseitige Ufer« zu erreichen (heißt es
dort), zu dem die »Buchstabenbrücke« des sich erzählenden Schriftstellers führt und
von dem aus unser Leben »wie in einem ordentlichen Satz« lesbar wird, »bedarf es,
nach Nabokov und nach der messianischen Theorie der Erlösung, nicht einer großen
Veranstaltung, sondern nur eines winzigen geistigen Rucks« (S. 190). Dies hat Sebald
vermutlich von Benjamins Kafka-Aufsatz, wonach ein »großer Rabbi« – alias Gers-
hom Scholem – gesagt habe, der Messias werde die Welt »nur um ein Geringes [. . .]
zurechtstellen« (GS, II, 2, S. 432). Es steht hier, wohlgemerkt, nicht, dass dieser Ruck
ein »geistiger« sei. – Vgl. ebenfalls das Kapitel »Schmetterlingsjagd« in Berliner Kind-
heit um Neunzehnhundert (GS, IV, I, S. 244–245), die, wie später Nabokovs Erin-
nerung, sprich, der dem Emigranten unzugänglich gewordenen Vergangenheit gewid-
met ist. Aber Benjamins Geisterbeschwörung ist keine Séance à la Nabokov; er träumt
nicht, wie dieser und offenbar auch Sebald, von entschwebender »Himmelfahrt« und
»Levitation« (CS, S. 191f.). Er sucht den rechten Abstand zur Welt, um von dort aus in
sie effektiver eingreifen zu können.
11
Eric Santners anregende Studie On Creaturely Life. Rilke Benjamin Sebald (Chicago
2006), in der Benjamin zu Sebalds »Schutzheiligem« und gar »Totem« und Sebald zum
»modernen Meister einer Benjaminschen Poetik« (S. xix) befördert werden, erschien
erst nach Abschluss dieser Arbeit. Folgende Vorbehalte gegen seine hier relevanten
Thesen seien kurz angemerkt: 1. Unsere Arbeiten sind sich über die Dichte und Fülle
der Beziehungen zwischen Sebald und Benjamin einig; Santner übergeht jedoch ihre
Verschwiegenheit. 2. Warum die Vorstellung einer »Benjamin’schen Poetik« irrefüh-
rend ist, wird im Folgenden entwickelt. 3. Santner liest Sebald mit Benjamin und
diesem nah- und fernstehenden Denkern (Agamben, Žižek, Lacan) zusammen. Nicht
jedoch im Geiste Benjamins, sprich im Sinne seiner Unterscheidung zwischen »Apo-
logie« (oder »Würdigung«) und »Rettung«. Sebalds Werk mit Theorie aufzuladen, und
sei sie Benjamins eigene, ergibt weniger eine kritische Konstellation als eine inflati-
onäre, innerhalb einer bestimmten literaturtheoretischen Avantgarde politisch kor-
rekte »Würdigung«. 4. Die Dreierkonstellation Rilke – Benjamin – Sebald lässt den
gemeinsamen Vorgänger vermissen, ohne dessen Werk insbesondere Rilkes – in Sant-
Anachronie 187

immer ersichtlich, ob es sich um bewusste Zitate, verschwiegene oder gar dem


Autor selber verborgene Spuren oder um weitverzweigte, ans Anonyme gren-
zende »Familienähnlichkeiten«12 handelt. Wie dem auch sei: es fällt auf, dass Se-
bald Benjamin nirgends zu einem seiner Gewährsmänner erklärt. Dass er mit
seinen Quellen oft ein Versteckspiel treibt, wurde inzwischen durch die Sekun-
därliteratur vielfach dokumentiert. Benjamin hatte für seinen Teil »geheime« und
auch »gefährliche« Beziehungen gepflegt. Vielleicht gilt das auf andere Weise für
Sebalds Verhältnis zu ihm; vielleicht wird die Auseinandersetzung aus »Einfluss-
angst«13 gemieden. Der größte Einfluss dürfte indessen der unpersönliche gewesen
sein, dem beide gleichermaßen unterworfen waren: der Einfluss Saturns.
Dass Sebalds Benjamin-Lektüren vielfältige Spuren in seinem Werk hinterlassen
haben, sei hier zunächst mit einer vorläufigen Übersicht belegt.
Unter den vielen Kritikern und Philosophen, die Sebald in seinen zwei Essay-
sammlungen zur österreichischen Literatur14 und einer späteren, hauptsächlich
Schweizer Autoren gewidmeten15 heranzieht, wird keiner öfter zitiert als Benja-

ners Augen grundlegende, in den meinen epigonale – Aufzeichnungen des Malte Lau-
rids Brigge nicht zu denken sind: Baudelaire.
12
Vgl. zu Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeit« A, S. 52, 176.
13
Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1973
(dt. Einflussangst. Frankfurt / M./Basel 1995).
14
Vgl. die Essays über Stifter, Schnitzler, Hofmannsthal, Kafka, Bernhard, Ernst Her-
beck und Stifter / Handke in: Zur Beschreibung des Unglücks (künftig unter der Sigle
BU). Frankfurt / M. 1994, zuerst Salzburg / Wien 1985 (insbes. S. 28, 40, 51, 65, 77, 82,
105f., 132, 185, 192); und über Altenberg, Kafka und Joseph Roth in: Unheimliche
Heimat (künftig unter der Sigle UH). Frankfurt / M. 1995, zuerst Salzburg / Wien 1991
(insbes. S. 70, 73, 75, 82, 102, 110f., 113). Auf das Passagen-Werk, das außer in biblio-
graphischen Angaben im Folgenden mit Benjamin die Passagenarbeit genannt wird,
verweist Sebald an folgenden Stellen: BU, 28, 50f.; UH, S. 70. Vgl. ebenfalls die Hin-
weise auf Benjamins Trauerspielbuch in »Konstruktionen der Trauer: Günter Grass
und Wolfgang Hildesheimer« (CS, S. 112, 123) und das ihm entlehnte Zitat aus der
Literatur des Barock (S. 127).
15
Die Aufsätze über Robert Walser, Keller und Hebel in Logis in einem Landhaus
(künftig unter der Sigle LL: Frankfurt / M. 2000, zuerst München / Wien 1998) knüp-
fen ausdrücklich an Benjamins Essays zu diesen Autoren und an seinen Erzähler-
Aufsatz an (vgl. insbes. S. 11f., 17–22, 114, 120, 131, 146, 148). »Wie trüb und verlogen
unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre«, heißt es dort über Sebalds Freibur-
ger Studienzeit ab 1963, »hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften
Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der
bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven er-
öffnet« (S. 12). Diese verharmlosende Umschreibung der Kritischen Theorie lässt das
in jener »Erforschung« immer noch gärende politische Ferment unerwähnt. Sebald,
der 1966 nach England und 1969 in die Schweiz übersiedelt ist, um dann 1970 nach
England zurückzukehren (DA, S. 219, 263), scheint von der deutschen Studentenbe-
wegung unberührt gewesen zu sein. Er grenzt sich auch gerade dort vom Literatur-
kritiker Benjamin ab, wo dieser die »Wunschthese« aufstellt, Hebel habe die franzö-
sische Revolution als »Eingriff der göttlichen Vernunft in die Menschheitsgeschichte«
verstanden (S. 26). Dass diese Paraphrase Benjamins Hebel-Deutung nicht gerecht
188 Irving Wohlfarth

min. Nicht, dass dessen geschichtsphilosophische und literaturkritische Arbeiten


bei Sebald Schule gemacht hätten. Er behält sich vielmehr vor, seine Methode je
nach Bedarf zu wechseln.16 Dieser Eigensinn gilt auch der Wahl seiner Stoffe.
Anstatt die große »reichsdeutsche« Literatur zu studieren, befasst er sich vor-
nehmlich mit den kleinen deutschsprachigen Literaturen, insbesondere mit der
»des einzigen Nachbarlands der Welt«: Österreich.17 Als im Allgäu gebürtiger
Nachbar dieses Nachbarn, der ein drittes Land, England, zu seiner Wahlheimat
gemacht hat, schreibt sich dieser Einzelgänger in eine erweiterte Familie der Frem-
den und Grenzübergänger ein.18 Benjamin hatte ebenfalls die »Auseinanderset-
zung in dem Grenzraum«19 gesucht.
Schwindel. Gefühle (1990) – eine Reihe von vier teils literarischen, teils auto-
biographischen Aufsätzen – kreist um Befindlichkeiten, die keine bloß subjektiven
sind. »Denn die Gefühle erwidern als motorisches Gebaren einem gegenständli-
chen Aufbau der Welt«, hieß es im Ursprung des deutschen Trauerspiels.20 Darum

wird (vgl. insbes. GS, II, 2, S. 640), ist hier weniger relevant als die Untermauerung
literarhistorischer Divergenzen durch divergierende Geschichtsdeutungen. Sebald
sieht in Hebel einen weiteren Gewährsmann für seine Überzeugung, dass die Kata-
strophe der Moderne von der französischen Revolution ausgelöst wurde. Vgl. ebenfalls
in diesem Zusammenhang seine generalisierende Formel bezüglich der russischen Re-
volution: »Terror der Geschichte« (CS, S. 184. Ähnliche Formeln begegnen übrigens
auch in Santners Sebald-Studie); seine kritiklose Aufnahme von Jean Dutourds 1996
erschienener, »politisch bewusst inkorrekte[r], den Standpunkt eines unreformierten
Royalisten vertretende[r] Schrift über die Ära 1789–1815«: Le Feldmaréchal von Bo-
naparte (Paris 1996: zit. S. 35ff.); den aus Walsers Prosastück »Der Abschied« extra-
polierten Zusammenhang zwischen dem Untergang des Ottomanischen Reichs und
dem armenischen Völkermord (S. 160), und die Sympathie, die er Chateaubriands
Mémoires d’outre-tombe entgegenbringt (Die Ringe des Saturn, künftig unter der
Sigle RS; Frankfurt / M. 1997, S. 304f.). Nichts ist hier falsch, aber alles einseitig. Eine
seit der französischen Revolution wiederkehrende Gedankenfigur liegt hier zugrunde:
die doktrinäre Ablehnung alles Doktrinären. Sebald, der in seinen Arbeiten zu Hebel,
Keller und Mörike vom Scheitern der französischen Revolution ausgeht, wirft einen
neo-barocken Blick auf die gesamte Moderne. Benjamin hingegen sieht in der revo-
lutionären Tradition die immer wieder verschütteten Ansätze des kollektiven Aktes,
dessen es bedürfte, um das weltgeschichtliche Trauerspiel zu beenden. Dieses »Dis-
kontinuum des Gewesenen« (GS, I, 3, S. 1236) stellt er der herrschenden Auffassung
von Tradition als einem Kontinuum entgegen, von der auch der Kult der Französi-
schen Revolution inzwischen korrumpiert sei.
16
BU, S. 9. Diese Regel gilt auch, aber auf andere Weise, für Benjamin. Vgl. GS, V, I,
S. 593 (N 10, 1).
17
Zit. BU, S. 10. In Austerlitz beschäftigt sich die Erzählfigur mit einem anderen sekun-
dären Nachbarland: Belgien.
18
»Es ist schwer zu sagen, wo das in der österreichischen Literatur zum Ausdruck
kommende Interesse an Grenzübergängen sich herschreibt [. . .]. In jedem Fall aber
geht es schon beim ersten Überschreiten der Grenze um den unwiderruflichen Verlust
der Familiarität« (BU, S. 10).
19
GS, VI, S. 528.
20
GS, I, I, S. 318. Vielleicht klingt diese Stelle bei Sebald nach, wenn er die »Motorik der
Trostlosigkeit und die der Erkenntnis identische Exekutive« nennt (BU, S. 12).
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fällt ihre Darstellung, so Benjamin weiter, mit der Phänomenologie ihrer Gegen-
stände zusammen. Echte Trauer ist ein »vom empirischen Subjekt gelöstes und
innig an die Fülle eines Gegenstands gebundenes Fühlen«. Sie zeichnet sich durch
eine unter den Gefühlen sonst nur der Liebe eigene »Beharrlichkeit der Intention«
aus, die einer »Treue zur Dingwelt« entstammt. Folglich nimmt sie einen »wohl-
bestimmten Platz« in der »Hierarchie der Intentionen« ein und heißt nur deshalb
Gefühl, weil jener Platz nicht der höchste ist.21 Diese Darstellung von Trauer und
Melancholie – melancolia, illa heroica – hat mit Freuds gleichnamigem Aufsatz
wenig gemein. Sie knüpft vielmehr an einen früheren, in der »Erkenntniskritischen
Vorrede« befindlichen Passus des Trauerspielbuchs an, der dessen Methode fol-
gendermaßen umreißt: »Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, um-
ständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Das unablässige Atemholen ist die
eigenste Daseinsform der Kontemplation«.22 Dieser kontemplativen Methode
wird anschließend die Aufgabe zugewiesen, das Schwindelgefühl zu bannen, in
das die Barockstimmung den Betrachter stürzt.23
Die damit angedeutete Affinität von Trauer, Liebe, Denken und Kontemplation
gilt ebenfalls für Sebalds Gefühls- und Gedankenwelt. Dass er und seine Prot-
agonisten oft mit »Schwindel« auf die Welt reagieren, liegt daran, dass ihr gegen-
ständlicher Aufbau jederzeit in sich zusammenstürzen könnte.24 Dem Schwindli-
gen erscheint »die ewige Unsicherheit und Bewegung« der bürgerlichen Epoche
(Marx) als ein »Maelstrom« (Poe), eine »Seekrankheit auf festem Lande« (Kafka),
und »das, was wir den Fortschritt nennen« als ein fortschreitender »Sturm« (Bau-
delaire, Benjamin).25 Dieser »Furie des Verschwindens« (Hegel) sucht die Kon-
templation standzuhalten. Auf den Schwindel der Moderne antwortet Sebald mit
ausdauernder Trauer um die schwindende Welt und umständlicher Liebe zur noch
vorhandenen. Mit dem Trauerspielbuch gesprochen: Saturn tritt hier in eine güns-
tige Konstellation, die Melancholie entwickelt ein eigenes Gegengift.
Darauf deutet ebenfalls der doppeldeutige Titel von Sebalds »Elementarge-
dicht«, das von seiner Vorlage, Lukrez’ De rerum natura, wie durch Äonen ent-
fernt ist: Nach der Natur (1992). Die Natur wird hier getreu, aber quasi postum
nachgezeichnet. Dass sie fast zum Anachronismus geworden ist, schlägt sich in der
Sprache des Gedichts nieder. Sebald lässt seinem altertümelnden Sprachduktus
hier freien Lauf und hält, wie auf ganz andere Weise der Autor des Zarathustra,
die Moderne auch sprachlich auf Distanz. Sein großes Sinngedicht umkreist die
»lautlose«, »nicht näher identifizierte« Katastrophe, die »sich ohne ein Aufhebens
vor dem Betrachter vollzieht«.26 »Was soll das: einer Welt, die in Totenstarre ver-

21
GS, I, I, S. 318, 333f.
22
GS, I, I, S. 208.
23
GS, I, I, S. 237.
24
»Kafkas Einsicht, dass all unsere Erfindungen im Absturz gemacht werden, ist ja
inzwischen nicht mehr so leicht von der Hand zu weisen« (BU, S. 12).
25
GS, 1, 2, S. 697f.
26
NN, S. 77.
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sinkt, von Fortschritt reden«,27 notiert Benjamin über Baudelaire. »Der Begriff des
Fortschritts«, fährt er fort, »ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es
›so weiter geht‹, ist die Katastrophe«.28
Die Verkehrung des bürgerlichen Fortschrittsgedankens in sein Gegenteil grün-
det darin, so Benjamin, dass die Dialektik von Produktionskräften und -verhält-
nissen, die Marx noch mit guten Gründen als den Motor des Fortschritts ansehen
konnte, so weit eingedämmt und umgeleitet wurde, dass die »Fortschritte der
Naturbeherrschung« mit immer katastrophaleren »Rückschritten der Gesell-
schaft« einhergingen.29 In dieser Fehlentwicklung sieht auch Sebald etwas System-
immanentes am Werk: »Es sind nämlich / nicht ins Gleichmass zu richten / die
Entwicklungsbahnen grosser Systeme, zu diffus ist der Akt / der Gewalt, das eine
immer / der Anfang des andern / und umgekehrt«.30 Die Welt ist jedoch, so gese-
hen, auf derart un(an)greifbare Weise aus den Fugen geraten, dass es, mit Benja-
mins Termini gesprochen, wohl keinen eindeutig identifizierbaren »Feind«, keinen
möglichen »Griff« des Menschengeschlechts nach der »Notbremse«,31 kurzum
keinen Akt mehr geben kann, der die entstellte Welt »zurechtstellen«32 könnte.
Das einzige Gegenmittel scheint das traurige Benennen der (ur)geschichtlichen
Katastrophe zu sein.
Sebald steht damit dem frühen, theologisch orientierten Benjamin (oder
Adorno oder Heidegger) näher als dem späteren materialistischen. Zwischen bei-
den liegt ein Epochenwandel: der Untergang des real existierenden Sozialismus
nach dem Debakel des Faschismus, die unerbittliche Globalisierung der kapitalis-
tischen Ökonomie und das wachsende Bewusstsein einer ökologischen Gefähr-
dung des Planeten. In dieser Lage mag Sebalds hilflos trauerndes Weltgefühl we-
niger anachronistisch erscheinen als Benjamins historischer Materialismus. Als
»nicht näher identifizierte« Katastrophe tritt das weltgeschichtliche Trauerspiel
jedoch so schattenhaft in Erscheinung, dass es sich beim Schwindel davor eher um
ein neues mal de siècle handelt.
Dennoch fehlt es auch hier, über den Epochenwandel hinweg, keineswegs an
Überschneidungen zwischen den Positionen. Hierzu eine Stichprobe: So wie Ben-
jamin die »namenlose Fron« von »Generationen Geschlagener« aus den Monu-
menten der Kultur herausliest,33 zählt Sebald die Arbeiterschaft von Manchester,
die innerhalb von drei Generationen zu einem »Geschlecht von Zwergen« ge-
schrumpft ist, zu »den obskuren / Scharen, denen der Fortschritt / der Geschichte
sich verdankt«. Und er glaubt zu sehen, wie ihre Seelen die »Müllhalden der City
Corporation« durchgeistern – »ein rauchendes / Riesengebirge, das sich, so schien

27
GS, I, 2, S. 682.
28
GS, I, 2, S. 683.
29
Vgl. GS, I, 2, S. 506–508 u. 699.
30
NN, S. 89.
31
GS, I, 3, S. 1232.
32
Vgl. GS, II, 2, S. 432.
33
GS, I, 2, S. 696, 700.
Anachronie 191

es mir, / bis hinüber ins Jenseits erstreckte«.34 Gegen die Folie des lieblichen tsche-
chischen Riesengebirges spielen diese Verse auf den »Trümmerhaufen« in Benja-
mins neunter »These« an, der vor dem entsetzten Blick des Angelus Novus bis
zum Himmel wächst.35 Der ersten »These« zufolge kann der historische Materi-
alismus die Partie nur dann gewinnen, wenn er die Theologie in seinen Dienst
nimmt;36 und diese wird durch die Figur versinnbildlicht, die Benjamin von Kin-
desbeinen an vertraut war: das »bucklichte Männlein« des deutschen Volksreims,
hier als »buckliger Zwerg« vorgestellt. Diese mythisch-christlich-jüdische Miss-
gestalt hat sein Gegenstück im »zwergwüchsigen Tataren«, der Sebald seit seiner
Kindheit als »Sinnfigur« der Katastrophe gilt: die »oft mit gewissen Formen / der
Selbstverstümmelung assoziierte Gestalt [. . .] des Adepten, der / einen Schneeberg
ersteigt und lang / dort verweilt, wie es heisst, unter Tränen«.37 Hierzu assoziiert
Sebald – über den Maler Grünewald, der die »Bürde der Trübsal« trägt – den
heiligen Dionysius, der, »das abgeschlagene Haupt unterm Arm«, »inmitten des
Lebens seinen Tod / Mit sich führt«.38 Dionysos stellt somit selber den Gekreu-
zigten dar – aber ganz anders als bei Nietzsche39 oder Benjamin40. Es ist, als sei
dem Kreislauf der Gewalt nur so Einhalt zu gebieten, dass sie jemand sich selber
zufügt.41 Kurzum, wo Benjamins und Sebalds Wege sich kreuzen, treffen jüdische

34
NN, S. 84f.
35
GS, I, 2, S. 698.
36
GS, I, 2, S. 693.
37
NN, S. 77. Vgl. zur Selbstverstümmelung des Chronisten RS, S. 305. »Mit Weinen«, so
ein Zitat in Benjamins Trauerspielbuch, »streuten wir den Samen in die Brachen / und
giengen traurig aus« (zit. GS, I, I, S. 406).
38
NN, S. 7f. »Geschlechtslos und doch von überweltlichem Geschlechte« (GS, II, 1,
S. 130): Benjamins Formel für Grünewalds Heilige wäre auf Klees Angelus Novus zu
übertragen, in dem er den »Engel der Geschichte« sieht. Vgl. zu Trauerspiel, Heili-
gentragödie und Märtyrerdrama GS, I, 1, S. 291f.
39
»Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten . . .«. So endet Nietz-
sches Ecce Homo.
40
Vgl. hierzu die am Ende des Surrealismus-Aufsatzes ekstatisch beschworene Zerreiß-
probe (GS, II, 1, S. 309).
41
Von Benjamin sagte 1930 ein Bekannter, er mache »den Eindruck eines Menschen, der
gerade von einem Kreuz heruntergestiegen sei und im Begriff stehe, ein neues zu
besteigen« (Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft.
Frankfurt / M. 1975, S. 204). Vgl. den Satz von Sir Thomas Browne, den Sebald einem
seiner Essays voranstellt: »And if the burthen of Isaac were sufficient for an holocaust,
a man may carry his owne pyre« (CS, S. 101). – Alexander und Margarete Mitscherlich
sprachen 1967 von der »kleinen Gruppe von ›Vergangenheitsforschern‹«, denen der
Auftrag stillschweigend erteilt wurde, sich »stellvertretend« mit der Schuld der Ver-
gangenheit zu beschäftigen (Die Unfähigkeit zu trauern. München / Stuttgart 1967,
S. 129. Vgl. Sebalds Anmerkungen zu dieser Studie in CS, S. 101–103). Die Frage, ob
ein Schriftsteller diese Aufgabe »stellvertretend für all die anderen« übernehmen kann,
nennt Sebald die »Quadratur der Moral« (CS, S. 117f.). Hätten nicht die meisten
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Verstrickung im Nationalsozialismus
unter einem massivem Aufgebot an psychischer Energie abgewehrt, dann wären sie –
so vermuten die Mitscherlichs – einer kollektiven Melancholie verfallen, Sebalds Me-
192 Irving Wohlfarth

und christliche Motive aufeinander. Aber solche Kreuzungen finden schon inner-
halb von Benjamins Schriften statt.
In den Ausgewanderten (1992)42 – »vier lange Erzählungen«, die dem Schicksal
von vier unscheinbaren Emigranten nachspüren, die schließlich aus dem Leben
auswandern – wird Benjamins Name in einer Liste von zwölf Exilschriftstellern
genannt, die sich »das Leben genommen haben oder nahe daran waren, es zu
tun«.43 Auf seine Weise knüpft Sebald in diesem Buch an die Thematik und Mon-
tage-Technik der Briefsammlung Deutsche Menschen an, in der Benjamin Mitte
der dreißiger Jahre aus seinem eigenen Exil heraus der »gemeinsamen Not« meist
emigrierter deutscher Schriftsteller einer früheren Epoche gedenkt: darunter Höl-
derlin, Kleist, Büchner und Seume.44 »Eingedenken« – eine unter Benjamins Feder
wiederkehrende, in keinem Wörterbuch auffindbare Vokabel – ist das musische
Element beider Schriftsteller.45 Das Motto der Ausgewanderten (»Zerstöret das
Letzte / die Erinnerung nicht«) wandelt Zeilen aus Hölderlins »Elegie« ab; folgen-
der Satz Benjamins, der auf Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen« anspielt,
hätte dort ebenfalls als Motto stehen können: »Wir beanspruchen von den Nach-
geborenen nicht Dank für unsere Siege, sondern das Eingedenken unserer Nie-
derlagen«.46 »Schwerer ist es«, so eine ergänzende Aufzeichnung aus der Passa-
genarbeit, »das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten [. . .],
das der Dichter und Denker nicht ausgenommen. Dem Gedächtnis der Namen-
losen ist die historische Konstruktion gewidmet«.47 Die Fluchtlinien dieser Kon-
struktion laufen, darauf legt Benjamin das größte Gewicht, in der gegenwärtigen
Lage zusammen. Spätestens an dieser Stelle tritt der grundlegende Unterschied
zwischen Benjamins historisch-politischen Konstruktionen und Sebalds histo-

lancholie – seine Unfähigkeit, nicht zu trauern – ist vielleicht als stellvertretende Ant-
wort auf dieses kollektive Versäumnis zu deuten. Er deutet jedenfalls mehrfach an,
dass seine zwiefache Auswanderung mit dem unerträglichen »Geschick« zusammen-
hängt, mit dem die Deutschen alles »bereinigt« hatten (DA, S. 338).
42
»Ausgewanderte« sind nicht »Auswanderer«. Diese altertümliche Wortwahl, die viel-
leicht auf Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794) anspielt, ver-
leiht dem In-die-Fremde-gegangen-sein selber einen etwas fremden Akzent. Unent-
schieden bleibt, ob diese deutschen Menschen ausgewandert sind oder es wurden.
43
»[Paul Bereyter] habe gelesen und gelesen – Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell,
Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietsky, Benjamin, Koestler und
Zweig« (DA, S. 86). Vgl. zum Selbstmord als »Heroismus des modernen Lebens«
Charles Baudelaire: Oeuvres Complètes. Hg. v. Yves-Gérard le Dantec. Paris 1968,
S. 950 (künftig unter der Sigle OC); dazu Benjamins Kommentar (GS, I, 2, S. 578–
580); und zu Benjamins Selbstmord Nathalie Raoux / Irving Wohlfarth: Zu Walter
Benjamins Tod. Legenden, Ungewissheiten, dialektische Bilder (im Druck).
44
Vgl. insbes. den Kommentar zu Büchners Brief an Gutzkow (GS, IV, I, S. 213).
45
Vgl. zum »musischen« Element GS, II, 2, S. 453 und zu »Eingedenken« insbes. GS, I,
2, S. 704; ebenfalls Sebalds Aufsatz »Jean Améry und Primo Levi«. In: Irene Heidel-
berger (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg 1990, S. 121.
46
GS, I, 3, S. 1240.
47
Ebd., S. 1241.
Anachronie 193

risch-literarischen Rekonstruktionen zutage. Schematisch formuliert: Während


beide die Leidensgeschichte der Besiegten vor dem Siegeszug der Weltgeschichte
gerettet sehen wollen, hat dies aus Benjamins theologisch-politischer Optik zu-
gunsten einer anderen, kommenden Geschichte zu geschehen, die ihrerseits, und
umgekehrt, im Namen jener »geknechteten Vorfahren« herbeizuführen ist.48 Sind
beide von Freuds klinischer Unterscheidung zwischen (normaler) Trauer und (pa-
thologischer) Melancholie gleich weit entfernt, so besteht für Benjamin ebenso
wenig Anlass, zwischen dem trauernden Eingedenken vergangener Niederlagen
und dem gerechten Zorn, ja dem rächenden »Hass«49 gegen fortdauernde Unter-
drückung zu wählen. Zwar ist in seinen Augen vergangenes Glück oder Unglück
um keinen Preis zu instrumentalisieren. Aber das Eingedenken will von sich aus
politisiert werden. Es gibt für Benjamin keine Politik ohne Trauer, aber auch keine
Trauer ohne Politik. Demgegenüber erschöpft sich Sebalds Politik, sofern man
von einer solchen sprechen kann, weitgehend in Trauer.50
Der Titel von Sebalds »englischer Wallfahrt«, Die Ringe des Saturn (1992),
nennt den Planeten, unter dessen Einfluss er und Benjamin ihr Leben gestellt
sehen.51 In seinem Trauerspielbuch hatte Benjamin, an die Studien von Giehlow,

48
GS, I, 2, S. 700, 696. – Hannah Arendts Aufsatz von 1943 »We refugees« (wiederab-
gedruckt in Ron H. Feldman [Hg.]: The Jew as Pariah. New York 1978, S. 55–66) stellt
eine weitere politische Gegenposition zu Sebalds Ausgewanderten dar. Bei Sebald
erscheint der Selbstmord jüdischer Emigranten – der sich vor dem nicht-jüdischer
Auswanderer kaum unterscheidet – als der letzte Schritt einer langen Auswanderung
aus der Heimat, sich selber und der Welt, bei Arendt hingegen als die letzte Konse-
quenz eines Assimilationsbestrebens, das auf einer ganz anderen Selbstverleugnung
beruht. Bei ihm sehnen sie sich heraus, bei ihr sehnen sie sich hinein. Dieser Gegensatz
könnte an der Verschiedenheit der jeweils studierten Biographien liegen. Dann be-
stünde kein Antagonismus, eher Komplementarität zwischen Sebalds historisch-lite-
rarischen Porträts und Arendts politischen Skizzen. Aber muss nicht aus Arendts
Optik ein freischwebender Sammelbegriff wie «die Ausgewanderten« ebenso frag-
würdig erscheinen wie die Wahllosigkeit einer (kaum nur von Bereyter, wohl auch
vom Autor selber zusammengestellten) Namensliste, in der Benjamin neben Stefan
Zweig steht, als wären sie über alle Antagonismen hinweg im Freitod vereint? Vgl. zu
Zweigs lebenslangem Irrweg Arendts Artikel »Portrait of a Period« (ebd., S. 112–121).
49
GS, I, 2, S. 700.
50
Dies dokumentiert wider Willen Ruth Vogel-Kleins Aufsatz »Rückkehr und Gegen-
zeitigkeit. Totengedenken bei W. G. Sebald«. In: Recherches Germaniques, hors série 2
(2005), S. 99–116. In seinem Essay »Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und
Wolfgang Hildesheimer« (CS, S. 101–127) stellt Sebald die mühselig konstruierte, das
eigene sozialdemokratische Engagement kontrapunktierende Trauer des einen der au-
thentischen Melancholie des anderen entgegen. »Gerade die Melancholie«, schreibt er,
»paktiert nicht mit dem Tod«. Wie in Kafkas Roman Das Schloss wolle sie vielmehr
erkunden, ob dem Tod »durch eine Invasion seines eigenen Territoriums beizukom-
men« ist (S. 125). Näheres über diese Strategie, die auch für Sebalds Malerfigur Aurach
gilt, wird hier nicht verraten. Es bleibt bei dem »Ideal der Lichtlosigkeit«, der »Sehn-
sucht nach einer sukzessiven und graduellen Lösung aus der Sozietät der Menschen«
(S. 124) und damit bei einer neo-romantischen Nacht. Diese Konstruktion der Trauer
ist kaum eine im Sinne Benjamins.
194 Irving Wohlfarth

Panofsky und Saxl zu Dürers Melencolia 1 anknüpfend, den alten Symptomkom-


plex »Saturn und Melancholie« erneut aufgerollt.52 Aber die astrologische Lehre
von den wechselnden Konstellationen der Planeten war dort nicht nur der Ge-
genstand, sondern auch in gewisser Weise der Modus der Betrachtung gewesen.
Besteht doch die Aufgabe des Kritikers wie die des historischen Materialisten für
Benjamin darin, die »Konstellation« – die jeweilige Konfiguration von Einst und
Jetzt – zu erfassen.53 So auch im Trauerspielbuch. Ein »Stratege im Literatur-
kampf«54 ist dort am Werk, der die missachtete Gattung des barocken Trauerspiels
vor der Hegemonie der klassischen Tragödie und, korrelativ, die anachronistisch
anmutende Sprachfigur der Allegorie vor der klassisch-romantischen Inflation des
Symbols retten will. Damit fällt ein Schlaglicht auf das Bündnis von institutioneller
Herrschaft und herrschenden ästhetischen Normen. Die Brisanz dieser Umwer-
tung ästhetisch-politischer Werte ist daran zu ermessen, dass Benjamins Arbeit, die
als Habilitationsschrift gedacht war, auf die einmütige Ablehnung ihrer Gutachter
stieß. Die ihr zugrundeliegende Konstellation trat ein Jahrzehnt später voll ins
Licht, als Benjamin in Baudelaire – dem »Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalis-
mus«, der die literarische Moderne einläutet und die historisch-politische Mo-
derne verdammt – eine Drehscheibe zwischen dem deutschen siebzehnten und
dem europäischen zwanzigsten Jahrhundert entdeckte.
»Die Welt wird enden«, so fängt ein spätes, unveröffentlichtes Prosastück an, in
dem Baudelaire den »universellen Fortschritt« mit einem »universellen Ruin«
gleichsetzt.55
Mehr als ein Jahrhundert später kehrt diese neo-barocke Weltsicht unter verän-
derten Vorzeichen wieder. Sebalds Schriften wandeln die zentralen Motive, die
Benjamin zunächst am barocken Trauerspiel und dann bei Baudelaire hervorge-
hoben hatte – Melancholie, Allegorie, Natur-Geschichte, Verfall, Ruine, Toten-
kopf, Schädelstätte usw. – immer wieder ab.56 Nun jedoch fast ohne das rebelli-

51
Beide Autoren wollen unter Saturn geboren sein und reihen sich in eine ehrwürdige
Dynastie ein (GS, VI, S. 521; NN, S. 76). Vgl. hierzu Rudolf und Margot Wittkower:
Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists. A Documented History
from Antiquity to the French Revolution. London 1963.
52
Vgl. zur »Lehre von Saturn« GS, I, I, S. 326ff., zu Dürers »Melencolia« GS, I, 1,
S. 319ff. und CS, S. 117ff. und zu den »Ritualen der Melancholie«, auch mit Bezug auf
Benjamin, CS, S. 122–124.
53
Vgl. hierzu die »Thesen«, insbes. Anhang A (GS I, 2, S. 704).
54
GS, IV, I, S. 108.
55
OC, S. 1262ff.
56
Dies weist Santner im dritten Kapitel seiner Studie (»Towards a natural history of the
present«) am Begriff der Naturgeschichte überzeugend nach. Im deutschen Trauer-
spiel, so Benjamin, erscheint die Geschichte »in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles,
Verfehltes von Beginn an hat« als »facies hippocratica«, »erstarrte Urlandschaft«,
»Rätselfrage« und »Leidensgeschichte« und ist nur in den »Stationen ihres Verfalls«
bedeutend (GS, I, 1, S. 343). So ist auch Sebalds Weltsicht beschaffen. Er beruft sich
dabei vornehmlich auf Sir Thomas Browne. Seine ganze Gelehrsamkeit mit sich füh-
rend, baut dieser – wie Sebald selber – »labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten
Anachronie 195

sche Pathos eines Baudelaire und weitgehend ohne die theologischen Gewisshei-
ten, die das barocke Zeitalter dem Verfall alles Irdischen und Benjamins Barock-
buch der Verdammnis des Allegorikers entgegenhalten: ohne »Umschwung« und
»Auferstehung«57 also und wohl auch ohne die »Unzerstörbarkeit der menschli-
chen Seele«, an der Sebalds christlicher Gewährsmann, Sir Thomas Browne, zu
zweifeln scheint.58 Sebald kommt sich vielmehr, wie seine Protagonisten, als »der
einzige Überlebende« vor oder gar als ein »nachgeborener Fremder« in einer gott-
verlassenen, postnuklearen Welt.59 Gleichzeitig identifiziert er sich mit dem Autor
der Mémoires d’outre-tombe, der sich im Hinblick auf den Tag der Erlösung
schon zu Lebzeiten vergräbt und seine Erfahrungen »in einem Akt der Selbstver-
stümmelung auf den eigenen Leib« schreibt.60 Dem gesellt sich das wiederkeh-
rende Motiv der aus den Raupen gewonnenen Seide und des hinübergeretteten
»Fetzchens« derselben, das das fragile Sinnbild einer jetzt eher künstlerischen
Unsterblichkeit darstellt.61 Benjamin für seinen Teil hing einem ganz anderen
»Fetzchen Tuch« nach – nämlich dem letzten Zipfel der roten Fahne62 – und
begriff die Rettung vor der Zerstörung als ihrerseits zerstörend – eine »Mortifi-
kation der Werke«, die deren Bruchstücke als die Bausteine einer menschenwür-
digen Zukunft hinüberrettet.63
sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen gleichen in ihrer schieren Aufwendig-
keit« (RS, S. 30). Auf die »Verwandtschaft von Trauer und Ostentation« macht Ben-
jamin ebenfalls aufmerksam: »Auf der Straße zum Gegenstand – nein: auf der Bahn im
Gegenstand selbst –« schreitet ihre Intention »so langsam und feierlich wie die Auf-
züge der Machthaber« voran (GS, I, 1, S. 318). Vgl. die verwandten Motive des
»Nachtschattens«, der laut Browne »gleich einer Schleppe« über die Erde gezogen
wird, und des Trauerkleids aus schwarzer Mantuaseide (RS, S. 97, 350).
57
GS, I, 1, S. 405–406.
58
Vgl. RS, S. 38–39.
59
Vgl. A, S. 80 und RS, S. 273, 282, »Tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende«,
heißt es bei Kafka (Tagebücher 1910–1923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt / M. 1967,
S. 392). Vgl. hierzu Anm. 50. Hannah Arendt zitiert diese Formel in ihrem Aufsatz
über Benjamin (Benjamin. Brecht. München 1971).
60
RS, S. 305. Sebald stellt Chateaubriands Geschichtsbild in ebenso barocken wie Ben-
jamin’schen Zügen als ein »auf der Bühne des Welttheaters gegebene[s], nicht enden
wollende[s]« Stück dar, »das den privilegierten Zuschauer nicht weniger in Mitleiden-
schaft zieht als die namenlose Menge« (RS, S. 304).
61
»Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen
Ende unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den
Spuren der geheimnisvollen Fähigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und
Faltern so oft studiert hat. Das purpurfarbene Fetzchen Seide aus der Urne des Pa-
troklus, von dem er berichtet, was also bedeutet es wohl?« (RS, S. 39). Dass auch das
Kunstwerk vor der Vernichtung nicht gefeit ist, sie sogar – der »allegorischen Zer-
stücklung« gleich (GS, I, I, S. 361ff.) – gegen sich wenden mag, wird in den Ausge-
wanderten am Maler Aurach dargestellt.
62
Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 4. Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz.
Frankfurt / M. 1995–2000, S. 25 (künftig unter der Sigle GB).
63
GS, II, 1, S. 365; GS, I, 1, S. 357f. »Rettung« ist in Benjamins Augen so partiell wie
»Apologie« total. Dafür zeugen Sebalds beste literarische Aufsätze, darunter der kri-
tisch sichtende Essay über Stifter (BU, S. 15–37).
196 Irving Wohlfarth

Der dreiteilige Essay Luftkrieg und Literatur (1999), der eine vom deutschen
»Wirtschaftswunder« zugeschüttete Tiefenschicht der »unbewältigten Vergangen-
heit« untersucht – das Schweigen der deutschen Nachkriegsliteratur über die Ver-
wüstung der deutschen Städte in der Endphase des Zweiten Weltkriegs –, erinnert
an Benjamins bekannte Sätze über die Stummheit der aus dem Ersten Weltkrieg
nicht reicher, sondern ärmer an mitteilbarer Erfahrung zurückkehrenden Solda-
ten.64 Sebalds sparsam kommentierte Aufzählung einiger der beiderseits durch-
geführten Vernichtungsorgien erinnert ebenfalls an die Maxime der Passagenar-
beit: »Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen«.65 Und die »Entsetzensstarre«, von
der seine Darstellung durchschauert ist, entspricht der des »Engels der Ge-
schichte«, der seine Augen vom Anblick des wachsenden Trümmerhaufens der
Weltgeschichte nicht losreißen kann.66 Es ist also keine bloße Zutat, wenn Ben-
jamins Beschreibung dieses medusischen Engelsblicks im Anschluss an Alexander
Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt am Ende des zweiten Teils dieses
Essays zitiert wird.67 Wusste Sebald, dass die Idee einer »Naturgeschichte der
Zerstörung«, die er hier dem Naturwissenschaftler Sir Solly Zuckerman entlehnt,
an Grundimpulse der Benjaminschen Geschichtsphilosophie anklingt? Eine Ak-
zentverschiebung ist jedenfalls auch hier zu beobachten. Während bei Benjamin
die »allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte«68 nur im messianischen
Licht der Erlösung – anders gesagt: durch die »Prüfung der klassenlosen Gesell-
schaft« – »gesichtet« werden kann,69 lässt sich Sebald auf solche theologisch-po-
litischen Prämissen kaum jemals ein.70
Nirgends in Sebalds Werk sind Benjamins Spuren so deutlich erkennbar wie in
seinem einzigen Roman Austerlitz (2001). Einigen dieser Fährten wird im folgen-
den Abschnitt nachgegangen. Wieder herauszuholen, was ein Autor in sein Werk
hineingelegt hat, ist jedoch eine tautologische, aber keine unverfängliche Übung.
»Die Quellen fliessen nach Herzenslust«, schrieb Benjamin zum damaligen Stand
der Baudelaire-Forschung,
und wo sie sich zum Strome der Überlieferung vereinigen, da tun sich schön tracierte
Böschungen auf, zwischen denen er, so weit das Auge reicht, voll dahinströmt. [. . .] Die
kritische Theorie verliert sich an dieses Schauspiel nicht.

64
GS, II, 2, S. 439.
65
GS, V, I, S. 574. N1a, 8.
66
GS, I, 2, S. 697f.
67
Luftkrieg und Literatur. Frankfurt / M. 2001, S. 73f. Künftig unter der Sigle LL.
68
GS, I, I, S. 353.
69
GS, I, 3, S. 1244f. Benjamin neigt, so schreibt er 1935, zur Annahme, unser Planet
warte auf eine Kultur, die das Blut und Grauen endlich hinter sich gelassen hätte (GB,
V, S. 193). Der anschließende Gedanke, dass das Weltgericht deren Ausbleiben ahnden
wird, ist Sebald nicht fremd.
70
Der jüdische Messianismus kommt einzig in der oben erwähnten »Kleinen Anmer-
kung zu Nabokov« und im Aufsatz »Das Gesetz der Schande – Macht, Messianismus
und Exil in Kafkas Schloss« (UH, S. 87–103) bei Sebald vor.
Anachronie 197

Sie fragt vielmehr: »wessen Mühlen treibt er? wessen Fracht verflösst er? [. . .] wer
fischt in ihm?«.71 Auf diese Frage wird abschließend zurückzukommen sein.
Sebalds Werk, das eines Literaturprofessors, ist ein gefundenes Fressen für
Komparatisten. Sein Anspielungsreichtum verlangt nach inner- und intertextueller
Exegese und verlockt zu ausufernder Quellen- und Spurensuche. Aber jedes
Kunstwerk verlangt letztlich nach kritischer Beurteilung. Der Kommentator fragt,
so Benjamin, nach dem »Sachgehalt«, der Kritiker nach dem »Wahrheitsgehalt«
eines Werks.72 Die bisherige Sekundärliteratur zu Sebald ist über das Kommentie-
ren meist kaum hinausgekommen und droht damit auf ein verfrühtes, brüchiges
Kanonisieren hinauszulaufen. Benjamin hingegen wollte die Gattung der Litera-
turkritik über die Grenzen des akademischen und journalistischen Betriebs hinaus
erneuern.73 Wie – in einer Periode, wo sich die alten Grenzen, zum Guten wie
zum Schlechten, aufgeweicht haben – ist dieses Anliegen selber zu erneuern? Be-
darf es nicht, um Sebalds Oeuvre (und seinen Anleihen bei Benjamin) gerecht zu
werden, eines solchen Versuchs?
Beide haben, jeder auf seine Weise, die »Kunst, ohne Anführungszeichen zu
zitieren, zur höchsten Höhe entwickel[t]«.74 Darin war Sebald besonders virtuos,75
auch in Bezug auf Benjamin. Entscheidend ist jedoch aus Benjamins Sicht die
»citation à l’ordre du jour«.76

2. Zweite Wiederkehr des Flaneurs

Die passionierteste Untersuchung telepathischer Phänomene [. . .] wird einen


über das Lesen (das ein eminent telepathischer Vorgang ist) nicht halb so viel
lehren, wie die profane Erleuchtung des Lesens über die telepathischen Phäno-
mene. [. . .] Der Lesende, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind eben-
sowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Be-
rauschte. Und sind profanere. 77

Benjamin wird – im Gegensatz zu Jean Améry, H. G. Adler, Claude Simon und


Ludwig Wittgenstein, dessen »unverwandt forschende[r] Blick« und »entsetzte[r]
Ausdruck«78 von fern an den »Engel der Geschichte« erinnern – in Sebalds Roman

71
GS, I, 3, S. 1163.
72
GS, I, I, S. 125.
73
Vgl. hierzu GB, III, S. 502.
74
GS, V, I, S. 572.
75
Vgl. insbesondere seinen Essay »Dr. K.s Badreise nach Riva«. In: W. G. S.: Schwindel.
Gefühle. Frankfurt / M. 1994, S. 157–186. Künftig unter der Sigle SG.
76
GS, I, 2, S. 694.
77
GS, II, 1, S. 307f. Die Kritik, die Benjamin hier 1929 an der »romantischen« Befan-
genheit der Surrealisten und ihrer »undialektischen« Einstellung zu okkulten Phäno-
menen übt, lässt in manchem gegen Sebald mobilisieren.
78
Austerlitz. Frankfurt / M. 2003, S. 11, 62 (künftig unter der Sigle A). Die Augen des
Engels sind »aufgerissen« (GS, I, 2, S. 697). Manchmal schaut Austerlitz den Erzähler
198 Irving Wohlfarth

nie namentlich erwähnt. Dennoch weist Austerlitz zahlreiche Parallelen zu zen-


tralen Motiven seines Denkens auf. So wie Franz Hessel Benjamin einst ins La-
byrinth städtischen Flanierens einführte,79 scheint Benjamin hier Austerlitz und
die ihm zugeordnete Erzählerfigur auf ihren Stadt-, Land- und Geschichtserkun-
dungen wie ein »unsichtbarer Zwillingsbruder«80 zu begleiten.
»Die Wiederkehr des Flaneurs«: So betitelt Benjamin seine 1929 geschriebene
Rezension von Franz Hessels »Spazieren in Berlin«.81 Seit dem frühen neunzehn-
ten Jahrhundert macht die abschweifende, verweilende Gangart des Flaneurs, der
»auf dem Asphalt botanisieren geht«,82 seine Weigerung vor, mit dem sogenannten
Fortschritt Schritt zu halten.83 Fällt Modernes und Antimodernes in der Provo-

mit »weit aufgerissenen, schreckhaften« Augen an (S. 147). Vgl. ebenfalls das Motiv der
»zu weit offenen Augen« (S. 80, 82).
79
Vgl. dazu Berliner Chronik, GS, VI, S. 469f. Die sich anschließende Reflexion führt
auf eine weitere Differenz zwischen Benjamin und Sebald. »Eine Photographin war
unter uns. Und mir scheint, wenn ich an Berlin denke, die Seite der Stadt, der wir
damals nachgingen, die einzige, die wirklich der photographischen Aufnahme zugäng-
lich ist. Je näher wir nämlich an ihr heutiges fließendes, funktionales Dasein heran-
treten, desto mehr schrumpft der Umkreis des Photographierbaren an ihr« (ebd.).
Photographien, fährt Benjamin fort, veralten wie die Bahnhöfe, die nicht mehr »die
echte ›Einfahrt‹« in die Stadt gewähren: »Der Bahnhof gibt gleichsam die Anweisung
auf ein Überraschungsmanöver, aber auf ein altes, das nur auf das alte stößt, und nicht
anders ist es mit der Photographie [. . .]. Erst dem Film eröffnen sich optische Zu-
fahrtsstraßen in das Wesen der Stadt [. . .]« (ebd.). Dieser Hinweis wird 1935 im Kunst-
werk-Aufsatz ausgeführt: »Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und
möblierte Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzu-
schließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehn-
telsekunden gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern
gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen (GS, I, 2, S. 500). Von hier aus gesehen
wären Austerlitz’/Sebalds Aufnahmen auf der einst fortgeschrittenen Stufe der Pho-
tographiegeschichte stehengeblieben, die Benjamin dem Werk Atgets zuweist. Dieser
habe die menschenleeren Straßen von Paris als entauratisierte Beweisstücke im histo-
rischen Prozess dargestellt; das mache ihre verborgene politische Bedeutung aus
(S. 485). Gilt das noch für Sebalds auratisch / nicht-auratisch Schwarzweiß-Aufnah-
men? Haftet ihnen nicht eher etwas von der »schwermutsvolle[n] Schönheit« (ebd.)
der frühen Fotografie an?
80
Vgl. zu diesem Motiv A, S. 84 und S. 324.
81
GS, III, S. 194–199.
82
GS, I, 2, S. 538
83
Vgl. zum Flaneur den zweiten Teil von Das Paris des Second Empire bei Baudelaire,
»Der Flaneur« (GS, I, 2, S. 537–569), und das Konvolut »Der Flaneur« im Passagen-
Werk (GS, V, I, S. 524–569), insbes. folgende Notate: »1839 war es elegant, beim
Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo
des Flanierens in den Passagen« (S. 532). »L’obsession de Taylor [. . .] est la guerre à la
flânerie« (Georges Friedmann: La crise du progrès. Paris 1936, zit. S. 547). Vgl. eben-
falls zum »Schritt halten« mit der Zeit GS, I, 3, S. 1235; und zu Benjamins Erinnerung,
wie seiner Mutter »nichts unausstehlicher war als die Peinlichkeit, mit der ich beim
Gang durch die Straßen immer wieder um einen halben Schritt hinter ihr blieb«, GS,
VI, S. 466.
Anachronie 199

kation dieser ungleichzeitigen démarche zusammen, so tritt der Flaneur bei seiner
Wiederkehr, und erst recht, wie im Falle Sebalds, bei deren Wiederkehr, als ein
doppelt anachronistischer Wiedergänger auf: als das Gespenst eines Gespensts.84
»Ein Gespenst«, so beginnt das Kommunistische Manifest, »geht um in Eu-
ropa«. Auch dieses Gespenst ist zum eigenen Gespenst, auch der Vorbote zum
Wiedergänger geworden.85 Im Flaneur, der in Europas Großstädten (her)umging,
hatte das Marx’sche Gespenst einen wahlverwandten Antipoden. Der eine war der
Vorläufer des wirklichen, revolutionären, der andere der Gegner des falschen,
bürgerlichen Fortschritts und als solcher allem von diesem zum Anachronismus
Verdammten zugewandt. Es ist gleich, ob sich der Flaneur altmodisch kleidet, ob
er als Dandy die neueste Mode gegen sich selber wendet oder ob er beides, wie auf
andere Weise die Mode selber, vereint. Weder ein Revolutionär noch dessen Ge-
genteil, gibt er in ökonomischer wie in ideologischer Hinsicht eine zweideutige
Figur ab:86 Er hält sich in der Zirkulationssphäre auf, ohne schon, wie er meint, als
eine Ware zu zirkulieren; und er geht gegen den Verkehr an, ohne Barrikaden zu
bauen.87 Dennoch haben seine scheinbar planlosen Streifzüge Methode. Es sind
notwendige Umwege zum Ziel, eine abstrakte, ihrerseits gespenstisch wirkende
Welt doch noch am eigenen Leib zu erfahren.88 Damit bietet er eine scheinbar
individualistische Lösung objektiver Widersprüche. Er nimmt sich von der gesell-
schaftlichen Arbeitsteilung aus, die mit der ungeteilten Arbeit auch die ungeteilte
Erfahrung zerstört, und macht sich so zu einem nicht weniger arbeitsteiligen Spe-
zialisten für Erfahrung. Die Kant’sche Prämisse, dass es Erfahrung gibt, kann
nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden.89 Deshalb versucht der Flaneur,

84
Benjamin deutet das sich vervielfachende Gespenst in Baudelaires Les sept vieillards
als den Doppelgänger, durch den der Flaneur an sich selber irre wird: der, der Typen
identifiziert, erfährt sich selber als einer (»Neue Baudelairiana«. In: Frankfurter Ad-
orno Blätter 4 [1965], S. 9–21, insbes. S. 20). Vgl. zu Sebalds mehrfachem Rückgriff auf
einen anderen gespenstischen Wanderer – Kafkas Jäger Gracchus – Santner: On Cre-
aturely Life (Anm. 11), S. 115ff.
85
Vgl. hierzu Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Frankfurt / M. 1996 (zuerst Paris
1994).
86
Im Flaneur, der auf der Schwelle zögert, begibt sich, so Benjamin, die Intelligenz auf
den Markt: »Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen
Käufer zu finden« (GS, V, I, S. 54). Der Flaneur mag sich als wiedergeborener Peri-
patetiker stilisieren; aber auch die Pariser Prostituierten wurden péripatéticiennes ge-
nannt. Sebalds abseitige, romantisch angehauchte Wandererfiguren hingegen bewegen
sich jenseits solchen niedrigen Verdachts.
87
Vgl. zum vieldeutigen Motiv des Verkehrs A, S. 21, 174, Baudelaires Prosagedicht
»Perte d’Auréole« und meinen Aufsatz »Ein geradezu unendlicher Verkehr«. Zu ei-
nem Motiv Franz Kafkas. In: Harald Hillgartner / Thomas Küpper (Hg.): Medien und
Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner. Bielefeld 2003, S. 119–148.
88
»Methode ist Umweg« (GS, I, 1, S. 208).
89
Gibt es Erfahrung bei Kant, dann schon hier nur sehr begrenzt. In seinem frühen
Aufsatz »Über das Programm der kommenden Philosophie« setzt Benjamin der »me-
chanischen«, »auf den Nullpunkt reduzierten Erfahrung«, mit der sich Kant zufrieden
gab, einen emphatischen Erfahrungsbegriff entgegen, der seine Inspiration auch bei
200 Irving Wohlfarth

die Bedingungen ihrer Möglichkeit quasi-experimentell zu erzeugen: expérience


im doppelten Sinn. Gleichzeitig gilt das – scheinbare – Gegenteil: Stellt Erfahrung
unter modernen Bedingungen etwas fast Anachronistisches dar, so ist sie nur noch
auf anachronistischem Wege zurückzugewinnen. Es wird, schreibt Benjamin, nicht
mehr erfahren, weil nicht mehr erzählt, und nicht mehr erzählt, weil nicht mehr
»gewebt und gesponnen« wird. Und es wird, so spinnt Sebald diesen Gedanken
seinerseits weiter, nichts mehr er-fahren, wo nichts mehr zu Fuß »erwandert«
wird.90
Als »fahrender Geselle aus einem vergangenen Jahrhundert«91 stellt er, wie Ben-
jamin, den Versuch an, die (europäische) Welt zu erfahren. Hinter beiden steht
Baudelaires kanonische Beschreibung des parfait flâneur als homme du monde.92
Waren die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts »Wallfahrtsstätten zum Fetisch
Ware«,93 so unternimmt Sebald eine »englische Wallfahrt« in umgekehrter Rich-
tung, deren Stationen Trümmerstätten der kapitalistischen Wirtschaft sind. Dem
Pariser Flaneur wurde die »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« zur Landschaft
und sogar zur Stube.94 Der Wandersmann des späten 20. Jahrhunderts erfährt die
Landschaft nicht mehr nur wie seine romantischen Vorfahren als Befreiung von
der Stadt, sondern als deren Verlängerung. Sebald erwandert sich seine Exilheimat
wie ein Detektiv, der den Verbrechen des Kapitalismus auf der Spur ist95 und
überträgt seine Forschungsmethode, samt Kamera und Rucksack,96 auf den Prot-
agonisten seines Romans.
»Naturvölkern«, »Wahnsinnigen« und »Kranken« sucht (GS, II, 1, S. 159, 162). Vgl.
zum Kursverfall der Erfahrung in der kapitalistischen Moderne GS, II, 2, S. 439f.
90
GS, II, 2, S. 438ff., insbes. S. 446–447, zit. in UH, S. 111. Der Typus des Flaneurs, dem
Peter Altenberg angehört«, schreibt Sebald, »entstand in einer Zeit, in der es möglich
geworden war, die Welt zu Hause sich zu erwandern« (UH, S. 73). Der ursprüngliche
Typus des Flaneurs, der die Welt er-fährt, wird, wie in »Perte d’Auréole«, von den
Fahrzeugen bedroht. Vgl. hierzu folgende Stelle: »Denn nie sind Erfahrungen gründ-
licher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirt-
schaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sitt-
lichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur
Schule gefahren war [. . .]« (GS, II, 2, S. 439. Hervorhebung von mir).
91
RS, S. 208. Vgl. UH, S. 77. »Schließlich zieht jeder Fußreisende, auch heute noch, ja
gerade heute [. . .], den Verdacht des Ortsansässigen auf sich« (RS, S. 209). Vgl. das
Eingangskapitel »Der Verdächtige« in Franz Hessels Spazieren in Berlin (Neuausgabe:
Ein Flaneur in Berlin. Berlin 1984, S. 7–11); und zum suspekten »Auslandskorrespon-
denten« SG, S. 209.
92
Vgl. Abschnitte III (»L’Artiste, Homme du Monde, Homme des Foules et Enfant«)
und IV (»La Modernité«) von »Le Peintre de la Vie Moderne« (OC, S. 1156–1166,
insbes. S. 1158–1161).
93
GS, V, I, S. 50.
94
GS, V, I, S. 525.
95
Vgl. zum Flaneur als Detektiv GS, I, 2, S. 543.ff.
96
Vgl. zu Sebalds eigenem Rucksack SG, S. 193. James Chandler sieht in Austerlitz, »mit
seinem Rucksack als Markenzeichen« einen »vagabundierenden Benjamin« (About
Loss: W. G. Sebald’s Romantic Art of Memory. In: South Atlantic Quarterly 102
[Winter 2003], S. 243). Aber der Rucksack erinnert nicht an Benjamin, sondern, wie
Austerlitz selber notiert, an Wittgenstein (A, S. 63).
Anachronie 201

Erst spät stößt dieser darauf, dass der eigentliche Gegenstand seiner europäi-
schen Recherchen die eigenen Spuren sind.97 In diesem Sinne stellt Austerlitz eine
neuartige Recherche du temps perdu dar.98 Letztere, schreibt Benjamin,
gibt einen Begriff davon, welcher Anstalten es bedurfte, um der Gegenwart die Figur
des Erzählers zu restaurieren. [. . .] [Proust] geriet dabei von Anfang an an eine ele-
mentare Aufgabe: von der eigenen Kindheit Bericht zu geben. Er ermaß ihre ganze
Schwierigkeit, indem er es als Sache des Zufalls darstellt, ob sie überhaupt lösbar sei. Im
Zusammenhang dieser Betrachtung prägt er den Begriff der mémoire involontaire. Die-
ser trägt die Spuren der Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehört zum
Inventar der vielfach isolierten Privatperson.99

Bei Austerlitz haben die frühkindliche Amnesie und Selbstentfremdung eine ganz
andere traumatische Ätiologie als bei Proust oder Freud. Aber er gerät, wenn auch
spät, an dieselbe Aufgabe. Den Zufall, dem er ihre Lösung verdankt, führt er
selber herbei. So wie es den Kriminellen zum Ort des Verbrechens zurücktreibt,
zieht es Austerlitz dorthin, wo die verstörendsten Erinnerungen ihm auflauern.
Aura und Schockerlebnis, die einander laut Benjamins Theorie tendenziell aus-
schließen,100 fallen bei dieser Bergung einer verschütteten Vergangenheit eher zu-
sammen.
Ein weiterer Vergleich mit Prousts Recherche drängt sich auf. »Wenn die Römer
einen Text das Gewebte nannten«, schreibt Benjamin, »so ist es kaum einer mehr
und dichter als Marcel Prousts«. Dieser wollte sein Werk am liebsten »zweispaltig
in einem Band und ohne jeden Absatz« gedruckt sehen. Hinter dieser atemlosen
Arbeit steckte ein »blindes, unsinniges und besessenes Glücksverlangen«.101 Se-
balds akribische Web- und Erinnerungsarbeit102 scheint hingegen weniger einem

97
Die Verdoppelung des Flaneurs in einen Ich-Erzähler und eine zufällig begegnete
Gestalt, deren Geheimnis seine detektivische Neugierde weckt, geht auf eine Ge-
schichte zurück, die sowohl Baudelaire als auch Benjamin, jeweils in Zusammenhang
mit dem Flaneur, kommentieren: Poes The Man of the Crowd. »Dieser Unbekannte
ist der Flaneur [. . .], dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist« (GS, I, 2,
S. 550. Hervorhebung von Benjamin), Dies gilt auf andere Weise für Austerlitz, der
kein Verbrecher ist, sondern ein Flüchtling vor dem an ihm begangenen Verbrechen.
Vgl. ferner die politische Abwandlung dieser Motive Benjamins Kommentar zu
Brechts Gedicht »Verwisch die Spuren!«. Der in die Illegalität untertauchende Kom-
munist ist ein Emigrant im eigenen Land (GS, II, 2, S. 556).
98
Vgl. zum »Paradoxon von [Jean Amérys] Suche nach der – zum eigenen Leidwesen
[. . .] – unverlierbaren Zeit« (CS, S. 154).
99
GS, I, 2, S. 611.
100
Vgl. GS, I, 2, S. 479.
101
GS, II, 1, S. 311f.
102
Sebald vergleicht die Mühen des Schreibens mit denen des Webens (RS, S. 344). Zwei
Seiten aus einem alten Musterkatalog der Seidenmanufaktur werden in Die Ringe des
Saturn abgebildet, die wie »Blätter aus dem einzig wahren, von keinem unserer Text-
und Bildwerke auch nur annähernd erreichten Buch« anmuten (RS, S. 338). Ein ähn-
liches Buch schwebt Benjamin aus einem ähnlichen Ungenügen am Füllwerk der ge-
genwärtigen wissenschaftlichen Produktion vor: »Das Durchschnittswerk des heuti-
gen Gelehrten will wie ein Katalog gelesen werden. Wann aber wird man soweit sein,
202 Irving Wohlfarth

Glücksverlangen entsprungen zu sein als dem Bedürfnis des Ausgewanderten, sich


seiner eigenen inneren Konsistenz zu vergewissern. Dies gilt besonders für seinen
Roman, der mehrfach in ein Kontinuum des Erinnerns mündet, deren Bruchlo-
sigkeit wie ein nachträglicher Versuch wirkt, die Brüche durch Webarbeit zu re-
parieren. Daran zeigt sich, welcher Anstrengungen es bedarf, um die Figur des
Erzählers für unsere Gegenwart, das Zeitalter der Emigranten und Flüchtlinge,
zurückzugewinnen.
Um die eigene Biographie zu rekonstruieren, muss Austerlitz zu einem grü-
belnden, grabenden Forscher werden. Die Schwierigkeiten, an die eigene Kindheit
heranzukommen, stehen, wie schon bei Proust, in lehrreichem Kontrast zum »epi-
schen«, langatmigen und etwas manieriert wirkenden Erzählstil des Romans sel-
ber. Dieser bewusste Anachronismus entspricht Benjamins Feststellung, dass der
Erzähler uns »etwas bereits Entferntes und weiter sich Entfernendes« ist.103 Wie
Prousts Recherche ist Austerlitz eine Ausnahme, die diese Regel bestätigt. Um
dies zu ermöglichen, wird die Erzählfunktion in zwei komplementäre Wanderfi-
guren aufgeteilt. Der sich zurücknehmende Ich-Erzähler, der in den Ausgewan-
derten vier abgebrochenen, verstummten, verschollenen Existenzen buchstäblich
nachgegangen war, kehrt in Austerlitz als der quasi providentielle Vertrauensmann
wieder, der die Geschichte eines wahlverwandten Ausgewanderten in Empfang
nimmt. Über alle raumzeitlichen Intervalle hinweg stehen ihre scheinbar zufälligen
Begegnungen in einem Zusammenhang, der – sagt Austerlitz, sagt Sebald – einer
»geradezu zwingenden inneren Logik« gehorcht.104 Dieses unterschwellige Kon-
tinuum ist es, das Sebalds neo-epischer Stil wiederherzustellen und die spekula-
tiven Exkurse seiner Erzählfiguren darzustellen versuchen. Alle verweisen auf die
rätselhaften Gesetzmäßigkeiten, die der Chronologie des Fortschritts zuwiderlau-
fen. Im Folgenden wird dieser weitläufige Motivkomplex, in Analogie und leisem
Widerspruch zu den Begriffen »Synchronie« und »Diachronie«, »Anachronie«
genannt.
Nichts hat Benjamin und Sebald so nachhaltig beschäftigt wie die Kehr- und
Innenseite der linearen, mechanischen Zeit. Gerade hier jedoch treten ihre Diver-
genzen hervor. Schematisch formuliert: Sebald setzt diese andersartige Zeit der
entzauberten Welt entgegen, während Benjamin sie für eine anders entzauberte
Welt gewinnen will.105 Sebald beschwört ein anderes Kontinuum als das chrono-
logische Zeitmaß herauf; Benjamin stellt dem Kontinuum der Herrschaft die Vor-

Bücher wie Kataloge zu schreiben?« (GS, IV, I, S. 105). Eine weitere Analogie könnte
zwischen den »geheimnisvollen Ziffern und Zeichen« (ebd.) der Seidenkataloge und
den rätselhaften Siglen der Passagenarbeit gezogen werden.
103
GS, II, 2, S. 438
104
A, S. 68. Wenn Sebald die geheimnisvollen Korrespondenzen und Zufallsbegegnungen,
deren sich Nabokov bedient, »Versatzstücke« aus der Gespensterliteratur nennt, die
dennoch auf Dinge verweisen, von der unsere Schulweisheit nichts wissen will (CS,
S. 187), so schreibt er auch pro domo.
105
Vgl. hierzu insbesondere »Über das mimetische Vermögen« (GS, II, 1, S. 210–213).
Anachronie 203

stellung eines sprengenden »Diskontinuums« als der »Grundlage echter Tradi-


tion« entgegen.106 Sein Glücksverlangen will die inwendigsten Zeiterfahrungen,
darunter Prousts mémoire involontaire, in einen kollektiven Rahmen übersetzt107
und jegliche Esoterik ins Exoterische gewendet108 sehen. Solche Impulse scheint
Sebald kaum zu kennen. Anachronien finden bei ihm in einer twilight zone statt,
die weitab von der politischen Sphäre liegt. Messen beide Autoren ihren unge-
decktesten Erfahrungen eine Schlüsselbedeutung bei – das Traum- und Totenreich
hat beim einen so viele verborgene Zugänge wie beim anderen die Unterwelt der
Passagen109 –, so scheint Sebald für abergläubische Anwandlungen weitaus anfäl-
liger zu sein. So schwer es manchmal fallen mag, okkulte Erfahrung von Aber-
glauben und Gespenstisches von Gespensterspuk klar zu unterscheiden,110 dieser
Imperativ steht Benjamin, nicht aber Sebald, immer vor Augen.111
Diese Divergenzen zeigen die grundlegenden Unterschiede zwischen ihren his-
torischen Lagen an. Mit jeder neuen Wiederkehr ist der literarische Flaneur von
der dazwischenliegenden Geschichtssequenz neu und anders gezeichnet. Eines
bleibt sich dabei gleich: sein Organ für eine Erfahrung, der »das Chockerlebnis
zur Norm geworden ist«.112 Gehörte schon Baudelaire – der den Flaneur Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts erstmals zu einem philosophisch-literarischen Modell
erhob und ihm die gespielte Souveränität des Dandys verlieh – zu den »trauma-
tophilen Typen«,113 so reimt sich Anachronie bei Sebald nur noch auf Aphasie,
Amnesie und Hypermnesie.114 Benjamin hatte die Großstadterfahrung, die sich in
den Fleurs du Mal niederschlägt, vom Ersten Weltkrieg und Freuds Arbeiten zu

106
GS, I, 3, S. 1236.
107
Vgl. GS, I, 3, S. 1243.
108
Allen philosophischen Entwürfen eignet, der »Erkenntniskritischen Einleitung« zum
Trauerspielbuch zufolge, eine Esoterik, »die abzulegen sie nicht vermögen, die zu
verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rühmen sie richten würde« (GS, I, 1, S. 207).
109
»Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging.
Auch unser waches Dasein ist ein Land, an dem es an verborgenen Stellen in die
Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden. [. . .] Das
Häuserlabyrinth der Stadt gleicht am hellen Tag dem Bewusstsein; die Passagen (das
sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt
in die Straßen« (GS, V, 2, S. 1046).
110
Benjamin unterscheidet zwischen »reinlicher« und wohlfeiler Weissagung (GS, IV, I,
S. 142). Einerseits steht er zum jüdischen Verbot, der Zukunft nachzuforschen (GS, I,
2, S. 704). Andererseits soll eine Philosophie keine wahre sein , die »nicht die Möglich-
keit der Weissagung aus dem Kaffeesatz einbeziehen und explizieren kann« (zit. in
Scholem: Walter Benjamin [Anm. 40], S. 77, Hervorhebung von Scholem). Vgl. den
»sonderbare[n] Kontrast«, in dem Austerlitz’ »apokryphe Geschichten« zu seiner
»sonstigen rigorosen Sachlichkeit« stehen (A, S. 45).
111
Vgl. »Über das Programm der kommenden Philosophie« (GS, II, 1, S. 157–171, in-
besondere S. 161f.) und Benjamins Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (GS, II,
1, S. 295–310, insbes. S. 298, 307f.).
112
GS, I, 2, S. 614.
113
GS, I, 2, S. 616, 613f.
114
Vgl. hierzu CS, S. 153.
204 Irving Wohlfarth

Kriegs- und Unfallsneurosen her studiert. Zu diesen psychischen Dauerschäden


kommen bei Sebald die des Zweiten Weltkriegs und der Konzentrationslager
hinzu.115 Durch deren Traumata wird der »rote Faden der Zeit«, die »abstrakteste
Heimat des Menschen«, »zerrissen«.116 »Wer gefoltert wurde«, so Améry, »bleibt
gefoltert«.117 Der Traumatisierte hält mit seiner Zeit ebenso wenig Schritt wie der
Flaneur.118 Austerlitz, der beides in sich vereint, macht, wie schon Baudelaire, aus
dieser Not eine Tugend. So erhält der Traumatisierte etwas vom zweischneidigen
Privileg, das einst dem Melancholiker zukam.
Der leise gespenstische Anblick, den Austerlitz dem Erzähler bei ihrer ersten
Begegnung im Antwerpener Bahnhof bietet, stellt ein kleines Kompendium sol-
cher Anachronismen dar. Alterslos und vielaltrig zugleich,119 tritt er als »ein da-
mals, im siebenundsechziger Jahr, beinahe jugendlich wirkender Mann mit blon-
dem, seltsam gewelltem Haar«, das an die Frisur des deutschen Helden Siegfried
in Langs Nibelungenfilm erinnert, in Erscheinung.120 Er trägt schwere Wander-
stiefel, einen Rucksack, der eine alte Kamera enthält,121 eine Arbeitshose aus ver-
schossenem Kattun und ein »maßgeschneidertes, längst aus der Mode gekomme-
nes Anzugsjackett«122. Le Paysan de Vienne: so nennt Sebald Peter Altenberg123

115
Vgl. zur Schocktherapie im wörtlichen Sinn DA, S. 163ff.
116
Ebd., S. 154.
117
Zit. CS, S. 156f. Vgl. auch S. 151.
118
Deshalb die zunächst seltsam anmutende Parallele, die Arendt zwischen Benjamins
»Engel der Geschichte« und dem Flaneur zieht. Wie der Traumatiserte sieht der Engel
nur Vergangenheit. Bei Sebald wird das Verhältnis von Trauma und Anachronie an
Aurach deutlich. Weil er unterm Bann der Vergangenheit steht, gibt es für ihn »weder
eine Vergangenheit noch eine Zukunft«. Vor seinem geistigen Auge sind die Deutschen
entsprechend altmodisch und unzusammenhängend gekleidet (DA, S. 270).
119
Vgl. folgenden Satz aus Dr. Henry Selwyn: »Seltsamerweise wirkten sowohl Edward
als auch Dr. Selwyn auf den Bildern [. . .] geradezu jugendlich, obwohl sie zum Zeit-
punkt der Reise, die [. . .] genau zehn Jahre zurücklag, schon hoch in den Sechzigern
gewesen waren« (DA, S. 27f.).
120
A, S. 14. Diese Frisur erinnert entfernt an die »versteinerten Haartouren« – die soge-
nannten indéfrisables –, die Benjamin in den Auslagen der Friseurläden auf seinen
Streifzügen durch die Passagen bemerkt. »Oft beherbergen diese Binnenräume veral-
tende Gewerbe«, fängt die diesbezügliche Aufzeichnung an, »und auch die durchaus
aktuellen bekommen in ihnen etwas Verschollenes« (GS, V, 2, S. 1048).
121
Es besteht vielleicht, über den »Buckelkraxen« der jüdischen Kolporteure (A, S. 248),
eine Assoziationskette zwischen Austerlitz’ Rucksack und Kamera und Benjamins
»bucklicht Männlein«, das – wie ein verborgener Fotograf – Negative vom Kind im
Buckel des Vergessens aufbewahrt, bis der Erwachsene sie als Impfstoff gegen das
Heimweh der Emigration entwickelt (GS, IV, I, S. 303f.).
122
A, S. 14. Der Roman schreibt seinerseits eine nicht-chronologische Lektüre vor. Um
dem komplexen Gewebe von Motiven, Assoziationen und Korrespondenzen gerecht
zu werden, muss der Leser immerzu hin- und herblättern und Verweise am Seitenrand
häufen; eigentlich müsste er einen Zettelkasten anlegen. Sebald pflegt zudem einen
eigenartigen Umgang mit Zeitangaben. Er hüllt sie in sprachliche Anachronismen oder
Regionalismen (»Im siebenundsechziger Jahr . . .«, »untertags« usw.) ein und unter-
wandert die Zeitlinie durch unerklärliche Koinzidenzen, »Wahlverwandtschaften und
Anachronie 205

unter Anspielung auf Louis Aragons Le Paysan de Paris, den Roman, der den
ersten Anstoß zur Passagenarbeit gegeben hatte.124 Austerlitz ist ein paysan
d’Europe. Dieser Anachronist, der keine Uhr trägt125 und in keinen Zug einsteigt,
stellt den einzigen pünktlichen Menschen auf dem ganzen Bahnhof dar. Während
die anderen Reisenden im »unterweltliche[n] Dämmer«126 des Wartesaals so teil-
nahmslos wie die Nachttiere im »verkehrten Miniaturuniversum«127 des benach-
barten Nocturamas vor sich hin starren, gibt Austerlitz, mit Benjamins Hessel-
Porträt gesprochen, den wachenden »Priester des genius loci« ab, der ein »ägyp-
tisches Traumbuch« zusammenträgt.128 »Warum wachst du? Einer muss wachen,
heißt es. Einer muss da sein.« So endet Kafkas kurzes Prosastück Nachts, das
Sebald in seinen Roman einmontiert.129

Korrespondenzen« (RS, S. 217). Beides gilt für Austerlitz’ Alter. Eine Überprüfung
aller relevanten Angaben ergibt, dass er einerseits um 1900 herum geboren sein muss
und damit, wie sein Name (Austerlitz / Auschwitz) ebenfalls nahelegt, als enfant du
siècle zu deuten ist, andererseits 1939 als viereinhalbjähriger Knabe nach England
geschickt wurde. Ist diese kalkulierte Inkongruenz zwischen Allegorie und Biographie
als tiefsinnige Unschärferelation oder vielmehr als das Indiz eines missglückten Ver-
suchs zu deuten, aus einer Romanfigur eine allessagende synthetische Gestalt zu ma-
chen? Vgl. zur ersten Hypothese Claudia Ohlschläger: Unschärfe. Schwindel. Gefühle.
W. G. Sebalds intermediale und intertextuelle Gedächtniskunst. In: Recherches Ger-
maniques 2 (2005), S. 11–24.
123
»Peter Altenberg – Le Paysan de Vienne«, UH, S. 65–86. Altenberg wird hier mit
ständiger Bezugnahme auf das Flaneur-Kapitel von Benjamins Baudelaire-Arbeit als
ein nicht mehr draußen flanierender oder gar reisender Flaneur, sondern als ein »Wan-
derer im Wartesaal des Wiener Cafehauses« dargestellt, der das »Überleben in der
Fremde« im Voraus einübt (S. 77f.): Auswanderung ohne Auswanderung. Sein Grund-
gefühl ist »das des Spleens, den Benjamin auch an Baudelaire diagnostizierte, ein Ge-
fühl, ›das der Katastrophe in Permanenz entspricht‹« (S. 82). Kafkas K und Becketts
Molloy führen, so Sebald weiter, diese Linie zu Ende (S. 77). Ganz anders Benjamins
wiedergekehrter Flaneur Hessel. Dieser paysan de Berlin stößt sich vom »Wohnen im
alten Sinn« ab, nicht wie Sebalds Altenberg als potentieller Auswanderer, sondern als
»Schwellenkundiger« an einer geschichtlich-politischen »Zeitenwende« (GS, III,
S. 196f.), der vielleicht im Begriff steht, aus dem Bürgertum auszuwandern.
124
Vgl. GB, V, S. 96f.
125
»Tatsächlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator,
noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht.
Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund
auf Verlogenes [. . .]« (A, S. 151f.).
126
A, S. 13. Vgl. zur lueur glauque, en quelque sorte abyssale der Passagen Louis Aragon:
Le Paysan de Paris. Paris 1979, S. 21.
127
A, S. 12.
128
GS, III, S. 196.
129
Franz Kafka: Die Erzählungen. Frankfurt / M. 1996, S. 357. Davor heißt es: »Ringsum
schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung,
dass sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach [. . .], in Wirklichkeit
haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Ge-
gend, ein Lager im Freien, [. . .] ein Volk [. . .], hingeworfen wo man früher stand, die
Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend«. Diese
206 Irving Wohlfarth

Was die Menschen so chronisch einschläfert, ist Chronos selber, der griechische
Gott der Zeit, alias Saturn, der römische Gott der Melancholie. Was – und nicht
wer: Denn auch wenn die Buffetdame mit dem wasserstoffblonden Haar die al-
legorische »Göttin der vergangenen Zeit«130 abgibt, so steht nunmehr an aller-
höchster Stelle als »Statthalterin der neuen Omnipotenz«, »genau dort, wo im
Pantheon [. . .] das Bildnis des Kaisers zu sehen war«, die riesige Bahnhofsuhr, die
die Fahrpläne synchronisiert, die Reisenden gleichschaltet und so die ganze Welt
»unbestrittenerweise« beherrscht.131 Im stahlharten Gehäuse der entzauberten
Welt, heißt es bei Max Weber, kehren die alten Götter als unpersönliche Instanzen
wieder;132 dementsprechend stellt seit Baudelaire das gesichtlose Zifferblatt der
chronometrischen Zeit die oberste Gottheit der Moderne dar. Gleichzeitig hat ihre
eiserne Gesetzmäßigkeit, so Austerlitz, »etwas Illusionistisches und Illusionä-
res«.133 Bei der Rückkehr von einer Reise wissen wir nie mit Sicherheit, »ob wir
wirklich fortgewesen sind«. Solche Befunde geben ihm Anlass, in einer Reihe von
längeren improvisierten Exkursen eine eigentümliche »Metaphysik der Ge-
schichte« zu entwickeln.134 So wie Festungsbauten, Industrielandschaften und
Großstädte sich, von einer »fortwuchernden Krankheit« befallen, auf der Erde

Stelle wandelt Austerlitz so ab: »[. . .] dann wundert man sich bald darüber, dass über-
all [. . .] die Londoner jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit ge-
troffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen,
unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das
Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch
die Wüste« (A, S. 186f.. Sebald zitiert eine analoge Reflexion aus Brownes Schrift über
das Urnen-Begräbnis [RS, S. 97]). – Das Wort »Lager« oder »lagern« (S. 85, 366, 407f.)
und das Bild einer weißen Zeltkolonie (S. 174, 247) geistern durch Austerlitz. Beide
sind im Bild des Lagers des durch die Wüste ziehenden jüdischen Volkes vereint, auf
das der junge Austerlitz in einer Bibel stößt (S. 86f.) und in dem er die Gleise einer
Bahn zu sehen glaubt. Im Laufe des Buchs werden diese Bilder, samt Kafkas »Lager
im freien«, von Assoziationen mit Konzentrationslagern »überlagert« (A, S. 281).
Hinzu kommt das unterschwellige Wortspiel Austerlitz / Auschwitz. Diese ganze As-
soziationskette zeigt Sebalds inner- und intertextuelle Webtechnik am Werk. Ob die
Todeslager dafür einen geeigneten Gegenstand bieten, ist eine schwierige Frage des
ethisch-ästhetischen Takts.
130
A, S. 16.
131
A, S. 21f. Vgl. zu Eisenbau, Eisenbahn und Bahnhof im Passagen-Werk den frühen
Entwurf »Der Saturnring oder etwas vom Eisenbau« (GS, V, 2, S. 1061–1063), das
erste Exposé (GS, V, 1, S. 45f.), Konvolut F (»Eisenkonstruktion«, GS, V, I, S. 211–
231) und Konvolut U (»Saint-Simon, Eisenbahnen«, GS, V, 2, S. 708–744).
132
Max Weber: Wissenschaft als Beruf. München 1919, S. 28.
133
A, S. 22. Vgl. zur unheimlichen Erfahrung der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« das
Kapitel »Vom Gesicht und Räthsel« in dritten Teil von Nietzsches Also sprach Zara-
thustra; das Mondkapitel in Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (GS,
IV, I, S. 300–302); Sebalds Beschreibung der ihn »immer öfter durchgeisternden Phan-
tome der Wiederholung« (RS, S. 223) und zur geschichtsphilosophischen Deutung der
»Phantasmagorie« der ewigen Wiederkehr bei Baudelaire, Nietzsche und Blanqui das
zweite Exposé des Passagenarbeit (GS, V, I, S. 75–77).
134
A, S. 23.
Anachronie 207

ausgebreitet haben,135 habe ein einziges Zeitmaß seine Herrschaft etabliert und
jede andersartige Zeit, jede Ungleichzeitigkeit, jedes außer der Zeit Sein ver-
drängt.136
Austerlitz erwandert die Welt nicht nur zu Fuß, sondern auch über seine Bi-
bliothek.137 Die Gedanken, die er »beim Reden verfertigt«,138 sind nicht nur ei-
gene. Welche Bücher und wie intensiv er und sein Bauchredner Sebald zum Pro-
blem der Zeit nachgelesen haben, bleibt deren Geheimnis; die Spuren ihrer Bi-
bliographie sind weitgehend verwischt. So viel steht jedoch fest: das Grundmotiv,
um das ihre intellektuellen Streifzüge kreisen – die Kolonisierung von Raum und
Zeit –, geht über Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein auf Marx’
Kapital zurück. Wie regelmäßig Austerlitz’ Gedankengänge sich hier mit Benja-
mins – ausdrücklich auf Marx bezogenen – Überlegungen kreuzen, könnte durch
etliche Vergleiche mit Stellen aus den »Thesen«, den dazugehörigen Notizen und
den zwei Exposés Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts belegt werden.
Hier können nur einige dieser Leitmotive stichwortartig gebündelt werden.
Die herrschenden Ideen einer Epoche stellen Marx zufolge die der herrschen-
den Klasse dar. Geltende Vorstellungen von Zeit spiegeln ebenfalls die geltende
Zeitordnung wieder, die bis auf weiteres der »Zeit(t)raum«139 der kapitalistischen
Ordnung ist. In dem Maß, wie Zeit nur noch als die Ablösung einer punktuellen
Gegenwart durch die nächste gilt, fällt der geradlinige Fortschritt mit der kreisen-
den Wiederkehr des Gleichen zusammen. Geschichte fällt in Urgeschichte, Mo-
derne in Mythos, »homogene und leere« Uhrzeit140 in Urzeit zurück. Chronos
frisst nach wie vor seine Kinder; der gähnende Schlund der »Langeweile« (Bau-
delaire) und des »europäischen Nihilismus« (Nietzsche) tut sich auf. Die »Phan-
tasmagorien« von Fortschritt, Geschichte bzw. Kulturgeschichte, und gar Flanerie

135
Vgl. zu den krebsartigen Auswüchsen der Festungen A, S. 26, 35f., 59, 405; zur Groß-
stadt als »Verkrustung«, »Exkreszenz« und »Krankheit« S. 405; und zu den »Schorf-
spuren« der Industrie S. 293.
136
A, S. 23. In der »längeren Disquisition«, die Austerlitz in der Sternkammer von Green-
wich hält, nennt er die Zeit die künstlichste und willkürlichste unserer Erfindungen.
Das menschliche Leben sei in vielerlei Hinsicht von einer unquantifizierbaren Macht
regiert, die das stetig fortschreitende lineare Gleichmaß nicht kenne, sich vielmehr in
Wirbeln drehe, von Stauungen und Einbrüchen bestimmt sei von dem niemand weiß,
wohin es sich entwickle (A, S. 149–151). Austerlitz sinnt insbesondere dem Zeitraum
nach, in dem Tote und Lebende miteinander verkehren (A, S. 401).
137
»Die Renaissance durchforscht den Weltraum«, heißt es im Trauerspielbuch, »das Ba-
rock die Bibliotheken« (GS, I, 1, S. 319). Das Photo von Austerlitz’ überfülltem Ar-
beitszimmer (A, S. 51) erinnert an die »Gerätschaften des tätigen Lebens«, die in Dü-
rers Melencolia »am Boden ungenutzt, als Gegenstand des Grübelns liegen« (GS, I, I,
S. 319), und mutet wie eine mise en abyme der diesem Buch zugrundeliegenden Bi-
bliothek an.
138
A, S. 22. Diese Formel klingt selber an den Titel von Kleists Aufsatz Ȇber die all-
mähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« an.
139
GS,V,I,S. 491.
140
GS, I, 2, S. 701.
208 Irving Wohlfarth

sind, so Benjamin in den erwähnten Exposés, Versuche, diesen Abgrund mit Sinn,
Werten und Fakten auszufüllen.141 Aber das Aufbegehren gegen die entwertete
Zeit erschöpft sich nicht in solchem Flucht- und Suchtverhalten. Jede echte Er-
fahrung ist, den »Thesen« zufolge, die einer Gegenwart, die »nicht Übergang ist,
sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«.142 Das Spek-
trum solchen Still- und Widerstands reicht von der weltabgeschiedenen Kontem-
plation über das unwillkürliche Eingedenken bis hin zum Generalstreik. Diese
disparaten Zeitmodi bilden alle eine gemeinsame Front gegen die herrschende
Zeit. Dem vermeintlich unumkehrbaren Kontinuum der vermeintlich vollendeten
Tatsachen – dem »Triumphzug« der »Sieger«143 – steht eine intermittierende »Tra-
dition der Unterdrückten«144 entgegen. Sie setzt sich aus Erfahrungen zusammen,
die in die Ferne der Zeit zurückwirken und jeden Sieg der Herrschenden in Frage
stellen.145
Was die Wissenschaft »festgestellt« hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Ein-
gedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das
Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie;
aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte
grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen
Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.146

Erst aus dieser theologisch-politischen Optik heraus kann die Gegenwart »gesich-
tet« werden.147 Deren »profane Erleuchtung« ergibt sich aus der »revolutionären
Chance«, die jedem geschichtlichen Augenblick innewohnt. Einsicht in die Ge-
genwart und die – ihr im Medium der unwillkürlichen Erinnerung entspre-
chende – Vergangenheit steht in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zur
politischen Aktion.148
Viele Motive aus Austerlitz’ Reden sind hier zu erkennen. Benjamin und Sebald
sind sich darin einig, dass die »Strömung der Zeit«149 gegen den Strom fließt und
die Vergangenheit kein ein für allemal abgeschlossenes Kapitel bildet. Beide ma-

141
Vgl. GS, I, 2, S. 702; GS, V, I, S. 60f., 76.
142
GS, I, 2, S. 702.
143
GS, I, 2, S. 696. »Le fait accompli a une puissance irrésistible. Il est le destin même.
L’esprit en est accablé et n’ose se révolter. [. . .] La raison sans réplique, c’est que tout
cela se suit et s’enchaı̂ne, qu’il y a filiation constante dans les événements, que chaque
époque est le produit de l‹époque précédente. [. . .] Mais l’engrenage des choses hu-
maines n’est point fatal comme celui de l’univers« (Auguste Blanqui : Instructions
pour une prise d’armes. L‹éternité par les astres, et autres textes. Hg. v. Miguel Aben-
sour u. Valentin Pelosse. Paris 1972, S. 104f.).
144
GS, I, 3, S. 1236.
145
GS, I, 2, S. 694.
146
GS, V, I, S. 589 (N 8, 1). Die «Forderung, dass die Historie Wissenschaft sei« wird
ebenfalls im vierten Abschnitt von Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der His-
torie für das Leben zurückgewiesen.
147
GS, I, 3, S. 1244.
148
Vgl. GS, I, 3, S. 1231; I, 2, S. 694.
149
A, S. 367, 406.
Anachronie 209

chen Erfahrungen, die die Herrschaft der chronologischen Zeit, und damit Herr-
schaft überhaupt, unterbrechen: intermittierende Erfahrungen der »Gefahr«, des
»Wahnsinns« und des »Schwindels«,150 Augenblicke des Angeblickt-, Angeweht-,
und Angesprochenwerdens von Orten, Dingen, Stimmen und Bildern, die auf uns
warten, »als hätten [sie] ein Gedächtnis und erinnerten sich an uns«.151 Diese letzte
Erfahrung – die regards familiers der correspondances152 – fasst Benjamin unter
dem Begriff der »Aura« zusammen.153
Ihre Welten sind dennoch durch eine ganze, wenn auch kurze Epoche getrennt.
Anachronie ist für Benjamin ein revolutionäres Postulat.154 Der Protagonist der
»Thesen« – der »historische Materialist« – wird als politisierter Flaneur vorgestellt:
als ein Medium kollektiver Innervationen.155 Sein Lebensnerv ist die ersehnte Ein-
heit von Theorie und Praxis, und seine »Erfahrung mit der Geschichte« kom-
muniziert mit der des einzig echten »Subjekt[s] historischer Erkenntnis«: die
»kämpfende, unterdrückte Klasse«.156 Diese politische Erfahrung von Bewe-
gung(en), Beschleunigung und Intervention bis hin zum Generalstreik ist zugleich
die theologische eines nunc stans: einer (still)stehenden »Jetztzeit, in welcher Split-
ter der messianischen eingesprengt sind«.157 In solchen Augenblicken des mys-
tisch-politischen Umschlags von Bewegung in Stillstand und umgekehrt wird das
Kontinuum der Herrschaft momentan aufgesprengt. Das betrifft das Denken wie
das Handeln, sowohl den kollektiven als auch den einsamen Akt unwillkürlichen
Eingedenkens; denn dessen Einsamkeit ist die »bis zum Verschwinden reife«.158

150
Vgl. zu »Gefahr« GS, I, 2, S. 695; zu »Wahnsinn« Theodor W. Adorno / Walter Ben-
jamin: Briefwechsel 1928–1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt / M. 1994, S. 365; zu
»Schwindel« Sebalds gleichnamiges Buch.
151
A, S. 266.
152
OC, S. 11.
153
Vgl. hierzu GS, I, 2, S. 479ff. u. 644ff.
154
An der Zeit ist, so Benjamin, ein ungleichzeitiger historischer Materialismus, der »ge-
rade die Elemente des ›zu frühen‹ und des ›zu späten‹, des ersten Beginns und des
letzten Verfalls im revolutionären Handeln und im revolutionären Denken« einsam-
melt (GS, V, 2, S. 852. a1,1).
155
Vgl. zum historischem Materialisten als Medium Irving Wohlfahrt: Walter Benjamin: le
›medium‹ de l’histoire. In: Études Germaniques (1996), Heft 1, S. 1–51. Santner (On
Creaturely Life [Anm. 11]), beschreibt Benjamin als das Medium eines »spectral ma-
terialism« (S. 52ff.). Benjamin schwebte jedoch eine ganz andere »Spektralanalyse«
vor: »Wie der Physiker ultraviolett im Sonnenspektrum feststellt, so stellt [der histo-
rische Materialist] eine messianische Kraft in der Geschichte fest« (GS, I, 3, S. 1232). –
Man hat ihm ebenfalls einen »Gothic Marxism« angehängt (Margaret Cohen: Profane
Illumination. Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution. Berkeley / Los
Angeles / London 1993, erstes Kapitel). Benjamin hatte, wie kaum ein anderer Marxist,
ein Organ für gespenstische Erfahrungen. Aber er trieb mit ihnen keinen spiritisti-
schen Spuk, wollte sie vielmehr einer rigorosen, quasi Kantischen Kontrolle unterzie-
hen.
156
GS, I, 2, DS. 700.
157
GS, I, 2, S. 702, 704.
158
GS, II, I, S. 238.
210 Irving Wohlfarth

Sebalds Erfahrung mit der Geschichte ist hingegen die eines nachsinnenden
Einzelgängers, der nicht auf diese Weise zu verschwinden wünscht. Austerlitz, der
sich »nie einer Klasse, einem Berufsstand oder einem Bekenntnis zugehörig«159
fühlte und seinen Lehrberuf abgelegt hat, stellt den Extremfall dar. Die einzigen
Kollektive, in denen er sich wiedererkennt, sind die der Ertrunkenen oder Ver-
streuten, das durch die Wüste ziehende jüdische Volk, die untergehende Mensch-
heit, und die gelegentliche Zweisamkeit. Sonst kommt das Kollektiv in Sebalds
Werk nur noch als Verkehrsstrom und schlafende Masse vor. Zwar verweilt er als
selbsternannter Schreiber nicht zu vergessender Leidensgeschichten auch beim
Los der Arbeiter, die an der Errichtung triumphaler Monumentalbauten zugrun-
degegangen sind;160 er weiß also so gut wie Benjamins historischer Materialist, dass
jedes »Dokument der Kultur [. . .] zugleich ein solches der Barbarei« ist.161 Aber
die Figur des Emigranten steht hier nicht mehr, wie bei Benjamin, im Zeichen
einer noch so fernen politischen Alternative, die seine Melancholie auffangen und
kanalisieren könnte.
Was in Austerlitz’ »Metaphysik der Geschichte« nicht mehr vorkommt, ist die
messianische, sprich: profan erleuchtete Dimension von Benjamins Geschichts-
philosophie. Dieser konnte noch, gerade noch, an ein Geschichtsbewusstsein ap-
pellieren, »von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leiseste Spur
zu geben« schien. Die »Thesen« rufen in Erinnerung, dass am Abend des ersten
Kampftags der Juli-Revolution »an mehreren Stellen von Paris unabhängig von-
einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen« wurde und halten fest,
dass vor allem der Name Blanqui – »dessen Erzklang das vorige Jahrhundert
erschüttert« hatte, bevor er vom sozialdemokratischen Progressismus fast ausge-
löscht wurde – für eine solche »Stillstellung des Geschehens« gestanden hatte.162
Davon bleibt bei Sebald nur wenig übrig. Trifft sich Austerlitz mit dem Erzähler
»im Bistrobar le Havane am Boulevard Auguste Blanqui«,163 so träumt dieser
Wachende unter den Schlafenden nicht davon, die große Antwerpener Bahnhofs-
uhr stillzulegen164 oder das eigene »Mienenspiel im Tausch gegen das Zifferblatt
eines Weckers« zu geben, »der jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt«.165
Sein Widerstand gegen die Zeit hat verwandte, aber keine militanten Formen.
Dennoch hätte Benjamin, der in Baudelaires »Traum« die Schwester von Blanquis
»Tat« erblickt,166 in Sebald einen Verbündeten sehen können.
159
A, S. 185.
160
A, S. 23.
161
GS, I, 2, S. 698.
162
GS, I, 2, S. 700–703.
163
A, S. 363.
164
Auch er erzählt jedoch vom Besitzer eines baufälligen Landhauses, James Mallord
Ashman, der in ohnmächtiger Wut gegen die Epoche auf das Uhrtürmchen seiner
Remise geschossen habe (A, S. 161). Nahmen die Julikämpfer die Turmuhren der res-
taurierten alten Ordnung ins Visier, so steht das Uhrtürmchen, auf das dieses Mitglied
des untergehenden Landadels zielt, für die neue Zeit.
165
GS, II, 1, S. 310.
166
GS, I, 2, S. 604.
Anachronie 211

»Den Weltlauf zu unterbrechen«, schreibt er,


das war der tiefste Wille in Baudelaire. Der Wille Josuas. Nicht so sehr der propheti-
sche: denn er dachte an Umkehr nicht. Aus diesem Willen [. . .] entsprangen auch die
immer erneuten Versuche, die Welt ins Herz zu stoßen, oder in Schlaf zu singen.167

Analoge Motive tauchen in Sebalds Werk überall auf. Immer wieder beschwört er
ein apokalyptisches Aussterben allen irdischen Lebens herauf, als wolle er einem
unheilbar erkrankten Planeten den Gnadenstoß versetzen.168 Er träumt, dass Vul-
kane »ausbrechen und alles ringsherum überziehen möchten mit schwarzem
Staub«;169 überträgt seinen Kinderwunsch, dass »alles zuschneien möge«, auf die
Großstadt;170 möchte, »befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in
einem Korbsessel in einem Garten«171 hindämmern; verweilt bei der befreienden
Erinnerung daran, dass er vom Cockpit eines Flugzeugs aus »das ganze, anschei-
nend stillstehende, in Wahrheit aber sich langsam drehende Himmelsgewölbe«172
betrachtet hat; und lässt Austerlitz auf eine wahlverwandte Frau treffen, die »sich
nur noch den ewigen Frieden« wünscht.173 All diese Impulse zeugen von der
Sehnsucht, das Zeitalter einzulullen, zuzudecken, stillzulegen.174
Dieser Impuls findet seinen ausdauerndsten, ausgeprägtesten Ausdruck in Se-
balds Stil. Dessen langsames, an einen »Trauermarsch«175 erinnerndes Tempo, die
altertümlichen Wendungen, die verschlungenen Sätze, die musikalische Verdich-

167
GS, I, 2, S. 667.
168
Am ausdrücklichsten vielleicht im abschließenden Traum von »Il ritorno in patria«,
der mit folgender Sequenz schließt: Stille – Gestein – das große Feuer von London –
Aschenregen. Darauf folgt das Datum »2013« – eine Unglückszahl – und »Ende« (SG,
S. 286f.).
169
A, S. 294. Vgl. Sebalds Kommentar zu Amérys Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch:
»Das Feuer, exemplarisches Medium der retributiven göttlichen Gewalt, ist zuletzt die
wahre Leidenschaft des Brandstifters, der hier einer revolutionären Phantasie nach-
hängt, ja, er, Lefeu, ist es gar selbst, und also verzehrt er sich auch, wie dieses« (CS,
S. 170). Göttliche und menschliche Gewalt, Weltbrand und Revolution, Vernichtung
und Selbstvernichtung spielen hier ineinander über. Am Ende von Benjamins Essay
über Dostojewskis Idiot geht es, analog, um eine »katastrophale Selbstvernichtung« als
den Vorboten einer russischen Revolution (GS, II, 1, S. 241).
170
A, S. 58f.
171
A, S. 56.
172
A, S. 170. Im Gegensatz zu diesem befreienden Himmelsgewölbe, zum gemalten
»Zelthimmel« des Wanderzirkus Bastiani (S. 388–390) und dem »Kuppelsaal« der alten
Bibliothèque Nationale (S. 391) stehen das klaustrophobische »Gewölbe« und die
»Kuppeln« der Festungen, Bahnhöfe und Untergrundbahn (A., S. 13, 16,18, 40, 189,
197f., 200, 212, 382). »Le Panthéon«, so ein wahlverwandtes Zitat aus dem Passagen-
Werk, «élevait sa coupole sombre vers la sombre coupole du ciel« (GS, V, I, S. 490).
173
A, S. 374.
174
Vgl. Sebalds Verweise auf Borges Tlön, Uqbar, Orbis, Tertius: »Die labyrinthische
Konstruktion Tlöns [. . .] steht im Begriff, die bekannte Welt auszulöschen« (RS, S. 91).
»Die Leugnung der Zeit [. . .] sei der wichtigste Grundsatz der philosophischen Schu-
len von Tlön« (S. 185).
175
Vgl. A, S. 356.
212 Irving Wohlfarth

tung der Motive, der fast absatzlose Assoziationsfluss – das alles dichtet seine
Sprachwelt wie eine Arche, ein »Museum clausum« oder eine »Bibliotheca ab-
scondita«176 gegen das Zeitmaß der Außenwelt fast hermetisch ab. Schließt alle
Kunst durch den Aufbau eines eigenen Zeit-Raums die Weltzeit aus und ein, so
macht sich Sebalds Werk besonders dicht. Die elegische Grundströmung dieser
Prosa versetzt den Leser in eine leise Trance. Wer möchte sich nicht von ihrer
trostlos-tröstenden Klage – ihrem »Wie scheint doch alles Werdende so krank«
(Trakl) – mittragen lassen? Aber krankt sie nicht selber an einem Hang zu starren,
undialektischen Entgegensetzungen – mit Hegel gesprochen, zur abstrakten Ne-
gation?177 Die Versuchung einer romantisch-antikapitalistischen und / oder ver-
fallsgeschichtlichen Verdammung der Moderne, der Uhrzeit und der Technik (mit
der fast einzigen Ausnahme einer Kamera: einer »alten Ensign mit ausfahrbarem
Balg«178) ist niemals weit. Am liebsten zieht sich Austerlitz, wie sein Autor, in
Randutopien und bei Exzentrikern zurück.179 Es ist fast, als hätte dieser Prager
Jude bei seiner Auswanderung ein gut Teil deutscher Wandervogel- und Neuro-
mantik in seinem Rucksack mitgenommen; als wären seine ausschweifenden zi-
vilisationsgeschichtlichen Exkurse vom inwendigen Wunsch beseelt, aus der Zi-
vilisation selber auszuwandern. »Die wahrhafte Widerlegung muss«, so Hegel, »in
die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen«.180

176
Vgl. RS, S. 321.
177
Vgl. Benjamins Kritik an den lebensphilosophischen Dualismen bei Klages, Jung und
Dilthey zwischen einer entwerteten, alltäglichen und einer hehren, authentischen Er-
fahrung (»Erlebnis«) der Natur, der Dichtung, des Mythos usw., insbesondere seine
Beschreibung von Bergsons »Erfahrung komplementärer Art« als »gleichsam spon-
tanes Nachbild« zur blendenden der Großstadt und der Großindustrie (GS, I, 2,
S. 608f.). Was die Lebensphilosophen Erlebnis nennen, ist, so Benjamin, bloß die re-
aktive Kehrseite der mageren Alltagserfahrung und trägt deren Male. Darum überträgt
er den Begriff des Erlebnisses auf die schockhafte Alltagserfahrung und lobt an Bau-
delaire, dass er solchem »Erlebnis« »das Gewicht einer Erfahrung« gibt (GS, I, 2,
S. 610f., 652f.). Auch Sebald scheint in jener neoromantischen Tradition zu stecken,
freilich ohne Lebenspathos.
178
A, S. 15.
179
Vgl. die lange, liebevolle Beschreibung des idyllischen »Ferienasyls« Andromeda
Lodge (A, S. 121ff.); Dr. Abramskys Darstellung seiner »Auslösung aus dem Leben«
(»Seit 1969 [. . .] lebe ich hier heraußen, je nach Witterung entweder im Boots- oder im
Bienenhaus und kümmere mich grundsätzlich nicht mehr um das, was vor sich geht in
der sogenannten wirklichen Welt« [DA, S. 161]); und den Rückzug des sich als »or-
namentalen Eremiten« bezeichnenden Dr. Selwyn in seinen verwilderten Garten (DA,
S. 11). Der laut- und kampflose Protest dieses Professors, der (wie der alternde Direk-
tor eines Schweizer Familienkonzerns in Alain Tanners Film Charles mort ou vif)
seine bürgerliche Lebensform fallen lässt, ist auf seine Weise »elementarer« als jede
militante Sozialkritik. So etwa – auf der Wellenlänge von Adornos »Rede über Lyrik
und Gesellschaft« (Noten zur Literatur 1: Frankfurt / M.1958, S. 73–104) – wäre Se-
balds romantische Anti-Politik als Politik zu verfechten.
180
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Hermann Glockner.
Stuttgart 1928, S. 11.
Anachronie 213

Der Gegner wird jedoch bei Sebald als so umfassend empfunden, dass solche
Jiujitsu-Technik nicht mehr greift. Auf der einen Seite stehen die massiven Fes-
tungen der Macht, die verwüstete Erde, die verwaltete Welt, auf der anderen vor-
bewusste Eingebungen und quasi-telepathische Ahnungen. Alles Große, Gewal-
tige, Geplante – die drei Epitheta sind hier deckungsgleich – ist Austerlitz sus-
pekt.181 Kein Zufall, dass der Erzähler ihn auf einer seiner »ganz und gar planlosen
belgischen Exkursionen« kennenlernt.182 Pläne werden hier stillschweigend mit
»Eisenbahnfahrplänen«183 und den »Bauplänen«184 von monströs wuchernden
Gebäuden gleichgesetzt, zu denen insbesondere der »cartesianische Gesamt-
plan«185 der neuen französischen Nationalbibliothek und der »Gliederungsplan«186
des Konzentrationslagers Terezin gehören. Dass das – Plan und Chaos verei-
nende – kapitalistische System all diesen Subsystemen zugrundeliegt, ist Austerlitz
durchaus bewusst. Seine Diagnose scheint jedoch irgendwie tiefer zielen zu wol-
len. Von einer gewissen Größenordnung an, sinniert er, kranken all unsere Pro-
jekte aufgrund der »allumfassende[n], absolute[n] Perfektion [ihres] Konzepts« an
einer »chronischen Dysfunktion«.187 Vielleicht zählt dieser Verdacht zu den Grün-
den, warum der »Plan eines mehrbändigen systematisch-deskriptiven Werks«188
zur Baugeschichte der Moderne ihm nicht gelingen will. Will Sebald damit sug-
gerieren, dass man »großen Systemen« nur auf antisystematische Weise beikom-
men kann – etwa im Stile des romantischen Fragments? Marx, Weber und viele
andere haben das Gegenteil bewiesen – darunter H. G. Adler, aus dessen Stan-
dardwerk zum Konzentrationslager Theresienstadt die Erzählfigur in Austerlitz
ausführlich zitiert. Generell hält es Sebald jedoch lieber mit Grimms »Andacht
zum Kleinen und Unbedeutenden«. Benjamin, der solche Aufmerksamkeit, frei
nach Malebranche, als »das natürliche Gebet der Seele«189 lobt und übt, sucht
zugleich nach Darstellungsformen, die das Große im Kleinen fokussieren.190

181
»Freilich verrieten gerade unsere gewaltigsten Pläne nicht selten am deutlichsten den
Grad unserer Verunsicherung« (A, S. 25). »[. . .] wie ja immer [. . .] unsere besten Pläne
im Zuge ihrer Verwirklichung sich verkehrten in ihr genaues Gegenteil« (A, S. 46).
Solches Misstrauen gegen Plan und System geht auf die ersten Proteste gegen die
Aufklärung zurück. Herder denunziert den »unsinnige[n] Plan«, allein nach Vernunft-
prinzipien zu verfahren (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der
Menschheit. Stuttgart 1990, S. 14). Benjamin, der von früh an dem System abschwört,
will, wie nach ihm die Frankfurter Schule, die konservative Kritik an der Aufklärung
für diese zurückgewinnen.
182
A, S. 44.
183
A, S. 22.
184
Vgl. zum Festungsbau A, S. 28; und zum Brüsseler Justizpalast A, 47.
185
A, S. 398.
186
A, S. 345.
187
A, S. 398f.
188
A, S. 178.
189
GS, II,2, S. 432.
190
Vgl. GS, V, I, S. 575. N 2, 6.
214 Irving Wohlfarth

Eine Reihe von weiteren Fragen drängt sich an dieser Stelle auf. Der sich breit
machende kapitalistische Baustil ist (so Austerlitz, so Sebald) überall zu beobach-
ten – an den Gerichtshöfen, den Justizpalästen und Strafanstalten, den Bahnhofs-
und Börsengebäuden, den Opern- und Irrenhäusern, und nicht zuletzt an den
»nach rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen für die Arbeiterschaft«, die
die »in den Köpfen philanthropischer Unternehmer entstandene Vision einer ide-
alen Arbeiterstadt« in die »Praxis der Kasernierung« übersetzen.191 Die Beschrei-
bung der gigantischen, flammenwerfenden, naturschändenden »Hoch-« und
»Schmelzöfen« moderner Industrielandschaften wird ihrerseits so angelegt, dass
sie unterschwellige Assoziationen mit anderen, tödlicheren Öfen wachruft.192 Aus
diesen Impressionen eine ganze Theorie der Moderne extrapolieren zu wollen,
wäre unbillig, zumal es Austerlitz / Sebalds Verdikt über das Große, Planvolle
widerspräche. Aber schimmern nicht die Umrisse mehrerer Großtheorien durch
Sebalds literarischen Assoziationsketten hindurch? Darunter schwarz umflorte
Variationen auf Webers These von einer fortschreitenden Rationalisierung der
Welt als dem schicksallosen Schicksal des Okzidents? Sebalds verkürzte Urge-
schichte der Moderne sieht ungefähr so aus: Ganz wie die krebsartigen, prähis-
torisch anmutenden Fortifikationsbauten, auf deren Anblick Sebalds Roman im-
mer wieder zurückkommt, zieht der Kapitalismus immer weitere Kreise. Er ge-
biert (wie in Hannah Arendts Elementen totaler Herrschaft) zuerst den
Kolonialismus, dann den Faschismus und baut die sozialen Einrichtungen, die
seine Funktionsfähigkeit gewährleisten, in sein System ein.
»Mit einem Wort«, schreibt Marx, »[die Bourgeoisie] schafft sich eine Welt nach
ihrem eigenen Bilde«.193 Stehen Sebalds essayistische Streifzüge durch die kapita-
listische Lebenswelt der Marx’schen Tradition, der sie sich letztlich verdanken,
deshalb fern, weil eine Auseinandersetzung mit dieser sich heute zu erledigen
scheint? Ist das eine nüchterne Einschätzung der Übermacht des Systems oder
konzediert sie ihm zu viel? Wie dem auch sei: Der »Naturgeschichte der Zerstö-

191
A, S. 52, 46.
192
A, S. 45, 77. »Aufklärung ist totalitär«, schrieben Adorno und Horkheimer in ihrer
Dialektik der Aufklärung (Frankfurt / M. 1969, S. 12). Während dessen Untertitel –
»Philosophische Fragmente« – Abstand zum System bekundet, hält der Titel gleich-
zeitig an der Idee – und damit am Plan – der Aufklärung fest. Diese Dialektik fällt bei
Sebald weitgehend weg. Zwar mag er unter anderem die Dialektik der Aufklärung im
Sinne haben, wenn er in verschiedenen Zusammenhängen Cartesianismus, Aufklä-
rung, Kapitalismus und Todeslager miteinander kurzschließt. Aber er verkürzt dabei
nochmals deren eigene Tendenz zur verkürzenden geschichtsphilosophischen Syn-
these. Das System rächt sich hier wie dort an seinem allzu systematischen Kritiker.
Austerlitz’ »Metaphysik der Geschichte« steht oft auf Messers Schneide zwischen Tief-
und Unsinn. Ebenso zwiespältig sind Heideggers Satz, die Welt der Todeslager sei die
der motoriserten Landwirtschaft, und Claude Lanzmanns Montage von technischen
Lagerbeschreibungen und Bildern von Industrieanlagen in seinem Film Shoah.
193
Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei. In: K. M.: Die Frühschriften. Hg. v.
Siegfried Landshut. Stuttgart 1953, S. 530.
Anachronie 215

rung« steht bei Sebald nur noch die Natur selber gegenüber. Beide scheinen ein-
ander heillos ausgeliefert zu sein.
So scheint seine umfassende Trauer- und Erinnerungsarbeit eines nicht einzu-
schließen: das Scheitern aller bisherigen Gegenentwürfe zum Kapitalismus. Sozi-
alismus, Kommunismus und Arbeiterbewegung bis auf einige unbedeutende De-
tails194 fallen wohl darum kaum in sein Blickfeld, weil auch sie aus seiner Sicht mit
dem Makel des großen Plans behaftet sind. Dafür hält er es mit einer weitver-
breiteten Variante der grands récits, deren Ende Lyotard angesagt hat:195 nämlich
der vom (großen) Ende. Sie könnte heißen: »Der langsame Untergang der Tita-
nic«.196 Oder: »Schiffbruch mit Zuschauer«. Diesen stellt ein überlebender, aus
allen Bezügen losgelöster Forscher dar, der sich in eine Nischen- und Wander-
existenz gerettet hat.
Bei allem Misstrauen gegen große Verwaltungssysteme ist Austerlitz dennoch
vom Eisenbahnsystem fasziniert.197 Dies kann nicht nur an den Schmerzensspuren
liegen, die seine frühe Zugreise ins Exil hinterlassen hat. Austerlitz stellt selber ein
Kursbuch eigener Art dar: ein paradoxes Bau- und Netzwerk von correspondan-
ces, die wie Zugverbindungen funktionieren. Die unheimlichen Zufälle, die in der
bürokratischen Ordnung der Dinge keinen Platz haben, sind dort eingetragen.
Darin gleicht das Buch wider Willen dem »künstlichen Pinienhain«198 der verab-
scheuten neuen Pariser Nationalbibliothek. Die planende Rationalität, in der Aus-
terlitz / Sebald den Ungeist der Moderne erblickt, kehrt auf der Ebene der Ro-
mankonstruktion wieder.199 Als wäre nur die ästhetische, keine soziale Planung
dazu imstande, in die Kraft des Gegners einzugehen.
»Aus den Trümmern grosser Bauten«, so schließt Benjamins Trauerspielbuch,
spricht »die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller [. . .] als aus geringen noch so
wohl erhaltenen«.200 Der Satz lässt sich Wort für Wort auf die spätere Passagen-
194
Austerlitz’ Vater ist einer der aktivsten Funktionäre der tschechoslowakischen sozi-
aldemokratischen Partei gewesen; sein Vater hatte in St. Petersburg bis zum Revolu-
tionsjahr einen Gewürzhandel betrieben (A, S. 225). – Neben dem vernichtenden Auf-
satz »Der Schriftsteller Alfred Andersch« (LL, S. 111–147) stellt Sebalds bündige Kri-
tik an Grass’ euphemistischer Darstellung der deutschen Sozialdemokratie (CS, S. 115–
117) einen der wenigen historisch-politischen Kommentare in seinem Werk dar.
195
Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Paris 1979 (dt. Das postmoderne
Wissen. Wien 2005).
196
Dieser moderne Topos variiert einen alten. Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit
Zuschauer. Frankfurt / M. 1979.
197
A, S. 52f. Vgl. zur tödlich endenden Obsession eines anderen Ausgewanderten, Paul
Bereyter, mit Fahrplänen und Kursbüchern DA, S. 90f.
198
A, S. 398.
199
Sebald vermutet, dass Canetti keinen zweiten Roman geschrieben hat, weil der »Ego-
zentrismus des an seinem Bau bastelnden Romanciers« die »Proliferation der Systeme
noch befördert« und »das hieratische Ordnungssystem der Ästhetik dem der herr-
schenden Mächte korrespondiert« (BU, S. 98f.). Es fragt sich, inwieweit Ähnliches für
den Roman gilt, an dem Sebald – im Unterschied zu Canetti – gegen Ende seiner
literarischen Laufbahn »gebastelt« hat.
200
GS, I, I, S. 409.
216 Irving Wohlfarth

arbeit übertragen, die von der Idee lebt, eine »Urgeschichte des XIX. Jahrhun-
derts«201 zu konstruieren. Diese soll als »Wecker« dazu verhelfen, aus dem »neuen
Traumschlaf«, der mit dem Kapitalismus über Europa kam, zu »erwachen«.202 Zu
den Trümmern dieses abgebrochenen Werks sind inzwischen die Ruinen aller bis-
herigen sozialistischen und kommunistischen Baupläne hinzugekommen –
kurzum, all der Versuche, die politische Idee zu verwirklichen, auf die die Passa-
genarbeit baute. Wie man sich zur Konkursmasse dieser Großprojekte stellen soll,
daran scheiden sich die Geister. Dass Austerlitz, wie einst auf andere Weise Max
Weber,203 allem Monumentalen das Kleine und Intime (»die Feldhütte, die Ere-
mitage, das Häuschen des Schleusenwärters, die Kindervilla im Garten«204) vor-
zieht, zeigt, dass auch er keine politische Alternative – zumindest keine größere –
zum baufälligen, übermächtigen Weltsystem sieht.
Die einzig mögliche Gegenwehr scheint in der Zeugenschaft der Sinne, ein-
schließlich des sechsten, zu liegen. Die Aufmerksamkeit für unbeachtete Details,205
die Sebald mit Austerlitz teilt, lebt vom Impuls, dem lautlos klagenden Leid der
Natur- und Menschengeschichte Gehör zu verschaffen. Bei Benjamin hat dieser
Impuls eine theologische Untermauerung.206 Das Unvergessliche, schreibt er 1921,
verweist auf einen Bereich, wo der Forderung, die ihm innewohnt, entsprochen
wäre, auch wenn alle Menschen es vergessen hätten: auf ein »Gedenken Gottes«.207
Diese Forderung kehrt, säkularisiert, neunzehn Jahre später in der zweiten

201
GS, V, I, S. 579. Austerlitz spricht ebenfalls vom 19. Jahrhundert als »jener jetzt weit
zurückliegenden und doch unser Leben bis heute bestimmenden Zeit« (A, S. 17).
202
GS, V, I, S. 494.
203
»Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihm eigenen [. . .] Entzauberung der Welt,
daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlich-
keit [. . .]. Es ist weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime, und keine
monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise,
von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was
früher als prophetisches Pneuma im stürmischen Feuer durch die großen Gemeinden
ging und sie zusammenschweißte« (Wissenschaft als Beruf, S. 36).
204
A, S. 31. Dem entspricht, so Sebald, Canettis Kritik an Macht, System und Größe und
seine märchenhafte Alternative: ein mit dem Alter Kleinerwerden. »Kein Kind mehr
könnte sich wünschen, etwas Großes zu werden. Die Geschichte würde an Bedeutung
durch ihr Alter verlieren [. . .]« (zit. in BU, S. 99f.). Benjamins erste »These« lässt
hingegen einen Kleingewordenen den Kampf gegen das Weltsystem mitgewinnen.
205
»Das von den meisten Betrachtern gewiss übersehene Unglück« einer winzigen hin-
gestürzten Dame am rechten Rand eines Gemäldes vom wenig bekannten Maler Lucas
von Valckenborch (A, S. 23f.) lässt Austerlitz nicht los; er verweilt ebenfalls bei einem
winzigen Feuerfleck auf einem anderen kleinen, noch unbekannteren Bild (A, S. 177).
206
Alle Natur würde »zu klagen« beginnen, heißt es 1916 in »Über Sprache überhaupt
und über die Sprache des Menschen«, wenn Sprache ihr verliehen würde (GS, II, 1,
S. 155). Die sprachtheologische Deutung des Sündenfalls als Verstummen der ohnehin
stummen Natur bildet die Urzelle zu Benjamins Auffassung von Allegorie, Trauer und
Trauerspiel. Vgl. Santners Ausführungen zum »kreatürlichen Leben« bei Benjamin
und Sebald (On Creaturely Life [Anm. 11]).
207
GS, IV, I, S. 10.
Anachronie 217

»These« als der unerlöste Anspruch vergangener Generationen auf die Aufmerk-
samkeit der heutigen wieder.208 Die Erfüllung dieser Forderung hat, so Benjamin
weiter, rückwirkende Kraft. Was die feststellende Wissenschaft, einschließlich der
positivistischen Geschichtsschreibung, nicht feststellen kann, das kann das Einge-
denken: es hört den »Nachhall der ›Klage‹«.209
Nirgends stehen Benjamin und Sebald einander so nah wie hier. »Was nie ge-
schrieben wurde, lesen«:210 dieses Motto, das Benjamin von Hofmannsthal über-
nimmt, könnte auch Sebalds sein. Das Buch, das Austerlitz vorschwebt, müsste
vom ungehörtem aber unvergangenem Leid der Geschichte zeugen; das Unver-
gessliche – der Schmerz – ist auch für ihn die tiefste Schicht – gleichsam der
Unterbau – der Geschichte.211 Auch für Sebald ist es nicht mehr die wissenschaft-
liche Geschichtsschreibung, die dem Anspruch auf »Restitution« gerecht wird,
sondern die geschichtsschreibende Kunst.212 Eine vielfache Anachronie ist auch
hier im Spiel. Wenn, wie Austerlitz vermutet, vergangene Schmerzensspuren nie
»wirklich«213 und »bis heute nicht vergangen«214 sind, dann sind sie, als künstle-
risch festgehaltene, erst recht »niemals vergangen«.215 Auch hier jedoch fällt eine
entscheidende Akzentverschiebung auf – eine, die sich auch, wie gezeigt werden
soll, in Sebalds Umgang mit Benjamins Passagenarbeit auswirkt. Die Aufgabe der
Restitution fällt nicht für Benjamin, wie für Sebald, dem Kunstwerk zu. »Sprach-
losigkeit: das ist das große Leid der Natur«, schreibt er in seinem frühem Sprach-
aufsatz, um dann zwischen Klammern hinzuzufügen: »(und um ihrer Erlösung
willen ist Leben und Sprache des Menschen in der Natur, nicht allein, wie man
vermutet, des Dichters)«.216 In diesem Zusatz steckt ein harter, nicht-romantischer
Kern: die Forderung nach einer Praxis, die sich mit der künstlerischen nicht zu-
frieden gibt.
208
GS, I, 2, S. 693f.
209
GS, I, 3, S. 1231.
210
Zit. GS, I, 3, S. 1238; V, I, S. 524.
211
Vgl. den in eine Farbfläche endlos eingekratzten Buchstaben A, der die Pein eines
Ausgewanderten, der Unsagbares in Dachau überlebt hat, endlos wiederholt (A, S. 44).
Dieser stumme, »lang anhaltende Schrei« zieht sich als erster Vokal des Alphabets und
des Namens Austerlitz durch das ganze Buch hindurch.
212
»Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die
Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der
Restitution« (CS, S. 248). Was die Gesellschaft und die Literatur des Nachkriegs-
deutschlands (und »eine beinahe mit vorsätzlicher Blindheit geschlagene« Literatur-
wissenschaft [S. 249]) weitgehend versäumt haben, soll dadurch nachgeholt werden.
Bei Benjamin ist Restitution nur von der Theologie her denkbar (vgl. zur restitutio in
integrum GS, II, 1, S. 204). Vielleicht misst Sebald der restitutiven Kraft der Kunst
auch deshalb eine höhere Rolle als Benjamin bei, weil er seine theologischen Prämissen
und Hoffnungen nicht teilen kann. Vgl. zu Benjamins diesbezüglichem Briefwechsel
mit Horkheimer GS, V, I, S. 589. N8, 1.
213
A, S. 191.
214
A, S. 177.
215
A, S. 24.
216
GS, II, 1, S. 155 (Hervorhebung von Benjamin).
218 Irving Wohlfarth

»Wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?«, hatte ein verzweifelter junger
Linksweberianer Anfang des Ersten Weltkriegs gefragt217 und sich anschließend
für den real werdenden Kommunismus entschieden. Mit dem Zusammenbruch
der sogenannten Kommunismen kehrt die Frage des jungen Lukács wieder. Das
ist die Stimmungslage, aus der heraus Sebald / Austerlitz Benjamins Passagenpro-
jekt ein halbes Jahrhundert später wieder aufnehmen. Gleichzeitig legen sie den
Weg vom Trauerspielbuch zur Passagenarbeit in die umgekehrte Richtung zurück.

3. Austerlitz oder die Roman(t)isierung der Passagenarbeit

Zum letzten Mal Psychologie! 218

Dass Karl Rossmann, die Hauptfigur von Kafkas Amerika-Roman, wenig Scha-
den davonträgt, mit siebzehn Jahren von seinem Vater nach Amerika verbannt
worden zu sein, liegt auch daran, dass er wenig Psychologie in seinem – schon bei
der Ankunft verlorenen – Koffer mitschleppt. Diese in den Roman verirrte Mär-
chengestalt erinnert an den Grimmschen Burschen, der auszog, um das Fürchten
zu lernen.219 Ganz anders das jüdische Flüchtlingskind Austerlitz, das mit vierein-
halb Jahren von der Mutter nach London auf einen Kindertransport geschickt
wird. Von wallisischen Adoptiveltern, die auf andere Weise verwaist sind, an der
Liverpool Street Station abgeholt und fortan von seiner Herkunft abgeschnitten,
weiß er, wie Sebalds andere »Ausgewanderte«, keine andere Möglichkeit, als aus
sich selber auszuwandern. Auch als er seinen wahren Namen erfährt, vermeidet er
es, seiner Herkunft nachzugehen. Erst nachdem er unter dem zunehmenden
Druck dieses unbewussten Wissens zusammengebrochen ist, beginnt er, zu sich
zu kommen. Seine unwillkürlichen Erinnerungen bringen ihn auf die Spur eines
Familienromans, der von der Schreckensgeschichte des Jahrhunderts auseinander-
gerissen wurde.
Von einem abrundenden temps retrouvé kann jedoch kaum die Rede sein. Aus-
terlitz’ Recherche geht weiter, er wandert zuletzt aus dem Roman heraus. Aber er
ist kein heimatlos wandernder Jude mehr, sondern fortan unterwegs zu sich und
den Seinen, Richtung Gurs, das berüchtigte französische Internierungslager, von
wo aus sein Vater vielleicht »zu Fuß über die Pyrenäen gegangen und irgendwo
auf der Flucht verschollen ist«.220 Der Verschollene nannte Kafka seinen Amerika-
Roman. Auch Sebalds Protagonisten wären spurlos vergessen, wäre da nicht der
Erzähler, der ihren Spuren nachgeht. Aber der Ausgewanderte trägt diesmal das

217
Georg Lukács: Vorwort. In: G. L.: Die Theorie des Romans. Neuwied / Berlin 1965,
S. 5.
218
Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: F.
K.: Er. Hg. v. Martin Walser. Frankfurt / M. 1966, Nr. 93, S. 200.
219
Vgl. GS,2, II, S. 416.
220
A, S. 366. Damit wird wohl auf Benjamins verunglückten Fluchtversuch angespielt.
Anachronie 219

Notwendige zu seiner Rettung bei. Unter Aufbietung aller Kräfte (und mit etwas
Hilfe vom Erzähler) gelingt es ihm, zu sich selber zurückzufinden. Selbstflucht bis
hin zum Selbstmord ist hingegen das stumme Los aller anderen Sebaldschen Aus-
gewanderten.
»Hie ›Sinn des Lebens‹ – da ›Moral von der Geschichte‹: mit diesen Losungen«,
so Benjamin, »stehen Roman und Erzählung einander gegenüber«. Nur der Er-
zähler, der auf ein ganzes Leben zurückgreifen kann, »weiß Rat« – etwas, das
diesseits des Romans und aller »psychologische[n] Analyse« liegt.221 Bei Sebald
verhält es sich fast umgekehrt. Sein Roman hält die quasi psychotherapeutische
Moral bereit, die den vier rat- und trostlosen Erzählungen, Die Ausgewanderten,
nur indirekt, ex negativo, zu entnehmen war. Nur der, so lautet die implizite
Maxime, entgeht dem Schicksal, an der tickenden Zeitbombe der Emigration zu-
grundezugehen, der seine Geschichte zu erzählen weiß. Das verhaltene happy end,
das mit deren Befolgung einhergeht, stellt eine Ausnahme dar, die das Los der
anderen Ausgewanderten bestätigt.
Dass Benjamins Leben und Denken dieser fiktiven Biographie Pate gestanden
haben, ist an vielen Motiven und Details abzulesen. Zum einen tritt Austerlitz als
vagabundierender Dozent für Architekturgeschichte am Londoner Courtauld In-
stitute eine Art Nachfolge Benjamins an, der sich in Frankfurt mit seiner (in
Austerlitz’ selber barocker, allegorisch verwilderter Bibliothek sicherlich befind-
lichen) Trauerspielarbeit nicht habilitieren konnte. Zum anderen mutet sein For-
schungsobjekt – die Zivilisationsgeschichte des 19. Jahrhunderts im Brennspiegel
ihrer Baugeschichte – wie ein fehlendes Kapitel aus Benjamins Passagenarbeit an.
Bereits in Paris, wo er, wie einst Benjamin, sein Material während eines mehrjäh-
rigen Aufenthalts an der Bibliothèque Nationale in umfangreichen »Konvolu-
ten«222 einsammelt, trägt sich Austerlitz mit dem Gedanken, aus seinen Studien ein
Buch zu machen, dessen Niederschrift er, wie Benjamin, immer weiter hinaus-
schiebt.223 Als er vorzeitig in den Ruhestand tritt, um seine »stets aus dem Stegreif
gemachten, allenfalls in provisorischer Form festgehaltenen Bemerkungen und
Kommentare, die sich zuletzt ausbreiteten in tausende von Seiten«,224 endlich zu
Papier zu bringen, verfällt er einer unüberwindlichen Schreib- und Denkblockade.
Spätestens an dieser Stelle wird die Abweichung vom – niemals genannten – Mo-
dell unübersehbar. Zunächst auf der biographischen Ebene: Benjamins Passagen-

221
Vgl. GS, 2, II, S. 455, 464–446.
222
A, S. 179. Das Passagen-Werk besteht aus 26 bzw. 36 alphabetisch geordneten Kon-
voluten, von denen zunmindest drei sich mit Austerlitz’ Interessen decken: C (»anti-
kisches Paris, Katakomben, démolitions, Untergang von Paris«), K (»Traumstadt und
Traumhaus [. . .]«), L (»Traumhaus, Museum, Brunnenhalle«) (GS, V, I, S. 133–155, 490–
523).
223
A, S. 178. Benjamin beschreibt das »saturnische Tempo« der Passagenarbeit und die
»abwartende, dilatorische« Weise, mit er an sie herangeht, als Versuch, »die Zeit auf
seine Seite zu bringen« (GB, V, S. 88, 96f.).
224
A, S. 178.
220 Irving Wohlfarth

projekt gehörte zur »Trümmer- oder Katastrophenstätte« seiner Produktion nicht


etwa wegen einer Schreibhemmung (oder der Depressionen, von denen er Scho-
lem mehrfach, aber nicht in diesem Zusammenhang berichtete), sondern vor allem
weil er als freier, zunehmend vogelfreier Schriftsteller und beanspruchter Stipen-
diat des selber exilierten Instituts für Sozialforschung niemals über die Zeit ver-
fügte, es durchzuführen.225
Das »geträumteste« Objekt Baudelaires und der französischen Surrealisten war
die Stadt Paris.226 Vom Traum zum Alptraum war es jedoch schon damals nur ein
Schritt. Nur in einem gebrochenen Sinn war die Hauptstadt die »Heimat« des
Flaneurs.227 Dessen Blick war, so Benjamin, der des Allegorikers, des Entfrem-
deten, »dessen Lebensform die kommende trostlose des Grossstadtmenschen mit
einem versöhnenden Schimmer umspielt«.228 Bei Baudelaire sieht der Flaneur die
Stadt durch den »Schleier« der Menge und die »Phantasmagorien« des Markts und
der Passagen hindurch.229 Dieser Blick wird durch den eines späteren, noch be-
drohteren Flaneurs entzaubert: des 1933 nach Paris, der Heimat des Flaneurs und
der Exilierten, emigrierten, dessen Passagenarbeit zum Erwachen des »Traumkol-
lektivs« aus seinen Phantasmagorien beitragen sollte.230 Die Lage des deklassierten
Emigranten, die er mit der des im eigenen Lande exilierten Proletariers in Bezie-
hung setzt, gilt ihm als ein »Schlüssel« zur Großstadt.231 Eigene und kollektive
Erfahrungen fallen auf dieser letzten Schwundstufe der flânerie zusammen.
Ein Ineinander individueller und kollektiver Momente zeigen Austerlitz’ Wan-
derleben und Forschung ebenfalls auf. Aber es wird vom Autor einerseits wie am
Reißbrett entworfen, andererseits zunehmend ins Private zurückgenommen. War
der frühe Glas- und Eisenbau der Passagen, Ausstellungshallen und Bahnhöfe die
Keimzelle des Passagenprojekts gewesen, so zieht es Sebalds Nachtwandler fast
ausschließlich zu den Bahnhöfen als den Stätten eines »ungesühnten Verbre-
chens«,232 dessen welt- und einzelgeschichtliche Aspekte der Roman planvoll syn-
chronisiert. Da ist zunächst der Antwerpener Zentralbahnhof, dessen Fassade und
Eingangshalle Austerlitz als eine dem Weltverkehr und dem belgischen Koloni-

225
Vgl. hierzu GB, IV, S. 112f.
226
GS, V, I, S. 55; II, 1, S. 300.
227
»Etre hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi« (OC, S. 1160): so die
verklärende Selbstbeschreibung des Flaneurs bei Baudelaire. Dazu Benjamin: »Dem
Flaneur ist seine Stadt – und sei er in ihr geboren, wie Baudelaire – nicht mehr Heimat.
Sie stellt für ihn einen Schauplatz dar« (GS, V, I, S. 437. J66 a, 6). Der Dichter, der
seinen Heiligenschein verloren hat, ist aller Selbststilisierung zum Trotz »kein Fla-
neur« (GS, I, 2, S. 652).
228
GS, V, I, S. 54.
229
GS, V, I, S. 54, 60.
230
GS, V, I, S. 490–492.
231
GS, I, 2, S. 672. Vgl. GS, V, I, S. 437 (J66a, 5). »Großstadterfahrung des Heimatlo-
sen: Proletarier, Flaneurs, Emigranten« (Walter Benjamin Archiv, Akademie der
Künste, mss. 453).
232
A, S. 413.
Anachronie 221

alismus geweihte »Kathedrale«233 ebenso intensiv studiert wie Benjamin die Pas-
sagen als »Tempel des Warenkapitals«;234 die Liverpool Street Station, unter dessen
Pflaster er vergangenes menschliches Leben aufgeschichtet sieht; der Gare d’Aus-
terlitz, neben dem die Galeries d’Austerlitz, in denen das beschlagnahmte Hab
und Gut deportierter Juden gelagert wurde, einst standen, bis sie eines Tages unter
der pharaonischen Bibliothèque de France verschüttet wurden; und an erster und
fast letzter Stelle der Prager Bahnhof, wo das Kind von der Mutter auf immer
getrennt wurde. Sein bevorzugter Forschungsgegenstand steht somit für sein ver-
gessenes Urtrauma. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie Motive aus Benja-
mins Werkstatt in diesem Roman verarbeitet werden.235
Als Kultur- und Architekturhistoriker hebt Austerlitz vor allem die Maßlosig-
keit der kapitalistischen Bauweise und die Familienähnlichkeit zwischen ihren
Monumenten (Bahnhöfe, Fabrikhallen, Gefängnisse, Justizpaläste, Riesenhotels,
Arbeitersiedlungen usw.) hervor. Sein Kamera-Auge hält ebenfalls deren einge-
baute Baufälligkeit fest. Aber dort, wo Benjamins erstes Passagen-Exposé mit
Balzac von den »Ruinen« und mit Marx von den »Erschütterungen« der bürger-
lichen Welt sprach, können Sebald / Austerlitz ein halbes Jahrhundert später nur
noch das nicht enden Wollen einer sich durch alle Umwälzungen hindurch erhal-
tenden Dynamik236 konstatieren, die auf keine Revolution mehr, vielleicht jedoch
auf eine naturgeschichtliche Katastrophe zutreibt. Am nachhaltigsten verweilt
Austerlitz’ Blick bei den »hypertrophischen Auswüchsen«, der »paranoiden Ela-
boration« und dem urgeschichtlichen Anblick der militärischen Festungen, von
denen einige (Breendonk, Terezin), nach den Wechselfällen einer langen Erobe-
rungsgeschichte, jüngst als Konzentrationslager gedient haben.237 Diese überdi-
mensionalen Bauwerke sind »von Anfang an im Hinblick auf ihr nochmaliges
Dasein als Ruinen«238 konzipiert worden – eine Formel, die die Schlusssätze des
Trauerspielbuchs mit dem des Passagen-Exposés zusammenkoppelt.239 Nur noch
233
A, S. 20.
234
GS, V, I, S. 86 (A2, 2).
235
Sebald flicht zugleich die Einsichten anderer, späterer Autoren ein. Wittgenstein ver-
dankt er den Begriff der Familienähnlichkeit (A, S. 52, 176); die Überlegungen, die er
bei Canetti zum Verhältnis von Macht, Größen- und Verfolgungswahn in Albert
Speers architektonischer Wunschwelt, zu Hitlers Bewunderung für die Pyramiden und
zum Zuchthaus als Panoptikum findet (BU, S. 94–97), haben Spuren in Austerlitz
hinterlassen; die Beschreibung der panoptischen Bahnhofsuhr, die alle Reisenden
überwacht, und der Hinweis auf die »Architektur des Strafvollzugs« deuten auf eine
Lektüre von Michel Foucaults Strafen und Überwachen (A, S. 22. 178).
236
Zielscheibe ist hier offenbar ebenso sehr die Industriegesellschaft wie die Warenwirt-
schaft. Das Traumgesicht der von der Großindustrie sowjetrussischen Typs verseuch-
ten nordböhmischen Stadt Dux (A, S. 292–294) bietet einen ebenso apokalyptischen
Anblick wie die kapitalistische Weltstadt Paris, wo sich alles Leben lautlos und lang-
sam zerreibt (A, S. 404–409).
237
A, S. 26–32.
238
A, S. 32.
239
»Im Geiste der Allegorie ist [das deutsche Trauerspiel] als Trümmer, als Bruchstück
konzipiert von Anfang an« (GS, I, 1, S. 409).
222 Irving Wohlfarth

im Geiste der Trauer nimmt Austerlitz die Aufgabe wahr, die Benjamin dem
materialistischen Historiker zugedacht hatte, »die Geschichte gegen den Strich zu
bürsten«.240
Der Nachweis solcher Konvergenzen und Divergenzen ließe sich beliebig fort-
setzen. Es ist, als hätte sich Austerlitz stillschweigend vorgenommen, an Benja-
mins Passagenprojekt weiterzuarbeiten. Und zwar, wie es scheint, ganz in dessen
Geiste: nämlich in »monadologischer«, hier baugeschichtlicher Fokussierung und
im Lichte der dazwischenliegenden Geschichte, so etwa wie es Adorno und Hork-
heimer während und nach der Shoah mit der Dialektik der Aufklärung auf ge-
schichtsphilosophischer Ebene getan hatten.
Es versteht sich von selbst, dass ein derartiges Forschungsprogramm im Rah-
men eines Romans nur beschrieben, nicht ausgeführt werden kann. Dies würde
erst dann illegitim, wenn das so umrissene Programm hinter sein Modell zurück-
fiele. Es fragt sich, ob das nicht hier der Fall ist. Dass der Terminus, mit dem
Austerlitz sein Vorhaben umschreibt – »Zivilisationsgeschichte« – sich kaum von
jener »Kulturgeschichte« unterscheidet, gegen die Benjamin sein Projekt mit aller
Schärfe abgrenzt,241 ist ein erstes Indiz. Austerlitz’ Vorstellungen schwanken zwi-
schen dem »Plan eines mehrbändigen systematisch-deskriptiven Werks« und einer
»Reihe von Versuchen über Themen wie Hygiene und Assanierung, Architektur
des Strafvollzugs, profane Tempelbauten, Wasserheilkunst, zoologische Gärten,
Abreise und Ankunft, Licht und Schatten, Dampf und Gas, und ähnliches
mehr«,242 darunter Monographien über den Antwerpener Bahnhof und den Brüs-
seler Justizpalast. Der enzyklopädische »Plan« erinnert an Maxime Du Camps
sechsbändiges Standardwerk über Paris,243 die »Reihe von Versuchen« hingegen an
Dolf Sternbergers assoziative Essayistik zu verwandten Themen.244 Der Gegen-
satz, den die Passagenarbeit zur »bisherigen und überkommenen Geschichtsfor-
schung«245 bilden sollte, unter anderem zu diesen beiden Exemplaren derselben,
wird damit abgestumpft.
Besonders an Du Camp scheiden sich die Projekte. So »richtungsweisend«246
dessen Monumentalwerk für Austerlitz trotz seiner Abneigung gegen das Mo-
numentale gewesen ist, so wenig konnte es das für Benjamin sein, der sein Material

240
GS, I, 2, S. 697.
241
Vgl. GS, V, I, S. 60 und Irving Wohlfahrt: Smashing the Kaleidoscope. Walter Benja-
min’s Critique of Cultural History. In: Michael Steinberg (Hg.): Walter Benjamin and
the Demands of History. Ithaca / London 1996, S. 190–205.
242
A, S. 178.
243
Maxime du Camp: Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie dans la deuxième moitié
du XIXème siècle. Paris 1869–1875.
244
Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten des neunzehnten Jahrhunderts. Frank-
furt / M. 1974 (erstmals 1938). Vgl. Benjamins vernichtende Rezension dieses Buchs als
faschistoide Verfälschung seiner eigenen Gedanken (GS, III, S. 572–579); und zu des-
sen Titel Konvolut Q: »Das Panorama« (GS, V, II, S. 665–665).
245
GB, V, S. S. 143f.
246
A, S. 405.
Anachronie 223

nicht »inventarisieren«, sondern »verwenden« will.247 Was ihn dennoch an Du


Camps Kompendium interessiert, ist die Stofffülle248 und vor allem der Anlass: die
plötzliche Ahnung, die Du Camp, Hugo (»An den Triumphbogen«), Léon Dau-
det (Paris vécu) und Baudelaire gemeinsam war, dass man das Bild der in voller
Haussmannisierung begriffenen Hauptstadt festhalten muss, bevor sie wie ein an-
tikes Reich in den Staub versinkt.249 Austerlitz / Sebald spielen ihrerseits auf diese
»überwältigende Vision« an. Ihr Hinweis dürfte Paul Bourgets beeindruckender
Darstellung der plötzlichen Inspiration entnommen sein, der sich Du Camps gan-
zes Werk verdankt – einer Darstellung, auf die sie vermutlich in Benjamins Paris
des Second Empire bei Baudelaire oder im Passagen-Werk gestoßen sind.250
Dort hält Benjamin Du Camps »blitzhafte Eingebung«251 samt der »antike[n]
Inspiration [seines] modernen verwaltungstechnischen Werkes über Paris« fest.
Diese letzte Formel kehrt bei Sebald in einem scheinbar ganz anderen Zusam-
menhang wieder, wenn er Austerlitz – mit einer H. G. Adlers Standardwerk252
abgeguckten – Akribie auf den »mit einem wahnwitzigen verwaltungstechnischen
Eifer« geregelten »Gliederungsplan« von Terezin eingehen lässt.253 Die Eigenart
von Sebalds Blick, der von einem zum anderen realen oder theoretischen Großbau
schweift, ist hier deutlich zu erkennen. Der wahnsinnige Gliederungsplan von
Theresienstadt spiegelt sich nicht nur im Diagramm und in der Registraturkam-
mer des Lagers,254 die Austerlitz’ »wahrer Arbeitsplatz«255 gewesen wäre, oder in
anderen Festungsbauten wieder, sondern angeblich auch in der monströsen An-
lage der neuen Bibliothèque Nationale de France (BNF), wo es sich im Gegensatz

247
GS, V, I, S. 574. N1a, 8.
248
Das Passagen-Werk enthält 26 Exzerpte aus Du Camps Werk.
249
»Man findet Herculaneum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschütten die
Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane«. Franz Hessel zitiert diese
Stelle aus Barbey d’Aurevilly (Du dandyme et de Georges Brummell: Paris 1847) als
Motto zu: Spazieren in Berlin. Leipzig 1929.
250
Diese Vision ist laut Austerlitz die eines Mannes, der »zuvor die, wie er schrieb, aus
dem Staub der Toten entstandenen Wüsten des Orients durchreist hatte« (A, S. 406).
Vgl. hierzu das ausführliche Bourget-Zitat bei Benjamin (GS, I, 2, S. 589 und V, I,
S. 144, C, 4: »Il se prit soudain, lui, le voyageur d’Orient, le pèlerin des muettes
solitudes où le sable est fait de la poussière des morts, à songer [. . .]«). Das Konvolut C
des Passagen-Werks, in dem das Zitat steht, trägt den Titel: »antikisches Paris, Kata-
komben, démolitions, Untergang von Paris«. Schwer vorstellbar, dass Sebald in einem
ihm so naheliegenden Konvolut nicht gestöbert haben soll. Dass Du Camps, nicht
aber Benjamins Paris-Buch in Austerlitz genannt wird, dürfte zum vorhin genannten
Versteckspiel gehören.
251
So übersetzt Benjamin Bourgets Formel »une de ces intuitions fulgurantes«. Vgl.
hierzu folgende Aufzeichnung zu seinem eigenen Paris-Buch: »In den Gebieten, mit
denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnach-
rollende Donner« (GS, V, I, S. 570. N1, 1).
252
H. G. Adler: Theresienstadt 1941–1945. Tübingen 1955.
253
A, S. 345ff.
254
Siehe die Abbildungen A., S. 336f., 402f.
255
A, S. 401.
224 Irving Wohlfarth

zur alten (BN) nicht gut arbeiten lässt.256 Vom 18. Stockwerk des Südostturms
dieses Mausoleums schaut Austerlitz, wie einst Du Camp vom Pont neuf, auf die
Metropole wie auf eine untergehende Welt hinab.257 Diese Sichtweise hatte ihre
erste kanonische Formulierung in Baudelaires Gedicht »Le Cygne« gefunden, das
bei einem ähnlichen Anlass – dem Überqueren des in Umbau befindlichen Nou-
veau Carrousel – entstanden war: »Paris change! mais rien dans ma mélanco-
lie / N’a bougé! [. . .] tout pour moi devient allégorie«.258
Gerade hier, mitten im Dickicht intertextueller Bezüge, machen sich entschei-
dende Differenzen wieder bemerkbar. Benjamins Blickweise fällt nicht – oder
besser: nicht nur – mit der allegorischen zusammen, die er ins Zentrum seiner
Baudelaire-Deutung rückt. Diese stellt vielmehr einen seiner bevorzugten Gegen-
stände dar. Solche Objektivierung, die es dem Trauerspielbuch erlaubte, dem
»Schwindel« des barocken Weltgefühls standzuhalten, ermöglicht es hier, die Wie-
derkehr der barocken Allegorie bei Baudelaire zu sichten. Gerade weil Benjamin
die allegorische Sicht des Melancholikers so inwendig teilt, setzt er alles daran,
Abstand zu ihr zu gewinnen. Solche Distanz fehlt weitgehend in Austerlitz, wo
die erzählte und die Erzählerfigur eher Spiegelfiguren sind, Doppel- und Wieder-
gänger, die beide unterm Bann einer allegorischen Weltsicht stehen.
Es besteht jedoch ein evidenter Unterschied zwischen diesen zwei Figuren und
ihren jeweiligen Projekten. Während Austerlitz an der Bewältigung der unüber-
sichtlichen Materialien, die sich im Laufe seiner Recherchen angesammelt haben,
scheitert, gelingt es dem Erzähler, oder vielmehr dessen Erzähler – dem Autor
Sebald –, sein Projekt – Austerlitz – zu Papier zu bringen. Es fragt sich nur: um
welchen Preis?
Ein kurzer Rückblick auf den verschlungenen, oft unterbrochenen Werdegang
der Passagenarbeit mag den Ansatz einer Antwort enthalten.1928 als essayistischer
Entwurf unter dem Titel »Eine dialektische« – oder »dichterische« – »Feerie«
konzipiert, nahm sie in den darauf folgenden zwölf Jahren die Ausmaße einer
groß angelegten, ständig wachsenden, immer wieder umstrukturierten »Urge-
schichte des 19. Jahrhunderts« an. Dabei drängte sich Benjamin auf, dass die Ar-
beit eine »unerlaubt ›dichterische‹« Gestaltung nicht mehr zuließ.259 Ihre ur-
sprünglich »romantische«, »rhapsodische« Form erschien ihm überholt, von einer
anderen hatte er vorläufig keine genauere Vorstellung.260 Später eingeführte Be-
griffe wie »literarische Montage«261 und »Konstruktion«262 zeigen an, dass es ihm
256
Vgl. die kontrastierenden Fotografien des Lesesaals der alten und der Außenseite der
neuen Nationalbliothek (A., S. 390f.), sowie die Aufnahme, die ein kleines Grabmo-
nument des Friedhofs Montparnasse dem riesigen Turm Montparnasse – Mont Par-
nasse! – entgegenstellt (A., S. 368).
257
A, S. 405–409.
258
OC, S. 82.
259
GB, V, S. 143.
260
GB, V, S. 97.
261
GS, V, I, S. 574. N1a, 8.
262
GS, V, I, S. 575. N2, 6.
Anachronie 225

um eine neue Verbindung von wissenschaftlicher und ästhetischer Darstellungs-


weise ging.263 1938 entschied er sich, den Baudelaire-Komplex von der Passagen-
arbeit zu lösen und ihn zu einem »Miniaturmodell« des Gesamtprojekts auszu-
arbeiten. Als 1940 beide Projekte durch seinen erzwungenen Selbstmord and der
französisch-spanischen Grenze endgültig abgebrochen wurden, waren die Mate-
rialien des Baudelaire-Buchs (bis auf den vollendeten mittleren Teil) noch lange
nicht durchkonstruiert. Nichts jedoch erlaubt den voreiligen, oft gezogenen
Schluss, dass die Strukturierung der Passagenarbeit eine prinzipiell nicht zu lö-
sende Aufgabe darstellte. Im Gegenteil: Die hinterlassenen Schematisierungen und
Regieanweisungen zeigen, dass ein einzigartiges wissenschaftliches Experiment
hier in vollem Gang begriffen war, das in den fertiggeschriebenen Teilen des Bau-
delaire seine ersten Früchte gezeitigt hatte.
Sebalds Roman hingegen – eine durchaus literarische, wenn auch gebrochene,
mit dokumentarischen Zeugnissen durchsetzte Form – erzählt die Geschichte ei-
nes gescheiterten wissenschaftlichen Projekts und eines halbwegs zurückgewon-
nenen Lebens, frei nach dem Motto: Wirf weg, damit du gewinnst. Damit tritt
eine andere weitreichende Divergenz zutage. Die Funktion, die Austerlitz’ Arbeit
in seinem inneren Haushalt hat, steht der anti-psychologischen Ausrichtung von
Benjamins gesamtem Projekt diametral entgegen. Dieses bewegt sich, mit seinem
Surrealismus-Aufsatz gesprochen, in einem Raum, wo »der politische Materialis-
mus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Indivi-
duum [. . .] nach dialektischer Gerechtigkeit, so dass kein Glied ihm unzerrissen
bleibt, miteinander teilen«.264 Dort, wo Benjamin auf das heilsame Auseinander-
reißen des sogenannten Individuums setzt – so sieht sein Dionysos aus –, geht es
Sebald um die heilende Wiederherstellung einer zerrissenen Psyche.265 Die Stadien
ihrer Gesundung ersetzen die des Forschungsprojekts. Es geht nunmehr um eine
private, familiäre Rettungsaktion.266
Es stellt sich nämlich, wie schon erwähnt, heraus, dass Austerlitz’ Recherchen
eine Art Deckfunktion haben. Seine wissenschaftliche Forschung bringt ihn auf

263
Das Goethe-Motto des Trauerspielbuchs, wonach »die Wissenschaft [. . .] notwendig
als Kunst« zu denken ist (GS, I, 1, S. 207), hätte auch dem Passagen-Werk voranstehen
können.
264
GS, II, 1, S. 309. Vgl. hierzu Irving Wohlfahrt: Dionysischer Materialismus. Über einen
Satz Walter Benjamins. Erscheint in: Ashraf Noor (Hg.): Walter Benjamin und das
Gesetz. München 2009.
265
Vgl. zur möglichen Funktion, die Benjamins Projekt in seinem Haushalt hatte, Gretel
Karplus‹ spielerische Bemerkung, er schrecke vor dessen Abschluss deshalb zurück,
weil er befürchte, »den Bau dann verlassen zu müssen« (AB, S. 370). Dies ist vermut-
lich eine Anspielung auf Kafkas Erzählung Der Bau. In der Passagenarbeit selber
werden die Motive des Labyrinths und des Zögerns mit dem Verhalten des Flaneurs,
an anderer Stelle mit dem des Melancholikers in Beziehung gesetzt.
266
»Nichts loyaler«, bemerkt Benjamin zu Proust, »als wie er ständig dem Leser gegen-
wärtig zu halten sucht: die Erlösung ist meine private Veranstaltung« (GS, I, 2, S. 643).
Kein solcher Begleitgestus findet sich bei Sebald / Austerlitz.
226 Irving Wohlfarth

die Spur seiner eigentlichen Suche und lenkt ihn gleichzeitig von ihr ab. Der
psychische Aufwand, den diese unbewusste Abwehr ihm abverlangt – der eines
»Hochseilartisten«267 –, wirkt sich so lähmend auf ihn aus, dass er schließlich in
einen Schwindel gerät, der an die Sprach- und Lebenskrise von Hofmannsthals
Lord Chandos erinnert.268 Die »peinliche Unwahrheit [s]einer Konstruktionen«
und Formulierungen wird ihm schließlich derart bewusst, dass er seine ganzen
Arbeitspapiere auf dem Komposthaufen am Ende seines Gartens vergräbt.269
Damit endet sein Forschungsprojekt. Es ist deshalb unkonstruierbar gewesen,
weil Dringenderes sich ständig dazwischenschob: das Bedürfnis nach der Rekon-
struktion der eigenen Geschichte. Das Konstruktionsproblem hingegen, vor dem
die Erzählfigur, alias der Autor, steht, ist das des vorliegenden Romans. Der Au-
tor, der in anderen Büchern von eigenen Lebenskrisen und damit verbundenen
Schreibmühen berichtet, hat diese Aufgabe durch den Ausbau der in den »langen
Erzählungen« verwendeten Montage-Technik gelöst. Zwischen solcher Roman-
technik und der »literarischen Montage« der Passagenarbeit, die sich jede »uner-
laubt ›dichterische‹« Gestaltung verbot, liegen Welten. Von Benjamins Projekt und
der dazu erfundenen Technik her stellt sich fast unumgänglich die Frage nach dem
Sinn und Nutzen von dessen Sebaldschen Roman(t)isierung. Zu solcher Romantik
gehört der Topos eines notwendigen existenziellen und / oder schriftstellerischen
Scheiterns.
Im Unterschied zu Austerlitz’ Entwürfen haben sich die erhaltenen Passagen-
Notizen und -Exposés nicht als »falsch«, »unbrauchbar« oder »verzeichnet« er-
wiesen. Von den »Ersten Notizen«270 und »Frühen Entwürfen«271 an ist das Pro-
jekt im Keim schon da und zugleich in ständiger Entwicklung begriffen. Was
allerdings bis zuletzt fehlt, dies betont Benjamin wiederholt, ist die »Konstruk-
tion«. Aber er weiß, wie sie aussehen muss. Ihr Flucht- und Angelpunkt hat in der

267
Vgl. A, S. 181. Das Bild der »Balancierstange« hat hier einen etwas anderen Stellenwert
als bei Victor Klemperer, wo es die Funktion des philologischen Notizbuches bezeich-
net, das dieser während der Hitlerzeit führte (LTI. Ulm 1996, S. 15).
268
»Freilich erwies sich bereits bei der ersten Durchsicht meiner [. . .] Papiere, dass es sich
bei ihnen größtenteils um Entwürfe handelte, die mir ganz unbrauchbar, falsch und
verzeichnet erschienen. Was einigermaßen standhielt, begann ich neu zuzuschneiden
und anzuordnen [. . .]. Aber je größer die Mühe [. . .], desto kläglicher dünkten mich die
Ergebnisse und desto mehr ergriff mich, schon beim bloßen Öffnen der Konvolute
und Umwenden der [. . .] Blätter, ein Gefühl des Widerwillens und Ekels, sagte Aus-
terlitz. [. . .] Keine Wendung im Satz, die sich nicht als eine jammervolle Krücke erwies,
kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen. [. . .] . Das gesamte Gliederwerk
der Sprache [. . .] war eingehüllt in einem undurchdringlichen Nebel (A, S. 178–183).
Vgl. zu den wörtlichen Parallelen mit Hofmannsthals »Brief des Lord Chandos« Sant-
ner: On Creaturely Life (Anm. 11), S. 109f. Der philologische Nachweis wirft die
kritische Frage auf, wozu das Ineinanderdichten dieser zwei großen Komplex, Ben-
jamins Passagenarbeit und Chandos’ Sprachkrise, gut sein soll.
269
A, S. 174–184.
270
GS, V, 2, S. 993–1038.
271
GS, V, 2, S. 1041–1063.
Anachronie 227

historischen Gegenwart zu liegen.272 Den kritischen Augenblick, in dem die


disparaten Elemente zu einem »dialektischen Bild« zusammenschießen sollen, be-
legen die »Thesen« mit dem Terminus »Jetztzeit« und umschreiben sie folgender-
maßen: Das Denken hält inne, die angesammelte Bild- und Gedankenmasse ver-
dichtet sich, die Konstellation »kristallisiert sich« schockhaft zu einer »Mo-
nade«.273 Es handelt sich um eine »profane Erleuchtung«, die das Subjekt mit dem
Unbewussten des Kollektivs – das nicht Jungs »kollektives Unbewusste« ist –
verbindet. Dieses verschwindende Subjekt ist ein traumdeutendes Medium eigener
Art: kein parapsychologisches, sondern eines der historisch-politischen Konstel-
lation. Diese ist es, die der Konstruktion zugrunde liegt. Letztere fehlt – aber jede
abgeschlossene Arbeit Benjamins trägt zu ihr bei.
Zwar scheint Austerlitz ebenfalls auf eine gewisse Kristallisation zu warten, die
auch ihm schließlich, auf anderer Ebene, zuteil wird. Sie ist nicht mehr die objek-
tive Eingebung, in der die historische Gegenwart sich begegnet, sondern die sich
zuspitzende Lebenskrise, durch die ein Traumatisierter zu sich kommt.274 Sein
Forschungsprojekt bleibt dabei auf der Strecke. Die Szene, in der der Erzähler ihn
bei der Arbeit findet, bildet einen – freilich bewegenden und vielleicht lehrrei-
chen – Kontrast zum soeben beschriebenen Kristallisationsprozess. Austerlitz
sitzt vor einem Tisch und legt ältere Fotografien stundenlang aus, dreht sie »ähn-
lich wie bei einer Partie Patience« um, schiebt sie in eine »aus Familienähnlich-
keiten sich ergebende Ordnung« übereinander und zieht sie nacheinander aus dem
Spiel, »bis nichts mehr übrig blieb als die graue Fläche des Tischs, oder bis er sich,
erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, hinlegen [musste] auf der Ot-
tomane«.275 Spürt er, wie die Zeit sich in ihm »zurückbiegt«, so kommt es den-
noch zu keinem Jetzt. Er ist ein »Wartender«, aber kein profan Erleuchteter und
endet auf einer Freudschen Ottomane.
Der Komposthaufen, auf dem seine Papiere landen, erweist sich jedoch als
fruchtbarer Humus. Ein Jahr später führt ihn eine Nachtwanderung mit schlaf-
wandlerischer Sicherheit zur Liverpool Street Station, die nicht nur, wie Benja-
mins Pariser Passagen, ein unheimlicher »Eingang zur Unterwelt«,276 sondern
272
GB, VI, S. 185. Eine solche Konstruktion des Materials war, schreibt Benjamin, bisher
vor allem seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
zierbarkeit, das eine wesentliche Stelle im Passagenkomplex hatte, gelungen. Hinzu
kamen die redigierten Teile der Baudelaire-Arbeit. Das Passagenmaterial hatte einige
vorläufige »Kristallisationen« erfahren (GB, V, S. 96–98), nicht jedoch eine endgültige,
auf andere Weise vorläufige.
273
GS, I, 2, S. 701–703.
274
Die Straße führt den Flanierenden in eine Vergangenheit, »die umso tiefer sein kann als
sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Zeit einer Jugend. Warum
aber die seines gelebten Lebens?« (GS, V, 2, S. 1052; abgewandelt in GS, V, I, S. 524).
Diese Sätze passen weniger gut zu Austerlitz. So weit sein geschichtlicher Tiefblick
reichen mag, dieser kreist schließlich um die Zeit seines (un)gelebten Lebens.
275
A, S. 175–176. In Baudelaires erstem »Spleen«-Gedicht führen zwei Spielkarten ein
düsteres Zwiegespräch über ihre verflossenen Liebschaften (OC, S. 69).
276
A, S. 188.
228 Irving Wohlfarth

auch, wie in der barocken Sicht aufs irdische Trauerspiel, eine »Schädelstätte« ist,277
die diesmal, wie am Ende des Trauerspielbuchs, einen »Umschwung« gestattet.
Das blendende déjà vu, das Austerlitz im »sogenannten Ladies Waiting Room«
erwartet, ist das Traum-, Erweckungs- und Kristallisationserlebnis, durch das er
auf die Archäologie der eigenen Existenz stößt.278 Auf den dadurch ausgelösten
Zusammenbruch folgt ein langer Goethescher Heilschlaf. Ein kathartischer Wen-
depunkt ist erreicht worden. Austerlitz’ Forschungsprojekt wird fortan vom wah-
ren Gegenstand seiner Nachforschungen abgelöst. Es war nur ein psychisch not-
wendiger Umweg zum Ziel. Nicht dass seine Bedeutung rückwirkend entwertet
würde. Im Gegenteil: Es ist ganz offenbar eine Herzensangelegenheit des Autors,
der selber einer langen Reihe vergleichbarer Projekte nachgeht. Aber das ändert
nichts daran, dass es jetzt abtritt, als hätte es seine Schuldigkeit getan.
Wer möchte Sebald verbieten, Benjamins Passagenprojekt eine Nebenrolle in-
nerhalb eines scheinbar verwandten, letztlich sehr verschiedenen ästhetischen Pro-
jekts zuzuweisen und ihm damit ein kleines Denkmal am Wegrand zu setzen? Es
ist dennoch erlaubt, über die ungewollten Konsequenzen dieses Verfahrens nach-
zudenken und eine Verbindung zur bisherigen Rezeptionslage der Passagenarbeit
herzustellen. Es fragt sich, ob Austerlitz nicht ins Fahrwasser der Dauermode
geraten ist, die der Biographie den Vorrang vorm Werk gibt und die Grenzen
zwischen Biographie, Fiktion und Mythos aufweicht.279 Wird nicht damit die auch

277
GS, I, 1, S. 405.
278
A, S. 191–197. Diese Archäologie hat ihr Gegenstück bei Freud, Proust und Benjamin.
»Im strengsten Sinn episch und rhapsodisch muss daher wirkliche Erinnerung ein Bild
zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht
nur die Schichten angeben muss, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene
andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren« (»Ausgraben und Erinnern«,
GS, IV, 1, S. 400f.). Die Stelle könnte als Motto für Sebald / Austerlitz’ Erinnerungs-
arbeit stehen. Die Passagenarbeit stellt sich die Aufgabe, dieses Modell aufs Kollektiv
zu übertragen, um dessen Gedächtnis nicht nur in seinen individuellen Brechungen
aufzuzeigen.
279
Vgl. zu Benjamins Kritik an der »neuen Biographik« von Otto Ludwig, Lytton Stra-
chey, André Maurois u. a. GS, VI, S. 143f.; zu Friedrich Gundolfs Goethe-Buch GS, I,
1, S. 155ff.; und zu Siegfried Kracauers »Gesellschaftsbiographie« Jacques Offenbach
und das Paris seiner Zeit (Amsterdam 1937) GB, V, S. 525ff. In seinem 1955 veröf-
fentlichten Aufsatz »Die biographische Mode« erinnert Leo Löwenthal daran, dass
schon Nietzsche von »unserer an die biographische Seuche gewöhnten Zeit« sprach
(Schriften 1. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt / M. 1980, S. 231–257, hier S. 232). –
Austerlitz ist keineswegs der einzige moderne Roman, der das Leben eines vergan-
genen oder zeitgenössischen Dichters und Denkers verwertet hat. Vgl. zu Benjamin,
auf unterstem Niveau, Jay Parini: Benjamin’s Crossing (New York 1997). – Das an-
spruchvollste Beispiel einer bedeutungsträchtigen Romanfigur, die sich aus den Bio-
graphien moderner Kulturgrößen zusammensetzt, ist Thomas Manns Doktor Faustus.
Hier werden Faust, Nietzsche, Mahler, Schönberg und andere unter Hinzunahme von
Adornos Philosophie der neuen Musik zu einer paradigmatischen Gestalt syntheti-
siert, die die tragische Verstrickung eines deutschen Genies im Faschismus zeigen soll.
Mit dieser schiefen Großproblematik von Kunst, Schuld und Täterschaft hat Sebalds
Anachronie 229

innerhalb der Benjamin-Forschung verbreitete Legende genährt, wonach Benja-


min aus internen – freilich nicht innerpsychischen – Gründen das Passagenprojekt
nie hätte abschließen können?280
Dass ein Projekt unvollendet blieb, beweist nicht, dass es nicht hätte vollendet
werden können. »Abgeschlossenheit«, schreibt Benjamin 1926, »liegt nicht in der
Gewalt des bloßen Denkens«.281 Wenn man dem hier zugrundeliegenden Gedan-
kengang folgt, kann es keinen annähernd endgültigen, nur einen vorläufigen Ab-
schluss geben, solange dieser nicht kollektiv getragen ist.282 Das »Scheitern« der
Passagenarbeit will innerhalb dieses Horizonts gelesen werden. Benjamins großer
Wurf war eine Wette auf die Revolution; erst deren Gelingen hätte sie demnach
voll einlösen können.
Aus alledem ergibt sich ein zweideutiges Fazit: Während Sebalds Gesamtwerk
Benjamins Passagenprojekt auf seine Weise produktiv fortschreibt, erweist ihm
der Roman, der es psychologisiert, reliterarisiert und implizit am Mythos seines
Scheiterns mitwirkt, einen schlechten Dienst.
Die Bergung der eigenen Vergangenheit unter den Bedingungen des Exils war
Benjamin kein geringeres Anliegen als Sebald / Austerlitz. Dafür stehen Texte wie
»Ausgraben und Erinnern« und vor allem Berliner Kindheit um Neunzehnhun-
dert ein. Wie eng sie mit der Passagenarbeit zusammenhängen, liegt ebenfalls auf
der Hand. Was jene für die eigene Vergangenheit leisten, will diese für die kollek-
tive versuchen.283 Aber – und darauf kommt es hier an – Benjamin hält beide
Stoßrichtungen streng auseinander:
Formen, wie die ›Berliner Kindheit‹ sie mir darbietet, darf gerade [das Passagenbuch]
an keiner einzigen Stelle [. . .] in Anspruch nehmen. [. . .] Die Urgeschichte des neun-
zehnten Jahrhunderts, die im Blick des auf seiner Schwelle spielenden Kindes sich
spiegelt, hat darin ein ganz anderes Gesicht, als in den Zeichen, welche sie auf der Karte
der Geschichte eingraben.284

Roman nichts zu tun. Aber der Mentalitätswandel, von dem seine Opfer-Thematik
zeugt, ist ebenso typisch für unsere Zeit.
280
Vgl. hierzu meine Beiträge: Links liegen gelassen. Zur Aktualisierbarkeit der Passagen-
Arbeit. In: Nikolas Schalz / Peter Rautmann (Hg.): Urgeschichte des 20. Jahrhunderts.
An Walter Benjamins Passagen-Projekt weiterschreiben. Bremen 2006, S. 19–54, ins-
bes. S. 38, und: Warum wurde die Passagen-Arbeit bisher kaum gelesen? Konjektur
über eine Konjunktur. In: Bernd Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung. Würz-
burg 2008.
281
GS, I, 1, S. 207. Anders gesagt: »Erst der erlösten Menschheit« fällt »ihre Vergangen-
heit vollauf zu« (GS, I, 2, S. 694).
282
Vgl. zur Vorläufigkeit aller Übersetzung GS, IV, I, S. 14.
283
Vgl. hierzu Burkhardt Lindner: Das ›Passagen-Werk‹, die ›Berliner Kindheit‹ und die
Archäologie des ›Jüngstvergangenen‹. In: Norbert Bolz (Hg.): Passagen. Walter Ben-
jamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1984, S. 27f.
284
GB, V, I, S. 144. Ein komplexer Dialog wird hier geführt. In einem vorausgegangenen
Brief hatte Adorno dem, wie er meint, subjektivierenden Rekurs des ersten Passagen-
Exposés auf das Bewusstsein und das Unbewusste eines Kollektivsubjekts eine Er-
neuerung der ursprünglichen, objektiv ausgerichteten Passagen-Konzeption entgegen-
230 Irving Wohlfarth

Auch Berliner Kindheit gehört somit zu den »unerlaubt ›dichterischen‹« Formen,


von denen die Passagenarbeit sich zu trennen hatte. Die geschichtlichen Fakten so
zu erfahren, als seien sie einem eben erst zugestoßen,285 verlangt eine Technik
literarischer Montage, die herkömmliche historiographische Darstellungsmodi
entliterarisiert. Sebald zielt hingegen darauf, die Grenzen zwischen Literatur und
Historiographie durch ein Ineinandermontieren von fiktionalen und dokumenta-
rischen Elementen zu verwischen und der Literatur als dem »Andenken derer,
denen das größte Unrecht widerfuhr«, letztlich den Vorrang zu geben.286
»Billig«, heißt es in Benjamins Zweiter »These«, ist der Anspruch derer, denen
Unrecht widerfuhr, »nicht abzufertigen«.287 Ihr Adressat ist der »historische Ma-
terialist« als »materialistischer Historiker«. Dieser bleibt zwar »Autor« – was ihn
bei den Fachhistorikern zusätzlich disqualifiziert –, ist jedoch fortan »Produ-
zent«.288 Es geht ihm weder darum, literarische Gattungen fortzuschreiben, noch
sie zu verabschieden. Dem entsprechen die sukzessiven Stadien der Passagenar-
beit, in deren Verlauf das Exposé »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«
einen wichtigen Einschnitt markiert. Um nur ein hier relevantes Indiz zu nennen:
Dessen Untertitel stellen bekannte Eigennamen als die Synonyme einer histori-
scher Topographie dar: »Fourier oder die Passagen«, »Baudelaire oder die Straßen
von Paris« usw. Bezeichnet Austerlitz’ Name seinerseits eine Schlacht, einen
Bahnhof, Auschwitz usw., so geht es doch letztlich um eine mit Bedeutungen
aufgeladene, wenn auch dahinter verschwindende Person.
Zu dieser Person gesellt sich die noch diskretere des Erzählers. »In der zweiten
Hälfte der sechziger Jahre«, so beginnt der Roman, »bin ich, teilweise zu Studi-
enzwecken, teilweise aus mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von Eng-
land aus wiederholt nach Belgien gefahren [. . .]«.289 Die Rede von den unerfind-
lichen Gründen wird im Roman mehrfach variiert.290 Des Rätsels Lösung findet
sich jedoch sehr bald. Nachdem der Erzähler die Außenfassade des Antwerpener
Bahnhofs eingehend studiert hat, tritt er wieder hinein und trifft auf Austerlitz,
der seinerseits dabei ist, die Innenhalle in Augenschein zu nehmen. Der Zufall, der
sie einander in der Salle des pas perdus zuführt, ist offenbar keiner; fortan treffen
sie sich immer wieder (»auf eine mir bis heute unbegreifliche Weise«), meistens
ebenfalls ohne verabredet zu sein. So wie Austerlitz mit seinem Vorleben heimlich
verabredet ist, sind sie es, wie Innen und Außen, in sofortigem wortlosem Ein-

gehalten, die er im Mond-Kapitel der Berliner Kindheit vorbildlich ausgeführt sieht.


Dies lehnt Benjamin nun seinerseits als subjektivierend ab.
285
Vgl. GS, V, 2, S. 1057, h° 2.
286
Vgl. »Ein Versuch der Restitution«, CS, S. 240–248, insbes. S. 248.
287
GS, I, 2, S. 694.
288
Vgl. »Der Autor als Produzent«, GS, II, 2, S. 683–701, insbes. 687f.
289
»[. . .] manchmal«, so schließt der Satz, »bloß für ein, zwei Tage, manchmal für mehrere
Wochen« (A, S. 9). Das unbeirrte Irren hat seine eigene unvorhersehbare, anachroni-
sche Zeit.
290
Vgl. A, S. 44, 52, 192, 196.
Anachronie 231

verständnis miteinander. Dieser emigrierte deutsch-tschechische Jude ist der wirk-


liche, gesuchte, gefundene, ja erfundene oder halluzinierte Studienzweck dieses
emigrierten deutschen Wahlengländers. Braucht jener ihn, um seine Geschichte
aufbrechen und überliefern zu können, so braucht er jenen als Partner, Anspruch,
Stoff und Inhalt, um seine Existenz als dankbar überliefernden Erzähler zu recht-
fertigen.291 Ein unauffälliges Wunder – eine vita nuova – findet hier statt: eine
Erneuerung der deutsch-jüdische Symbiose auf den ersten Blick.292 Wo besser
291
»Niemand / zeugt/ Für den Zeugen«: Paul Celans Satz in »Aschenglorie« wird hier
stillschweigend widerrufen.
292
Vgl. GS, I, 2, S. 694. Vgl. Sebalds Beschreibung seines Besuchs bei Michael Hamburger:
»Aber warum ich gleich bei meinem ersten Besuch bei Michael den Eindruck gewann,
als lebte ich oder als hätte ich einmal gelebt in seinem Haus, und zwar in allem
geradeso wie er, das kann ich mir nicht erklären« (RS, S. 217f.). Der Wunsch ist Vater
des Gedankens, in abgelebten Zeiten in einem Judenhaus gelebt zu haben. Vgl. eben-
falls die Wahlverwandtschaft zwischen Max Aurach und dem Erzähler; den »Erken-
nungsschreck«, der diesen vor dem Grab eines an seinem Geburtstag gestorbenen
Juden durchfährt; und die »gewiss nie zu ergründende« Rührung, die er vor einem
anderen Grab verspürt (DA, S. 335f.). Zwischen Deutschen und Juden sind, so Ben-
jamin (1924) lange vor der Shoah und Scholem (1965) danach, nur noch »geheime
Beziehungen« möglich: als »edle Komplizität« zwischen Einzelnen (vgl. hierzu Irving
Wohlfahrt: ›Geheime Beziehungen‹. Zur deutsch-jüdischen Spannung bei Walter Ben-
jamin, In: Studi Germanici 28 [1990], S. 251–301). Bei Sebald steht die zerstörte
deutsch-jüdische Symbiose auf geheime, ja sehr geheimnisvolle Weise wieder auf. Die
Déjà-vu-Erlebnisse, die ihm dabei zuteil werden, sind, frei nach Freuds Aufsatz
»Traum und Telepathie« (Gesammelte Werke. Bd. 13. Frankfurt / M 1980, S. 163–191),
aus der Parapsychologie in die Psychopathologie des historischen Alltagslebens zu-
rückzuholen. Etwa so: Ein guter Deutscher, Jahrgang 1943, der es nach der Shoah in
seinem Geburtsland nicht aushielt, nach England auswanderte und dort ein zurück-
gezogenes Professorenleben in der Provinz führt, fühlt sich dort, fast bis zur Selbst-
verwechslung, in einen wahlverwandten deutsch-jüdischen Schriftstellerkollegen, Mi-
chael Hamburger, ein, dessen Berliner Familie vorm Nazismus fliehen musste. – In
Die Unfähigkeit zu trauern behaupten die Mitscherlichs, die Shoah sei nur aufgrund
eines kollektiven Mangels an Einfühlung möglich gewesen. In deren Nachfolge spricht
Sebald von der Unfähigkeit der deutschen Nachkriegsliteratur, einen »authentischen
Versuch zur Trauer in der Identifikation mit den wirklichen Opfern [. . .] zu transpor-
tieren« (CS, S. 106). Dies holt er selber eigenhändig nach. An anderer Stelle hält er
jedoch fest, dass Jean Améry sich einer »durchgängigen Strategie des understatements
bedient«, die »sowohl Mitleid als auch Selbstmitleid unterbindet und die nach dem
Befund Niederlands bezeichnend ist für sämtliche Schilderungen der Opfer der Ver-
folgung« (CS, S. 155). Damit streift er den aporetischen Charakter von Einfühlung,
Identifikation und Mitleid im Zusammenhang mit der Shoah. Wie soll ein Roman
ohne sie auskommen? Aber haben nicht Nietzsche, Benjamin und andere deren Ab-
gründe lange vor der Shoah aufgezeigt? Einfühlung gilt Benjamin 1925 als »selbstbe-
fangenes Phantasieren« (GS, I, 1, S. 234) und 1940 als »Bordell« (GS, I, 2, S. 702). Auf
die Frage, »in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus sich eigentlich
einfühlt«, antworten seine »Thesen«: »unweigerlich in den Sieger« (GS, I, 2, S. 696). Es
fragt sich, ob nicht Sebald, allen Vorkehrungen zum Trotz, der Versuchung erlegen ist,
sich in die – moralisch unbesiegbaren – Verlierer einzufühlen; aber auch, ob die
Grenze zwischen der von Benjamin verworfenen Einfühlung und dem von ihm hoch-
gehaltenen mimetischen Vermögen immer eindeutig auszumachen ist.
232 Irving Wohlfarth

kann diese Wahlverwandtschaft zünden als an einem anonymen dritten (aber, wie
sein Innen und Außen zeigen, keineswegs neutralen) Ort – einem belgischen
Bahnhof? Die ingeniöse Konstruktion dieser Seelen-, Gespenster- und Roman-
gemeinschaft geht restlos auf, aber man merkt die Absicht und ist verstimmt.
Benjamins Akzentsetzung wird auch hier verschoben. Schreibt sein »histori-
scher Materialist« Geschichte ebenfalls »für seine Person«,293 so fällt Autobio-
graphisches im üblichen Sinn dabei weg oder wird aufgehoben; die »Monaden«,
die er konstruiert, sind keine Personen; die »geheimen Verabredungen«,294 die er
einhalten will, finden zwischen Generationen und Epochen statt. Sebald hingegen
verdichtet ein umfangreiches dokumentarisches Material zur fiktiven Biographie
eines Ausgewanderten, dessen Schicksal für das Jahrhundert paradigmatisch sein
soll. Darauf antwortet die Passagenarbeit mit folgendem Motto: »Les temps sont
plus intéressants que les hommes«.295 Es entstammt allerdings der Feder eines
großen Romanschreibers: Balzac.
Der Konstruktionsfehler dieses Romans dürfte in einer Überkonstruiertheit lie-
gen, der einen Mangel an konstruktiver Kraft überdeckt – jener Kraft, die Ben-
jamins Hauptwerk ebenfalls suchte. Symptomatisch dafür ist ein epischer Fluss,
der sich aus Flickwerk zusammensetzt; ein nach Plan geschriebenes Opus, dem
der Plan zuwider ist; und ein Pathos undurchdringlichen Dunkels, das wenig
Geheimnis birgt. Benjamins hartes Urteil über einen anderen Zeitroman mit ähn-
lich synthetischem Anspruch könnte auf diesen übertragen werden: »Der Zau-
berberg fesselt mich durch schlechtweg souveräne Mache«.296

4. »Anachronismus im besseren Sinn«

[Die Durchführung der Passagenarbeit] würde einen Anachronismus im besse-


ren Sinn darstellen. Im besseren: weil er hoffentlich weniger eine Vergangenheit
galvanisiert als eine menschenwürdigere Zukunft vorwegnimmt. 297

»Gewiss«, schreibt Sebald,


halten Autoren wie Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal, Kafka und Bernhard den Fort-
schritt für ein Verlustgeschäft. Es ist aber verkehrt, ihnen daraus eine moralpolitische
Rechnung zu machen. [. . .] Melancholie, das Überdenken des sich vollziehenden Un-
glücks, [. . .] ist eine Form des Widerstands. Wenn sie, starren Blicks, noch einmal
nachrechnet, wie es nur so hat kommen können, dann zeigt es sich, dass die Motorik
der Trostlosigkeit und diejenige der Erkenntnis identische Exekutive sind. Die Be-
schreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein.298
293
GS, I, 2, S. 702.
294
Vgl. GS, I, 2, S. 694. Dieses Motiv wird bei Sebald fast spiritistisch abgewandelt. Aus-
terlitz kennt nur noch solche »Verabredungen«, die »quasi jenseits der Zeit« stattfin-
den (A, S. 367).
295
Zit. GS, V, S. 570.
296
GB, III, S. 17.
297
GB, IV, S. 371.
298
BU, S. 12.
Anachronie 233

Mit dieser Grundsatzerklärung steht er Benjamin nah und fern. Nah, weil er wie
kaum ein anderer zeitgenössischer Autor Fortschritt und Katastrophe zusammen-
denkt. Fern, weil Benjamin dem, »was wir den Fortschritt nennen«,299 einen an-
deren, möglichen entgegenhält: »die erste revolutionäre Maßnahme«.300 Fern vor
allem wegen der dazwischenliegenden Tendenz- und Zeitenwende. Bei Benjamin
geht Baudelaires chiffonnier, dessen Traum vom Umsturz der Weinflasche ent-
stammt, als Lumpensammler im nüchternen »Morgengrauen des Revolutionsta-
ges« um.301 Sebald hingegen stellt einen elegischen Lumpensammler dar, der allem,
nur nicht der Revolution, nachtrauert.302 Von der schummrigen Unterwelt der
glasgedeckten Pariser Passagen ging ein zweideutiges Glücksversprechen aus; die
grauschwarze Dämmer- und Unterwelt der Sebald’schen Bahnhöfe ist hingegen
von einer Kuppel überwölbt, die an den Wolkendeckel des Baudelaire’schen Sple-
ens303 und den ausweglosen Kosmos erinnert, den sich der gescheiterte Revoluti-
onär Blanqui ausmalte.304 Das erregende »Panorama« des Passagen-Exposés305 hat
sein abgrundtrauriges Gegenstück im »verkehrten Miniaturuniversum« des »Noc-
turamas«, mit dem Austerlitz beginnt und endet.306 Dort, wo das Passagenprojekt
auf ein »Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert«307 setzte, variiert Sebald Sir
Thomas Brownes Wort vom Dunkel, das uns umgibt und, fügt er hinzu, nur
wenige Maler und Philosophen zu durchdringen versuchen.308
Benjamin konnte seine historische Lage als eine Konjunktion von Saturn und
»der Sonne« begreifen, die »am Himmel der Geschichte am Aufgehen«309 war.

299
GS, I, 2, S. 698.
300
GS, V, I, S. 593. N 10, 2.
301
GS, 111, S. 225. So Benjamin 1930 über Siegfried Kracauer und vermutlich, auf diesem
Umweg, über sich. Vgl. zu den »Lumpen« GS, V, 1, S. 574. N 1a, 8.
302
Vgl. die beiläufigen Hinweise in DA, S. 317, 324.
303
»Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle« (»Spleen IV«, OC, S. 70).
304
Vgl. GS, V, I, S. 61, 75f..
305
»Die Stadt weitet sich in den Panoramen zur Landschaft aus wie sie es auf subtilere
Weise später für den Flanierenden tut« (GS, V, I, S. 48).
306
A, S. 10–12 und 416.
307
GS, V, I, S. 580. N 4, 3.
308
A, S. 11, 183. Vgl. ebenfalls RS, S. 186, 206 und folgende Stelle: »Es ist, als schaute man
zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop. Und doch, sagte
Browne, ist jede Erkenntnis umgeben von einem undurchdringlichen Dunkel« (RS,
30). Vgl., hierzu nah und fern zugleich, Benjamins Charakterisierung seines Kunst-
werk-Aufsatzes als ein Versuch, den »Blutnebel« der Zeit mit einem »Teleskop« zu
durchdringen (GB, V, S. 193).
309
GS, I, 2, S. 694f. Vgl. den Hinweis im Trauerspielbuch auf Dürers Melencolia I, dessen
»magisches Quadrat« dazu dient, Saturns »schädliche« Eingebungen, dank einer güns-
tigen Konjunktion mit Jupiter, in »segensreiche« umzuwandeln (GS, I, I, S. 329). Sa-
turn ist, wie Panofsky und Saxls Dürer-Studie zeigt, ein »Dämon der Gegensätze«
(S. 327). Das Trauerspielbuch zeichnet die Umdeutungen nach, die dessen Einfluss seit
dem Mittelalter in der Astrologie und der Humoralpathologie erfahren hat – Wen-
dungen, die an die Schwankung des griechischen Melancholie-Begriffs zwischen Genie
und Wahnsinn erinnern.
234 Irving Wohlfarth

Diese Konstellation von Melancholie und Revolution hat fast kein Echo mehr in
Sebalds Schriften. »Alles, was wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbah-
nen beginnen zu altern), an gottverlassenen Sonntagsnachmittagen in den Prole-
tariervierteln der großen Städte« erfahren, löst der Surrealismus – so Benjamin
1929 – in »revolutionäre Erfahrung, wenn nicht Handlung« ein, bringt die »ge-
waltigen Kräfte der ›Stimmung‹ zur Explosion, die in diesen Dingen verborgen
sind« und stößt so als erster auf »die revolutionären Energien, die im ›Veralteten‹
erscheinen«.310 Gottverlassene Szenerien dieser Art kommen überall bei Sebald
vor, bergen aber keine revolutionären Energien mehr. Lässt er die stillgelegten
Fabrikgebäude von Manchester auf sich einwirken,311 so bleibt es hier eher bei
einer durchdringenden Melancholie des Verfalls; und die Aufnahmen, die Auster-
litz sonntags von den Pariser Vororten macht, entsprechen nur noch der eigenen
»verwaisten Verfassung«.312 Der moderne Wandersmann, der vor dem Rätselkram
des Antikos Bazar in Terezin verweilt,313 erinnert nicht an den halluzinierenden
Surrealisten vor dem Schaufenster der Passage de l’Opéra,314 vielmehr an den
Dichter des »Cygne« vor dem »bric-à-brac confus« der haussmanisierten Haupt-
stadt315 und den grübelnden barocken Allegoriker vor den Bruchstücken eines
vertrockneten Kosmos.316
»Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft«, hatte Benjamins erstes Passagen-
Exposé schwungvoll geschlossen, »beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie
als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind«.317 Von diesem »wir« ist bei
Sebald keine Rede und die Ruinen der Bourgeoisie bieten ihm kein Versprechen
mehr. Nur die Beschreibung des Unglücks soll standhalten können.318 Damit steht
er Adorno näher als Benjamin, der noch aus der von Sebald so genannten »Mo-
torik der Trostlosigkeit« das unterirdische Rumoren der Revolution heraushört.319
Aber ist nicht die Tatsache, dass ein weiteres Alter Ego Sebalds, der Maler Max
Aurach, ausgerechnet im »rußigen, dem Ruin entgegentreibenden Manchester« –
dem einstigen »Industriejerusalem«, der »restlos ausgehöhlten Wunderstadt des
neunzehnten Jahrhunderts« – den »Ort [s]einer Bestimmung« gefunden hat, selber
ein unterirdisches politisches Signal?320 Die Aussicht auf eine Überwindung des
310
GS, II, 1, S. 299f.
311
DA, S. 244–46, 267.
312
A, S. 376.
313
A, S. 280–85.
314
Le Paysan de Paris, S. 22–33.
315
OC, S. 82.
316
GS, I, I, S. 352.
317
GS, V, I, S. 59.
318
Nur in einem Fall zeigt Sebald eine Dialektik zwischen Außenseitertum und politi-
schem Widerstand auf. Es war, vermutet er, Roger Casements Homosexualität, die ihn
befähigte, sich über die Grenzen von Klasse und Rasse hinweg gegen den britischen
Kolonialismus aufzulehnen (RS, S. 162).
319
Man denke an die vor Wut springenden Glocken in Baudelaires viertem »Spleen«-
Gedicht, deren Geheul einem lautlosen Trauerzug weicht (OC, S. 71).
320
DA, S. 222, 245, 263, 251.
Anachronie 235

Kapitalismus ist verstellt. Könnte das der Grund sein, warum es Sebald und die
Seinen zu den Trümmerstätten seines bisherigen Untergangs zieht? Seine Rede
von »Ort« und »Bestimmung« könnte von Benjamin stammen. Und sein eigener
Ort kann – von einem Benjamin nahestehenden aus – fast ebenso gut verfochten
wie angefochten werden.
Ihm aus seiner elegischen Grundstimmung eine »moralpolitische Rechnung« zu
machen, wäre deshalb unbillig. Es hieße fast, den Boten mit der Botschaft ver-
wechseln. Dass dieser Melancholiker ein großes anachronisches Rückzugsgefecht
gegen eine zunehmend synchronisierte Welt geliefert hat; dass seine Aktualität von
seinem anachronistischen Schreib- und Denkstil kaum zu trennen ist; und dass
dieser durchaus eine »Form des Widerstands« ist (auch wenn die »Überwindung«
des Unglücks nicht ohne weiteres aus seiner »Beschreibung« folgt), all dies ist
unleugbar.
Wenn es aber zu den dringlichsten Aufgaben gehört, nochmals nachzurechnen,
»wie es nur so hat kommen können«,321 dann verwundert es doch, dass Sebald die
große Frage übergeht, warum es mit dem anderen, kollektiven Widerstand gegen
den Kapitalismus so hat kommen können. Als junger Deutscher, der in den sech-
ziger Jahren nach Manchester kam und sich vom Schicksal der Ein- und Aus-
wanderer in Anspruch nehmen ließ, ist er der damaligen Lage der englischen
Arbeiterklasse – wie einst Friedrich Engels322 – auf Schritt und Tritt begegnet.
Warum sind die geschichtlichen Niederlagen des Klassenkampfs und die Notwen-
digkeit, auch sie zu überdenken, nicht auf seinem Verlustkonto verzeichnet? Wohl
deshalb, weil auch hier eine Arbeitsteilung besteht, die beide Seiten – eine politi-
sche und eine ästhetische Linke – um ihre besten Möglichkeiten betrügt.
Den »starren Blick« der Melancholie im Zeitalter allseitiger Flexibilisierung zu
verfechten, verlangt Mut und ist im besten Sinn unzeitgemäß. Auch hier jedoch ist
der Vergleich zwischen Benjamin und Sebald instruktiv. Der (er)starre(nde) Blick
des »Engels der Geschichte« war vom »unseren« himmelweit entfernt: »Wo eine
Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastro-
phe«.323 Wir sind folglich außerstande, zu seiner – alle Chronologie überflügeln-
den – Weltsicht zu gelangen. Nicht dass es wünschenswert wäre, die einzelnen
Begebenheiten zugunsten des Gesamtbildes aus dem Blick zu lassen. Wohl aber,
dass wir erst recht der Melancholie verfallen, und zwar der schlechten, der »Träg-
heit des Herzens«, wenn wir, wie chronologisch befangene Historiker, die Ab-
folge der Begebenheiten »durch die Finger laufen« lassen und den Tag nicht er-
greifen.324 Die Aufgabe ist vielmehr, aus Benjamins Sicht, den starrenden Engels-
blick weder für sich zu beanspruchen noch ihn zu ignorieren und keine starre
321
Im Vormärz, so Sebalds Keller-Aufsatz, »hätte alles noch anders kommen können, als
es dann tatsächlich kam« (LL, S. 97).
322
Dessen Name taucht in »Aurach« auf (DA, S. 287), aber nur innerhalb einer deutsch-
jüdischen Namensliste.
323
GS, I, 2, S. 697.
324
GS, I, 2, S. 704, 696.
236 Irving Wohlfarth

Alternative zwischen einer chronologisch-profanen und einer anachronisch-theo-


logischen Einstellung gelten zu lassen,325 sondern mit beidem zugleich und vielem
mehr nach Art des »Kameramanns« zu operieren, der immer wieder neu über
Distanz und Beleuchtung zu entscheiden hat.326 Sebald hingegen hängt Sir Thomas
Brownes Versuch nach, das irdische Leben »vom Standpunkt eines Außenseiters,
ja [. . .] vom Standpunkt des Schöpfers« zu betrachten.327 Zwar ergeben sich hier-
aus beeindruckende Szenen, in denen der Erzähler, einem »nachgeborenen Frem-
den« gleich, die menschliche Naturgeschichte aus größtmöglicher Ferne betrach-
tet.328 Aber es fragt sich, ob das Verlustkonto des Fortschritts aus derart erhabener
Perspektive sich sichten, geschweige denn im einzelnen nachrechnen lässt. Droht
nicht vielmehr von dort aus die »ganze Menschheitszivilisation«329 zu einer ein-
zigen Verfallsgeschichte zu erstarren? Nicht, dass Sebald Realgeschichtliches aus-
geblendet hätte. Im Gegenteil: Er montiert Materialien detailbesessen in seine
Schriften hinein. Bei seinen Streifzügen durch die Empirie behält der starre Blick
dennoch das letzte Wort. Gehört doch zur überlieferten Lehre vom Melancholi-
ker, wie Benjamin notiert,330 dessen Neigung zu weiten Reisen.
In den »Thesen« ruft Benjamin die Klosterregel in Erinnerung, die den Brüdern
Gegenstände zur Meditation anwies, welche sie der »Welt und ihrem Treiben ab-
hold«331 machen sollten. Ein entsprechend fremder Blick dürfe beim historischen
Materialisten nicht fehlen. Bei Sebald, alias Austerlitz, alias Lemoine (wörtlich
»der Mönch«)332 wird er hingegen hypostasiert. Wo der »historische Materialist«,
wie Simmels »Fremder«, eine Außen- mit einer Innensicht vereint, stehen die
»Ausgewanderten«, deren Blickwinkel Sebald selber weitgehend teilt, fast nur
noch draußen. Vielleicht klammert sich Sebald so »episch« an die Welt, um diesen
allzu großen Abstand zu überbrücken und den damit einhergehenden Weltverlust
zu bannen.333

325
Vgl hierzu GS, V, I, S. 589. N8, 1.
326
Vgl. GS, I, 3, S 1165.
327
RS, S. 29.
328
Vgl. den Spengler’schen Blick vom Turm der neuen Pariser Nationalbibliothek auf die
Stein- und Staubwüste der modernen Metropole (A, S. 405), die »Vogelperspektive«
auf das »gesamte Panorama« von Manchester (DA, S. 249), den prähistorischen An-
blick der ehemaligen militärischen Forschungsanstalt von Orfordness (RS, S. 279–283)
usw.
329
RS, S. 203.
330
GS,I,1, S. 326.
331
GS, I, 2, S. 698.
332
Vgl. A, S. 404–406. Lemoines Klage über die »im Gleichmaß mit der Proliferation des
Informationswesens fortschreitenden Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit« reicht
bezeichnenderweise bis auf Platons Kritik der Schrift zurück.
333
Mit wenigen Ausnahmen kommen weder sozialpolitische noch erotische Verhältnisse
in Sebalds literarischen Texten vor. Das lässt sich zwar aus dem beschädigten Leben
seiner »Ausgewanderten« plausibel erklären; aber seine Erzählerfigur teilt dieselbe
Beschränkung. Seine »Panik« beim Anblick eines kopulierenden Paares am Strand ist
ein seltenes, frappierendes Eingeständnis (RS, S. 88). Sebalds Bemerkungen über Stif-
Anachronie 237

Es ließe sich, sehr schematisch, zwischen Anachronismus in einem »besseren«


und einem »schlechteren« Sinn unterscheiden. Letzterer hat den Anschluss an die
Gegenwart verloren. Ersterer steht, mit Nietzsche und Benjamin gesprochen, für
die »wahre«, »unzeitgemäße« Aktualität.334 Beide Typen des Anachronismus ver-
mischen sich in Sebalds Schriften.
Zwischen seiner ersten und seiner zweiten Wiederkehr hat sich der Flaneur
entscheidend verändert. Dort, wo er als das Alter Ego des »historischen Mate-
rialisten« fungierte, dessen »Kampf für die unterdrückte Vergangenheit«335 der
für die unterdrückte Gegenwart ist, bestand ein Wechselverhältnis zwischen
Geschichtsschreibung und Politik – der kommenden, die der real existierenden
ein Ende bereiten soll. Solche Geistesgegenwart – der Sinn für die Konjunk-
tur – bestand aus einer Konjunktion von Chronologie und Anachronie. Der
»historische Materialist« vereint Schlegels Definition des Historikers als »rück-
wärts gewandter Prophet« mit Turgots ebenso paradoxer Definition von Politik
als der Aufgabe, »die Gegenwart vorauszusagen«: »Er kehrt der eigenen Zeit
den Rücken; sein Seherblick [. . .] ist es, welchem die eigene Zeit deutlicher ge-
genwärtig ist als den Zeitgenossen, die mit ihr Schritt ›halten‹.«336 Diese Dialek-
tik von Jetzt und Einst, Theorie und Praxis, Chronologie und Anachronie findet
bei Sebald kaum mehr statt. Er stellt eher einen rückwärts gewandten Propheten
dar, dessen Seherblick zwar Düsteres voraussieht, aber kein politisch geschärfter
ist.337
Hat sich die Konstellation in der Zwischenzeit grundlegend geändert oder ist
sie sich im Wesentlichen gleich geblieben? Die Forderung des Tages kann nach wie
vor nur kollektiv erfüllt werden – wenn überhaupt, denn das Kollektiv, darin sind
sich Benjamin und Sebald relativ einig, liegt weiterhin im Schlaf. Wenn sich bisher
kaum jemand eingefunden hat, um Benjamins Projekt fortzuschreiben, dann auch
deshalb, weil es heute so schwer fällt, der Forderung nachzukommen, »dies Heute
fest bei den Hörnern«338 zu packen. Aber sie bleibt, frei nach Benjamin, auch dort

ters »Zölibat« und dessen »Porträtierung weiblicher Wesen« (BU, S. 28ff.) geben eben-
falls über seine eigenen Frauenporträts zu denken.
334
Vgl. »Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus« (GS, II, 1, insbes. S. 241, 246). Bei
Benjamin ist Anachronie messianisch und geschieht im »Nu«. Sie verhält sich zur
Chronologie wie das »mimetische« Bild zum (»semiotischen«) Sinnzusammenhang: in
ihn eingreifend, an ihm aufblitzend, von ihm abweichend. Vgl. hierzu die »Lehre vom
Ähnlichen« (GS, 2, 1, S. 208f.).
335
GS, I, 2, S. 700.
336
GS, I, 3, 1235; anschließend S. 1237.
337
»Nur ein Mann, in dem das Neue sich, wenn auch still, so sehr deutlich ankündigt,
kann einen so originalen, so frühen Blick auf [das] eben erst Alte tun« (GS, III, S. 197).
Bei Sebald tritt an die Stelle der »dialektischen Optik« (GS, II, 1, S. 307), die Benjamin
Hessel hier zuschreibt, der starre Blick eines Mannes, der wie Baudelaire in seinem
Prosastück Le monde va finir vom Sturm des Fortschritts »nichts Neues« erwartet
(OC, S. 1262–1265).
338
GS, III, S. 259.
238 Irving Wohlfarth

bestehen, wo niemand ihr entsprechen kann. Unter den ersten hob er selber »das
Inkommensurable«339 der Moderne hervor.
Trotz zahlloser Einzelerfolge musste Austerlitz an dieser Inkommensurabilität
scheitern.340 Das tun zwar alle modernen Romane, aber dieser fällt hinter Kafkas
und Becketts zurück. Benjamins Passagen- und Montage-Arbeit war ein einziger
Versuch, die anachronistische Vorstellung auszuräumen, »die Geschichte sei etwas,
das sich erzählen lasse«.341 Bei Sebald tritt die Passagenarbeit selber als Erzähl-
motiv auf. Aber er kann die große natur- und weltgeschichtliche Kalamität, von
der er durchdrungen ist, nur beschwören.
»Wer«, so wurde eingangs mit Benjamin gefragt, »fischt in diesem Strom?« Jeder
schwimmt heute, wenn nicht mit, so doch in ihm – auch Sebald, der sich von
zurückbiegenden »Strömungen«342 tragen lässt, auch der Kritiker, der nach Ben-
jamins Vorbild seine »Kraftstation«343 am Ufer zu errichten meint. Bewusste
Rück-, Rand- und Widerständigkeit gewähren keine Immunität: die Rückseite des
Zeitgeists gehört ihr mehr oder weniger an. Das Unsaubere ist unvermeidlich: es
gibt keinen »reinen« Widerstand mehr, falls es ihn je gegeben hat. Es kommt nur
noch auf die Ausdauer eines widersprüchlichen, gemischten Widerstands an. Dies
betrifft sowohl die innere Beschaffenheit der Werke als auch ihre geschichtliche
Rezeption. »Kein Dokument der Kultur«, das nicht »ein Dokument der Barbarei«
und keines, das nicht gegen seine »Überlieferung« zu lesen ist.344
Welcher Konjunktur entspricht es, dass Sebalds Werk seit einem Jahrzehnt
Konjunktur hat, über den verdienten Nachruhm hinaus? Schwimmt es in der im
selben Jahrzehnt auftretenden »Erinnerungskultur« mit? Wird es als wohltuende
Revision der deutschen »Unfähigkeit zu trauern« rezipiert? Surft es auf der dif-
fusen Melancholie, die sich aus den Wehen der Globalisierung, der Verwaisung der
kommunistischen Idee und der Sorge um die Ökologie des Planeten zusammen-
mischt?345 Auf der Wehmut darüber, dass man aus unserer Welt nicht mehr aus-
wandern kann?
Eine Reihe von weiteren Fragen schließt sich hier an. War nicht die Unschärfe
zwischen Fiktion und Dokument, die an Sebald so oft gerühmt wird, schon beim
Ossian der neunziger Jahre im Spiel – nämlich in Benjamin Wilkomirskis zunächst

339
GS, II, 2, S. 443.
340
Max Aurach spricht unumwunden von seinem »Scheitern« (DA, S. 238).
341
GS, I, 3, S. 1240. Gleichzeitig sollte hier eine Darstellungsform gefunden werden, die
es erlaubte, »gesteigerte Anschaulichkeit mit der marxistischen Methode zu verbin-
den« (GS, V, I, S. 575).
342
Vgl. A, S. 176.
343
GS, II, 1, S. 295.
344
GS, I, 2, S. 696.
345
In seiner Rezension »Linke Melancholie« (1931) diagnostiziert Benjamin eine Hal-
tung, der keine politische Aktion mehr entspricht, weil sie »ganz einfach links vom
Möglichen überhaupt« steht. Nie habe man »in einer ungemütlichen Lage sich’s ge-
mütlicher eingerichtet« (GS, III, S. 281). Linke Melancholie hat heute bessere Gründe,
richtet sich jedoch nach wie vor ein.
Anachronie 239

groß gefeierten, dann entlarvten und kleinlaut vergessenen Kindheitserinnerun-


gen?346 Gibt Austerlitz eine adäquate Antwort auf die schwierige Frage, wo die
Grenze zwischen einer gültigen und einer unzulässigen Verbindung von Fiktion
und Dokument liegt?
Ist es von suspekteren Mischgattungen der Epoche so weit entfernt?347 Wird es
sich eines Tages als ein Teil des nicht nur metaphysischen »Dunkels« erweisen,
»das uns umgibt« – nämlich der Dunstwolke aus Zeitgeist, Edelkitsch usw., in der
wir stecken? Wurde es fast wider besseres Wissen geschrieben?348 War eine, wie
346
Wilkomirski gab vor, einer Opfergruppe anzugehören, derer man sich erst seit we-
nigen Jahren angenommen hatte: »Es sind ›Kinder ohne Identität‹, ohne Gewissheit
über ihre Herkunft, die Spuren sorgsam verwischt, unter falschem Namen lebend [. . .].
Sie wuchsen mit einer Pseudoidentität auf [. . .].« (Bruchstücke. Aus einer Kindheit
1939–48. Frankfurt / M. 1995, S. 142). Nach den Hilfsorganisationen, Psychologen und
Historikern sind nun ein Fälscher, Wilkomirski, und ein »schwindelnder« Schriftstel-
ler, Sebald, hinzugestoßen. Sie fühlen sich ein, füllen Leerstellen aus und fügen neue
gemäß dem heute gängigen »Wirklichkeitseffekt« (Barthes) hinzu. Ihre Unterschiede
sind freilich entscheidend. Der eine nutzt die undeutliche Grenze zwischen Dichtung
und Wahrheit, um jene als diese auszugeben, der andere lässt sich bei der Verwischung
der Grenze ertappen, um diese zu thematisieren. Es trifft sich, dass der ehrliche Lüg-
ner in diesem Falle der bessere Schriftsteller ist.
347
Vgl. den ebenso gekonnten wie infamen bestseller / docufiction/docusoap von Irvin
Yalom: Und Nietzsche weinte (München 2005, engl. When Nietzsche Wept. New
York 1993). Die Erzählkur, die Sebald Austerlitz angedeihen lässt, hat ein gewisses
Gegenstück in der Weinkur, die Yalom, ein Psychiater von Beruf, dem Philosophen
des Übermenschen postum verpasst.
348
Anlässlich von Günter Grass’ Tagebuch einer Schnecke wirft Sebald selber die Frage
auf, »ob die Dominanz der Fiktion über das, was wirklich geschah, dem Schreiben der
Wahrheit und dem Versuch, sich ein Gedächtnis zu machen, nicht eher abträglich ist«
(CS, S. 115). Das Wort »Dominanz« suggeriert, dass es auf die Dosierung ankommt.
Wie aber soll es einem Roman möglich sein, das fiktive Element nicht dominieren zu
lassen? – Eine »Erzählung in irgendeinem herkömmlichen Sinne«, heißt es anderer
Stelle, durfte Amérys mémoire – eines der Modelle von Austerlitz – nicht sein: »Sie
verzichtet darum auf jede Form von Literarisierung, die so etwas wie Komplizität
zwischen dem Schreibenden und dem Leser befördert hätte« (CS, S. 155). Sebald
kannte sich in der von Adorno ausgelösten Diskussion um die Möglichkeit, Belletris-
tik nach Auschwitz zu schreiben, offenbar gut aus. »Es lässt sich nicht mehr erzählen«,
hatte Adorno geschrieben, »während die Form des Romans Erzählung verlangt«
(Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Th. W. A.: Noten zur Lite-
ratur 1. Frankfurt / M. 1961, S. 61). Sebald hatte diesen Satz in seiner Dissertation über
Döblin beherzigt. Und auch dort, wo die Erzählfigur seines Romans das vergangene
Leid, das an den Mauern der Festung Breendonk klebt, sich vorstellen möchte (A,
S. 37ff.), hält sie sich streng an das von Adorno geforderte Bilderverbot. Weniger
streng jedoch ans Erzählverbot, das seit Adorno insbesondere Maurice Blanchot zu-
sätzlich verschärft wissen will. Dessen Rigorismus gibt Sebalds Roman in mancher
Hinsicht wider Willen Recht. Als fiktionalisierte Fallstudie ist er nämlich kaum mehr
als eine Illustration der Traumaforschung, die einige Jahre zuvor in die englischspra-
chige Literaturwissenschaft Einzug hielt. Vgl. hierzu insbes. Cathy Carruth (Hg.):
Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995. Sebald selber hat sich sowohl auf
Amérys mémoire als auch auf die Studie von W. G. Niederland (Folgen der Verfol-
gung – Das Überleben-Syndrom. Frankfurt / M. 1980) gestützt. Vgl. hierzu CS, S. 153f.
240 Irving Wohlfarth

immer gebrochene und geschwärzte vie romancée zu dieser Thematik zulässig?349


Auch wenn der Autor manche Verbote einhielt, die sich aus der Diskussion um
die Darstellbarkeit der Shoah ergeben hatten und genau spürte, an welchen Stellen
auf Fiktionales zu verzichten war?350 Zehrt nicht sein Erzählwerk vom selben
Alibi wie die vielen Machwerke, die den Vergessenen oder Namenlosen ein
»menschliches Gesicht geben« wollen? Verrät nicht sein Roman Symptome dieser
Verlegenheit – darunter der Name Austerlitz, die halb biographische, halb alle-
gorische Konstruktion seiner Person351 und die Einfühlung, die hier gleichzeitig
ermutigt und verhindert wird?
Sebald ist selber überzeugt, dass »die Literatur heute, allein auf sich gestellt, zur
Erfindung der Wahrheit nicht mehr taugt«352 und sieht seinerseits Gefahren in der
Verquickung von Fiktion mit dokumentarischem Material.353 Aber sein »Horror
vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung«354 lässt die Frage nach den un-
349
Vgl. dagegen Imre Kertesz: Der Roman eines Schicksallosen (Berlin 1996, urspr. Bu-
dapest 1975), an dem nicht die sakrosankte autobiographische Authentitizät besticht,
sondern eine andere, wenn auch durch eigene Zeugenschaft verbürgte: die Abwesen-
heit jedes latenten Klischees bezüglich der sogenannten Lagererfahrung.
350
Hierzu ein gelungenes, wenn auch »narrativ korrektes« Beispiel: Wohl wissend um die
engen Grenzen, die einer literarischen Behandlung der Shoah gesetzt sind, beschränkt
sich Sebald in der Theresienstadt gewidmeten Sequenz seines Romans weitgehend
darauf, aus Adlers Standardwerk zu zitieren. Auch dies freilich auf literarische Weise,
besonders im atemlosen, sich auf fast zehn Seiten erstreckenden Satz, der die Büro-
kratie des Grauens kommentarlos verfremdet (A, S. 339–349).
351
Vgl. Sebalds Bemerkung zu Amérys »Stellvertreter«: »Lefeu ist eine allegorische Fi-
gur – Feuermann, Feiermann, Feyermann. Seine Erfahrenheit geht weit über das Le-
ben hinaus« (CS, S. 169).
352
CS, S. 112.
353
Vgl. seine Kritik an Hermann Ott, dem literarischen alter ego in Grass’ Tagebuch einer
Schnecke, als einer halb fiktiven, halb dokumentarischen Kunstfigur, die plausibel
machen soll, dass es den »besseren Deutschen« gegeben hat (CS, S. 114). Mit den
privilegierten Beziehungen, die er zwischen seinen Erzählfiguren und ihren jüdischen
Alter Egos stiftet, setzt sich Sebald einer ähnlichen Kritik aus.
354
Zit. in Sigrid Löffler: Wildes Denken. Gespräch mit W. G. Sebald. In: Franz Loquai
(Hg.): W. G. Sebald. Eggingen 1997, S. 135. Sebald fährt fort: »Mein Medium ist die
Prosa, nicht der Roman«. Diesem Credo ist Sebald, so Sven Meyer (in seinem Artikel
»Im Medium der Prosa«. In: Recherches Germaniques [2005], Heft 2, S. 173–186), treu
geblieben. Dass die Gattungsbezeichnung »Roman« nachträglich von der Titelseite
von Austerlitz entfernt wurde, zeugt eher für das Gegenteil. Ist doch dieses »Prosa-
buch unbestimmter Art«, wie Sebald es nannte (»Ich fürchte das Melodramatische«.
In: Der Spiegel, November 2001), einem Roman bis zum Verwechseln ähnlich. Es ist
zudem sehr zweifelhaft, ob Adornos Theorie der literarischen Avantgarde, die, wie
Meyer ausführt, Sebalds kritischer Position zugrunde liegt, als Alibi für Austerlitz
dienen kann; der Kronzeuge jener Theorie war Beckett, hinter dessen Romane Aus-
terlitz von Adornos ästhetischer Theorie her eher zurückfällt. Im Interview mit Löff-
ler sagt Sebald weiter: »Was die historische Monographie nicht leisten kann, ist, eine
Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufs zu produzieren. Aber
erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich« (S. 137).
Austerlitz erbringt keinen überzeugenden Beweis, dass eine einfühlsame Metaphori-
sierung der Shoah erwünscht oder möglich ist.
Anachronie 241

billigen Formen derselben offen.355 Offen bleibt auch, ob Austerlitz nicht allzu
teuer geraten ist. Weniger wäre mehr gewesen. In seinen »vier langen Erzählun-
gen« hatte Sebald eine sparsamere Mischform ausprobiert, die seiner Abneigung
gegen Großspuriges besser entsprach. Er umkreist dort seine Figuren auf behut-
samere Weise und treibt weniger Aufwand mit seiner Bildung.356 Mit Austerlitz ist
er der Versuchung erlegen, eine jener Erzählungen – »Aurach« – zu einem Roman
auszubauen.
Was wird aus Sebalds Werk werden, wenn die gegenwärtige Konjunktur ab-
flaut? Mit dem »Verfall der Wirkung«, so Benjamin, setzt die »Mortifikation der
Werke« ein. Diese sei das Werk der Kritik und der Zeit und verhelfe gültigen
Werken dazu, sich als neugeborene »Ruinen« zu »behaupten«.357 Solche rettende
Destruktion im Medium der »vollendenden« Zeit358 widersetzt sich der Zerstö-
rung durch die leere, chronologische, immer im »Übergang«359 begriffene. Das
Mittel dieser chronischen Zerstörung ist der – kommerzielle, akademische und
kulturpolitische – Betrieb, der einen Autor lanciert und verschleißt, um zum
nächsten überzugehen.
Diese Antithetik von rettender und heilloser Zeit ist sicherlich zu dualistisch
gedacht. Wie sie zu dialektisieren ist, wurde vorhin angedeutet. Sie genügt jedoch,
um die Frage zu stellen, inwieweit Sebalds Werk, das vom literarischen Markt, von
der literaturwissenschaftlichen Forschung und durch eigenes Verdienst zu einem
Sofortklassiker befördert wurde, an der Zeit teilhaben wird, die es gegen Chronos
beschwört. Es hat resistente Leser verdient, die seine Sorge um »die Fragwürdig-
keit der Schriftstellerei überhaupt«360 teilen.
Benjamin hatte in der frühen Sowjetunion ein Experiment und ein Versprechen
gesehen: eine »Literarisierung aller Lebensverhältnisse«, deren Verwirklichung

355
Das Gelingen von Claude Lanzmanns Film Shoah und Robert Antelmes L’Espèce
Humaine, die ihre Autoren Fiktionen des Realen nennen, liegt auch darin, dass Dich-
tung hier fast restlos in Verdichtung aufgeht.
356
Eines der seltenen kritischen Urteile hierzu fällt ein kurzer Artikel von Thomas Wirtz:
Schwarze Zuckerwatte. Anmerkungen zu W. G. Sebald. In: Merkur 55 (2001), Heft 6,
S. 530–534. Austerlitz wird hier als »grundsätzliche Fehlentscheidung« eingeschätzt
und als »Totalrekonstruktion« von Sebalds früherem Werk unterschieden. Dort habe
Einfühlung die Distanz nur gemindert, hier überspringe sie die »Ich-Grenze« und
beraube sich der »Freiheit der Verfremdung«. »Nun«, so der Schluss, »hat der Tod
selber gesprochen und sich als allzu redselig erwiesen. Auch die Melancholie, so muss
der Leser am Ende erfahren, ist lediglich ein Handwerk« (S. 534). – »Der schwerste
Vorwurf, den ich dem Buch mache«, so Benjamin zu Ernst Blochs Erbschaft dieser
Zeit, »ist daß es [. . .] so deplaziert auftritt wie ein großer Herr, der, zur Inspektion
einer vom Erdbeben verwüsteten Gegend eingetroffen, zunächst nichts eiligeres zu tun
hätte als von seinen Dienern die mitgebrachten [. . .] Perserteppiche [. . .] ausbreiten zu
lassen« (GB, V, S. 38).
357
GS, I, I, S. 357f.
358
GS, I, 2, S. 637.
359
GS, I, 2, S. 702.
360
DA, S. 345.
242 Irving Wohlfarth

von der »Temperatur« des »Klassenkampfs« abhing, und, korrelativ dazu, einen
»Umschmelzungsprozess literarischer Formen«.361 Jene Träume sind, so will es die
heutige Doxa, ausgeträumt, die Zeiten vorbei, von Chronos geschluckt. Demge-
genüber sieht Benjamins rückwärts gewandter Prophet die Zukunft im Vergan-
genen. Dazu gehört heute die Verlustrechnung der Kommunismen. Sebald war
vermutlich von der Problematik des Landes, das er zweimal verließ, zu durch-
drungen, um sich auch dieser unbewältigten Vergangenheit zu widmen. Aber er
hat wie Benjamin seine literarischen Energien für Aufgaben verwendet, die nicht
nur literarische sind und, um die Gegenwart schichtweise auszugraben, mit der
Umwandlung literarischer Formen experimentiert. Die Grenzen seines Werks sind
ein Symptom der kollektiven Schwierigkeit, eine Unübersichtlichkeit, die keine
nur »neue« ist, in den Blick zu bekommen.362 Es ist bitter, dass dieser vielver-
sprechende Versuch, wie einst der Benjamins, vorzeitig unterbrochen wurde.

361
GS, II, 2, S. 694.
362
Vgl. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt / M. 1985.

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