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FORSCHUNG DOKUMENTATION INFORMATION

KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN
MAUTHAUSEN MEMORIAL 2010
KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN
MAUTHAUSEN MEMORIAL 2010
Impressum

Impressum

HERAUSGEBER:
Bundesministerium für Inneres

GESAMTLEITUNG:
Barbara Glück, Jochen Wollner

REDAKTION:
Andreas Kranebitter

REDAKTIONELLE MITARBEIT:
Gregor Holzinger

WISSENSCHAFTLICHE BETREUUNG:
Bertrand Perz

AUTORiNNEN:
Helga Amesberger, Christian Angerer,
Andreas Baumgartner, Katharina Czachor, Maria Ecker,
Florian Freund, Isabella Girstmair, Peter Gstettner,
Brigitte Halbmayr, Gerhard Hörmann, Gregor Holzinger,
Matthias Kaltenbrunner, Verena Kaselitz,
Andreas Kranebitter, Yariv Lapid, Willi Mernyi, Josef Plaimer,
Christian Rabl, Christine Schindler, Robert Vorberg

Namentlich gekennzeichnete Texte geben nicht unbedingt


die Meinung der Redaktion und des Herausgebers wieder.
Für den Inhalt der Texte sind die jeweiligen AutorInnen
verantwortlich.

www.mauthausen-memorial.at

LAYOUT/GRAFIK:
Grafik-Design Eva Schwingenschlögl

LEKTORAT:
Sabine Elisabeth Klein, Martin Wedl

DRUCK:
Druckerei Jentzsch

2
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | Inhalt

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Geleitwort Seite 7

Vorwort Seite 9

Editorial Seite 10

KAPITEL 01 | FORSCHUNG

Yariv Lapid/Christian Angerer/Maria Ecker


„Was hat es mit mir zu tun?“ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen Seite 15

Florian Freund
Die Toten von Ebensee Seite 21

Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr


Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen Seite 31

Andreas Baumgartner/Isabella Girstmair


„… weil ich das einmal sehen wollte.“
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Seite 43

KAPITEL 02 | DOKUMENTATION

Gregor Holzinger/Andreas Kranebitter


Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse
der „Mühlviertler Hasenjagd“. Perspektiven der Forschung Seite 57

Matthias Kaltenbrunner
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev Seite 69

Dokumente Seite 82

3
Inhalt

4
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | Inhalt

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 03 | INFORMATION

Katharina Czachor
Jahresrückblick 2010 Seite 95

Robert Vorberg
Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – erste Schritte 2010 Seite 99

Gerhard Hörmann
BesucherInnenstatistiken 2010 Seite 103

Verena Kaselitz/Willi Mernyi


Befreiungsfeiern 2010 Seite 106

Andreas Kranebitter
Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Rückblick 2010 Seite 109

Katharina Czachor
Die Bibliothek der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Seite 112

Christine Schindler
Das Internationale Forum Mauthausen zur
Beratung der Bundesministerin für Inneres 2010 Seite 113

Katharina Czachor
2. Dialogforum Mauthausen Seite 115

Josef Plaimer
Die Gedenkfeiern in Eisenreichdornach/Amstetten Seite 117

Christian Rabl
Die Audioinstallation bei der KZ-Gedenkstätte St. Aegyd – ein Projektbericht Seite 119

Peter Gstettner
Die Aneignung der eigenen Geschichte –
die Mühen der Ebene des KZ-Gedenkens am Loiblpass Seite 123

Nachruf auf Mariano Constante und Italo Tibaldi Seite 127

Kontakt Seite 128

5
Geleitwort

6
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | Einleitung

Geleitwort

2010 jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen zum 65. Male. 65 Jahre sind seit jenem Tag
vergangen, an dem Soldaten der US Army das Lagertor des Konzentrationslagers durchschritten und dem Schre-
cken ein Ende machten.

Lange schon befasst sich die Geschichtswissenschaft mit der Frage, wie es überhaupt zur Einrichtung einer der-
art menschenverachtenden Institution kommen konnte, lange schon versucht die Gedenkstätte in ihren päda-
gogischen Vermittlungsprogrammen, diese Fragen mit den zahlreichen BesucherInnen zu erörtern, lange schon
bemüht sich das Team der Gedenkstätte, in einer großen Zahl an Veröffentlichungen über das KZ Mauthausen zu
informieren – all das nicht zuletzt durch die Herausgabe der Jahrbücher. Mit dem aktuellen Band liegt nunmehr be-
reits zum vierten Mal ein Jahrbuch vor, das ein umfassendes Abbild der Aktivitäten in der Gedenkstätte vermittelt.

Blättert man durch die Jahrbücher der vergangenen Jahre, so kann man erkennen, dass die Tätigkeiten der Gedenk-
stätte von Jahr zu Jahr zugenommen haben – sie sind Teil jenes derzeit laufenden, umfassenden Neugestaltungs-
projekts, das Erscheinungsbild und Konzeption der Gedenkstätte wesentlich verändern wird. Und der Blick auf das
bisher Erreichte zeigt, dass wir auch für die Zukunft auf neue Forschungsergebnisse, neue Vermittlungsangebote
und neue gestalterische Angebote für BesucherInnen und LeserInnen hoffen dürfen. Vieles ist bereits erforscht,
vermittelt und erfolgreich abgeschlossen worden, vieles bleibt aber auch weiterhin noch zu tun. Man darf mit
Recht auf die kommenden Jahre gespannt sein.

Dr.in Maria Fekter


Bundesministerin für Inneres

7
Vorwort

8
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | Einleitung

Vorwort

2010 war für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen ein Jahr der großen Momente: Die Ausstellung von Hans Maršálek
wurde nach über 40 Jahren abgebaut, die Pforten des Reviergebäudes für die Restaurierung geschlossen. Unsere
Ausschreibung für die grundlegende Neugestaltung hat zahlreiche interessante Konzepte und spannende Ideen
hervorgebracht, die seit 2011 nun auch von einem hoch motivierten GestalterInnenteam umgesetzt werden. Für
mich persönlich war 2010 das Wunderbarste – unser Sohn Oscar Luis ist gesund zur Welt gekommen. So konnte ich
die wichtigen Entwicklungen und die großartige Arbeit meines Teams in den vergangenen Monaten leider nur aus
der Ferne beobachten. Daher an dieser Stelle von Herzen vielen Dank an alle, zu allererst an meinen Stellvertreter
Jochen Wollner, der mit Herz, Hirn und großem Überblick für das rasche Voranschreiten des Neugestaltungspro-
jekts nebst der Organisation des laufenden Tagesgeschäfts sorgt.

DDr.in Barbara Glück


Leiterin der Abteilung IV/7, BM.I

9
Editorial

Editorial

M it dem vorliegenden Band erscheint das Jahr-


buch der KZ-Gedenkstätte Mauthausen nun be-
reits zum vierten Mal. Die Palette der thematischen und
gartner und Isabella Girstmair in ihrem Artikel. Er fasst
die wesentlichen Ergebnisse der in den Jahren 2009
bis 2010 von „Das sozialwissenschaftliche Forschungs-
methodologischen Zugänge an das Thema „KZ Maut- büro“ durchgeführten Quer- und Längsschnittstudie
hausen“, ob in Bezug auf wissenschaftliche Forschung, sowie einer verdeckten Beobachtung zusammen.2
kulturelle Veranstaltungen oder Gedenkinitiativen, hat Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr legen
sich dabei ebenso erweitert wie die Anzahl der einzel- in ihrem Artikel wesentliche Erkenntnisse eines vom
nen AutorInnen. Das Jahrbuch 2010 ist in seinen Beiträ- Institut für Konfliktforschung durchgeführten For-
gen unterschiedlicher, in seinen Zugängen vielfältiger schungsprojekts zu den weiblichen Häftlingen des
und breiter gestreut als in den vergangenen Jahren. KZ Mauthausen dar. Nach der – unter anderem in
unserem Jahrbuch 2007 beschriebenen – Pilotstudie
Der Abschnitt FORSCHUNG verdeutlicht in diesem konnte nun im Jahr 2010 die Hauptstudie fertiggestellt
Jahr dementsprechend, dass mit „Forschung“ in Be- werden.3 Florian Freund skizziert in seinem Artikel we-
zug auf das KZ Mauthausen und die KZ-Gedenkstät- sentliche Forschungsergebnisse seines ebenfalls 2010
te keineswegs nur Geschichts-Forschung gemeint ist erschienenen Buches „Die Toten von Ebensee“4, das
und gemeint sein kann, sondern unter anderem auch als Gedenkbuch der in Ebensee ermordeten Häftlinge
Sozialforschung und erfahrungswissenschaftlich-päd- gleichzeitig umfangreiche statistische Analysen bietet.
agogische Forschung. Der Artikel unseres pädago-
gischen Teams an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Der Bereich DOKUMENTATION ist in diesem Jahr
Yariv Lapid, Christian Angerer und Maria Ecker, thema- einem Kapitel der Geschichte des KZ Mauthausen ge-
tisiert zunächst also die Hintergründe und Hinterge- widmet, dem seit den Arbeiten Hans Maršáleks lange
danken zum Fortschritt der Vermittlungsangebote in Zeit wohl zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde
der Gedenkstätte. Er basiert auf dem 2010 veröffent- – der Deportation Tausender sowjetischer Kriegsgefan-
lichten Konzept, das wir hiermit ebenfalls zur Lektüre gener ins KZ Mauthausen und seine Außenlager. Gregor
empfehlen wollen. Ein Stück Sozialforschung, das für
1
Holzinger und Andreas Kranebitter fassen einleitend For-
die Beurteilung der Maßnahmen, die im Rahmen der schungsstand und Forschungsperspektiven zusammen,
Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte ständig getroffen die durch bereits begonnene Projekte zur Erforschung
werden, unerlässlich ist, präsentieren Andreas Baum- dieses Themas für die Zukunft wichtige Erkenntnisse

10
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | Einleitung

erwarten lassen. Matthias Kaltenbrunner, Diplomand tomaterials erteilt haben. Allen voran gilt unser Dank
am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zu Ariadna Sergeevna Jurkova, die vor langer Zeit als
den sogenannten „K-Häftlingen“ und der mit ihnen in sowjetische Journalistin an der Aufdeckung der Ge-
Zusammenhang stehenden „Mühlviertler Hasenjagd“, schichte der wenigen Überlebenden der „Mühlviertler
dokumentiert in seinem Artikel auf Basis einer kompli- Hasenjagd“ beteiligt war und uns großzügigerweise
zierten Quellenlage den Lebensweg des „K-Häftlings“ genehmigt hat, Bildmaterial aus ihrem Bestand zu pu-
Victor Nikolaevič Ukrainzew. Kaltenbrunner ist es durch blizieren.
umfangreiche Recherchen in Russland und der Ukraine
gelungen, unzählige persönliche Dokumente der weni- Andreas Kranebitter
gen überlebenden „K-Häftlinge“ zu sichten, von denen Redaktion
einige hier erstmals veröffentlicht werden.

Der Bereich INFORMATION liefert einen Rückblick


auf wesentliche Ereignisse, Veranstaltungen und Pro-
jektfortschritte in der und um die KZ-Gedenkstätte
Mauthausen. Neben den „gedenkstätteninternen“ Arti-
keln, zu denen in diesem Jahr der von Robert Vorberg
verfasste Überblick über die baulichen und inhaltlichen
1 Yariv Lapid/Christian Angerer/Maria Ecker: „Was hat es mit mir zu
Fortschritte der Neugestaltung der Gedenkstätte hin-
tun?“ Zum neuen Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthau-
zukommt, berichten Peter Gstettner, Christian Rabl sen (Wien 2010), http://www.mauthausen-memorial.at/db/admin/
und Josef Plaimer über die dezentralen Erinnerungs- de/get_document.php?id=160 (Zugriff am 25.3.2011).
Initiativen an den Orten der ehemaligen Außenlager 2 Das sozialwissenschaftliche Forschungsbüro: BesucherInnenerheb-
am Loiblpass, in St. Aegyd und Amstetten. ung. Längsschnittanalyse (Wien 2011) sowie Das sozialwissenschaft-
liche Forschungsbüro: BesucherInnen-Erhebung. Strukturierte Beob-
achtung (Wien 2011).
Wie immer dürfen wir uns bei allen am Erscheinen
3 Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr: Weibliche Häftlinge im KZ
des vorliegenden Jahrbuchs mitwirkenden Personen Mauthausen und seinen Außenlagern (Wien 2010).
sowie all jenen Institutionen bedanken, die uns die 4 Florian Freund: Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumentation der
Genehmigung zur Verwendung des ausgewählten Fo- im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943-1945 (Wien 2010).

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010

K APITEL 01

FORSCHUNG
Yariv Lapid/Christian Angerer/Maria Ecker

„Was hat es mit mir zu tun?“


Das Vermittlungskonzept an der
Gedenkstätte Mauthausen

Florian Freund

Die Toten von Ebensee

Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr

Frauen im „Männerlager“.
Das KZ Mauthausen als Durchgangs-
und Evakuierungsort für Frauen

Andreas Baumgartner/Isabella Girstmair

„… weil ich das einmal sehen wollte.“


Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge
der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte
KAPITEL 01 | FORSCHUNG

© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus


KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Yariv Lapid/Christian Angerer/Maria Ecker

„Was hat es mit mir zu tun?“ Das Vermittlungs-


konzept an der Gedenkstätte Mauthausen

Grundsätzliche Überlegungen Treten „Störungen“ auf, wie rund um die Befreiungsfeier


in Ebensee im Mai 20095 , macht sich Ratlosigkeit breit
„[…] das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, und werden Rufe nach einem „Mehr“ an Unterricht
seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu über den Holocaust und einem „Mehr“ an Gedenkstät-
vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen tenbesuchen laut.
Zeit, weder vorher noch nachher. Heute verschweigen sie Tatsächlich haben sich die Themen Nationalsozia-
oft ebensoviel wie sie vermitteln.” (Ruth Klüger) 1
lismus und Holocaust in den vergangenen zwei Jahr-
zehnten nicht nur in den Lehrplänen fest verankert, es
Seit den 1990er Jahren ist die Frage der Darstell- ist auch eine Fülle von zusätzlichen Lehr- und Lernmit-
barkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik teln entstanden. Gleichzeitig beklagen sowohl Lehrer-
zunehmend Thema von Studien und Tagungen ge- Innen als auch GeschichtsdidaktikerInnen immer wie-
worden. LiteraturwissenschafterInnen, HistorikerInnen, der die „unbefriedigenden Lernergebnisse“ in Bezug
SoziologInnen und PsychologInnen haben die grund- auf Nationalsozialismus und Holocaust.6 Wie Lisa Rosa,
sätzliche Problematik erörtert, die der Versuch mit sich die sich in Hamburg Fragen der Unterrichts- und Schul-
bringt, die monströsen historischen Ereignisse in eine entwicklung widmet, in einem kürzlich erschienenen
kohärente Erzählung zu fassen. Auch in Berichten von
2
Artikel konstatiert, „ist das Problem nicht auf der quan-
Überlebenden wie Primo Levi, Jean Améry und Ruth titativen Ebene zu suchen und darum nicht mit noch
Klüger wird die Kluft zwischen der Realität der Ver- mehr Unterricht zu lösen.“ Es gehe vielmehr darum, in
folgten und unseren alltäglichen Kategorien des Ver- der zur Verfügung stehenden Zeit die Partizipation der
stehens beschrieben.3 SchülerInnen zu fördern, das Individuum in den Mittel-
Mit diesen komplexen Herausforderungen der Dar- punkt zu stellen, die „Einstellungen“ und „Selbstbestim-
stellung und Vermittlung sehen sich auch die Gedenk- mung“ der SchülerInnen ins Blickfeld zu rücken7 und
stätten für die nationalsozialistischen Verbrechen, und überhaupt die „Lernenden als Subjekte anzusprechen,
hier insbesondere das noch recht junge Fach der Ge- nicht als Objekte mit vermuteten und zu behebenden
denkstättenpädagogik, konfrontiert. Im gesellschafts- Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensdefiziten.“8 Auf
politischen Diskurs ist dieses Problembewusstsein al- das Feld der Gedenkstättenpädagogik bezogen meint
lerdings bisher nicht angelangt. Dieser ist noch immer dieser Grundsatz, dass es Aufgabe der VermittlerInnen
von der Annahme geprägt, dass bloß ausreichend Wis- ist, die BesucherInnen „vor allem zu einer eigenen Aus-
sen über den Holocaust vermittelt werden müsse, was einandersetzung mit der Geschichte“ anzuregen und
in Kombination mit einer emotionalen „Konfrontation zu unterstützen.9 Die Überzeugung, dass die Einstel-
mit dem Grauen“ durch einen Gedenkstättenbesuch lungen, Wahrnehmungen, Interessen und Fragen der
wie eine Art „Schutzimpfung“ funktioniere, die gegen Lernenden im Zentrum der Vermittlungsarbeit stehen
rechtsextreme Anschauungen immunisiere und auto- sollen, ist auch an den Überschriften verschiedenster
matisch die Überzeugung des „Nie wieder!“ festige. 4
aktueller Vermittlungsprojekte – nicht zuletzt auch im

15
„Was hat es mit mir zu tun?“ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen

pädagogischen Konzept der Gedenkstätte Mauthau- wenn das Darstellungs- und Vermittlungsproblem
sen – abzulesen. 10
angesichts des nationalsozialistischen Vernichtungs-
Während sich in den letzten Jahren, wenn auch systems zu Grunde gelegt wird. So stellt sich, ähn-
zögerlich, so doch zunehmend, offenere Lernformen lich wie für künstlerische Repräsentationen, auch für
im Unterricht etabliert haben, die die Autonomie und Gedenkstättenbesuche die Frage nach einer Form
Selbstbestimmtheit der SchülerInnen fördern, hat obige der Erzählung, welche die Spannung zwischen dem
Diskussion auf die konkrete Vermittlungspraxis an den Sichtbaren und dem Abstrakten, zwischen dem Er-
Gedenkstätten, wie es scheint, bisher nur beschränkt klärbaren und dem Unbegreiflichen, zwischen Empa-
Einfluss genommen. Ein Blick auf die pädagogischen thie und reflektierender Distanz aufrecht erhält. Von
Angebote in deutschen Gedenkstätten zeigt, dass die der Auswahl der Informationen und Themen, von
„führungszentrierten“ Programme dominieren, wäh- der ebenso konkreten wie behutsamen Bildung von
rend offenere Formen, die der Selbstbestimmtheit der Zusammenhängen zwischen damals und heute, von
SchülerInnen Platz einräumen, die Ausnahme bilden. der Formulierung offener Fragen, vom Tonfall, der zum
Beispiele für diese offenen Formen wären das Projekt Mitfragen und Mitdenken einlädt, hängt ab, wie die
„Schüler führen Schüler“ im Haus der Wannseekon-
11
BesucherInnen Ort und Geschichte wahrnehmen. Des-
ferenz, bei dem SchülerInnen die Aufgabe erhalten, in halb wird die Form der Kommunikation zwischen Ver-
einer Kleingruppe eine fünf- bis siebenminütige Füh- mittlerInnen und BesucherInnen zur Schlüsselfrage bei
rung in jeweils einem Raum der Ausstellung für ihre Gedenkstättenbesuchen. Damit diese Kommunikation
MitschülerInnen vorzubereiten, oder das Konzept der gelingen kann, muss der Blick vom Ort, von seiner Ge-
„Selbstführungen“ 12
in der Mahn- und Gedenkstätte schichte, vom Wissens- und Fragenvorrat der Vermitt-
Ravensbrück, bei dem BesucherInnen etwa eine Stun- lerInnen erweitert werden auf die Interaktion mit den
de lang das Gelände selbstständig erkunden, um vor BesucherInnen.13 Sie sind nicht neutrale Empfänger-
Ort Fragen zu entwickeln, die in der anschließenden Innen von Vermittlungsangeboten, sondern bringen
„Nachführung“ gestellt werden können. soziale, psychische und kognitive Voraussetzungen
an den Ort mit. Soziale und nationale Herkunft, Alter
Das pädagogische Konzept und Entwicklungsphasen, bisherige Konfrontationen
der Gedenkstätte Mauthausen mit der NS-Geschichte in Familie, Freundeskreis und
Schule bestimmen ihre Motivation und ihre Perspek-
Den Gedenkstätten wird mit Recht die elementare tive entscheidend mit. Sie kommen darüber hinaus
Aufgabe zugewiesen, die BesucherInnen über Topogra- mit ihren „Bildern im Kopf“ und damit mit ihren spezi-
fie und Geschichte des Ortes aufzuklären. Das Bewusst- fischen Erwartungen zu den Gedenkstätten.14 Der Be-
sein, an dem Ort zu sein, an dem die Verbrechen gescha- zug, den die BesucherInnen am historischen Ort in der
hen, wirkt verstärkend auf die Bereitschaft, historische Kommunikation mit den VermittlerInnen zu sich selbst
Informationen aufzunehmen. Durch die enge Bindung und zur eigenen Lebenswelt herstellen können, gibt
der Information an die vorhandenen Relikte und Denk- den Ausschlag, wie sie sich mit der Geschichte und
mäler werden viele historische Situationen und Zusam- ihrer Bedeutung für die Gegenwart befassen werden.
menhänge anschaulich. Gedenkstättenbesuche können In einer Studie zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre
dazu beitragen, dass sich historische Erklärungen, Be- BesucherInnen analysiert Bert Pampel: „Wer an persön-
schreibungen und Fragestellungen besser einprägen. liche Erlebnisse oder familiäre Erfahrungen anknüpfen
Dieses gängige Modell der Betrachtung von Ge- konnte, wer dem historischen Geschehen Bedeutung
denkstättenbesuchen bedarf aber der Erweiterung, für die eigene Lebenswelt zumaß, oder wer aufgrund

16
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Schulgruppe bei einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

seiner regionalen Herkunft oder seiner beruflichen Be- schichte präsentiert, durch Fragen, Diskussionen, Beob-
schäftigung Bezüge zum historischen Ort herstellen achtungen, Aktivitäten, mit einem Wort: durch Interakti-
konnte, der zeigte nach dem Besuch in der Regel grö- on sollen die BesucherInnen intensiver miteinbezogen
ßere Nachdenklichkeit oder weiteres Interesse daran, werden. Vorwissen und Wahrnehmungsweisen, mitge-
sich mit der Thematik zu befassen.“ 15
brachte Geschichtserzählungen und Geschichtsbilder,
auch Widersprüche und Irritationen sollen zum Gegen-
Kommunikative Pädagogik stand des Gespräches gemacht werden. Die Besucher-
durch Interaktion Innen sollen ermutigt werden, eigene Gedanken zu
formulieren und Verantwortung dafür zu übernehmen.
Neben der topografischen Orientierung und der his- Dahinter steht die Überzeugung, dass eine interaktive
torischen Aufklärung sind im Vermittlungskonzept der Einbindung beim Gedenkstättenbesuch insgesamt zu
Gedenkstätte Mauthausen die BesucherInnen selbst mit einer nachhaltigeren Auseinandersetzung mit dem
ihren Verständnisvoraussetzungen die dritte grundle- Ort und der Geschichte führt. Die Involvierung und
gende Komponente des Gedenkstättenbesuches. Durch Ermächtigung des individuellen Besuchers/der indivi-
eine Form der Erzählung, die keine abgeschlossene Ge- duellen Besucherin ist eine zentrale Komponente der

17
„Was hat es mit mir zu tun?“ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen

und Vorstellungen zu thematisieren. Aus einer Reihe


von historischen Fotos, die verschiedene Bereiche der
Gedenkstätte zeigen, können sie eines wählen, das sie
besonders anspricht, und ihre Fragen zum Foto for-
mulieren. Mit der Auswahl der Fotos und ihren Fragen
bestimmen die BesucherInnen den Verlauf des Rund-
gangs wesentlich mit. Zur Ausgangsphase trifft sich
die Gruppe wiederum im Seminarraum. Nachwirkende
Eindrücke werden besprochen, weiterführende Fragen
formuliert. Gefragt nach seinen Erfahrungen mit die-
sem Angebot, meinte ein Vermittler: „Die besten Rund-
gänge sind es, wenn die Schüler so viel fragen, dass
du wirklich nach der Führung mal für zehn Minuten
nicht mehr weißt, wo dir der Kopf steht. Du bist einfach
leer. Ausgefragt. Weil du wirklich 100 oder mehr Fra-
gen innerhalb einer halben Stunde beantwortet hast.
Dann weiß ich, ich konnte das Interesse wecken und es
bleibt vielleicht auch etwas hängen.“17
Die bisherigen Erfahrungen bestätigen das inter-
aktive Potential dieses Angebotes, allerdings wird der
Zivildiener bei einer Führung durch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen Rundgang mit Vor- und Nachgespräch nur von einem
(© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus). vergleichsweise kleinen Teil der Gruppen in Anspruch
genommen. Das am häufigsten genützte Angebot ist
der traditionelle Rundgang, der 90 bis 120 Minuten
dauert und die Besichtigung des Ortes, das Sehen und
Besprechen der zahlreichen historischen Relikte ins
politischen Bildung. Nicht bei ideologischen oder mora- Zentrum stellt. Die Überzeugung, dass auch und ge-
lischen Erklärungen, sondern bei dieser Selbstreflexion rade bei diesen Rundgängen die Wahrnehmungen der
des Ich setzt politische Bildung ein. BesucherInnen integraler Bestandteil sein sollen, stellt
In der Regel wird der Interaktion mit den Besucher- die VermittlerInnen vor die Herausforderung, auch
Innen an Gedenkstätten in vertiefenden Workshops diesem Angebot eine interaktive Form zu geben und
oder, wie oben erwähnt, in Form von speziellen An- damit den Rahmen für einen Austausch mit den Besu-
geboten Raum gegeben, weil sie im Rahmen eines cherInnen zu schaffen.
herkömmlichen Rundganges nur schwer zu realisieren
ist.16 An der Gedenkstätte Mauthausen wird seit dem Herausforderung Interaktion
Frühjahr 2010 ein etwa dreieinhalb Stunden dauernder
Rundgang mit Vor- und Nachgespräch angeboten, Grundsätzlich steht am Beginn jeder Betreuung nicht
der die erstrebte Interaktion mit den BesucherInnen ein Monolog bzw. Input des Vermittlers/der Vermittlerin,
fördern soll. Das Vorgespräch findet in einem Seminar- sondern die Wahrnehmungen der BesucherInnen. Sie
raum des Besucherzentrums statt. Es gibt den Besu- sollen schon eingangs eingeladen werden, genau hinzuse-
cherInnen die Gelegenheit, mitgebrachte Erwartungen hen, ihre Eindrücke, aber auch ihre mitgebrachten „Bilder

18
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

im Kopf“ zu verbalisieren und nicht zuletzt ihre Interessen spiegelte sich auch in der Ausbildung der Vermittler-
zu äußern. Damit erhält der Rundgang von Anfang an Innen wider. Im Mittelpunkt standen ihre subjektiven
eine dialogorientierte und von den BesucherInnen mitbe- Wahrnehmungen, die Suche nach der eigenen Moti-
stimmte Färbung. vation, den Intentionen, persönlichen Schwerpunkten
Beim Versuch, während des Rundganges bei der und Interessen und die Ermutigung, diese in die Ver-
Vermittlung von Geschichte das Ich des Besuchers/ mittlungsarbeit einzubringen.
der Besucherin zu erreichen, haben auch Materialien Wie sehr sich die Herausforderung Interaktion und
eine wesentliche Funktion. Texte, Fotos, Karten, insbe- die Partizipation der BesucherInnen für die Vermittler-
sondere autobiografische und biografische Zeugnisse Innen lohnt, wird aus folgender Aussage deutlich: „[...]
können die experimentelle Einnahme der Perspektiven so sind nicht nur die Teile, in denen man Interaktion
von Opfern, TäterInnen und Umfeld fördern. Im Wech- geplant hat, als solche zu sehen, sondern der Weg zwi-
selspiel von Identifikation und Distanz gegenüber den schen den Stationen wird zum Diskussionsforum, wo
historischen „Rollen“ wird die menschliche Dimension man von Schülern umringt ist, und dutzende Fragen
von Geschichte erfahrbar. Dabei mag sich die Frage und Ansichten prasseln auf einen hernieder. Und das
nach der eigenen Teilhabe an diesen Perspektiven ein- ist wirklich schön zu erleben.“21
stellen. Insbesondere das Einbeziehen der Perspektive Das pädagogische Konzept der Gedenkstätte Maut-
des Umfeldes öffnet erfahrungsgemäß den Blick für hausen stellt die Wahrnehmungen der BesucherInnen
Neues und Unerwartetes, z. B. wie vielfältig die Bezie- und den interaktiven Austausch mit ihnen ins Zentrum
hungen zwischen dem Umfeld und dem Konzentrati- aller pädagogischen Angebote. Die bisherigen Erfah-
onslager waren. Laut Studien sind es besonders sol-
18
rungen sind ermutigend. Sie werden begleitet von Fra-
che unerwarteten und überraschenden Eindrücke, die gen – Welche Gruppengröße ist die geeignete? Wie re-
sich dazu eignen, Fragen auszulösen und die weitere agiert man auf die Überforderung von BesucherInnen
Beschäftigung mit ihnen anzuregen.19 durch Eigenaktivität und Interaktion?22 Wie kann die
Auf Seiten der VermittlerInnen erfordert dieser Zu- Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuches
gang ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz unterstützt werden? –, die zur Weiterentwicklung des
und viel Flexibilität, wenn es darum geht, die geäu- Angebotes Anstoß geben. n
ßerten Interessen und Wahrnehmungen der Besucher-
Innen ernst zu nehmen und auf sie zu reagieren. Der
Psychologe und Supervisor Helmut Wetzel fasst die
Anforderungen einer kommunikativen Pädagogik so
zusammen: Sie „bedarf sprachlicher Kompetenz und
emotionaler Intelligenz sowie einer Form praktischer
Ethik und keiner ausgefeilten Lehrpläne und Vor-
schriften von oben. Nur mit Herz und Verstand spüren
wir, wenn wir andere beschämen oder überwältigen,
wenn wir sie begeistern, interessieren, mit unseren Ge-
schichten mitnehmen.“20
An der Gedenkstätte Mauthausen haben seit 2009
zwei Ausbildungsturnusse für insgesamt etwa 70 Ver-
mittlerInnen stattgefunden. Die zentrale Frage des
pädagogischen Konzeptes „Was hat es mit mir zu tun?“

19
„Was hat es mit mir zu tun?“ Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen

1 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend (Göttingen 1992), S. 78. 12 Vgl. etwa http://www.ravensbrueck.de/mgr/index.html > Zur Gedenk-
2 Zum Beispiel James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung stätte > Bildung > Führungsangebote (Zuriff am 20.1.2011). In der
und Folgen der Interpretation (Frankfurt/M. 1992); Michael Pollak: Beschreibung des Angebotes wird erläutert: „Das heißt, dass wir die
Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überleben- Führungssituation ein wenig umkehren: die Gruppe führt uns an die
den als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit (Frankfurt/M. Orte im Gelände, die sie interessieren und wir beantworten die Fragen,
1988); Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memo- die uns gestellt werden, anstatt – wie in herkömmlichen Führungen
ry (New Haven/London 1991). – allerhand Fragen zu beantworten, die uns nie gestellt wurden. Im
3 Primo Levi: Ist das ein Mensch? (Frankfurt/M. 1961); Jean Améry: eigenständigen Teil der Selbstführungen laufen die Gruppen häufig
Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Über- einen viel größeren Bereich ab, als es uns in der Gruppenführung mög-
wältigten (München 1966); Klüger: weiter leben. lich wäre; gleichzeitig lässt sich die Führung noch stärker zielgruppen-
4 Verena Haug: Staatstragende Lernorte. Zur gesellschaftlichen Rolle orientiert an den Fragestellungen der Gruppe ausrichten.“
der NS-Gedenkstätten heute, in: Barbara Thimm/Gottfried Kößler/ 13 Zur Bedeutung, die der Interaktion in der gedenkstättenpädago-
Susanne Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und gischen Arbeit zugemessen wird bzw. zugemessen werden soll, siehe
Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik (Frankfurt/M. 2010), auch Gottfried Kößler: Der Gegenwartsbezug gedenkstättenpädago-
S. 33-37, hier S. 36. Siehe dazu auch: Lisa Rosa: „Was hat das mit gischer Arbeit, in: Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte, S.
mir zu tun?“ Zur Bedeutung von Leont’evs Konzept des persönlichen 45-52, hier S. 47.
Sinns für den historisch-politischen Unterricht, in: Hartmut Giest/Ge- 14 Pampel: „Mit eigenen Augen sehen“, S. 78.
org Rückriem (Hg.): Tätigkeitstheorie und (Wissens-)Gesellschaft. Fra- 15 Ebd., S. 326.
gen und Antworten aus tätigkeitstheoretischer Forschung und Praxis 16 An der Gedenkstätte Mauthausen werden derzeit zwei vertiefende
(Berlin 2010), S. 149-174, hier S. 149. Und weiters: Bert Pampel: „Mit Workshops angeboten: Einer, der sich mit literarischen Texten be-
eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist.“ Zur Wirkung von schäftigt, und einer, der mit ZeitzeugInnen-Interviews arbeitet. Siehe
Gedenkstätten auf ihre Besucher (Frankfurt/M. 2007), S. 78. dazu: http://www.mauthausen-memorial.at/index_open.php > Päd-
5 Christine Schindler: Zusammenschluss gegen Rechts: Das Internatio- agogik > Besuch mit Schulklassen > Angebote.
nale Forum Mauthausen, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.): KZ- 17 Evaluationsbogen Rundgang mit Vor- und Nachgespräch, Oktober
Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2009. Forschung, 2010, Gstöttenmayr.
Dokumentation, Information (Wien 2010), S. 101f. 18 Der erste Teil des „neuen“ Rundganges widmet sich den Außenberei-
6 Rosa: „Was hat das mit mir zu tun?“, S. 150. chen des ehemaligen Konzentrationslagers. Davor lag der Fokus auf
7 Ebd., S. 153ff. dem ehemaligen Schutzhaftlager.
8 Imke Scheurich: NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-poli- 19 Pampel: „Mit eigenen Augen sehen“, S. 194.
tischer Bildung, in: Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte, 20 Helmut Wetzel: Feeling Facts und kommunikative Praxis. Bausteine
S. 38-44, hier S. 38. einer psychologischen Architektur der Gedenkstättenpädagogik, in:
9 Wolf Kaiser: Gedenkstättenpädagogik heute. Qualifizierung von Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte, S. 76-83, hier S. 80.
Fachkräften in der historisch-politischen Bildung an Gedenkstät- 21 Evaluationsbogen Rundgang mit Vor- und Nachgespräch, Oktober
ten und anderen Orten der Geschichte des Nationalsozialismus, in: 2010, Gstöttenmayr.
Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.): Verunsichernde Orte, S. 19-24, hier S. 19. 22 Evaluationsbogen Rundgang mit Vor- und Nachgespräch, November
10 Siehe zum Beispiel ein laufendes Projekt von Büro trafo.K in Koope- 2010, Paltinger: „Teilnehmer des klassischen Rundgangs sind meist
ration mit einem Gymnasium in der Brigittenau, das den Titel „‘Und vom plötzlich auftretenden Angebot der Interaktivität überfordert.“
was hat das mit mir zu tun?‘ Transnationale Geschichtsbilder zur NS-
Vergangenheit“ trägt. Anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und
Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am
5. Mai 2009 versandte der Verein erinnern.at Informationsfolder an
die österreichischen Schulen mit dem Titel „Was hat das mit uns zu
tun?“.
11 „Schüler führen Schüler durch die ständige Ausstellung“, http://www.
ghwk.de/deut/bildung/kleingruppe.htm (Zugriff am 20.1.2011).

20
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Florian Freund

Die Toten von Ebensee

Trauerzeremonie auf dem ehemaligen Lagergelände zum Andenken an die Toten (© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Sammlung USHMM).

D er Toten zu gedenken und sie der Anonymität zu


entreißen, war das Motiv für viele Gedenkstätten,
Datenbanken zu den verstorbenen Häftlingen auf-
schaftsdisziplinen, die sehr leicht missbraucht werden
können und von den Nationalsozialisten exzessiv ins-
trumentalisiert wurden.2 Dennoch kann die statistische
zubauen. Je nach Quellenlage war dies bisher unter- Auswertung und Interpretation von Häftlingsdaten
schiedlich ergiebig. Zu einer Auswertung dieser seri- eine Fülle von neuen Erkenntnissen bringen.
ellen Quellen mittels der deskriptiven Statistik kam es Auch die Gedenkstätte Mauthausen hat in den letz-
bisher kaum. Dies mag mit der Scheu zusammenhän-
1
ten Jahren verstärkte Anstrengungen unternommen,
gen, eine rein quantitative Analyse der verstorbenen Listen verstorbener Häftlinge, wie auch Transportlis-
und überlebenden Häftlinge vorzunehmen, zählt doch ten von und nach Mauthausen, in die Außenlager und
die statistische Wissenschaft zu den klassischen Herr- zurück zu erfassen.3 Solche Großprojekte mit zehntau-

21
Die Toten von Ebensee

senden Datensätzen sind jedoch sehr komplex und Etwa 27 000 Häftlinge wurden zwischen den Jahren
sehr schwierig auszuwerten. Das Projekt zu den im KZ 1943 und 1945 in das KZ Ebensee deportiert. Unge-
Ebensee verstorbenen Häftlingen hatte demgegen- fähr 8 100 bis 8 200 von ihnen starben zwischen der
über den Vorteil einer überschaubaren Anzahl histo- Errichtung des KZ Ebensee bis zur Befreiung durch
rischer Quellen sowie einer wesentlich kleineren Zahl amerikanische Truppen am 6. Mai 1945 – 7 626 Namen
von Häftlingen, die während eines wesentlich kürzeren von Toten sind bekannt und in diesem Buch aufgelis-
Zeitraums in der letzten Phase der Entwicklung der tet. Ca. 481 starben vor der Befreiung und sind unbe-
Konzentrationslager verstorben waren. kannt. Mindestens 651 namentlich bekannte Häftlinge
Beim neu vorliegenden Buch „Die Toten von Eben- erlebten die Befreiung, starben jedoch kurz danach an
see“ 4 ging es darum, in einem Gedenkbuch an die den Folgen der KZ-Haft. Dies ergab eine vorsichtige In-
individuellen Opfer des KZ Ebensee zu erinnern, aber terpretation der zugänglichen Quellen.7
gleichzeitig Fragen wie die folgenden zu untersuchen: Der Ausgangspunkt der Berechnung ist die SS-in-
Wer waren die Toten von Ebensee? Welche Kategorie terne Aufstellung der Nationalitäten und Kategorien
und Nationalität war ihnen von der SS zugeschrieben über 16 449 Häftlinge vom 3. Mai 1945 und die 7 626
worden? Woher kamen die Häftlinge? Warum wurden namentlich bekannten Toten bis inklusive 6. Mai 1945.
sie in das KZ Ebensee deportiert? Wie viele Wochen In dieser Berechnung sind die von Ebensee in ande-
hatten die im KZ Ebensee verstorbenen Häftlinge in re Lager überstellten Häftlinge nicht berücksichtigt,
Mauthausen und Ebensee zubringen müssen? Wie alt weiters mindestens 481 Häftlinge, die zwischen dem
waren sie geworden? Welche Bedeutung hatten Na- 1. und 6. Mai starben sowie eine weder namentlich
tionalität und Kategorie für die Lebens- und Arbeits- noch zahlenmäßig bekannte Anzahl von Verstor-
bedingungen der Häftlinge? Wie entwickelte sich die benen unmittelbar nach der Befreiung.
Sterblichkeit von Häftlingsfunktionären? Die zentrale
Frage für die vorliegende Arbeit ist jedoch, welches Die Entwicklung der Sterblichkeit und
Gewicht die Klassifikation durch die Deskriptoren Rücktransporte im KZ Ebensee
Häftlingsnummer, Kategorie, Nationalität, berufliche
Qualifikation und Stellung in der Hierarchie im System Von der Einrichtung des KZ Ebensee im November
der „Häftlingsselbstverwaltung“ für die Überlebens- 1943 bis einschließlich 6. Mai 1945, dem Tag der Be-
chancen im Lager hatte. Durch die statistische Analyse freiung, kamen 8 100 bis 8 200 Häftlinge ums Leben.
der Daten der Toten und der Überlebenden kann die- Das Massensterben im Februar, März, April und den
se Frage zumindest zum Teil beantwortet werden, da ersten sechs Maitagen 1945 wird in der ersten Grafik
aufgrund der äußersten Rigorosität der gesellschaft- deutlich sichtbar: Vom 1. Februar bis zum 6. Mai 1945
lichen Prozesse im Lager der wichtigste Indikator für kamen 82,3 Prozent aller im KZ Ebensee verstorbenen
die Stellung einer Gruppe in der Häftlingsgesellschaft Häftlinge ums Leben. Alleine auf den Monat April 1945
die Sterblichkeit ist.5 fielen 38,3 Prozent, auf die ersten sechs Tage des Mai
Um die oben gestellten Fragen zu beantworten, 1945 13,8 Prozent der Todesfälle.8
ist eine quantitative und qualitative Analyse notwen- Stellt man die Anzahl der Toten und die der als
dig und – wie sich am Beispiel des KZ Ebensee zeigt krank und arbeitsunfähig in das KZ Mauthausen
– auch äußerst ergiebig. Die gesamte Arbeit basiert Rücktransportierten jedes Monats in Relation zur je-
auf meinem 1987 erschienenen Buch „Arbeitslager Ze- weiligen Lagerbevölkerung9 , so zeigt sich, dass auch
ment“6 und brachte – auch durch die Einarbeitung von 1944 die Lebens- und Arbeitsbedingungen prekär wa-
neu zugänglichen Quellen – viele neue Erkenntnisse ren, die letzten Monate bis zur Befreiung jedoch eine
und eine Korrektur der damals publizierten Zahlen. Katastrophe.10

22
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

NAMENTLICH BEKANNTE UND UNBEKANNTE TOTE


D E S K Z E B E N S E E I N A B S O L U T E N Z A H L E N N A C H S T E R B E M O N AT

3 500
3 102
3 000

2 500

2 000 1 752

1 500
1 116
1 000 704

500 269 344


143 209 155
4 7 17 80 75 17 30 25 57
0
De

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Jun

Jul

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5
4

4
4

i4
5
R Ü C K T R A N S P O R T I E R T E U N D T O T E I M V E R H Ä LT N I S
Z U M L A G E R S TA N D A M M O N AT S E N D E
0.0% 0.0%
18,0 % 15.7% 15.7%
15.7% 15.7%
16,0 %

14,0 %

12,0 %
8.2% 7.2%
0.7% 3.9%
10,0 % 1.2% 0.8%
8.9% 3.9%
8.4% 6.5% 0.0%
7.8%
8,0 % 7.3% 6.3%
2.5% 1.6% 4.3% 6.3%
6,0 % 1.8% 3.0% 0.3% 3.4%
0.1% 0.0%
2.3% 2.2% 4.3% 4.5% 4.5% 0.3% 0.9% 2.9% 3.1%
0.5% 0.6% 3.7% 1.6% 3.0% 3.1%
4,0 %
0.4% 2.8% 2.8% 0.3% 0.2% 2.6%
0.0% 0.5% 0.6%
2,0 % 0.8%
0.4% 0.8%
0,0 %
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5
4
3

4
4

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5

Zahlen nach: Lagerstandsbuch Rücktransportierte + Tote + Lagerstand Rücktransporte


Ende des jeweiligen Monats = 100 Prozent. Ohne 410 im März 1944 in das KZ Schlier
Redl Zipf und 1 000 im März 1945 nach Wels abtransportierte Häftlinge. Tote

23
Die Toten von Ebensee

Aufnahme des KZ Ebensee durch Bohuslav Bárta, Mai 1945 (© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Sammlung Bárta).

Individuelle Faktoren für die offiziellen Untersuchung der SS zum Alter aller (leben-
unterschiedliche Sterblichkeit den) Häftlinge am 31. März 1945 herangezogen.12 Ver-
gleicht man die Altersstruktur der SS-Statistik mit der
Wie die Häftlinge schon während ihrer Haft erfah- von in Ebensee verstorbenen Häftlingen, so zeigt sich,
ren mussten, waren die Chancen, längere Zeit in einem dass die 20- bis 30-Jährigen im Gesamtsystem Maut-
Konzentrationslager zu überleben, höchst ungleich hausen mit 38,4 Prozent die bei weitem größte Gruppe
verteilt. Individuelle Faktoren wie Alter, psychische der Lebenden darstellen, unter den in Ebensee Verstor-
Konstitution, Anfälligkeit für Krankheiten, Anpassungs- benen mit 28,2 Prozent allerdings unterrepräsentiert
fähigkeit an die fast immer lebensbedrohlichen Situa- sind, während die Gruppe der 31- bis 40-Jährigen unter
tionen im Lager, berufliche Qualifikation und sprach- den Toten von Ebensee überrepräsentiert ist. Deutlich
liche Begabung spielten für die Überlebenschancen wird jedoch der Unterschied beim Vergleich der bis
eine entscheidende Rolle. 11
zu 40-Jährigen und der über 40-Jährigen. Waren am
Der Einfluss des Alters auf die Überlebenschancen 31. März 1945 vom Gesamtstand der Häftlinge 84,3
beispielsweise lässt sich statistisch sehr gut nachweisen. Prozent bis zu 40 Jahre alt, so fanden sich unter den
Als Vergleichsmaßstab wurde das Durchschnittsalter namentlich bekannten Toten in Ebensee 70,4 Prozent
der im gesamten KZ-System Mauthausen inhaftierten aus dieser Altersgruppe. Umgekehrt ist es bei den über
Häftlingsgruppen entsprechend der letzten erhaltenen 40-Jährigen: Unter den Lebenden im Gesamtsystem

24
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Mauthausen waren 16,4 Prozent in diesem Alter, unter Strukturelle Faktoren


den Toten in Ebensee hingegen 29,4 Prozent.
Ein anderes Beispiel für die Möglichkeit, durch Sta- Zu den wichtigsten strukturellen Faktoren, die die
tistik den Einfluss von individuellen Faktoren auf die Überlebenschancen beeinflussten, zählte die Zuteilung
Überlebenschancen nachzuweisen, ist die Frage nach von Häftlingskategorie und Nationalität durch die SS.
der Auswirkung der körperlichen Konstitution und des Entsprechend den Einweisungspapieren der Gestapo,
Einlieferungsdatums. So kamen 1943/44 die nichtjü- Kriminalpolizei oder anderer einweisender Institutionen
dischen Häftlinge meist nach einem kurzen Aufenthalt wurde den Häftlingen bei Ankunft im KZ Mauthausen
in der Quarantäne des Stammlagers Mauthausen nach von der SS Kategorie und Nationalität zugeschrieben.
Ebensee, während viele der jüdischen Häftlinge, die im Diese Zuweisung hing von der einweisenden Behörde
Herbst und Winter 1944/45 Ebensee erreichten, zuvor und von der Lager-SS ab und war häufig willkürlich. Als
schon Monate in Auschwitz-Birkenau oder einem der „politisch“ kategorisierte Häftlinge mussten nicht tat-
Außenlager von Auschwitz gewesen waren und einen sächlich Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozi-
langen Transport von Auschwitz nach Mauthausen alismus oder Gegner sein, sondern sie konnten durch
hinter sich hatten, andererseits aber durch die Befrei- Zufall in die Maschinerie des Terrors geraten sein. Mit
ung gerade noch gerettet werden konnten. Während der Kategorie „Homosexuelle“ wurden nicht nur durch
1944 die Transporte noch mit Eisenbahn oder LKW ein Gericht nach § 175 Verurteilte versehen, sondern
durchgeführt wurden, kamen vor allem im Frühjahr auch Personen, die die einweisende Behörde besonders
1945 Häftlinge nach „Todesmärschen“ oder tagelan- diskriminieren wollte. Die Kategorisierungen „kriminell“
gen Transporten in offenen Viehwaggons und ohne und „asozial“ sind in jeder Gesellschaft ideologie-, herr-
Verpflegung aus den im Osten gelegenen Konzentra- schafts- und zeitabhängig. Entscheidend für die Katego-
tionslagern. Bereits während dieser Transporte starben risierung des einzelnen Häftlings war häufig genug das
zahlreiche Häftlinge (die in den Statistiken der SS in simple Faktum des Zeitpunktes, die äußeren Umstände
der Regel nicht aufscheinen), die Übrigen waren völlig seiner Verhaftung und Einlieferung und die Frage, wie ein
geschwächt. Häftling in das Grundmuster der von den Polizeidienst-
Deutlich wird dies bei der Analyse der Sterblichkeit stellen verfolgten Konzepte der „gesellschaftssanitären“
von 499 ungarischen Juden des Transportes vom 9. und sozialrassistischen Generalprävention passte.15 In
Juni 1944. Sie waren am 6. Juni in einem Transport
13
der Kategorisierung der Häftlinge kam die ideologische
von insgesamt 2 000 ungarischen Juden aus Auschwitz Wertung der Nationalsozialisten zum Ausdruck. Wäh-
abtransportiert worden14 und am 8. Juni in Mauthau- rend jedoch der ideologische Charakter der Kategorie
sen eingetroffen, wo sie ihre Häftlingsnummern zwi- „politischer Häftling“ offensichtlich war, erweckten die
schen 69901 und 70400 erhielten. Sie hatten eine rela- Kategorien „Kriminelle“, „Asoziale“, „Juden“, „Zigeuner“
tiv gute körperliche Konstitution, da sie bis zur Ankunft usw. den Anschein, objektiv zu sein, „denn sie basierten
in Ebensee nur kurze Zeit in Lagern verbracht hatten. auf konsensfähigen Elementen wie einem verfestigten
Dennoch wies dieser Transport eine Sterblichkeit von antihumanistischen Menschenbild, der Gleichsetzung
58,7 Prozent aus. Ein Großteil von ihnen hatte noch den von ‚Staatsfeind‘ und ‚Volksfeind‘, rassenhygienischen
Winter 1944/45 überlebt, viele starben jedoch im März und -anthropologischen Annahmen von genetischer
und April nach über 8 Monaten Haft, während im Mit- Minderwertigkeit als Wurzel anderen Verhaltens, der Kri-
tel die Überlebensdauer von Juden von der Ankunft in minalisierung von politisch oder sozial abweichendem
Mauthausen bis zum Tod in Ebensee nur 4,1 Monate Verhalten und antisemitischen, antikommunistischen
betrug. Obwohl sie relativ lange überlebt hatten, war und antidemokratischen Einstellungen.“16 Die Katego-
die Befreiung für sie zu spät gekommen. rien bezeichnen also nicht „Eigenschaften“ der Häftlinge

25
Die Toten von Ebensee

(wie das oft von den Mithäftlingen erlebt wurde), son- Polen usw. Ein anderes Beispiel sind die Slowenen aus
dern einzig und allein die zwangszugewiesene Stellung den italienisch besetzten Gebieten Sloweniens. Sie stuf-
des einzelnen Häftlings innerhalb der nach rassistischen te die SS als Italiener ein. Die zugeteilte Nationalität war
Kriterien hierarchisierten Lagergesellschaft, sichtbar ge- also ein geographischer Code, der zugleich rassistische
macht durch einen farbigen Winkel, der der Häftlings- Aspekte enthielt und zur Differenzierung der Häftlings-
nummer unterlegt auf der Kleidung getragen werden gesellschaft beitrug.
musste. Dazu kam noch der Faktor Nationalität. Durch Die zugeteilte Nationalität und Kategorie bestimm-
die Zuteilung der Nationalität wurde die Häftlingsgesell- ten in großem Ausmaß die Lebensbedingungen und
schaft weiter differenziert. Diese erfolgte nicht nach der Überlebenschancen der Häftlinge. Durch die äußere
Eigendefinition der Häftlinge, sondern einerseits nach Kennzeichnung der Häftlinge konnte die SS mit einem
den von den Nationalsozialisten anerkannten Staatsan- Blick erkennen, welcher Kategorie und Nationalität ein
gehörigkeiten, andererseits aus dem „völkischen“ Den- Häftling angehörte und ihn dementsprechend behan-
ken der SS. So waren nicht alle „Russen“ russischer Nati- deln.17 Deutsche „politische“ und „kriminelle“ Opfer
onalität, unter ihnen waren auch Ukrainer, Weißrussen, des Nationalsozialismus wurden von der SS prinzipiell

H Ä F T L I N G S K AT E G O R I E N U N D S T E R B L I C H K E I T I M K Z E B E N S E E

Häftlingskategorie Beim letzten Appell am Namentlich in Prozent aller Sterblichkeit*


3.5.1945 in Ebensee bekannte Tote namentlich
gezählte Häftlinge bekannten Toten

Schutzhäftling 6 471 39,34% 3 180 41,70% 32,95%


Jude 4 968 30,20% 3 200 41,96% 39,18%
Zivilarbeiter 3 024 18,38% 776 10,18% 20,42%
Kriegsgefangener 911 5,54% 319 4,18% 25,93%
Sicherungsverwahrung 433 2,63% 71 0,93% 14,09%
Befristete Vorbeugehaft („Berufsverbrecher“) 259 1,57% 47 0,62% 15,36%
[Rot-]Spanier 220 1,34% 2 0,03% 0,90%
Arbeitszwang Reich 99 0,60% 15 0,20% 13,16%
Zigeuner 20 0,12% 1 0,01% 4,76%
Bibelforscher 16 0,10% 2 0,03% 11,11%
Wehrmachtsangehöriger 15 0,09% 9 0,12% 37,50%
§ 175 [homosexuell] 10 0,06% 0,00% 0,00%
Geistlicher 3 0,02% 0,00% 0,00%
Kriegsgefangener Landeseigene Verbände 0 0,00% 3 0,04% 100,00%
Unbekannt 1 0,01%
Gesamtergebnis 16 449 100,00% 7 626 100,00% 31,7%
* Appell 3.5.1945 + namentlich bekannte Tote = 100%

26
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

besser behandelt als Angehörige west- und südeuro- häftlinge“ bzw. „Politischen“ starke Unterschiede in
päischer Nationen. In Abstufungen schlechter behan- Bezug auf die Lebensbedingungen und Überlebens-
delt wurden Bürger der Sowjetunion sowie Polen, auf chancen gab. Die Italiener hatten mit einer Sterblich-
der untersten Stufe der Hierarchie standen Juden jeder keit von über 53 Prozent die schlechteste Stellung
Nationalität. Diese Differenzierung wirkte sich auch in
18
innerhalb der Kategorie der „Politischen“. Der Grund
der unterschiedlichen Sterblichkeit der Häftlinge aus.19 dafür war, dass sie, von der SS nach dem Sturz Mussoli-
Die deutlich unterschiedliche Sterblichkeit der einzel- nis im Juli 1943 als „Verräter“ gebrandmarkt, besonders
nen Kategorien lässt sich nicht alleine durch verschiedene schlecht behandelt wurden. Die Polen mit über 36 und
individuelle Dispositionen, sondern vor allem durch die die Russen mit über 34 Prozent hatten ebenfalls eine
aufgezwungene Häftlingshierarchie erklären. Juden hat- Sterblichkeit über dem Durchschnitt der „Politischen“,
ten mit über 39,2 Prozent bei weitem die höchste Sterb- was der nach rassistischen Kriterien differenzierten Be-
lichkeit, eine Folge ihrer Position am untersten Ende der handlung der Nationalitäten durch die SS entsprach.
rassistischen Hierarchie. Als „AZR“ („Arbeitszwang Reich“) Jugoslawen, Griechen, Franzosen und kleine Natio-
kategorisierte Häftlinge wiesen mit 13,2 Prozent eine ge- nalitätengruppen bildeten die Mittelschicht mit einer
ringe Sterblichkeit auf. Die Ursache dafür war, dass sich in Sterblichkeit zwischen 24 und 31 Prozent. Deutsche
der Kategorie der „AZR“ – wie auch der „SV“ („Sicherungs- (9,5 Prozent), Tschechen (9,6 Prozent) und Spanier (0,9
verwahrte“) und „BV“ („Berufsverbrecher“) – besonders Prozent) gehörten zur Oberschicht. Ohne auf die viel-
viele deutsche und österreichische Häftlinge befanden. fältigen Faktoren einzugehen, die zur Sterblichkeit der
Bei den politischen Häftlingen muss die extrem unter- einzelnen Nationalitäten beitrugen, bestätigt dieser
schiedliche Sterblichkeit der einzelnen Nationalitäten Befund die in der Literatur bereits häufig beschriebene
berücksichtigt werden. Stellung der nationalen Gruppen in der Häftlingsge-
Die politischen Häftlinge inklusive der Spanier (oft sellschaft der Spätphase der Konzentrationslager.20
auch als „Rotspanier“ bezeichnet) bildeten die zahlen-
mäßig größte Häftlingskategorie im KZ Ebensee. Sie Überlebensdauer
stammten aus praktisch allen Ländern Europas und
wiesen eine durchschnittliche Sterblichkeit von fast 32 Aus den Nummern der verstorbenen Häftlinge kann
Prozent auf. Die Sterblichkeit jeder einzelnen Nationa- relativ genau abgelesen werden, wann ein Häftling
lität zeigt, dass es innerhalb der Kategorie der „Schutz- nach Mauthausen eingewiesen worden war und wie

M A U T H A U S E N - Z U G A N G S D AT U M D E R I N E B E N S E E V E R S T O R B E N E N H Ä F T L I N G E

Anzahl der verstorbenen Häftlinge mit Zugangsdatum bis 1942 12 0,2%


Anzahl der verstorbenen Häftlinge mit Zugangsdatum 1943 745 9,8%
Anzahl der verstorbenen Häftlinge mit Zugangsdatum 1. Halbjahr 1944 2 329 30,6%
Anzahl der verstorbenen Häftlinge mit Zugangsdatum 2. Halbjahr 1944 2 173 28,5%
Anzahl der verstorbenen Häftlinge mit Zugangsdatum 1945 2 360 31,0%

27
Die Toten von Ebensee

lange er daher in Mauthausen und Ebensee überlebt die bedeutet, dass ein Teil der Häftlinge um 5,4 Mo-
hatte. Von 7 619 in Ebensee bis zur Befreiung Verstor- nate mehr oder auch weniger als 6,7 Monate von der
benen ist die Häftlingsnummer bekannt. Ankunft in Mauthausen bis zum Tod in Ebensee über-
Nur eine Minderheit von 10 Prozent der in Ebensee lebte, was ca. 2/3 der Häftlinge betraf. Das dritte Drittel
verstorbenen Häftlinge kam vor Ende 1943 in Mauthau- ist noch weiter vom Mittelwert entfernt.
sen an, die große Mehrheit wurde 1944 in Mauthausen Juden mit einem Mittelwert von 4,1 Monaten hatten
registriert. Das ist u. a. als ein Hinweis dafür zu werten, die geringste mittlere Überlebensdauer, aber auch bei
dass die SS für das KZ Ebensee nach dem Kriterium dieser Gruppe differierten die Einzelschicksale deutlich,
der Arbeitsfähigkeit und Qualifikation unter den neu wenn auch wesentlich geringer als bei anderen Grup-
eingewiesenen Häftlingen auswählte, die noch nicht pen. Die „politischen“ Häftlinge hatten demgegenüber
durch die extremen Arbeits- und Lebensbedingungen eine fast doppelt so lange durchschnittliche Überle-
des Konzentrationslagers geschwächt waren. bensdauer (8,1 Monate) bei einer Standardabweichung
Die aufgrund der Häftlingsnummern und des be- von 5,4 Monaten. Auffallend sind dabei die beiden ver-
kannten Sterbedatums mögliche Berechnung der storbenen Spanier, die 42 bzw. 23 Monate überlebt hat-
durchschnittlichen Überlebensdauer zeigt, dass im ten, ehe sie im März bzw. Mai 1944 starben.
Mittelwert ein Häftling 6,7 Monate von seiner Ankunft Die von der SS als „SV“ und „AZR“ kategorisierten
im KZ Mauthausen bis zu seinem Tod im KZ Ebensee Häftlinge überlebten im Unterschied dazu im Schnitt
lebte.21 Die Standardabweichung von 5,4 Monaten 13,0 bzw. 13,2 Monate, bis sie in Ebensee starben. Bei
zeigt die typische Streuung um den Mittelwert an, dieser Gruppe gab es ebenfalls eine breite Palette von

ÜBERLEBENSDAUER VON DER ANKUNFT IN MAUTHAUSEN BIS ZUM TOD IN EBENSEE

Häftlingskategorie Anzahl d. namentlich Mittelwert in Mona- Standardabwei-


bekannten Toten ten (+/- 14 Tage) chung (in Monaten)

Schutzhäftling 3 178 8,1 5,4


[Rot-]Spanier 2 32,3
Jude 3 199 4,1 3,7
Zivilarbeiter 775 8,9 5,1
Kriegsgefangener 319 10,9 4,8
Sicherungsverwahrung 70 13,0 9,0
Befristete Vorbeugehaft („Berufsverbrecher“) 46 9,7 11,7
Arbeitszwang Reich 15 13,2 17,3
Wehrmachtsangehöriger 9 5,1 1,9
Kriegsgefangener Landeseigene Verbände 3 14,0
Bibelforscher 2 2,7
Zigeuner 1 43,0
Gesamtergebnis 7 619 6,7 5,4

28
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Mit einem Kranz gekennzeichneter Ort eines Massengrabes, ungefähr 22./23. Mai 1945 (© Privatarchiv Bohuslav Bárta).

individuellen Schicksalen. Die Standardabweichung wichtige neue Erkenntnisse gewonnen werden kön-
von 9,0 bzw. 17,3 Monaten zeigt an, dass es im Ver- nen. Jedoch erst beim Vorliegen der Daten von wei-
gleich zu den anderen Häftlingskategorien größere teren Haupt- und Außenlagern wird es möglich sein,
Abweichungen der individuellen Schicksale gab. auch vergleichend zu untersuchen. Dann könnte zum
Den sowjetischen Kriegsgefangenen gelang es im Beispiel auch der Einfluss der Art des Arbeitseinsatzes
Lager offensichtlich, ihre Situation stärker zu stabilisie- auf die Sterblichkeit (etwa Arbeit unter Tage im Ver-
ren als andere Gruppen: Die Standardabweichung von gleich zu Arbeit in der Industrie) analysiert werden.
4,8 Monaten bei einer durchschnittlichen Überlebens- Auch stellt sich die Frage, wie sich die verschiedenen
dauer von 10,9 Monaten drückt dies ebenso aus, wie Lagerperioden durch die Sterblichkeit einzelner Trans-
die Sterblichkeit von 25,9 Prozent. porte, einzelner Gruppen oder einer Häftlingsgesell-
schaft insgesamt unterscheiden. Die Arbeit mit Zahlen
Schlussbemerkung ist auch deshalb so bedeutsam, als dadurch die Aus-
sagen der Überlebenden (meist) verifiziert oder falsifi-
Die hier nur angedeuteten Ergebnisse der Analyse ziert werden können und dadurch auch ein neuer Blick
der Daten der im KZ Ebensee verstorbenen Häftlinge auf die Geschichte der Konzentrationslager und die
weisen darauf hin, dass durch die deskriptive Statistik Erinnerung der Überlebenden ermöglicht wird. n

29
Die Toten von Ebensee

1 Thomas Grotum: Das digitale Archiv. Aufbau und Auswertung ei- 15 Zur Konzeption der „rassischen Generalprävention“ siehe: Ulrich Her-
ner Datenbank zur Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz bert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschau-
(Frankfurt/M. 2004). ung und Vernunft. 1903-1989 (Bonn 2001), S. 170ff.; Patrick Wagner:
2 Götz Aly/Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Iden- Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Natio-
tifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Überarb. Neuausg. nalsozialismus zwischen 1920 und 1960 (München 2002); Wolfgang
(Frankfurt/M. 22005), S. 12. Ayaß: „Asoziale“ – die verachteten Verfolgten, in: Dachauer Hefte 14
3 Vgl. Andreas Baumgartner: Die Häftlinge des KZ-Mauthausen. Quel- (1998), S. 50-66, hier S. 53.
lendokumentation und Datenbank, Projektbericht im Auftrag des 16 Annette Eberle: Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, in: Wolf-
Bundesministeriums für Inneres (Wien 1996); Christian Dürr: Die gang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der
Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen. Ein elektronisches nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1: Die Organisation
Erfassungsprojekt, in: Bundesministerium für Inneres (Hg.): KZ-Ge- des Terrors (München 2005), S. 91-109, hier S. 93.
denkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2007. Forschung, 17 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 45f.
Dokumentation, Information (Wien 2008), S. 22-29; Andreas Krane- 18 Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationsla-
bitter: Der Faschismus in den Daten: Probleme der Datenlage in Be- ger. Eine politische Organisationsgeschichte (Hamburg 1999), S. 106.
zug auf das KZ Mauthausen, in: ebd., S. 12-21; Andreas Kranebitter: 19 Zum Folgenden siehe Freund: Die Toten von Ebensee, S. 349.
Zahlen als Zeugen. Quantitative Analysen der Häftlingsgesellschaft 20 Vgl. Sofsky: Die Ordnung des Terrors, S. 150.
des KZ Mauthausen, unpubliziertes Manuskript (Wien 2010). 21 Diese Berechnung stellt nur einen Annäherungswert dar, da auf-
4 Florian Freund: Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumentati- grund der Häftlingsnummer nur der Monat der Ankunft in Mauthau-
on der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943-1945 (Wien sen bestimmt werden konnte, nicht aber der exakte Tag.
2010).
5 Vgl. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrations-
lager (Frankfurt/M. 1993), S. 137ff.
6 Florian Freund: „Arbeitslager Zement“. Das Konzentrationslager
Ebensee und die Raketenrüstung (Wien 1989).
7 Freund: Die Toten von Ebensee, S. 71ff.
8 Ebd., S. 336ff.
9 Um eine Annäherung an die Zahl der Lagerbevölkerung eines jeden
Monats zu erreichen, wurden für die Berechnung der Todesrate und
der Rate der Rücktransportierten der Lagerstand am Ende jedes
Monats und die Zahl der Rücktransportierten und die der Todesfälle
addiert und von dieser Summe der Prozentsatz der Toten bzw. Rück-
transportierten errechnet.
10 Florian Freund: Mauthausen: Zu Strukturen von Haupt- und Außen-
lagern, in: Dachauer Hefte 15 (1999), S. 254-272.
11 Ausführlich dazu: Freund: Die Toten von Ebensee, S. 343ff.
12 Monatliche Meldung über das Alter und die Arten der Lebenden,
Kopie im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM), E/06/05
sowie in: Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers
Mauthausen. Dokumentation (Wien 42006), S. 159-161. Bei dieser
Statistik bleibt unklar, wie die SS rechnete. Waren alle Häftlinge ge-
meint, die zwischen 20 und 30 Jahre alt waren oder zwischen 21 und
30 Jahre?
13 Freund: Die Toten von Ebensee, S. 379ff.
14 Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager
Auschwitz-Birkenau 1939-1945 (Reinbek bei Hamburg 1989), S. 794.

30
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr

Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen


als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

Befreite Frauen im Sanitätslager des Hauptlagers Mauthausen, Mai 1945 (© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Sammlung USHMM).

D em KZ-System Mauthausen und seinen insge-


samt beinahe 200 000 Häftlingen sind auch bis
zu 10 000 Frauen zuzurechnen. Der Großteil von ihnen
Verfolgungswegen. Doch auch zu den gut 4 000 in
Mauthausen registrierten Frauen sind die personen-
bezogenen Informationen in den SS-Unterlagen spär-
erreichte Mauthausen erst in den letzten Kriegsmona- lich. Wenig Wissen bestand bislang um die einzelnen
ten und -wochen, von anderen Konzentrationslagern Frauenschicksale: ihre Haftwege, Verhaftungsgründe,
kommend oder von der österreichisch-ungarischen Erfahrungen während der Verfolgung etc. Vom Außen-
Grenze zu Fuß nach Mauthausen getrieben. Diese lager St. Lambrecht und einer Studie zu Schloss Lan-
Frauen wurden nicht mehr registriert – daher die hohe nach abgesehen1 ist die Geschichte der Außenlager
Zahl von bislang unbekannten und namenlosen weib- mit weiblichen Häftlingen weitgehend unerforscht,
lichen Mauthausen-Häftlingen und ihren Lebens- und Beiträge in Sammelbänden berufen sich meist auf die

31
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

Quellenlage von 1997, wie sie Andreas Baumgartner gen bieten. Es ist und bleibt immer eine Frage der Ab-
aufbereitet hat. Nur in Teilaspekten wurde das Wissen
2
wägung, inwieweit welche Aussagen übernommen,
um weibliche Häftlinge in Mauthausen erweitert. 3
relativiert oder verworfen werden müssen. Es war auch
Dies war die Ausgangslage unserer Studie „Weib- ein Vergleich der Erzählungen selbst notwendig, um
liche Häftlinge im KZ Mauthausen und seinen Au- die wahrscheinlichste Version eines Ereignisses zu re-
ßenlagern“, die den Versuch einer möglichst umfas- konstruieren – ohne dabei individuelle Erlebnisse, weil
senden Annäherung an die Geschichte der Frauen in „untypisch“, außer Acht zu lassen. Fakten und Erinne-
Mauthausen darstellt.4 Der Endbericht (Fertigstellung rungen können im Widerspruch zueinander stehen,
August 2010) beruht auf den Ergebnissen von vier außergewöhnliche Erfahrungen im Widerspruch zu
sich aufeinander beziehenden Arbeitsschwerpunkten, den Routineerlebnissen, die Sichtweise von Kindern
nämlich der Erfassung der Grunddaten zu den Frauen im Kontrast zu Erwachsenenerzählungen. Aber erst die
von Mauthausen (namentliche Erfassung5), der Aufbe- subjektive Sichtweise macht die vielfältigen Realitäten
reitung und Analyse lebensgeschichtlicher Interviews hinter nackten Zahlen und Fakten erahnbar. Gerade
mit weiblichen ehemaligen Mauthausen-Häftlingen, diese subjektive Sichtweise, das subjektive Erinnern
der Erforschung der Frauen-Außenlager von Mauthau- wollten wir sichtbar und nachvollziehbar machen, den
sen sowie der Kontextualisierung der Verfolgungsge- Gemeinsamkeiten und Unterschieden nachgehen und
schichten im internationalen Rahmen. für beide Erklärungen finden.
In die Arbeit haben zahlreiche und sehr unterschied- Nachstehende Ausführungen greifen aus der Viel-
liche Quellen Eingang gefunden. Dies gilt vor allem für zahl von Themen, die wir in der qualitativen Analyse
den Projektteil der namentlichen Erfassung, aber auch behandelt haben und in der wir zu zahlreichen neu-
für die qualitative Analyse. Im Vordergrund stehen hier en Erkenntnissen gelangten, einen kleinen Ausschnitt
die Erzählungen der ehemaligen Häftlinge – mehr- heraus und entwickeln sich entlang folgender Fragen:
heitlich Interviews, die im Rahmen des internationalen Wie kam es überhaupt zur Deportation einer derart
Oral-History-Projekts „Mauthausen Survivors Documen- großen Zahl von Frauen in ein Männerlager? Welche
tation Project“ (MSDP) geführt und aufgezeichnet wur- Wege suchte die SS, um das Ordnungsprinzip der strik-
den , aber auch schriftliche Überlebenden-Berichte,
6
ten räumlichen Geschlechter-Segregation dennoch
Zeugenaussagen und weitere Interviews –, die mit aufrechterhalten zu können? Und was bedeutete dies
faktografischen Daten (zeitgenössische Dokumente, für die Unterbringung der Frauen in Mauthausen?
historisch-wissenschaftliche Untersuchungen) und Be- Für alle weiteren Themenbereiche – darunter der lan-
richten aus der Bevölkerung ergänzt wurden. Ziel war ge Weg nach Mauthausen, die Ankunft der Frauen, die
es, die Informationen all dieser sehr unterschiedlichen sozialen Beziehungen, Zwangsarbeit im Stammlager, die
Quellen zu einem Gesamtbild zusammenzustellen, das Außenlager für Frauen, die letzten Tage in Mauthausen,
zweierlei Ansprüchen gerecht wird, die weithin als sowie Ausführungen zu nationalen Verfolgungskontex-
Gegensätze angesehen werden und es teils auch sind: ten und Erinnerungskulturen – möchten wir auf die in
Zum einen dem Anspruch, das bestehende Wissen um Vorbereitung befindliche Publikation verweisen.
neue Fakten zu erweitern, in manchen Fällen auch zu
korrigieren bzw. neu zu interpretieren (Faktengeschich- Ordnungsprinzip
te, „objektive“ Geschichte), zum anderen dem An- Räumliche Segregation
spruch der Würdigung der subjektiven Geschichte(n).
Dazu haben wir auch die „subjektiven“ Aussagen der Bis auf wenige Ausnahmen herrschte in den Kon-
Interviewpartnerinnen herangezogen, da sie oftmals zentrationslagern strikte Geschlechtertrennung. Mit
die einzigen Quellen für bislang unbeantwortete Fra- dem KZ Moringen (Oktober 1933 bis November 1938),

32
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

dem KZ Lichtenburg (Dezember 1937 bis Mai 1939) ihre Häftlinge, insgesamt 39 Frauen, alle sogenannte
und dem KZ Ravensbrück (ab Mai 1939 bis Kriegsende) „Bibelforscherinnen“ (Zeuginnen Jehovas), unterstan-
gab es eigene Lager für Frauen. Ab August 1942 wurde den allerdings bis September 1944 der Verwaltung
zusätzlich in Auschwitz-Birkenau eine Frauenabteilung des KZ Ravensbrück. Erst Mitte September 1944 wur-
eingerichtet. Zu „gemischten“ Lagerbereichen kam es de für weibliche Häftlinge in Mauthausen ein eigenes
lediglich in Auschwitz-Birkenau (in Form des „Zigeu- Frauenzugangsbuch eingeführt – rechtzeitig vor den
nerlagers“ sowie des „Familienlagers Theresienstadt“) größeren Transporten ab Ende September 1944 in die
und Bergen-Belsen. Die Geschlechtertrennung war Mauthausener Außenlager Hirtenberg (insgesamt 502
Teil eines Systems rigoroser räumlicher Segregation, Frauen, bis auf acht Frauen aus Ravensbrück alle aus
welche vollständige Überwachung und effiziente Kon- Auschwitz-Birkenau kommend) und Lenzing (alle 577
trolle ermöglichen sollte. Sie beinhaltete die strikte
7
Frauen aus Auschwitz). Nach Hirtenberg wurden sämt-
Trennung der SS-Bereiche von den Häftlingsbereichen, liche Frauen direkt überstellt, passierten also nicht das
der Wohnbereiche von den Funktionsbereichen, der Hauptlager Mauthausen. In dieses gelangten sie erst,
Regenerationsbereiche von den Todesbereichen und nachdem sie Mitte April 1945 in einem Evakuierungs-
verschiedener Häftlingsgruppen voneinander, vor marsch unter todesmarschähnlichen Bedingungen
allem auch der Männer von den Frauen. Die Kontrolle nach Mauthausen getrieben wurden. Die ersten 500
des Raumes war ein wesentliches Ordnungsprinzip, um Frauen mit dem Bestimmungsort Lenzing gelangten
absolute Macht im Konzentrationslager umzusetzen. Ende Oktober 1944 nach einer dreitägigen Fahrt eben-
falls direkt von Auschwitz nach Lenzing. Die restlichen
Frauentransporte in Außenlager 77 Frauen trafen am 27. Jänner 1945 im Hauptlager ein
von Mauthausen und wurden dann nach wenigen Tagen zur Zwangs-
arbeit in der Zellwollfabrik nach Lenzing weiter-
Ab 1943, verstärkt ab 1944, wurden vermehrt weib- transportiert.
liche Häftlinge in Männerlager verschickt. Dies vor
allem, um in Wirtschaftsbetrieben und insbesondere in Frauentransporte ins Stammlager
der Rüstungsproduktion ihre Arbeitskraft in Form der
Zwangsarbeitsleistung auszubeuten. Weibliche Häft- Für die Frauen, die zuvor nach Mauthausen gelangt
linge wurden als Wirtschaftsfaktor entdeckt. Um die waren, war das KZ Tötungsort oder Durchgangslager.
Geschlechtersegregation aufrechterhalten zu können, Die ersten Frauen kamen zur Hinrichtung nach Maut-
wurden die Frauen in erster Linie in – für die Frauen neu hausen: Am 20. April 1942 wurden zu Hitlers Geburts-
angelegte – Außenlager der zentralen großen „Männer- tag vier jugoslawische Partisaninnen am Erschießungs-
lager“ verschickt.8 Dies lässt sich auch für Mauthausen platz gegenüber der Baracke 20 erschossen. Noch
anschaulich darlegen: Abgesehen von den Sexzwangs- annähernd 180 weitere Frauen wurden im Laufe der
arbeiterinnen in den Häftlingsbordellen von Mauthau- Jahre nach Mauthausen überstellt, die bald nach ihrem
sen und Gusen – jeweils zehn Frauen zum gleichen Zeit- Eintreffen durch Gas oder Erschießen getötet wurden.
punkt ab Jahresmitte 1942 – kamen Frauen zum Zwecke Die Frage der Unterbringung stellte sich für die
der Zwangsarbeit ausschließlich in Außenlager. Frauen jener Transporte, die ab Oktober 1943 Maut-
Bereits ab Februar 1943 wurden für weibliche KZ- hausen erreichten, wenngleich ihr Aufenthalt lediglich
Häftlinge Außenlager in St. Lambrecht sowie in Mitter- vorübergehend geplant war, weshalb wir für diese den
sill (gegründet am 24. März 1944) errichtet. Die dort
9
Begriff Durchgangstransporte verwenden wollen.
inhaftierten Frauen waren primär in der Reinigung, Dazu zählen 187 sowjetische Frauen aus Dnjepro-
der Küche und der Landwirtschaft tätig. Die Lager und petrowsk, verfolgt wegen Widerständigkeit10, die am 5.

33
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

Mauthausen war auch für die geschätzten 400 bis


700 Polinnen, die während des Warschauer Aufstands
festgenommen worden waren, nur eine Zwischenstati-
on. Am 21. August 1944 ging dieser Transport von Prus-
ków ab nach Mauthausen, wo er höchstwahrscheinlich
am 23. August einlangte. Diese Frauen scheinen – im
Unterschied zu jenen aus Dnjepropetrowsk, die im
Männerzugangsbuch vermerkt sind – in den Zugangs-
büchern des KZ Mauthausen nicht auf.13 Die Registrie-
rung und erkennungsdienstliche Erfassung, an die sich
manche Deportierte erinnern, wurde im Zuge der Zu-
teilung zur zivilen Zwangsarbeit wenige Wochen nach
ihrer Ankunft in Mauthausen im Gebiet Oberdonau
durchgeführt.14
Die große Mehrheit der weiblichen Häftlinge von
Mauthausen erreichte das Hauptlager ab Ende Jänner
1945, als die SS zahlreiche Lager weiter im Osten vor dem
Eintreffen der näherrückenden Roten Armee räumen
oder aufgrund enormer Überfüllung entlasten musste,
Befreite Frauen des Außenlagers Lenzing, Mai 1945
(© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Sammlung USHMM). wie dies in Ravensbrück der Fall war. Hier sind vor allem
fünf große Evakuierungstransporte zu nennen:
● Rund 3 000 Frauen, vermutlich vorwiegend Jü-
dinnen, sollen im Februar 1945 nach der Auflösung
von Auschwitz-Birkenau über das KZ Groß-Rosen,
Oktober 1943 in Mauthausen angekommen und zwölf wahrscheinlich auf mehrere Transporte aufgeteilt,
Tage später nach Auschwitz-Birkenau weiterüberstellt nach Mauthausen transportiert worden sein. Sie
wurden. Warum der Transport den „Umweg“ über das wurden nicht registriert und innerhalb eines Mo-
KZ Mauthausen nahm, ist nicht bekannt, mehrheitlich nats nach Bergen-Belsen weitertransportiert.15 Da
auch nicht das weitere Schicksal der Frauen.11 die Frauen auch in Groß-Rosen nicht registriert
Ungeklärt ist bislang, warum im Frühjahr 1944 wurden, erweist sich eine namentliche Zuordnung
mindestens 50 italienische Widerstandskämpferinnen zu diesen Transporten wie auch eine konkrete
nicht – wie sonst üblich – direkt ins KZ Ravensbrück, Aussage über ihre Anzahl als sehr schwierig. Durch
sondern nach Mauthausen deportiert wurden. 12
Der die Lebensgeschichte mancher betroffener Frauen
italienische KZ-Überlebende Italo Tibaldi eruierte drei wissen wir jedoch, dass sie von Auschwitz aus zu
Gruppen von Frauen aus Italien, die nach Mauthausen Fuß nach Groß-Rosen in Marsch gesetzt wurden,
überstellt worden waren. Hierbei handelt es sich um ohne ausreichende Nahrung und Kleidung. Von
insgesamt mindestens 57 Frauen, welche mehrheitlich Groß-Rosen nach Mauthausen ging es in über-
an Streiks in italienischen Firmen beteiligt waren. Alle füllten Zügen.16
Frauen kamen zwischen Mitte März und Anfang April ● Der große Transport aus dem Frauenkonzentrati-
1944 in Mauthausen an und wurden innerhalb weniger onslager Ravensbrück vom 7. März 1945 ist ebenfalls
Tage nach Auschwitz weiterüberstellt. als Evakuierungstransport zu betrachten, da Frauen

34
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

aus dem seit Monaten hoffnungslos überfüllten bisheriger Annahmen22 belegen die Forschungen
KZ Ravensbrück auf andere Lager verteilt wurden. von Pascal Cziborra, dass ein Großteil der 2 000 in
Im Zuge dieser Evakuierungen kamen 1 804 Frau- Freiberg und Venusberg einwaggonierten Frauen,
en und 176 Kinder ins KZ Mauthausen (insgesamt wenn auch in einem sehr schlechten gesundheit-
1 980 Personen). Diese Häftlinge aus Ravensbrück
17
lichen Zustand, Mauthausen lebend erreichte.23 In
erhielten die Mauthausen-Nummern 1053 bis 2856. der Projektdatenbank „Mauthausen_Frauen“ konn-
Rund 710 dieser Frauen sowie zahlreiche Kinder ten wir nach Abgleich unterschiedlicher Quellen
wurden zehn Tage später erneut in Zügen nach Ber- 1 927 Frauen vermerken – 994 Frauen aus Freiberg
gen-Belsen verfrachtet, die anderen Frauen verblie- und 933 Frauen aus Venusberg –, die in Mauthau-
ben in Mauthausen. Im Rahmen des MSDP konnten sen ankamen. Von 16 ist bekannt, dass sie in Maut-
noch 19 Frauen (von 87) interviewt werden, die die hausen gestorben sind. Bei 1 127 Frauen ist in der
Überstellung von Ravensbrück nach Mauthausen Datenbank als Verbleib „befreit“ vermerkt, bei den
er- und überlebt hatten. restlichen 782 Frauen ist der Verbleib ungeklärt.
● Schließlich kam am 15. April 1945 ein weiterer groß-
er Transport in Mauthausen an, mit ihm die letzten Die Unterbringungsorte von Frauen
221 Frauen, die in Mauthausen registriert wurden. 18
der Durchgangstransporte
Auch diese Frauen hatten im Zuge von „Mehrfach-
evakuierungen“ einen langen und beschwerlichen Von den Frauen, die bis Ende Jänner das Hauptlager
Weg über mehrere Außenlager der KZ Groß-Rosen Mauthausen passieren mussten, ist – in erster Linie aus
und Dora-Mittelbau hinter sich, bevor sie Mauthau- Interviews – bekannt, dass sie entsprechend dem Se-
sen erreichten.19 gregationsprinzip an Orten untergebracht wurden, die
● Im Zuge der Evakuierungstransporte kamen Frau- aus dem Lageralltag der Männer herausfielen. Sofern
en oft gemeinsam mit männlichen Häftlingen nach sie nicht ohnehin die wenigen Tage und Wochen in
Mauthausen, wie etwa die vielen ungarischen Jü- den Quarantäne-Baracken des Männerlagers blieben,
dinnen, die aufgrund des Näherrückens der Front kamen etwa die Italienerinnen in den Arrestbau des
im Osten zu Fuß nach Mauthausen und weiter ins Lagers, den sogenannten „Bunker“24; zumindest von
Außenlager Gunskirchen getrieben wurden.20 Diese einer Frau mit Bestimmungsort Lenzing wissen wir von
Frauen waren zuvor in keinem Konzentrationslager, einer zwischenzeitlichen Unterbringung im Lagerbor-
sondern in diversen ungarischen Ghettos, bevor sie dell.25 Die Frauen aus Dnjepropetrowsk waren vor ih-
zur Zwangsarbeit an die österreichisch-ungarische rem Weitertransport nach Auschwitz ebenfalls in den
Grenze und nach Österreich verschleppt wurden. Quarantänebaracken untergebracht – den interview-
Von allen „Transporten“ nach Mauthausen sind ten Frauen ist vor allem die Umzäunung der Baracke
die Wege der ungarischen Todesmärsche mit den als Abgrenzung von den Männern in Erinnerung.26
meisten Toten gesäumt, deren Namen und Anzahl Die sowjetischen Frauen und Italienerinnen stell-
unbekannt ist, aber in die Tausende geht. Dennoch ten noch eine überschaubare Menge dar, die auf
erreichten vermutlich über 12 000 Männer, Frauen dem Lagergelände selbst – und dennoch abgegrenzt
und Kinder das KZ Mauthausen. 21
von den Männern – untergebracht werden konnten.
● Der letzte große Evakuierungstransport erreichte Schwieriger war dies bereits bei den auf bis zu 700
Mauthausen am 29. April 1945 aus den Flossen- geschätzten Polinnen aus Warschau. Sie kamen da-
bürger Außenlagern Freiberg und Venusberg, her mehrheitlich ins Zeltlager. Die Polinnen waren die
insgesamt fast 2 000 jüdische Frauen. Entgegen ersten Frauen, die dort untergebracht wurden.27 Das

35
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

Zeltlager – gedacht als kurzfristiger Internierungsort Die Frauen mussten auf dem nackten Boden hau-
für große Häftlingstransporte – war zu dieser Zeit erst sen, der nur dürftig mit Stroh bedeckt war, und konn-
im Entstehen begriffen. Irena Norwa beschreibt: „Wir
28
ten sich nur mit einer Decke etwas wärmen, während
wurden auf einen Platz geführt. Einen leeren Platz. Kei- ihre Kleidung in der Desinfektion war.33
ne Baracken, dort waren keine Baracken. Das war ein
leerer Platz, der kein/ da gab es kein Gras, nur hie und Unterbringung im Sanitätslager
da stand ein Büschel Gras heraus. Das war Sand. Es gab Hans Maršálek bestätigt für April 1945 die Umzäu-
auch Sträucher, etwas weiter entfernt, aber sonst gab nung der zwei Baracken Nr. 9 und Nr. 10 im Sanitätsla-
es dort nichts. Vor uns wurden solche --- Zelte aufge- ger, um dort Frauen getrennt von den Männern unter-
stellt. Und vor unseren Augen wurden auch/ auch Me- bringen zu können.34
tallrinnen [vermutlich als Waschvorrichtungen – H.A./ Lydia Smets aus Belgien berichtet, dass sie mit wei-
B.H.] angebracht.“29 teren Frauen nach den Räumarbeiten in Amstetten
zwischenzeitlich im sogenannten Sanitätslager unter-
Die Unterbringungsorte von Frauen gebracht war – ihr Verweis auf die Stockbetten (also
der Evakuierungstransporte dreistöckige Pritschen) ist ein deutlicher Hinweis dar-
auf, denn nur an diesem der zahlreichen Unterbrin-
Die großen Evakuierungstransporte mit Frauen er- gungsorte für Frauen gab es derartige Schlafgelegen-
reichten das KZ Mauthausen in einer Zeit, in welcher heiten.35 Auch die Französin Marie Salou erzählt von
dieses bereits stark überbelegt war. Im Februar und Baracken mit Pritschen, die aber zu wenige für so viele
März wurden noch Hunderte Frauen weiter nach Ber- Frauen waren, sodass viele Häftlinge dort ebenfalls nur
gen-Belsen geschickt – ursprünglich von Auschwitz auf dem Boden Platz fanden.36
oder Ravensbrück kommend, war die Zwischenüber- Einige Interview-Aussagen weisen darauf hin, dass
stellung nach Mauthausen ein enormer Umweg.30 die Frauen mitunter mehrmals verlegt wurden. So be-
Möglicherweise finden hier die widersprüchlichen richten etwa Eva Selucká und Helga Weissová-Hosková
Pläne für die Evakuierungsphase, die für die Räumung vom Sanitätslager als vorübergehendem Unterbrin-
der KZ auf zahlreiche Personen und Institutionen des gungsort – sie erzählen von Holzstockbetten und Ty-
NS-Regimes verteilte Zuständigkeit sowie die zuneh- phuskranken und von Pritschen mit Personen, von de-
mende Personalisierung der Entscheidungen in den nen man nicht wusste, ob sie noch lebten oder schon
letzten Kriegswochen ihren Ausdruck. 31
tot waren: „Na und so trieben sie uns von dem Hügel
und dort war irgendein Wald hinter dem Stacheldraht
Unterbringung innerhalb des und dort irgendein Gebäude und dort hielten sie uns
Schutzhaftlagers an und sagten [entschlossen – H.A./B.A.]: ‚Hier könnt‘
Es ist sehr wahrscheinlich, dass bereits für die ersten ihr gehen..., geht in das Gebäude hinein‘. Und ich bin in
großen Evakuierungstransporte Ende Jänner/Anfang das Gebäude gegangen und dort waren die üblichen
Februar 1945 die bisherigen Quarantäne-Baracken Holzstockbetten und ich legte mich hin und sah, dass
des Männerlagers, die Baracken 16-18, freigemacht dort irgendeine Frau alleine liegt und so sage ich: ‚Bist
wurden. 32
Definitiv kamen die Anfang März 1945 in Du krank? Was fehlt Dir?‘ und sie sagt: ‚Ja, ich habe Ty-
Mauthausen eintreffenden Frauen aus Ravensbrück phus‘, na also ich bin aufgesprungen [lacht – H.A./B.A.],
– zumindest anfänglich – hier unter. Damit waren die obwohl ich schwach war, sprang ich mit der Geschwin-
Frauen zum einen in das totale Überwachungssystem digkeit eines Blitzes auf und schnappte mir irgendeine
eingebunden und eine effiziente Kontrolle möglich, Decke und ich ging im kalten Morgen raus und dort
zum anderen von den Männern deutlich getrennt. ging ich vor dem Gebäude auf und ab.“37

36
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Unterbringung im Steinbruch „Wiener Graben“ überfüllten Unterkünfte noch weitere Frauen hinzu
Zwei zeitgeschichtliche Dokumente belegen darü- – und zwar jene rund 400, die vom Außenlager Hir-
ber hinaus den „Wiener Graben“ als Unterbringungsort tenberg vierzehn Tage zuvor Richtung Mauthausen in
für Frauen: Unterlagen zur Diensteinteilung für das Marsch gesetzt worden waren. Gemäß den Aussagen
SS-Wachpersonal verweisen darauf, dass SS-Ober- von insgesamt fünf Interviewpartnerinnen scheint es
scharführer Andreas Trumm noch am 2. Mai 1945 neun sehr wahrscheinlich, dass die Frauen aus Hirtenberg
SS-Männer abkommandieren ließ, die am nächsten Tag nur für ein paar Tage in einer der „Wiener-Graben“-Ba-
Frauen in Baracken im „Wiener Graben“ bewachen soll- racken, danach im Stammlager in einer Baracke unter-
ten. 38
Weiters bestätigt eine Nachkriegs-Prozessakte gebracht wurden. Ihre Erzählungen verweisen auf die
aus 1947 gegen eine Stubenälteste die Unterbringung Unterbringung in einer ehemaligen Produktionsbara-
von Frauen am Fuße des Mauthausener Steinbruchs. 39
cke, vermutlich der Messerschmitt-Fabrikshalle40, wenn
Für die Beantwortung weiterer Fragen, die sich hin- sie von Fabrik sprechen41: „Aber da, wo wir waren, [...]
sichtlich dieses Unterbringungsortes ergeben, sind wir wo sie uns hingetan haben, [...] das muss eine Fabrik
auf die Erinnerungen der Überlebenden angewiesen. oder so was gewesen sein, weil da waren immer noch
Nach eingehender Analyse der Interviews und wei- die Stecker, wissen Sie, für die Elektrizität und solche
teren Recherchen – auch vor Ort – zur Bestimmung Sachen, – und das war ein richtig großes Gebäude, ein
des Standortes der Baracken lässt sich festhalten, dass riesig großes Gebäude. Und wir schliefen auf dem Fuß-
es im Steinbruch unterhalb des Lagers zumindest zwei boden. Alle lagen einfach auf dem Fußboden.“42
Baracken gegeben haben muss, in welche die Frauen Sehr viele Frauen waren in der im Zuge dieses For-
gepfercht wurden, vieles deutet auf die Unterbringung schungsprojekts lokalisierten, aufgrund ihrer Lage am
in drei Baracken hin: die ehemalige Messerschmitt-Pro- Zweinzner-Bach sogenannten „Zweinzner-Baracke“
duktionsbaracke und die sogenannte Heereszeugsamt- untergebracht.43 Nachforschungen im Grundbuch am
Baracke, die unmittelbar neben dem Steinbruch lagen, Bezirksgericht Mauthausen ergaben, dass die Liegen-
sowie die etwas abseits gelegene „Zweinzner Baracke“. schaften 1129/1 und 1129/2, welche anhand der Luft-
Die Baracken im „Wiener Graben“ wurden erstmalig bildaufnahmen aus 1945 als Örtlichkeit der „Zweinz-
von Frauen aus Ravensbrück, also Anfang März 1945 ner-Baracke“ eindeutig ausgemacht werden konnten,
belegt – zu diesem Zeitpunkt war die Produktion im im April 1944 den Eigentümer wechselten und von der
Steinbruch schon großteils eingestellt. Eine Unterbrin- Commune Wien (spätere Stadt Wien) an die SS über-
gung von Frauen war hier nahe im Einzugsbereich der gingen.44 Die „Zweinzner-Scheune“ stand somit auf SS-
Bewachung und Verwaltung möglich. Übereinstim- Grund, ihre (ursprüngliche) Bestimmung und Nutzung
mend erzählen die Frauen von einer sehr großen Ba- konnte jedoch nicht eruiert werden.
racke, einem einzigen Raum, der gänzlich leer war, so- Am 29. April trafen Jüdinnen aus den Flossenbürger
dass sie am Boden auf Strohsäcken dahinvegetierten, Außenlagern Freiberg und Venusberg in Mauthausen
die bald vor Schmutz starrten, nass und feucht waren ein, völlig entkräftet nach einem 14-tägigen Transport.
und somit Keimträger für verschiedene Seuchen wur- Hannelore Grunbergs Erinnerungen verweisen eben-
den. Manche erzählen, dass überhaupt nur notdürf- falls auf eine Unterbringung im „Zweinzner Graben“:
tigst Stroh ausgestreut worden war. Die Baracke war „Wir kamen in einen Raum, der einem Stall ähnelte in
von Beginn an heillos überfüllt, da nahezu sämtliche meiner Erinnerung. Und – da lag alles auf dem Boden
Frauen des Ravensbrück-Transportes, die nicht weiter und soweit ich etwas erkennen konnte, waren es lauter
nach Bergen-Belsen überstellt worden waren, nach dunkle Typen mit dunkler Hautfarbe, und sie sagten
Quarantäne oder Sanitätslager schließlich in den „Wie- auch, dass sie Zigeuner waren. Wir waren also im Zi-
ner Graben“ kamen. Mitte April kamen in die ohnedies geunerlager gelandet.“45

37
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

Regina Langsam-Lewkovic, ebenfalls aus Freiberg kaum Schutz vor der Witterung, waren vollkommen
gekommen, erinnert sich an „nasse Erde“, was deutlich unmöbliert und nur fallweise mit einer Strohschüttung
auf eine Scheune hinweist, da Scheunen meist nur ge- am Boden versehen. Die sanitären Einrichtungen des
stampfte Erde als Boden aufwiesen.46 Schließlich bele- Zeltlagers entsprachen diesem provisorischen Charak-
gen die Erzählungen Esther Zychlinskis, geborene Fajn- ter, es gab kein fließendes Wasser und nur riesige Latri-
koch, über ihre Flucht aus einer Baracke in Mauthausen nengruben als Toilettanlagen. Die Lager-SS registrierte
die Existenz und Lage der „Zweinzner Baracke“. 47
die Häftlinge des Zeltlagers nicht mehr namentlich,
Regina Langsam-Lewkovic bezeichnet eine der lediglich zahlenmäßige Zugangs- und Abgangsstatis-
Baracken im „Wiener Graben“ als „griechische Baracke“, tiken wurden – zumindest anfänglich – regelmäßig
eine andere als „Zigeunerbaracke“. Welchen Unter- erstellt. Eine Aufstellung der Schutzhaftlagerführung
bringungsort sie dabei jeweils konkret meint, ließ sich vom 9. April 1945 führte als Neuzugänge des Zeltlagers
nicht eruieren, gleichwohl die „Herkunft“ der Namen: insgesamt 8 505 Häftlinge an, darunter 297 Frauen, die
Die Bezeichnung „griechische Baracke“ kann sich nur innerhalb von drei Tagen in Mauthausen eingetroffen
von jenen griechischen Jüdinnen ableiten, die mit waren.49 Das Zeltlager wurde ab Mitte April geräumt
demselben Transport wie Langsam-Lewkovic am 29. und die Häftlinge in weiteren Todesmärschen ins Au-
April in Mauthausen aus Venusberg ankamen. Die Zu- ßenlager Gunskirchen getrieben.
schreibung „Zigeunerbaracke“ dürfte mit den vielen Den Juden und Jüdinnen aus Ungarn folgten Frauen
Roma-Frauen zusammenhängen, die Anfang März aus aus Freiberg und Venusberg. Vera Mitteldorf verdeutlicht
Ravensbrück gekommen waren, wenngleich viele von in ihrer Erzählung, dass die Frauen dort vollkommen sich
ihnen mit ihren Kindern weiter nach Bergen-Belsen selbst überlassen waren, „da gab es dann nichts mehr zu
transportiert wurden. Die Bezeichnung „Zigeunerbara- essen, da gab es nichts, nichts, nichts, gar nichts.“50 Die
cke“ bzw. „Zigeunerlager“ findet sich mehrfach in den Zelte waren sehr groß, „Riesendinger“, groß wie Armee-
Erinnerungen der Überlebenden.48 zelte. An Bewachung kann sie sich nicht erinnern, sie
Mit der Einbeziehung der Baracken im „Wiener denkt, dass es keine mehr gegeben habe. Episoden aus
Graben“ ist festzuhalten, dass sich die räumliche Aus- dieser Zeit, so Mitteldorf weiter, könne sie nicht mehr
dehnung des Stammlagers Mauthausen damit erheb- abrufen, aber an die schrecklichen hygienischen Zustän-
lich vergrößerte. Nicht nur Produktionsbaracken oder de im Zeltlager erinnere sie sich: „Ja, an mehr kann ich
Lagerhallen waren in einem relativ weitläufigen Areal mich auch nicht erinnern. Genau so, wie ich bloß ge-
rund um die Festungsmauern angelegt (begrenzt von legen habe, haben da viele, da kann ich mich erinnern,
der äußeren „Postenkette“ der Bewachung), sondern dass mitten in dem Lager so ’ne Riesenlatrine, also, so,
es befanden sich auch Unterkunftsbaracken in diesem so ein Klo, offen – da stand da, so offen, dass man da
Abschnitt, um die große Zahl von Frauen getrennt von auch reinfallen konnte, ja. Und [dass es – H.A./B.H.] da so
den Männern unterzubringen. furchtbar gestunken hat und da – Fliegen und was weiß
ich wie alles, ja. Daran kann ich mich auch erinnern, also
Frauen der Evakuierungstransporte – im Endergebnis waren wir – uns selbst überlassen –,
im Zeltlager fertig zum Sterben so ungefähr.“51
Für die Unterbringung der ungarischen Juden und Auch hier mussten die Frauen am nackten Boden
Jüdinnen, die im März/April 1945 Mauthausen in ent- liegen. Vera Mitteldorf erinnert sich nicht an Decken
behrungsreichen und vielfach todbringenden Fußmär- im Zelt, von welchen jedoch Marta Fyerlicht spricht –
schen erreichten, stand ausschließlich das – wieder ein- wenngleich das Stück Stoff mit einer Decke nicht mehr
gedeckte – Zeltlager als provisorische Unterkunft zur viel gemein hatte: „Wir erreichten Mauthausen. Wie wir
Verfügung. Die 14 Militär- und Ausstellungszelte boten ausstiegen, wie wir in das Zelt [deutsch im Original

38
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

– H.A./B.H.] dort kamen, da wo wir waren, das große, von der SS nach Möglichkeit aufrechterhaltene Ge-
in dem großen Zelt, und dort waren alle auf dem Fuß- schlechtersegregation wurde durch das Eintreffen ei-
boden, kein Bett, kein gar nichts, auf dem Beton [eher: ner so großen Anzahl von Frauen in einem Stammlager
Boden – H.A./B.H.]. Jeder schleppte seine Decke mit, für Männer an seine Grenzen geführt. Dieser Umstand
die er hatte, die Decke war schon keine Decke mehr, war nicht nur eine ‚logistische Herausforderung’ für die
weil jedes Mal, wenn man ein Stück brauchte, Stoff SS, sondern auch eine außergewöhnliche Situation für
oder so, schnitten wir davon immer ab. Aus einem Teil die Frauen und Männer.
machten wir eine Mütze, dann nahmen wir ein Stück, Die Frauen wurden in den letzten Tagen vor der Be-
so dass wir einen Schal haben, so dass die Decke nicht, freiung von Mauthausen nicht mehr zu Arbeiten im La-
sie blieb noch nicht mal die Hälfte. Also dort warfen sie ger herangezogen. Die Mehrzahl von ihnen, insbeson-
uns auf den Boden. Wir waren dort, nicht tot und nicht dere die Frauen im Zeltlager, wäre auch in keiner Weise
lebendig.“52 dazu in der Lage gewesen. Keine Arbeit hieß aber auch:
noch unregelmäßigere, noch unzureichendere Verpfle-
Resümee gung. Gerade im zunehmenden Chaos der ersten Mai-
tage wurden die Frauen schlichtweg ihrem Schicksal
Die Tausenden weiblichen Häftlinge des KZ Maut- überlassen. n
hausen lassen sich in vier Gruppen unterteilen, wird
als Distinktionskriterium der Grund der Deportation
herangezogen, welcher eng mit dem Zeitpunkt des
Eintreffens in Mauthausen zusammenhing:
Als erste Gruppe gelten die zur Hinrichtung über-
stellten Frauen, zumeist Widerstandskämpferinnen
Unterkunftsbaracke für Frauen im Sanitätslager des
in den besetzten Gebieten bzw. aus Staaten, die mit KZ Mauthausen, Mai 1945 (© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte
Deutschland im Krieg waren. Eine weitere Gruppe sind Mauthausen/Sammlung USHMM).
Frauen, die zur Zwangsarbeitsleistung verschickt wur-
den, in erster Linie Zeuginnen Jehovas und Jüdinnen.
Sie wurden alle in Außenlager von Mauthausen ge-
schickt (die zur Sexzwangsarbeit in den Bordellen in
Mauthausen und Gusen verpflichteten Frauen sind hier
ausgenommen). Als dritte Gruppe von weiblichen Häft-
lingen lassen sich jene nennen, für die Mauthausen als
Durchgangslager fungierte: sowjetische Frauen, Italie-
nerinnen und Polinnen. Die Mehrzahl der Frauen kam
allerdings als vierte Gruppe mit den großen Evakuie-
rungstransporten nach Mauthausen: aus Ravensbrück,
Auschwitz und Groß-Rosen, den Flossenbürg-Außen-
lagern Freiberg und Venusberg; zu dieser Gruppe sind
auch die ungarischen Jüdinnen der Todesmärsche zu
nennen, die in den März- und Apriltagen kurz vor der
Befreiung nach Mauthausen getrieben wurden.
Die große Zahl an Evakuierungstransporten von
Frauen macht Mauthausen zu einem Sonderfall. Die

39
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

1 Anita Farkas hat mit „Geschichte(n) ins Leben holen. Die Bibelfor- lebende des Konzentrationslagers Mauthausen, Männer wie Frauen,
scherinnen des Frauenkonzentrationslager St. Lambrecht“ (Graz interviewt. Die Interviews wurden in 15 europäischen Ländern, Israel
2004) eine gründliche Analyse zur Geschichte der Frauen im Maut- und den USA von regionalen Teams vor Ort durchgeführt, geleitet
hausen-Außenlager St. Lambrecht vorgelegt; weiters Stefan Karner/ wurde das Projekt von der Arbeitsgemeinschaft Ludwig Boltzmann
Heide Gsell/Philipp Lesiak: Schloss Lannach 1938-1949 (Graz 2008). Institut für Historische Sozialwissenschaft, Dokumentationsarchiv
2 Andreas Baumgartner: Die vergessenen Frauen von Mauthausen. Die des österreichischen Widerstands und Institut für Konfliktforschung.
weiblichen Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen und ihre Für nähere Informationen zum Projekt vgl. Gerhard Botz/Helga Ames-
Geschichte (Wien 1997); vgl. etwa Florian Freund/Bertrand Perz: Kon- berger/Brigitte Halbmayr: Das „Mauthausen Survivors Documentati-
zentrationslager Mauthausen [Beiträge zu Stammlager und Außen- on Project“ (MSDP). In: BIOS – Zeitschrift für Biografieforschung, Oral
lagern], in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. History und Lebenslaufanalysen 2 (2003), S. 297-306. In die Studie zu
Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4: den weiblichen Mauthausen-Häftlingen wurden 87 MSDP-Interviews
Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück (München 2006), S. 289-470. mit Frauen einbezogen.
3 Roman Sandgruber: Lenzing. Anatomie einer Industriegründung im 7 Vgl. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrations-
Dritten Reich (Linz 2010); Margret Lehner: Lenzing – Pettighofen, in: lager (Frankfurt/M. 1999), S. 61ff.
Christian Hawle/Gerhard Kriechbaum/Margret Lehner: Täter und 8 Ein weiteres Beispiel dafür ist das KZ Buchenwald, zu dem 136 Au-
Opfer. Nationalsozialistische Gewalt und Widerstand im Bezirk Vöck- ßenlager gehörten, wovon 27 für Frauen bestimmt waren. Die Frauen
labruck 1938-1945. Eine Dokumentation (Wien u. a. 1995), S. 33-58. machten am 15. Jänner 1945 – dem Stichtag mit der höchsten Ge-
Verstärkt hat sich auch die (feministische) Geschichtsforschung Frau- samtzahl weiblicher Häftlinge des KZ Buchenwald – mit 26 650 Per-
enschicksalen – jenseits des Frauenlagers Ravensbrück – angenom- sonen 10 Prozent aller Buchenwalder Häftlinge und 30 Prozent der
men, dabei immer wieder auch auf Mauthausen Bezug genommen, Häftlinge der Buchenwalder Außenkommandos aus. Die Frauen wur-
wenn auch meist nur im Zusammenhang mit den Sexzwangsarbei- den direkt an die Standorte der Rüstungsindustrie und damit direkt in
terinnen in Mauthausen und Gusen; vgl. Christa Paul: Zwangspros- die Außenlager verfrachtet, sodass kaum ein Insasse des Hauptlagers
titution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus (Berlin von der Existenz weiblicher Häftlinge wusste; vgl. Irmgard Seidel:
1994); Helga Amesberger/Katrin Auer/Brigitte Halbmayr: Sexualisier- Jüdische Frauen in den Außenkommandos des Konzentrationslagers
te Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern (Wien Buchenwald, in: Gisela Bock (Hg.): Genozid und Geschlecht. Jüdische
2004); Robert Sommer: Der Sonderbau. Die Errichtung von Bordellen Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem (Frankfurt/M. / New
in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Magisterarbeit York 2005), S. 149-168, hier S. 149.
an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität 9 Das bereits erwähnte Schloss Lannach war ein Außenkommando des
zu Berlin (Berlin 2003); Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Außenlagers Mittersill mit insgesamt neun der 15 dort zwangsver-
Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern (Pa- pflichteten Häftlinge.
derborn u. a. 22010). 10 Vgl. Baumgartner: Die vergessenen Frauen, S. 115. Im Rahmen des
4 Das Vorhaben wurde in eine Pilotstudie (2006-2008) und eine Haupt- MSDP konnten drei Frauen aus Dnjepropetrowsk interviewt werden;
studie (2008-2010) unterteilt, da in vielen Bereichen erst die Rahmen- alle drei waren wegen Widerstandstätigkeit inhaftiert worden.
bedingungen für die Durchführung eines derartigen Unternehmens 11 Auch hier sei auf eine Parallele mit dem KZ Buchenwald verwiesen:
geschaffen bzw. optimiert werden mussten. In beiden Arbeitsphasen Es fungierte ebenfalls als Durchgangslager für Frauen und Mädchen
waren Andreas Baumgartner und seine Mitarbeiterin Isabella Girst- aus Dnepropetrowsk, insgesamt für über 500, die innerhalb weniger
mair ProjektpartnerInnen und primär für die Erforschung der Außen- Tage bzw. Wochen nach Ravensbrück weiterüberstellt wurden (vgl.
lager für Frauen zuständig, sie verfassten auch einen Großteil der Seidel: Jüdische Frauen, S. 150f.).
bislang vorliegenden Häftlingsbiografien. 12 Üblicherweise wurden die italienischen weiblichen politischen Häft-
5 Insgesamt wurden aus über 11 000 Quelldatensätzen Informationen linge nach Ravensbrück, die italienischen Jüdinnen nach Auschwitz
in die Projektdatenbank „Mauthausen_Frauen“ übertragen, es er- deportiert. Vgl. Schriftverkehr zwischen Italo Tibaldi (Comité Interna-
folgten rund 7 700 Informationsneueintragungen. Die Datenbank tional de Mauthausen) und Andreas Baumgartner vom 21.12.1996.
beinhaltet 6 710 Namen. Wir konnten also rund 2 700 neue Namen 13 Häftlingszugangsbuch der Politischen Abteilung, Archiv der KZ-Ge-
von Frauen eruieren. Die Projektdatenbank wird zu einem späteren denkstätte Mauthausen (fortan AMM) Y/36 (Original in den National
Zeitpunkt in die Häftlingsdatenbank des Mauthausen Memorial ein- Archives and Records Administration, Maryland); Zugangsbuch der
gespeist werden. Schutzhaftlagerführung, AMM Y/44 (Original in den Archives natio-
6 Im Rahmen des internationalen Projekts „Mauthausen Survivors nales, Fontainebleau).
Documentation Project“ (MSDP) wurden in den Jahren 2002/2003 im 14 Hierbei handelte es sich um die erkennungsdienstliche Erfassung für
Auftrag des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen über 800 Über- die zivile Zwangsarbeit. Irena Norwa und Irena Rowinska beschrei-

40
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

ben in den Interviews das Prozedere ausführlich; vgl. AMM, MSDP, 27 Das Zeltlager wurde ab Sommer 1944 errichtet, es bestand aus sechs
OH/ZP1/597, Interview mit Irena Norwa, Interviewerin: Monika Kapa- großen und acht kleineren Ausstellungs- sowie Militärzelten; es gab
Cichocka, am 1.7.2002; AMM, MSDP, OH/ZP1/795, Interview mit Irena dort nur provisorische Waschrinnen und Latrinen (vgl. Freund/Perz:
Rowinska, Interviewerin: Monika Kapa-Cichocka, am 25.4.2003. Konzentrationslager Mauthausen, S. 300; Baumgartner: Die verges-
15 Vgl. Baumgartner: Die vergessenen Frauen, S. 162ff. senen Frauen, S. 123f.; Maršálek: Mauthausen, S. 72). Luftbildaufnah-
16 Vgl. ebd., S. 159ff. Im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimo- men der Royal Air Force (RAF) zeigen, dass das Zeltlager im März 1945
nies der Yale University befinden sich Interviews mit 35 Frauen, die bereits großteils abgedeckt und in Auflösung begriffen war, Ende
auch in Mauthausen inhaftiert waren, sechs von ihnen kamen von April jedoch wieder in Stand gesetzt wurde, um die Frauen der groß-
Auschwitz über Groß-Rosen dorthin. In unserer Projekt-Datenbank en Evakuierungstransporte aus den Flossenbürger Außenlagern und
„Mauthausen_Frauen“ haben wir aktuell die Namen von 75 Frauen die ungarischen Jüdinnen und Juden, Mauthausen im Fußmarsch
gesammelt, für die dieser Weg belegt ist. erreichend, dort unterzubringen (vgl. The Air Reconaissance Archive
17 Neben diesen großen Überstellungstransporten nach Mauthausen [fortan TARA], Luftaufnahme des Konzentrationslagers Mauthausen,
gab es auch immer wieder kleinere, wie etwa eine Überstellung von Aufklärungsflug der RAF 37-0274, Bild 4013, 11.4.1945, 14:15 Uhr).
15 Frauen durch die Sicherheitspolizei Wien am 11.4.1945. 28 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/795, Interview Rowinska; AMM, MSDP, OH/
18 Sie hatten die Nummernserie 2857 bis 3077. ZP1/597, Interview Norwa.
19 Vgl. Baumgartner: Die vergessenen Frauen, S. 184ff. 29 Ebd., Abs. 59.
20 Vgl. Szabolcs Szita: Ungarn in Mauthausen. Ungarische Häftlinge in 30 Der These von Andreas Baumgartner (vgl. Baumgartner: Die verges-
SS-Lagern auf dem Territorium Österreichs (Wien 2006); ders.: Ver- senen Frauen, S. 173f.), dass die Frauen aus Ravensbrück zur Zwangs-
folgung – Zwangsarbeit im Burgenland – Todesmärsche [Vortrag arbeit nach Mauthausen deportiert wurden, widerspricht die Tatsache,
am Seminar Stadt Schlaining, 18.10.2003], http://www.erinnern.at/ dass viele von ihnen nach wenigen Wochen wieder weitergeschickt
e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/abbild-und- wurden; zudem belegen unsere Forschungen, dass die Mehrzahl der
reflexion/412_Szita%20Verfolgung%20-%20Zwangsarbeit%20im% Frauen, die sich in den letzten Wochen und Monaten des Bestehens im
20Burgenland%20-%20Todesmaersche.pdf (Zugriff am 22.3.2011); Mauthausener Stammlager befanden, nicht zur Zwangsarbeit heran-
Eleonore Lappin: Die Todesmärsche ungarischer Juden durch Öster- gezogen wurden.
reich im Frühjahr 1945, http://www.ejournal.at/essay/todmarsch. 31 Vgl. Karin Orth: Planungen und Befehle der SS-Führung zur Räumung
html (Zugriff am 22.3.2011). des KZ-Systems, in: Detlef Garbe/Carmen Lange: Häftlinge zwischen
21 Vgl. Baumgartner: Die vergessenen Frauen, S. 181. Der Anteil der Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und
Frauen lässt sich weder unter den Opfern der Todesmärsche noch seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945 (Bremen 2005),
unter jenen, die in Mauthausen ankamen, annähernd bestimmen. S. 33-44; Eberhard Kolb: Die letzte Kriegsphase. Kommentierende
22 Hans Maršálek (in: Die Geschichte des Konzentrationslagers Maut- Bemerkungen, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann
hausen. Dokumentation [Wien 4 2006], S. 167f.) beziffert die aus (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung
Freiberg kommenden Frauen mit 397; Baumgartner (Die vergessenen und Struktur, Bd. 2 (Frankfurt/M. 2002), S. 1128-1138.
Frauen, S. 198 und S. 218) meint, dass gar nur 120 bis 200 von insge- 32 Vgl. Baumgartner: Die vergessenen Frauen, S. 164. Als Beleg dafür
samt 600 überstellten Frauen aus Freiberg und Venusberg in Maut- wird mit AMM K4a/1 die Transportliste von KLM nach Amstetten,
hausen angekommen seien. Hier wurde also von einer bereits viel zu Bahnbau II, angeführt, welche jedoch erst für Mitte März 1945 ein
geringen Anzahl an Frauen, die von Freiberg bzw. Venusberg Richtung definitiver Beleg ist.
Mauthausen verfrachtet worden waren, ausgegangen. 33 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/541, Interview mit Germaine Lizin, Inter-
23 Vgl. Pascal Cziborra: KZ Freiberg. Geheime Schwangerschaft (Biele- viewerin: Maryline Tranchant, am 13.11.2002, aus Abs. 119:132.
feld 2008), S. 71-126; Pascal Cziborra: KZ Venusberg. Der verschleppte 34 Maršálek: Mauthausen, S. 167.
Tod (Bielefeld 2008), S. 76-130. 35 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/540, Interview mit Lydia Smets, Interview-
24 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/007, Interview mit Maria Fugazza, Inter- erin: Maryline Tranchant, am 28.10.2002. Die beiden Baracken blie-
viewerin: Viviana Frenkel, am 5.6.2002. ben – neben den Stockbetten – den Frauen auch durch ihre enorme
25 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/247, Interview mit Eva Schneider, Inter- Länge (bis zu 60 Meter) in Erinnerung; auf Luftbildern aus Anfang
viewerin: Zepporah Glass, am 21.10.2002. Mai 1945 ist der Zaun um diese Baracken zu sehen.
26 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/491, Interview mit Ljudmila Staneva, Inter- 36 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/208, Interview mit Marie Salou, Interview-
viewerin: Alena Koslowa, am 25.9.2002; AMM, MSDP, OH/ZP1/462, erin: Julia Montredon, am 13.8.2002, aus Abs. 60:63.
Interview mit Galina Siwoded, Interviewerin: Alena Koslowa, am 37 AMM, MSDP, OH/ZP1/817, Interview mit Eva Selucká, Interview-
27.9.2002 sowie AMM, MSDP, OH/ZP1/031, Interview mit Nadjeschda erin: Jana Drdlová, am 9.3.2003, Abs. 72:74. Ähnlich AMM, MSDP,
Terečsenko, Interviewer: Kirill Wassilenko, am 8.5.2002. OH/ZP1/296, Interview mit Edna Amit, Interviewerin: Keren Harazi,

41
Frauen im „Männerlager“. Das KZ Mauthausen als Durchgangs- und Evakuierungsort für Frauen

am 3.1.2003, Abs. 62:64; AMM, MSDP, OH/ZP1/819, Interview mit (vgl. etwa: International Tracing Service Bad Arolsen [ITS], T/D-Akt
Eva Štichová, Interviewerin: Jana Drdlová, am 23.3.2003, aus Abs. Nr. 358539, Feijnkoch; handschriftliche Fluchtweg-Beschreibung auf
155:161. einem Geländeplan durch Arie Zychlinski; Gedenkstätte Flossenbürg:
38 Schutzhaftlager des K.L. Mauthausen, Aufstellung über die für den 3. Nummernbücher des KZ Flossenbürg).
Mai 1945 benötigten Posten, AMM P/06/01. 48 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/546, Interview Grunberg, Abs. 170; AMM,
39 Vgl. Landesgericht Linz, Vg 111 Vr 6412/47, Verfahren gegen Her- MSDP, OH/ZP1/585, Interview mit Regina Lamstein, Interviewer:
mine H. Alexander von Plato, am 18.2.2003, Abs. 170; zur Beaufsichtigung der
40 Auch eine Unterbringung in der nebenan liegenden Heereszeugsamt- Häftlinge durch „Zigeunerinnen“ bzw. zu ihrer Funktion als Stuben-
Baracke im „Wiener Graben“ ist nicht auszuschließen, die Frauen er- dienste vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/540, Interview Smets, Abs. 168:192;
wähnen allerdings keine weitere Unterbringungsbaracke für Frauen AMM, MSDP, OH/ZP1/517, Interview mit Slava Primozic, Interview-
in ihrer unmittelbaren Umgebung. erin: Viviana Frenkel, am 12.11.2002.
41 Auch die Frauen des Ravensbrück-Transports sprechen von ehema- 49 AMM B/60/11; vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 198.
ligen Fabriken, die Schilderungen des Barackeninneren lassen jedoch 50 AMM, MSDP, OH/ZP1/219, Interview mit Vera Mitteldorf, Interview-
daran zweifeln. erin: Julia Obertreis, am 23.7.2002, aus Abs. 658:702.
42 AMM, MSDP, OH/ZP1/441, Interview mit Hedwika Pace, Interview- 51 Ebd.
erin: Elisabeth Pozzi-Thanner, am 21.10.2002, Abs. 146. Auch die 52 AMM, MSDP, OH/ZP1/298, Interview mit Marta Fyerlicht, Interview-
Schilderungen von Frau Bulawa weisen deutlich auf eine ehemalige erin: Keren Harazi, am 11.7.2002, Abs. 61.
Fabrik als Unterbringungsstätte hin, vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/152,
Interview mit Nadjeschda Bulawa, Interviewer: Kirill Wassilenko, am
16.6.2002, Abs. 49. Ähnlich erinnert sich Marija Mudrak: Sie spricht
ebenfalls von einer ehemaligen Fabrik, aus der die Maschinen weg-
geschafft worden waren, verortet diese aber in den Wald (was auch
als Parallele zur Zwangsarbeit in Hirtenberg gesehen werden kann,
die tatsächlich im Wald stattfand), vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/481,
Interview mit Marija Mudrak, Interviewerin: Irina Ostrowskaja, am
17.11.2002, Abs. 543:566.
43 Es bestand vorübergehend die Annahme, dass es sich bei dieser Ba-
racke um eine ehemalige Scheune eines Bauern aus der Umgebung
handelte, doch sind Scheunen üblicherweise in Bauernhof-Nähe ge-
legen, und auch die Ausmaße der Scheune erscheinen für die Bauern
dieser Gegend als sehr überdimensioniert.
44 Vgl. Auszug aus dem Grundstücksverzeichnis, Katastralgemeinde
43106 Marbach, Vermessungsamt Linz; Bezirksgericht Mauthausen;
vgl. TARA, Luftaufnahme des Konzentrationslagers Mauthausen,
Aufklärungsflug der RAF 60-0744, Bild 4034, 18.9.1944, 9:30 Uhr.
45 AMM, MSDP, OH/ZP1/546, Interview mit Hannelore Grunberg, Inter-
viewer: Frank Aarts, am 9.2.2003, Abs. 170.
46 Vgl. AMM, MSDP, OH/ZP1/547, Interview mit Regina Anna Langsam-
Lewkovic, Interviewer: Frank Aarts, am 10.11.2002 und 24.11.2002,
Abs. 147; ähnlich auch die Griechin Chrysoula Eliassa, vgl. AMM,
MSDP, OH/ZP1/837, Interview mit Chrysoula Eliassa, Interviewer: Gri-
gorios Psallidas, am 3.3.2003, Abs. 138:143.
47 Ihre Wegbeschreibung zum Haus der Familie Schatz, die Esther in den
letzten Kriegstagen bei sich versteckte, sowie die ein halbes Jahrhun-
dert später von ihrem Sohn Arie initiierte Recherche zur Rettung sei-
ner Mutter, darunter die Begehung des Geländes, ließen die Baracke
deutlich verorten. Vgl. dazu den Schriftverkehr zwischen Arie Zychlin-
ski, Martha Gammer und Brigitte Halbmayr und zahlreiche Doku-
mente, die im Zuge der Recherche eruiert und kommuniziert wurden

42
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Andreas Baumgartner/Isabella Girstmair

„… weil ich das einmal sehen wollte.“


Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge
der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

BesucherInnengruppe auf dem Weg zum Steinbruch (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

Ausgangslage sende Basisdatenerhebung als auch eine qualifizierte


sozialwissenschaftliche Begleitung und Evaluierung
Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Maut- der Neugestaltung notwendig. Nur so kann gewähr-
hausen bietet die Chance, die bisher bestehenden leistet werden, dass die Neukonzeption und ihre In-
– im Laufe der letzten Jahrzehnte gewachsenen und tentionen mit den Erwartungen und Bedürfnissen der
laufend modifizierten – (Vermittlungs-)Angebote an BesucherInnen möglichst deckungsgleich werden.
die BesucherInnen anzupassen bzw. zu verbessern Für diese Datenerhebung und Begleitung wurden wir
und dabei ihre heterogenen Bedürfnisse zu berück- vom Bundesministerium für Inneres im Jahr 2009 mit
sichtigen. Da über diese jedoch kaum profundes em- einer ersten, umfassenden Studie in mehreren Modu-
pirisches Material vorliegt, sind sowohl eine umfas- len beauftragt.

43
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

Basisdatenerhebung 2009 –
Querschnittstudie1

Zwischen Ende Oktober und Ende November 2009


wurde eine Basisdatenerhebung in Form einer Umfrage
mit 866 BesucherInnen durchgeführt. Gemeinsam mit
dem Auftraggeber wurden 13 Themenbereiche fest-
gelegt, wobei ein weiter thematischer Bogen gespannt
wurde: die Besuchenden sollten über ihren Informati-
onsstand vor ihrem Besuch und ihre Motivation ebenso
Auskunft geben wie über ihre Eindrücke während des
Rundgangs, die Bewertung von (Vermittlungs-)Angebo-
ten und der Gedenkstätten-Infrastruktur und ihre Refle-
SchülerInnengruppe im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Maut-
xionen des Erlebten. Die Ergebnisse dieser Studie waren
hausen (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus). zwar ausschließlich für den Untersuchungszeitraum gül-
tig und damit nicht repräsentativ für ein gesamtes Jahr,
lieferten aber wichtige Basisinformationen über die Ge-
denkstätten-BesucherInnen und bildeten die Grundlage
Die Gesamtstudie für die im Anschluss durchgeführte Längsschnittstudie.

Die Vielzahl an unterschiedlichen Fragestellungen Strukturierte Beobachtung


und sozialen Sachverhalten, die es gründlich zu unter-
suchen gilt, verlangt nach einem ebenso weitgefassten Methode der Datenerhebung
wie ausdifferenzierten Methodenmix. Es war nötig, sich Bei einer Beobachtung stehen das Verhalten der
bereits in der Planung davon zu verabschieden, mit ei- BesucherInnen und dessen Interpretation im Fokus
ner einzigen Befragungsstaffel alles und jedes erheben – Meinungen, Erwartungen und Bedürfnisse können
zu können. Aus diesem Grund wurden – im Sinne der dabei hingegen nicht erhoben werden.
sozialwissenschaftlichen Triangulation – ineinander Der Aufwand für eine Beobachtung ist insofern hoch,
greifende Analysemodule entwickelt, mit denen nicht da diese nur in „Echtzeit“ durchgeführt werden kann.
nur die nötige Multiperspektivität, sondern auch die Während ein zweistündiger Gedenkstättenbesuch in
unabdingbare Validität der Daten gewährleistet wer- zehn Minuten retrospektiv mittels Fragebogen abge-
den kann. Folgende Module waren oder sind derzeit fragt werden kann, dauert die Beobachtung genauso
im Einsatz: lange wie der beobachtbare Sachverhalt. Gleichfalls
● Basisdatenerhebung in Form einer Querschnittana- verlangt eine umfassende Beobachtung nach einem
lyse mit einer Befragung größeren und geschulten Team.
● strukturierte verdeckte Beobachtung der Besucher- Der Vorteil der Beobachtung ist die Unmittelbarkeit,
Innen-Bewegungen in der Gedenkstätte mit der bestimmte Gegebenheiten erhoben werden
● vertiefende Datenerhebung in Form einer Längs- können. Der/die ForscherIn fragt also nicht retrospek-
schnittanalyse mit einer Befragung tiv, sondern ist unmittelbar dabei und kann selbst in-
● Fokusgruppen über Elemente der Neugestaltung terpretative Schlüsse ziehen.
sowie des pädagogischen Angebots (Durchfüh- Die Beobachtung wurde verdeckt durchgeführt,
rung im Frühjahr 2011) die BesucherInnen wurden also im Vorfeld nicht darü-

44
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

ber informiert. Wichtigstes Entscheidungskriterium für weise an die Erkundung der Gedenkstätte. Zwar gibt es
diese Vorgehensweise war der Faktor der sogenann- einige besonders frequentierte Stationen (z. B. den Kre-
ten „sozialen Erwünschtheit“: Gedenkstätten und vor matoriumsbereich) und Wege dorthin, aber nicht den
allem ihre Geschichte sowie der Umgang damit sind typischen Rundgang durch die Gedenkstätte. Grund-
gesellschaftlich sensible Themen, und bestimmte Re- sätzlich ist festzuhalten, dass sich alle beobachteten
aktionen wie Betroffenheit und damit verbundenes Gruppen dem Ort „angemessen“ benahmen und der
Verhalten oder das Interesse an gewissen (als histo- Großteil interessiert wirkte. Allerdings können Faktoren
risch besonders wichtig geltenden) Bereichen gehören wie das Interesse an der Thematik oder Vorkenntnisse
sozusagen „zum guten Ton“. Das Wissen darüber, von mit der Methode der Beobachtung nur sehr einge-
ExpertInnen beobachtet zu werden, würde daher mit schränkt erhoben und als Eindruck präsentiert werden.
der Annahme einer Bewertung des eigenen Verhaltens Auch die Verweildauer an einzelnen Stationen, die
einhergehen. Dies zieht unweigerlich eine Anpassung Wegzeiten und die insgesamt an der Gedenkstätte ver-
des Verhaltens an das, wovon angenommen wird, „dass brachte Zeit differierten stark zwischen den Gruppen,
es sich gehört“, nach sich – zum Beispiel schweigendes zum Beispiel je nach Art oder Intensität der Auseinan-
Verweilen vor Gedenktafeln, lange Aufenthaltszeit im dersetzung mit einzelnen Stationen, dem Alter oder
Krematoriumsbereich, Lesen sämtlicher Informations- Gesundheitszustand von Gruppenmitgliedern und der-
tafeln. Dies kann nur durch eine verdeckte Beobach- gleichen. Bezüglich des Zeitaufwandes für die Besichti-
tung vermieden werden. gung der gesamten Gedenkstätte lässt sich Folgendes
Eine wissenschaftliche Beobachtung setzt voraus, ableiten: Wenn eine Gruppe mit den durchschnittlich
dass der/die BeobachterIn über theoretisches Wissen beobachteten Weg- und Verweilzeiten alle zugäng-
hinsichtlich der Methode verfügt und die Anforde- lichen Bereiche der Gedenkstätte (ohne Ausstellungen)
rungen kennt. Daher wurden im Zuge der Mauthau- besucht, sind für die Wege 71 Minuten und für die Be-
sen-BesucherInnen-Studie ausschließlich Sozialwissen- sichtigung der Stationen 153 Minuten einzurechnen.
schafterInnen als Beobachtende eingesetzt. Da es in Das bedeutet, ein umfassender Gedenkstättenbesuch
der Analyse nicht um (emotionale) Reaktionen auf oder mit allen Stationen benötigt ein Zeitbudget von 224
grundsätzliche Verhaltensweisen der BesucherInnen in Minuten, also fast vier Stunden – das beobachtete durch-
der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ging, sondern vor schnittliche Zeitbudget liegt jedoch bei 85 Minuten.
allem um eine Weg-Zeit-Beobachtung, war es unerläss- Orientierungslosigkeit an der Gedenkstätte war vor
lich, dass die BeobachterInnen darüber hinaus mit der allem bei der Ankunft zu beobachten – den Weg zum
Topographie des Ortes sehr gut vertraut waren. Bookshop fanden die meisten Gruppen problemlos,
Die Feldphase der Beobachtung fand an drei Halb- einige durch Nachfragen oder Suchen. Dort wurden
tagen im Juli und August 2010 statt, wobei vier Sozi- sie mit der Broschüre des Bundesministeriums für In-
alwissenschafterInnen zum Einsatz kamen. Dabei wur- neres (BM.I) ausgestattet, die offensichtlich für viele
den 28 BesucherInnen-Gruppen mit insgesamt 218 eine große Orientierungshilfe darstellte und während
Personen beobachtet. des gesamten Rundgangs häufig herangezogen wur-
de. Generell war auffallend, dass die BM.I-Broschüre
Fazit der Beobachtung wesentlich intensiver genutzt wurde als Informations-
Die BesucherInnen-Gruppen, die zur KZ-Gedenk- tafeln oder -stelen. Diese wurden überwiegend nur im
stätte Mauthausen kommen, sind hinsichtlich Grup- Vorbeigehen mit einem Blick gestreift oder gänzlich
pengröße, Altersverteilung, Sprache bzw. Sprachkennt- ignoriert – BesucherInnen können offenbar am meis-
nissen und Zeitbudget sehr unterschiedlich. Genauso ten mit Orientierungshilfen bzw. Informationsmaterial
heterogen wie die Gruppen ist deren Herangehens- anfangen, wenn sie dieses in der Hand haben.

45
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

Ein großes Bedürfnis nach Mehrsprachigkeit war sönliches enthielten (z. B. Gedenktafeln mit Fotos) – An-
feststellbar. Sobald nicht-deutschsprachige Gruppen gebote, die einzelne KZ-Häftlinge aus der anonymen
erkannten, dass etwas in ihrer eigenen Sprache an- Masse hervorheben, wurden sehr häufig eingehend
geschrieben war, gingen sie hin, um es zu lesen oder betrachtet. Auch war die dem persönlichen Gedenken
zumindest einen Blick darauf zu werfen. Weiters war gewidmete Rückseite des italienischen Denkmals die
klar feststellbar, dass Gruppen von allem, was mit ihrer am stärksten frequentierte Station im Denkmalbezirk.
eigenen Nationalität zusammenhängt, am stärksten Je länger sich Gruppen an der Gedenkstätte auf-
angezogen wurden; dem „eigenen“ Denkmal im Denk- hielten, desto mehr war das Bedürfnis nach Pausen be-
malbezirk widmeten sie nahezu immer am meisten obachtbar.2 Der Weg zum Steinbruch war für manche
Zeit. Es ist davon auszugehen, dass dies auch für die Gruppen nicht leicht zu finden – hier wäre ein (mehr-
ethnische oder religiöse Zugehörigkeit gilt (z. B. Zeu- sprachiger) Wegweiser hilfreich gewesen. Die ehema-
gInnen Jehovas) – mittels Beobachtung können diese ligen Lager I und III sowie das „Russenlager“ wurden nur
Faktoren jedoch nicht eindeutig erhoben werden, da von sehr wenigen Gruppen wahrgenommen – innerhalb
sie sich meist nicht nach außen zeigen. des ehemaligen Schutzhaftlagers gab es eine starke Kon-
Besonders interessant für die Gruppen bzw. deren zentration auf den Appellplatz bzw. die Gebäude(teile)
Mitglieder wirkten außerdem jene Gedenkorte, die Per- links und rechts davon. Das ehemalige Lager II ist seit

B E S U C H T E S TAT I O N E N

46
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

Jahren nur im Eingangsbereich begehbar, diese Bereiche im historischen Teil der Gedenkstätte aufhalten. Für
wurden von vielen BesucherInnen quasi im Vorbeigehen die RadfahrerInnen, die an die Gedenkstätte kamen,
mitgenommen. Die Lagerstraße (zwischen deutschem stellte sich in den meisten Fällen die Frage, ob bzw. wo
Denkmal und Besucherzentrum) wurde generell nur sie ihr Gepäck unterbringen konnten, doch gibt es im
wenig genutzt, das heißt am ehemaligen „Russenlager“ Besucherzentrum bisher keine unkomplizierte Verstau-
kamen zwei Drittel der Gruppen gar nicht vorbei. ungsmöglichkeit (z. B. Schließfächer) – auch hier kann
Nahezu zwei Drittel der Gruppen besuchten die Verbesserungspotenzial festgestellt werden.
Gedenkstätte mit Kindern und/oder Jugendlichen, dar- Die hier vorgestellten Ergebnisse und Schlussfol-
unter war ein großer Teil unter 14 Jahre alt. Aus gedenk- gerungen aus der in Mauthausen erstmals durchge-
stättenpädagogischer Sicht ist jedoch ein Gedenkstät- führten strukturierten Beobachtung werden einerseits
tenbesuch in so jungem Alter nicht empfehlenswert durch die nachfolgend präsentierten Ergebnisse der
bzw. nur unter besonderen Bedingungen – hier wäre Längsschnittstudie untermauert, zeigen andererseits
es sinnvoll, wenn es für Kinder beispielsweise im Be- aber auch sehr deutlich, dass hier wertvolle und ergän-
sucherzentrum einen eigenen Raum bzw. ein eigenes zende Daten gewonnen werden konnten, welche bei
Programm gäbe, mit dem sie sich beschäftigen können, einer retrospektiven und verbalisierten Erhebungsme-
während sich die Eltern oder die Erwachsenengruppe thode niemals in Erfahrung gebracht worden wären.

BEISPIELE FÜR RUNDGÄNGE DER BESUCHERiNNEN-GRUPPEN


A N E I N E M H A L B TA G I M A U G U S T 2 0 1 0

47
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

Längsschnittstudie 2010 denken“ lässt sich nicht nur schwerer messen, sondern
es wird auch um ein Vielfaches komplizierter sein, hier
Grundsätzliches die adäquaten Angebote seitens der Gedenkstätte zu
Um ein typisches BesucherInnen-Jahr zu erfor- bieten. Wichtig ist, jeden Ort und jedes Angebot im
schen, wurde zwischen Anfang Februar und Ende Zuge der Neugestaltung auch auf den Gedenkaspekt
August 2010 eine Umfrage durchgeführt.3 Insgesamt hin zu durchleuchten.
nahmen 2 846 BesucherInnen der KZ-Gedenkstätte Im Folgenden werden die herausragenden und sta-
daran teil. Die Stichprobe wurde so über die Monate tistisch signifikanten Ergebnisse der Längsschnittana-
verteilt, wie sich die BesucherInnen auf die unter- lyse interpretierend dargestellt.
suchten Monate verteilen, die Fragebögen lagen wie
bei der Querschnittstudie wieder in Deutsch, Englisch BesucherInnen-Struktur und Motivlage
und Italienisch auf. Die rund 200 000 BesucherInnen, die jedes Jahr
Die Datenmenge, die im Zuge der Längsschnittstudie nach Mauthausen kommen, können nur als ausge-
erhoben wurde, liefert ein ausgesprochen umfassendes sprochen heterogene Menge mit sehr vielschichtigen
Bild der BesucherInnen, ihrer Bedürfnisse, Motivationen Motivlagen gesehen werden. Trotz der Einschränkung,
und Wahrnehmungen. Neben den üblichen Teilauswer- die sich durch die Fragebögen in „nur“ drei Sprachen
tungen nach soziodemografischen Parametern (z. B. ergibt, kommen die befragten Personen aus insgesamt
Einfluss der Variablen Alter oder Geschlecht) wurden die 27 Ländern und sprechen 47 verschiedene Mutterspra-
Daten auch nach inhaltlichen Kriterien analysiert (z. B. chen. Hätten wir die Fragebögen in zusätzlichen Spra-
Grad der Vorbereitung, Gedenkstättenbesuch mit/ohne chen zur Verfügung stellen können, wäre diese Zahl an
Guide etc.) und die Ergebnisse gegenübergestellt. Dar- Ländern und Sprachen noch um einiges höher – bei
über hinaus konnten elf Besuchsprofile der „typischen“ der parallel laufenden strukturierten Beobachtung wur-
Mauthausen-BesucherInnen erarbeitet werden (z. B. ty- den etwa zahlreiche Gruppen aus Tschechien, Polen,
pische 14-jährige österreichische Schülerin mit Migrati- Ungarn, Frankreich oder Belgien notiert. Diese Vielzahl
onshintergrund, typischer deutscher Radtourist etc.). an Herkunftsländern und Sprachen zeigt einerseits die
Aus der Vielzahl dieser erhobenen Daten, Teilaus- enorme internationale Relevanz der KZ-Gedenkstätte
wertungen und Eindrücke, die aus der Feldphase der Mauthausen, legt andererseits aber auch nahe, dass
Befragung erwachsen sind, werden an dieser Stelle diesen BesucherInnen zumindest Basisangebote in
Schlussfolgerungen und Interpretationen präsentiert. möglichst vielen Sprachen zu machen sind.
Die Motive für den Besuch der KZ-Gedenkstätte
Resümee der Längsschnittstudie können zu einem großen Teil als „Wissensmotive“
Vorweg sei angemerkt, dass die BesucherInnen der beschrieben werden, zumal rund die Hälfte der Be-
KZ-Gedenkstätte Mauthausen diese sowohl als Lern-, sucherInnen einräumt, über das KZ Mauthausen nur
als auch als Gedenkort betrachten. Das bedeutet, dass sehr wenig bis gar nichts zu wissen. Dieses Bedürfnis
alle Ergebnisse nicht ausschließlich unter dem Gesichts- nach Wissensvermehrung sowie pädagogische und
punkt ihrer pädagogischen Relevanz gesehen werden politische Motive stehen weit vor emotionalen Mo-
können, sondern dass der Gedenkaspekt immer mitge- tiven für den Besuch der Gedenkstätte.
dacht werden muss. Doch das damit verbundene Pro- Weiters kann ausgemacht werden, dass der Großteil
blem ist, dass Gedenken noch sehr viel heterogener, der BesucherInnen mit einem relativ fixen Bild eines
vielschichtiger und komplexer eingeschätzt werden Konzentrationslagers oder einer KZ-Gedenkstätte nach
muss als Wissensvermittlung. Das Bedürfnis nach „Ge- Mauthausen kommt – hier dominieren (auch statistisch

48
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

signifikant zusammengehörig) die fünf Begriffspaare4 zwölf als wichtig erachtete Begriffe (wiederum statis-
„Denkmäler und Friedhof“, „Gaskammer und Kremato- tisch signifikant zusammengehörig): „Baracken und
rium“, „Baracken und Krematorium“, „Klagemauer und Duschen“, „Denkmäler und Friedhof“, „Friedhof und
Krematorium“ sowie „Steinbruch und Klagemauer“. Die Duschen“, „Krematorium und Baracken“, „Krematorium
vorher nicht erwartete Nennung des Steinbruchs deu- und Duschen“, „Gaskammer und Krematorium“, „Fried-
tet auf eine Erwartungshaltung hin. Überraschend ist hof und Klagemauer“, „Gaskammer und Klagemauer“,
auch die Nennung des Begriffspaars „Denkmäler und „Krematorium und Klagemauer“, „Steinbruch und Kla-
Friedhof“ – offensichtlich ist der Gedenkaspekt auch in gemauer“, „Steinbruch und Krematorium“ sowie „Stein-
diesem Bild fest verankert. bruch und Gaskammer“.
Diese neuen Begriffspaare weisen auf einen Wis-
Besuch der KZ-Gedenkstätte: „Wirkung“ und senszuwachs hin – nach dem Gedenkstättenbesuch
Verweildauer wird ein differenzierteres Bild eines Konzentrationsla-
Dieses vorgefertigte – und im Vorfeld eher er- gers vorgefunden als vorher. Weiters rücken aber auch
wartbare – Bild ändert sich durch den Gedenkstät- Begriffspaare in den Fokus der BesucherInnen, die
tenbesuch sehr eindrücklich, denn es wird deutlich neben dem Gedenkaspekt vor allem die Entmensch-
ausdifferenzierter, vielschichtiger und komplexer. Aus lichung der Häftlinge thematisieren, vor allem die
ursprünglich fünf Begriffspaaren werden plötzlich Ankunftssituation im Lager. Auffallend ist auch, dass

Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

49
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

der Steinbruch plötzlich unter die Vernichtungsorte sind, ist evident. Nochmals sei hier der Gedenkaspekt
Mauthausens eingereiht wird – ein klares Indiz für ei- angesprochen, der in unerwartet hohen Werten in der
nen Bedeutungswandel, der der historischen Rolle des Zuschreibung von Wichtigkeit für den Denkmalbezirk
Steinbruchs gerecht wird. seinen Ausdruck findet, und der bei ausländischen Be-
Natürlich muss hier das Moment der sozialen Er- sucherInnen auch sehr viel stärker ausgeprägt ist als
wünschtheit ins Kalkül gezogen werden: Die Besu- bei österreichischen BesucherInnen.5
cherInnen gehen davon aus, dass von ihnen erwartet Als abschließende – und vielleicht ernüchternde
wird, nach dem Besuch „alles“ wichtig zu finden. Noch – Bemerkung zu den Veränderungen durch den Be-
stärker in der Auswirkung als der Effekt der sozialen such der KZ-Gedenkstätte sei festgestellt: Die Wahl der
Erwünschtheit ist das Moment der emotionalen Er- Begleitung, also ob mit Guide, Audioguide, Broschüre
schütterung. Die Änderungen in der Einschätzung oder ganz ohne Information, hat keinen messbaren
der Relevanz der Orte und der damit verbundenen und statistisch signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse,
Geschichte sind zu einem großen Teil auf emotionale die mit dem Besuch zusammenhängen. Es gibt Orte an
Faktoren zurückzuführen und erst in zweiter Linie auf der KZ-Gedenkstätte, die sich den BesucherInnen bei
Wissenszuwachs. Die „spürbare Authentizität“ der Orte entsprechender Vorbereitung offenbar von selbst er-
(„mit eigenen Augen gesehen“, „Atmosphäre gefühlt“), schließen und Veränderungen bewirken – ob dies nun
die Betroffenheit, die empathisch wahrgenommene im Bereich Wissen oder im Bereich der Emotion statt-
Nähe zu den Opfern und auch die Inbezugsetzung zu findet, sei dahingestellt –; andere Orte und Bereiche
sich selbst verändern mehr, als bloße Wissensvermitt- verlangen auf jeden Fall zusätzliche Informationen. So
lung dies jemals leisten kann. lassen sich zum Beispiel die Baracken oder der Denk-
Wie bereits angemerkt, sind die emotionalen Fak- malbezirk leichter „lesen“ als etwa der Steinbruch, der
toren noch viel heterogener und schwerer messbar als aufgrund seiner Lage und des Pflanzenbewuchses oft
kognitive Bereiche – es gibt jedenfalls eine deutliche nur schwer in die Geschichte einzuordnen ist. Zeit,
Kluft zwischen den Motiven für den Besuch (vorwie- diese Orte selbst für sich zu entdecken und zu erschlie-
gend Wissensmotive) und der tatsächlichen Erfahrung ßen, hat oft größeren Einfluss als jede Information auf
vor Ort (Emotion) zu konstatieren. Dies mag auch nach Faktenbasis.
sich ziehen, dass der Anteil der BesucherInnen, die sich In Bezug auf die Verweildauer der BesucherInnen
selbst Themen erarbeiten wollen, unerwartet hoch ist: wurden die Daten nach allen denkbaren Zeitmodel-
Erst in selbstbestimmten Abläufen und im selbst len untersucht – die Unterschiede, ob sich jemand
steuerbaren Erschließen der Gedenkstätte kann auch zum Beispiel 90 Minuten, 120 Minuten oder länger an
zwischen Wissen und Emotion „gependelt“ und die der Gedenkstätte aufhält, waren kaum messbar. Es ist
Kluft zwischen Erwartungen und Erfahrung konstruk- natürlich nicht grundsätzlich egal, wie viel Zeit sich
tiv überbrückt werden. Wichtig ist – und auch hierfür ein/eine BesucherIn für die Beschäftigung mit dem
sprechen die Ergebnisse aus der strukturierten Beob- Ort nimmt: Die strukturierte Beobachtung zeigte hier
achtung –, dass es dafür Ruhe- und Rastplätze gibt. sehr deutlich, dass KurzbesucherInnen oft nur die Orte
Diese Plätze sind viel weniger in ihrer offensichtlichen besuchen, die den weit verbreiteten und reduzierten
Variante für die körperliche Erholung nötig, sondern Bildern von KZ-Gedenkstätten entsprechen, also Kre-
vielmehr für das Ordnen und Sortieren der Emotionen matorium, Gaskammer und eine Baracke. Eine Grenze
und Gedanken. Dass hierfür Plätze wie die „Kapelle“ der kognitiven und emotionalen Aufnahmefähigkeit
oder der „Meditationsraum“ im Besucherzentrum nicht dürfte jedoch bei rund zwei Stunden liegen, ab dann
ausreichen und zudem an den falschen Stellen gelegen verändern sich die Ergebnisse nicht mehr; umso wich-

50
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

tiger werden die oben angesprochenen Ruhe- und Orte vor dem Besuch gleicht sich durch den Besuch
Rückzugsplätze. Für BesucherInnen, die deutlich länger deutlich an, hier kann also für die Jugendlichen durch-
als zwei Stunden an der Gedenkstätte bleiben wollen, aus von einer positiven Veränderung oder von einem
gibt es auch sehr wenige Angebote, diese Mehrzeit Lerneffekt gesprochen werden.6 Da es für Erwachsene
konstruktiv zu nutzen – daher überrascht auch das kaum Möglichkeiten einer geführten Begleitung gibt,
deutlich größere Bedürfnis dieser Gruppe nicht weiter, stehen hier selbstorganisierte Vermittlungstechniken
im eigenen Erschließen der Topografie und Geschichte wie Broschüre oder Audioguide im Vordergrund. Auf-
sowie dem eigenen Erarbeiten in einem Archiv und ei- fallend ist, dass sich sehr viele Erwachsene eine geführ-
ner Bibliothek selbst aktiv zu werden. te Begleitung wünschen würden oder diese als beste
Variante der Vermittlung sehen – hier sollten auf jeden
BesucherInnen-Segmentierung Fall Angebote auch für Erwachsene in Kleingruppen
Das Geschlecht der BesucherInnen hat den ge- oder EinzelbesucherInnen geschaffen werden. Dafür
ringsten messbaren Einfluss auf Vorwissen, Motivlage spricht auch, dass erwachsene BesucherInnen eher
und Wahrnehmung. Außer in den Bereichen, die als nochmals an die Gedenkstätte kommen, den Besuch
„eher emotional“ oder „empathisch“ bezeichnet wer- weiterempfehlen und sich zusätzliche Informationen
den könnten und in denen Frauen/Mädchen höhere aus dem Buchshop besorgen wollen – einerseits ein
Werte haben als Männer/Burschen, unterscheiden sich Indiz dafür, dass sie sich mehr Information gewünscht
die Ergebnisse kaum. hätten, andererseits auch eine Chance, diese Zielgrup-
Umso wichtiger kann in diesem Zusammenhang pe stärker zu binden und mit entsprechenden Ange-
das Angebot einer geschlechtersensiblen Vermittlung boten zu bedienen.
werden, da viele Forschungsergebnisse in diesen und Jugendliche scheinen eher abgeschreckt zu sein –
ähnlichen Themenbereichen sehr wohl von unter- wohl auch ein Indiz für die emotionale Erschütterung.
schiedlichen Wahrnehmungen sprechen. Der Gleich- Genau hier kann und soll – mit einer entsprechenden
klang der Ergebnisse kann daher auf die lange Zeit Pause dazwischen – eine fundierte Nachbereitung des
nicht vorhandene und erst vor kurzem begonnene ge- Besuchs ansetzen. Jugendliche mit der bleibenden
schlechtersensible Vermittlung zurückgeführt werden Erinnerung an ihre eigene emotionale Erschütterung
– geschlechterneutrale Vermittlung bringt auch nur „wieder zurück ins Leben“ zu entlassen, ohne ihnen
geschlechterneutrale Ergebnisse zu Tage. eine positive Perspektive mitzugeben, kann und darf
Das Alter der Besuchenden ist hingegen eine re- nicht Sinn des Mauthausenbesuchs sein.
lativ einflussreiche Variable für Motive und Wahrneh- Die Saisonen (folgendermaßen definiert: Februar
mungen. Erwachsene haben eine klarere Motivlage als und März = Winter; April, Mai, Juni = Frühling; Juli, Au-
Jugendliche, die – auch aufgrund der überwiegend gust = Sommer) bilden exakt die Zeiten unterschied-
wenig selbstbestimmten Art ihres Mauthausenbesuchs licher BesucherInnen-Frequenz ab – der Frühling kann
(Schule, Familie) – eher eine diffuse Motivlage aufwei- eindeutig als Hauptsaison mit sehr vielen Gruppenbe-
sen, bis hin zu offen zugegebenem Desinteresse. In- suchen gesehen werden. Umso überraschender ist,
teressant ist, dass sowohl die Hälfte der Erwachsenen, dass es zwischen den Saisonen kaum Unterschiede in
als auch der Jugendlichen mit wenig Vorwissen nach den Ergebnissen gibt. Hervorstechend ist jedoch, dass
Mauthausen kommt, Erwachsene aber viel stärker ver- in der Hauptsaison weniger auf- und wahrgenommen
suchen, sich vor dem Besuch etwa über die Website wird7, hier konterkariert der hohe BesucherInnen-An-
der Gedenkstätte Informationen zu beschaffen. Die drang sehr deutlich die Wissensbeschaffung und die
unterschiedliche Einschätzung der Wichtigkeit der emotionale Auseinandersetzung.

51
Die Mauthausen-BesucherInnen-Studie im Zuge der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte

Weiters fällt die klarere Motivlage im Sommer auf loser (zwei Drittel der IndividualbesucherInnen laut
– dies ist darauf zurückzuführen, dass in diesen Mona- Umfrage, aber auch laut der Beobachtung9) und wollen
ten wenige Gruppen und mehr selbstbestimmte Besu- sich eher noch Zusatzinformationen aus dem Buchshop
cherInnen kommen. Auch dürfte im Sommer der An- besorgen – ebenfalls ein Indiz für ein deutliches Verbes-
teil der BesucherInnen (viele RadfahrerInnen), die sich serungspotenzial für diese Zielgruppe.
auf den Besuch kaum vorbereitet haben, selten eine Die bezüglich Motivlage feststellbaren Unter-
geführte Begleitung in Anspruch nehmen und sich schiede zwischen Erst- und FolgebesucherInnen nivel-
daher verstärkt mit Broschüren und ähnlichem behel- lieren sich bei den anderen Daten durch den Besuch
fen müssen, sehr viel höher sein. Gerade diese Chance, sehr deutlich. Bei FolgebesucherInnen ist hingegen
sich in einer frequenzschwachen Zeit mehr um we- kaum eine Veränderung durch den Besuch messbar,
nig vorbereitete, aber interessierte BesucherInnen zu das bereits beim ersten Mal erworbene Wissen kann
kümmern, sollte in Zukunft verstärkt wahrgenommen durch einen Folgebesuch kaum vertieft werden. Den-
werden. Die strukturierte Beobachtung zeigt, dass sich noch neigen FolgebesucherInnen dazu, nochmals
diese BesucherInnen oft verhältnismäßig viel Zeit für nach Mauthausen zu kommen – offensichtlich mit
die Gedenkstätte nehmen, die sie aber – mangels An- dem Bedürfnis, ihre bisherigen Eindrücke weiter zu
geboten – ausschließlich mit eigenem Handeln füllen bearbeiten und zu vertiefen. Hier sind adäquate An-
können. gebote für diese Zielgruppe unerlässlich. Beinahe die
BesucherInnen ohne Guide kommen offensichtlich Hälfte der befragten ErstbesucherInnen gab hingegen
besser vorbereitet nach Mauthausen8, was sich in der unmittelbar nach dem Gedenkstättenbesuch an, nicht
Einschätzung der Wichtigkeit der Orte sehr deutlich mehr wiederkommen zu wollen.
ablesen lässt. Diese vorher unterschiedlichen Werte
gleichen sich durch den Besuch der Gedenkstätte an- Ausblick
einander an, was zwei Schlussfolgerungen zulässt:
1. In den geführten Begleitungen sollte die Bedeutung Die hier kommentierten Hauptergebnisse zeigen im
mancher Orte besser erarbeitet und die Geschichte Hinblick auf die Neugestaltung zweierlei sehr deutlich:
mehr mit den Orten verknüpft werden. Wäre dies be- Eine starke Zielgruppensegmentierung in Bezug auf
reits der Fall, würden die BesucherInnen mit Guide Alter, Zeitbudget, Sprachen, Geschlecht und andere
auf jeden Fall differenziertere Wichtigkeiten zuschrei- Faktoren erscheint unerlässlich in allen Bereichen der
ben als BesucherInnen ohne Guide. Neugestaltung, Vermittlung und Konzeption neuer An-
2. Offenbar wirken manche Orte in ihrer Bedeutung gebote. Die teilweise homogenen Ergebnisse entspre-
auch ohne Guide, denn sonst wären die Werte der chen nicht der heterogenen BesucherInnen-Struktur,
BesucherInnen ohne Guide niedriger als derjenigen sondern sind vielmehr das Ergebnis eines wenig seg-
mit Guide. mentierten Angebots. Durchgehend ähnlicher Input
BesucherInnen, die mit einem Guide durch die Gedenk- erzeugt auch bei heterogenen RezipientInnengruppen
stätte gegangen sind, haben ein höheres Bedürfnis, durchgehend ähnliche Ergebnisse.
eigenständig Themen zu be- und erarbeiten, als jene Die Doppelfunktionalität der Gedenkstätte als Lern-
ohne Guide. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass ers- und Gedenkort darf in keiner Phase der Neukonzep-
tens mit Guide Interessen geweckt werden, die es sonst tion außer Acht gelassen werden – im Gegenteil: Die
nicht geben würde, und zweitens die Angebote der Angebote, auch abseits der etablierten Gedenkplätze
eigenständigen Erarbeitung für BesucherInnen ohne in Mauthausen Raum für individuelles und selbstbe-
Guide fehlen. Diese sind auch deutlich orientierungs- stimmtes Gedenken zu bieten, sollten sogar ausge-

52
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | FORSCHUNG

baut werden. Gedenken, so abstrakt und schwierig es 1 Eine detailliertere Beschreibung und Ergebnispräsentation der Auto-
rInnen zu dieser Studie findet sich in: Bundesministerium für Inneres
in seiner Messbarkeit in empirischen Studien auch sein
(Hg.): KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2009.
mag, ist eine wichtige emotionale Sphäre. Aber nur im
Forschung, Dokumentation, Information (Wien 2010), S. 107-110.
Zusammenspiel zwischen dieser emotionalen und der 2 Im ehemaligen Schutzhaftlager wurde häufig der Platz zwischen
kognitiven Sphäre wird die Gedenkstätte ihrem umfas- Arrestgebäude und Küchenbaracke bzw. die niedrige Mauer für eine
senden Anspruch auch gerecht werden können. kurze Rast genutzt (vor allem nach dem Aufenthalt im Krematori-

Um gegebenenfalls im Konzept der Neugestaltung umsbereich). Gruppen, die nach der Besichtigung des ehemaligen
Schutzhaftlagers in den Steinbruch gingen, legten meist beim Stabs-
auch Modifikationen einbringen zu können, werden
gebäude oder auf der Wiese bei einem Denkmal eine Pause ein. Vor
die einzelnen Schritte einer ständigen Evaluierung dem Ab- oder nach dem Aufstieg der Todesstiege wurde die niedrige
unterzogen werden müssen. Auch dabei ist es ratsam, Mauer bei der dortigen Gedenktafel gerne für eine kurze Rast ge-
mehrere und thematisch gestreute Datenerhebungen nutzt.

im bewährten Methodenmix zu gestalten bzw. die 3 Die Monate September und Oktober konnten deshalb ausgeblendet
werden, weil die BesucherInnenstruktur und -frequenz sehr ähnlich
dafür notwendigen Methoden mit sozialwissenschaft-
den Frühjahrsmonaten ist; der November wurde bereits in der Quer-
licher Sachkenntnis zu entwickeln. So beweist etwa der
schnittstudie analysiert und Dezember und Jänner sind wiederum
erfolgreiche Einsatz der strukturierten Beobachtung, mit dem Februar gleichzusetzen.
dass sich einige relevante Parameter eines Gedenk- 4 Es wurde hier nicht explizit nach Begriffspaaren gefragt, sondern die
stättenbesuchs nicht verschriftlichen oder sonstwie zugeschriebene Wichtigkeit von ausgewählten Orten vor und nach

verbalisieren lassen. Die unabdingbare umfassende dem Gedenkstättenbesuch stand im Fokus dieses Fragenblocks. Die
Begriffspaare sind das Ergebnis einer umfassenden Korrelationsana-
BesucherInnen-Evaluierung, sei es nun im Zuge der
lyse, d. h. hier bestehen statistisch signifikante Zusammenhänge zwi-
Neugestaltung oder im Zuge einer ständigen Be- schen einzelnen Orten der Gedenkstätte. Bezeichnet eine Person zum
gleitung der Programmentwicklung, muss auch auf- Beispiel die „Denkmäler“ als wichtig, dann wird sie mit sehr hoher
schlussreiche Daten über alle sozialen Sachverhalte statistisch-signifikanter Wahrscheinlichkeit auch den „Friedhof“ als
geben können. wichtig erachten. Diese Auswertungen erbringen oftmals sehr auf-
schlussreiche Zusammenhänge, nach denen explizit kaum gefragt
Abschließend sei auf die verständliche Polarität
werden könnte.
zwischen den BesucherInnen-Bedürfnissen und den
5 55 Prozent der deutschsprachigen BesucherInnen und fast 70 Prozent
politischen und gedenkstättenpädagogischen Ansprü- der BesucherInnen aus dem Ausland definieren den Denkmalbezirk
chen verwiesen: vor ihrem Besuch als (sehr) wichtig. Dieser Wert gleicht sich durch
● Nicht alles, was BesucherInnen sehen wollen, muss den Besuch etwas an.

ihnen auch geboten werden. 6 Es ist evident, dass allein über den Vergleich der Zuschreibung von
Wichtigkeit vor und nach dem Gedenkstättenbesuch nicht aus-
● Nicht alles, was geboten wird, wird alle Besucher-
drückliche Lerneffekte behauptet werden können, es sind jedoch die
Innen gleich ansprechen und interessieren. n einzigen Daten der Studie, die derartige Schlüsse zulassen. Für eine
differenzierte Messung von Lerneffekten gibt es bessere Analyseme-
thoden als den Fragebogen – z. B. die im Frühjahr 2011 laufenden
Fokusgruppen.
7 Wir ziehen diese Schlussfolgerung aus den niedrigeren Verände-
rungen bei den Wichtigkeiten der Orte vor und nach dem Gedenk-
stättenbesuch, d. h. bei Sommer- und WinterbesucherInnen ändern
sich die Werte viel stärker.
8 Hier sind es vor allem Angebote aus dem Internet, die zur Vorberei-
tung genutzt werden.
9 Die Orientierung der Gruppen wurde anhand ihrer Zielstrebigkeit
bzw. ihres Suchens von Wegen erhoben.

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010

K APITEL 02

DOKUMENTATION
Gregor Holzinger/Andreas Kranebitter

Sowjetische Kriegsgefangene im
KZ Mauthausen und die Ereignisse der
„Mühlviertler Hasenjagd“.
Perspektiven der Forschung

Matthias Kaltenbrunner

Der Lebensweg eines „K-Häftlings“


– Viktor Nikolaevič Ukraincev

Dokumente
KAPITEL 02 | DOKUMENTATION
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

Gregor Holzinger/Andreas Kranebitter

Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen


und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“.
Perspektiven der Forschung

Sowjetische Kriegsgefangene in Von allem Anfang an waren „Arbeitsrussen“ aller-


deutschen Konzentrationslagern: dings nicht die einzige Gruppe sowjetischer Kriegsge-
„Arbeitsrussen“, „Ausgesonderte“ fangener, die in die Konzentrationslager eingewiesen
und sowjetische „Schutzhäftlinge“ wurde.6 Denn dem Charakter des Vernichtungskriegs
gegen die Sowjetunion entsprach auch die Vernich-
Spätestens im September 1941, knappe drei Mo- tung „gefährlicher“, das heißt vor allem kommunis-
nate nach dem Überfall deutscher Truppen auf die tischer und jüdischer Rotarmisten und vor allem
Sowjetunion am 22. Juni 1941, konkretisierten sich Offiziere („Kommissare“).7 Auch ins KZ Mauthausen
Himmlers Pläne, ein Kontingent von zumindest 100 000 wurden also von Anfang an Kriegsgefangene zur Exe-
sowjetischen Kriegsgefangenen, die sich in den Kriegs- kution überstellt, die von Kommissionen der Gestapo
gefangenenlagern der Wehrmacht befanden, für die in den Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht „aus-
Konzentrationslager der SS zu „reservieren“.1 Sie sollten gesondert“ worden waren.8 Die Grundlage dafür bil-
im Rahmen der SS-Siedlungspläne im Osten („Gene- deten die berüchtigten Einsatzbefehle Nr. 8 und Nr. 9,
ralplan Ost“) zum Arbeitseinsatz kommen, wobei sie die die Aussonderung großer Personengruppen als ge-
in den (erst zu errichtenden) Kriegsgefangenen-Ar- fährliche Elemente bestimmte und deren kategorielle
beitslagern Auschwitz und Lublin konzentriert werden Offenheit – in einer dem Nationalsozialismus typischen
sollten. Vermutlich aufgrund der Nicht-Fertigstellung
2
Weise – den Kommissionen breite Interpretationsspiel-
dieser Lager verteilte die SS das erste Kontingent aus räume ließ: „[A]lle bedeutenden Funktionäre des Staa-
den „Stammlagern“ der Wehrmacht auf sämtliche Kon- tes und der Partei, insbesondere Berufsrevolutionäre,
zentrationslager – und damit auch auf Mauthausen,
3
die Funktionäre der Komintern, alle maßgebenden
wo man anfangs mit der Ankunft von 21 000 Kriegs- Parteifunktionäre der KPdSU. und ihrer Nebenorganisa-
gefangenen rechnete. Tatsächlich kamen ungefähr
4
tionen in den Zentralkomitees, den Gau- und Gebiets-
4 0005 sowjetische Kriegsgefangene als sogenannte komitees, alle Volkskommissare und ihre Stellvertreter,
„Arbeitsrussen“ zwischen 20. und 24. Oktober 1941 in alle ehemaligen Polit-Kommissare in der Roten Armee,
Mauthausen und Gusen an. die leitenden Persönlichkeiten der Zentral- und Mittel-
instanzen bei den staatlichen Behörden, die führenden
Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens, die sowje-
tischen Intelligenzler, alle Juden, alle Personen, die als
Aufwiegler oder fanatische Kommunisten festgestellt
Bild links: Viktor Nikolaevič Ukraincev als kursant (Offiziersschüler), un-
werden“.9 Darüber hinaus kam es in den Konzentrati-
mittelbar bevor er an die Front versetzt wurde, 1941/1942 (© Privat-
archiv Ariadna Sergeevna Jurkova). Siehe Kapitel „Der Lebensweg eines onslagern ebenfalls zu Aussonderungen, so auch – laut
K-Häftlings – Viktor Nikolaevič Ukraincev “, Seite 67 ff. eidesstattlicher Erklärung des einstigen Adjutanten

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Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

lässt sich daher ebenso wie über den Grund der un-
terschiedlichen Registrierung immer noch nichts Ge-
naueres sagen, weshalb hier in Bezug auf das KZ Maut-
hausen die Arbeiten Hans Maršáleks weiterhin Stand
der Forschung sind.13
Die Deportation dieser drei Gruppen kann für jedes
Konzentrationslager nachgewiesen werden und ist kei-
neswegs spezifisch für Mauthausen. Auch der Umgang
mit diesen Gruppen sowjetischer Kriegsgefangener
durch die SS ähnelt sich in allen Konzentrationslagern.
Wie in Sachsenhausen, Groß-Rosen oder Auschwitz
setzte man auch in Mauthausen die „Arbeitsrussen“
kaum zum Arbeitseinsatz ein, sondern führte binnen
weniger Monate ihren Tod herbei – im Jänner 1943
lebten von mindestens 5 333 Kriegsgefangenen, die
1941 und 1942 nach Mauthausen gebracht worden
waren, nur mehr 467, also 8,8 Prozent.14 Der einzige Un-
terschied bestand hier in der zeitlichen Durchführung:
während es in den meisten KZ bereits zum Jahresbe-
ginn 1942 kaum noch Überlebende dieser Transporte
gab15, wurde die Mehrheit der Kriegsgefangenen in
Mauthausen erst im März 1942 zu Tode gebracht. Insge-
samt starben im KZ Mauthausen-Gusen im März 1942
Der Block 20 wurde 1967 abgetragen. Diese Aufnahme machte der zumindest 1 608 Personen. Die Anzahl der Todesfälle
Tscheche Miroslav Švec bei einem Besuch in der Gedenkstätte Anfang der
pro Tag zeigt hier zudem ein Muster, das auf verdeck-
1960er Jahre und schickte sie dem ehemaligen „K-Häftling“ Aleksandr
Manuilovič Micheenkov, den die Familie Švec bis zur Befreiung versteckt te Tötungsaktionen hindeutet und somit die Hinweise
gehalten hatte (© Privatarchiv Ljubov’ Masličenko). erhärtet, dass die ersten Probevergasungen in der zum
Jahreswechsel 1941/1942 errichteten Gaskammer des
KZ Mauthausen im März 1942 an sowjetischen Kriegs-
gefangenen durchgeführt wurden16 – denn der plötz-
Viktor Zoller – im KZ Mauthausen, wobei der Zeitpunkt liche Anstieg der Todesfälle Anfang März 1942 ist am 4.
der Aussonderungen durch eine Kommission des April 1942 ebenso abrupt beendet.17
Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) unklar bleibt.10
Bald nach diesen beiden Gruppen wurde eine – bis Das KZ Mauthausen als Sonderfall:
zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau anzugebende – „Reaktivierte“, Kriegsgefangene „lan-
große Zahl von Kriegsgefangenen direkt, sozusagen als deseigener Verbände“ und „K-Häftlinge“
„reguläre“ KZ-Häftlinge in die Schutzhaftlagerbereiche
der jeweiligen Konzentrationslager eingewiesen.11 Im Trotz aller Ähnlichkeiten und synchronen Entwick-
KZ Mauthausen wurden sie zeitweise als „Kriegsgefan- lungen mit anderen Konzentrationslagern nahm Maut-
gene“, zuweilen aber auch nur als „Schutzhäftlinge“ hausen dennoch von Anfang an eine Sonderstellung
oder gar als „Zivilarbeiter“ registriert12 – über ihre Zahl ein. Diese begann bereits damit, dass das improvisierte

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

Die Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener im Oktober 1941 wurde von der SS fotografisch festgehalten; spanischen Häftlingen ist es zu verdanken,
dass die Fotos vor der Befreiung des KZ Mauthausen vor der Zerstörung bewahrt wurden (© Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen).

und provisorische Kriegsgefangenen-Arbeitslager in weiteren Gruppe Kriegsgefangener einher: Himmler


Mauthausen bald baulich erweitert werden sollte, wäh- verfügte aufgrund des sich abzeichnenden Arbeitskräf-
rend es in anderen Konzentrationslagern – wie Dachau temangels bereits im November 1941, „daß von den in
– in provisorischem Status blieb. Bereits im November die Konzentrationslager zur Exekution überstellten
1941 entschied sich die SS mit der Zuteilung von 40 russischen Kriegsgefangenen (insbesondere Kommis-
Pferdestallbaracken dazu, den „Standort“ Mauthausen sare), die aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit
neben Auschwitz-Birkenau, Lublin und Buchenwald zur Arbeit in einem Steinbruch eingesetzt werden kön-
weiter für eine längerfristige Unterbringung sowje- nen, die Exekution aufgeschoben wird“.20 Die auf diese
tischer Kriegsgefangener zu nutzen.18 Der Grund dafür, Weise von der Exekution „Zurückgestellten“ bzw. zum
dass die SS mit Mauthausen andere Pläne hatte als mit Arbeitseinsatz „Reaktivierten“ wurden in großer (und
anderen KZ, ist unbekannt, dürfte allerdings sowohl auch in diesem Fall derzeit nicht feststellbarer) Zahl ins
mit der Einteilung in die Stufe III, als auch mit der Exis- KZ Mauthausen überstellt.
tenz des Steinbruchs zusammenhängen. 19
Eine weitere Gruppe von Kriegsgefangenen, die
Mit dieser Sonderrolle ging die Einweisung einer ebenfalls in großer Zahl nach Mauthausen gebracht

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Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

wurden, waren Angehörige sogenannter „landesei- umzäunung vom restlichen Lager räumlich getrennt,
gener Verbände“, also ehemalige Rotarmisten, die in um die „K-Häftlinge“ von den übrigen Lagerinsassen zu
Verbände der Wehrmacht eingezogen worden waren, separieren. Außerhalb der Mauer befanden sich zwei
aufgrund irgendeines disziplinären Vergehens aller- Wachtürme mit schwerbewaffnetem SS-Personal, die
dings wieder aus der Wehrmacht entlassen und in ein den Block rund um die Uhr bewachten.24
Konzentrationslager überstellt wurden. Zumindest „K-Häftlinge“ wurden nicht zur Arbeit eingesetzt,
5 104 Personen dieser Kategorie wurden ab Oktober sondern in ihrem Block vollkommen isoliert. Die Le-
1943 nach Mauthausen deportiert.21 bensbedingungen in Block 20 waren katastrophal: Die
Als letzte Gruppe von Kriegsgefangenen, die mit Insassen erhielten nur einen Bruchteil der für die Kon-
dem KZ Mauthausen untrennbar verbunden ist, sind zentrationslagerhäftlinge vorgesehenen und ohnehin
die sogenannten „K-Häftlinge“ anzuführen. Am 2. März schon unzureichenden Essensrationen und mussten auf
1944 erging durch das Oberkommando der Wehrmacht dem Holzfußboden der Baracke schlafen, Kranken wur-
eine geheime Anordnung, der zufolge mit Ausnahme de jegliche ärztliche Versorgung verwehrt.25 Zusätzlich
von britischen und US-amerikanischen Soldaten alle waren die Häftlinge den täglichen gewaltsamen Über-
bei einem Fluchtversuch ergriffenen nichtarbeitenden griffen durch die SS ausgesetzt, die dazu dienen sollten,
Unteroffiziere und Offiziere der sogenannten „Aktion K“ ihre Anzahl zu dezimieren. Obwohl die „K-Häftlinge“
zugeführt werden sollten. Diese Aktion, deren Zusatz laut Erlass erschossen werden sollten, starben unzähli-
„K“ für „Kugel“ stand, bedeutete, dass die flüchtigen ge an Hunger oder durch die Misshandlungen von SS
Kriegsgefangenen an die Sicherheitspolizei oder den und Funktionshäftlingen. Der Großteil der Häftlinge des
Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS zu übergeben Blocks 20 starb nach wenigen Wochen. Die SS legte zwar
waren, um von dort explizit in das Konzentrationslager – laut Hans Maršálek – eine täglich zu erfüllende Todes-
Mauthausen transportiert zu werden, wo sie exekutiert rate von zehn Häftlingen fest, tatsächlich starben jedoch
werden sollten. Opfer der „Aktion K“ wurden in erster vor allem in den Wintermonaten 1944/45 zwischen 20
Linie sowjetische Kriegsgefangene sowie (mehrheitlich und 30 Häftlinge pro Tag.26
sowjetische) Zivilarbeiter, die aus politischen Gründen
ermordet werden sollten.22 Der Ausbruch der „K-Häftlinge“
Die nach Mauthausen überstellten „K-Häftlinge“ und die Ereignisse der „Mühlviertler
wurden nicht namentlich erfasst und bekamen auch Hasenjagd“
keine „regulären“ Häftlingsnummern, weshalb sich ihre
genaue Zahl nicht eruieren lässt; verschiedenen Zeu- Zu Beginn der Jahres 1945 befanden sich in Block
genaussagen nach sollen jedoch zwischen Februar/ 20 vermutlich rund 600 Häftlinge, von denen bis auf
März 1944 und Februar 1945 zwischen 4 000 und 5 000 die Funktionshäftlinge sowie einige Jugoslawen, Hol-
„K-Häftlinge“ nach Mauthausen transportiert worden länder und Polen der Großteil aus Offizieren der Roten
sein, der Großteil davon waren Angehörige der Roten Armee bestand.27 Im Jänner 1945 waren im Rahmen
Armee. 23
des „Kugel-Erlasses“ 17 sowjetische Kriegsgefangene
Nach ihrer Ankunft im Konzentrationslager Maut- nach Mauthausen überstellt worden, die während des
hausen wurden Häftlinge der „Aktion K“, sofern sie nicht täglichen Aufenthaltes im Barackenhof – die Häftlinge
sofort exekutiert worden waren, in den Block 20 einge- durften tagsüber die Baracke nicht betreten – von
wiesen. Diese Baracke, die zuvor als Quarantänelager den Blockfunktionären und der SS unbemerkt die
genutzt worden war, wurde ab dem Frühjahr 1944 durch Flucht planten, die in der Nacht zum 29. Jänner 1945
eine Steinmauer mit elektrisch geladener Stacheldraht- stattfinden sollte.28 Am 26. Jänner, nur wenige Tage

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

„Ich habe drei Götter“


Der Überlebende Michail L’vovič Rybcinskij über seine Flucht
aus dem KZ Mauthausen und die Familie Langthaler

Ich bin auf die Schulter von diesem Armeni- riss das runter und zog auch die Hose an – ich
er da gestiegen, das hab ich schon erwähnt. […] wusste ja nicht, dass sie auf dem Hinterteil Löcher
Er war größer als ich. Ja. Ich bin hinunter, unten hatte, das hab ich erst nachher gesehen. Und wir
aufgeschlagen, hab mir gedacht: Hab ich noch sind weitergelaufen, solange es ging. Dann ver-
Knochen oder nicht? [Lacht.] Und dann, nach so steckten wir uns im Städtchen Schwertberg, in
fünfzehn Metern vielleicht, vielleicht auch zwan- einem Haus – einem Stall. Da war ein großer Kuh-
zig, war wieder Stacheldraht, zwei Reihen, in der stall, viele Kühe, ein großer Heuboden und so wei/.
Mitte war auch Draht – ohne Strom. – Und wir sind Na, wir sind hinein – wir hätten nirgendwo anders
raus – alle. In Zweiergruppen haben wir uns unter- mehr hinkönnen. Und dort haben wir uns also ver-
wegs geteilt. Es war nicht so, dass ich mit Nikolaj krochen, weit von der Dings. Na, wir versteckten
geflohen wäre – ja? Unterwegs. Ja. Und wir muss- uns da und so, ruhten uns aus, plötzlich wird’s laut
ten durch […] Speicher durch, na, die Lagerhäuser im Hof, so ein Lärm – es war schon dunkel, schon
dort. Und da sitzt, so wie ich jetzt sitze, ein Posten, sehr dunkel – und laut war’s. Dann wurde es still.
hält dieses deutsche Gewehr, dieses hohe. Nikolaj Wir mussten abhauen. Aber wie? Die Leiter war
wollte noch/. Ich sag: „Rühr das Gewehr nicht an. weg. Nikolaj war der Kräftigere, er sprang runter,
Du weckst ihn auf.“ Und wir sind an ihm vorbei, holte die Leiter, wir sind weg.
sind weitergegangen. Da war irgendein, na, Ge- […] Na, wir sind weiter und kamen schließlich
bäude, ich wusste nicht, was das war. Wie ich hin- in einen Ort, einen großen. Haben uns umgesehen
ein bin, hab ich festgestellt: ein Kindergarten. […]. Dann gingen wir, also, durch den Wald […]
Es war alles offen, sie haben überhaupt nichts und sind auf dieses kleine Häuschen gestoßen, das
abgesperrt, da musste man nichts aufbrechen. war unsere letzte Chance. […] Wir haben den Heu-
Also auf dem Fensterbrett stand ein Konservenglas schober gesucht, aber nichts gefunden. Da war
mit Milch, halbvoll – wir haben jeder ein Bisschen was für die Schweine, aber kein/. Und dann war da
was [lächelt] getrunken –, und zum Anziehen war also eine kleine Treppe, zum Dachboden hinauf.
was da. Das konnte man sich nicht nehmen – al- Ich bin diese Treppe hinauf: „Oh“, sag ich, „Niko-
les Kindersachen. Wir sind weiter. Vorbei an zwei laj, da ist massenhaft Heu“, und so weiter. – „Zieh
Häusern, da war ein zweigeschossiges Haus, so ein dich hoch.“ Ich konnte mich nicht hochziehen. Er
großer Balkon, und auf dem Balkon war Arbeits- [betont] stieg rauf, zog sich hoch – na, beschimpft
kleidung zum Trocknen aufgehängt. Und eine hat er mich –, ja, reichte mir die Hand und ich bin
Stange war da, ein Stock, mit dem man hinlangen also dorthinein. Na, wir sind hinein, haben uns
konnte. Ich nahm eine Jacke herunter, eine Hose verkrochen, weit hinten – bei der Tür, hat sich he-
für Nikolaj […] und eine für mich. Dann rannten rausgestellt, die zum Haus führt. Na, da saßen wir
wir weg. Wir mussten ja die Sträflingssachen los- eine Zeitlang – aber wir mussten ja was essen. Es
werden. Beim Anziehen haben wir gemerkt, dass hat sich herausgestellt, dass da Hühner Eier legen.
ich eine Damenjacke hatte, [lacht] mit roten/. Ich [Lacht.] […] Und dort lagen […] fünf Stück

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Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

Eier […]. Ich sag: „Nikolaj, alle müssen wir einer Razzia dabei. Und so weiter. Dann sagt sie zu
uns nicht nehmen.“ Und wir konnten auch nicht so ihm: „Verstecken.“ [Im Original deutsch.] Das Mes-
viel trinken, ausgemergelt wie wir waren. Wir tran- ser muss man verstecken, so hab ich das verstan-
ken jeder ein Ei und ließen die anderen, also/. Und den. Aber: nein. So wie Sie jetzt da sitzen, so hat er
liegen da. […] gestanden. Na, der Deutsche -- Sie haben so gere-
Ich – du siehst, ich kann ein bisschen Deutsch det, dann nehm ich den Schal ab und geb ihn ihm.
–, ich hab gut Deutsch gespr/, aber jetzt/. Ich sag: Er nimmt ihn. Ich mach das gerne – [lächelt] ich
„Ich steig hinunter. Wenn was schiefgeht, dann hab das ganze Leben allen gegeben. [Lacht.] Und
gehst du in der Nacht weiter.“ Ich bin runter, dann er nimmt ihn, nimmt ihn wirklich, ja. Sie sagt zu
im Schutz der Wand, klopfe an: [Klopft zweimal ihm: „Verstecken.“ [Im Original deutsch.] Er führt
leise.] Ich höre Geräusche dort, aber niemand mich nicht hinaus, sondern in den ersten Stock.
macht auf. Ich bin zur zweiten Tür. Hab an die […] Na, und so sind wir dort geblieben. Na, Ih-
zweite Tür/. So [Geste] war das Klo bei ihnen – im nen das zu erzählen -- Das muss man persönlich,
Freien – und so die Tür. Ich hab angeklopft, diese wie soll ich sagen, na, solche Dinge – ich selber
Oma macht mir auf – gepflegtes Aussehen und so denk da jetzt manchmal/. Ich sag ja, ich bin nicht
wei/, auf deutsche Art und so weiter. Und so wei- religiös, bin ja ein Sünder. Erstens bin ich Jude;
ter. Ich bin eingetreten, hab mich so [Geste] hin- meine Frau ist Ukrainerin; gerettet hat mich eine
gestellt – die Mütze [im Original deutsch] konnte Katholikin. [Lacht.] Also wenn man mich fragt: Ich
ich nicht abnehmen. Sie hat mich, also, dings. Ich habe drei Götter – ich weiß ja nicht, für welchen ich
sag: „Schlecht Mann/. [Im Original deutsch.] Ein sein soll. [Lächelt.] Ja, so ist das. Aber es gibt nur
schlechter Herr, hat mir nichts zu essen gegeben.“ einen Gott. [Lächelt.] Ja. Verstehen Sie, worum’s
[Lacht.] Verstehen Sie? Ja. Sie sagt: „Lüg nicht. Ich geht? Na, und was mir geholfen hat: Sie hat mich
weiß, wo du herkommst.“ Macht mir auf [...?], na irgendwie – angenommen. Verstehen Sie? Umso
... Und, dings, und im Radio tönt einer von „Stalin- mehr, als ich für die Landwirtschaft nützlich war.
Banditen“ und so weiter: „Wer sie versteckt, den
werden wir erschießen, wer sie einfängt, kriegt
200 Rubel“, und so weiter und so weiter. Und sie
ruft also die Tochter, Mizzi. /Mhm./ Die ist also
gekommen. Also, sie sagt: „Das ist [im Original
deutsch] ein ausgehungerter Mensch“, sagt sie,
gab mir irgendeine Milchsuppe, legte ein Brot hin
und ein Messer. Ich hab mich nicht getraut das zu
schneiden. Ob viel oder wenig – ich hätte das gan- Quelle: Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthau-
ze genommen, ich musste ja Nikolaj was/. Dann sen (AMM), Mauthausen Survivors Documenta-
kommt ein Bursche herein, mit Hut – na, ein ganz tion Project (MSDP), OH/ZP1/604, Interview mit
gewöhnlicher Bursche. Na, sie fragt ihn irgendwas, Michail L’vovič Rybčinskij, Interviewer: Kirill Vasi-
er sagt: „Mutter, du weißt, [im Original deutsch] du lenko, am 19.10.2002. Die Interpunktion wurde
weißt, sie sind nie alleine unterwegs.“ /Mhm./ Na, unbearbeitet von der originalen Transkription
ich denk mir, du warst wahrscheinlich schon bei übernommen.

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

vor dem geplanten Ausbruchstermin, wurde jedoch am Abend des 1. Februar die letzten Vorbereitungen
– vermutlich nach einem Verrat – nahezu der gesamte statt, im Zuge derer der Blockälteste getötet wurde.31
Führungs- und Organisationsstab des Unternehmens Da sich nach dem Abendappell keine SS mehr im Block
überraschend von der SS abgeführt und kurz darauf befand und die verbleibenden Funktionshäftlinge
exekutiert. 29
– drei Stubendienste – sich bereit erklärt hatten, sich
Offenbar erfuhr jedoch die SS keine Details über am Ausbruch zu beteiligen, konnten die Häftlinge die
den geplanten Ausbruch, denn die darauffolgenden letzten Vorbereitungen in der Baracke nun mehr oder
Tage brachten keinerlei Veränderungen für die Häft- weniger ungestört treffen. Der Plan, einen Tunnel von
linge des Blocks 20 mit sich. Daraufhin wurde ein neuer der Baracke aus zu graben, wurde jedoch mangels
Führungsstab für die Operation gebildet, der als neuen brauchbaren Werkzeugs und aufgrund des gefrorenen
Termin für die Flucht die Nacht zum 2. Februar 1945 Bodens rasch verworfen.32 Stattdessen wollte man mit
festlegte.30 Hilfe von Kohlen- und Seifenstücken sowie zwei Feu-
Nachdem die gesamte Blockbelegung in das Unter- erlöschern die Wachtürme außer Gefecht setzen und
nehmen und die Fluchttaktik eingeweiht worden war mittels feuchten Decken und Kleidungsstücken den
und man die einzelnen Aufgaben verteilt hatte, fanden elektrisch geladenen Stacheldraht kurzschließen.33

Besuch einer sowjetischen Delegation bei der Familie Langthaler, 1964. Maria Langthaler zeigt den Besuchern die Stelle, an der die sowjetischen
Kriegsgefangenen versteckt wurden (© Privatarchiv Anna Hackl).

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Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

Als der Ausbruch schließlich wie geplant in der Am 3. Februar, einen Tag nach dem Ausbruch, sandte
Nacht zum 2. Februar 1945 stattfand, mussten von den der Leiter der Kriminalpolizei Linz, Dr. Teichmann, ein
ca. 570 Häftlingen des Blocks 20 etwa 75 Schwerkranke Telegramm an das RSHA mit dem Inhalt, dass man be-
zurückbleiben.34 Um 0:50 Uhr stürmten die rund 500 reits über 300 der entflohenen Häftlinge wiederergrif-
Kriegsgefangenen die beiden Wachtürme und konn- fen hatte, „davon 57 lebend.“42 In Mauthausen selbst
ten diese trotz hoher Verluste relativ rasch erobern; wurden rund 100 der Geflohenen gefasst und meist
nachdem die beiden Wachposten getötet worden wa- sofort ermordet, während eine Gruppe von ca. 30
ren, konnten die Häftlinge wie geplant über die Mau- „K-Häftlingen“ in Ried in der Riedmark hinter der dor-
er klettern und den Stacheldraht überwinden. Nach tigen Schule erschossen wurde.43
einem weiteren Hindernis in Form eines Stacheldraht- In manchen Gebieten dauerte die Suche nach den
zauns teilten sich die 419 Kriegsgefangenen , die den
35
entflohenen „K-Häftlingen“ bis zu drei Wochen, der Ei-
Ausbruch bis zu diesem Zeitpunkt überlebt hatten, fer der Suchmannschaften führte sogar dazu, dass nahe
in Kleingruppen auf, von denen ein Teil in Richtung Schwertberg ein jugendlicher HJ-Führer versehentlich
tschechische Grenze zu flüchten versuchte.36 von der SS erschossen wurde.44 Von den 419 Häft-
Die SS-Kommandantur leitete unverzüglich eine lingen, denen die Flucht aus dem Konzentrationslager
Großfahndung ein und gab die Weisung, dass keiner der tatsächlich geglückt war, wurden nach Angaben der SS
wiederergriffenen Häftlinge lebend ins Lager zurückge- alle bis auf 17 oder 19 gefasst.45 Nach 1945 konnten
bracht werden dürfe.37 Viele Häftlinge hatten ohnehin – laut aktueller Recherche Matthias Kaltenbrunners
schon die erste Etappe der Flucht nicht überlebt, und – zumindest acht „K-Häftlinge“, die sich gerettet hatten,
diejenigen, die zu schwach gewesen waren, um die eruiert werden.46
Mauer zu überwinden oder nur einige Meter weit ka- Während drei oberösterreichische Bauernfamilien
men, wurden gemeinsam mit den Schwerkranken, die – Familie Langthaler aus Winden, Familie Mascherbau-
im Block 20 zurückbleiben mussten, noch in derselben er aus Doppl und Familie Wittberger aus Lanzenberg47
Nacht von der SS ermordet. 38
– das Risiko auf sich nahmen und mehrere Entflohene
An der Fahndung nahmen neben fast allen An- versteckt hielten, konnten sich andere bis zur Befrei-
gehörigen des SS-Kommandanturstabes und den ung in den Wäldern verbergen.
Gendarmeriebeamten aus den umliegenden Orten In der Nachkriegszeit wurden mehrere Volksge-
verschiedene Einheiten der Wehrmacht und SA-Abtei- richtsprozesse gegen die Täter der „Mühlviertler Ha-
lungen sowie Mitglieder der HJ und des Volkssturmes senjagd“ geführt, bei denen jedoch ein Großteil der
teil.39 Dieser Einsatz, der seinem Charakter nach eher Angeklagten mangels an Beweisen freigesprochen
einer Treibjagd denn einer Fahndung glich, erhielt von wurde, und diejenigen, die zu längeren Freiheitsstrafen
der SS den bezeichnenden Namen „Mühlviertler Ha- verurteilt worden waren, befanden sich bereits in den
senjagd“. In einer großangelegten Suchaktion durch-
40
frühen 1950er-Jahren wieder auf freiem Fuß.48
kämmten SS und bewaffnete Verbände das gesamte
Gebiet um Mauthausen und durchsuchten Bauernhöfe, Ausblick: Forschungsdesiderata und
Scheunen und Ställe sowie die angrenzenden Wälder; Forschungsprojekte
die gefassten Häftlinge wurden meist an Ort und Stelle
erschossen. In vielen Fällen fand die SS dabei Unter- Festzuhalten bleibt, dass sich unter dem Terminus
stützung durch hilfswillige Zivilisten, die sich teilweise „Kriegsgefangene“ mit den „Arbeitsrussen“, „Ausgeson-
durch besondere Gewaltbereitschaft und äußerst bru- derten“, „Schutzhäftlingen“, „Reaktivierten“, „Kriegsge-
tales Vorgehen an den Entflohenen auszeichneten.41 fangenen landeseigener Verbände“ und „K-Häftlingen“

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

zumindest sechs verschiedene Personengruppen aus- 1 Die These, Himmler habe bereits im März 1941 (und damit Monate vor
dem Angriff auf die Sowjetunion) Pläne zur Ausbeutung der Arbeits-
machen lassen, die für sich erforscht und analysiert
kraft sowjetischer Kriegsgefangener im KZ Auschwitz geschmiedet,
werden müssen. Jede einzelne dieser Gruppen hat ihre
die beispielsweise noch von Christian Streit in seiner klassischen Stu-
eigene (Deportations-)Geschichte ebenso wie eine die zu sowjetischen Kriegsgefangenen angenommen wird (vgl. Chris-
spezifische Geschichte innerhalb der Geschichte des tian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen
KZ-Systems, in dem das KZ Mauthausen neben Funk- Kriegsgefangenen 1941-1945 [Bonn 21997], S. 217), geht auf die au-

tionen, die auch anderen KZ zukamen, eine eigene tobiografischen Berichte des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß
zurück (vgl. Rudol Höß: Heinrich Himmler, in: Martin Broszat (Hg.):
Rolle im Vernichtungskrieg gegen das Gespenst des
Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des
„jüdischen Bolschewismus“ einnahm. Jeder einzelnen Rudolf Höß [München 141994], S. 260-283, hier S. 271) und wird in ak-
dieser Gruppen wurde schließlich auch eine andere tuellen geschichtswissenschaftlichen Studien bezweifelt (vgl. Karin
Behandlung durch die SS zuteil, die sich über Ort und Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.

Zeit auch stark voneinander unterschied. Während bei- Eine politische Organisationsgeschichte [Hamburg 1999], S. 99-102;
Jan Erik Schulte: Die Kriegsgefangenen-Arbeitslager der SS 1941/42:
spielsweise jene Kriegsgefangenen, die 1941 und 1942
Größenwahn und Massenmord. Ein Überblick, in: Johannes Ibel (Hg.):
als „Arbeitsrussen“, „Reaktivierte“ oder „Ausgesonderte“
Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und
ins KZ Mauthausen kamen, innerhalb weniger Monate sowjetische Kriegsgefangene [Berlin 2008], S. 71-90, hier S. 73).
zu Tode gebracht wurden, hatten Kriegsgefangene 2 Vgl. Schulte: Kriegsgefangenen-Arbeitslager, S. 75-80.
späterer Zeiten in Außenlagern wie Ebensee eine ex- 3 Vgl. ebd., S. 82.

trem geringe Sterblichkeit aufzuweisen, das heißt also 4 Tätigkeitsbericht Nr. 2 des Verwaltungsführers, Eintrag vom
22./24.10.1941, Archives nationales, Paris 88AJ, im Folgenden auch
weitaus bessere (Über-)Lebensbedingungen. 49
zitiert nach der im kommenden Jahr erscheinenden kommentierten
Die Deportationsgeschichte der in der Forschung zu Quellenedition von Bertrand Perz: Der Tätigkeitsbericht des Verwal-
Mauthausen bisher vernachlässigten einzelnen Grup- tungsführers des KZ Mauthausen 1941-1944. Eine kommentierte
pen von sowjetischen Kriegsgefangenen, ihre Haft- Quellenedition, unveröffentlichtes Manuskript, hier S. 31-33.
geschichte, aber auch ihre weitere Lebensgeschichte 5 Hans Maršálek geht in seiner Auflistung der Zugänge im KZ Maut-
hausen von 4 205 Personen aus (Hans Maršálek: Die Geschichte des
nach der Befreiung des KZ Mauthausen werfen eine
Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation [Wien 42006],
Vielzahl von Fragen auf und bilden Forschungslücken,
S. 141), auf die sich einige AutorInnen fälschlicherweise bezogen,
die es zu füllen gilt. Das Beispiel der „K-Häftlinge“ ver- korrigierte diese Zahl aber selbst auf 3 993 Personen (ebd., S. 142
weist diesbezüglich auf die zentrale Frage, warum das und S. 240). Diese Zahl wird auch im Schriftverkehr zwischen der
KZ Mauthausen innerhalb des KZ-Systems letztlich Kommandantur des Kriegsgefangenen-Arbeitslagers Mauthausen-

eine spezifische Funktion erfüllte. Gusen und der Inspektion des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts
(WVHA) genannt (vgl. Kriegsgef.Arb.Lager Mauthausen-Gusen Kom-
Einen großen Beitrag zur Erforschung dieses Kapi-
mandantur, 15.1.1943, Vojenský historický archiv [fortan VHA] Praha
tels der Geschichte des KZ Mauthausen soll ein Projekt 164/Ma/6/30).
unter der Leitung von Reinhard Otto und Mitarbeit von 6 Vgl. Rolf Keller/Reinhard Otto: Sowjetische Kriegsgefangene in Kon-
Tatiana Szekely leisten, das die KZ-Gedenkstätte Maut- zentrationslagern der SS. Ein Überblick, in: Ibel (Hg.): Einvernehm-
hausen Anfang 2011 gestartet hat. Über dieses Projekt liche Zusammenarbeit?, S. 15-44.
7 Alfred Streim: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im
wird in den nächsten Jahren zu berichten sein, Rein-
„Fall Barbarossa“. Eine Dokumentation unter Berücksichtigung der
hard Otto und Tatiana Szekely haben aber bereits jetzt
Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materi-
Einiges zu den offenen Fragen beitragen können. Ein alien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklä-
wertvoller Beitrag zur Erforschung der Geschichte der rung von NS-Verbrechen (Heidelberg/Karlsruhe 1981), besonders
„K-Häftlinge“ und der mit ihnen verbundenen Flucht S. 33-93; Streit: Keine Kameraden, vor allem S. 9-27 und S. 83-127.

und „Mühlviertler Hasenjagd“ wird von Matthias Kal- Zum Charakter des Vernichtungskriegs und die Rolle der Wehr-
macht siehe auch die Debatte um die Ausstellung „Verbrechen der
tenbrunner zu erwarten sein. n

65
Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

Wehrmacht“: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Verbre- sowjetische Kriegsgefangene, die am 10. Februar 1942 nach Gusen
chen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941- deportiert worden wären (vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 142). Den-
1944. Ausstellungskatalog (Hamburg 2002), besonders S. 217-285 noch sind Maršáleks detaillierte Darstellungen das Ergebnis der Ana-
und S. 687-729. lyse umfangreichen Materials und bilden für künftige Forschungen
8 Zu den „Aussonderungen“ in den Kriegsgefangenenlagern der Wehr- eine solide Grundlage. Die Arbeiten Hubert Speckners (vgl. Hubert
macht und den Konzentrationslagern der SS auf Reichsgebiet siehe vor Speckner: Kriegsgefangenenlager – Konzentrationslager Mauthau-
allem Reinhard Otto: Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsge- sen und „Aktion K“, in: Ibel [Hg.]: Einvernehmliche Zusammenarbeit?,
fangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42 (München 1998). S. 45-58) fügen Maršáleks Forschungen keine wesentlichen Erkennt-
9 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD: Einsatzbefehl Nr. 8, Richt- nisse hinzu.
linien für die in den Stalags abzustellenden Kommandos des Chefs 14 Am 1. Jänner 1943 wurde ein „Bestand“ von 308 Kriegsgefangenen
der Sicherheitspolizei und des SD, abgedruckt in: Streim: Behand- an das WVHA gemeldet, wobei vier Personen an das Stalag Krems-
lung, S. 315-323, hier S. 320. Gneixendorf rücküberstellt sowie 155 Personen im Jahr 1942 im
10 „So lange ich noch Adjutant in Mauthausen war, wurde innerhalb Schutzhaftlager des KZ Mauthausen aufgenommen und damit nicht
des Konzentrationslagers eine gesonderte Abteilung geschaffen mit mehr als Kriegsgefangene, sondern als „Schutzhäftlinge“ geführt
der Bezeichnung ‚Kriegsgefangenen Lager’, in die kriegsgefangene wurden (vgl. VHA, Praha 164/Ma).
Russen eingeliefert wurden. Eines Tages kam vom Reichsicherheits- 15 Vgl. Keller/Otto: Sowjetische Kriegsgefangene, S. 29f.
hauptamt über die Amtsgruppe D ein Geheimschreiben, in dem das 16 Vgl. Bertrand Perz/Florian Freund: Tötungen durch Giftgas im Kon-
Eintreffen einer Sonderkommission vom RSHA angekündigt wurde, zentrationslager Mauthausen, in: Günter Morsch/Bertrand Perz/
welche die Aufgabe habe, aus den russischen Kriegsgefangenen Astrid Ley (Hg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentö-
die Kommissare und Politruks auszusuchen, die dann auf höchsten tungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwick-
Befehl hin liquidiert werden sollten. Diese Kommission ist auch tat- lung, revisionistische Leugnung (Berlin 2011), S. 244-259, hier S. 254.
sächlich eingetroffen. Ich habe gehört, dass die ausgesuchten Rus- 17 Dieses plötzliche Ende des ominösen Massensterbens zeigt sich be-
sen vergast worden sind. Als ich 1944 wieder nach Mauthausen kam, sonders stark für Gusen, wo am 3. April 1942 noch 38 Todesfälle ge-
habe ich das Lager nicht mehr gesehen.“ (Eidesstattliche Erklärung meldet wurden, am 4. April allerdings nur mehr ein Todesfall und der
von Viktor Zoller, 1. März 1946, ETO Case 000-50-5-0, U.S. vs. Johann nächste Todesfall erst am 17. April 1942 (AMM E/1c/4d/04 [Original
Alfuldisch et al. Record Group 549, Records of U.S. Army Europe, War im VHA, Praha]). Die Meldungen an die Wehrmachtsauskunftsstelle
Crimes Branch, National Archives and Records Administration [fort- (WASt) geben keinen Anlass zu Vermutungen; die plötzliche Trend-
an NARA], Maryland, P-137, S. 2f.). umkehr lässt weniger das allgemeine Ende des Massensterbens der
11 Reinhard Otto und Rolf Keller schätzen die Gruppe der „Arbeitsrus- Kriegsgefangenen zu diesem Zeitpunkt vermuten – denn am 1. April
sen“ für alle Konzentrationslager auf 35 000 Personen, die Gruppe 1942 beträgt der Stand der sowjetischen Kriegsgefangenen noch 755
der „Ausgesonderten“ auf 40 000, die Gruppe der sowjetischen Personen (vgl. Tätigkeitsbericht Nr. 2, Eintrag am 1.4.1942) –, son-
Kriegsgefangenen als „reguläre“ KZ-Häftlinge auf mindestens 50 000 dern deutet auf einen veränderten Umgang der SS mit sowjetischen
Personen (Keller/Otto: Sowjetische Kriegsgefangene, S. 41). Kriegsgefangenen hin. Der 4. April 1942 dürfte also ein Ende „unkoor-
12 Siehe Häftlingszugangsbuch der Politischen Abteilung, Archiv der dinierter“ Exekutionen andeuten. Diese Vermutung würde auch das
KZ-Gedenkstätte Mauthausen (fortan AMM) Y/36 (Original in den äußerst „unregelmäßige Sterben“ im März 1942, in dem insgesamt
NARA); Häftlingsstandbuch (Häftlingsevidenz) der Poststelle Maut- 1 608 Todesfälle an die WASt gemeldet wurden, erklären.
hausen, AMM Y/43 (Original im VHA, Praha); Zugangsbuch der 18 Vgl. Schulte: Kriegsgefangenen-Arbeitslager, S. 84f.
Schutzhaftlagerführung, AMM Y/44 (Original in den Archives natio- 19 Lager der Stufe III – auf dem Gebiet des Deutschen Reiches einzig das
nales, Fontainebleau). KZ Mauthausen-Gusen – waren für „schwerbelastete, insbesondere
13 Maršálek: Mauthausen, S. 240f. Einige Punkte in Maršáleks Werk auch gleichzeitig kriminell vorbestrafte und asoziale d.h. kaum noch
halten aktuellen Forschungsergebnissen nicht stand; so ist seine Ver- erziehbare Schutzhäftlinge“ vorbehalten (vgl. Schreiben des Befehls-
wechslung der Gruppe der „Arbeitsrussen“ mit „Ausgesonderten“, die habers der Sicherheitspolizei und des SD in Lothringen-Saarpfalz
von der Exekution zugunsten ihres Arbeitseinsatzes zurückgestellt betreffend die Stufeneinteilung der Konzentrationslager, 19.8.1942,
worden wären (siehe unten), offensichtlich (vgl. Otto: Wehrmacht, AMM A/07/02).
S. 267). Auch in Bezug auf einzelne Transporte und die Zahl der mit 20 Erlass des Reichsführers SS zur Exekution von sowjetischen Kriegsge-
ihnen angekommenen Kriegsgefangenen scheint sich Maršálek zu fangenen, 15. November 1941, Bundesarchiv Berlin (fortan BArch)
irren und selbst zu widersprechen – neben der Zahl der im Oktober NS3/425, 45-46.
1942 angekommenen (siehe Anm. 5) zum Beispiel in Bezug auf 1 000 21 Vgl. VHA, Praha, 164/Ma; vgl. weiters Maršálek: Mauthausen, S. 240f.

66
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

22 Vgl. Hubert Speckner: In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenen- 26 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 343.
lager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945 (Wien/München 2003), S. 133; 27 Vgl. Neue Zeit, 2.3.1946, zitiert nach Peter Kammerstätter (Hg.): Der
Maršálek: Mauthausen, S. 341f.; Andreas Maurer: Aktion „K“ und Ausbruch der russischen Offiziere und Kommissare aus dem Block 20
„Mühlviertler Hasenjagd“ im Spannungsfeld des Konzentrationsla- des Konzentrationslagers am 2. Februar 1945. Die Mühlviertler Ha-
gers Mauthausen. Diplomarbeit (Wien 1998), S. 91ff., sowie den Ar- senjagd, unveröffentlichtes Manuskript (Linz 1979), S. 300.
tikel von Matthias Kaltenbrunner in diesem Band. 28 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 344.
23 Über die Anzahl der „K-Häftlinge“ gibt es divergierende Angaben: 29 Vgl. Smirnow, V.: Der letzte Kampf der zum Tode Verurteilten, in: Kam-
während der Blockführer des Blocks 20 und Leiter des Lagerge- merstätter (Hg.): Ausbruch, S. 232.
fängnisses, Josef Niedermayer, behauptet, insgesamt wären 1 300 30 Vgl. ebd., S. 232.
„ausländische Z i v i l – Arbeiter, Offiziere und Unteroffiziere [als „K- 31 Siehe Kaltenbrunner in diesem Band.
Häftlinge“ – G.H./A.K.] in das Konzentrationslager gebracht“ worden 32 Vgl. Schreiben Viktor Ukrainzew, in: Kammerstätter (Hg.): Ausbruch,
(Aussage Josef Niedermayer, 7.3.1946, AMM P/18/5, Hervorhebung S. 39f.
im Original; siehe auch Dokument 3845-PS in: Trial of the major war 33 Vgl. ebd., S. 40; Smirnow: Der letzte Kampf, S. 226-229; Maršálek:
criminals before the International Military Tribunal. Nuremberg, 14 Mauthausen, S. 345.
November 1945 – 1 October 1946. International Military Tribunal 34 Maršálek: Mauthausen, S. 344.
Nuremberg [IMT], Bd. XXXIII: Documents and other material in evi- 35 Vgl. BArch, Bestand RZ-9915-220.
dence – numbers 3729-PS to 3993-PS [Nürnberg 1949], S. 211f.), gab 36 Kammerstätter beschreibt die Flucht wie folgt: „In alle Richtungen
der ehemalige Häftling Francisco Boix, der als Fotograf für den Erken- flüchteten die Häftlinge. Als Nachteil für sie erwies sich, daß es in
nungsdienst der politischen Abteilung im KZ Mauthausen arbeitete, der Umgebung von Mauthausen verhältnismäßig wenig Wald gab.
in seiner Zeugenaussage vor dem Internationalen Militärgerichtshof Dagegen gab es viele Bauernhäuser und Dörfer. Die Entlaufenen ver-
in Nürnberg die Zahl der als „K-Häftlinge“ ins KZ Mauthausen ver- steckten sich in Scheunen und Tennen, in Ställen und Heuschobern
brachten Kriegsgefangenen mit ca. 4 000 an (vgl. Aussage Francisco auf den Feldern.“ (Kammerstätter [Hg.]: Ausbruch, S. 237).
Boix, 29.1.1946, IMT, Bd VI: Proceedings – 22 January 1946 – 4 Febru- 37 Vgl. Bericht des Bezirksgendarmeriekommandanten von Perg,
ary 1946 [Nürnberg 1946], S. 307). Laut dem tschechischen Häftling AMM A/6/1 und Postenchronik des Gendarmeriepostenkommandos
Karel Neuwirt, der als Schreiber in der politischen Abteilung die toten Schwertberg, AMM S/4/2, S. 6f.
„K-Häftlinge“ zahlenmäßig zu erfassen hatte, betrug allein die Zahl 38 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 345.
der Toten 5 040 (vgl. Aussage Karel Neuwirt [im Dokument fälschlich 39 Vgl. ebd., S. 345; Maurer: Aktion „K“, S. 126f.
Neuwrit], 12.5.1945, ETO Case 000-50-5-0, U.S. vs. Johann Alfuldisch 40 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 345; siehe dazu auch die Aussage des
et al., Record Group 549, Records of U.S. Army Europe, War Crimes ehemaligen Häftlings Edmund Kulka, der angab, der Leiter der SS-
Branch, NARA, Maryland). Matthias Kaltenbrunners Recherchen ha- und Häftlingsküche in Mauthausen, SS-Oberscharführer Reinhard
ben ergeben, dass „K-Häftlinge“ eigene Häftlingsnummern erhielten; Purucker, habe sich mit dem Ruf „Waidmanns Heil!“ auf die „Jagd“
die ersten „K-Häftlinge“ scheinen seinen Angaben zufolge zudem begeben (vgl. Aussage Edmund Kulka, Trial Transcripts S. 128, ETO
schon im Februar 1944, also vor dem bekannten Erlass vom März, Case 000-50-5-18, U.S. vs. Theo Otto Bernhardt et al., Record Group
ermordet worden zu sein. 549, Records of U.S. Army Europe, War Crimes Branch, NARA, Mary-
24 Vgl. Bericht von Hans Maršálek über sowjetische Kriegsgefangene im land).
KZ Mauthausen, AMM S/01/01. 41 Details dazu siehe Postenchronik des Gendarmeriepostenkomman-
25 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 343; siehe auch die Aussage von Josef dos Schwertberg, AMM S/4/2, S. 10ff.
Niedermayer: „Im November 1944 wurde ich Blockführer vom Block 42 Vgl. BArch, Bestand RZ-9915-220.
20. Dieser Block war von einem elektrisch geladenen Stacheldraht 43 Vgl. Chronik des Gendarmeriepostens in Mauthausen, AMM A/6/1.
und einer Mauer, sowie Posten umgeben und es war die Absicht, die 44 Vgl. Chronik des Gendarmeriepostenkommandos Schwertberg, AMM
unter mir stehenden Häftlinge langsam verhungern zu lassen, oder S/4/2, S. 8.
durch Krankheiten, für die sie nicht vom Lagerarzt DR WOLTER aus 45 Vgl. Maršálek: Mauthausen, S. 347. Der ehemalige Häftling Wilhelm
behandelt werden durften zu Grunde gehen zu lassen. Die tägliche Ornstein, der im Krematoriumskommando eingesetzt war, gibt an,
Ration im Block 20, die ich auszugeben hatte, bestand aus einem hal- beim Ausbruch wären 520 „K-Häftlinge“ geflohen, wovon 498 bin-
ben Liter dünner Suppe, ein achtel bis ein sechzehntel Brot, das ich oft nen zehn Tagen als Leichen zurückgebracht wurden (vgl. Aussage
nicht ausgegeben habe, und manchmal einer dünnen Scheibe Käse Wilhelm Ornstein, Trial Transcripts S. 193, ETO Case 000-50-5-18, U.S.
oder Wurst oder Margarine.“ (Aussage Josef Niedermayer, 6.2.1946, vs. Bernhardt). Über den Zustand der Leichen sagt Ornstein: „Als die
ETO Case 000-50-5-0, U.S. vs. Alfuldisch; Hervorhebung im Original). Leichen zum Lager zurückgebracht wurden, sahen wir, dass ihnen

67
Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Mauthausen und die Ereignisse der „Mühlviertler Hasenjagd“

keine Hilfe von Seiten der Bevölkerung zuteil geworden war, da man
sie in derselben Häftlingskleidung zurückbrachte, in der sie geflohen
waren. Sie hatten keine Schuhe, und so waren sie ohne Schuhe geflo-
hen, und als man sie zurückbrachte, hatten sie dieselben Lumpen an
den Füssen wie vorher. Unter den 498 Leichen gab es zwei, die einen
schlechten Zivilanzug trugen, der Rest trug Häftlingskleidung.“ (ebd.,
S. 194, Übersetzung des Autors).
46 Siehe Kaltenbrunner in diesem Band.
47 Vgl. Kammerstätter: Ausbruch, S. 245ff. Am bekanntesten wurde
wohl die Familie Langthaler, über die eine Vielzahl von Zeitungsar-
tikeln publiziert wurde, in denen über die Rettung der beiden ent-
flohenen Häftlinge Nikolaj Zemkalo und Michail L’vovič Rybčinskij
berichtet wurde und denen auch eine Reihe von Ehrungen und
Auszeichnungen aus der Sowjetunion wie auch in Österreich zuteil
wurde (vgl. ebd., S. 250). Zur Geschichte der Familie Langthaler siehe
Walter Kohl: Auch auf dich wartet eine Mutter. Die Familie Langthaler
inmitten der „Mühlviertler Hasenjagd“ (Grünbach 2005).
48 Zu den Volksgerichtsprozessen, die wegen der Ermordung von KZ-
Häftlingen im Zuge der „Mühlviertler Hasenjagd“ geführt wurden,
siehe Justiz und Erinnerung Nr. 6, September 2002, S. 13f. Zum Pro-
zess gegen den ehemaligen NS-Landrat des Kreises Linz-Land, Adolf
Dietscher, der wegen der Ermordung eines geflohenen „K-Häftlings“
zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, siehe Claudia Kuretsidis-
Haider/Winfried R. Garscha: Das Linzer Volksgericht. Die Ahndung
von NS-Verbrechen in Oberösterreich nach 1945, in: Fritz Mayrhofer/
Walter Schuster (Hg.): Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2 (Linz 2001),
S. 1467-1561, hier S. 1503ff. Zu den Prozessen gegen Hugo Tacha,
Norbert Niedermayer und Franz Jäger siehe http://www.mauthau-
sen-memorial.at/db/admin/de/show_article.php?cbereich=1&cthe
ma=47&carticle=190&fromlist=1 (Zugriff am 8.3.2011).
49 Siehe dazu Florian Freund: Die Toten von Ebensee. Analyse und Do-
kumentation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943-
1945 (Wien 2010), S. 387ff. Die sowjetischen Kriegsgefangenen in
Ebensee wurden Freund zufolge erst ab September 1943 in Mauthau-
sen eingeliefert und hatten eine unterdurchschnittliche Sterblichkeit
von 25,9 Prozent (bei einer durchschnittlichen Sterblichkeit von 31,7
Prozent).

68
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

Matthias Kaltenbrunner

Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ –


Viktor Nikolaevič Ukraincev

Treffen von sieben Überlebenden der „Mühlviertler Hasenjagd“ in Moskau, Oktober 1962. Von links nach rechts: Ivan Ivanovič Baklanov (1915-2002),
Vladimir Nikolaevič Šepetja (1913-1989), Ivan Vasil’evič Bitjukov (1912-1970), Aleksandr Manuilovič Micheenkov (1916-2004), Vladimir Ignat’evič
Sosedko (1918-1985), Viktor Nikolaevič Ukraincev (1923-1985); in der Mitte die Journalistin Ariadna Sergeevna Jurkova (geb. 1924)
(© Privatarchiv Ariadna Sergeevna Jurkova).

B ei Recherchen im Archiv der KZ-Gedenkstätte


Mauthausen im Rahmen einer Diplomarbeit über
die sogenannte „Mühlviertler Hasenjagd“ stieß ich auf
onalzeitung nahm ich telefonisch Kontakt zu Jurkova
auf, einen Monat später saß ich der heute 86-Jährigen
in ihrer kleinen Kommunalwohnung in Novočerkassk
einen Brief des ehemaligen sowjetischen Häftlings im Süden Russlands gegenüber. Vier Tage lang erzähl-
Nikolaj Ivanovič Paršin an Hans Maršálek aus dem Jahr te mir die Journalistin die Geschichte der Überleben-
1960. Der Brief enthielt den Hinweis auf die Journalistin den der „Mühlviertler Hasenjagd“ in allen Einzelheiten.
Ariadna Sergeevna Jurkova, die „alle Dokumente über Gleichzeitig bekam ich Zugang zum gesamten Ma-
die legendären Ereignisse im Februar 1945 im Block 20 terial, das sie darüber gesammelt hatte.2 Besonders
von Mauthausen gesammelt hatte“.1 Über eine Regi- wertvoll sind handschriftliche Erinnerungsberichte

69
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

und Briefe von Überlebenden, welche sich von Ivan flussung ist. Im Gegensatz zu anderen Journalisten
Ivanovič Baklanov , Aleksandr Manuilovič Micheen-
3
beriet sich Jurkova auch ständig mit Ukraincev und
kov , Vladimir Ignat’evič Sosedko , Vladimir Nikolaevič
4 5
schrieb nichts ohne sein Einverständnis.11
Šepetja und Ivan Vasil’evič Bitjukov erhalten haben.
6 7
Soweit möglich, wurden alle Angaben Jurkovas
Diese Erinnerungen wurden auf Jurkovas Bitten in Hin- durch andere Quellen überprüft – neben Kriegsge-
blick auf eine Veröffentlichung niedergeschrieben und fangenenpersonalkarten sind vor allem verschiedene
unterliegen somit einer gewissen Selbstzensur, stellen Briefe Ukraincevs an den Schriftsteller Sergej Sergeevič
aber trotzdem die glaubwürdigste, weil noch am we- Smirnov und den österreichischen Historiker Peter
nigsten durch politische Einflüsse verfremdete Quelle Kammerstätter, sowie die Erinnerungen anderer an der
dar. Anders verhält es sich mit publizierten Texten: Flucht Beteiligter, etwa Ivan Vasil’evič Bitjukovs, der sich
Sie wurden journalistisch bearbeitet und mit typisch gemeinsam mit Ukraincev rettete, zu nennen. In vielen
sowjetischen Topoi versehen – erfundene Gespräche Fällen war es freilich nicht möglich, Ukraincevs bzw.
politischen Inhalts oder die immer wiederkehrende Ge- Jurkovas Angaben mit Dokumenten zu untermauern
schichte, Gefangene hätten SS-Männer mit bloßen – etwa was Ukraincevs zweite Haft in Mauthausen als
Händen erwürgt. Vor allem aber ist es oft unmöglich „polnischer“ Häftling betrifft. Dieses Problem betrifft
nachzuvollziehen, was tatsächlich aus der Erinnerung Zeitzeugenberichte im Allgemeinen, tritt aber hier
eines einzelnen Überlebenden stammt und was von verstärkt zu Tage, da die einzelnen Überlebenden stets
den Bearbeitenden hinzugefügt wurde. Eine Son- bestrebt waren, ihre eigene, heldenhafte Rolle bei der
derstellung unter den Überlebenden nimmt Viktor Flucht herauszustreichen, was unvermeidlich zu Wider-
Nikolaevič Ukraincev ein: Er war der erste Überlebende sprüchen und Fehldarstellungen führte.
der „Mühlviertler Hasenjagd“, der in der Sowjetunion
bekannt wurde. Im Folgenden versuche ich anhand Die Suche nach den ersten
seiner Geschichte, exemplarisch die Biografie eines „K- Überlebenden
Häftlings“ darzustellen und gleichzeitig den Umgang
mit diesem Thema in der Sowjetunion zu skizzieren.8 Im Jahr 1956 prangerte Nikita Chruschtschow12 in
Hauptquelle dafür ist die im März 1960 unter dem seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag der Kommunis-
Titel „Nepokorennyj“ erschienene Artikelserie Jurkovas tischen Partei die Verbrechen Stalins an. Viele Menschen
über Ukraincev in der Novočerkassker Regionalzeitung kamen in der darauf folgenden Tauwetter-Periode nach
„Znamja Kommuny“ (Banner der Kommune), die ein Jahren aus den sowjetischen Lagern und Gefängnissen
paar Monate später auch in überregionalen Zeitungen zurück. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges war
abgedruckt wurde. Dabei ist klar, dass Ukraincevs Er- es nun auch möglich, sich mit dem Schicksal der sow-
innerungen durch Jurkovas Wahrnehmung und Be- jetischen Kriegsgefangenen zu beschäftigen. Die ehe-
arbeitung gefiltert wurden. Es war ihr erklärtes Ziel, maligen Kriegsgefangenen mussten zwar nicht mehr
ehemalige Kriegsgefangene, häufig GULAG-Häftlinge, unmittelbar um ihr Leben fürchten, waren aber von ge-
zu rehabilitieren. Deshalb musste sie die Kriegsgefan-
9
sellschaftlicher Anerkennung noch weit entfernt. Viele,
genen möglichst heldenhaft ins Bild rücken – auch Uk- die aus den GULAGs zurückgekommen waren, hatten
raincev. Nicht jede Beschreibung von Sabotage- und
10
noch immer kein Recht, sich länger als 24 Stunden in
Widerstandsakten ist daher für bare Münze zu nehmen. den größeren Städten aufzuhalten. Fast alle Soldaten,
Freilich war Ukraincev zum Entstehungszeitpunkt der die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, hat-
Texte nicht in Kontakt mit anderen Überlebenden, ten mit Benachteiligungen im Berufsleben zu kämpfen
weshalb die Darstellung frei von Absprachen zwischen und konnten oft keine Ausbildung machen oder keinen
den ehemaligen Häftlingen und gegenseitiger Beein- adäquaten Arbeitsplatz finden.

70
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

In dieser Zeit wurden auch acht Überlebende der der Familie Mascherbauer in Doppel/Schwertberg ver-
„Mühlviertler Hasenjagd“ in der Sowjetunion ausfindig steckt worden war, tauchte nie wieder auf, ebenso we-
gemacht, vor allem durch die Radiosendungen des nig wie diejenigen Häftlinge (Zahl unbekannt), die von
bekannten Schriftstellers Sergej Sergeevič Smirnov einem französischen Kriegsgefangenen bei der Familie
(1915-1976), der durch die Rehabilitierung der Vertei- Wittberger in Lanzenberg/Perg gerettet worden wa-
diger der Festung Brest 1941 bekannt geworden war, ren. Die genaue Anzahl der Überlebenden muss also
und durch die Arbeit der 1924 geborenen Journalistin offen bleiben – Hans Maršálek erinnert sich, es seien 17
Ariadna Sergeevna Jurkova.13 oder 19 der geflüchteten Häftlinge nicht wieder aufge-
Bei einem Besuch im Sowjetischen Komitee der griffen worden.19
Kriegsveteranen in Moskau im Jahr 1958 stieß sie auf
unzählige Anfragen, die Kriegsteilnehmer an das Ko- Viktor Nikolaevič Ukraincev –
mitee gerichtet hatten. Ein Brief aus Novočerkassk14 Jugend und militärische Laufbahn
stach ihr ins Auge. Der Brief stammte von einem aus
dem Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen Als ältester von vier Söhnen des Fleischhauers Niko-
Entflohenen, der das Sowjetische Komitee der Kriegs- laj Semenovič, der im Russischen Bürgerkrieg gekämpft
veteranen bat, ihm die Adressen der Teilnehmer an hatte, und der Anastasija Andreevna wurde Viktor
der Flucht aus dem Block 20 mitzuteilen. Unterschrie- Nikolaevič Ukraincev am 25. Mai 1923 in der Kleinstadt
ben war der Brief von Viktor Nikolaevič Ukraincev, Morozovsk (Gebiet Rostov na Donu) geboren.20
Novočerkassk, Prospekt Ermaka 86. Die Journalistin Nach Abschluss der zehnklassigen Schule in
konnte es kaum glauben – der erste Überlebende der Novočerkassk 1941 wurde Ukraincev Offiziersschüler
„Mühlviertler Hasenjagd“ war gefunden, und das in Jur- (kursant) in einer Schule für Kampfflieger. Als Deutsch-
kovas unmittelbarer Nachbarschaft. 15
land die Sowjetunion überfiel, hatte er die Kampfpilo-
Durch die Publikation von Ukraincevs Geschichte tenausbildung noch nicht abgeschlossen. So wurde
trafen sich Ukraincev und Ivan Vasil’evič Bitjukov, der Ukraincev zunächst als Schlosser eingesetzt, welcher
mit ihm geflüchtet war, bei Jurkova in Novočerkassk. die von den Deutschen zerstörten Sanitätswagen repa-
Kurz darauf meldeten sich durch die mediale Prä- rieren musste. Gleichzeitig assistierte er als Hilfssanitä-
senz des Themas vier weitere Überlebende: Vladimir ter den Schwestern im Lazarett und hätte insofern, für
Nikolaevič Šepetja, Vladimir Ignat’evič Sosedko, Ivan einige Zeit jedenfalls, im Hinterland bleiben können.
Ivanovič Baklanov und Aleksandr Manuilovič Miche- Nach einem deutschen Luftangriff meldete er sich aber
enkov. Höhepunkt des Medieninteresses war ein TV- freiwillig an die Front. Dasselbe wiederholte sich eini-
Auftritt der sechs ehemaligen „K-Häftlinge“ mit dem ge Zeit später, als er Unterleutnant geworden war und
Schriftsteller Sergei Sergeevič Smirnov im Oktober als Ausbildner vom Kriegsdienst zurückgestellt worden
1962 in Moskau. 16
wäre – wieder bat er darum, an die Front versetzt zu
Die Geschichte zweier weiterer Überlebender, werden. Anfang 1942 kommandierte Ukraincev ein
Michail L’vovič Rybčinskijs und Nikolaj Romanovič Panzerabwehrregiment im Gebiet Char’kov in der Uk-
Cemkalos, welche von der Familie Langthaler in Win- raine, wo schreckliche Kämpfe tobten.21
den/Schwertberg die drei Monate bis zur Befreiung
versteckt worden waren, wurde erst im Jahr 1964 durch Kriegsgefangenschaft
gezielte Aufrufe in Zeitungen publik. 17

Insgesamt meldeten sich also acht Überlebende Einen Tag nach seinem 19. Geburtstag, am 26. Mai
der „Mühlviertler Hasenjagd“ in der Sowjetunion. Ein 1942, wurde Ukraincev bei Char’kov eingekesselt und
neunter Überlebender, Semen Schakow18, welcher von gefangengenommen, nachdem er bereits die dritte

71
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

arbeiten konnte, wurde Viktor als Reinigungskraft einge-


setzt und hatte so die Möglichkeit, sich innerhalb der Fa-
brik frei zu bewegen. Dies war ein großer Vorteil – er kam
mit dem dort beschäftigten Modellierer Karl Lerl, einem
etwa 60-jährigen Sudentendeutschen, in Kontakt. Lerl
erwies sich bald als Regimegegner und ermahnte den
Kriegsgefangenen, sein Arbeitstempo zu verlangsamen.
Offensichtlich sabotierte der Modellierer die Produktion.
Genauso wie Lerl halfen auch einige Arbeiterinnen der
Porzellanfabrik den Kriegsgefangenen, wo sie nur konn-
ten – sie steckten Ukraincev oft Essenspakete zu, welche
er unter seinen kranken Mitgefangenen aufteilte.24 Auch
mit den Porzellanbrennern freundete sich Ukraincev
bald an. Die Gespräche führten sie in drei Sprachen – auf
Russisch, Tschechisch und Deutsch. Nach der deutschen
Niederlage bei Stalingrad verbesserte sich die Stimmung
unter den Kriegsgefangenen merklich. Einige der Arbei-
ter begannen, Ukraincev mit „Genosse“ anzusprechen
– er war in einer Gruppe von tschechischen, vermutlich
sudentendeutschen Kommunisten gelandet.25
Der ehemalige „K-Häftling“ Ivan Ivanovič Baklanov vor seinem Versteck Das größte Problem der Kriegsgefangenen war der
im Wald, aufgenommen von einem tschechischen Partisanen, wahr- Mangel an Nahrungsmitteln und vor allem an Medi-
scheinlich Waldviertel, 10./11. Mai 1945. Am linken Bein ist noch die kamenten. Die Brenner versuchten, so gut wie mög-
gestreifte Häftlingshose erkennbar, während um das rechte schmutzige
lich zu helfen. So schafften sie es sogar, Ukraincev zu
weiße Fetzen gewickelt sind, die kaum den Oberschenkel bedecken
(© Privatarchiv Ariadna Sergeevna Jurkova). einem Arzt nach Karlsbad zu schicken, der mit der
Widerstandsgruppe in der Porzellanfabrik in Kontakt
stand und Medikamente für die kranken Kriegsgefan-
genen besorgte. Der Arzt schrieb ihn für eine Woche
krank, sodass er sich im Lazarett etwas erholen konnte.
Verwundung erlitten hatte. Es war der Beginn einer Dort schnappte er alle möglichen Informationen über
Odyssee durch Kriegsgefangenenlager und Arbeits- den Frontverlauf und über Partisaneneinheiten, die auf
kommandos, welche in Mauthausen enden sollte. tschechischem Gebiet operierten, auf.26
Nach kurzen Stationen im Dulag 201 (Durchgangslager Durch diese Informationen ermutigt, trug sich Uk-
Char’kov) und im Stalag 365 (Vladimir-Volynskij) in der raincev zum ersten Mal mit dem Gedanken, zu fliehen
Ukraine kam Ukraincev über Częstochowa in Polen in – er wollte sich zu den Partisanen durchschlagen.
das Oflag 62 (XIII B) nach Hammelburg in Bayern.22 Ohne Hilfe war dies freilich nicht möglich: Nachts
Im Herbst 1942 kam Ukraincev in die Porzellanfabrik wurden die Kriegsgefangenen nur mit Unterwäsche
„Viktoria“ in Alt-Rohlau (Stará Role), heute ein Vorort von bekleidet in ihrer Baracke eingeschlossen, die Fenster
Karlsbad (Karlovy Vary). Die sowjetischen Kriegsgefan-
23
waren vergittert, die Eisentüren versperrt. Die Kleidung
genen waren dort in einer Baracke auf dem Fabriksge- der Gefangenen wurde jeden Abend auf den Dachbo-
lände untergebracht und mussten Zwangsarbeit leisten. den gebracht und dort eingesperrt. Mit den kommu-
Da er aufgrund einer Armverletzung in der Fabrik kaum nistischen Brennern besprach Viktor seinen Fluchtplan.

72
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

Als er ihnen seine Lage schilderte, vertrauten sie ihm und Ukraincev kam in eine Fabrik nach Breidenbach im
einen Schlüsselbund an, der die Schlüssel aller Fabriks- hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf. Dabei han-
türen enthielt. Die Schlüssel nutzten Ukraincev und delte es sich um eine Außenstelle der Gießerei Buderus,
seine Mithäftlinge zunächst, um Nahrungsmittel in die einem Unternehmen, das als Teil der Kriegswirtschaft
Baracke der Kriegsgefangenen zu schmuggeln. Gleich- unter anderem Wurfgranaten herstellte. Ukraincev war
zeitig lenkte Ukraincev die Gespräche mit einigen gemeinsam mit französischen Kriegsgefangenen an
Mitgefangenen vorsichtig auf das Thema Flucht. Bald der Produktion von Ankern beteiligt.31 An dieser Ar-
bemerkte er, dass weiterzureden gefährlich war: Seine beitsstelle blieb er allerdings nur kurze Zeit: Er hatte
Kameraden waren wenig motiviert zu fliehen, da die einen Mitgefangenen, der als Dolmetscher arbeitete,
Porzellanfabrik ihrer Meinung nach nicht die schlech- nachts zusammengeschlagen, da er dessen Verhalten
testen Lebensbedingungen bot. 27
als demütigend empfand. Um weitere Probleme zu
Zur Flucht kam es schließlich aber nicht. Während der verhindern, wurde er in ein anderes Arbeitskommando
Vorbereitungen dazu waren Ukraincev und ein Mitge- in derselben Fabrik versetzt, wahrscheinlich im Sep-
fangener, Nikolaj Pojda, in das Kabinett des Fabriksdirek- tember 1944.
tors gelangt. Als sie dort ein Porträt Hitlers und einiger In diesem neuen Kommando traf er einen Mitgefan-
anderer Nationalsozialisten hängen sahen, konnten sie genen wieder, mit dem er bereits in der Porzellanfab-
der Versuchung nicht widerstehen und zerschlugen rik zusammengearbeitet hatte: Konstantin Fedorovič
Glas und Bilderahmen. Natürlich war am nächsten Mor- Rumjancev. Unterleutnant Rumjancev, im Zivilberuf
gen die Aufregung groß, die Gestapo wurde gerufen, ein Schuster, 1914 oder 1916 in Smolensk geboren32,
die Bewachung des Lagers verstärkt. Einige Tage nach war am selben Tag wie Ukraincev, am 26. Mai 1942, in
diesem Vorfall wurden Ukraincev und Pojda auf dem Char’kov in Gefangenschaft geraten. Zusammen wur-
Dachboden, wo sie ihren geheimen Treffpunkt hatten, den sie zunächst in das Arbeitskommando Maierhöfen
geschnappt. Gefesselt wurden sie abgeführt, Ukraincev und dann im September 1942 in die Porzellanfabrik
rechnete mit dem Schlimmsten. Tatsächlich wurde er, nach Alt-Rohlau gebracht. Rumjancev war bereits am
angeblich von einem Militärtribunal, als „Anführer der 11. August 1944, wohl direkt von Alt-Rohlau, nach Brei-
Banditen und Saboteure in der Fabrik“ zu einem Monat
28
denbach überstellt worden.33 Es gelang den beiden
Schwerstarbeit in einem Steinbruch verurteilt. Dies war Kameraden, Zivilkleidung zu verstecken, diesmal unter
wahrscheinlich im Frühsommer 1944, als die „Aktion K“ einem Haufen von Gussformen. In der Nacht vom 6. auf
bereits in vollem Gange war. 29
den 7. November 1944 mussten die Kriegsgefangenen,
Im Steinbruch war Ukraincev mit schrecklichen Ar- wie schon öfter, Sand auf einer Rampe entladen – sie
beitsbedingungen konfrontiert. Die Häftlinge wurden befanden sich also nachts außerhalb der Baracke. Dies
von einem Hauptmann, möglicherweise einem SS-An- war die Gelegenheit zur Flucht: Ukraincev und Rum-
gehörigen, beaufsichtigt, der keine Gelegenheit aus- jancev rannten zum Schuppen mit den Gussformen,
ließ, die Menschen zu misshandeln – die Gefangenen wo sie die Zivilkleidung deponiert hatten, sprangen
nannten ihn „konskaja golova“ (Pferdekopf ). Von ihm durch das Fenster ins Freie und liefen in Richtung eines
wurde Ukraincev brutal zusammengeschlagen, nach- kleinen Flusses, der sich ganz in der Nähe befand.34
dem er sich, seiner eigenen Darstellung nach, gewei- Einige Tage lang irrten die beiden Geflüchteten, be-
gert hatte, weiterzuarbeiten.30 reits völlig durchfroren, durch die Wälder, größere Orte
Zurück in der Porzellanfabrik Alt-Rohlau wurde Uk- und Bahnstationen versuchten sie zu umgehen.35 Wo
raincev als abschreckendes Beispiel präsentiert – so genau Ukraincev und Rumjancev verhaftet wurden,
ergehe es jedem, der versuche zu fliehen. Kurz darauf ist nicht festzustellen. Jedenfalls kamen sie bereits am
wurde das Kommando in der Porzellanfabrik aufgelöst 14. November 1944, nur sieben Tage nach der Flucht,

73
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

über die Gestapo Regensburg als „Russen ehemalige sich das „Baden“ der Häftlinge hin, bis sie schließlich
Kriegsgefangene“ ins KZ Flossenbürg. Ukraincev erhielt im Laufschritt quer über den ganzen Appellplatz zum
die Nummer 35.198, Rumjancev die Nummer 35.396. Quarantänelager getrieben wurden, wo sich der Block
Nicht ganz zwei Wochen später, am 27. November 20 befand.40
1944, wurden sie nach Mauthausen weiterüberstellt.36 Ukraincevs Freund Konstantin Fedorovič Rumjancev
Auf ihren Kriegsgefangenen-Personalkarten finden wurde schon bald nach der Ankunft im Block 20 er-
sich identische Vermerke: „Entlassen am 29.11.1944 als mordet. Von Zeit zu Zeit scheint die SS vorgegeben zu
‚Geglückte Flucht.‘“37 Dies war die verschleiernde Stan- haben, Spezialisten für irgendwelche Arbeiten zu su-
dardformel für Personen, die als „K-Häftlinge“ kategori- chen. Manche neuangekommene Häftlinge witterten
siert worden waren. eine Chance und meldeten sich. So meldete sich Rum-
jancev als Schuster – das war auch sein erlernter Be-
Mauthausen – Block 20 ruf gewesen. Anders als in anderen Kommandos war
dies im Block 20 nur ein Vorwand, um völlig willkürlich
Ukraincev und Rumjancev trafen erst am 11. De- Häftlinge zur Hinrichtung auszuwählen.41 Rumjancev
zember 1944 in Mauthausen ein – wo sie die zwei Wo- wurde wahrscheinlich in der „Genickschussecke“ beim
chen seit der Überstellung aus Flossenbürg verbracht Krematorium erschossen.42
hatten, ist nicht bekannt. Als „K-Häftlinge“ wurden sie
38
Ukraincev verbrachte eineinhalb Monate im Block
in Mauthausen nicht in den „Stand“ des Schutzhaftla- 20. Wie andere Überlebende auch berichtete er, dass
gers aufgenommen. Ein Schreiben vom 2. Jänner 1945 nur alle drei Tage Essen ausgeteilt wurde: ein paar
beleuchtet, wie die bürokratische Kommunikation verfaulte Kartoffeln und ein kleines Stück Brot, das in
über die „K-Häftlinge“ ablief. Die Abteilung Arbeitsein- der Hand zerbröselte und nach Sand und Sägemehl
satz des KZ Mauthausen schrieb an dieselbe Abteilung schmeckte. Während des Tages wärmten sich die Häft-
im KZ Flossenbürg, drei Häftlinge seien „auf der Über- linge, indem sie sich in Gruppen eng zusammenstell-
stellungsliste No. 41 zu streichen da diese Häftlinge im ten, was sie „Öfchen“ (pečki) nannten.43
hiesigen Lager nicht in den Stand genommen worden In einem der „Öfchen“ hatte Ukraincev mitbekom-
sind. Laut Angabe der politischen Abteilung wäre der men, dass zwei Mithäftlinge einen Ausbruch planten.
Erste [ein polnischer Häftling – M.K.] während des Dem Aussehen und ihrem Verhalten nach schienen sie
Transportes verstorben und die zwei Letzeren [Rum- wesentlich älter als er gewesen zu sein und dürften ei-
jancev und Ukraincev – M.K.] in geheimer Reichssache nen hohen militärischen Rang eingenommen haben.
überstellt worden. Demzufolge sind sie nicht auf der Er versuchte zunächst erfolglos, mit den beiden Unbe-
Überstellungsliste zu verzeichnen, sondern als Abgang kannten ein Gespräch anzuknüpfen. Erst nach einiger
vom dortigen Lager [Flossenbürg – M.K.] an das Zen- Zeit wurde er in ihre Konspiration eingebunden. Zu
tralinstitut zu melden.“ 39
sechst besprachen sie in ihrem „Öfchen“ den Plan einer
Jurkovas Bericht zufolge wurden die „K-Häftlinge“ allgemeinen Flucht. Es ist unbekannt, wer die Personen
in der Politischen Abteilung erkennungsdienstlich fo- waren, die direkt mit Ukraincev sprachen, möglicher-
tografiert, es wurden Fingerabdrücke genommen. Die weise waren die Hauptorganisatoren des Ausbruchs
Nacht verbrachten die beiden im Bunkergebäude. Früh – Nikolaj Ivanovič Vlasov, Aleksandr Filippovič Isupov
am Morgen wurden sie von denselben SS-Männern, und Kirill Moiseevič Čubčenkov44 – unter Ukraincevs
welche sie in der Nacht verhört hatten, nach draußen Gesprächspartnern.45
gejagt. Vor dem Haupttor mussten sich Ukraincev und Ukraincevs Aufgabe war es jedenfalls, durch einen
Rumjancev nackt an der „Klagemauer“ aufstellen und Spalt, den er in die Barackenwand geritzt hatte, die
wurden mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Endlos zog SS-Männer auf den Wachtürmen zu beobachten, um

74
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

die Zeit der Wachablöse zu erfahren. Da es im Block 20


keine Uhr gab, war dies ein äußerst schwieriges Unter-
fangen. Schließlich fand er heraus, dass die Wachen um
zwei Uhr nachts abgelöst wurden, weshalb die Flucht
um ein Uhr nachts stattfinden sollte, wenn die Wach-
samkeit der SS am geringsten sein würde.46
Der Moment des Sturms auf die Mauer des Block
20 am 2. Februar 1945 um ein Uhr Nachts ist von fast
allen Überlebenden beschrieben worden, wobei es
durchaus widersprüchliche Darstellungen gibt.47 Ukra-
incev war einer jener beiden Häftlinge, die mit einem
Feuerlöscher auf die Wachtürme zielten und so die mit
Maschinengewehren bewaffneten SS-Männer auszu-
schalten versuchten. Als er es schließlich als einer der
letzten über die Mauer schaffte, war die Stromzufuhr im
Stacheldraht auf der Mauerspitze schon unterbrochen
Retter und Gerettete: Viktor Nikolaevič Ukraincev (links) und Ivan Vasil’evič
und der zweite Stacheldrahtzaun dahinter zerrissen.48
Bitjukov (rechts) mit den ehemaligen russischen Zwangsarbeitern Vasilij
Als Ukraincev die verschneite Wiese erreicht hatte, Ignat’evič Logovatovskij und Leonid Romanovič Šašero, welche die „K-Häft-
die sich vor ihm erstreckte, schloss er sich einer Grup- linge“ während der „Mühlviertler Hasenjagd“ ca. zwei Wochen im Haus
des Bürgermeisters von Naarn i. M. versteckt hatten (Foto 1960/1962,
pe von etwa 25 Flüchtenden an, welche im Gegensatz
© Privatarchiv Ariadna Sergeevna Jurkova).
zum Gros der Häftlinge nicht geradeaus in den nahen
Wald lief, sondern sich beim Bauernhof Fechter unmit-
telbar neben dem Lager rechts hielt und in östlicher
Richtung weiterlief.49 Beim Überspringen der Mauer Kommandierender eines Kampffliegergeschwaders,
hatte er sich das Schlüsselbein gebrochen.50 und um den Kavalleristen Michail Ichanov (Uchanov/
Bei der Molkerei in Furth, Gemeinde Schwertberg, Ichno), genannt „Miška Tatarin“, welcher angeblich als
tranken die Flüchtenden aus Milchkannen, die dort am rechte Hand des Blockältesten im Block 20 zahlreiche
Straßenrand vor dem Gebäude standen. Die ausge- Mithäftlinge gequält und ermordet hatte.52
hungerten Häftlinge stürzten sich darauf, obwohl die In der nächsten oder übernächsten Nacht, also in
Milch eiskalt war. Um sich vor der Kälte zu schützen, der Nacht auf den 3. oder 4. Februar, legten die drei
nahm Ukraincev ein Leintuch, das vor einem Haus auf Geflüchteten wieder einige Kilometer zurück, bis sie
einer Wäscheleine hing, und wickelte es um seinen in den frühen Morgenstunden nach Holzleiten, einer
Körper. Anschließend überquerte die Gruppe die Aist kleinen Ortschaft mit einigen Vierkanthöfen in der Ge-
(Bitjukov erinnerte sich an eine Wasseransammlung) meinde Naarn im Machlande, gelangten.53
und lief in einen nahen Wald, wo sich die Häftlinge in In einem Gehöft am südlichen Ende der Ortschaft
Dreier- oder Vierergruppen aufteilten und in verschie- stiegen Ukraincev und Ichanov durch ein Fenster ins
dene Richtungen weitergingen, da bereits Schüsse zu Gebäude ein. Es war das Haus Holzleiten Nr. 16, Haus-
hören waren.51 name „Edtbauer“. Im Raum war es dunkel und still. Uk-
Ukraincev versteckte sich mit zwei Geflüchteten, raincev vermutete, dass die Bauern hier vielleicht ge-
welche er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, in räuchertes Fleisch lagern würden und hoffte, etwas zu
einem Heuschober. Bei den beiden handelte es sich um essen zu finden.54 Plötzlich hörten sie ein tiefes Schnar-
Ivan Vasil’evič Bitjukov (1912-1970), Hauptmann und chen. Schnell liefen sie zurück in den Hof zum Wagen-

75
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

Die drei „K-Häftlinge“ entschlossen sich, Logova-


tovskij zu wecken – schließlich war er ihr Landsmann,
er würde ihnen helfen. Logovatovskij und Metyk waren
bald geweckt und wussten sofort, worum es ging.60 Viel
später, nach dem Krieg, fragte Ukraincev Logovatovskij,
was er sich in diesem Moment gedacht habe. „Wir hat-
ten schon vorher, bevor ihr zu uns gekommen seid, von
der Flucht erfahren und die Tore der Scheune nicht ge-
schlossen“, antwortete Logovatovskij. „Irgendwie spür-
ten wir, dass diese Leute zu uns kommen würden.“61
Die Zwangsarbeiter eilten sofort in den Pferdestall,
wo noch gekochte Kartoffeln vom Vortag standen,
die als Futter bestimmt gewesen waren. Nachdem sie
gegessen hatten, wurden sie von den beiden Zwangs-
arbeitern über eine steile Stiege im Innenhof auf den
Dachboden geführt, wo man sie mit getrocknetem
Klee zudeckte. Der nächste Tag, der 4. Februar, war ein
Sonntag. Einsiedler und seine Frau fuhren nach Naarn
zur Kirche und würden nicht vor dem späten Nach-
Durch die Artikelserie „Nepokorennyj“ (Der Unbeugsame) der Journalis- mittag zurückkommen. Ihre Abwesenheit nutzten
tin Ariadna Sergeevna Jurkova über Viktor Nikolaevič Ukraincev wurde die beiden Zwangsarbeiter, um den drei Versteckten
die Geschichte der „Mühlviertler Hasenjagd“ in der Sowjetunion erst-
Selchfleisch, Kuchen und andere Nahrungsmittel auf
mals in den Printmedien thematisiert – hier in der Zeitung „Krasnoe
Znamja“ (Rotes Banner), 22. Mai 1960 (© Privatarchiv Ariadna Ser- den Dachboden zu bringen.62
geevna Jurkova). In diesen Tagen war Josef Einsiedler viel außer Haus.
Als Bürgermeister war er zweifellos zumindest in die
Organisation der Suchtrupps verwickelt; dass er direkt
an Morden von „K-Häftlingen“ beteiligt war, lässt sich
schuppen, wo Bitjukov zunächst als Wache stehen ge- nicht nachweisen. In der Gemeinde Naarn dürften sich
blieben war. Ichanov hatte allerdings in einer Jacke, die nur wenige Flüchtige aufgehalten haben. Die örtliche
an der Wand gehangen war, ein Dokument gefunden, Volkssturmgruppe durchkämmte das Gemeindegebiet
das auf Deutsch und Russisch geschrieben war. 55
Es und traf in einem Wald auf einen „K-Häftling“. Einer der
war die Kennkarte von Vasilij Ignat’evič Logovatovskij56, Volkssturmleute versuchte, ihn zu erschießen, es löste
der 1942 als Zwangsarbeiter in die Ortschaft Holzleiten sich aber kein Schuss aus dem Gewehr.63
zum „Edtbauer“ gekommen war.57 Ukraincev, Bitjukov und Ichanov hatten also in der
Die Besitzer des Edtbauer-Hofes, wo Ukraincev, Bit- Höhle des Löwen Zuflucht gefunden. Dies dürfte sie
jukov und Ichanov am Morgen des 2. Februar 1945 an- gerettet haben, denn obwohl sich direkt neben dem
gekommen waren, waren Josef Einsiedler (1891-1967), Anwesen eine Kommandostelle der Flak befand und
Nationalsozialist und Bürgermeister von Naarn, und SS, Gendarmerie und Volkssturm in Holzleiten pa-
seine Frau Katharina (1886-1946). 58
Gemeinsam mit trouillierten, wurde das Haus des Bürgermeisters nicht
Logovatovskij arbeitete ein zweiter Zwangsarbeiter auf durchsucht.64 Zu gefährlichen Situationen – für Helfer
dem Bauernhof – ein noch sehr junger Pole, den sie wie Versteckte gleichermaßen – kam es trotzdem. Das
„Mečyk“ oder „Metyk“ riefen.
59
Versteck auf dem Dachboden befand sich direkt über

76
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

dem Schlafzimmer der Bauern. Als Logovatovskij ein- die intensivste Phase der „Mühlviertler Hasenjagd“ vor-
mal mit den Bauern Schnittfutter auf den Dachboden bei war und ihre Haare etwas nachgewachsen waren
brachte, waren ein Husten und sogar Stimmen zu hö- – wie allen Häftlingen war ihnen von der Stirn bis zum
ren gewesen. Ein anderes Mal fiel dem Bauern auf, dass Nacken ein Streifen rasiert worden, im Lagerjargon „La-
sich ein Dachziegel gelöst hatte, und er wollte schon gerstraße“ genannt –, dachten sie daran, weiterzuzie-
auf den Dachboden steigen. Logovatovskij versicherte hen. Früher oder später hätte der Bürgermeister wohl
ihm, den Schaden gleich auszubessern, und Bürger- bemerkt, was auf seinem Dachboden vorging. Mitte
meister Einsiedler wurde abgelenkt, weil ein Motorrad Februar also schlichen sie sich in der Nacht heimlich
zu seinem Hof gefahren war. 65
vom Hof des Bürgermeisters zur Familie Huber, wo sie
Das größte Problem war, Nahrung und Kleidung Šašero schon in der Scheune erwartete. Er hatte nicht
für die Versteckten zu beschaffen. Die Zwangsarbeiter nur die „organisierte“ Zivilkleidung dabei – sogar gefüt-
aßen stets gemeinsam mit den Bauern in der Stube, terte Jacken und Kappen –, sondern auch eine Flasche
durften sich aber selbstständig nichts mitnehmen. Nur selbstgebrannten Birnenschnaps. Flüsternd stießen die
wenn sich die Bäurin gerade abwandte oder außer beiden Zwangsarbeiter mit den drei „K-Häftlingen“ auf
Haus war, konnten sie etwas in die Tasche stecken. Al- ihre Zukunft an – darauf, dass sie sich in der Heimat
leine konnten Logovatovskij und Metyk die Versorgung wiedersehen würden, in Moskau, wo sie gemeinsam
der Versteckten nicht lange bewältigen.66 über den Roten Platz spazieren wollten.70
So weihten sie einen dritten Freund in ihr Geheim- Ausgerüstet mit Zivilkleidung und einem kleinen
nis ein, dem sie vertrauten: Leonid Romanovič Šašero67, Vorrat an Nahrungsmitteln verabschiedeten sich Ukra-
der bei der Familie Huber in Holzleiten Nr. 8 arbeitete, incev, Bitjukov und Ichanov von ihren Rettern und zo-
etwa 200 Meter vom Hof des Bürgermeisters entfernt. gen alleine weiter – ihr Ziel war Tschechien, wo sie sich
Die Bauern, Ignaz Huber (1880-1962) und seine Frau den Partisanen anschließen wollten. Sie gingen nur
Anna (1891-1969), behandelten Šašero sehr gut.68 Of- nachts und versteckten sich tagsüber auf Dachböden
fenbar sahen sie in ihm, dem russischen Zwangsarbei- und Scheunen; nirgends blieben sie länger als einen
ter, eine Art Ersatzsohn, denn beide Söhne der Familie Tag. So ging es fünf Tage lang, also etwa bis zum 20.
Huber, Johann (1921-1989) und Ignaz jun. (1924-2001), Februar, bevor die Gruppe getrennt wurde.71
waren an der Front. Neben den Bauersleuten waren Was mit seinen beiden Kameraden geschehen war,
noch die beiden Töchter Maria (1922-1992) und Anna wusste Ukraincev lange Jahre nicht, genauso wenig wie
(geb. 1927) am Hof. Sie erinnerten sich später an den seinerseits Bitjukov. Erst im Februar 1960 fanden sich die
unerklärlichen Hunger, den der kleine, dünne Šašero im beiden wieder.72 Was damals mit Ichanov geschah, ist
Februar 1945 plötzlich entwickelt hatte – half er doch bis heute unbekannt. Er wurde jedenfalls bald aus der
seinem Freund Logovatovskij, Nahrung für die drei „K- offiziellen Erinnerung gelöscht – Jurkova erwähnte ihn
Häftlinge“ zu besorgen. Den Bauersleuten erzählte er in ihren späteren Publikationen nicht mehr. Niemand
von den Versteckten nichts; sie stellten wegen seines wollte ein allzu enges Verhältnis zu ihm, der als „Stuben-
auffälligen Verhaltens keine Fragen. 69
dienst“ Mithäftlinge misshandelt hatte, eingestehen.73
Dank Šašero gelang es, Hemden, Hosen, Jacken und Ukraincevs weiterer Weg ist unklar, die Darstellung wi-
Schuhe für die drei Geflüchteten zu besorgen. Als be- dersprüchlich. Vollkommen auf sich alleine gestellt, ver-
sonders schwierig erwies sich das bei Ukraincev, der fast suchte er, sich in den tschechischen Wäldern einer Par-
zwei Meter groß war und Schuhgröße 45 hatte, schließ- tisaneneinheit anzuschließen. Nach etwa drei Wochen
lich fanden sich aber sogar für ihn passende Schuhe. – also Anfang oder Mitte März – stieß Ukraincev auf die
Etwa zwölf Tage verbrachten Ukraincev, Bitjukov und Familie eines tschechischen Försters, welche den völlig
Ichanov auf dem Dachboden des Bürgermeisters. Als entkräfteten „Waldmenschen“ bewirtete.74

77
Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

Anfang April 1945 wurde Ukraincev von einer Pa- ebenfalls im Krieg gekämpft hatte, war wegen angeb-
trouille deutscher Soldaten verhaftet und ins nächstge- licher Verbrechen in der Armee zu 10 Jahren GULAG
legene Gestapo-Gefängnis transportiert – der genaue verurteilt worden.78
Ort ist nicht feststellbar. Am 12. April wurde er weiter Zurück im zivilen Leben begann Ukraincev ab 1949
ins Gestapo-Gefängnis Prag gebracht. Ukraincev gab in einer Werkzeugfabrik zu arbeiten und studierte
sich als polnischer Landarbeiter Jan Grušnickij aus, gleichzeitig im Fernstudium Technik, um Ingenieur zu
der zurück nach Polen gehen wolle. Von der Gestapo werden. Ob er im Berufsleben als ehemaliger Kriegsge-
wurde er mehrmals schwer gefoltert. Nach etwa drei fangener Nachteile hatte, lässt sich nur erahnen. Ende
Tagen im Gestapo-Gefängnis Prag wurde Ukraincev der 1940er oder Anfang der 1950er Jahre heiratete Uk-
am 15. oder 16. April 1945 mit einem Transport von raincev die um ein Jahr jüngere Ekaterina Alekseevna,
ca. 23 bis 26 Personen deportiert – angeblich ausge- die wie ihr Mann als Ingenieurin arbeitete. Sie hatten
rechnet nach Mauthausen, von wo er zweieinhalb Mo- zwei Söhne, geboren in der ersten Hälfte der 1950er
nate zuvor als „K-Häftling“ geflohen war. Ob Ukraincev Jahre – Jurij und Nikolaj. Zu Beginn lebten sie zu viert
tatsächlich wieder in Mauthausen landete, ist äußerst beengt in einem Zimmer im Wohnheim der Fabrik, wo
zweifelhaft – es findet sich nicht der geringste Hinweis Ukraincev beschäftigt war. Schließlich erhielt er durch
auf einen Transport aus Prag oder einen Häftling na- die Fabrik die Zusage für eine Zweizimmer-Wohnung,
mens Jan Grušnickij.75 die Arbeiter mussten allerdings nach ihrer Arbeitszeit
und an den Wochenenden am Bau der Wohnungen
Ukraincev – Held und Antiheld mitarbeiten. Erst Anfang der 1960er Jahre konnte die
der Sowjetunion Familie die neue Wohnung beziehen.79
Viktor Nikolaevič Ukraincev verbrachte sein weiteres
Wie alle anderen Sowjetbürger, die sich in Ge- Leben als Ingenieur und Familienvater in Novočerkassk.
fangenschaft befunden hatten, landete Ukraincev Im Jahr 1980 verlor er seine Frau Ekaterina Alekseevna
zunächst in einem Filtrierungslager der Spiona- Ukrainceva, welche erst 56-jährig an einem Herzinfarkt
geabwehrabteilung „Smerš“ („Smert‘ Špionam“ – Tod starb. Ukraincev sollte sie nicht lange überleben. Fünf
den Spionen), wo sein Verhalten in der Gefangen- Jahre später wurde Lungenkrebs bei ihm festgestellt
schaft überprüft wurde. In einem Filtrierungspunkt und zunächst erfolgreich operiert. Am 31. August 1985
des NKVD in Ungarn traf er seine beiden Retter, die besuchten ihn seine beiden Söhne im Sanatorium und
Zwangsarbeiter Vasilij Ignat’evič Logovatovskij und unterhielten sich mit ihrem Vater. Als sie gegangen wa-
Leonid Romanovič Šašero wieder. Aufgrund seiner ren, legte sich Ukraincev wieder hin – und starb völlig
Handschrift wurde Ukraincev dort als Schreiber ein- unerwartet im Alter von 62 Jahren. Sein Begräbnis wur-
gesetzt. Wie andere kriegsgefangene Offiziere, darun- de zu einem der letzten Treffen von ehemaligen Kriegs-
ter auch Ivan Vasil’evič Bitjukov , der sich mit Ukrain-
76
gefangenen und Mauthausen-Überlebenden aus dem
cev gerettet hatte, durchlief er danach die „staatliche Gebiet Rostov, zu denen Ukraincev nach dem Krieg
Überprüfung erster Kategorie“ in einem Schützenre- Kontakt gehabt hatte.80 n
giment des Südural-Militärkombinat (wahrscheinlich
in Ufa), bevor er im Dezember 1945 nach Hause ent-
lassen wurde.77 Zu Hause in Novočerkassk traf er nur
seine Mutter und die beiden jüngsten Brüder an. Sein
Vater, Nikolaj Semenovič Ukraincev, war bei Kämpfen
in der Nähe von Matveev Kurgan (Gebiet Rostov na
Donu) ums Leben gekommen. Der dritte Bruder, der

78
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

1 Brief von Nikolaj Ivanovič Paršin an Hans Maršálek, 1960, Archiv der 13 Sergej Sergeevič Smirnov: Geroi bloka smerti [Sergej Sergeevič Smir-
KZ-Gedenkstätte Mauthausen (fortan AMM) V/03/59. nov: Die Helden des Todesblocks] (Moskau 1963), S. 43.
2 Miroslav Alekseevič Markedonov bin ich zu größtem Dank dafür ver- 14 Brief von Viktor Nikolaevič Ukraincev an Ariadna Sergeevna Jurkova,
pflichtet, dass er mir das gesamte Privatarchiv seiner Mutter Ariadna 28.20.1958.
Sergeevna Jurkova, das er zur Zeit sichtet und digitalisiert, zur Verfü- 15 Gespräch mit Ariadna Sergeevna Jurkova, Novočerkassk, 27.9.2010
gung gestellt hat. (450020) (00:01-00:03).
3 Vospominanija byvšego uznika „bloka smerti“ gitlerovskogo konc- 16 Smirnov: Geroi bloka smerti, S. 43.
lagerja Mautchauzen Baklanova Ivana Ivanoviča [Die Erinnerungen 17 Peter Kammerstätter (Hg.): Der Ausbruch der russischen Offiziere und
des ehemaligen Häftlings des „Todesblocks“ des hitleristischen Kon- Kommissare aus dem Block 20 des Konzentrationslagers am 2. Febru-
zentrationslagers Mauthausen Baklanov Ivan Ivanovič, ca. 1961], ar 1945. Die Mühlviertler Hasenjagd, unveröffentlichtes Manuskript
unveröffentlichtes Manuskript. (Linz 1979), S. 110.
4 Brief von Aleksandr Manuilovič Micheenkov an Ariadna Sergeevna 18 Russische Schreibweise unklar, vielleicht Char’kov, Šar(i)kov oder
Jurkova, 12.3.1961. Žar(i)kov. Möglicherweise war dies nicht sein Familienname, sondern
5 Brief von Vladimir Ignat’evič Sosedko an Nikolaj Ivanovič Paršin, er war aus der Stadt Char’kov/Ukraine.
20.3.1960. 19 Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthau-
6 Vladimir Nikolaevič Šepetja: Vospominanija, napisannye samim sen. Dokumentation (Wien/Linz 1995), S. 270.
[Vladimir Nikolaevič Šepetja: Erinnerungen, von ihm selbst geschrie- 20 Gespräch mit Nikolaj Viktorovič Ukraincev (Sohn von V. N. Ukraincev),
ben], unveröffentlichtes Manuskript. Novočerkassk, 28.9.2010 (450033) (00:00-00:01) und (00:11-00:12);
7 Ivan Vasil’evič Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5 rukopisnych vospominanija Ariadna Sergeevna Jurkova: Nepokorennyj [Teil 2], in: „Znamja Kom-
kapitana aviacii Bitjukova Ivana Vasil’eviča. Komp’jutnernyj nabor muny“ (Novočerkassk), 8.3.1960; Kopie der Personalkarte I von Viktor
avtorskogo teksta i kommentarii vypolneny Miroslavom Markedo- Nikolaevič Ukraincev, abgedruckt in „Ogonek“, 15.4.1960. In der Da-
novym [Ivan Vasil’evič Bitjukov: Heft Nr. 5 der handschriftlichen Er- tenbank der Organisation OBD Memorial (www.obd-memorial.ru)
innerungen des Hauptmanns der Luftwaffe Bitjukov Ivan Vasil’evič. findet sich die betreffende Personalkarte nicht, vermutlich wurde sie
Mit dem Computer geschrieben und mit Kommentaren versehen von damals aus der Kartei entnommen.
Miroslav Markedonov], unveröffentlichtes Manuskript. 21 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 2], in: „Znamja Kommuny“, 8.3.1960.
8 Zur Definition des Begriffs „K-Häftling“ sowie zur Situation dieser 22 Kopie der Personalkarte I von Ukraincev, 15.4.1960; Ukraincev V. N.:
Häftlingskategorie in Mauthausen vgl. den Artikel von Gregor Hol- Moi vospominanija o vosstanii v bloke smerti konclagerja Mautchau-
zinger und Andreas Kranebitter in diesem Band. zen /s kratkim vstupleniem/ [Ukraincev V. N.: Meine Erinnerungen
9 Jurkovas Bruder war nach seinem Kriegsdienst acht Jahre lang im über den Aufstand im Todesblock des Konzentrationslagers Maut-
GULAG Kolyma im äußersten Nordosten der Sowjetunion inhaftiert hausen /mit einer kurzen Einleitung/], S. 2.
gewesen. Auf die Motive ihres Engagements angesprochen, meinte 23 Kopie der Personalkarte I von Ukraincev, 15.4.1960.
sie, dass sie ein Gefühl der Schuld ihren männlichen Altersgenossen 24 Ariadna Sergeevna Jurkova: Nepokorennyj [Teil 4], in: „Krasnaja
gegenüber habe, da sie selbst nicht gekämpft hatte. Zvezda“ (Moskau), Ende Mai 1960.
10 Im September 2010 ging Jurkova in ihren Gesprächen mit mir auch 25 Ebd., sowie dies.: Nepokorennyj [Teil 4], in: „Znamja Kommuny“,
auf Dinge ein, die sie in der Publikation verschwiegen hatte. Gleich- 11.3.1960. In „Znamja Kommuny“ ist noch von „österreichischen
zeitig sind diese Angaben doppelt gefiltert: Jurkova erinnerte sich Kommunisten“ die Rede (sie sprachen also wohl deutsch), in „Krasna-
einerseits an die mündlichen Angaben von Ukraincev, andererseits ja Zvezda“ von „tschechischen Kommunisten“.
an ihre eigenen Artikel (teils fast wörtlich). 26 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 4], in: „Znamja Kommuny“, 11.3.1960.
11 In späteren Darstellungen ließ Jurkova einige Elemente, die sie in ih- 27 Ebd.
ren ersten Artikeln noch erwähnte, weg, da sie dem Heldenbild der 28 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 5], in: „Znamja Kommuny“, 12.3.1960.
Häftlinge nicht entsprachen; vgl. Ariadna Sergeevna Jurkova: Obzor Auf der Kopie der Kriegsgefangenenkarte von Ukraincev (15.4.1960)
podgotovitel’nych materialov dlja publikacij (podgotovil Markedo- sind drei Vermerke über Arbeitskommandos nicht lesbar, deshalb ist
nov Miroslav Alekseevič) [Ariadna Sergeevna Jurkova: Überblick über dieser Steinbruch auch nicht zu lokalisieren.
die Vorbereitungsmaterialien zur Publikation (bearbeitet von Marke- 29 Ukraincev: Moi vospominanija o vosstanii v bloke smerti, S. 2. Vgl.
donov Miroslav Alekseevič)], unveröffentlichtes Manuskript, S. 2. dazu auch den Artikel von Gregor Holzinger und Andreas Kranebitter
12 Grundsätzlich werden russische Namen in wissenschaftlicher Trans- in diesem Band.
literation wiedergegeben; Ausnahmen sind Namensschreibungen 30 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 5], in: „Znamja Kommuny“, 12.3.1960.
(Chruschtschow), die im Deutschen üblich sind. Alle Übersetzungen 31 Ebd.
russischsprachiger Quellen und Begriffe sind von mir.

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Der Lebensweg eines „K-Häftlings“ – Viktor Nikolaevič Ukraincev

32 Zugangsbuch KZ Flossenbürg, 1.1.8.1, 10795673, Digitales Archiv, 53 Ukraincev berichtete später, sie seien bereits in der ersten Nacht nach
International Tracing Service Bad Arolsen (fortan ITS); weiters Perso- Holzleiten gelangt. Dies ist kaum möglich: Erstens scheint die Dis-
nalkarte I von Rumjancev, OBD Memorial, Nr. 272186335. tanz zu groß, und zweitens wussten die Zwangsarbeiter, die sie dort
33 Ebd. treffen sollten, bereits, dass die Gruppe aus Mauthausen war (vgl.
34 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 6], in: „Znamja Kommuny“, 13.3.1960; Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 4; Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs mit
Personalkarte I von Rumjancev, OBD Memorial, Nr. 272186335. Ukraincev, Mauthausen, 3.5.1970, S. 41 sowie Jurkova: Nepokorennyj
35 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 6], in: „Znamja Kommuny“, 13.3.1960. [Teil 9], in: „Znamja Kommuny“, 19.3.1960.)
36 Effektenkarte von Viktor Nikolaevič Ukraincev, 1.1.8.3, 11032420, Di- 54 Nahezu identische Schilderungen Ukraincevs finden sich in: Jurkova:
gitales Archiv, ITS; Zugangsliste KZ Flossenbürg, 14.11.1944, Archiv Nepokorennyj [Teil 10], in: „Znamja Kommuny“, 20.3.1960 sowie in
Flossenbürg, YV_M8_ITS_BD_6_FLO_04_1140. Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs mit Ukraincev, Mauthausen,
37 Personalkarte I von Rumjancev, OBD Memorial, Nr. 272186335 sowie 3.5.1970, S. 41.
Kopie der Kriegsgefangenenkarte von Ukraincev (15.4.1960). 55 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 10], in: „Znamja Kommuny“, 20.3.1960.
38 Schreiben KZ Mauthausen an KZ Flossenbürg, 2.1.1944 [recte Falls richtig notiert, gab Ukraincev später jedoch an, Bitjukov habe
2.1.1945], 1.1.26.1, 1321251, Digitales Archiv, ITS; Gedächtnisproto- die Taschen durchsucht; vgl. Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs
koll eines Gesprächs mit Viktor Nikolaevič Ukraincev, Mauthausen, mit Ukraincev, Mauthausen, 3.5.1970, S. 41.
3.5.1970, in: Kammerstätter: Ausbruch, S. 37. 56 Logovatovskij, Anfang der 1920er Jahre im Dorf Rubežnoe, Rajon
39 Schreiben KZ Mauthausen an KZ Flossenbürg, 2.1.1944 [recte Klimovo im Gebiet Brjansk geboren, kehrte nach seinem Dienst in der
2.1.1945], 1.1.26.1, 1321251, Digitales Archiv, ITS. Sowjetarmee 1947 in sein Heimatdorf zurück und arbeitete später
40 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 7], in: „Znamja Kommuny“, 15.3.1960. als Busfahrer in Klincy, Gebiet Brjansk, wo er am 27. Dezember 1984
41 Smirnov: Geroi bloka smerti, S. 26; Personalkarte I von Rumjancev, starb.
OBD Memorial, Nr. 272186335. Als Beruf ist „Schuster“ eingetragen. 57 Brief von Vasilij Ignat’evič Logovatovskij an Viktor Nikolaevič Ukrain-
42 Häftlinge aus Block 20, die hingerichtet wurden, scheinen nicht im cev, 11.3.1960, S. 5.
„Exekutionsbuch“ des KZ Mauthausen auf, deshalb ist ihre Zahl im- 58 Zu den Lebensdaten: Pfarrarchiv Naarn, Totenbuch IX, S. 118 und X, S.
mer noch unbekannt (vgl. Exekutionsbuch, AMM M/5/6). 46. Die Lebensdaten Josef Einsiedlers bei Kammerstätter: Ausbruch,
43 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 7], in: „Znamja Kommuny“, 15.3.1960. S. 202, sind nicht korrekt.
44 Über die Organisatoren der Flucht wissen wir von Vladimir Nikolaevič 59 Wahrscheinlich hieß er Mieczysław. Er verschwand schon kurz nach
Šepetja und Ivan Vasil’evič Bitjukov. Vgl. Šepetja: Vospominanija so- Kriegsende aus dem Blickfeld seiner russischen Freunde. Ich ver-
wie Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 2. suchte, ihn über die Akten der Zwangsarbeiter-Entschädigung zu
45 Gegen diese Annahme spricht allerdings, dass er ihr Verschwinden finden, aber ohne Erfolg (E-Mail von Jürgen Strasser, Zukunftsfonds
aus dem Block am 27. Jänner 1945 nach dem Verrat des Fluchtplans der Republik Österreich, 17.8.2010).
nicht erwähnt. Es ist kaum vorstellbar, dass er diese Aktion nicht be- 60 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 10], in: „Znamja Kommuny“, 20.3.1960.
merkt hätte. 61 Brief von Vasilij Ignat’evič Logovatovskj an Viktor Nikolaevič Ukrain-
46 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 8], in: „Znamja Kommuny“, 18.3.1960. cev, 11.3.1960, S. 3.
47 Genaue Beschreibungen existieren z. B. von Ivan Ivanovič Baklanov 62 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 10], in: „Znamja Kommuny“, 20.3.1960;
(Vospominanija), von Vladimir Nikolaevič Šepetja (Vospominanija) Brief von Vasilij Ignat’evič Logovatovskij an Viktor Nikolaevič Ukrain-
und von Ivan Vasil’evič Bitjukov (Tetrad‘ Nr. 5). cev, 11.3.1960, S. 3; Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs mit Ukrain-
48 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 9], in: „Znamja Kommuny“, 19.3.1960; cev, Mauthausen, 3.5.1970, S. 42.
Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 3. 63 Kammerstätter: Ausbruch, S. 200f.
49 Vgl. die Karte „Die Fluchtwege aus dem KZ Mauthausen“, in: Kammer- 64 Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs mit Ukraincev, Mauthausen,
stätter: Ausbruch, S. 55; weiters Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 4. 3.5.1970, S. 41f.
50 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 9], in: „Znamja Kommuny“, 19.3.1960. 65 Brief von Vasilij Ignat’evič Logovatovskj an Viktor Nikolaevič Ukrain-
51 Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 4; Hinweis von Andreas Gruber, Wels, cev, 11.3.1960, S. 3f.; Brief von Viktor Nikolaevič Ukraincev an Peter
8.1.2010. und Lisa Kammerstätter, 28.11.1972, Archiv der Stadt Linz, K0040;
52 Zwischen den Darstellungen Ukraincevs und Bitjukovs gibt es teilwei- Gespräch mit Ariadna Sergeevna Jurkova, Novočerkassk, 28.9.2010
se Widersprüche – Ukraincev erwähnt nicht, dass die Gruppe nicht (004524) (00:31-00:33).
sofort nach dem Ausbruch nach Naarn/Holzleiten gekommen war. 66 Identische Darstellungen: Jurkova: Nepokorennyj [Teil 10], in: „Znam-
ja Kommuny“, 20.3.1960; Jurkova, Novočerkassk, 28.9.2010 (004524)
(00:14-00:26).

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67 Šašero, 1923 im Gebiet Brjansk geboren, war mit demselben Trans-


port wie Logovatovskij nach Linz gekommen und zusammen mit
ihm zunächst in einem großen Sammellager interniert. Anschließend
kamen beide Freunde 1942 als landwirtschaftliche Zwangsarbeiter
in die Ortschaft Holzleiten. Šašero lebte nach seiner Demobilisierung
aus der Armee als Ingenieur in Brjansk; 1990 besuchte er die Familie
Huber in Österreich. Angeblich ist er bereits verstorben.
68 Zu den Lebensdaten: Pfarrarchiv Naarn, Totenbuch X, S. 27 und S.
56.
69 F. X. Eder: Versteck im Heu rettete Russen-Offizieren das Leben, in:
Mühlviertler Rundschau (Bezirk Perg), 20.9.1990, S. 21. Zu den Le-
bensdaten: Pfarrarchiv Naarn, Taufbuch XII, S. 111, S. 140 und S. 164
sowie XIII, S.7.
70 Identische Darstellungen finden sich in: Jurkova: Nepokorennyj [Teil
10], in: „Znamja Kommuny“, 20.3.1960; dies.: Nepokorennyj [Teil 11],
in: „Znamja Kommuny“, 22.3.1960; dies., Novočerkassk, 28.9.2010
(004524) (00:14-00:26).
71 Die Darstellungen sind widersprüchlich.
72 Jurkova: Nepokorennyj [Teil 11], in: „Znamja Kommuny“, 22.3.1960;
Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 5.
73 Jurkova: Obzor podgotovitel’nych materialov dlja publikacij, S. 2.
74 Dies.: Nepokorennyj [Teil 11], in: „Znamja Kommuny“, 22.3.1960.
75 Brief von Viktor Nikolaevič Ukraincev an Peter und Lisa Kammerstät-
ter, 28.11.1972, Archiv der Stadt Linz, K0040, Bl. 2, Rückseite; Jurkova:
Nepokorennyj [Teil 13], in: „Znamja Kommuny“, 24.3.1960. Weder im
Digitalen Archiv, ITS, noch im Mauthausen-Archiv findet sich der ge-
ringste Hinweis.
76 Bitjukov: Tetrad‘ Nr. 5, S. 7.
77 Viktor Nikolaevič Ukraincev: Avtobiografija, 18.10.1958. Seine Filtrie-
rungsakte befindet sich vermutlich im Archiv des Sicherheitsdienstes
der Russischen Föderation in Rostov na Donu und ist nur schwer ein-
sehbar.
78 Nikolaj Viktorovič Ukraincev, Novočerkassk, 28.9.2010 (450033)
(00:03-00:06).
79 Jurkova, Novočerkassk, 28.9.2010 (004525) (00:09-00:13).
80 Nikolaj Viktorovič Ukraincev, Novočerkassk, 28.9.2010 (450033)
(00:05-00:07); Jurkova, Novočerkassk, 28.9.2010 (004519) (00:17-
00:21).

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Dokumente

Dokumente

„Kugel-Erlass“ des Oberkommandos der Wehrmacht


(OKW), 4. März 1944

Personalkarte I für Kriegsgefangene von


Konstantin Fedorovič Rumjancev

Effektenkarte von Viktor Nikolaevič Ukraincev


aus dem KZ Flossenbürg

Schreiben der Abteilung Hollerith des KZ Mauthausen


an das KZ Flossenbürg, 2. Jänner 1945

Fahndungsmeldung des überlebenden „K-Häftlings“


Vladimir Nikolaevič Šepetja, Sonderausgabe
zum Deutschen Kriminalpolizeiblatt, 30. Juni 1944

Plan von Block 20 von Hans Maršálek

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

„Kugel-Erlass“ des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), 4. März 1944, Seite 1. Alle Offiziere und nicht arbeitenden Unteroffiziere, welche aus Kriegs-
gefangenenlagern flüchteten, sollten unter „geheimer Reichssache“ nach Mauthausen zur Exekution überstellt werden. Ausgenommen waren Briten und
Amerikaner. Fielen anfangs auch Zwangsarbeiter, einzelne Polen, Franzosen und Niederländer der Aktion zum Opfer, so waren es bald nur mehr sowjetische
Offiziere. Ab Juni 1944 wurden die Opfer nicht mehr sofort exekutiert, sondern im Block 20 langsam zu Tode gequält. Der „Kugel-Erlass“ wurde an alle
Gestapo-Stellen weitergeleitet, hier abgedruckt das Telegramm an die Gestapo Aachen (© Staatsarchiv Nürnberg, Bestand KV-Anklage Nr. PS-1650).

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„Kugel-Erlass“ des OKW, 4. März 1944, Seite 2.

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„Kugel-Erlass“ des OKW, 4. März 1944, Seite 3.

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Dokumente

Personalkarte I für Kriegsgefangene von Konstantin Fedorovič Rumjancev, der am 7. November 1944 gemeinsam mit Viktor Nikolaevič Ukraincev aus
dem Arbeitskommando Breidenbach in Bayern flüchtete (© OBD Memorial, https://www.obd-memorial.ru/, Nr. 272186335, Zugriff am 23.3.2011).

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Personalkarte I für Kriegsgefangene von Konstantin Fedorovič Rumjancev, Rückseite, mit dem Vermerk „Entlassen am 29.11.1944 als ‚Geglückte Flucht‘“.
Dies war eine mögliche Formulierung für die verschleiernde Kennzeichnung von Personen, die als „K-Häftlinge“ kategorisiert worden waren.

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Dokumente

Effektenkarte von Viktor Nikolaevič Ukraincev aus dem KZ Flossenbürg. Ukraincev und Rumjancev waren nur wenige Tage nach ihrer Flucht wieder gefasst
und am 14. November 1944, als „Russen ehemalige Kriegsgefangene“ kategorisiert, in das KZ Flossenbürg deportiert worden, bevor sie am 27. November
1944 als „K-Häftlinge“ nach Mauthausen überstellt wurden (1.1.8.3, 11032420, © Digitales Archiv, International Tracing Service [ITS] Bad Arolsen).

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Schreiben der Abteilung Hollerith des KZ Mauthausen an das KZ Flossenbürg, 2. Jänner 1945. Ukraincev und Rumjancev seien am 11. Dezember 1944
„in geheimer Reichssache“ nach Mauthausen überstellt und nicht in den Häftlingsstand aufgenommen worden, heißt es darin. Deshalb sollten sie auch
aus der Überstellungsliste in Flossenbürg gestrichen und als „Abgang“ gemeldet werden. In den Unterlagen des KZ Flossenbürg scheint dennoch auf,
dass die beiden nach Mauthausen überstellt worden waren (1.1.26.1, 1321251, © Digitales Archiv, International Tracing Service [ITS] Bad Arolsen).

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Dokumente

Fahndungsmeldung des überlebenden „K-Häftlings“ Vladimir Nikolaevič Šepetja, Sonderausgabe zum Deutschen Kriminalpolizeiblatt, 30. Juni 1944. Šepetja,
ein Kampfpilot, war am 15. Mai 1944 aus dem Kriegsgefangenenlager Moosburg in Bayern geflohen. Auf den Personalkarten von wiederergriffenen Kriegs-
gefangenen, die als „K-Häftlinge“ kategorisiert wurden, findet sich häufig der Vermerk „Geflüchtet und nicht wiederergriffen“. Intern wurde jedoch sehr wohl
penibel vermerkt, wann und wo ein Häftling wiederergriffen wurde – so auch bei Vladimir Nikolaevič Šepetja, der am 14. Juli 1944 in Prag gefasst und im
August 1944 als „K-Häftling“ in den Block 20 überstellt wurde (1.2.2.1,12052725, © Digitales Archiv, International Tracing Service [ITS] Bad Arolsen).

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | DOKUMENTATION

Die Journalistin Ariadna Sergeevna Jurkova wandte sich auch an Hans Maršálek, um genauere Informationen über den Block 20 zu erhalten. In einem
Brief vom 22. September 1961 beantwortete Maršálek detailliert Jurkovas Fragen und zeichnete einen genauen Plan des Blocks 20, wie er ihn in Erin-
nerung hatte (© Privatarchiv Ariadna Sergeevna Jurkova).

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010

K APITEL 03

INFORMATION
Katharina Czachor
Jahresrückblick 2010

Robert Vorberg
Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen – erste Schritte 2010

Gerhard Hörmann
BesucherInnenstatistiken 2010

Verena Kaselitz/Willi Mernyi


Befreiungsfeiern 2010

Andreas Kranebitter
Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Rückblick 2010

Katharina Czachor
Die Bibliothek der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Christine Schindler
Das Internationale Forum Mauthausen zur
Beratung der Bundesministerin für Inneres 2010

Katharina Czachor
2. Dialogforum Mauthausen

Josef Plaimer
Die Gedenkfeiern in Eisenreichdornach/Amstetten

Christian Rabl
Die Audioinstallation bei der
KZ-Gedenkstätte St. Aegyd – ein Projektbericht

Peter Gstettner
Die Aneignung der eigenen Geschichte – die Mühen
der Ebene des KZ-Gedenkens am Loiblpass

Nachruf auf Mariano Constante und Italo Tibaldi


KAPITEL 03 | INFORMATION

© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus


KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Katharina Czachor

Jahresrückblick 2010

11. bis 15. Jänner 2010: bedeute unter anderem – so betonten die LeiterInnen
der beiden Institutionen – einen Austausch von Erfah-
Filmretrospektive rung. Dieser solle künftig auch in anderen Bereichen zu
„Verpflichtung als Zeitzeuge“ einer breiteren Zusammenarbeit führen.

Vom 11. bis 15. Jänner 2010 fand im Wiener Metro- 24. März 2010:
Kino die Filmretrospektive zum Thema „Verpflichtung
als Zeitzeuge“ statt. Der Titel verwies auf Artur Brauner, Filmpräsentation „Es ist besser, nicht
den Produzenten der gezeigten Filme, der als Überle- zuviel um sich zu schauen …“
bender der NS-Judenverfolgung bereits seit über 60
Jahren Produzent von mehr als 20 deutschsprachigen Johannes Breits Dokumentation behandelt das Ar-
Filmen über die Schoah, das Überleben, Antisemitis- beitserziehungslager Innsbruck-Reichenau, das 1941
mus und auch über dessen Folgen nach 1945 ist.
Auf dem Programm standen die Filme „Der letzte Zug“
(Joseph Vilsmaier, D/Tschechien 2006), „Babij Jar“ (Jeff Bild oben: 11. bis 15. Jänner 2010, Filmretrospektive „Verpflichtung als
Kanew, D/Belarus 2003), „Von Hölle zu Hölle“ (Dimitri Zeitzeuge“; Bild unten: 9. März 2010, Barbara Glück und Piotr Cywiński
Astrachan, Belarus/D 1996), „Morituri“ (Eugen York, D bei der Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens (© Państwowe
Muzeum Auschwitz-Birkenau).
1948) und „Zu Freiwild verdammt“ (Jerzy Hoffmann,
P/BRD 1984).

9. März 2010:

Unterzeichnung eines Kooperations-


abkommens zwischen der
KZ-Gedenkstätte Mauthausen
und dem Pa stwowe Muzeum
Auschwitz-Birkenau

Am 9. März 2010 unterzeichneten die LeiterInnen der


KZ-Gedenkstätte Mauthausen (Barbara Glück) und
des Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau (Piotr
Cywiński) in Auschwitz ein Kooperationsabkommen
zum beiderseitigen Austausch von Dokumenten aus
den Archiven der jeweiligen Institution. Der Austausch

95
Jahresrückblick 2010

Bild oben: 24. März 2010, Filmpräsentation; Bild unten: 8. bis 10. Mai Bild oben: 3. bis 21. März: Projekt Loibl-Nord; Bild unten: 9. Mai 2010,
2010, Gedenkfeier im Außenlager Melk. Gedenk- und Befreiungsfeier in Mauthausen.

errichtet wurde, um italienische Fremdarbeiter zu in- für eine Gedenkstätte am Loiblpass unter dem Titel
haftieren, die auf der Flucht von ihrem Arbeitsplatz aus „Lebendige Gedenkstätte“. Die SchülerInnen arbeite-
Deutschland in ihre Heimat am Brenner aufgegriffen ten an der Vermessung des Areals und der anschlie-
wurden. In der Folge war das Lager Reichenau auch Ar- ßenden Verarbeitung des gewonnenen Materials. Den
beitserziehungslager, ab Herbst 1943 Durchgangslager Abschluss des Workshops bildete ein viertägiges Sym-
für Deportationen aus dem von Deutschland besetzten posium zur Konzeption von Gedenkstätten in Villach.
Norditalien und Haftlager der Gestapo Innsbruck. Für
den Film nahm der Regisseur Kontakt mit ehemaligen 8. bis 10. Mai 2010:
Häftlingen aus verschiedenen Nationen auf.
Gedenk- und Befreiungsfeiern
3. bis 21. Mai 2010: in den Außenlagern

Projekt Gedenkstätte Loibl-Nord Am Samstag, den 8. Mai, fand die Gedenkfeier am Op-
ferfriedhof in Ebensee statt, bei der sich Kulturminis-
In einem dreiwöchigen Workshop arbeiteten Schüle- terin Claudia Schmied im Namen der österreichischen
rInnen der Knobelsdorffschule in Berlin, die bereits seit Bundesregierung für die Vorkommnisse des Vorjahres
30 Jahren Renovierungsarbeiten in der KZ-Gedenk- entschuldigte. 2009 war es in den etwas abseits ge-
stätte Mauthausen vornehmen, und der HTL Villach legenen Stollenanlagen in Ebensee zu Provokationen
an konkreten Umsetzungsmaßnahmen des Konzeptes durch Jugendliche gekommen, die Nazi-Parolen von

96
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

sich gegeben hatten. Auch in den Gedenkstätten St.


Valentin, Redl-Zipf, Gusen, Melk und Steyr fanden an
diesem Wochenende Gedenkfeiern statt.

9. Mai 2010:

Gedenk- und Befreiungsfeier


in Mauthausen

An der diesjährigen Befreiungsfeier, die unter dem


Themenschwerpunkt „Kinder und Jugendliche“ stand,
nahmen mehr als 10 000 BesucherInnen teil. Bereits am
Samstag, den 8. Mai, wurde von der Bundesjugendver-
tretung gemeinsam mit dem Mauthausen Komitee
Österreich (MKÖ) ein Workshop unter dem Motto „Zei-
chen setzen. Jugendliche gegen das Vergessen“ zum
diesjährigen Themenschwerpunkt der Befreiungsfeier-
lichkeiten abgehalten.

8. bis 9. Juni 2010: Bild oben: 12. Juni 2010, Gedenkfeiern in Loibl-Nord und Loibl-Süd;
Bild unten: 9. bis 23. Juli 2010, Sommerworkcamp in Mauthausen.

2. Dialogforum Mauthausen

Der diesjährige Schwerpunkt des Dialogforums wur- sucherzentrum der Gedenkstätte stattfand, nahmen
de auf das Thema „Vermittlung am historischen Ort“ über 90 ExpertInnen aus den unterschiedlichsten
gelegt und stand im Zusammenhang mit der Präsen- Fachbereichen teil.
tation des neuen Vermittlungskonzeptes der KZ-Ge-
denkstätte Mauthausen. An dem Forum, das im Be- 12. Juni 2010:

Gedenkfeiern in den ehemaligen


8. bis 9. Juni 2010, 2. Dialogforum Mauthausen.
Konzentrationslagern Loibl-Nord
und Loibl-Süd

Am Samstag, den 12. Juni, fanden am Loiblpass die


von Peter Gstettner organisierten und jährlich seit
1995 abgehaltenen Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer
der Konzentrationslager Loibl-Nord und -Süd statt.
Auch in diesem Jahr nahmen wieder mehrere Hundert
BesucherInnen an der Veranstaltung teil, unter ihnen
auch der KZ-Überlebende Roger Hassan, ehemaliger
Häftling des KZ Loibl-Nord, sowie Christian Scheider,
Bürgermeister der Stadt Klagenfurt.

97
Jahresrückblick 2010

9. bis 23. Juli 2010: die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen


und zum anderen das neue Vermittlungskonzept an
Sommerworkcamp in der KZ-Gedenk- der Gedenkstätte betrafen.
stätte Mauthausen

Am 9. Juli 2010 startete ein Workcamp in der KZ-Ge- 22. bis 26. November 2010:
denkstätte Mauthausen, im Zuge dessen 27 Interessier-
te zwischen 17 und 25 Jahren aus Polen und Deutsch- Lesungen mit Erika Rosenberg
land zwei Wochen gemeinsam in der Marktgemeinde im Bundesministerium für Inneres
Mauthausen verbrachten und Pflegearbeiten in der
KZ-Gedenkstätte Mauthausen leisteten. Auch an den diesjährigen Lesungen mit Erika Rosen-
berg nahmen zahlreiche SchülerInnen teil. Erika Ro-
18. bis 21. August 2010: senberg las und erzählte vor Schulklassen von den un-
bekannten Helden des Zweiten Weltkrieges, die durch
Open-Air-Filmretrospektive Mut, Moral, Solidarität und Zivilcourage zahlreichen
Menschen das Leben retteten. Die Vortragsreihe ehrte
Die diesjährige Filmretrospektive vor dem Besucher- die unbekannten, unbesungenen RetterInnen. n
zentrum der KZ-Gedenkstätte Mauthausen fragte nach
dem Verhalten jener Menschen, die selbst nicht von
Verfolgung bedroht waren, jedoch durch das Schicksal
Bild oben: 18. bis 21. August 2010: Open-Air-Filmretrospektive;
von NachbarInnen, FreundInnen und Bekannten damit
Bild unten: 22. bis 26. November 2010: Lesungen mit Erika Rosenberg.
konfrontiert wurden.
Fotos Jahresrückblick 2010, falls nicht anders angegeben:
Die Filmreihe kuratierten Frank Stern vom Institut für
© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus.
Zeitgeschichte der Universität Wien und Stephan Ma-
tyus vom Bundesministerium für Inneres.

9. bis 10. September 2010:

Tagung „Gedenkstätten und Museen


in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern“

Von 9. bis 10. September 2010 fand eine polnisch-


österreichische Tagung in den Räumlichkeiten der
Polnischen Akademie der Wissenschaften statt. Es
nahmen zahlreiche VertreterInnen europäischer Ge-
denkstätten an der Konferenz teil, unter anderem aus
dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, dem
Lern- und Gedenkort Hartheim, dem Museum Stutt-
hof und dem Museum Majdanek. Die KZ-Gedenkstät-
te Mauthausen war als Mitorganisatorin der Tagung
ebenfalls mit zwei Vorträgen vertreten, die zum einen

98
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Robert Vorberg

Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte


Mauthausen – erste Schritte 2010

Freilegungs- und Restaurationsarbeiten in einem historischen Krankenzimmer, November 2010 (© Bundesministerium für Inneres/Robert Vorberg).

U nmittelbar nach der Präsentation des Rahmen-


konzepts zur Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen beim ersten „Dialogforum Mauthausen“
Das „Projekt Reviergebäude“ bildet den derzeitigen
Schwerpunkt der Arbeiten für die Neugestaltung. Es
umfasst die Neukonzeption einer historischen Über-
im Juni 2009 begann die schrittweise Realisierung blicksausstellung, einer Ausstellung zum Thema „Mas-
durch jene von Bundesministerin Maria Fekter beauf- senvernichtung im Konzentrationslager Mauthausen“
tragte Arbeitsgruppe, die schon für die Konzepterstel- (Arbeitstitel) sowie eines Gedenkraums. Zudem wird das
lung verantwortlich gewesen war. Die erste, derzeit Leitsystem für die BesucherInnen im „Tötungsbereich“
laufende Umsetzungsphase beinhaltet die Bereiche im Keller des Reviergebäudes (Gaskammer, Krematorien
„Projekt Außengestaltung“, die Verbesserung des päda- und Exekutionsraum) angemessen neu gestaltet.
gogischen Angebots und das „Projekt Reviergebäude“, Die Grundsteinlegung für das Reviergebäude er-
das im Folgenden näher beschrieben werden soll. 1
folgte im Jahr 1940, doch erst im Sommer 1944 wurde

99
Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – erste Schritte 2010

Fassadenarbeiten am ehemaligen Reviergebäude, März 2011. Im Jahr 1945 waren die Wände des Gebäudes unverputzt; mittels Sichtfenster soll ein
Eindruck dieses Zustands verschafft werden (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

der Westflügel als Krankenstation für Häftlinge ge- ursprüngliche Erscheinungsbild des Gebäudes so weit
nutzt. Zur vollständigen Fertigstellung des Gebäudes wie möglich wieder herstellen oder zumindest ables-
bis zur Befreiung des Lagers im Mai 1945 kam es je- bar machen. Durch besondere gestalterische Maß-
doch nie. In den 1960er-Jahren wurde das Krankenre- nahmen soll eine Vorstellung von der ursprünglichen
vier zu einem Museumsgebäude umgebaut und somit Gebäudebeschaffenheit gegeben werden. Zu diesem
bereits weitgehend historisch überformt und in seiner Zweck wurden in der Planungsphase umfangreiche
Raumstruktur verfremdet. Im Anschluss an seine mehr bauarchäologische Untersuchungen durchgeführt
als 40-jährige Nutzungstradition als Museum soll das sowie gemeinsam mit dem zuständigen Architekten
Gebäude nun auch weiterhin als Ausstellungsort zur Helmut Neumayer und in Absprache mit dem Österrei-
Verfügung stehen. chischen Bundesdenkmalamt Überlegungen darüber
Für die beiden neuen Ausstellungen ist eine neu- angestellt, wie mit der vorhandenen Bausubstanz um-
erliche Sanierung und Adaption des ehemaligen Kran- zugehen sei. Dabei wurde es als notwendig erachtet,
kenreviers nötig. Die durch die Burghauptmannschaft dass alle baulichen und gestalterischen Maßnahmen,
Österreich (BHÖ) beauftragten Baumaßnahmen sollen
2
die den BesucherInnen den Zustand aus dem Jahr
jedoch nicht nur die Voraussetzungen für ein zeitge- 1945 andeuten sollen, selbsterklärend sind. Beispiels-
mäßes Museumsgebäude schaffen, sondern auch das weise werden die ursprünglichen historischen Wand-

100
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

stellungen durch Markierungen an Boden, Wänden den Wandel der Existenzbedingungen der Häftlinge in
und Decke angedeutet. An ausgewählten Stellen, an den einzelnen Entwicklungsphasen des Lagers.
denen die Bausubstanz zum Zeitpunkt 1945 noch Eine weitere Ausstellung, die im Rahmen der ers-
gut erhalten ist, wird diese wieder sichtbar gemacht. ten Umsetzungsphase realisiert wird, behandelt das
So wurden in einem ehemaligen Krankenzimmer die Thema der Massenvernichtung. Rund die Hälfte aller
aus ca. 1945 stammenden Wandfarben freigelegt, um nach Mauthausen deportierten Häftlinge überlebte
den BesucherInnen einen Eindruck der ursprünglichen ihre Haft nicht. Die auch im Vergleich zu anderen
Innenraumgestaltung geben zu können. Die von der Konzentrationslagern hohe Todesrate war ebenso Fol-
BHÖ durchgeführten Baumaßnahmen haben im Au- ge der Haftumstände wie gezielter Einzel- und Mas-
gust 2010 begonnen und werden im Sommer 2011 sentötungen. Für die überwiegende Mehrzahl der
abgeschlossen sein. Im Anschluss daran erfolgt die GedenkstättenbesucherInnen steht der Besuch des
Umsetzung der Ausstellungsgestaltung. „Tötungsbereichs“ im Keller des Reviergebäudes im
Zweck der „Überblicksausstellung“ im Erdgeschoß Mittelpunkt des Interesses. Die zentrale Zielsetzung
des Reviergebäudes ist es, den BesucherInnen einen der Ausstellung ist daher die inhaltliche Vorbereitung
kompakten Einblick in die Geschichte des Konzent- auf den Besuch dieses Bereichs. Da das weitgehend
rationslagers Mauthausen zu bieten. Neben der Dar- original erhaltene Raumensemble von ausführlichen
stellung der Entwicklung des KZ Mauthausen-Gusen Beschriftungen und Kommentierungen möglichst frei
sowie der Außenlager wird die Kontextualisierung gehalten werden soll, muss eine inhaltliche Erklärung
Mauthausens im Rahmen der NS-Verfolgungspolitik und Kontextualisierung in der künftigen Ausstellung
im Speziellen und der Geschichte von 1933 bis 1945 „Massenvernichtung im Konzentrationslager Mauthau-
im Allgemeinen wesentlich sein. Eine wichtige Er- sen“ geleistet werden. Der Besuch der Ausstellung wird
gänzung zu diesem auch strukturgeschichtlichen An- daher einer Besichtigung des ehemaligen „Tötungsbe-
satz ist die Darstellung der Existenzbedingungen der reichs“ vorgeschaltet sein. Inhaltlich liegt ihr Schwer-
Häftlinge aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive. 3
punkt auf den schriftlichen, dinglichen Quellen und
Die Ausstellung greift dazu die vorhandene dreitei- vor allem baulichen Relikten, welche den Massenmord
lige Raumstruktur des Gebäudes auf und gliedert sich dokumentieren. Dadurch soll die Ausstellung nicht
inhaltlich und räumlich in drei Ebenen der Erzählung nur über die in Mauthausen geschehenen Verbrechen
und vier chronologische Phasen. Dies sind erstens die aufklären, sondern auch die Frage thematisieren, auf
Gründungsphase des KZ Mauthausen, zweitens die welche Weise das Wissen um die Massenmorde im KZ
Phase der Internationalisierung der Häftlingsgesell- Mauthausen überliefert wurde.4
schaft und Radikalisierung der Tötungen durch die Nach der themenzentrierten Ausstellung „Mas-
SS, drittens die Phase der verstärkten Ausbeutung der senvernichtung im Konzentrationslager Mauthausen“
Häftlingszwangsarbeit und viertens die Phase der Auf- besteht für BesucherInnen die Möglichkeit einer Be-
lösungsprozesse sowie der Befreiung des Lagers. Die- sichtigung des ehemaligen „Tötungsbereichs“. Bis zum
se Entwicklungsphasen werden in Anlehnung an die Beginn der Baumaßnahmen im Reviergebäude konn-
dreiteilige Gebäudestruktur zusätzlich in drei Erzähle- ten die teilweise sehr engen und kleinteiligen Räum-
benen unterteilt. Die erste Ebene stellt die Geschichte lichkeiten von mehreren Seiten gleichzeitig begangen
des KZ Mauthausen aus primär ereignisgeschichtlicher werden. Die große Zahl an BesucherInnen, die sich hier
Perspektive dar. Die zweite Erzählebene bildet die his- zudem längere Zeit aufhalten, ist in diesen Örtlichkeiten
torischen und ideologischen Rahmenbedingungen sowohl aus pädagogischen, wie auch aus Pietätsgrün-
und deren Auswirkungen auf die Entwicklung des KZ den problematisch. Gleichzeitig werden dadurch, wie
Mauthausen ab. Die dritte Ebene schließlich erzählt bauarchäologische Untersuchungen ergeben haben,

101
Die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – erste Schritte 2010

die baulichen Spuren des Massenmords – wie etwa im 1 Vgl. zu den Fortschritten der Pädagogik in der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen den Artikel von Yariv Lapid, Christian Angerer und Ma-
Fall der noch vorhandenen Fundamente des zweiten
ria Ecker in diesem Band.
Krematoriumsofens – allmählich zerstört. Um diesen
2 Die Burghauptmannschaft Österreich, eine Behörde des Wirtschafts-
Problemen entgegenzuwirken, wird eine neue Weg- ministeriums, ist für die Verwaltung und Betreuung der historischen
führung durch diesen Bereich entwickelt, welche zwar Gebäude im Besitz der Republik Österreich verantwortlich. Das Bun-
die Begehbarkeit einzelner Räume wie beispielsweise desministerium für Inneres ist Nutzer und zuständig für den Betrieb

der Gaskammer einschränkt, aber den BesucherInnen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.


3 Bundesministerium für Inneres (Hg.): mauthausen memorial neu ge-
die Sicht von außen in diese Bereiche immer noch er-
stalten. Rahmenkonzept für die Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte
möglicht. Dadurch soll sowohl eine der Bedeutung der Mauthausen (Wien 2009), S. 31f.
Räumlichkeiten angemessene Begehung, als auch der 4 Ebd., S. 34.
Schutz der Bausubstanz gewährleistet werden.5 5 Ebd., S. 16f.

In Zusammenhang mit der Neugestaltung des ehe-


maligen „Tötungsbereichs“ als „Pietätsbereich“ steht
auch die Einrichtung eines neuen Gedenkraums. Die
bis jetzt bestehenden Gedenkbereiche in der KZ-Ge-
denkstätte sind entweder kollektiven, zumeist natio-
nalen Opfergruppen gewidmet, oder erinnern in indi-
vidueller Form an im Lager verstorbene Personen. In
dem neuen Gedenkraum mit dem Arbeitstitel „Raum
der Namen“ soll auch Opfern gedacht werden, die bis-
her in keiner Form explizit Berücksichtigung gefunden
haben. Durch Darstellung der Namen sämtlicher Opfer
wird diesen in ihrer Individualität gedacht und eine er-
neute Hierarchisierung vermieden, während zugleich
die Massenhaftigkeit des Tötens im Lager verdeutlicht
wird. Die bereits bestehenden Gedenkräume werden
bis auf einige zurückhaltende Gestaltungsmaßnahmen
unverändert bleiben.
Die Auswahl der AusstellungsgestalterInnen erfolgte
durch einen zweistufigen, nicht-offenen Wettbewerb,
an dem BewerberInnen aus dem gesamten EU-Raum
teilnehmen konnten. In einer ersten Stufe mussten
sie an Hand von bereits realisierten Referenzprojekten
ihre berufliche Eignung beweisen. Mittels eines ob-
jektivierten Bewertungssystems wurde eine Reihung
durchgeführt und die fünf besten BewerberInnen zur
Abgabe einer Wettbewerbsarbeit eingeladen, die dann
eine ExpertInnen-Jury beurteilte. Den Zuschlag für den
Auftrag erhielt die Arbeitsgemeinschaft argeMarie, ein
Team von Linzer Architekten und Künstlern. n

102
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Gerhard Hörmann

BesucherInnenstatistiken 2010

BESUCHERiNNEN 2010
Anzahl der BesucherInnen der Gedenkstätte im Jahr 2010. Die Mehrheit der insgesamt 184 194 BesucherInnen
waren mit 91 648 Personen SchülerInnen aus dem In- und Ausland.

Erwachsene 53 368

Kinder/Senioren 11 987

Familien 12 376

inländ. SchülerInnen 53 796

ausländ. SchülerInnen 37 852

Bundespolizei 359

Bundesheer 292

Delegationen 3 714

Veranstaltungsteiln. 10 450

0 10 000 20 000 30 000 40 000 50 000 60 000

n Zahlende BesucherInnen n VeranstaltungsteilnehmerInnen, davon:


n Nicht zahlende BesucherInnen Führungen 2 215
BesucherInnen gesamt: 184 194 Filmvorführungen 1 351

ENTWICKLUNG DER BESUCHERiNNENZAHLEN (2000–2010)


Entwicklung der Gesamtzahl der BesucherInnen der Gedenkstätte von 2000 bis 2010. Die hohe Zahl im Jahr 2005 ist auf das
60. Jubiläum der Befreiung des KZ Mauthausen zurückzuführen.

2010 184 194


2009 187 146
2008 189 021
2007 192 478
2006 206 600
2005 233 594
2004 210 364
2003 186 435
2002 187 752
2001 197 252
2000 209 756

0 50 000 100 000 150 000 200 000 250 000

103
BesucherInnenstatistiken 2010

B E S U C H E R i N N E N N A C H M O N AT E N
Anzahl der BesucherInnen nach Monaten im Jahr 2010 (nach gelösten Tickets). Die Zahl der gelösten Tickets liegt aufgrund der
„Einfachzählung“ von Familientickets unter der realen Gesamtzahl der BesucherInnen. Gesamt (Tickets): 174 912.

35 000
30 026
30 000
24 552
25 000 23 578
20 456 20 600
20 000 17 817

15 000

10 000 8 756 8 469


6 654 6 939

5 000 3 242 3 823

0
Jän Feb Mä Ap Ma Jun Jul Au S ep Ok No De
ne rua rz ril i2 i2 i2 gu te m to b ve m ze m
r2 r2 20 20 01 01 01 st 2 be er be be
01 01 10 10 0 0 0 01 r2 20 r2 r2
0 0 0 01 10 01 01
0 0 0

VERGLEICH DER SCHÜLERiNNENZAHLEN INLAND/AUSLAND


Vergleich der SchülerInnenzahlen aus dem In- und Ausland. Insgesamt wurde die Gedenkstätte 2010 von 53 796 SchülerInnen aus
österreichischen Schulen und 37 852 SchülerInnen aus ausländischen Schulen besucht.

16 000 n SchülerInnen Inland


13 762
1 948 n SchülerInnen Ausland
14 000

12 000 7 981
10 029
10 485
9 705 9 117
10 000 3 169

8 000
2 733
6 000 5 063
3 254
1 687 2 748
4 000 1 721 1 884
1 312
565 548 1 623
2 000 26 831
698 694
65
0
Jän Feb Mä Ap Ma Jun Jul Au S ep Ok No De
ne rua rz ril i2 i2 i2 gu te m to b ve m ze m
r2 r2 20 20 01 01 01 st 2 be er be be
01 01 10 10 0 0 0 01 r2 20 r2 r2
0 0 0 01 10 01 01
0 0 0

104
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

S C H Ü L E R i N N E N ( I N L A N D ) N A C H S C H U LT Y P
Anzahl der SchülerInnen österreichischer Schulen, die 2010 die Gedenkstätte besucht haben, nach Schultyp.

Allgemeinbildende Höhere Schulen 16 125

Allgemeine Sonderschulen 1 095

Berufsbildende Höhere Schulen 4 793

Berufsschulen 2 421

Hauptschulen 28 502

Pädagogische Akademien 40

Polytechnische Lehrgänge 315

Universitäten 505

0 5 000 10 000 15 000 20 000 25 000 30 000

SCHÜLERiNNEN (INLAND) NACH BUNDESLAND


Anzahl der besuchenden SchülerInnen österreichischer Schulen nach Bundesland.

Burgenland 1 322

Kärnten 2 638

Niederösterreich 9 425

Oberösterreich 14 916

Salzburg 4 198

Steiermark 6 893

Tirol 3 285

Vorarlberg 2 616

Wien 8 503

0 2 500 5 000 7 500 10 000 12 500 15 000

105
Befreiungsfeiern 2010

Verena Kaselitz/Willi Mernyi

Befreiungsfeiern 2010

Nicht nur für die Überlebenden des KZ-Mauthausens ist die alljährliche Befreiungsfeier ein sehr bewegendes Ereignis
(© Mauthausen Komitee Österreich/Christa Bauer).

D as Erinnern an das Schicksal der Tausenden im KZ


Mauthausen inhaftierten und ermordeten Kinder
und Jugendlichen stand im Mittelpunkt der Befreiungs-
hausen und vor allem in Gusen angelernt. Ab dem
Herbst 1943 wurden jugendliche Häftlinge aber auch
zur Arbeit in der Rüstungsindustrie und beim Stollen-
und Gedenkfeiern 2010. Die ersten jugendlichen Häft- bau gezwungen. In den letzten Monaten vor der Be-
linge kamen im Sommer 1940 nach Mauthausen, junge freiung kamen mit den Evakuierungstransporten aus
Republikanische Spanier, zwischen 13 und 18 Jahren anderen Konzentrationslagern noch hunderte Kinder
alt, die in Frankreich verhaftet worden waren und von und Jugendliche nach Mauthausen. Bei der letzten sta-
der SS als „Rotspanier“ kategorisiert wurden. Ab 1943 tistischen Erfassung der Mauthausener Häftlinge durch
wurden zahlreiche polnische und vor allem sowje- die SS am 31. März 1945 wurden 15 046 Häftlinge unter
tische Jugendliche eingewiesen, die in den besetzten 20 Jahren gezählt.
sowjetischen Gebieten als Arbeitskräfte zwangsrekru- 65 Jahre nach der Befreiung des KZ Mauthausen
tiert und nach Deutschland deportiert worden waren. wurde nicht nur der jungen Menschen und ihrem Leid
Viele der spanischen, sowjetischen und polnischen ju- in den Jahren des NS-Terrors gedacht; Europas heutige
gendlichen Häftlinge wurden als Steinmetze in Maut- Jugend war eingeladen, sich mit ihren Ideen und Mei-

106
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Jugendliche trugen ein 50 Meter langes Gedenkband, das sie im Rahmen einer Jugendbegegnung am Vortag gestaltet hatten, vom Steinbruch über
die Todesstiege auf den Appellplatz (© Mauthausen Komitee Österreich/Christa Bauer).

nungen an der Gestaltung der Gedenkveranstaltungen International de Mauthausen, um sich mit dem Ver-
zu beteiligen. Junge Menschen aus Österreich und mächtnis der Mauthausen-Häftlinge an die Jugend Eu-
Europa trafen sich daher bereits am Tag vor der Inter- ropas und der Welt zu wenden: „Die Überlebenden der
nationalen Befreiungsfeier in Mauthausen, um sich in Konzentrationslager sind heute kaum mehr in der Lage,
Workshops mit dem Schwerpunktthema auseinander- ihren Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut fort-
zusetzen. Unter dem Motto „Zeichen setzen. Jugendli- zuführen. Sie werden daher ihr Vermächtnis und ihren
che gegen das Vergessen“ gestalteten sie ein 50 Meter Auftrag für eine offene und tolerante Gesellschaft an
langes Gedenkband, das unmittelbar vor der Haupt- die europäische Jugend weitergeben. Sie muss sensi-
veranstaltung auf der Todesstiege im Steinbruch in bilisiert werden und muss die Möglichkeit haben, offen
Anwesenheit von über 1 000 Jugendlichen entrollt und für eine demokratische und gegen eine rechtsextreme
anschließend auf den Appellplatz getragen wurde. Gesellschaftsform einzutreten.“ Die Vorsitzende der
Die Anwesenheit von mehr als 10 000 Besucher- Bundesjugendvertretung, Rodaina El Batnigi, nahm
Innen aus ganz Europa, unter ihnen tausende Jugend- diesen Auftrag stellvertretend für die Jugend von heu-
liche, nutzte Dušan Stefančič, der Präsident des Comité te an und versprach: „Wir wollen die Erinnerung der

107
Befreiungsfeiern 2010

Überlebenden weitertragen. Dass Vergangenes nicht Aufforderung, Maßnahmen gegen Rechtsextremismus


einfach vergessen werden darf, zeigen Vorfälle an Or- in Europa zu ergreifen und hier vor allem der Aufklä-
ten der schlimmsten Gräuel der Geschichte, bei denen rung von Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit zu wid-
Hassparolen kundgemacht und an Wände geschmiert men. „Für die heutige europäische Jugend ist die Zeit
wurden, sogar hier in Mauthausen. Solche Aktionen des Nationalsozialismus längst vergangene Geschichte
dürfen nicht einfach beiseite gewischt werden. Ge- ohne direkt erkennbaren Zusammenhang mit aktuellen
schichte muss immer wieder thematisiert werden, das Entwicklungen. Es müssen daher europaweite und
zeigen jüngste Tendenzen, wo das Verbotsgesetz und koordinierte Anstrengungen unternommen werden,
der antifaschistische Grundkonsens öffentlich ange- über die schulische und außerschulische Erziehung
zweifelt werden. Wir sagen hier eindeutig: Stopp!“ und Vermittlung ein Sensorium bei den jungen Men-
Zu den Ehrengästen der Befreiungsfeier zählte die schen zu schaffen, welches die Erkenntnisse aus der
Repräsentantin des EU-Ratsvorsitzlandes, die spanische Geschichte in die Gegenwart übertragen kann. Es geht
Vizepräsidentin Maria Teresa Fernández de la Vega, der hier nicht bloß um Geschichtsunterricht oder um die
ein Memorandum an die EU übergeben wurde mit der historischen Bezüge. Vielmehr sind es die Schlussfolge-
rungen aus der Geschichte und ihre Auswirkungen auf
das Heute, die es gemeinsam zu bewältigen gilt.“
Willi Mernyi, der Vorsitzende des Mauthausen Ko-
mitee Österreich (MKÖ), appellierte zum Schluss der
Übergabe eines Memorandums an die spanische Vizepräsidentin
Maria Teresa Fernández de la Vega (© Mauthausen Komitee Österreich/
Veranstaltung: „Nur wenn dem Rechtsextremismus
Christa Bauer). die gesellschaftliche Basis entzogen wird, nur wenn es
eine europäische Jugend gibt, die sich nicht mit die-
sen verbrecherischen Ansichten identifiziert, nur dann
wird es möglich sein, sich erfolgreich für ein offenes
und tolerantes Europa einzusetzen.“
Neben der Hauptfeier in der KZ-Gedenkstätte Maut-
hausen fanden weitere 49 Veranstaltungen an den Or-
ten der Nebenlager des KZ Mauthausen bzw. an an-
deren Schauplätzen von NS-Verbrechen in Österreich
statt, organisiert von im MKÖ vernetzten Vereinen und
Initiativen. Die Vielzahl dieser Veranstaltungen ist vor
allem dem – meist ehrenamtlichen – Engagement von
Menschen aus verschiedensten Bereichen der Gesell-
schaft zu verdanken, die mit einer breiten Palette von
Aktivitäten gegen das Vergessen und für ein „Niemals
Wieder“ eintreten.
Dankenswerterweise wurden die Veranstaltungen
durch das Bundesministerium für Inneres, die Europä-
ische Kommission und zahlreiche SpenderInnen finan-
ziell unterstützt. n

108
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Andreas Kranebitter

Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen


Rückblick 2010

D as Hauptaugenmerk der Arbeiten im Archiv der


KZ-Gedenkstätte Mauthausen lag im Jahr 2010
auf den Vorbereitungen für die neue „Überblicksaus-
ter Testversuch der „META-Datenbank“ vollendet wer-
den, in der die Daten der Häftlinge des KZ Mauthausen
aus unterschiedlichen Datenbanken zusammenge-
stellung“ im ehemaligen Reviergebäude, deren Eröff- führt werden. Gegenwärtig umfasst die „META-Daten-
nung für 2013 vorgesehen ist. Datenbankprojekte und bank“ des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Bestandserweiterungen wurden im Hinblick auf die 158 469 männliche Häftlinge des KZ-Komplexes Maut-
Bedürfnisse der neuen Ausstellung reorganisiert sowie hausen, die in einem vierstufigen „Matching-Verfah-
Recherche- und Forschungsprojekte begonnen, die ren“ aus derzeit vier verschiedenen Datenbanken mit
vorhandene Forschungslücken zum KZ Mauthausen insgesamt 225 133 Einträgen identifiziert wurden.
und seinen Außenlagern füllen sollen. Probleme, die im Rahmen des Testversuchs ermittelt
wurden, konnten gelöst sowie notwendige Adaptions-
Datenbanken arbeiten bereits vorgenommen werden, sodass der
erste „Hauptversuch“ noch 2011 startet.
Nach finanziellen und technischen Problemen im Im Rahmen des Projekts „Dateneingabe“ konnten
Jahr 2009 konnte im Sommer und Herbst 2010 ein ers- zum einen die 2009 begonnene „Zugangslistendaten-

109
Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – Rückblick 2010

bank“ – basierend auf Zugangslisten der Jahre 1938 der KZ-Gedenkstätte Mauthausen von Thomas Punken-
bis 1942 zur Schließung der Dokumentationslücken hofer, dem Bürgermeister der Gemeinde Mauthausen,
der Frühphase – fertig eingegeben, zum anderen die zur Sichtung übergeben. Noch im Jahr 2010 konnte mit
„Totenbücherdatenbank“ – basierend auf den Toten- der Digitalisierung des Bestands begonnen werden.
büchern der SS-Standortärzte Mauthausen, Gusen und Von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz beim Do-
dem Totenbuch sowjetischer Kriegsgefangener – fertig kumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes
korrigiert werden. Korrekturen wurden auch an der al- erhielt das Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
ten „Häftlingsdatenbank“ vorgenommen. eine große Anzahl Akten von Gerichtsprozessen des
Die webbasierte Programmierung des Projekts Volksgerichts Wien, die 1945 und 1955 im Zusammen-
„Zentrale Archivdatenbank“, die eine einfach zu bedie- hang mit Verbrechen innerhalb des KZ-Komplexes
nende Suchmaschine über die Bestände des Archivs Mauthausen-Gusen geführt wurden. Die Auswahl ver-
der KZ-Gedenkstätte Mauthausen bieten soll, konnte vollständigt die im Archiv der KZ-Gedenkstätte Maut-
ebenfalls noch im Jahr 2010 fertig gestellt werden. hausen bereits vorhandenen Volksgerichtsakten.
In einer ersten Testphase wird die Zentrale Archiv-
datenbank von MitarbeiterInnen des Archivs der KZ- Erschließungsprojekte
Gedenkstätte Mauthausen verwendet; Schritt 2 sieht
die Benutzung durch BesucherInnen des Archivs und Nach der Indizierung und inhaltlichen Beschlag-
der Gedenkstätte Mauthausen vor, Schritt 3 die web- wortung des über 7 000 Seiten zählenden Dachauer
basierte Nutzung durch einen – allerdings zunächst Mauthausen-Haupt-Prozesses („Main Case“) in den
redaktionell freigeschalteten – NutzerInnenkreis. vergangenen Jahren konnten 2010 beinahe drei Viertel
der gesamten Dachauer Mauthausen-Prozesse durch
Austausch mit anderen Institutionen Personen- und Ortsindices indiziert und inhaltlich be-
und Bestandserweiterungen schlagwortet werden. Es handelt sich dabei um insge-
samt 61 Prozesse mit Ermittlungen gegen insgesamt
Eine der größten Erweiterungen der Bestände im 367 Angehörige der Kommandanturabteilungen des
Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen wurde durch KZ Mauthausen, die zentrale Funktionen innehatten.
eine Kooperation mit dem Państwowe Muzeum Ausch- Begonnen wurde auch die inhaltliche Beschlagwor-
witz-Birkenau erreicht. Im März 2010 konnten mit der tung von publizierten wie auch unpublizierten Erinne-
Gedenkstätte Auschwitz Daten und elektronische Do- rungsberichten ehemaliger Häftlinge des KZ Mauthausen.
kumentenkopien ausgetauscht werden. Das Archiv der Im Zuge dessen wurden sämtliche vorhandenen Erinne-
KZ-Gedenkstätte Mauthausen erhielt auf diese Weise rungsberichte im Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthau-
die Scans von über 5 000 Seiten an Veränderungsmel- sen gesichtet; eine Auswahl daraus wurde schließlich mit
dungen und Zugangslisten, beinahe 30 000 Häftlings- Hilfe eines eigens dafür erarbeiteten Schlagwortkatalogs
personalkarten sowie Datenbanken mit über 100 000 orts-, personen- und sachbezogen indiziert.
Einträgen. Der Austausch war Teil eines Kooperati-
onsabkommens, demzufolge es auch in den nächsten Oral-History-Projekte
Jahren zu verstärkter Zusammenarbeit zwischen den
beiden Institutionen kommen soll. Eine wesentliche Vorbereitungsarbeit für die im
Ein inhaltlich wertvoller Bestand an etlichen Ord- Entstehen begriffene Überblicksausstellung ist die
nern unterschiedlichster Dokumente, vor allem Pläne Sichtung, Auswahl und Beschlagwortung der vorhan-
der Steinbruchbetriebe in Mauthausen und Gusen aus denen Videointerviews mit ehemaligen Häftlingen des
der unmittelbaren Nachkriegszeit, wurde dem Archiv KZ Mauthausen. Knapp 100 Interviews des „Mauthau-

110
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

sen Survivors Documentation Project“ (MSDP) wur-


den 2002 und 2003 auf Video aufgezeichnet; für die
Ausstellung gilt es nun, unter Berücksichtigung der
Verteilungen nach Geschlecht, Herkunft und Deporta-
tionswegen aus dem vorhanden Material eine Auswahl
zu treffen und inhaltlich aufzubereiten. Mit dieser Auf-
gabe wurde Regina Fritz betraut, die bereits jahrelange
Erfahrung mit dem Interviewbestand gesammelt hat. Dokument aus dem Mauthausen-Bestand des Museums Auschwitz-
Im September 2010 führten Gregor Holzinger und Birkenau, das sich in Kopie nun auch im Archiv der KZ-Gedenkstätte
Stefan Hördler ein insgesamt elfstündiges Interview Mauthausen befindet (© Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau).

mit Franz Doppelreiter, einem ehemaligen SS-Unter-


scharführer im Verwaltungsdienst der Politischen Abtei-
lung des KZ Mauthausen. Es ist das erste von Mitarbeiter- Unzahl von zu klärenden Fragen auf, zudem gilt es im
Innen des Archivs durchgeführte lebensgeschichtliche Hinblick auf die Dauerausstellung relevantes Ausstel-
Interview mit einem SS-Mitglied der Kommandantur lungsmaterial zu sichten.
des KZ Mauthausen, dem – so bleibt zu hoffen – künftig Ein eigenes Rechercheprojekt, durchgeführt von
weitere derartige Interviews folgen werden. Alfons Adam, widmete sich der Suche nach jenen Ar-
Bernhard Mühleder und Franz Pötscher führten im tefakten des KZ Mauthausen, die unmittelbar nach der
Jahr 2010 insgesamt 20 Interviews mit ZeitzeugInnen Befreiung von ehemaligen Häftlingen in die Tschecho-
aus dem regionalen Umfeld des KZ Mauthausen. Diese slowakei mitgenommen worden waren. In verschie-
Interviews ergänzen den Interview-Bestand im Archiv denen tschechischen Institutionen, Publikationen und
der KZ-Gedenkstätte Mauthausen um die Perspektive ehemaligen Ausstellungen – so unter anderem in den
der AnrainerInnen. Unterlagen der ersten tschechoslowakischen Nach-
kriegsausstellung, der Zeitschrift des Verbands ehema-
Recherche- und Forschungsprojekte liger tschechischer Häftlinge, sowie in den Beständen
des Tschechischen Militärgeschichtlichen Forschungs-
Ende 2010 gelangte der zweite Teil der von Helga amts, des tschechischen Verbands der Freiheitskämpfer
Amesberger und Brigitte Halbmayr (Institut für Kon- und der Gedenkstätte Terezín – wurde nun dem Verbleib
fliktforschung) durchgeführten Studie „Frauen in Maut- der Gegenstände nachgegangen, die für die geplanten
hausen“ zum Abschluss. Arbeitsschwerpunkte waren Ausstellungen von großem Interesse sein werden. Die
die möglichst vollständige Erfassung der Daten und die Gedenkstätte Terezín hat diesbezüglich dankenswerter-
Analyse lebensgeschichtlicher Interviews weiblicher weise bereits Kooperationsbereitschaft hinsichtlich der
Häftlinge des KZ Mauthausen sowie die Erforschung der Möglichkeit von Dauerleihgaben signalisiert.
„Frauen-Außenlager“ und die Kontextualisierung der Ver- Die beschriebenen Projekte fanden neben den Vorar-
folgungsgeschichten (siehe dazu den Artikel von Helga beiten zur Neugestaltung statt, die die MitarbeiterInnen
Amesberger und Brigitte Halbmayr in diesem Band). des Archivs auch im Jahr 2010 mehrheitlich beschäftigt
Ende Dezember 2010 konnte mit Reinhard Otto und haben. Es ist wichtig, dass die umfangreichen Tätigkeiten
Tatiana Szekely ein Forschungsprojekt zu den – in der des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen – trotz
Forschung zu Mauthausen allzu oft vernachlässigten und gerade wegen der Neugestaltung der Gedenkstät-
– sowjetischen Kriegsgefangenen begonnen werden. te – weiterhin am Laufen bleiben, um den Bestand des
Die völlig unterschiedlichen Deportationswege und Archivs stetig zu erweitern, zugänglich zu machen und
Haftbedingungen der Kriegsgefangenen werfen eine nicht zuletzt wissenschaftlich aufzuarbeiten. n

111
Die Bibliothek der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Katharina Czachor

Die Bibliothek
der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

zeit einen Bestand von etwa 5 000 Medieneinheiten,


die sich aus Monografien, Sammelwerken, fachspe-
zifischen Zeitschriften, Presseartikeln, antiquarischen
Werken sowie themenspezifischen Videos und DVDs
zusammensetzt und laufend aktualisiert wird. Auch der
Bestand der Bibliothek im Offenen Archiv des Besu-
cherzentrums der Gedenkstätte konnte 2010 deutlich
aufgestockt werden.
Die permanente Erweiterung der Bibliothek in Wien
wie auch im Besucherzentrum Mauthausen orientiert
sich an den jeweiligen aktuellen Forschungsentwick-
lungen in diesen Themenbereichen. Die Zeitschrif-
tensammlung der Bibliothek des Archivs der KZ-Ge-
denkstätte Mauthausen konnte durch eine großzügige
Spende von Florian Freund wesentlich erweitert wer-
den, wodurch sich einige Lücken schließen.
Die Nutzung der Internet-Zeitschriftendatenbank
„Journal Storage“ (JSTOR), die im Archiv der KZ-Ge-
denkstätte Mauthausen seit Oktober 2007 in Gebrauch
ist, wurde auch 2010 wieder verlängert. Sowohl Mit-
Bibliothek der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Wien arbeitenden wie auch BesucherInnen steht die Be-
(© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus). nützung der Datenbank von Hunderten Zeitschriften,
deren ältere Jahrgänge in diesem Projekt vollständig
erfasst sind, zur Verfügung.
Auf diesem Wege möchten wir uns ganz herzlich
bei all jenen Personen und Institutionen bedanken, die

D ie Präsenzbibliothek des Archivs der KZ-Gedenk-


stätte Mauthausen, deren Standort im Bundesmi-
nisterium für Inneres in Wien ist, steht BesucherInnen
für die Erweiterung sowohl der Bibliothek des Archivs,
als auch des Besucherzentrums durch die Übermitt-
lung von Belegexemplaren und Medien aller Art einen
nach Voranmeldung zur Verfügung. sehr wertvollen Beitrag leisten. n
2010 konnte die Bibliothek um etliche Werke zu den
Themen Geschichte des Konzentrationslagers Maut-
hausen und seiner Außenlager, NS-Lagersystem, Ho-
locaust, Genozid, Nachkriegsgeschichte, Aufarbeitung
und Gedenkstätten erweitert werden. Sie umfasst der-

112
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Christine Schindler

Das Internationale Forum Mauthausen zur


Beratung der Bundesministerin für Inneres 2010

S eit 2004 treffen die Mitglieder des Internationa-


len Forums Mauthausen (IFM) zur Beratung der
Bundesministerin für Inneres in grundsätzlichen Ange-
legenheiten der KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Maut-
hausen Memorial zweimal jährlich zusammen, um mit
den VertreterInnen der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
und eingeladenen ReferentInnen zu den verschiedenen
die Gedenkstätte betreffenden Fragen und Vorhaben
zu diskutieren und die Sicht und die Anliegen der Über-
lebendenverbände, wissenschaftlicher Institutionen
und Staaten, aus denen Menschen nach Mauthausen
verschleppt worden waren, einzubringen. Im Juni 2010
tagte das IFM zum zweiten Mal im Vorfeld des Dialog-
forums Mauthausen im Besucherzentrum der KZ-Ge-
denkstätte Mauthausen, das sich 2010 mit dem Thema
„Vermittlung am historischen Ort“ auseinandersetzte
und an dem viele IFM-Mitglieder teilnahmen. Eine wei-
tere Sitzung des IFM fand im Jänner 2011 in Wien statt.
Die VertreterInnen der für die KZ-Gedenkstätte Maut-
hausen zuständigen Abteilung IV/7 im Bundesministe-
rium für Inneres (BM.I) – insbesondere Abteilungsleite- Tagung des Internationalen Forums Mauthausen in der
rin Barbara Glück, Christian Dürr, Stephan Matyus sowie KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Juni 2010 (© Bundesministerium
für Inneres/Stephan Matyus).
der pädagogische Leiter der Gedenkstätte, Yariv Lapid
– berichteten den IFM-Mitgliedern ausführlich von den
Arbeiten und Vorhaben in Mauthausen, den Außenla-
gern und im Wiener Archiv.
– nicht zuletzt angesichts der Wahlerfolge rechter
Arbeit mit jungen Menschen Parteien in ganz Europa. In diesem Zusammenhang
unterstützt das IFM auch alle Anstrengungen, die
Vor dem Hintergrund der Vorfälle in Ebensee Gedenkstätte vor Vandalenakten zu schützen, wie sie
während der Befreiungsfeiern 2009, als Jugendliche in den letzten Jahren vorgekommen sind. Das IFM
KundgebungsteilnehmerInnen angriffen, und der begrüßt daher ausdrücklich die Fortschritte in der
rechtsextremen Szene, die unter anderem um Ebensee pädagogischen Arbeit, die Yariv Lapid in Mauthausen
Jugendliche rekrutiert, legen die IFM-Mitglieder be- koordiniert und voranbringt. Die Professionalisierung
sonderes Augenmerk auf die Arbeit mit Jugendlichen der Vermittlung und die Erweiterung des Angebots

113
Das Internationale Forum Mauthausen zur Beratung der Bundesministerin für Inneres 2010

sind eng verknüpft mit der Neugestaltung der KZ-Ge- Polen, Russland, Tschechien und Ungarn zu seinen
denkstätte. Hierbei ist die Bedeutung des Bookshops aktivsten Mitgliedern zählen. Die IFM-Mitglieder aus
im Besucherzentrum sicher nicht gering zu schätzen, sämtlichen vertretenen Nationen sowie die Vertreter-
der mit seinem Angebot auch die BesucherInnen aus Innen der Gedenkstätte schlossen sich Dockendorfs
dem Ausland erreichen soll. Anliegen ausdrücklich an, internationale Netzwerke
Das im Zuge des Dialogforums als Pilotprojekt weiterhin dichter zu knüpfen.
durchgeführte „Junge Forschungsforum Mauthausen“,
das auch dieses Jahr wieder stattfinden wird, fand im Das Anliegen der Überlebenden:
IFM ungeteilte Zustimmung, da es die Nachwuchs- Die Aschenhalde
wissenschafterInnen zusammenbringt und zu For-
schungen über Mauthausen motiviert. Immer wieder erinnern IFM-Mitglieder und Vertre-
In diesen Bereich der Kontaktnahme zu jungen terInnen des Internationalen Mauthausen Komitees an
Menschen kann man auch die jährliche Filmretrospek- die Bedeutung der Aschenhalde, insbesondere Paul
tive einreihen, die IFM-Mitglied Frank Stern von der Le Caër mahnte eindringlich: „Die Aschenhalde ent-
Universität Wien in Kooperation mit dem BM.I in Maut- hält die Aschen von mehr als 30 000 Opfern […]. Die
hausen und Wien veranstaltet. Die jedes Jahre zu einem verschiedenen Photos, die ich dem Ministerium zuge-
Schwerpunkt – 2010 war das eine Hommage an den stellt habe, zeigen, wie sehr der Ort, der hinter einer
Filmemacher Artur Brauner – ausgewählten Filme errei- Baumreihe verborgen liegt und regelmäßig von Besu-
chen Menschen aus allen Schichten und Altersklassen. chern zertrampelt wird, gelitten hat. Dies ist ein gehei-
ligter Ort, der unsere ganze Aufmerksamkeit verdient
Internationalisierung […].“ Für die Amicale des Déportés de Mauthausen
et ses kommandos sei die Aschenhalde bei den jähr-
Generaldirektor Guy Dockendorf, ehemaliger Ge- lichen Besuchen die erste Stelle des Gedenkens, bevor
neralkoordinator im luxemburgischen Kulturministe- man noch zu den Denkmälern gehe, berichtete einst
rium, ist die Internationalisierung aller Arbeiten über Patrice Lafaurie. Abteilungsleiterin Glück versicherte
den deutschsprachigen Bereich hinaus ein besonderes einmal mehr, dass die Aschenhalde im Zuge der Neu-
Anliegen, vor allem die Beachtung der länderspezi- gestaltung des gesamten Areals berücksichtig werde,
fischen Erfahrungen in Mauthausen, die in den neuen wie auch Bertrand Perz von der Universität Wien, der
Ausstellungen zur Geltung kommen müssen, in denen an der Neugestaltung mitwirkt, bestätigte.
keine deutsch-österreichische Sicht vorherrschen darf. Von den Aktivitäten der Abteilung IV/7 des BM.I, KZ-
Barbara Glück, Christian Dürr und Stephan Matyus Gedenkstätte Mauthausen, der Gedenkstätten vor Ort,
berichteten von vielen internationalen Kooperations- des Archivs und Fotoarchivs in Wien, vor allem auch
projekten und den vom BM.I publizierten Zeitzeu- von den Arbeiten der Sanierung der Bausubstanz in
gInnenberichten aus verschiedenen Ländern, auf die Mauthausen und den Vorarbeiten zur Neugestaltung
man zurückgreifen kann. Die Beiziehung deutscher zeigte sich IFM-Präsident Kurt Scholz im Einvernehmen
ExpertInnen resultiert aus dem Umstand, dass einige mit den Mitgliedern sehr beeindruckt. Das IFM wird
deutsche Gedenkstätten ihren Neugestaltungsprozess weiterhin die Arbeiten beratend begleiten. n
gerade abgeschlossen haben und ihre Expertise eine
wertvolle Hilfe darstellt.
Das IFM selbst ist ein Bestandteil des internationa-
len Netzwerkes der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und
darf Persönlichkeiten u. a. aus Frankreich, Luxemburg,

114
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Katharina Czachor

2. Dialogforum Mauthausen

Robert Jan van Pelt bei seinem Vortrag „Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die historische Bedeutung des Ortes“,
2. Dialogforum Mauthausen (© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

V on 8. bis 9. Juni 2010 fand das 2. Dialogforum


Mauthausen statt. Der diesjährige Schwerpunkt
wurde auf das Thema „Vermittlung am historischen
im Jahr 2000, ihre Vorträge zu den Themen „Umgang
mit Sachzeugnissen in der Gedenkstättenarbeit“ und
„Bedeutung des historischen Ortes“.
Ort“ gelegt und stand im Zusammenhang mit der Fünf Rundgänge thematisierten in Folge die unter-
Präsentation des neuen Vermittlungskonzeptes der schiedlichen Aspekte der Vermittlung am historischen
KZ-Gedenkstätte Mauthausen. An dem Forum, das im Ort. Claudia Theune-Vogt und Paul Mitchell stellten die
Besucherzentrum der Gedenkstätte stattfand, nahmen von ihnen durchgeführten archäologischen und bau-
über 90 ExpertInnen aus den unterschiedlichsten Fach- archäologischen Untersuchungen am ehemaligen La-
bereichen teil. gergelände vor. Die von der Arbeitsgruppe zur Neuge-
Nach einleitenden Worten von Barbara Glück hiel- staltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen konzipierte
ten Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenk- neue Wegführung durch die Gedenkstätte wurde von
stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Robert Franz Sonnenberger und Florian Freund, Mitglieder der
Jan van Pelt, Professor für Kulturgeschichte am Institut Arbeitsgruppe, präsentiert.
für Architektur der Waterloo University in Ontario und Yariv Lapid und Maria Ecker stellten das neue Ver-
Sachverständiger im Zivilprozess Irving gegen Lipstadt mittlungskonzept des pädagogischen Teams der Ge-

115
2. Dialogforum Mauthausen

denkstätte vor, indem sie mit den TeilnehmerInnen hard Jelinek, Sendungsverantwortlicher für „Menschen
ihres Rundgangs eine Führungssituation durch die Ge- & Mächte“ des Österreichischen Rundfunks (ORF).
denkstätte inklusive Vorbereitung und Nachbereitung Den Auftakt des zweiten Tages der Konferenz bil-
im Besucherzentrum nachstellten. deten die Vorträge von Barbara Glück zu den aktuellen
Jörg Skriebeleit und Harald Hutterberger fokussier- Projekten der Neugestaltung der KZ-Gedenkstätte
ten in ihrem Rundgang auf die nicht zugänglichen Räu- Mauthausen und von Yariv Lapid und Maria Ecker, die
me des ehemaligen KZ Mauthausen und ihre Notwen- das neue pädagogische Konzept der Gedenkstätte
digkeit bei der Vermittlung. Diese beinhalten einerseits präsentierten, welches von der 2008 ins Leben ge-
die derzeit zugänglichen, aber im Zuge der Neugestal- rufenen Arbeitsgruppe, bestehend aus Yariv Lapid,
tung nicht mehr begehbaren Räume wie Gaskammer, Christian Angerer, Maria Ecker, Adelheid Schreilechner
Krematoriumsbereich und Genickschussecke, anderer- und Franz Aigenbauer, im Zuge des Aufbaus der päda-
seits derzeit nicht zugängliche Räume wie das Häft- gogischen Infrastruktur der Gedenkstätte Mauthausen
lingsbordell, den Krautkeller und die SS-Duschen. entwickelt wurde.
Der Rundgang von Bertrand Perz und Bernhard Mühl- Im Anschluss an die Vorträge wurde in drei ver-
eder fand im „Bergkristall-Stollen“ statt, der eigens für schiedenen Panels über unterschiedliche Aspekte der
die TeilnehmerInnen des Dialogforums geöffnet wurde. Gedenkstättenpädagogik diskutiert. Vojtěch Blodig von
Den Abschluss des Tages bildete die Podiumsdis- der Gedenkstätte Theresienstadt und Thomas Sand-
kussion im Landhaus Linz mit dem Thema „‚Impfen’ Ge- kühler von der Humboldt Universität Berlin hielten
denkstätten gegen Rechtsextremismus?“, an der Wolf- ihre Vorträge zum Thema „Gedenkstättenpädagogik im
gang Quatember, Leiter der KZ-Gedenkstätte Ebensee, Spannungsfeld von Didaktisierung und Historisierung“,
Kurt Scholz, ehemaliger Stadtschulratspräsident Wien Uwe Neumärker von der Stiftung Denkmal für die er-
und Sonderbeauftragter der Stadt Wien für Restitu- mordeten Juden Europas und Andrzej Kacorzyk vom
tions- und Zwangsarbeiterfragen sowie Präsident des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau referierten
Internationalen Forum Mauthausen, Gerhard Botz, Ins- über Lern- und Bildungsziele der Gedenkstättenpäda-
titut für Zeitgeschichte an der Universität Wien, und gogik, und Alexander von Plato von der FernUniversität
Marianne Enigl, Redakteurin beim Nachrichtenmaga- in Hagen sowie der Überlebende Jozef Klat diskutier-
zin „profil“ teilnahmen. Die Diskussion moderierte Ger- ten zum Thema „Lebensbiographien und ‚Zeitzeugen-
schaft‘ als Medien der Geschichtsvermittlung in der
Gedenkstätte“.
Paul Mitchell, Claudia Theune und Gerhard Botz bei einem Rundgang Schließlich wurden die Panel-Ergebnisse von den
im Rahmen des Dialogforums, der die archäologischen und bauar- Panelvorsitzenden Maria Ecker, Uwe Neumärker (in
chäologischen Funde in den Jahren 2009 und 2010 zum Thema hatte Vertretung für Irene Leitner vom Lern- und Gedenkort
(© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).
Schloss Hartheim) und Heidemarie Uhl von der Aka-
demie der Wissenschaften in Wien präsentiert, die Ab-
schlussdiskussion moderierte Barbara Glück.
Wir danken den TeilnehmerInnen am 2. Dialogfo-
rum Mauthausen für ihr Interesse und dafür, dass durch
ihre Diskussionsbeiträge die Veranstaltung ein Forum
für produktiven Austausch von Erfahrungen und auch
Kritik sowie für die Vernetzung von unterschiedlichen
wissenschaftlichen Institutionen und Forschenden
sein konnte. n

116
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Josef Plaimer

Die Gedenkfeiern in
Eisenreichdornach/Amstetten

Gedenkfeiern in Eisenreichdornach/Amstetten, Mai 2010 (© Josef Plaimer).

D en Beginn der Gedenkenfeierlichkeiten in Am-


stetten, wie sie seit Jahrzehnten veranstaltet
werden, machten belgische StaatsbürgerInnen An-
Häftlinge des KZ Mauthausen und ihre Angehörigen
nicht nur zur offiziellen Feier nach Mauthausen, son-
dern auch nach Eisenreichdornach in Amstetten zum
fang der 1970er-Jahre mit einem Besuch des Waldes Bildstock und weiters zur Örtlichkeit der vormaligen
bei Eisenreichdornach (Gemeindegebiet Amstetten), Sandhöhlen nach Melk. Seit damals wurde eine ein-
in dem gegen Ende des 2. We0ltkriegs bei einem alli- fache Gedenkfeier zu einer ständigen Einrichtung, bei
ierten Fliegerangriff mehrere belgische Frauen getö- der auch die Stadt Amstetten unter dem damaligen
tet worden waren. Bürgermeister Josef Freihammer sofort mittat.
Soweit bekannt und durch Presseberichte doku- In Amstetten waren in den mittleren Märztagen
mentiert ist, kamen ab 1978, um den Tag der Befrei- 1945 Häftlinge des KZ Mauthausen zu Aufräumarbeiten
ung des KZ Mauthausen im Mai, ehemalige belgische im bombardierten Bahnhofsbereich und am östlich ge-

117
Die Gedenkfeiern in Eisenreichdornach/Amstetten

legenen Vorbahnhof eingesetzt worden, weil der Groß- Innen und – nicht zu vergessen – die Stadt Amstetten
angriff der amerikanischen Bomberflotte am 16. März mit einem Gedenken auch der zivilen Opfer (über 140
große Zerstörungen verursacht hatte. Dafür war eigens Tote), sowie insbesondere die Bevölkerung aus dem
ein Nebenlager (Männerlager) des KZ Mauthausen in Stadtteil Eisenreichdornach, die jedes Jahr immer sehr
Amstetten geschaffen worden. Die KZ-Häftlinge wur- zahlreich vertreten ist.
den einfach in den frei gewordenen Baracken des süd- Während meiner Amtsperiode als Stadtrat (1987-
lich der Ybbs gelegenen sogenannten „Militärlagers II“ 2000) hatte ich mehrmals die Gelegenheit, mit Über-
untergebracht, in denen der Boden betoniert worden lebenden des Bombardements zu sprechen. Von ihnen
war. Am 20. März 1945 waren eben diese KZ-Häftlinge erfuhr ich, dass die belgischen Frauen deswegen ins
– über 1000 Männer und Frauen1 – mit Aufräumarbei- KZ gekommen waren, weil sie in Belgien Zettel und
ten auf den Bahnanlagen beschäftigt, als die Alliierten Druckwerke verteilt oder Geld gesammelt hatten. Die
neuerlich einen Großangriff auf das Bahnhofsgelände Frauen waren damals großteils erst 18 bis 22 Jahre alt,
flogen. Kurz vor oder unmittelbar beim Angriff flüch- als sie von der SS in den Jahren 1944 und 1945 verhaf-
teten nun die KZ-Häftlinge, insbesondere belgische tet und nach Mauthausen gebracht wurden.
Frauen, vom Bahngelände in Richtung Norden in den Der Angriff auf den Bahnhof bzw. den östlichen Vor-
Wald, um Schutz zu suchen. Bomber- und Jägerpiloten bahnhof Amstetten in den letzten Kriegstagen wurde
der US Army, die diese Flucht beobachtet haben müs- deshalb geflogen, weil der große, rund 40-gleisige Vor-
sen, schossen mit Bordwaffen und warfen Bomben in bahnhof der letzte große Verschubbahnhof vor dem
den Wald, wobei es Dutzende Tote und eine sehr große östlichen Kriegsgebiet war. Hier in Amstetten wurden
Anzahl Schwerverletzter gab, die allesamt auf 13 Lei- die Nachschubzüge zusammengestellt und in die
terwagen in das 1,5 km entfernte Krankenhaus trans- Kampfgebiete im Osten gefahren.
portiert wurden. Die exakte Zahl der Toten ist nicht Amstetten hatte in den Kriegsjahren 1939 bis 1945
überliefert, es kann allerdings von 34 Toten und 50 bis insgesamt 266 Fliegeralarme und -angriffe erlebt. Da-
60 Verletzten ausgegangen werden.2 von galten insgesamt elf echte Angriffe von Novem-
Die jährlich stattfindenden Gedenkfeiern waren ber 1944 bis April 1945 dem Bereich der Stadt und des
eine ergreifende Gedenkstunde, vor allem, wenn die Bahnhofs. Nach dem großen Angriff vom 20. März 1945
Überlebenden des Angriffs ihre schrecklichen Erleb- gab es nur mehr einen größeren Angriff im April sowie
nisse erzählten. Im Laufe der letzten Jahre kamen aller- einen durch russische Tiefflieger am letzten Kriegstag,
dings immer weniger ZeitzeugInnen. Durch ihr zuneh- den 8. Mai 1945 im Bereich des Hauptplatzes. n
mendes Alter konnten manche nicht mehr mitfahren
oder verstarben im hohen Alter, sodass es heute kaum
noch ZeitzeugInnen der Geschehnisse gibt, die an den
Gedenkfeiern in Eisenreichdornach teilnehmen kön-
nen. Seit dem Jahr 2000 wurde die Feier deshalb ver-
stärkt von den SchülerInnen der Schulen Amstettens
mitgestaltet, was auch damit in Zusammenhang steht,
dass der Nationalrat für Anfang Mai einen Tag gegen 1 Vgl. zu diesen Angaben Florian Freund: Amstetten, in: Wolfgang
Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nati-
Gewalt, Terror und Rassismus festgelegt hatte.
onalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4: Flossenbürg, Maut-
Schon seit vielen Jahren ist nun diese Gedenkfei-
hausen, Ravensbrück (München 2006), S.347-349.
er eine von drei Gruppen getragene Veranstaltung, an 2 Vgl. Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM), Mauthausen
der zum einen die belgischen Überlebenden und ihre Survivors Documentation Project (MSDP), OH/ZP1/543, Interview
Angehörigen teilnehmen, zum anderen die Schüler- mit Lucia Rombaut, Interviewer: Frank Aarts, am 15.12.2002.

118
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Christian Rabl

Die Audioinstallation bei der KZ-Gedenkstätte


St. Aegyd – ein Projektbericht

Zeitzeuge Rajmund Pajer und seine Frau Nora gedachten in St. Aegyd am Neuwalde gemeinsam mit zahlreichen BesucherInnen der im hiesigen
Nebenlager verstorbenen Häftlinge. Erstmals war bei dieser Veranstaltung auch die Audioinstallation zu hören (© Christian Rabl).

1. Historische Umstände lichen Überreste der Opfer wurden am Rande des bis
heute erhaltenen Friedhofsgeländes verscharrt. Einige
In St. Aegyd am Neuwalde bestand zwischen No- Monate nach Kriegsende wurde seitens der Gemeinde
vember 1944 und Ende März 1945 ein Außenlager des St. Aegyd ein kleines Areal innerhalb des katholischen
KZ Mauthausen, ein Faktum, das bis heute sehr vielen Friedhofes durch die Pflanzung einer Hecke abgegrenzt
Menschen – auch vor Ort – nicht bekannt oder be- und mit einem Kreuz versehen – die KZ-Gedenkstätte
wusst ist. Nachweislich 46 Männer kamen in St. Aegyd war entstanden. Weitere Schritte folgten erst Ende der
ums Leben. Der Tod der Häftlinge resultierte aus den
1
1980er-Jahre, als auf dem Holzkreuz eine Granittafel mit
extremen Lebensbedingungen, die von schlechter Wit- der Aufschrift „80 unbekannte KZ-ler Kriegsopfer, 1940-
terung, Nahrungsmangel sowie körperlichen Misshand- 1945“ installiert wurde. Obgleich den damals handeln-
lungen durch SS und Kapos geprägt waren. Die sterb- den Personen ihr Engagement hoch anzurechnen ist,

119
Die Audioinstallation bei der KZ-Gedenkstätte St. Aegyd – ein Projektbericht

Zeitzeuge Rajmund Pajer mit GISTA-Obmann Christian Rabl sowie den „tat ort“-KünstlerInnen Wolfgang Fiel und Alexandra Berlinger auf der
Gedenkstätte in St. Aegyd am Neuwalde (© Christian Rabl).

wirft der gewählte Schriftzug mehr Fragen auf, als er zu 2. Audioinstallation –


beantworten vermag. Denn der Inhalt der Gedenktafel KünstlerInnenprojekt „tat ort“
ist in mehrfacher Hinsicht irreführend: die Formulierung
bedeutet eine Vermischung verschiedener Opfergrup- Grundidee
pen, der genannte Zeitraum geht weiter über die Zeit Ausgehend von der Absicht, eine zusätzliche Tafel
des Bestehens des Außenlagers hinaus und überdies er- mit den Namen der Opfer auf dem Areal der Gedenk-
weckt die Installierung der Tafel auf dem Kreuz den Ein- stätte zu installieren, wurde vereinsintern sowie in
druck, als habe es sich ausschließlich um Opfer christ- Abstimmung mit der Gemeindeverwaltung darüber
lichen Glaubens gehandelt. Die genannte Zahl von 80 Konsens erzielt, eine KünstlerInnengruppe3 mit der
Opfern ist nicht nachvollziehbar; nachweisbar anhand Umsetzung zu beauftragen. Die mit der Verwirklichung
handschriftlicher Todesmeldungen und dem Mauthau- betrauten KünstlerInnen von „tat ort“, Alexandra Berlin-
sener Totenbuch sind bislang 46 Namen. ger und Wolfgang Fiel, nahmen schon nach einer ers-
Um die genannten Widersprüche aufzuklären und ten Besichtigung des Areals am 17. Februar 2010 von
den bekannten Opfern ein würdiges Andenken zu be- der Anbringung einer weiteren Gedenktafel Abstand.
wahren, hat sich die im März 2010 gegründete Gedenk- Stattdessen entwickelten sie die Idee einer Audioinstal-
initiative KZ-Außenlager St. Aegyd/Neuwalde (GISTA) als 2
lation, welche im Rahmen ihrer Umsetzung auch die
einen ersten Schritt die Veröffentlichung der bekannten Bevölkerung des Ortes St. Aegyd miteinbeziehen soll-
Opfernamen auf der Gedenkstätte zum Ziel gesetzt. te: Im Zuge von „Hausbesuchen“ bei St. Aegyder Orts-

120
KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

bewohnerInnen sollte einerseits über die Existenz und Umsetzungsschritte


Geschichte des Außenlagers St. Aegyd informiert wer- Nach der vereinsinternen Entscheidungsfindung
den, zugleich wollte man die St. AegyderInnen um das galt es, für eine Sicherstellung der Finanzierung zu
Sprechen eines Namens bitten, der aufgezeichnet und sorgen. An der Umsetzung beteiligten sich neben der
später auf der Gedenkstätte hörbar gemacht werden SPÖ-Bezirksorganisation Lilienfeld auch das Land Nie-
sollte: „Durch das Aussprechen der Namen in privater derösterreich4, die Internationale Lagergemeinschaft
Atmosphäre wird der Opfer nicht nur an einem entle- Mauthausen sowie die Gemeinde St. Aegyd. Die Um-
genen oder abstrakten Ort gedacht, sondern findet das setzung erfolgte in mehreren Phasen:
Gedenken seine Fortsetzung am Ort des Geschehens Ein zentraler Punkt betraf die technische Verwirk-
und im Gedächtnis seiner BewohnerInnen“, argumen- lichung, die den finanziellen Rahmen nicht sprengen
tieren Berlinger und Fiel. sollte und vor allem Langlebigkeit und geringen War-
tungsaufwand bringen musste. Die Entscheidung fiel
Diskussionsprozess – auf zwei Richtlautsprecher, die unsichtbar in den He-
Vorteile einer Audioinstallation cken der Gedenkstätte installiert werden und mit der
Im Rahmen der Diskussion über das Konzept von im Keller der Aufbahrungshalle angebrachten Elektro-
„tat ort“ offenbarten sich bald zahlreiche Vorteile dieser nik verbunden werden sollten. Als Wiedergabemedium
Form der Installation. fiel die Entscheidung auf zwei digitale Speicherkarten.
● Eine Audioinstallation ist – im Falle, dass noch wei- Bereits im Vorfeld des Projekts erfolgte in Zusam-
tere Opfernamen recherchiert würden – jederzeit menarbeit mit dem Mauthausen Komitee Österreich
erweiterbar, überdies bietet sie die Möglichkeit, (MKÖ) sowie dessen internationalen Kooperations-
Stimmen zu ergänzen und somit weitere Personen partnern bei der Internationalen Lagergemeinschaft
in den Gedenkprozess zu involvieren. Mauthausen5 eine Recherche bezüglich der exakten
● Es handelt sich nicht um eine herkömmliche Ge- Schreibweise der Opfernamen, die überwiegend aus
denktafel, auf der die Namen einfach aufgereiht Polen, der Sowjetunion und Italien stammten. Mit Hilfe
werden. Somit wird ein alternativer und innovativer von Native Speakers wurde die Aussprache der Namen
Zugang zur Thematik geschaffen, der auch jüngere eingeübt, die später auch den St. AegyderInnen nahe-
Menschen ansprechen soll. gebracht werden musste.
● Durch die bewusste Einbeziehung der Bevölkerung Gemeinsam mit Vereinsmitgliedern widmeten sich
in Form persönlicher Gespräche wird aktiv über die Alexandra Berlinger und Wolfgang Fiel der Umsetzung
Existenz des Lagers informiert und innerhalb der der Audioinstallation in St. Aegyd. In einem ersten
Ortsbevölkerung ein Bewusstsein für die eigene Schritt wurde die Ortsbevölkerung mit einem Postwurf
Geschichte geschaffen. Durch Miteinbeziehung der (rund 1 000 Haushalte) über das geplante Projekt infor-
örtlichen Hauptschule erfolgt eine Sensibilisierung miert, verbunden mit der Einladung, im Rahmen der
für die Zeit des Nationalsozialismus und dessen Gedenkfeier die Umsetzung zu begutachten. An den
Auswirkungen. Der Zugang geht durch die persön- im Postwurf angeführten Tagen (20. und 21. April 2010)
liche Konfrontation der SchülerInnen mit Opfer- wurden rund 60 Haushalte – insbesondere die auf dem
namen weit über die bloße Wissensvermittlung in Areal des ehemaligen Lagers errichteten Einfamilien-
Form eines Frontalunterrichts hinaus. häuser – besucht. Dabei zeigten sich die Bewohner-
● Eine ergänzende Informationstafel erklärt die Au- Innen meist interessiert an der Thematik und sprachen
dioinstallation und liefert gleichzeitig Hinweise zu bereitwillig den Namen eines Opfers auf Band. Weitere
dem bisher völlig unkommentierten Erinnerungs- Namen wurden auch von den SchülerInnen der 3. und
ort selbst. 4. Klasse Hauptschule gesprochen. So entstand binnen

121
Die Audioinstallation bei der KZ-Gedenkstätte St. Aegyd – ein Projektbericht

zwei Tagen ein Pool von rund 100 Stimmen auf Digital- 1 Vgl. Christian Rabl: Das KZ-Außenlager St. Aegyd am Neuwalde

medium, sodass jeder Opfername zumindest zweimal (Wien 2008).


2 Der Verein ist unter der ZVR-Zahl 556557748 (BH Lilienfeld) im Ver-
gesprochen wurde.
einsregister zu finden.
Die aufgezeichneten Opfernamen wurden von Ber- 3 Die Künstlergruppe „tat ort“ (nähere Informationen unter: http://
linger und Fiel in einem weiteren Schritt tontechnisch www.tat-ort.net/ [Zugriff am 28.3.2011]) wurde uns von Alexander
aufbereitet, zusammengefügt und für die endgültige Hauer, dem Obmann des Melker Gedenkvereins MERKwürdig emp-
Verwendung vor Ort fertiggestellt. fohlen, dem wir an dieser Stelle für seine große Unterstützung dan-
ken wollen.
In St. Aegyd erfolgte in der Woche von 3. bis 7. Mai
4 Abteilung Kultur und Wissenschaft/Kunst im öffentlichen Raum,
mit Unterstützung des Tontechnikers Peter Böhm so-
http://www.publicart.at (Zugriff am 28.3.2011).
wie zahlreichen HelferInnen der Gemeinde St. Aegyd 5 Besonderer Dank gebührt Albert Langanke, Generalsekretär der In-
und der GISTA die Installierung der technischen Gerät- ternationalen Lagergemeinschaft Mauthausen, der den Kontakt zu
schaften sowie die exakte Ausrichtung der Lautspre- den Opferverbänden in ganz Europa hergestellt und erfolgreich ver-

cher. Diese wurden so positioniert, dass die Namen mittelt hat.


6 Vgl. Rajmund Pajer: Ich war I 69186 in Mauthausen. Wie ich als Ju-
abwechselnd von beiden Seiten des Zugangs zur Ge-
gendlicher ins KZ-Netzwerk geriet und daraus befreit wurde. Hg.
denkstätte abgespielt werden können, und so einge- und kommentiert von Peter Gstettner und Christian Rabl (Klagenfurt
pegelt, dass die Stimmen für die BesucherInnen des 2010).
angrenzenden katholischen Friedhofes nicht mehr
hörbar sind und keine Störgeräusche entstehen.

3. Präsentation und Resonanz

Die Präsentation der Audioinstallation erfolgte am


Abend des 7. Mai 2010 im Zuge der alljährlichen Ge-
denkfeier, an der als besonderer Ehrengast der ehema-
lige St. Aegyder KZ-Häftling Rajmund Pajer6 teilnahm.
Er widmete sich lange Zeit den gesprochenen Namen
und erzählte über seine Zeit als 15-jähriger „Schutz-
häftling“ in St. Aegyd. Ein besonderes Anliegen war es
dem Kanadier überdies, ein wenig Erde von jener Stelle
einzusammeln, an der sein Kamerad Amedeo Tamussin
begraben liegt. Diese Erde überbrachte Rajmund Pajer
Tamussins Familie in Norditalien, die bislang keine In-
formation über dessen Verbleib gehabt hatte. n

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Peter Gstettner

Die Aneignung der eigenen Geschichte – die


Mühen der Ebene des KZ-Gedenkens am Loiblpass

Vermessungsarbeiten während des ersten Workcamps der HTL Villach und der Knobelsdorff-Schule Berlin am Loiblpass, Mai 2010
(© Bundesministerium für Inneres/Stephan Matyus).

D er im Jänner 2009 veröffentlichte Appell interna-


tionaler Organisationen von KZ-Überlebenden ist
mit „Erinnerung bewahren – authentische Orte erhal-
heute steinerne Zeugen: Sie sind Tatorte, internationa-
le Friedhöfe, Museen und Orte des Lernens. Sie sind
Beweise gegen Verleugnung und Verharmlosung und
ten – Verantwortung übernehmen“ überschrieben. 1
müssen auf Dauer erhalten werden. Sie sind Orte der
Sie stellen darin fest, dass „[d]ie Welt [...] zu wenig aus wissenschaftlichen Forschung und des pädagogischen
unserer Geschichte gelernt [hat]“. Deshalb sollten Erin- Engagements.“
nern und Gedenken weiterhin gleichermaßen Aufgabe Das Mauthausen Komitee Kärnten/Koroška fühlt
der BürgerInnen wie der Staaten sein. Anschließend sich mit seiner Initiative „KZ-Gedenkstätte Loibl-Nord“
geht der Appell konkret auf die gesellschaftliche Rolle seit mehr als 15 Jahren den Inhalten dieses Appells ver-
der KZ-Gedenkstätten ein: „Die ehemaligen Lager sind pflichtet und versucht von einer Basis aus, die zunächst

123
Die Aneignung der eigenen Geschichte – die Mühen der Ebene des KZ-Gedenkens am Loiblpass

einem „unbeschriebenen Blatt“ gleichkam, die Arbeit


an der kollektiven Erinnerung mit der Rekonstruktion
des authentischen Ortes zu verbinden.
Wenn wir von „Erinnerung“ sprechen, dann meinen
wir einen aktiven Prozess der Rekonstruktion jener
Vergangenheit, die im Gedächtnis mentale Spuren
hinterlassen hat. In Kärnten sind – zumindest was die
KZ-Geschichte am Loiblpass betrifft – diese mentalen
Gedächtnisspuren eher untergründig, verschüttet, zu-
gedeckt und durch jahrzehntelange Unterdrückung
kaum im öffentlichen Diskurs vorhanden. Die Erinne-
rung an die KZ-Geschichte am Loiblpass kann dem-
nach nicht entlang des üblichen schulischen Lernens
von historisch gesichertem „Stoff“ geschehen. Es gibt
weder Schulbücher noch eine entsprechende Didaktik,
die solche Inhalte in die Köpfe von SchülerInnen trans-
portieren würden. Es gibt auch noch kein „Heimatmu-
seum“, in dem die Geschichte der Kärntner Konzentra-
tionslager dargestellt wird.
Die Schwierigkeit, vor der die Initiative stand, war
also eine doppelte: Am authentischen Ort selbst gab
es bisher kaum die Möglichkeit, das Verbrechen zu lo-
kalisieren und seinen Umfang abzuschätzen. Da zudem
kaum jemand über die ohnehin recht spärlich vorhan-
denen Forschungsergebnisse informiert war, gab es
praktisch auch keine Möglichkeit, situationsbezogene
Erfahrungen vor Ort zu machen und die damaligen
Geschehnisse im lokalen Zusammenhang mit anderen
NS-Verbrechen nachzuvollziehen.
Dušan Stefančič, Präsident des Comité International de Mauthausen,
mit einer Schülerin während des Wettbewerbs im Dezember 2010 Es war einigen wenigen Spezialisten vorbehalten,
(© HTL-Villach/Peter Kusstatscher). beim ehemaligen KZ Loibl-Nord noch Spuren wahr-
zunehmen und zu sichern und die Geschichten von
Überlebenden zu dokumentieren. Folglich blieben
bei der Kärntner Bevölkerung die Deutungen der his-
torischen Wirklichkeit und die darauf bezogenen Wis-
sensbestände und „antifaschistischen“ Einstellungen
unterbelichtet und ohne jede Tiefenwirkung.
Die Schwierigkeiten bei der Spurensuche sowie der
Konzipierung von Gedenkstättenarbeit am Loibl sind
in der Tat erheblich, konnte die TäterInnengesellschaft
beim Verwischen der Spuren doch mit den natürlichen

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Kräften seitens der Umwelt rechnen. Sie ließ im Laufe Nach den Rodungs- und Freilegungsarbeiten am
vieler Jahrzehnte Gras und schließlich auch Sträucher ehemaligen KZ-Gelände in den Jahren 2008 und 2009
und Bäume über den Tatort wachsen und machte so war es deshalb eine besonders spannende Aufgabe,
Opfer und TäterInnen in gleicher Weise unkenntlich. mit dem Problem der Rekonstruktion und der nachhal-
Dieses „Unsichtbarmachen von Vergangenheit“ er- tigen Modellierung von Erinnerung jene junge Genera-
schwerte die Erinnerungsarbeit, da sich diese ja an vor- tion zu konfrontieren, die künftig die Gedächtniskultur
findbaren Zeugnissen und Relikten orientieren muss. bestimmen, formen und weitertragen wird. Wir wagten
Die EU-Osterweiterung, insbesondere der Beitritt deshalb ein für Mauthausen-Gedenkstätten völlig neu-
Sloweniens, und die Europäisierung des Holocaustge- es pädagogisches Modell in die Realität umzusetzen.
denkens haben nun auch in Kärnten zu einem allmäh- Zunächst ging es darum, fußend auf dem Aneignungs-
lichen Umdenken geführt. Schon bei unseren ersten konzept der Kulturhistorischen Schule, einen ersten
Arbeitsschritten in den Jahren 2008 bis 2010 ist es ge- Schritt in Richtung einer „körpergebundenen Gedächt-
lungen, die Jugend in die Übernahme der Verantwor- niskultur“ (Horst Wenzel) zu machen. Konkret hieß das,
tung für die Erinnerung einzubinden. Sie war bereit, in eine gegenständliche Auseinandersetzung mit den
sich beim Prozess der Sichtbarmachung der baulichen damaligen und heutigen Erfahrungsbedingungen und
Strukturen des ehemaligen Lagers zu engagieren, denn -möglichkeiten vor Ort zu treten.
die Sicherung von Belegen, Dokumenten, Relikten und Für eine Generation, die medial überwiegend in
anderen physischen Evidenzen stellt den empirischen virtuellen Wirklichkeiten sozialisiert wird, aber auch für
Rahmen für jedwede Erinnerungsarbeit dar. Die do- SozialwissenschafterInnen, die ihr historisches Wissen
kumentarischen Erzählungen der AugenzeugInnen über das Literatursystem, d. h. über das Lesen von Bü-
bestärkten unsere Bemühungen der Vergangenheits- chern, ausbilden, gelten ähnliche Bedingungen. Bei den
rekonstruktion ganz erheblich, weil sie dem Vorhaben zwei Workcamps im Frühjahr 2010 boten das Freilegen
jene persönliche Glaubwürdigkeit verliehen, die einer von Spuren am Ort des Geschehens, das Auffinden und
virtuellen Recherche oft fehlt. Vermessen von Relikten, das Reden mit ZeitzeugInnen
So befindet sich auch das Mauthausen-Außenla- und der aktive Denkmalschutz durch die Einhausung
ger-Projekt am Loiblpass in einem ständigen Ringen von Fundamentresten der KZ-Waschbaracke solche
um den Bedeutungsgehalt der NS-Vergangenheit und „körpergebundenen Erfahrungen“. Sie sollten das per-
um eine gesellschaftlich adäquate Form der Transfor- sönliche Gedächtnis mit bestimmten Gegenständen
mation der lokalen KZ-Geschichte in das kulturelle Ge- und Situationen zu einem subjektiv erlebbaren Inter-
dächtnis Österreichs. Wir sind uns dabei bewusst, dass aktions- und Erfahrungszusammenhang verbinden.
einerseits eine Rekonstruktion der Vergangenheit die Die interkulturellen Prozesse, die im Rahmen dieser
Rekonstruktion des Geschehens am Tatort einschließen konkreten Aneignung von verborgener NS-Geschichte
muss. Andererseits kann so ein Ort nie mehr in seinen abliefen, waren auch hinsichtlich der intergenerativen
authentischen Zustand versetzt werden. Außerdem Herangehensweise an die KZ-Vergangenheit von In-
gibt es nicht den verbindlich feststellbaren Zustand teresse. Intergeneratives und interkulturelles Arbeiten
eines solchen Ortes, sondern nur verschiedene Sicht- konstituieren ebenfalls wichtige Momente im Setting
weisen auf die raum-zeitlich variablen Verhältnisse. des nachhaltigen Erfahrungslernens.
Man kann also genauso wenig von einem bestimmten Die Ergebnisse aus diesen vielfältigen sinnlichen Er-
„authentischen Ort“ sprechen wie man diesen im „Ori- fahrungsquellen galt es zu verallgemeinern und ihnen,
ginalzustand“ rekonstruieren oder „lebensecht“ simu- in Form von Referaten und ersten Verschriftlichungen,
lieren kann. eine „literarische Sprache“ zu verleihen. Dazu bot

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Die Aneignung der eigenen Geschichte – die Mühen der Ebene des KZ-Gedenkens am Loiblpass

das Symposium an der HTL Villach im Mai 2010 eine politischer Markstein in der Erinnerungslandschaft
gute Gelegenheit: Die Topografie des vermessenen Kärntens sein wird.
Geländes wurde ausgewertet, Dokumentationen, so- Ob es zur Verwirklichung des geplanten Gedenk-
genannte „Raumbücher“, wurden angefertigt, eigene stättenprojekts kommt, wird davon abhängen, ob
Erfahrungen ausgetauscht, ExpertInnenmeinungen und wann die Republik Österreich und das Bundes-
eingeholt und die weiteren Schritte der Konzeptarbeit land Kärnten mit der gebührenden Verantwortung
diskutiert. gegenüber dem Andenken an die KZ-Opfer die Ver-
Im Herbst 2010 beteiligten sich drei Fachschulen an pflichtung übernehmen, in den kommenden Jahren
einem Wettbewerb, der zur Gestaltung der künftigen die Umsetzung des Projekts finanziell abzusichern.
KZ-Gedenkstätte Loibl-Nord ausgeschrieben worden Die Jugendlichen sind den staatlichen Instanzen mit
war: die Knobelsdorffschule Berlin, unterstützt vom gutem Vorbild vorangegangen. Sie haben bereits ihre
„Bildungsverein Bautechnik“, die Baufachschule des Ernsthaftigkeit im Herangehen und ihre Lösungskom-
Schulzentrums Celje (Slowenien) und die HTL Villach. petenz unter Beweis gestellt. Die beiden Preisträger,
Neben verschiedenen Kriterien, die aus den histo- Markus Baumgartner und Thomas Verginz, Schüler der
rischen, gegenständlichen, ästhetischen und kreativen HTL Villach, haben ihren Gestaltungsvorschlag mit fol-
Anforderungen bestanden, ging es auch um gedenk- genden Worten abgeschlossen: „Um eine Gedenkstät-
stättenpädagogische Gesichtspunkte, wie zum Bei- te für so eine schreckliche Vergangenheit zu errichten,
spiel: Welche erlebbare „Anschaulichkeit“ soll der Ort reicht es nicht, einfach einen Plan zu zeichnen. Nein,
mit seiner Topografie liefern? Welche Ansatzpunkte es ist vielmehr die persönliche Anteilnahme an den
und Hilfen für nachvollziehbare „Erzählungen“ soll der Geschehnissen jener Zeit notwendig. Wir können von
Ort bieten? Auf welchen intendierten Interaktionen uns behaupten, dass wir mit großer Demut versucht
zwischen Ort und BesucherInnen soll eine „lebendige haben, uns in die damalige Situation dieser Menschen
Gedenkstätte“ beruhen? Wie können die unterschied- zu versetzen. Unser persönliches Ziel ist es, die ‚Loibl-
lichen Alltagserfahrungen und Biografien der heutigen Geschichte’ nicht totzuschweigen, sondern vor dem
BesucherInnen mit jenen der früheren KZ-Opfer in ei- Vergessen zu bewahren.“ n
nen Zusammenhang gestellt werden?
Eine international zusammengesetzte Jury hatte
Mitte Dezember 2010 vierzehn eingereichte Schüler-
Innenprojekte zu begutachten. Große Anerkennung
für die hohe Qualität der Arbeiten und Respekt vor
dem Engagement der SchülerInnen gab es für alle Ein-
reichungen. Jedes Projekt hatte anregende und krea-
tive Impulse, die bei einer Umsetzung berücksichtigt
werden sollten. Letztlich wurden vier Preisträgerpro-
jekte gekürt und drei Projekte mit Anerkennungsprei-
sen ausgelobt. Am 24. Jänner 2011 fand unter großem
Beifall und medialer Aufmerksamkeit die öffentliche
Präsentation der prämierten Gedenkstättenmodelle
und -beschreibungen statt. Dieser Tag war ein Meilen- 1 „Erinnerung bewahren – authentische Orte erhalten – Verantwor-
stein in der langen Geschichte des Bemühens um eine tung übernehmen“, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Ge-
würdige Gedenkstätte, die letztlich auch ein bildungs- denkstättenRundbrief Nr. 147, 2/2009, S. 3f.

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KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2010 | INFORMATION

Nachruf auf Mariano Constante und Italo Tibaldi

Mariano Constante

Mariano Constante, Überlebender des KZ Mauthau-


sen, verstarb am 20. Jänner 2010 im Alter von 89 Jahren
in Montpellier.
Mariano Constante, am 18. April 1920 in Capde-
saso/Spanien geboren, nahm als Mitglied der Juven-
tudes Socialistas Unificadas (JSU) auf Seiten der Repu-
blik am Spanischen Bürgerkrieg teil. 1940 wurde er aus
dem französischen Exil in das Kriegsgefangenenlager
Kaisersteinbruch deportiert, im April 1941 erfolgte die Mariano Constante, Montpellier, Herbst Italo Tibaldi bei den Befreiungsfeiern in
Überstellung in das KZ Mauthausen. 2003 (© Bundesministerium für Inneres/ Mauthausen, Mai 2010 (© Bundes-
Stephan Matyus). ministerium für Inneres/Stephan Matyus).
Nach der Befreiung des KZ Mauthausen, bei der
er an der Rettung des SS-Fotomaterials beteiligt war,
kehrte Mariano Constante nach Frankreich zurück. Er
war Autor mehrerer Bücher und Erinnerungsberichte hausen. Nach zweiwöchiger „Quarantäne“ erfolgte am
über die Verfolgung republikanischer Spanier im Nati- 28. Jänner 1944 die Überstellung in das Außenlager
onalsozialismus, unter anderem der Bücher „Triángulo Ebensee, wo Tibaldi in den Stollen Zwangsarbeit ver-
azul. Los republicanos españoles en Mauthausen“ und richten musste. Hier schloss er sich einer geheimen
„Los Años Rojos“. Widerstandsgruppe innerhalb des Lagers an.
Als Chronist und Zeitzeuge stellte Constante Inter- Nach der Befreiung des Außenlagers Ebensee am
essierten immer wieder originales Fotomaterial aus 6. Mai 1945 durch amerikanischen Soldaten und eini-
seiner umfangreichen Sammlung zur Verfügung und gen darauffolgenden Krankenhausaufenthalten kehrte
war Mitglied im Ehrenkomitee zur 2005 eröffneten Fo- Italo Tibaldi nach Turin zurück, wo er als Vermessungs-
toausstellung „Das sichtbare Unfassbare“. techniker für die Gemeinde Turin arbeitete.
Italo Tibaldi hat sein Leben der Erinnerung an die
Italo Tibaldi Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentra-
tionslagern gewidmet. Er ist Autor des Buches „Com-
Am 13. Oktober 2010 verstarb der ehemalige Häft- pagni Di Viaggio: Dall‘Italia Ai Lager Nazisti. I Trasporti
ling des KZ Mauthausen Italo Tibaldi im Alter von 83 Dei Deportati (1943-1945)“ über die Deportation von
Jahren in Ivrea. ItalienerInnen in Konzentrationslager. Neben seiner
Italo Tibaldi, 1927 in Pinerolo/Italien geboren, wur- Tätigkeit als Vizepräsident der italienischen Delega-
de 1944 als Mitglied einer Widerstandsgruppe, der tion des Comité International de Mauthausen war er
auch sein Vater angehörte, auf dem Weg nach Turin Vizepräsident der Associazione Nazionale Ex Deportati
verhaftet und kam als politischer Häftling nach Maut- politici nei campi nazisti (ANED). n

127
Kontakt

Kontakt

Organisatorische Leitung

DDr.in Barbara Glück, Mag. Jochen Wollner


Bundesministerium für Inneres, Abteilung IV/7
Minoritenplatz 9, 1014 Wien
Tel.: +43 (0)1 53126-3039, Fax: +43 (0)1 53126-3386
E-Mail: BMI-IV-7@bmi.gv.at

Lokale Verwaltung und Besucherzentrum

KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Erinnerungsstraße 1, 4310 Mauthausen
Tel.: +43 (0)7238 2269-0, Fax: +43 (0)7238 2269-40

Organisatorische Leitung:
ADir. Harald Hutterberger, M.Sc. MAS
Tel.: +43 (0)7238 2269-11
E-Mail: harald.hutterberger@bmi.gv.at

Pädagogische Vermittlung:
Yariv Lapid
Tel.: +43 (0)7238 2269-22
E-Mail: yariv.lapid@bmi.gv.at

Archiv
Dr. Christian Dürr, Ralf Lechner
Tel.: +43 (0)1 53126-3832
E-Mail: mauthausen-memorial@mail.bmi.gv.at

Fotoarchiv
Mag. Stephan Matyus
Tel.: +43 (0)1 53126-3854
E-Mail: stephan.matyus@bmi.gv.at

Redaktion „Jahrbuch“
Mag. Andreas Kranebitter
E-Mail: andreas.kranebitter@bmi.gv.at

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