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(WiBiLex)
Unterweltvorstellungen und
Jenseitsliteratur (Ägypten)
→ Jenseitsvorstellungen in Ägypten
1. Grundlagen
Das Erleben des körperlichen Tods hat aber klargemacht, dass die erho te
Existenz ein für alle Male nicht mehr in unserer Welt statt ndet. Die Opferstelle
am Grab ermöglicht zwar den Kontakt zwischen Diesseits und Jenseits, doch der
leblose Körper ruht im Grab und damit in der Unterwelt, die er in dieser Form
nicht verlassen kann. Die gewünschte Fähigkeit ungehinderter Fortbewegung,
sogar zwischen Jenseits und Diesseits, ist dem Ba (b’) vorbehalten, der frei
beweglichen Komponente des Menschen (und auch der Götter; → Ba). Der Ba
Mit dem Ka (k’) (s. z.B. Kaplony, 1980) verfügt der Mensch über eine Art
doppeltes Ich, seine Lebenskraft (ein mögliches Wort für „Nahrung“ lautet
ebenfalls k’).
Für die mögliche Stellung des Verstorbenen unter den Göttern hat o ensichtlich
die vom König und seiner Verwaltung ausgehende Hierarchie des ägyptischen
Staats als Vorbild gedient. So sind der Sonnengott → Re und der Totengott →
Osiris von ihrem Gefolge umgeben, in das man sich einreihen möchte (Belege
bei Leitz, 2002, VII, 89 bzw. 90); wie unwirsche Palastwachen erschweren
Wächter-Dämonen den Zutritt in die Nähe des Gottes (dazu Leprohon, 1994)
und manches mehr.
Das Jenseits ist aber nicht nur ein bloßes Abbild des Diesseits, sondern auch
dessen ergänzendes Gegenbild. Daher rühren Vorstellungen vom Jenseits als
„verkehrter Welt“, in der die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben bzw.
umgekehrt sind (zu diesem Aspekt Hornung, 1992, 129). Dies drückt sich in den
oft gekrümmten Wegen der Unterwelt aus oder in der Gefahr, auf dem Kopf
stehen und Exkremente essen zu müssen. Doch drohen diese Risiken nur den
Feinden des Sonnengottes, die ihnen nicht gewachsen sind, weil sie sich
außerhalb der Weltordnung m’‘t be nden (→ Maat). Den Göttern und den von
ihnen akzeptierten Verstorbenen ermöglicht diese Gegenwelt die der irdischen
Zeit zuwiderlaufende Verjüngung.
2. Historische Entwicklung
Die hoch aufragenden Pyramiden zeugen seit der 3. Dynastie von der Ho nung
des Königs auf eine Existenz am Himmel. Mit den seit Unas, dem letzten
Herrscher der 5. Dynastie, in den Kammern der königlichen Gräber
angebrachten → Pyramidentexten verfügen wir dann über die ältesten
ausführlichen Quellen zur Jenseitsreligion überhaupt, die neben Ritualtexten zu
Opferhandlungen und Beschwörungen zur körperlicher Wiederbelebung viele
Vorgänge im Jenseits schildern oder zumindest andeuten. Der als Osiris
bezeichnete tote König strebt eine herausragende Position als Herr der Götter
an, wobei ein Schwerpunkt der Vorstellungen auf ein Dasein als
„unvergänglicher“ Stern am Nachthimmel abzielt. Von dort aus ist eine Existenz
mit dem Sonnengott und eine Ausfahrt mit diesem (bzw. als dieser) an den
Tageshimmel möglich. Schon diese frühe Textsammlung ist aber in sich
heterogen und transportiert verschiedene, sich zum Teil direkt widersprechende
Vorstellungen. Insgesamt spielt aber das unterirdische Jenseits eine viel
geringere Rolle für den König.
Wesentliche Bereiche des Jenseits bilden das Opfer- und das Binsenge lde, zu
denen der toten König übersetzen will. Dort erwarten ihn materielle Versorgung
und Regeneration. Viele Angaben über astronomische Vorgänge lassen auf
einen sehr direkten Bezug zu sichtbaren Phänomenen schließen, doch erweist
sich die diesbezügliche Forschung als überaus schwierig (Krauss, 1997). Größer
als in späteren Epochen ist der Anteil von Sprüchen aus dem Opferritual für den
verstorbenen König, eine Verewigung der irdischen Darreichung von Speis und
Trank, Kleidung etc.
Das Jenseits der Pyramidentexte ist für den König reserviert, seit Ende der 6.
Dynastie auch für wenige Frauen der Königsfamilie, in deren Gräbern dann
Pyramidentexte angebracht werden. Über den Jenseitsglauben der hohen
Beamten und der übrigen Bevölkerung wissen wir demgegenüber viel weniger.
Deutlich ist aber die Anlage der Gräber von Beamten um das ihres Königs
herum, so dass sie auch im Jenseits in dessen Gefolge an seinem positiven
Schicksal teilhaben können. Ausführliche Opferlisten und Darstellungen des
Grabherrn vor einem Opfertisch sowie die Scheintür als Durchgang aus dem
Jenseits genau zur Opferplatte zeigen in jedem Fall die zentrale Bedeutung der
rituellen Versorgung, damit der Tote „auf den Wegen des schönen Westen
wandeln“ konnte, wie es in einem Opfergebet heißt. Die kurzen Opfergebete
(„Opferformeln“) enthalten noch die meisten Anspielungen auf die
Jenseitsvorstellungen dieser Zeit (eine Zusammenstellung bei Barta, 1968).
2.2.2. Neuerungen
Ob die sog. „Osirianisierung“, also die Zunahme deutlicher Elemente des „Osiris-
Glaubens“ im Verlauf des Mittleren Reichs gleichzeitig eine Zurückdrängung des
am Sonnengott orientierten Jenseits bedeutet, muss angesichts zu weniger
Quellen o en bleiben. Mit der späten 12. Dynastie werden nämlich die
Sargtexte seltener, und aus den Pyramidenanlagen der Könige des gesamten
Mittleren Reichs ist kein Textgut erhalten, so dass sich die sie betre enden
Vorstellungen nur anhand der architektonischen Veränderungen ihrer Gräber
erahnen lassen. Eine zunehmend komplexere Ausarbeitung des unterirdischen
Elements ist hier in der Tat zu beobachten; da aber die Grabarchitektur
hauptsächlich den seit jeher als in der Unterwelt ruhend betrachteten Körper
betri t, kann sie über die den Ba betre enden Ideen kaum etwas aussagen.
Festzuhalten ist in jedem Fall, dass sich die Jenseitsvorstellungen der Sargtexte
während der Folgezeit ohne grundlegende Veränderungen fortsetzen,
allerdings mit stärkerem Fokus auf der Nachtfahrt des Sonnengottes.
Eine ganz andere Form der Darstellung wählt die zweite große Gruppe von
Quellen über die Jenseitsvorstellungen des Neuen Reichs: die während des
Neuen Reichs fast ausnahmslos in königlichen Gräbern überlieferten sog.
„Unterweltsbücher“. Anders als die Sprüche des Totenbuchs (und der früheren
Textkorpora), die den Verstorbenen in das jenseitige Geschehen einbinden, sind
die Unterweltsbücher rein deskriptiv. Ihr Nutzen besteht also ausschließlich in
dem Wissen über die Geschehnisse während der Nachtfahrt des Sonnengottes,
das sie vermitteln. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Grabherr den
Sonnengott Re auf dieser Fahrt begleitet. Dementsprechend ist er in dessen
Weitere Unterweltsbücher treten seit der Zeit der Ramessiden (19. und 20.
Dynastie) auf. Die Einteilung in 12 Stunden ist dabei noch im Buch vom Tag und
im Buch von der Nacht zu nden, während das Höhlenbuch und das Buch von
der Erde diese Anordnung wieder zugunsten einer mehr kollagenartigen
Darstellung aufgeben. Verwandt mit diesen Kompositionen sind die berühmten
Bilder der Himmelsgöttin Nut, über oder an deren Leib der Sonnengott in seiner
Barke fährt (Buch vom Tag und Buch von der Nacht); bekannt auch die
Weitere Texte und Bilder aus Gräbern, Tempeln und Stelen bereichern das Bild
innerhalb der hier skizzierten Grundlinien. In ihrer Gesamtheit und Vielfalt
belegen all diese Zeugnisse das permanente Bestreben, jenseitiges Fortleben
und die damit verbundenen Rätsel von Raum und Zeit durch fassbare Bilder
und Begriffe besser zu verstehen.
Die gescheiterte religiöse Reform Echnatons gegen Ende der 18. Dynastie und
die folgende Gegenbewegung sind sicherlich nicht ohne Ein uss auf den
Jenseitsglauben geblieben, die genauen Umstände sind aber bis heute unklar.
Gleiches gilt für Art und Intensität einer Beein ussung durch ausländische
Religionen, mit denen, bedingt durch die ägyptische Herrschaft über weite Teile
des syrisch-palästinensischen Raums, das gesamte Neue Reich hindurch
intensiver Kontakt bestand. Interessanterweise sind es ausgerechnet die
skeptischen Harfnerlieder, für deren Rezeption in dieser Region es
Anhaltspunkte gibt, nämlich im Buch → Qohelet (Fischer, 1999).
Nach dem Ende des Neuen Reichs (um 1070 v. Chr.) ist hinsichtlich der
Etwa um die Zeitenwende lösen neue Texte die Sammlung des Totenbuchs
endgültig ab. Sie verweisen u.a. auf eine stärkere Einbindung des Verstorbenen
in den Tempelkult. Im „Buch vom Durchwandeln der Ewigkeit“ ist jener im
Verlauf des Festkalenders bei den wesentlichen Riten zugegen und pro tiert so
von diesen in ähnlicher Form wie die Götter. Dagegen betonen die „Bücher vom
Atmen“ (eine passendere Übersetzung des ägyptischen Ausdrucks wäre „Atem-
Urkunden“ o.ä.) mehr die körperliche Regeneration, indem die Götter dem
Einmal mehr handelt es sich dabei aber eher um eine Akzentverschiebung bei
der Umsetzung der Jenseitsvorstellungen als um deren grundsätzliche
Wandlung. Die nächtliche Regeneration durch Kontakt des Leichnams mit dem
Sonnengott ndet noch in der Einweihung in den griechisch-römischen Isis-Kult
ihren Widerhall, wie sie von Apuleius im „Goldenen Esel“ beschrieben wird
(Hornung, 1994):
„Ich betrat Proserpinas Schwelle, und nachdem ich durch alle Elemente
gefahren, kehrte ich wiederum zurück. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich
die Sonne in ihrem hellsten Licht leuchten; ich schaute die unteren und oberen
Götter von Angesicht zu Angesicht und betete sie in der Nähe an.“ (Übers.:
Rohde, 1975, 318)
Dass die ägyptische Religion (und mir ihr die gesamte Kultur) nach dem Neuen
Reich keineswegs im Verfall begri en war, wie immer noch oft behauptet wird,
belegt schon ihre Anziehungskraft auf Angehörige der griechischsprachigen
Bevölkerung, von denen sich einige in ägyptischer Manier bestatten ließen.
Umgekehrt können die bildlichen Umsetzungen der Jenseitsvorstellungen
stilistische Elemente der hellenistischen Kunst (im weitesten Sinne des Wortes)
übernehmen. Berühmtestes Beispiel sind die „Mumienportraits“ aus der
Gegend des Fayum, aber auch auf Leichentüchern und Grabwänden sind
zahlreiche Beispiele überliefert.
Schließlich hat sich die Sitte der → Mumifizierung und damit die Idee eines
körperlichen Weiterlebens bis in die christlichen Nekropolen der Spätantike
gehalten (Germer, 1991, 90f.).
Pyramidentexte
Sargtexte
Totenbuch
Allen, T.G., 1974, The Book of the Dead or Going forth by Day (Studies
in Ancient Oriental Civilization 37), Chicago
Barguet, P., 1967, Le Livre des Morts des Anciens Egyptiens
(Littératures anciennes du Proche-Orient), Paris
Cénival, Jean-Louis de, 1992, Le Livre pour sortir le jour. Le Live des
Morts des anciens Egyptiens, Le Bouscat
Hornung, E., 1979, Das Totenbuch der Ägypter, Zürich / München
Unterweltsbücher
3. Weitere Literatur
Die folgenden Verö entlichungen sind nur als Auswahl zur Anregung
gedacht. Neben unzähligen Detailstudien sei noch auf einführende
Aussagen zum ägyptischen Jenseitsglauben verwiesen, wie sie die
zahlreichen populärwissenschaftlichen Werke über die altägyptische
Religion oder das Alte Ägypten insgesamt enthalten.
Herausgeber:
Alttestamentlicher Teil
Prof. Dr. Michaela Bauks
Prof. Dr. Klaus Koenen
Neutestamentlicher Teil
Prof. Dr. Stefan Alkier
Deutsche Bibelgesellschaft
Balinger Straße 31 A
70567 Stuttgart
Deutschland
www.bibelwissenschaft.de