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BIBLIOTHECA

IBERO-AMERICANA

VERVUERT

Peter Birle
Sandra Carreras (Hrsg.)

Argentinien
zehn Jahren

BANCO CENTRAL DE LA REPUBLICA ARGENTINA

CONVCKTiatES
.t CÚ M O

Wandel und Kontinuität


P eter B irle / S an d ra C a rreras (H rsg .)
Argentinien nach zehn Jahren Menem
BIBLIOTHEC A IBERO-AMERICANA
V erö ffe n tlic h u n g en des Ib e ro -A m e rik a n isc h e n In stitu ts
P re u ß isc h e r K u ltu rb e sitz

B and 86
BIBLIOTHECA IBERO-AMERICANA

Peter Birle / Sandra Carreras (Hrsg.)

Argentinien nach
zehn Jahren Menem

Wandel und Kontinuität

VERVUERT • FRANKFURT/M AIN • 2002


D ie Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Argentinien nach zehn Jahren Menem : Wandel und Kontinuität /


Peter Birle / Sandra Carreras (Hrsg.). -
Frankfurt am Main : Vervuert, 2002
(Bibliotheca Ibero-Aniericana ; Bd. 86)
ISSN 0067-8015
ISBN 3-89354-586-7

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002


Alle Rechte Vorbehalten
Umschlaggestaltung: Michael Ackermann
Gedruckt auf säure- und chlorffeiem, alterungsbeständigem Papier.
Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS

E in le itu n g ............................................................................................................. 7

Sandra Carreras
Instabilität als K o n stan te? E ntw icklungslinien A rgentiniens im
20. J a h rh u n d e rt................................................................................................... 19

M ariana Clanos
U b er G esetze u n d D ekrete: E ine N eu in terp retation der
B eziehungen zw ischen P räsid en t u n d K ongress im
A rgentinien d er 90er J a h re .............................................................................. 53

Katja H ujo
D ie W irtschaftspolitik d er R egierung M enem : Stabilisierung
u n d S trukturreform en im K o n tex t des K onvertibilitätsplans............... 85

Susana Sottoli
Sozialpolitische R eform en u n d soziale E n tw ick lu n g .............................. 125

Cecilia Braslavsky
T ran sfo rm atio n u n d R efo rm des Bildungsw esens
(1989 -1 9 9 9 )......................................................................................................... 153

Klaus Bodemer
A u f dem W eg z u r N orm alität. D ie A ußenpolitik der Regierung
M enem zw ischen pragm atischem Bilateralism us, neuen Integra­
tionsim perativen u n d sicherheitspolitischen A rran g em en ts.................. 183

Peter Birle
Parteien u n d Parteiensystem in der A ra M enem —
K risensym ptom e u n d A npassun g sp ro zesse............................................... 213
Héctor Valomino
D ie B eziehungen zw ischen G ew erkschaften, U ntern eh m ern un d
Staat: A kteure u n d Spielregeln im W an d el................................................. 243

Frank Priess
M edien u n d P o litik............................................................................................ 279

R u t D iam int
Streitkräfte u n d D e m o k ra tie ........................................................................... 313

Peter Thiery
D em o k ratie u n d R echtsstaatlichkeit —a u f d em W eg zur
K onsolidierung?.................................................................................................. 341

A b k ü rzu n g sv erzeich n is.................................................................................... 371

A u to rin n en u n d A u to re n .................................................................................. 373


Peter Birle / Sandra Carreras

Einleitung

A rgentinien geriet zum Jah resen d e 2001 in die Schlagzeilen der W elt­
presse. A m 20. D ezem b er trat der seit D ezem ber 1999 regierende Staats­
p räsid en t F ern an d o de la R úa v o n d er „R adikalen B ürgerunion“ (Union
Cívica "Radical, UCR) inm itten einer desolaten w irtschaftlichen, sozialen
u n d politischen Situation zurück. E ine W elle v o n P ro testen u n d G ew alt­
ausbrüchen, d er zahlreiche M enschen zum O p fe r fielen, erschütterte das
L an d bis in seine G ru n d festen . N ic h t w eniger als drei U bergangspräsi­
d enten lösten sich innerhalb v o n zwei W o chen ab, b evor m it der E rn e n ­
n u n g eines w eiteren In terim spräsidenten — des P eronisten E d u ard o D u-
halde —A nfang Ja n u a r 2002 zu n äch st eine B eruhigung der aufgeheizten
sozialen Situation gelang.1
W o liegen die U rsachen für die P roblem e des südam erikanischen
Landes, dessen B evölkerung sich zu m g ro ß en Teil aus den N ach fah ren
v o n europäischen E inw anderern zusam m ensetzt u n d dessen B rutto­
sozialprodukt p ro K o p f n o ch in den 30er Jah ren des 20. Jahrhunderts
ü b er d em Ö sterreichs, Italiens u n d Japans lag (W aism an 1987: 6)? W ie
k o n n te es dazu kom m en, dass in einem einstm als reichen L and im Ja h r
2001 vier M illionen M enschen v o m H u n g er b e d ro h t w aren, dass die
K in d er in einigen P ro v in zen aufgrund v o n M angelernährung nicht die
ihrem A lter en tsprechende K örperg rö ß e erreichten u n d dass ein erheb­
licher Teil der m ittleren u n d u n teren M ittelschicht im m er m eh r verarm ­
te?
U m A n tw o rten a u f diese Fragen zu finden reicht es nicht aus, den
Blick a u f die U rsachen für das Scheitern d er R egierung D e la Rúa zu
richten.2 D e r A m tsan tritt D e la Rúas m arkierte das E n d e der P räsident­
schaft v o n Carlos M enem , der A rgentinien ü b er ein Ja h rzeh n t lang, v o n
Ju li 1989 bis D e z e m b e r 1999, regiert hatte. M enem , der wie D u halde der
peronisrischen „G erechtigkeitspartei“ (Partido Justicialista, PJ) angehört,
initiierte u n d im plem entierte grundlegende R eform en in zahlreichen Po-
litikfeldem . D ies galt allem v oran für die W irtschaftspolitik, die sich

1 Z u r jüngsten K rise des L andes siehe F ritz/L la n o s (2002) u. G a rzó n Valdés (2002).
2 Z u den E ntw icklungen seit dem A m tsantritt der R egierung D e la Rúa siehe F e rra ro /
L lanos (2001), N o lte (1999) und N o v aro (2001).
8 P e te r B irle / S an d ra C arreras

durch die entschiedene A b k eh r v o n einer binnenm arktzentrierten, im ­


p o rtsu b stitu ieren d en Industrialisierungsstrategie auszeichnete. Stattdes-
sen setzte die Regierung M enem a u f eine m arktorientierte W irtschaftspo­
litik, a u f die Privatisierung v o n S taatsu n tem eh m en, D eregulierung u n d
Ö ffn u n g gegenüber dem W eltm arkt. D ie R eform en beschränkten sich
aber n ich t au f den w irtschaftlichen Bereich. A uch die Sozial-, Bildungs-,
A rbeitsm arkt- u n d A ußenpolitik, um n u r einige der w ichtigsten Bereiche
zu nen n en , erfuhren grundlegende V eränderungen. D ie B eurteilung die­
ser R eform en durch politische u n d akadem ische B eobachter fällt sehr
unterschiedlich aus. T atsache ist jedoch, dass die überk o m m en en Bezie­
hun g en zw ischen den staatlichen In stitu tio n en einerseits u n d den politi­
schen u n d sozialen A kteuren andererseits im V erlauf des vergangenen
Jah rzeh n ts eine tiefgreifende T ran sfo rm atio n erfuhren. D ie soziale un d
politische Struktur des L andes zu B eginn des 21. Jah rh u n d erts u n te r­
schied sich grundlegend v o n d er früherer Jahrzehnte.
D as vorliegende B uch - E rgebnis einer Z usam m enarbeit v o n W is-
senschaftlerinnen u n d W issenschaftlern aus A rgentinien u n d D eu tsch ­
land — bietet eine Bilanz u n d In terp retatio n der u n te r M enem erfolgten
R eform en. W ir knüp fen dam it an zwei v o n N o lte /W e rz (1996) bzw. vo n
Sevilla/Z im m erling (1997) herausgegebene deutschsprachige Sam m el­
bände an, die ebenso wie grundlegende argentinische A rbeiten w eitge­
hen d a u f die erste A m tszeit M enem s b esch ränkt sind (Acuña 1995; Pa-
le rm o /N o v a ro 1996).
Im E ingangsbeitrag zeichnet Sandra Carreras die G rundlinien der
argentinischen E ntw icklung im 20. Ja h rh u n d e rt bis zum A m tsantritt v o n
Carlos M enem als Staatspräsident nach. Ih re b esondere A ufm erksam keit
gilt d er für den g rö ß ten Teil des Jah rh u n d erts charakteristischen poli­
tischen Instabilität des Landes. E ine zentrale U rsache dafür m acht sie
darin aus, dass die A kteure d er argentinischen Politik ü b er w eite Phasen
des vergangenen Jah rh u n d erts in einem anom ischen K o n tex t handelten,
d.h. es b estan d keine längerfristige, v o n allen A kteuren akzeptierte,
Ü b erein k u n ft ü b er allgem ein verbindliche Spielregeln. Im H inblick au f
den P eronism us als politischem P h än o m en , das die unterschiedlichsten
In terp retatio n en erfu h r u n d in dessen T raditionen sich Carlos M enem
trotz aller R eform en stets selbst verortete, k o m m t die A u to rin zu dem
E rgebnis, dass die V ielzahl v o n o ft w idersprüchlichen In terpretationen
der peronistischen Id en tität n ich t zufällig ist. L etztendlich kann sie dam it
erklärt w erden, dass es sich u m eine politische Bew egung handelt, die
v o n A nfang an eine Vielfalt v o n A n schauungen in sich vereinigte.
E in leitu n g 9

V o r dem H in terg ru n d der lang anhaltenden institudonellen Instabili­


tät w urde in A rgentinien seit M itte der 80er Jah re darüber diskutiert, ob
das präsidentielle R egierungssystem a u f der G rundlage der V erfassung
v o n 1853 optim al dazu geeignet sei, die Stabilität u n d K onsolidierung der
1983 w iedergew onnenen D em okratie zu garantieren. D e r damalige P rä ­
sident A lfonsin sch u f eine E xpertenkom m ission, die V orschläge für eine
V erfassungsreform erarbeitete. D azu g ehörte v o r allem die Idee, das p rä ­
sidentielle System durch E lem ente einer parlam entarischen D em okratie
zu m odifizieren. D ie politischen M achtverhältnisse in d er zw eiten H älfte
d er 80er Jah re ließen die R eform pläne A lfonsins jedoch scheitern. D ass
es schließlich u n te r P räsident M enem 1994 do ch zu einer V erfassungs­
änderung kam , hing v o r allem m it dessen A m bitionen au f eine W ieder­
w ahl zusam m en. D ie alte V erfassung sah eine einm alige präsidentielle
A m tsperiode v o n sechs Jah ren u n d ein V erb o t der W iederw ahl vor. Im
N o v e m b e r 1993 m ach ten M enem u n d A lfonsin m it der U nterzeichnung
des „P ak t v o n O livos“ den W eg für eine R eform frei, die dann 1994 rea­
lisiert w urde. D ie reform ierte V erfassung reduzierte die A m tszeit des
P räsidenten v o n sechs a u f vier Jah re u n d eröffnete die M öglichkeit einer
einm aligen unm ittelbaren W iederw ahl. P räsident u n d V izepräsident w er­
d en nach d er neuen V erfassung nicht m eh r v o n W ahlm ännern gewählt,
so n d ern direkt, w obei eine Stichw ahl notw endig w erden kann. W eitere
w ichtige Ä nd eru n g en b etrafen die E in fü h ru n g der D irektw ahl der Sena­
to re n (erstm als 2001) sowie die S chaffung des A m tes eines K ab in etts­
chefs. L etzteres w ar v o n der U C R zur B edingung für eine U n terstü tzu n g
d er R eform gem acht w orden. D ie M achtposition des K abinettschefs ist
jedoch sehr schw ach, er bleibt den W eisungen des P räsidenten u n terw o r­
fen (Jackisch 1996; N o lte 1997).
A uch das in d er V ergangenheit o ft problem atische V erhältnis zw i­
schen P räsident u n d K ongress erfu h r durch die V erfassungsreform keine
einschneidende V eränderung. M ariana leíanos analysiert in ihrem Beitrag,
wie sich dieses V erhältnis in den 90er Ja h re n entw ickelte u n d schlägt eine
N eu in terp retatio n vor. Ihre Analyse bestätigt zw ar einm al m e h r die vom
mainstream der F o rsch u n g w iederholt belegten zentralisierenden u n d u n i­
lateralen T en d en zen u n te r M enem , die auch m it dem B egriff „delegative
D em o k ratie“ (O ’D o n n ell 1994) charakterisiert w urden. E ine solche In ­
terpretation d er F unktionsw eise d er politischen Institutionen u n ter der
R egierung M enem spiegelt die Realität jedoch n u r teilweise w ider. Als
problem atisch erw eist sich u n te r anderem d er A nspruch, die F u n k tio n s­
w eise d er Institu tio n en in einer K risensituation als dauerhafte M erkm ale
des politischen Regimes zu betrachten. D e m hervorgehobenen Status
10 P e te r B irle / S an d ra C arreras

der E xekutive en tsprach jedoch nicht d u rchgehend eine schw ache Legis­
lative. V ielm ehr erfu h r die Rolle des K ongresses insbesondere im V er­
lau f der zw eiten A m tsperiode M enem s eine gewisse Stärkung.
D ie v o n M enem vollzogene grundlegende w irtschaftspolitische W en ­
de kam für die m eisten B eobachter überraschend, den n sie w urde v o n
einer R egierung im plem entiert, v o n d er m an aufgrund der peronisrischen
T raditionen eine populistisch-etatistische W irtschaftspolitik erw artet hatte,
wie sie für die im p o rtsu b stitu ieren d e In d ustrialisierungsphase bis M it­
te d er 70er Jah re charakteristisch war. Katja H ujo beschreibt in ihrem Bei­
trag, wie es m it dem im A pril 1991 verabschiedeten „K onvertibilitäts­
plan “ gelang, d em L an d bis E n d e 1994 eine beispiellose Stabilität m it
h o h en W achstum sraten zu garantieren. K ern stü ck der neuen W irtschafts­
politik w ar ein fixer W echselkurs m it einer 1:1 P arität zu m U S-D ollar.
D an eb en standen die bereits angesprochenen m arktorientierten R efor­
m en a u f d er T agesordnung. T ro tz d er anfänglichen E rfolge fällt H ujos
Beurteilung d er M enem schen W irtschaftspolitik insgesam t negativ aus.
D as K onvertibilitätsschem a w ar zw ar einer kurz- u n d m ittelfristigen Sta­
bilisierung dienlich, langfristig erwies es sich jedoch als E ntw icklungsblo­
ckade. E x trem e D eindustrialisierungsprozesse sowie eine S chrum pfung
technologie- u n d arbeitsintensiver B ranchen m it negativen K on seq u en ­
zen für W achstum u n d B eschäftigung w aren die Schattenseiten einer P o ­
litik, aufgrund derer A rgentinien in den 90er Jah re n phasenw eise zum
„M usterschüler“ d er internationalen F inanzorganisationen avancierte.
A uch im B ereich der Sozialpolitik strebte die R egierung eine g ru n d ­
legende W ende an, die Parallelen zu r ökon o m ischen R eform politik er­
kennen ließ. Ziel w ar eine N eud efin itio n d er sozialpolitischen Rolle des
Staates, v o r allem die E insch altu n g p rivater u n d lokaler T räger sow ie die
E in fü h ru n g m arktw irtschaftlicher E lem en te bei der B ereitstellung un d
D u rch fü h ru n g sozialer D ienstieistungen. W ie Susana Sottoli in ihrem Bei­
trag darlegt, dienten dazu M aßnahm en w ie die E in rich tu n g arm utsorien­
tierter Sozialprogram m e, die T eilprivatisierung der R entenversicherung
sowie D eregulierungs- u n d D ezentralisierungsm aßnahm en im G e su n d ­
heitsw esen. Insgesam t fehlte d er Regierung M enem jedoch ein m ittel- bis
langfristig orientiertes sozial- u n d entw icklungspolitisches K o n ze p t, das
ü b er die Stabilisierungs- u n d W achstum serfolge d er ersten Jah re hinaus­
gew iesen hätte. Z u d e m zeichnete sich die „Ä ra M enem “ d u rch gravie­
rende D efizite im H inblick a u f die V erteilungsgerechtigkeit sowie eine
v.a. in d er zw eiten H älfte des Jah rzeh n tes im m er w eiter w achsende M ar-
ginalisierung b reiter Teile d er B evölkerung aus.
E in leitu n g 11

K e rn p u n k t d er bildungspolitischen R eform en w ar die E rarbeitung,


V erabschiedung u n d Im plem entierung des föderalen Bildungsgesetzes
v o n 1993. Cecilia Braslavsky w id ersp rich t in ihrem Beitrag der häufig ge­
äußerten A nsicht, das öffentliche Bildungsw esen A rgentiniens sei in den
90er Jah ren zerstö rt w orden. V ielm ehr habe nicht n u r ein starker quanti­
tativer A usbau d er Schul- u n d U niversitätsausbildung stattgefunden,
so n d ern darüber hinaus seien auch um fassende V eränderungen der no ch
aus dem 19. J a h rh u n d e rt stam m enden S trukturen des Bildungsw esens
angestoßen w orden. F o rtsch ritte gab es u.a. hinsichtlich der Integration
der K in d er u n d Jugendlichen aus ärm eren B evölkerungsschichten in das
Schulsystem , hinsichtlich d er M odernisierung u n d R enovierung v o n
Schulgebäuden, einer verbesserten A u sstattu n g vieler B ildungseinrich­
tungen sowie hinsichtlich einer N eugestaltung der L ehrpläne. A uch am
E n d e des Jah rzeh n ts b estanden jedoch n o ch große H indernisse a u f dem
W eg zur V erw irklichung eines angem essenen pädagogischen K onzeptes.
D as L an d w ar w eit davon entfernt, allen S chülerinnen u n d Schülern ge­
eignete Bildungsleistungen zu garantieren, u m so den H erausforderungen
des X X I. Jah rh u n d erts erfolgreich begegnen zu können.
D ie A ußenpolitik der R egierung M enem gilt gem einhin als ein Be­
reich, in d em ein b esonders starker W andel stattgefunden habe. W ie der
Beitrag v o n Klaus Bodemer zeigt, trifft dies aber n u r bedingt zu. D ie au­
ßenpolitischen P rioritäten der 90er Jah re lauteten: V erbesserung u n d
V ertiefung d er B eziehungen m it den USA, A usbau der B eziehungen m it
den lateinam erikanischen N ach b arn sowie Ü berw indung der V erh an d ­
lungsblockade gegenüber G ro ß b ritan n ien in der F alkland/M alvinas-F ra-
ge. B odem er w iderspricht der w iederholt vorgetragenen E tikettierung
d er A ußenpolitik A lfonsins als „idealistisch“ gegenüber einer „realisti­
sch en “ A ußenpolitik M enem s. T ro tz gew isser A kzentverschiebungen
v o n A lfonsin zu M enem sei die ethische U n terfü tteru n g der A uß en p o li­
tik in den ersten Jah ren d er U C R -R egierung angesichts d er traum atischen
Ja h re d er zurückliegenden M ilitärdiktatur n icht w eniger realistisch gew e­
sen als die F okussierung der M enem schen A ußenpolitik au f Fragen des
w irtschaftlichen W achstum s u n d des A ußenhandels. Z u d em habe auch
die optim istische E rw artu n g M enem s u n d seines A ußenm inisters G uido
di Telia, dass eine w eitgehende U n tero rd n u n g u n te r die Interessen der
U SA zu h andfesten öko n o m isch en V orteilen für A rgentinien führen
w erde, durchaus idealistische Z üge enthalten.
Im A nschluss an die Analyse der R eform en in den w ichtigsten P o li­
tikfeldern w id m et sich d er B and d er Frage, wie sich das V erhalten der
relevanten soziopolitischen A kteure angesichts der neuen H erausforderun­
12 P e te r Birle / S andra C arreras

gen entw ickelte. Peter Birle u n tersu ch t die grundlegenden T endenzen im


Bereich d er politischen Parteien u n d des Parteiensystem s u n d gelangt zu
der Schlussfolgerung, dass das Parteiensystem seit der R ückkehr zur
D em o k ratie im Ja h r 1983 in m ancherlei H in sicht positive E ntw icklungen
verzeichnete u n d gegen E n d e der 90er Jah re im H inblick a u f einige der
v o n d er Politikw issenschaft als relevant erachteten K riterien zu r K o n so ­
lidierung eines dem okratischen Parteiensystem s durchaus zufriedenstel­
lende W erte aufwies. D ies b e tra f v o r allem das im V ergleich zu früheren
Jah rzeh n ten geringere A usm aß an Polarisierung, E xtrem ism us u n d Frag­
m entierung. T ro tz d e m trug das Parteiensystem dazu bei, dass die gravie­
re n d e n P ro b lem e des L andes n ich t in ang em essener A rt u n d W eise
angegangen w urden. D ie größ ten D efizite des Parteiensystem s bestanden
in F o rm des innerparteilichen Personalism us, Faktionalism us u n d K lien­
telism us sowie in d er —in m ancherlei H insicht dam it zusam m enhängen­
den —U nfähigkeit zu r B ildung regierungsfähiger K oalitionen.
D ie A usw irkungen der w irtschafts- u n d sozialpolitischen R eform en
füh rten auch für G ew erkschaften u n d U n tem ehm erverbände zu funda­
m ental geänderten R ahm enbedingungen. W ie Héctor Palomino aufzeigt,
stieß die traditionelle Strategie d er D m ck au sü b u n g a u f den Staat zur
D u rch setzu n g sektoraler V orteile angesichts des neuen U m feldes a u f en­
ge G renzen. B esonders gravierend für die G ew erkschaften erwies sich
die starke Z u n ah m e der A rbeitslosigkeit. In einem Land, das traditionell
u n te r A rbeitskräftem angel litt u n d das selbst in den krisenhaften 80er
Jah ren n icht m e h r als 6% A rbeitslose verzeichnete, stieg die offizielle
A rbeitslosenrate M itte der 90er Jah re a u f 18%. H inzu kam ein w achsen­
d er A nteil v o n U nterbeschäftigten u n d in prekären B eschäftigungsver­
hältnissen Tätigen. D ie für lateinam erikanische V erhältnisse m ächtigen
argentinischen G ew erkschaften erfuhren durch diese Entw icklungen eine
gravierende Schw ächung. Sie spalteten sich zudem in rivalisierende
D achverbände. A u ch a u f die P rivatw irtschaft hatte die m arktorientierte
W irtschaftspolitik keine einheitlichen A usw irkungen. V o r allem A grar­
p ro d u z e n te n sowie kleine u n d m itdere Industrie- u n d H an d elsunterneh­
m en gerieten u n te r D ruck. D ie U n ternehm erverbände w aren kaum dazu
in d er Lage, die R egierungspolitik zu beeinflussen, zum bevorzugten G e­
sprächspartner des Staates avancierte das Finanzestablishm ent.
D ie M assenm edien genossen trotz m an cher D efizite ho h e A kzep­
tanz v o n Seiten der B evölkerung u n d ü b ern ah m en in den 90er Jah ren in
m ancherlei H in sich t F u nktionen, die eher Polizisten, Staatsanw älten un d
R ichtern zukom m en. G rundsätzlich, so konstatiert Prank Priess in seinem
Beitrag, setzten sich auch im M edienbereich M arktkriterien m eh r oder
E in leitu n g 13

w eniger durch, allerdings o hne dass eine w irksam e K o n zen tratio n sk o n ­


trolle stattgefunden hätte. D ie Q ualität der B erichterstattung wies p ro b ­
lem atische T en d en zen auf. E in e Q ualitätskontrolle, sei es durch öffentli­
che Instan zen o d er durch eine freiwillige Selbstkontrolle der M edien,
fand n ich t statt, so dass die E in sch altq u o te zum nahezu ausschließlichen
M aßstab der Program m gestaltung w urde. D ie B eziehungen zw ischen
M edien u n d Politik zeichneten sich dadurch aus, dass die M edien, v.a.
das F ernsehen, der politischen A useinandersetzung im m er m e h r ihre
P roduktionslogik aufzw angen. A ndererseits versuchten viele Politiker,
sich die P roduktionslogik d er M edien — u n d nicht zuletzt die U n erfah­
ren h eit vieler Journalisten — zunutze zu m achen. D ie W ahlkäm pfe w ur­
den spätestens in der zw eiten H älfte d er 90er Jah re auch in A rgentinien
im m er m eh r zu reinen M edienw ahlkäm pfen.
D ie Streitkräfte avancierten im V erlau f des 20. Jah rh u n d e rts zu ei­
nem zentralen A kteur der argentinischen Politik. Seit dem ersten Putsch
im Ja h r 1930 w urden P hasen der zivilen H errschaft im m er w ieder durch
M ilitärregierungen u n terb ro ch en , zuletzt durch die D ik tatu r der Jahre
1976 bis 1983. A u ch nach ih rem R ückzug in die K asernen sorgten die
Militärs in den 80er Jah ren durch m ehrere A ufstandsversuche für U n ru ­
he. E rs t nach der B egnadigung der w egen M enschenrechtsverletzungen
verurteilten Militärs u n d der kon seq u en ten N iederschlagung eines erneu­
ten A ufstandes im J a h r 1990 kehrte m e h r R uhe ein. R u t D iam int zeichnet
die M ilitärpolitik der R egierung M enem nach u n d zeigt auf, dass es trotz
einiger M odifikationen diesbezüglich auch zahlreiche K ontinuitätslinien
gegenüber den 80er Ja h re n gab. D ie Streitkräfte w aren zw ar in den 90er
Ja h re n nicht m eh r dazu in der Lage, die allgemeine politische T agesord­
n u n g gem äß ihren In teressen zu gestalten u n d übten auch in sicherheits­
politischen Fragen keinen dom inierenden E influss aus, gleichw ohl ver­
suchten sie w iederholt, sich in die nationale Politik einzum ischen. D ie
M ilitärs akzeptierten die Spielregeln der D em okratie, sie hielten sich
selbst als politischen A k teu r jedoch nach wie v o r nicht für völlig u n en t­
behrlich. A uch w enn zu keinem Z eitp u n k t die G e fa h r eines erneuten
Staatsstreiches bestand, w aren autoritäre K o n zep tio n en auch am E n d e
des 20. Ja h rh u n d erts n ich t vollständig aus den m ilitärischen Institutionen
verschw unden. T ro tz eindeutiger F ortsch ritte im H inblick a u f eine D e-
m ilitarisierung der G esellschaft wies A rgentinien som it auch am E n d e
der Regierungszeit v o n P räsident M enem bedeutende Schw ächen im
H inblick a u f das Idealm odell ziviler Suprem atie auf.
Im abschließenden B eitrag setzt sich Peter Thiery m it der Frage aus­
einander, inwiefern in A rgentinien in den 90er J ahren v o n einer funktio-
14 P e te r Birle / S andra C arreras

nierenden rechts staatlichen D em okratie die R ede sein konnte. A usgangs­


p u n k t seiner Ü berlegungen sind skeptische H altungen, wie sie beispiels­
weise in G uillerm o O ’D onnells T hese einer delegativen D em okratie oder
im B egriff „H yperpräsidentialism us“ zum A u sdruck kam en. A rgentinien
u n te r M enem k o n n te dem nach als Paradebeispiel für ein politisches Sys­
tem gelten, in dem sich zw ar W ahlen als alleiniger M odus zur B esetzung
der zentralen H errschaftspositionen in E xekutive u n d Legislative du rch ­
gesetzt h atten, w o sich jedoch die einm al gew ählte R egierung gezielt vo n
rechtsstaatlichen K o n trollm echanism en abgekoppelt habe. O b w o h l der­
artige B efürchtungen nach d er reibungslosen A m tsübergabe v o n M enem
an seinen N achfolger D e la Rúa zum Teil als ü b erh o lt bzw. ü b erakzentu­
iert galten, w arn t T hiery v o r voreiligen positiven Schlussfolgerungen.
W esentliche Funktionselem ente einer D em okratie h aben sich gefestigt
u n d w u rd en nicht m e h r in Frage gestellt, aber die rechtsstaatlichen S truk­
turen erw iesen sich als schw ach u n d prekär. D ie K o ntrolle der Exekutive
k o n n te n ich t in ausreichendem M aße gew ährleistet w erden, ein hybrides
R echts- u n d Justizsystem begünstigte die H erausbildung undurchsichti­
ger, parallel zu den dem okratischen Institu tio n en operierender, M achtge­
flechte. All dies äußerte sich in der A usbreitung vo n K o rru p tio n , Straflo­
sigkeit, R echtsunsicherheit u n d legislativer A n m aß u n g v o n Seiten der
Exekutive. T hiery w eist d arau f hin, dass A rgentinien laut Transparency In­
ternational E n d e d er 90er Jah re w eltw eit zu denjenigen L ändern gehörte,
in d enen die K o rru p tio n ein äußerst gravierendes P roblem darstellte.
V o n einer gelungenen Institutionalisierung der D em okratie oder gar v o n
deren K onsolidierung k o n n te infolgedessen auch E n d e der 90er Jahre
n ich t die Rede sein, auch w enn starke dem okratische G egenkräfte ein
Ü b erh an d n eh m en negativer T endenzen verhinderten.
E in B uch ü b er die Regierung M enem w äre unvollständig oh n e einige
A nm erkungen ü b er jenen M ann, d er sein L an d w ahrscheinlich m eh r ver­
än d ert h at als irgendein anderer Politiker seit Ju an D om in g o P erón
(1946-1955) u n d d er aufgrund seines Charism as, seines v o n der argenti­
nischen Ö ffentlichkeit m it gro ß em Interesse verfolgten Privatlebens3
u n d seines politischen Stils auch im m er w ieder den W eg in die internatio­
nalen M edien fan d .4 C arlos Saúl M en em Akil, so sein vollständiger

3 Siehe zum Beispiel W ornat (1999 u. 2000), V ázquez (2000) u n d W alger (1994).
4 Bilder wie die des m it dem Fußballer D iego A rm ando M aradona o der m it der
R ockgruppe Roiling Stones posierenden M enem s gingen genauso um die W elt wie die
M enem s v o r einem knallroten Ferrari, der ihm geschenkt w orden w ar und den er —
nach langen Q uerelen - letztendlich doch nicht behielt. Z u m Folgenden siehe
L eu c o /D ia z (1988); M enem (1989) u. C erutti (1996).
E in leitu n g 15

N am e, w urde 1930 als S ohn syrischer E in w anderer in La Rioja, einer der


ärm sten u n d rückständigsten P rovinzen A rgentiniens, geboren. Im Ja h r
1950 w ar er einer v o n vielen Jugendlichen, die einen Preis im R ahm en
der zu P ropagandazw ecken v o n E va P eró n ins L eben gerufenen S p o rt­
w ettkäm pfe erhielten. V o n diesem Z eitp u n k t an w urde die v o n P eró n ins
L eben gerufene Bew egung, die sow ohl in der argentinischen P arteien­
landschaft als auch in den G ew erkschaften fest verankert war, zu seiner
politischen H eim at.
N ach d em A bschluss eines Jurastu d iu m s an der U niversität vo n
C o rdoba im Ja h r 1955 w ar M enem als R echtsanw alt in La Rioja tätig.
1957 v erb rach te er einige Z eit im G efängnis, nachdem er seine Sym pa­
thie für einen A u fstandsversuch gegen die M ilitärregierung, w elche 1955
P eró n gew altsam v o n der M acht v ertrieben hatte, äußerte. K urz danach
w urde er V orsitzen d er d er v erb o ten en peronistischen Jugendorganisa­
tio n Juventud Peronista in La Rioja. E n d e d er 60er bis A n fan g der 70er
Jahre arbeitete er m it der linksgerichteten peronistischen O rganisation M on­
toneros zusam m en u n d erhielt die U n terstü tzu n g des sozial engagierten
u n d deshalb später erm o rd eten Bischofs Angelelli. G leichzeitig k o o p e ­
rierte er m it den konservativen K räften der Provinz. Bei den W ahlen am
11. M ärz 1973, an d en en erstm als seit 1955 w ieder die peronisrische PJ
teilnehm en durfte, w urde M enem m it 67% der Stim m en zum G o u v er­
n eu r v o n La Rioja gew ählt. N ach dem T o d Ju an P eróns un d dem deudi-
chen R echtsruck der R egierung v o n M aría E stela M artínez de P eró n dis­
tanzierte er sich zu n eh m en d v o n d er peronistischen Linken.
N ach d em P u tsch am 24. M ärz 1976 setzten die M ilitärm achthaber
ihn ab. D ie näch sten zwei Jah re verbrach te M enem im G efängnis. 1978
w urde er a u f B ew ährung frei gelassen, er durfte jedoch nicht in seine
H eim atprovinz zurückkehren. Seitdem zeichnete sich sein L eben durch
eine M ischung aus politischer B etätigung u n d Jet-Set-D asein aus. Bei den
ersten freien W ahlen nach dem E n d e der D ik tatur w urde M enem am 30.
O k to b e r 1983 e rn e u t zu m G o u v e rn e u r v o n La Rioja gew ählt, 1987
gelang ihm m it 63% der Stim m en die W iederwahl. Innerhalb der peronisti­
schen Partei engagierte sich M enem in den 80er Jah ren in der „E m eu e-
rungsbew egung“ , er b em ü h te sich dabei aber stets u m ein eigenständiges
P rofil u n d distanzierte sich gegen E n d e des Jah rzehnts im m er stärker
v o n der — diskreditierten — „politischen K lasse“ des Landes. Als politi­
scher outsider, der das A u ftreten eines Provinzcaudillos des 19. Ja h rh u n ­
derts nachahm te, k o n n te er sich 1988 bei den ersten direkten V orw ahlen
in d er G eschichte der PJ überrasch en d als deren Präsidentschaftskandi-
16 P e te r B irle / S andra C arreras

dat gegen den A n fü h rer der E rn eu erer u n d dam aligen P arteivorsitzenden


A n to n io C añero durchsetzen.
Im M ai 1989 gew ann M enem als K an d id at der ¥ rente Justiäalista Popu­
lar, eines W ahlbündnisses d er PJ m it m ehreren kleinen Parteien, die
zw eiten Präsidentschaftsw ahlen seit dem E n d e der D ik tatu r gegen E d u ­
ardo A ngeloz, den K andidaten der regierenden UCR. N a ch dem vorzei­
tigen R ü ck tritt des seit D e z e m b e r 1983 reg ierenden P räsid en ten R aúl
A lfonsin inm itten einer aufgew ühlten w irtschaftlichen u n d sozialen Situati­
on ü b ern ah m M enem am 9. Juli 1989 vorzeitig das A m t des Staatspräsi­
denten. A m 14. Mai 1995 w urde er für weitere vier Jahre im A m t bestätigt,
n ach d em die V erfassu n g srefo rm v o n 1994 eine einm alige W iederw ahl
erm öglicht hatte. M enem s M andat endete am 10. D ezem b er 1999.
A uch nach dem E n d e seiner A m tszeit sorgte M enem in m ehrfacher
H in sich t w eiterhin für A ufregung. Bereits frühzeitig h atte er sich den
Parteivorsitz d er PJ bis 2003 gesichert u n d seine A m bitionen a u f eine er­
neute P räsidentschaftskandidatur im Ja h r 2003 zum A usdruck gebracht.
Sein politischer Stern, der bereits im V erlau f seiner zw eiten A m tsperiode
stark verblasst w ar, sank jedoch w eiter, u n d in U m fragen avancierte der
einstm als so populäre M enem zu einem der unbeliebtesten Politiker des
Landes.
Schlagzeilen ü b er das P rivadeben M enem s gab es schon seit den 70er
Jahren. E ine w ichtige E p iso d e m it politischen K onseq u en zen w ar seine
1990 erfolgte S cheidung u n d die dam it v erb u n d en e Schw ächung des
Einflusses der aufständischen M ilitärs Carapintadas, die enge V erb in d u n ­
gen m it seiner dam aligen E h efrau Z ulem a Y om a aufgebaut hatten. Als
M enem im M ai 2001 die fast 40 Jah re jüngere Chilenin Cecilia B olocco,
eine b ekannte F ern seh m o d erato rin u n d ehem alige Miss U niversum , hei­
ratete, versu ch te er m öglicherw eise, den M edienerfolg seiner politischen
A h n en Ju a n u n d E va P e ró n zu w iederholen.
N u r w enige Tage später eröffnete die argentinische Justiz ein form a­
les E rm itü u n g sv erfah ren gegen M enem u n d stellte den knapp 71jährigen
am 7. J u n i 2001 u n te r H ausarrest. D ie am 4. Juli erh o b en e A nklage laute­
te u n te r anderem a u f „B ereicherung im A m t“ u n d „ G rü n d u n g einer kri­
m inellen V ereinigung“ . D e m ehem aligen P räsidenten w urde, genauso
wie vielen seiner politischen W eggefährten, vorgew orfen, 1993 in illegale
W affenverkäufe nach K ro atien u n d E c u a d o r verw ickelt gew esen zu sein.
D as G erich t o rd n ete U ntersu ch u n g sh aft an, die M enem w egen seines A l­
ters jedoch n ich t im G efängnis verbringen m usste. Stattdessen w urde er
au f dem A nw esen eines b efreu n d eten U n ternehm ers u n te r A rrest ge­
stellt, bis der O b erste G e ric h tsh o f ihn nach einem äußerst um strittenen
E in leitu n g 17

U rteil im N o v e m b e r 2001 w ieder a u f freien Fuß setzte. O b die politische


K arriere M enem s n o ch einm al eine F ortsetzung findet, bleibt abzuw ar­
ten. T atsache ist, dass seine zehnjährige R egierungszeit, die v o n A nfang
an v o n Skandalen u n d K o rru p tio n sv o rw ü rfen begleitet war, die argenti­
nische G esellschaft, W irtschaft u n d Politik grundlegend verändert hat.
D ie R eform en der R egierung M enem w urden v o n A nfang an sehr
k o ntrovers diskutiert, auch w en n die W iedererlangung w irtschaftlicher
Stabilität nach Ja h rzeh n ten der H o ch - u n d H yperinflation viele K ritiker
lange Z eit vorsichtig agieren Heß. Spätestens die E n d e des Jahres 2001
offen ausgebrochene w irtschaftliche u n d poKtische K rise zw ang dazu,
sich ern eu t m it den A rgum enten d er R eform befürw orter un d —kritiker
auseinander zu setzen. G an z offensichtlich w ar A rgentinien w eit davon
entfernt, seine w irtschaftiichen u n d sozialen P roblem e überw unden un d
p o htische StabiHtät erreicht zu haben, wie dies viele offizielle Steüung-
nah m en im V erlau f der 90er Jah re suggerierten. V ielm ehr traten m it aller
D eutlichkeit die E rgebnisse einer langen G eschichte der Illusionen u n d
des Scheitem s zu Tage. D e r argentinische R echtsphilosoph E rn esto
G arzó n Valdés sprach m it BUck a u f die zehnjährige Regierungs zeit u n te r
Carlos M enem v o n einer „neohberalen Illusion“ (G arzón Valdés 2000:
323ff.). W enn es A rgentinien geHngen soll, zukünftige Illusionen zu ver­
m eiden, aus Fehlern zu lernen u n d einen tragfähigen E ntw icklungspfad
einzuschlagen, so setzt dies zun äch st eine grüncUiche un d n ü chterne
Analyse d er im V erlau f des vergangenen Jahrzehnts gem achten E rfah ­
ru n g en voraus —o h n e die R eform en zu däm onisieren, aber auch oh n e sie
zu m ythifizieren. D ies ist das Ziel des vorH egenden Buches.

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Sandra Carreras

Instabilität als K onstante? Entw icklungslinien


A rgentiniens im 20. Jahrhundert

L a s s t u n s [...] in je d e m S c h u lk in d e in e n fre n e tis c h e n a b g ö ttis c h e n V e r e h r e r


d e r A rg e n tin is c h e n R e p u b lik a u s b ild e n , in d e m w ir ih m b e ib rin g e n — w e il
d ies d e r W a h rh e it e n ts p r ic h t d a ss k e in a n d e re s L a n d a u f d e r E r d e r ü h m ­
lic h e re T a t e n in s e in e r G e s c h ic h te , a ltru is tis c h e re n E ife r, lib e ra le re I n s titu ti­
o n e n , g e s ü n d e re B rä u c h e , g r o ß z ü g ig e re s V e rh a lte n u n d e in e g la n z v o lle re
Z u k u n f t v o rw e is e n k a n n (Z it. n a c h E s c u d é 1990: 46).

M it diesen W o rten drückte E nriq u e de Vedia, der damalige R ektor des


Colegio Nacional de Buenos Ñ ires —jener w ichtigen B ildungseinrichtung, die
d arau f spezialisiert war, die jungen M itglieder der argentinischen Elite au f
das U niversitätsStudium vorzu b ereiten — den un g etrü b ten O ptim ism us
aus, m it dem das L and im Jah re 1910 sein hundertjähriges B estehen als
unabhängige R epublik feierte u n d in die Z u k u n ft schaute.
Im G egensatz zu diesen E rw artungen n ahm jedoch die G eschichte
des L andes im 20. Ja h rh u n d erts einen ganz anderen Verlauf: V o n kurzen
P hasen dynam ischer E ntw icklung abgesehen, w urden vielm ehr politische
Instabilität u n d verzögertes bzw. fehlendes W achstum zu einer K o n sta n ­
te, die dazu führte, dass A rgentinien im internationalen u n d lateinam eri­
kanischen V ergleich zurückfiel u n d zu einem „Schw ellenland a u f D a u e r“
(W aldm ann 1985a) w urde.
Im Folgenden w erden die G rundlinien der argentinischen E ntw ick­
lung im 20. J a h rh u n d e rt bis zum A m tsan tritt v o n Carlos M enem als
S taatspräsident nachgezeichnet. N ach einer knappen D arstellung der po­
litischen G eschichte m it S chw erpunkt a u f den W echselw irkungen zw i­
schen der politischen u n d d er sozioökonom ischen D im ension folgt der
V ersuch, die w esentlichen M erkm ale der politischen T radition A rgenti­
niens aufzuarbeiten. B esondere A ufm erksam keit v erdient dabei die für
d en g rö ß ten Teil des Jah rh u n d erts charakteristische Instabilität. D ie kon-
fliktive historische E ntw icklung w irkte prägend a u f die B esonderheiten
d er politischen Institutionen u n d den C harakter der beteiligten A kteure.
D em en tsp rech en d w ird auch das B eziehungsgeflecht analysiert, das sich
im L aufe der Z eit u n te r den verschiedenartigen soziopolitischen A kteu-
20 Sandra C arreras

ren des L andes — v o r allem den politischen Parteien, den Militärs, den
G ew erkschaften u n d den U n ternehm erverbänden — herausbildete. A b ­
schließend richtet sich die A ufm erksam keit au f den P eronism us, un d
zw ar w eniger a u f angebliche K o n stan ten als a u f das historisch feststell­
bare Spannungsverhältnis zw ischen W andel u n d K ontinuität, die die G e­
schichte dieser B ew egung ü b er fü n f Jah rzeh nte hinw eg kennzeichnet.
N u r v o r dem H in terg ru n d dieses historischen Bezugsrahm ens können
die R egierungsjahre u n te r Carlos M enem angem essen analysiert u n d be­
w ertet w erden.

D ie oligarchische R epublik (1880-1916)

M it der M ai-R evolution (1810) w urde die H erausbildung des argentini­


schen N ationalstaats eingeleitet, dessen erste Phase durch lang andau­
ernde Bürgerkriege geprägt war. A uch die V erabschiedung der liberalen
V erfassung v o n 1853 brachte n och keine E n d e der gew alttätigen A usei­
nandersetzungen. E rs t n achdem 1880 m it einem blutigen Feldzug die
letzten indigenen B evölkerungsgruppen aus dem fruchtbaren G eb iet der
Pampa Húmeda v ertrieben w o rd en w aren u n d der politische K onflikt zwi­
schen der Provinz B uenos Aires u n d der N ationalregierung definitiv bei­
gelegt w urde, begann für A rgentinien eine P eriode w irtschaftlicher u n d
p olitischer Stabilität. D u rch die Integration in den W eltm arkt sowie die
m assive E in w an d eru n g w andelte sich die soziale u n d w irtschaftliche
S truktur des Landes m it atem beraubender G eschw indigkeit. Zw ischen
1870 u n d 1914 kam en ru n d sechs M illionen A usländer ins Land. D ie
m eisten stam m ten aus Italien u n d Spanien. E tw a die H älfte der Im m ig­
ran ten blieb in A rgentinien u n d trug als w esentlicher F aktor zu m B evöl­
kerungsw achstum bei. D ie dem ographische E xpansion führte zu einer
raschen U rbanisierung, die sich allerdings a u f die H afenstädte B uenos
A ires u n d — m it g roßen A b stan d — R osario konzentrierte. D ie H au p t­
stadt w urde innerhalb v o n w enigen Ja h re n zu einer m odernen u n d äu­
ß erst dynam ischen M etropole (Scobie 1974; R ock 1985: 141-144).
In diesem Z eitraum verzeichnete das L and ein überdurchschnittli­
ches w irtschaftliches W achstum . A m V o rab end des E rste n W eltkriegs
gehörte A rgentinien zu den w eltw eit fü hrenden E x p o rteu ren landw irt­
schaftlicher P rod u k te, v o r allem v o n G etreide, W olle u n d Rindfleisch.
D as L and unterh ielt eine enge w irtschaftliche K om plem entärbeziehung
zu G roßbritannien: V o n d o rt kam en die m eisten Industriegüter sowie die
K redite u n d D irektinvestitionen, die zunächst das W achstum finanzier­
ten (F ord 1975; G a llo /C o rté s C o nde 1984: 97-128; C ortés C onde 1979).
Instab ilität als K o n sta n te ? 21

T a b e lle 1: D a s arg en tin isch e B ruttoinland sprodu kt im in tern ation alen V ergleich ,
1877-1910
Jah r A rgentinien M exiko Brasilien G roßbritannien USA.
1877 594 613 1.115 16.690 21.269
1910 4.693 2.006 2.129 36.556 95.201
Quelle: Rocchi 1998: 536

T a b e lle 2: Pro K opf-B ruttoinland sprodu kt im V e rg le ic h , 1877-1910 (in U S D 1950)


|ah r A rgentinien M exiko Brasilien G roßbritannien USA.
1877 264 62 83 497 430
1910 683 132 94 807 1.035
Quelle: Rocchi 1998: 536

In politischer H in sich t konsolidierte sich ab 1880 ein v o n der argentini­


schen G eschichtsschreibung als „K onservative O rd n u n g “ bezeichnetes
System , das sich zw ar form al a u f die liberale V erfassung v o n 1853 g rü n ­
dete, in der Praxis jedoch eine oligarchische R epublik darstellte. D ie
herrschende Elite ü b te in diesen Jah ren eine rigorose K ontrolle über
säm tliche Bereiche des politischen L ebens aus. D u rc h institutionelle M e­
chanism en sicherte sie sich die K o n tro lle ü b er die P räsidentschaftsnach­
folge, ü b er den Senat, dessen Z usam m en setzung v o m W illen der P ro ­
v inzgouverneure abhängig w ar, u n d ü b er die Provinzregierungen, deren
K o m p eten zen durch Interv en tio n en der Z entralregierung stark einge­
g renzt w urden. E in p robates M ittel stellten dabei W ahlm anipulationen
bzw. -betrug d ar (Botana 1985a).
D ie fehlende R epräsentativität d er R egierung blieb nicht a u f D au er
unangefochten. D ie aufstrebenden M ittelschichten schenkten ihre U n ­
terstü tzu n g d er 1891 gegründeten O p p o sitio n sp artei Unión Cívica Radical
(UCR; Radikale B ürgerunion), die jeden K o m prom iss m it dem Regim e
ablehnte u n d freie W ahlen forderte. E ine kleine aber aktive Sozialistische
P artei v ersuchte, eine B rücke zw ischen den M ittelschichten u n d der Ar­
beiterbew egung zu schlagen, allerdings o h n e großen Erfolg. D ie städti­
schen A rbeiter organisierten sich vorw iegend in käm pferischen G ew erk­
schaften u n te r starkem E influss anarch istischer S tröm ungen, die die
Legitim ität des Staates grundsätzlich in Frage stellten (Gallo 1986: 385-388;
Bilsky 1985).
1912 gelang es d er fortschrittlichen F raktion der Elite u n ter F ührung
des dam aligen Staatspräsidenten R oque Sáenz P eña eine W ahlreform
durch zu fü h ren , die a u f eine Stärkung der M achtbasis der Bourgeoisie
22 Sandra C arreras

zielte. P e r G esetz (Ley Sáen^ Peña) w u rd e das allgemeine W ahlrecht für


argentinische S taatsbürger eingeführt. D am it schien die Legitim itätskrise
des politischen System s zunäch st überw unden. In der Praxis bedeutete
jedoch die neue W ahlgesetzgebung die E rlan g u ng des W ahlrechts für le­
diglich 40% bis 45% d er erw achsenen m ännlichen Bevölkerung. Frauen
u n d A usländer blieben nach wie v o r v o m G enuss politischer R echte aus­
geschlossen (D e R iz/S m u lo v itz 1991: 127).

P olitische Ö ffnung und Krise des liberalen K onsenses (1916-1930)

D e r W eg zu r Beilegung der K rise b estan d in den A ugen der Initiatoren


der Ley Sáen^Peña darin, die durch die Unión Cívica Pudicalgestellte O p p o ­
sition als Ju n io rp a rtn e r in das System zu integrieren. D ie A usw irkungen
der R efo rm übertrafen diese E rw artungen jedoch bei weitem: D ie ersten
nationalen W ahlen, die 1916 a u f d er G rundlage des neuen G esetzes ab­
gehalten w urden, b rachten H ipólito Y rigoyen, den F ü h rer der Radikalen
B ürgerunion, ins P räsidentenam t. D ie aufeinanderfolgenden W ahlsiege
des R adikalism us in den Ja h re n 1922 u n d 1928 m ach ten dann deutlich,
dass die zu v o r regierenden oligarchischen G ru p p e n nicht in der Lage w a­
ren, die P räsidentschaft durch freie W ahlen w iederzuerlangen. Allerdings
hatten die konservativen K räfte sich w ichtige M achtenklaven in den
Provinzregierungen u n d im Senat bew ahrt, was zu ständigen K onflikten
zw ischen diesen In stitu tio n en u n d d er nationalen E xekutive führte. P rä ­
sident Y rigoyen versuchte, diese K onflikte durch Interv en tio n en in den
P ro v in zen u n te r K on tro lle zu halten (P o tter 1981; M ustapic 1984).
D e r politische W echsel hatte keine n ennensw erten K onsequenzen
für die ö konom ische E ntw icklung. N ach Ü b erw indung der durch den
E rste n W eltkrieg ausgelösten H an d elsstö ru n g en w uchs die argentinische
W irtschaft w eiter bis 1929, w en n auch langsam er als zuvor. Z u diesem
Z e itp u n k t w aren die E xpansionsm öglichkeiten der L andw irtschaft durch
E rschließung n eu er A nbauflächen ausgeschöpft. D ie besondere Bezie­
h u n g zu G ro ß b ritan n ien hielt zw ar an, zugleich m achte sich die Präsenz
U S -am erik an isch er In v e stitio n e n u n d Im p o rte jed o ch zu n e h m e n d
bem erkbar. Im G egenzug gelang es A rgentinien nicht, seine eigenen P ro ­
dukte a u f d em nordam erikanischen M arkt abzusetzen (C antón/M ore-
n o /C iria 1986: 21-46; R o ck 1986: 419-426).
U n te r solchen B edingungen tra f die W eltw irtschaftskrise (1929) die
argentinische V olksw irtschaft besonders hart. N ach fast fünfzehn Jahren
radikaler R egierungen kündigte d er w achsende A nsehensverlust Yrigo-
yens eine N iederlage seiner Partei bei den n ächsten W ahlen an. D en n o ch
In stab ilität als K o n sta n te ? 23

entschied sich die konservative O p p o sitio n genau in jenem A ugenblick,


als sie der M achtübernahm e a u f legalem W eg am nächsten war, für einen
B ruch der dem okratischen V erfahrensregeln. M itten in der W irtschafts­
krise v o n 1930 setzte ein v o n der w irtschaftlichen u n d sozialen E lite so­
wie nationalistischen K reisen u n terstü tzter M ilitärputsch u n ter G eneral
U tib u ru die verfassungsm äßige O rd n u n g außer K raft (C antón/M ore-
n o /C iria 1986: 159-164; R ouquié 1981: 181-222).

Reform stau und Wahlbetrug: die D écad a Infam e (1930-1943)

Im L aufe der folgenden Jah re, die als die „Infam e D ekade bezeichnet
w erden, w urde der V ersuch u n tern o m m en , die F orm el des „goldenen
Z eitalters“ d er O ligarchie n eu zu beleben: U m die E in fu h r v o n D evisen
zu sichern, suchte m an zun äch st durch den u m strittenen R oca-R uncim an
V ertrag (1933) privilegierte H andelsbeziehungen zu G ro ß b ritan n ien zu
sichern. E s gab auch K räfte, die a u f eine (im portsubstituierende) In d u st­
rialisierung, eine D iversifizierung d er E x p o rte u n d A bsatzm ärkte sowie
a u f eine A n n ä h e m n g an die U SA setzten. E n tsprechende R eform pläne
v o n W irtschaftsm inister P in ed o scheiterten jedoch 1941 an den in n e n p o ­
litischen M achtverhältnissen. D ie B eziehungen zu den V ereinigten Staa­
ten blieben aufg ru n d d er un tersch ied lich en P o sitio n en beider L änder
bezüglich des Z w eiten W eltkrieges sowie des K onkurrenzverhältnisses auf
dem internationalen M arkt für A g rarprodukte schw er belastet (Rock
1975: 220-249; C ram er 1999: 87-144).
D ie Suche nach neuen W irtschaftsstrategien w ar begleitet v o n politi­
schen V eränderungen. D e r u n te r dem N am en fraude patriótico v o n den
konservativen R egierungen m ehrfach angew andte W ahlbetrug bew irkte
eine system atische B enachteiligung d er O p p o sitio n (C a n tó n /M o re n o /
Ciria 1986: 164-173). H in zu kam eine A usbreitung nationalistischer
Ström ungen m it zu n eh m en d korporatistischen T endenzen. D ie Streit­
kräfte traten nun im m er stärker als W äch ter des politischen Spiels au f
(Rock 1995: 87-138; S pektorow sky 1994). Breite B evölkerungsschichten
blieben v o n politischen E ntsch eid u n g en ausgeschlossen u n d verloren
das V ertrauen zu den politischen Parteien. N ach einer zunächst harten
O p p o sitio n sh altu n g w aren die U C R u n d die Sozialistische P artei ab M it­
te des Jah rzeh n ts teilweise dazu übergegangen, K om prom isse m it den
konservativen M achthabern auszuhandeln. D abei verzichteten sie a u f ei­
ne V erm itderrolle zw ischen gesellschaftlichen Forderungen u n d der p o li­
tischen A rena bzw. blieben —sobald sie dies versuchten —erfolglos (Ciria
1985; C a n tö n /M o re n o /C iria 1986: 180-189).
24 S andra C arreras

U n te r diesen U m ständen w ar eine entschiedene A bsage an das k o n ­


servative Regim e u n d die H in w en d u n g zu einer liberalen D em okratie
nicht zu erw arten. A b 1943 setzte vielm ehr eine erneute politische T ra n s­
form ation ein, die u n ter dem V orzeichen einer neuen politischen K raft
stattfand: dem Peronism us.

Im Z eich en des Peronism us (1943-1955)

„P ero n ism u s“ u n d „Justizialism us“ sind zwei A usdrücke, die v o r m eh r


als fünfzig Ja h re n als Selbst- u n d F rem dbezeichnung der Bew egung ein­
geführt w urden, die sich u m Ju a n D o m in g o P eró n gebildet hatte. Beide
B ezeichnungen w erden bis heute synonym verw andt. Als G eb u rtsd atu m
der Bew egung gilt in der peronistischen T rad ition der M assenprbtest, der
am 17. O k to b e r 1945 die Freilassung P eró n s aus der durch die Militär-
führung des Landes angeordneten H a ft erzwang. Seine politische K arrie­
re h atte P eró n als M itglied d er „ G ru p p e d er V ereinigten O ffiziere“ (G ru­
po de Oficiales Unidor, G O U ) begonnen, einer Loge, der große V erantw or­
tung bei den V o rbereitungen des P utsches v o m 4. Ju n i 1943 zukam , w el­
cher d er konservativen R estauration ein E n d e setzte u n d eine neue Mili­
tärregierung an die M acht brachte.
D u rc h den w achsenden Einfluss O b e rst P eróns praktizierte dieselbe
A dm inistration, die Z eitungen schloss, unfügsam e F unktionäre entließ,
in U niversitäten intervenierte, des K o m m u n ism us verdächtigte G ew erk­
schaftsführer verhaftete u n d in den Schulen den obligatorischen Religi­
onsu n terrich t einführte, im Z eitraffertem p o eine Sozialpolitik, die für das
A lltagsleben der u n teren M ittelschicht u n d der U nterschicht erhebliche
V erbesserungen brachte. D ie erstgenannten M aßnahm en provozierten
den W iderstand eines g roßen Teils d er Ö ffentlichkeit, die darin das Sig­
nal eines au fkom m enden Faschism us sah. D agegen sicherten die sozial­
politischen R eform en ihrem Initiator P eró n , jedoch nicht dem Regime
insgesam t, das V ertrauen u n d die U n terstü tzu n g zahlreicher B egünstig­
ter, w äh ren d w eite Teile d er U n tern eh m ersch aft ihm m it M isstrauen be-
gegneten (H alperin D o n g h i 1986: 28-50; C ram er 1999: 301-349).
Z u den w ichtigsten sozialpolitischen M aßnahm en g ehörten die O r­
ganisation eines R entensystem s, die S chaffung v o n A rbeitsgerichten, ein
A rbeitsstatu t für die L andarbeiter, die E in fü h ru n g der B erufsbildung für
Jugendliche, V orschriften zu m Schutz v o r A rbeitsunfällen, V erbesserun­
gen bezüglich der A rbeitsbedingungen v o n H auspersonal, die G arantie
bezahlten U rlaubs, L o h n erh ö h u n g en , die Festlegung eines gesetzlichen
R ahm ens für K ollektivverhandlungen sowie gewisse A rbeitsplatzgaran­
In stab ilität als K o n sta n te ? 25

tien. E n d e 1945, als der W ah lk am p f für die nächsten N ationalw ahlen be­
reits begonnen hatte u n d P eró n selbst als K andidat auftrat, w urde per
D ek ret die Z ahlung v o n W eihnachtsgeld verfügt. (Rouquié 1982: 46-54
u. 73; M atsushita 1986: 275-282).
D e r g rößte Teil dieser sozialpolitischen M aßnahm en datiert au f das
Ja h r 1944, als P eró n das Staatssekretariat für A rbeit leitete. D abei hatte
die „A ra P e ró n “ (W aldm ann 1996b: 925) erst angefangen. Als Sieger in
einw andfrei durchg efü h rten W ahlen ü b ern ah m er 1946 die P räsident­
schaft des Landes. C harism atische H errsch aftsausübung u n d P erso n a­
lism us w aren die herausragendsten M erkm ale seines politischen F ü h ­
rungsstils. D ie neue R egierung k o n n te zunächst m it der U nterstützung
der M ilitärs, der K irche u n d d er G ew erkschaften rechnen, m usste sich
aber auch u m die K on tro lle der eigenen R eihen bem ühen. H ierbei kam
dem P räsidenten seine E h efrau E va zu r Hilfe. Sie übern ah m eine dreifa­
che Rolle bei d er K onsolidierung des n euen politischen Gefüges. E rstens
agierte sie als V erm ittlungsinstanz zw ischen dem P räsidenten u n d den
G ew erkschaften u n d ü b te de facto die F unktion einer A rbeitsm inisterin
aus. Z w eitens organisierte u n d führte sie die F rauensektion der Peronisri­
schen Partei, w o d u rch — nach der V erabschiedung des G esetzes zum
Frauenw ahlrecht —die U n terstü tzu n g dieser W ahlklientel für das Regim e
gew onnen w erden sollte. D ritten s leitete sie ein breit angelegtes Sozial­
w erk, das die B edürfnisse jener gesellschaftlichen G ru p p en zu decken
suchte, die n ich t durch die Sozialversicherung der organisierten A rbeiter­
schaft v erso rg t w urden, d.h. v o r allem v o n K indern, Frauen, älteren
M enschen u n d M arginalisierten (W aldm ann 1985b: 108-178; N avarro
1997: 201-265; P lo tk in 1993: 215-296).
D ie F inanzierung der peronisrischen Sozialpolitik w ar au f der
G rundlage der dam als besonders günstigen Situation der argentinischen
Staats finanzen m öglich. Z u diesem Z eitp u n k t zählte das L and zu den
G läubigem ationen. D e r Rückgang d er E in fu h ren w ährend des Z w eiten
W eltkrieges h atte u.a. respektable Z ahlungsbilanzüberschüssen u n d ver­
stärkte Industrialisierungsbem ühungen zur Folge, die w iederum zu einer
A uslastung d er industriellen K apazitäten sowie zu V ollbeschäftigung
führten. Z u d em sicherte die w iederbelebte europäische N achfrage nach
A grarerzeugnissen w äh ren d d er ersten N achkriegsjahre ein hohes P reis­
niveau für argentinische E x p o rtp ro d u k te. E ine expansive G eld- u n d
K reditvergabepolitik sowie steigende L ö h n e kurbelten zusätzlich die
N achfrage nach K o n su m g ü tem an (W aldm ann 1996b: 925).
A b 1949 verän d erte sich jedoch die K onjunktur: D ie G oldreserven
schrum pften, die Inkonvertibilität des britischen Pfundes versperrte Ar-
26 S andra C arreras

gentinien die M öglichkeit z u r V erw ertung seiner angehäuften D evisen.


D e r U S-H andelsboykott v erhinderte den Im p o rt v o n K apitalgütern u n d
som it die w eitere A u sd eh n u n g der industriellen P roduktion. D e r D ruck,
den die V ereinigten Staaten a u f die europäischen A grarim porteure aus­
übten , brachte diese dazu, v o n argentinischen A grarerzeugnissen zu
G u n ste n kanadischer, australischer u n d n ich t zuletzt U S-am erikanischer
E x p o rte abzusehen. D ie k o nstante A bschöpfung' der ohnehin sinkenden
R endite der A grarp ro d u zen ten durch den Staat führte zu einer V erringe­
ru n g der A nbauflächen. 1952 kam es sogar zu E ngpässen bei der Le­
bensm ittelversorgung für den B innenm ark (Escudé 1983: 347-374;
F o d o r 1989; G e rc h u n o ff 1989: 61-71).
D e m e n tsp rech en d w ar die zweite P hase der peronisrischen W irt­
schaftspolitik anderen Zielen gewidm et: Im V ordergrund standen n u n ­
m eh r die F örd eru n g der L andw irtschaft, die Liberalisierung der B edin­
gungen für ausländische Investoren, eine restriktivere L ohnpolitik u n d
ein haushaltspolitischer Sparkurs. D iese K o rrekturen zeigten insofern
E rfolg, als es d er R egierung gelang, ab 1953 eine Stabilisierung herbeizu­
führen, o hne allerdings die strukturellen D efizite beseitigen zu können
(G e rc h u n o ff 1989: 71-81; W ald m an n 1996b: 928).
A u f die w achsenden w irtschaftlichen Schwierigkeiten reagierte der
P räsident m it politischer U nnachgiebigkeit. Sein V ersuch, ein korpora-
tistisches Staatsm odell u n te r E inb ezieh u n g aller gesellschaftlichen K räfte
zu etablieren, w obei die nationale E xekutive (konkret: Perón) die Rolle
des h ö ch sten Schiedsrichters einnehm en sollte, stieß allerdings nicht nur
au f Z ustim m ung. D e r hegem oniale A nspruch der Regierung, die stark
populistische R hetorik, die straffe politische Z en su r u n d die V erfolgung
oppositioneller K räfte bew irkte eine zuneh m en de Polarisierung der p o li­
tischen A u sein an d ersetzu n g u n d schließlich eine tiefe Spaltung der
argentinischen G esellschaft in zwei verfeindete Lager. D ie politische E ska­
lation m ü n d ete 1955 in einen erneuten, v o n einer breiten O p p o sitio n s­
fro n t getragenen M ilitärputsch (H alperin D o n g h i 1986: 58-67).

D as „unm ögliche Spiel“: Z w ischen Militärdiktatur und begrenzter


D em okratie (1955-1983)

D ie soziopolitischen K räfte, die sich a u f eine konzertierte A ktion gegen


den P eronism us einigen k o n n ten , h atten ansonsten w enig gem einsam .
Z w ischen 1955 u n d 1973, als der Justizialism us w iederum die R egierung
ü b ern ah m , kreiste die zentrale Frage d er argentinischen Politik u m die
Integration bzw. den A usschluss des P eronism us u n d seines Führers.
In sta b ilitä t als K o n sta n te ? 27

D ie w iederholte Präferenz des Militärs u n d eines nicht gering zu schät­


zenden Teils des politischen Spektrum s für letztere O p tio n führten zu
einem „unm öglichen Spiel“ (O ’D onnell): Alle V ersuche, eine W iederher­
stellung d er In stitu tio n en bei gleichzeitigem V e rb o t des P eronism us zu
erreichen, erw iesen sich n ich t n u r als illegitim, so ndern auch als u n d u rch ­
führbar (O ’D o n n ell 1972: 181-213). D ie Fixierung a u f dieses D ilem m a
v ersperrte den A kteuren u n d d er Ö ffentlichkeit insgesam t jedoch den
Bück für w eitere tie f greifende K onflikte, die die argentinische G esell­
schaft spalteten u n d die ung elö st bzw. unverm ittelt blieben.
E ntgegen den E rw artu n g en der M ilitärregierung der sogenannten
„B efreiungsrevolution“ (Revolución Libertadora), die die „E ntperonisie-
ru n g “ des L andes m it allen M itteln v o ran treiben w ollte, führten das V er­
b o t d er Peronistischen Partei, das erzw ungene Exil P eró n s u n d die V er­
folgung seiner A nh än g er zu einem Z u sam m enrücken der peronistischen
G ew erkschaften, die geschlossen in den W iderstand gingen (James 1993:
72-100; M cG uire 1997: 81-93). D ie zivilen R egierungen F rondizi (1958-
1962) u n d Illia (1963-1966) m ussten sich einerseits m it den F orderungen
einer O p p o sitio n auseinandersetzen, die zw ar nicht legal agieren durfte,
gelegentlich jedoch die M ehrheit d er B evölkerung hinter sich w usste.
A ndererseits w aren sie d em D ru c k d er Militärs unterw orfen, die sich
zw ar im m er w eniger einig w aren, wie m it den P roblem en des Landes
u m zugehen sei, jedoch im m er m e h r in den politischen V o rdergrund tra­
ten (O ’D o n n ell 1972: 167-179; C avarozzi 1987:13-35; T o rr e /D e Riz
1991: 101-144).
E rs t in den siebziger Jah ren , nach der R ückkehr P eró n s nach A rgen­
tinien, kam es zu einem ersten V ersuch, die politischen P arteien als w ich­
tige A chse der Interessenartikulation aufzuw erten un d gleichzeitig durch
einen Sozialpakt die W irtschaft zu stabilisieren. A b er auch dieser V er­
such scheiterte: D ie innerhalb wie außerhalb der Justizialistischen Bew e­
g u n g en tfesselte linke u n d re c h te G ew alt b ra ch te einm al m e h r die
D em o k ratie zu Fall. (C avarozzi 1984: 147-148); M aceyra 1983; D i Telia
1985).
D as als Proceso de Reorganización Nacional (Prozess der N ationalen Re­
organisation) bekan n te autoritäre Regim e der Jah re 1976 bis 1983 u n ter­
schied sich qualitativ in m eh rfach er H insicht v o n den vorhergehenden
D iktaturen. Z u m einem w ar es jenes M ilitärregim e, das seine In stitu tio ­
nalisierung am w eitesten vorantrieb. Z w eitens kam in den Jah ren seines
B esteh en s eine W irtsch aftsp o litik z u r A n w en d u n g , die eine n ich t
um kehrbare W ende in der sozioökonom ischen Entw icklung des Landes ein­
leitete. Schließlich erreichte der Staatsterrorism us ein bis dahin in A rgen-
28 S andra C arreras

tinien u n b ek an n tes A usm aß. Im G egensatz zu den vorhergehenden Mili­


tärregierungen beschränkte sich der Proceso nicht darauf, die Spitze des
Staatsapparates zu kontrollieren. Alle V erw altungsebenen w urden m it
M ilitärpersonal besetzt, w obei eine b esondere F o rm der M ilitärbürokra­
tie en tstan d (Castiglione 1992: 52-83).
D as W irtschaftsm inisterium g ehörte zu den Bereichen m it der ge­
ringsten M ilitärpräsenz. D ieses R esso rt w urde nach dem Staatsstreich ei­
nem Zivilisten, Jo sé A. M artínez de H o z, anvertraut. D ie v o n dem neuen
M inister v erk ü n d eten w irtschaftspolitischen Ziele w aren die B ekäm pfung
der Inflation, die F ö rd eru n g des W irtschaftsw achstum s, die Beseitigung
des Staatsdefizits sowie eine uneingeschränkte A ußen ö ffn u n g für H andel
u n d Investitionen. D ie v o n ih m ergriffenen M aßnahm en brachten aller­
dings auch andere Ergebnisse: einen drastischen R ückgang der A rbeit­
nehm ereinkünfte n ich t n u r in absoluten Z ahlen, sondern auch bezüglich
ihres A nteils am B ruttosozialprodukt. In einem inflationären K o n tex t
pro v o zierte die Freigabe d er Preise bei gleichzeitigem Einfrieren von
L ö h n en u n d G eh ältern R eallohnverluste v o n etwa 40% im ersten A m ts­
jahr, o h n e dass später eine E rh o lu n g zu verzeichnen gew esen wäre. D ies
bedeutete eine beträchtliche U m verteilung d er E in k o m m en zugunsten
der O b ersch ich ten u n d der nicht-lohnabhängigen Sektoren (Schvarzer
1986: 395; Beccaria 1991).
In d er Praxis w u rd en die antiinflationären M aßnahm en u n d die Re­
duzierung des H aushaltsdefizits anderen In teressen geopfert. E ntgegen
d er offiziellen anti-staatlichen R hetorik kam es zw ischen 1976 u n d 1981
nicht zu einer V erkleinerung des öffentlichen Sektors, sondern im G e ­
genteil zu d essen A usw eitung. D ie S taatsausgaben stiegen sogar an.
U rsache dafür w aren u n te r anderem die erh ö h ten A usgaben für V erteidi­
gung u n d Sicherheit, für die In frastru k tu r in den G renzgebieten u n d für
die E nergiepolitik. G leichzeitig w urde eine eigenartige Privatisierungspo­
litik durchgeführt. Einige große B etriebe w urden zergliedert u n d in Teilen
verkauft; andere w u rd en sam t u n d sonders aufgelöst. D ieser M echa­
nism us erm öglichte die stufenw eise Teilprivatisierung bestim m ter Berei­
che, in denen sich unm ittelbar danach ein schnelles W achstum der betei­
ligten U n tern eh m en sg ru p p en abzeichnete. D ie realen E innahm en des
Staates w aren bei diesen T ransaktionen sehr gering, w enn nicht sogar
negativ. A u ß erd em ü b ern ah m der Staat in vielen Fällen die Schulden der
transferierten U n tern eh m en (Schvarzer 1986: 237-247; 254-277).
D ie Politik v o n M artínez de H o z führte neben einer D eindustrialisie­
ru n g des L andes zur E n tste h u n g eines aufgeheizten u n d hochgradig spe­
kulativen F inanzm arktes sowie zur A b schaffung aller B eschränkungen
In stab ilität als K o n stan te? 29

für g renzüberschreitende K apitalbew egungen (Schvarzer 1983: 23-26).


D ie h o h en Z inssätze, die Ü b erbew ertung der L andesw ährung gegenüber
dem D ollar, um fangreiche Spekulationsgeschäfte sowie eine radikale A u­
ß en ö ffn u n g der V olksw irtschaft w irkten zusam m en u n d lösten einen R e­
zessions- u n d V erschuldungsprozess aus. (A zp iazu /B asu ald o /K h av isse
1987: 194-198; Birle 1995: 157-162).
E ine solche W irtschaftspolitik k o n n te n u r in einem K o n tex t brutaler
R epression d u rchgeführt w erden. Bereits am 24. M ärz 1976 definierte die
M ilitärjunta als eines ih re r Ziele die „G ew ährleistung d er nationalen
Sicherheit“ . D a fü r w andte das autoritäre Regim e harte repressive M etho­
d en an, die sich n ich t a u f die B ekäm pfung von terroristischen G ru p p ie ­
rungen beschränkten. D e r „schm utzige K rieg“ spannte sich vielm ehr wie
ein Spinnennetz um die gesam te G esellschaft. D e r Sicherheitsapparat des
autoritären Staates deckte die letzten E ck en des L andes ab. E r w ar th eo ­
retisch als pyram idale S truktur organisiert, deren Spitze durch die M ilitär­
junta besetzt war. In d er Praxis h atten jedoch die B rigadefuhrer breitere
Befugnisse. D ie R epression zielte v o r allem au f m ilitante G ew erkschaft­
ler, kritische Journalisten, S tudenten, w iderspenstige Intellektuelle u n d
einige P riester sowie christliche Laien, die sich — im krassen G egensatz
zu der v o n der M ehrheit der kirchlichen H ierarchie an den T ag gelegten
H altu n g —sozial engagierten (C O N A D E P 1994; A n dersen 1993).
O b w o h l es schon 1980 zu D ivergenzen u n te r den m ilitärischen
M achthabern u n d A nfang 1982 zu P rotestaktionen vo n Parteien und
G ew erkschaften kam , w urde d er Ü bergang zu r D em okratie erst durch
die m ilitärische N iederlage im S üdadantik-K rieg m it G ro ß britannien aus­
gelöst (F ontana 1984; M unck 1998: 105-146). Im Ju n i dieses Jahres, als
sich das M ilitärregim e schon im A uflösungsprozess befand, beschloss
der dam alige P räsident der Z entralbank, D o m in g o Cavallo, eine A usw ei­
tu n g des geltenden Systems der W echselkursgarantien. D ad u rch ü b er­
nahm die nationale Regierung die G arantie für die Z ahlung aller Schulden
an ausländische G läubiger. A u f diese A rt u n d W eise w u rd en aus vie­
len privaten Schulden staatliche V erpflichtungen, deren R ückzahlung der
n achfolgenden dem okratischen Regierung ebenso wie der gesam ten N a­
tio n aufgeb ü rd et w urde. D ie Schuldenlast, die 1977 14,7% des B IP be­
trug, w ar 1983 a u f 41,1% angestiegen (Calcagno 1985: 62; M insburg
1991: 125 u.132).
30 S an d ra C arreras

N e u e s Z usam m enleben: Radikale R egierung versus peronistische


O pposition

1983 ü b ern ah m Raúl A lfonsin die R egierung des Landes. D ie T atsache,


dass zu m ersten Mal der P eronism us in freien W ahlen v o n der U C R be­
siegt w erden k onnte, w urde als eine V eränderung der politischen K ultur
bew ertet. In W irklichkeit w aren die traum atischen Ereignisse d er v o rh e r­
gehenden Jahre, die fehlende Selbstkritik der peronistischen F ü h rer so­
wie ih re geringe Sensibilität für die n eu en Bedürfnisse der W ählerschaft
dafür verantw ortlich, dass die neue D em o k ratie u n te r einer radikalen R e­
gierung starten sollte. D iese gab sich jedoch bald als B egründer einer
„d ritten historischen B ew egung“ aus, die eine Synthese zw ischen Yrigo-
yenism us u n d P eronism us u n te r d er F ü h ru n g v o n A lfonsin sein sollte.
D ab ei ü b erschätzte d er neue P räsid en t seine eigene Stärke, d en n der P e­
ronism us kon n te m ehrere P rovinzregierungen für sich gew innen, eine
einfache M ehrheit im Senat stellen u n d seine u nangefochtene P osition in
den G ew erkschaften bew ahren. F ü r eine erfolgreiche B ew ältigung der
schw erw iegenden Problem e, die a u f d em L an d lasteten, w ar eine enge
parlam entarische K o o p eratio n nahezu unabdingbar. D azu kam es jedoch
nicht.
A u f zwei Politikfeldern w u rd e die L eistungsfähigkeit der R egierung
—u n d m it ih r die des neuen dem okratischen Regim es insgesam t —a u f die
P ro b e gestellt: dem U m gang m it den S treitkräften u n d der W irtschafts­
politik. W as den ersten B ereich betrifft, zeigte sich bald, dass die Streit­
kräfte n ich t d azu b ereit w aren, die K läru n g bzw . die A h n d u n g d er
begangenen M enschenrechtsverletzungen zuzulassen. D ie zunächst dam it
befasste M ilitärgerichtsbarkeit spielte a u f Z eit u n d erklärte dann, dass die
v o n den A ngeklagten erlassenen Befehle u n d D ekrete nich t zu b eanstan­
den seien. V o r diesem H in terg ru n d zog das B undesgericht das V erfahren
an sich. A m E n d e des P rozesses w u rd en die M itglieder der ersten zwei
Juntas w egen ih rer V erb rech en zu G efängnisstrafen verurteilt, zw ei v o n
ihnen lebenslänglich (C a m a ra sa /F e lice /G o n z á le z 1985).
Als sich abzeichnete, dass w eit m e h r als T au sen d O ffiziere angeklagt
w erden k o n n ten , setzten die U niform ierten die R egierung u n te r D ruck.
In W indeseile verabschiedete das P arlam en t das „Schlusspunktgesetz“ ,
das den B undesgerichten einen Z eitraum v o n n u r n o c h 60 T agen ge­
w ährte, u m die angeklagten M ilitärs vorzuladen. D araufhin h o b e n die
K am m ern die G erichtsferien a u f u n d schafften es, bis zu m festgelegten
T erm in ü b er 400 O ffiziere vorzuladen. Viele v o n ihnen w eigerten sich,
v o r G erich t zu erscheinen. In d er O sterw o ch e 1987 kam es zu einer Re­
Instab ilität als K o n sta n te ? 31

bellion, die m it der kurz danach erfolgten V erabschiedung des „B efehls­


no tstandsgesetzes“ ihre Ziele erreichte: Alle in Straftaten verw ickelten
Militärs m it dem D ienstgrad eines O berleu tn ants oder niedriger w urden
v o n der Strafverfolgung ausgenom m en (Carreras 1999: 259-265).
D ie U m strukturierungsversuche, die v o n der H eeresleitung in E in ­
klang m it den Zielen der R egierung zu L asten der aufständischen M ittel­
ränge u n tern o m m en w urden, h atten zwei w eitere E rh eb u n g en zu r Folge.
Bezeichnenderw eise w urde die letzte v o n ih n en durch eine m ilitärintem e
Ü berein k u n ft beendet. O h n e H in zuziehung der R egierung w urde be­
schlossen, dass alle O ffiziere, die an den E rh eb u n g en teilgenom m en h at­
ten —bis a u f den A n fü h rer Seineidin —begnadigt u n d eine neue H eeres­
leitung ern an n t w erden sollte. D a rü b e r hinaus w urde erklärt, dass das
V orgehen der Streitkräfte im K rieg gegen G ro ß britannien wie auch im
R ahm en des „schm utzigen K rieges“ verteidigt w erden sollte. E rgänzend
w urde eine S o lderhöhung d u rchgesetzt (Morales Sola 1992: 151 u. 162-
168).
N o c h w eniger erfolgreich w ar die R egierung A lfonsin m it ihrer W irt­
schaftspolitik. D ab ei testete sie verschiedene H andlungsstrategien. N ach
einer kurzen Phase neokeynesianischer Politik u n ter W irtschaftsm inister
G rin sp u n , die zwei G eneralstreiks des peronisrischen G ew erkschafts­
dachverbandes (CG T) provozierte u n d in eine Inflationskrise m ündete,
entschied sich d er zw eite W irtschaftsm inister, Ju a n Sourrouille, für einen
h etero d o x en Stabilisierungskurs. D e r im Ju n i 1985 gestartete Plan A.ustral
sah einen L o h n - u n d P reisstopp für P ro d u k te, die keinen Saisonschw an­
kungen unterlagen, die E in fü h ru n g einer neu en W ährung u n d die Festle­
gung ihres K urses vor. A b er schon im M ärz 1986 m usste die Regierung
durch eine L ockerung ih rer Preispolitik den w irtschaftlichen Fakten
R ech n u n g tragen. Im Juli 1987 w ar die Inflationsrate bereits w ieder zwei­
stellig (Schröder 1990: 71-90; B o d em er 1991: 231-235).
N ach dem h erb en V erlust, den die U C R bei den Parlam entsw ahlen
1987 erlitt, w urde ein neues W irtsch aftsk o n zept für die zwei verbleiben­
den A m tsjahre A lfonsins verkündet. K ernelem ent der neuen Strategie
w ar eine Steuerreform , die d a ra u f abzielte, die öffentlichen F inanzen
w eitgehend durch E in n ah m en erh ö h u n g en u n d w eniger durch A usgaben­
senkungen zu sanieren. A b er sch o n A n fan g des Jahres 1988 kam es zu
finanziellen K risen in m ehreren P rovinzen, deren Regierungen ihren
V erpflichtungen o h n e H ilfe aus dem B undeshaushalt nicht nachkom m en
konnten. In dieser Situation hing die M öglichkeit zu r A ufrechterhaltung
der W irtschaftspolitik hauptsächlich v o n den D eviseneinkünften ab
(Schvarzer 1990; B odem er 1991: 235-240).
32 S andra C arreras

A ngesichts der bevo rsteh en d en Präsidentschafts- u n d P arlam ents­


w ahlen v erschärften die P ero n isten im Parlam ent ihre unkooperative
H altung, in den Provinzregierungen u n d den v o n ihnen beherrschten
G ew erkschaften ihren O ppositionskurs, w enn auch nicht im m er ein­
stim m ig. Je schlechter die w irtschaftliche Situation w urde, desto w eniger
w ar die O p p o sitio n dazu bereit, der Regierung bei der U m setzung ihrer
Politik behilflich zu sein. D as P arlam en t verabschiedete kein einziges der
nach Juli 1988 eingereichten W irtschaftsreform konzepte der Regierung.
V o r allem bei den P rivatisierungsplänen d er E xekutive stellten sich die
peronisrischen S enatoren q u er (Carreras 1999: 245-248 u. 279-284).
A n fan g 1989 geriet das L an d in eine H yperinflationskrise, die sich
nach dem Sieg M enem s bei den Präsidentschaftsw ahlen n o c h verschärf­
te. Sobald die Z usam m en setzu n g d er zukünftigen peronisrischen Regie­
rung b ek an n t w urde, b ü ß te die am tierende A d m inistration endgültig jeg­
liche A u to rität ein. E n d e Ju n i sah A lfonsin sich veranlasst, sein A m t v o r­
zeitig an Carlos M enem zu übergeben. Alle B eobachter w aren sich darin
einig, dass dieses n ich t verfassungskonform e V erfahren die einzige M ög­
lichkeit w ar, A rgentinien aus d er Regierbarkeitskrise zu retten.

V erfassungsbruch und Instabilität als politische Konstante

Selbst in dieser knap p en D arstellung zeichnet sich die Instabilität als w e­


sentliches M erkm al des politischen L ebens A rgentiniens im 20. Ja h rh u n ­
dert ab. Sie bezog sich n ich t allein a u f die verschiedenen R egierungen,
so n d e m ü b ertru g sich auch a u f die E b en e des politischen Systems. W e­
der die kom petitive oligarchische Regierungs form der „K onservativen
O rd n u n g “ n o ch die restriktive D em okratie —sei es m it fraude patriótico, sei
es u n te r A usschluss des P eronism us — k o n n ten sich dauerhaft beh au p ­
ten. D asselbe gilt für die v erschiedenen autoritären V ersuche u n d in be­
son d erem M aß für die liberaldem okratischen Intervalle —zum indest bis
in die achtziger Jahre. T abelle 3 v erdeutlicht die Fülle v o n M echanism en,
durch die in A rgentinien R egierungsw echsel h erbeigeführt w urde.
V o r diesem H in terg ru n d lässt sich b ehaupten, dass die A kteure der
argentinischen Politik w eitgehend in einem anom ischen K o n te x t handel­
ten (N ino 1992: 53-87; W ald m an n 1996a: 69-73). E ine längerfristige
Ü b erein k u n ft ü b er allgem ein verbindliche Spielregeln ist für den g rößten
Teil des 20. fahrhunderts n ich t auszum achen. So akzeptierten die m eis­
ten d er beteiligten A kteure eine einzige N o rm : „Ich glaube an das W ahl­
verfahren, solange ich sicher sein kann, dass m eine G eg n er nicht gew in­
nen k ö n n e n .“ (D ahl 1978: 140)
In stab ilität als K o n sta n te ? 33

T abelle 3: A rgentinische P räsid en ten im 20. Ja h rh u n d ert

Amtszeit Name Emennungsmodalität

1898-1904 Julio A. Roca . Wahlbetrug


1904-1906 Manuel Quintana Wahlbetrug
1906-1910 José Figueroa Alcorta Rechtmäßige Nachfolge nach Tod des Vorgängers
1910-1914 Roque Sáenz Peña Wahlbetrug
1914-1916 Victorino de la Plaza Rechtmäßige Nachfolge nach T od des Vorgängers
1916-1922 Hipólito Yrigoyen Freie Wahlen (für Männer)
1922-1928 Marcelo T. de Alvear Freie Wahlen (für Männer)
1928-1930 Hipólito Yrigoyen Freie Wahlen (für Männer)
1930-1932 José F. Uriburu Staatsstreich
1932-1938 Agustín P. Justo Wahlen ohne Beteiligung der UCR
1938-1942 Roberto Ortiz Wahlbetrug
1942-1943 Ramón S. Castillo Rechtmäßige Nachfolge nach Tod des Vorgängers
1943-1944 Pedro P. Ramírez Palastputsch der Streitkräfte
1944-1946 Edelmiro Farrell Palastputsch der Streitkräfte
1946-1952 Juan D. Perón Freie Wahlen (für Männer)
1952-1955 Juan D. Perón Freie Wahlen
1955 Eduardo Leonardi Staatsstreich
1955-1958 Pedro E. Aramburu Palastputsch der Streitkräfte
1958-1962 Arturo Frondizi Wahlen unter Ausschluss des Peronismus
1962-1963 José M. Guido Staatsstreich
1963-1966 Arturo H. Illia Wahlen unter Ausschluss des Peronismus
1966-1970 Juan C. Onganía Staatsstreich
1970-1971 Roberto Levingston Palastputsch der Streitkräfte
1971-1973 Alejandro Lannusse Palastputsch der Streitkräfte
1973 H éctor Cámpora Freie Wahlen
1973 Raúl Lastiri Rechtmäßige Nachfolge nach Rücktritt der Regierung
Cámpora
1973-1974 Juan D. Perón Freie Wahlen
1974-1976 María E. M. de Perón Rechtmäßige Nachfolge nach Tod des Vorgängers
1976-1981 Jorge Videla Staatsstreich
1981 Roberto Viola E rnannt durch die Militärjunta
1981-1982 Leopoldo Galtieri Palastputsch der Streitkräfte
1982-1983 Reynaldo Bignone Palastputsch der Armee
1983-1989 Raúl Alfonsín Freie Wahlen
1989-1995 Carlos Menem Freie Wahlen
1995-1999 Carlos Menem Freie Wahlen
Quelle: Carreras 1999: 5
34 S andra C arreras

B em erkensw ert w ar dabei die T atsache, dass ü b er viele Jah rzeh n te


hinw eg d er V erfassungstext aus dem Jah re 1853 —m it kleineren M odifi­
k ationen v o n 1860, 1866 u n d 1898 - form al gültig blieb. D ab ei w urde
die V erfassung im m er w ieder in W o rt u n d Sinn verletzt. D ie bürgerli­
chen u n d zivilen R echte ganzer B evölkerungsteile w urden w iederholt
stark eingeschränkt o d er ganz aufgehoben, o h n e dass dadurch — entge­
gen d er B ehauptungen der beteiligten R egierungen - eine L ösung für die
politischen K onflikte des L andes gefunden w o rden wäre. D ies w iederum
führte dazu, dass die alte V erfassung für viele den C harakter eines no ch
einzulösenden politischen Program m s behielt.
W äh ren d bereits der V erfassungstext eine präsidiale Regierungs form
vorsah, w ar die politische Praxis' n o ch weitaus m eh r au f die E xekutive
ausgerichtet, die nach u n d nach F u nktionen des K ongresses, der Ju dika­
tive u n d d er P rovinzregierungen absorbierte. D ie V erfassung verlieh dem
P räsid en ten die Befugnis, V o rschriften u n d V erordnungen zu erlassen,
„die n otw endig sind für die A u sführung der nationalen G esetze, w obei
Sorge zu tragen ist, dass der Sinn d er G esetze nicht durch die A u snah­
m eregelungen v erändert w ird“ (C onstitución de la N ación A rgentina
[1853] 1987: A rt. 86 § 2).
A us diesem Paragraphen leiteten die M ilitärregierungen für sich das
R echt ab, G esetzesdekrete in P hasen zu erlassen, in denen der K ongress
aufgelöst war. A uch verschiedene zivile R egierungen griffen in verm eint­
lich außergew öhnlichen Situationen zu D ekreten, zum Beispiel u m in
den P rovinzen zu intervenieren o d er um den A usnahm ezustand zu ver­
hängen. D ie Ö ffentlichkeit gew öhnte sich nach un d nach an die V orstel­
lung, dass es m öglich, ja sogar w ünschensw ert sei, ohne den K ongress zu
regieren (N ino 1992: 73-87).
D iese w eit verbreitete E instellung begünstigte die w iederholten m ili­
tärischen Interventionen. D ie A uflösung des K ongresses durch verschie­
dene M ilitärregierungen geschah stets m it der A bsicht, alle politischen
E ntscheid u n g sk o m p eten zen a u f die R egierungsspitze zu übertragen.
N ach d em 1930 die M ilitärs zu m ersten Mal d urch einen Staatsstreich an
die M acht gelangten, n ah m sow ohl die D a u e r ihrer In terventionen als
auch die Reichw eite ih rer E ingriffe in das Institutionengefüge des Landes
zu, wie T abelle 4 verdeutlicht.
A u ch zivile R egierungen zeigten w iederholt die N eigung, die G ew al­
tenbalance zu ihren G u n sten zu verschieben. D ie K o m b in atio n v o n P rä­
sidentschaftsw ahlen —die gem äß der V erfassung v o n 1853 alle sechs J a h ­
re durch g efü h rt w erden m ussten —u n d Parlam entsw ahlen —die teilweise
E rn eu eru n g des A bgeordnetenhauses m usste alle zwei, die des Senats alle
In stab ilität als K o n stan te? 35

drei Jah re stattfinden —u n terw arf das Regim e einem p erm anenten W ahl­
druck. D araus ergaben sich w iederholt Situationen, in denen sich die
E xekutive u n d die Legislative gegenseitig blockierten. U m solche P attsi­
tuatio n en überw inden zu k ö nnen, neigten die P räsidenten dazu, ihre ver­
fassungsm äßigen Befugnisse zu m issbrauchen (Botana 1985b: 19-24).
Selbstverständlich ergibt sich die W ahl solcher M ethoden nicht aus dem
W ortlaut d er V erfassung. Sie entsp rich t vielm ehr den Präferenzen der
A kteure u n d ihrer Fähigkeit, tro tz V erstö ß en gegen die V erfassung ge­
sellschaftliche U n terstü tzu n g zu erlangen. D ieser Sachverhalt lenkt den
Blick a u f das B eziehungsgeflecht zw ischen den soziopolitischen A kteu­
ren.

T a b e lle 4: V o n M ilitärregieru n gen d u rch gefü h rte in stitu tio n elle V erän d eru n gen

1930 1943 1955 1962 1966 1976


A uflösung des Parlam ents * * * * * *
Intervention in den P rovin­ * * * * * *

zen
V erb o t politischer Aktivitä­ * * * *
ten
Intervention der G ew erk­ * * * *
schaften
M ehrheitlich v o n Militärs * *
gestellte R egierungen
Intervention der U nter­ * *
nehm erverbände
A uflösung des O b ersten * * *
G erichtshofes
Regierungen ohne Interim s­ * *
charakter
Ä nderung der E idesform el * *
E rlass v o n V erordnungen * *
m it V erfassungscharakter
Intervention der U niversitä­ * *
ten
A uflösung der Provinz­ *

gerichte
Quelle: Castiglione 1992: 30.
36 Sandra C arreras

M it- und N eb enein an der divergierender soziopolitischer Akteure

D ie Streitkräfte g eh ö rten seit den U nabhängigkeits- u n d Bürgerkriegen


der ersten H älfte des 19. Ja h rh u n d e rts zu den w ichtigsten politischen A k­
teuren des Landes (Rouquié 1981 u. 1982; P o ta sh 1986a u. 1986b). W enn
die „konservative O rd n u n g “ u n d die ersten radikalen R egierungen in der
kollektiven E rin n eru n g als zivile E p o c h e n p a r excellence lebendig sind, ver­
dankt sich dies n ich t dem F ehlen jeglicher politischer A ktivität der U n i­
form ierten, sond ern deren U nfähigkeit, sich allein m ittels der W affen
durchzusetzen. 1930 jedoch gelangten die Militärs durch einen Staats­
streich an die M acht, d er d er erste einer langen Serie sein sollte.
W äh ren d bei den ersten m ilitärischen Interventionen n o ch zivile
K räfte m aßgeblich beteiligt w aren, w urde das M ilitär ab 1955 zum e n t­
scheidenden A kteur, d er das M odell einer „v orm undschaftlichen In ter­
v en tio n “ einführte, dessen E rgebnis v o r allem der A usschluss des P ero ­
nism us u n d ein m assiver D ru c k a u f die Zivilregierungen war. Im V erlauf
dieser E ntw icklung w u rd en die Streitkräfte im m er unabhängiger v o n der
zivilen M acht. D iese V erselbstständigung reichte so weit, dass die Mili­
tärs sogar dazu übergingen, ihre Ziele, A ufgaben u n d O rganisation ei­
genständig zu definieren. M itte der sechziger Jahre erh o b en die Streit­
kräfte einen hegem onialen A n sp ru ch u n d behaupteten, dass ihnen die al­
leinige V erantw ortung für die öffentlichen A ngelegenheiten zukom m e,
was zum A usschluss d er politischen Parteien u n d zur völligen A b sch af­
fung v o n W ahlen u n d parlam entarischen M echanism en führte (Fleitas
O rtiz de R ozas 1983; Sidicaro 1985: 281-282; C avarozzi 1987: 31-32;
L ó pez 1994: 52-62).
D iese E ntw icklung w urde v o n A lain R ouquié als „prätorianische
U m k eh ru n g “ bezeichnet: In einem K o n tex t, in dem die Militärs das
Z en tru m d er M acht bildeten, definierten auch die P arteien u n d die
gesellschaftlichen A kteure ihre Rollen neu. Sie verw andelten sich quasi in
Interessen g ru p p en u n d versuchten, D ru c k a u f die „M ilitärgesellschaft“
auszuüben. D ad u rch w urde die politische Rolle der Streitkräfte akzep­
tiert, ihre Legitim ität zuw eilen sogar anerk an n t (Rouquié 1983: 67-72).
In allen Fällen fanden die M ilitärputsche jedoch m it Z ustim m ung
u n d /o d e r U n terstü tzu n g w ichtiger Sektoren, w enn nicht sogar großer
Teile d er G esellschaft statt. D e m en tsp rech en d ko n n ten die M ilitärregie­
rungen sich in d er A nfangsphase a u f einen gew issen K onsens stützen,
dessen allm ählicher Z erfall im m er w ieder zu einer R ückgabe der M acht
an die zivilen politischen K räfte im R ahm en v o n V erhandlungslösungen
führte. D abei b em ü h ten sich die M ilitärs, a u f einen ih n en genehm en
In stab ilität als K o n sta n te ? 37

V erlau f der näch sten W ahlen hinzuarbeiten, w om it sie gleichzeitig die


Legitim ität d er zukünftigen R egierung untergruben. D ass ihnen dies
1983 n ich t gelang, w ar d arau f zurü ck zu fü h ren, dass dam als ein breiter
E litenkonsens darü b er herrschte, das M ilitär für säm tliche Problem e des
L andes verantw ortlich zu m achen. K ein politischer o d er sozialer Sektor
w ar dazu bereit, für das politische, w irtschaftliche u n d m ilitärische D e ­
saster aufzukom m en, das das scheidende Regim e hinterlassen hatte.
Als in jenem Ja h r die D em okratisierung des Landes einsetzte, richte­
te sich die A ufm erksam keit d er sozialw issenschaftlichen F orsch u n g ei­
nerseits a u f die In stitu tio n en u n d andererseits a u f die Rolle der politi­
schen Parteien, die jetzt als neue H offn u n g sträger galten. V o r allem w ur­
de das Parteiensystem in seiner S truktur u n d Funktionsw eise in den Blick
gen o m m en (M ainwaring 1988; C avarozzi 1989; B o d em er/C arreras 1997).
D ab ei erh o b en sich zugleich kritische Stim m en, die a u f die M itverant­
w o rtu n g d er Parteien für das w iederholte Scheitern früherer D em okrati­
sierungsversuche aufm erksam m ach ten u n d dafür folgende A rgum ente
vorbrachten:
• Im Besitz der R egierungsverantw ortung zeigten die P arteien w ieder­
h o lt die N eigung, sich als hegem oniale K raft a u f D au er zu etablieren.
M it diesem Ziel vollzogen sie eine system atische B eschneidung des
der O p p o sitio n zur V erfügung stehenden Spielraum es, was w iede­
ru m eine illoyale H altu n g seitens der O p p o sitionsparteien p ro vozier­
te u n d sie zu r D u ldung, w en n n ich t sogar zu r M ittäterschaft am insti­
tutionellen B ruch veranlasste.
• D e r in d er G esellschaft verankerte „P rätorianism us“ veranlasste die
P arteien m itu n te r dazu, zu r D u rch setzu n g ihrer eigenen politischen
Ziele die M ilitärs zu H ilfe zu ru fen statt eine gem einsam e politische
F ro n t gegen die Interv en tio n en d er Streitkräfte zu bilden (Rouquié
1983: 67).
• D as N ich tv o rh an d en sein einer erfolgreichen rechten Partei, w elche
die Interessen d er konservativen K reise bzw. der w irtschaftlich m äch­
tigen G ru p p e n kanalisieren k onnte, verleitete diese K räfte zu extra­
institutionellen A usw egen (S áb ato /S ch v arzer 1985; G ib so n 1990).
• D e r Radikalism us als Partei v o n B ürgern u n d der P eronism us als
B ew egung m it korporatistischen T en d en zen w aren als R epräsentan­
ten zw eier völlig verschiedener D em okratieauffassungen entstanden.
D em zufolge w ar das v o n ihnen gebildete Parteiensystem durch
strukturelle H etero g en ität gekennzeichnet u n d litt an konstitutiver
Schw äche (G ro ssi/G ritti 1989: 47-48; C avarozzi 1989).
38 S andra C arreras

• D e r ideologisch begründete Polarisierungsgrad des Parteiensystem s


w ar zw ar relativ gering, in m achtpolitischer H insicht herrschte
jed o ch eine ausgesprochen starke Polarisierung (T hibaut 1997: 143.)
D iese w ar v o r allem d a ra u f zu rückzuführen, dass beide großen
P arteien sich eher als um fassende politische B ew egungen verstanden.
Je d e v o n ihnen erh o b den A nspruch, eine um fassende Legitim ität zu
besitzen, w eigerte sich aber gleichzeitig, die Legitim ität des G egners
an zuerkennen (D e Riz 1986: 672-674).
O b w o h l die P arteien ü b e r ein großes M obilisierungspotenzial verfüg­
ten, w ar ihre organisatorische S truktur ausgesprochen schw ach; sie
w aren auch d urch ausgeprägten P ersonalism us u n d Faktionalism us
gekennzeichnet (G ro ssi/G ritti 1989: 47-48).
• D ie Parteien bildeten zw ar Subkulturen m it starker Identifikations­
kraft, erw iesen sich aber gleichzeitig als schw ache V erm ittlungsagen-
tu ren im V ergleich zu den K o rp o ratio n en , denen es im m er w ieder
gelang, direkten D ru c k a u f die jeweilige R egierung auszuüben
(S n o w /M an zetti 1993: 83-87).

Z u den w ichtigen „K o rp o ratio n en “ g ehörten neben der K irche u n d dem


M ilitär v o r allem die G ew erkschaften u n d die U ntem ehm erverbände. D ie
A rbeitnehm ervertretungen w aren im 19. Ja h rh u n d ert als au tonom e O rg a­
nisationen u n te r zun äch st stark anarchistischen, dann sozialistischen, syn­
dikalistischen u n d kom m unistischen V orzeichen entstanden (B ittner 1982:
87-160; Bilsky 1985; G o d io 1989). M it dem M achtantritt Peróns änderte
sich die politische O rien tieru n g der A rbeiterbew egung radikal. D ie Id e n ­
tifikation m it dem P ero n ism u s w urde sogar in die S tatuten des G ew erk­
schaftsdachverbandes Confederación General delTrabajo (CGT) aufgenommen,
der sich in der F olgezeit als „R ückgrat“ des Justizialism us verstand.
In diesem P rozess spielte die T atsache eine wichtige Rolle, dass
P eró n den G ew erkschaften einen legalen Status einräum te. E s kam zu
einem eno rm en W achstum d er G ew erkschaften, gleichzeitig w urde
jedoch in F o rm d er personería gremial ein M echanism us zur staatlichen
K o ntrolle der A rbeiterbew egung geschaffen.1 Sow ohl die Finanzierung

1 D ie personería gremialw urde jenen V ereinigungen zugestanden, die als repräsentativ für
den entsprechenden Industriezw eig galten. A u f diese W eise erlangten b estim m te O r ­
ganisationen ein V ertretungs- u n d V erhandlungsm onopol und k onnten m it den U n­
ternehm erverbänden ü ber A rbeitsbedingungen u n d L öhne verhandeln. D ie U nter­
n eh m en w urden dazu verpflichtet, autom atisch einen bestim m ten Prozentsatz der
G eh älter ihrer Beschäftigten an die G ew erkschaften abzuführen.
In stab ilität als K o n sta n te ? 39

als auch die juristische Identitätsberechtigung der G ew erkschaften hingen


v o n n u n an v o r allem v o n den E ntsch eid u n g en der Regierung ab. D a die
peronistische Ideologie einen K o m p ro m iss zw ischen A rbeitern u n d U n­
ternehm ern u n d eine Integration beider G ru p p en in die übergeordnete
Instanz der „nationalen G em ein sch aft“ propagierte, hö rten die G ew erk­
schaften w eitgehend auf, die U n tern eh m er als K lassenfeinde anzusehen,
u n d richteten ihre F o rderungen an den Staat (B o rn er/M árm o ra 1985:
27-35; C o rd o n e 1993).
N ach dem Sturz des P eronism us (1955) übern ah m die C G T , die zu
einem w ichtigen politischen A k teu r gew orden war, die O ppositionsrolle
u n d stellte sich an die Spitze des peronisrischen „W iderstandes“ . D abei
erp ro b te sie bis in die 90er Jah re praktisch alle m öglichen A ktions for­
m en: den offenen W iderstand, verschiedene K onzertierungsstrategien
(jeweils v o n kurzer D auer), o p portunistisches V erhalten, den Streik, die
g roßen M obilisierungen u n d Fabrikbesetzungen, den S traßenkam pf un d
die A ushandlungen m it anderen K orporationen. A bgesehen vo n diesen
unterschiedlichen A ktio n sfo rm en g ib t es einige K o n stanten, die sich wie
folgt zusam m enfassen lassen:
• T ro tz aller V ersuche der „E n tp ero n isieru n g “ behielt die G ew erk­
schaftsbew egung ü b er viele Ja h rz e h n te hinw eg ihre Identifikation
m it der justizialistischen B ew egung bei. Bis in die 80er Jah re hinein
w aren die Z ugehörigkeit zu u n d die T reue gegenüber dem P ero n is­
m us das w ichtigste L egitim ationskriterium der G ew erkschaftsführer
gegenüber den A rbeitnehm ern (B o rn er/M ärm o ra 1985).
• U ngeachtet d er E xistenz der verschiedenen Ström ungen in der C G T ,
w ar diese im m er bereit, eine „politische“ H altung in dem Sinne ein­
zunehm en, dass sie Positio n en vertrat, die w eit ü b er die F orderungen
der A rbeitnehm er hinausgingen. Z u n ä c h st w urde sie aufgrund ihrer
Identifikation m it dem Peronism us zu diesem V erhalten getrieben,
da das V erb o t d er Justizialistischen P artei ihren A nhängern keine
andere A usdrucksm öglichkeit ließ. S päter orientierte sich die Strate­
gie der G ew erkschaftsbosse auch an einem anderen Ziel: dem A u s­
bau ih rer M achtbasis u n d der B ew ahrung ih rer Privilegien (James
1993).
• D ie G ew erkschaftsbew egung sah sich häufig dazu berufen, sehr
w eitreichende F orderu n g en zu form ukeren u n d a u f jegliches M ittel
zurückzugreifen, das ih r das E rreich en ihrer Ziele zu erm öglichen
40 S andra C arreras

versprach.2 D ab ei k o n n ten ihre H andlungsstrategien je nach Situati­


o n m it den B estrebungen anderer A kteure (Parteien, Streitkräfte, U n-
tem ehm erverbände, Kirche) konvergieren, was zum Beispiel u n ter
d er Regierung A lfonsin n och in erheblichem U m fang geschah
(Carreras 1999: 203-218).
• D ie A ktionsstrategien d er G ew erkschaften orientierten sich ü b er
Jah rzeh n te hinw eg am justizialistischen M odell der Comunidad Organi­
zada (O rganisierte G em einschaft). D ie jeweiligen G ew erkschaftsfüh-
rungen strebten im m er danach, die ihnen in diesem M odell zuer­
kannte P osition zu bew ahren, o h n e der T atsache R echnung zu tra­
gen, dass diese „G em ein sch aft“ sch o n 1955 definitiv aufgelöst w o r­
den war. W enn d er A usschluss des P eronism us vo n der M acht die
G ew erkschafter n icht dazu veranlasste, eine andere Integrationsstra­
tegie zu form ulieren, dann lag das daran, dass das korporative M odell
am ehesten ihren A bsichten entgegenkam .
• D ie B eziehungen zw ischen G ew erkschaften u n d Staat w aren im m er
m it W idersprüchen behaftet. D adurch, dass die personería gremial - u n d
som it die B erechtigung zu V erhandlungen u n d zur E rh e b u n g vo n
Beiträgen - n u r einer O rganisation p ro W irtschaftszw eig zu erkannt
w urde, hingen der R epräsentationsanspruch u n d die F inanzkraft der
G ew erkschaften v o m Staat ab. Bei dieser K onstellation verm ischten
sich bei jeder G elegenheit die F orderu n g en der A rbeiterbew egung
m it den unm ittelbaren Interessen der G ew erkschaftsfunktionäre.

A uch den U ntern eh m ern u n d ihren V erbänden w ird ein erheblicher Teil
der V erantw ortung für die lang anhaltende politische u n d ökonom ische
Instabilität A rgentiniens zugewiesen. Z w eifelsohne gehören sie zu den
A kteuren, die w iederholt zur D estabilisierung ziviler R egierungen beitru­
gen. D ie G rü n d e dafür sind v o r allem in den politischen P erzeptionen
der U n tern eh m er zu suchen, die aus unterschiedlichen M otiven ver­
schiedene dem okratische Regim e als „B edrohung“ ihrer Interessen
w ahm ahm en. V o r allem nach 1955 v erb anden viele U n ternehm er
D em o k ratie m it „populistischer“ W irtschaftspolitik sowie „u nverant­
w ortlich handelnden P arteien“, an erster Stelle jedoch m it d er „B edro­
h u n g “ durch eine gew erkschaftlich organisierte gesellschaftliche G egen­
m ach t (Birle 1996: 216). Im G egensatz dazu b o ten die M ilitärregierungen

2 Siehe zum Beispiel das „M inim alprogram m “ von 1963 (G odio 1991: 136) sowie die
C G T -D o k u m en te für den Z eitraum 1985-1987 (G a m b aro tta /L a m ad rid /O rsa tti
1985).
In stab ilität als K o n stan te? 41

den (G ro ß )U n tem eh m ern in der Regel m eh r M öglichkeiten zu r M itge­


staltung d er W irtschaftspolidk, versprachen die H egem onie des P ero ­
nism us innerhalb der G ew erkschaften zu brechen un d die A rbeiterbew e­
gung insgesam t zu disziplinieren (Birle 1997: 245).
D iese Feststellungen sollten allerdings n icht über die T atsache h in ­
w eg täuschen, dass die untern eh m erisch en Interessen große H eterogeni­
tät aufweisen. D ies zeigt sich u.a in d er R ep räsentationsstruktur der U n­
tern eh m er sowie in den konfliktiven B eziehungen der V erbände u n te r­
einander. Im V erlau f des 20. Ja h rh u n d erts kam es zur G rü n d u n g kon k u r­
rierender O rganisationen sow ohl in d er L andw irtschaft als auch in der
Industrie. N a c h 1955 en tstan d en zw ei verfeindete Lager: D em b innen­
m arktorientierten u n d am M odell der Comunidad Organizada ausgerichte­
ten U n te rn e h m e rd ac h v e rb a n d Confederación General Económica (C G E )
standen verschiedene wirtschaftsliberal u n d antiperonistisch gesinnte U nter­
n eh m ervertretungen feindselig gegenüber (Birle 1995: 199-227).
N ach den E rfah ru n g en m it der letzten M ilitärdiktatur, deren W irt­
schaftspolitik je nach B ranche u n d U n tem eh m ensgröße unterschiedliche
W irkungen hatte, w ar eine D istanzierung d er U ntem eh m erv erb än d e vo n
autoritären L ösungen feststellbar. (Birle 1995: 175-179). D ieser T ren d
w urde dadurch gestärkt, dass die G ew erkschaften als gesellschaftliche
G egenm acht, die in früheren Jahrzehnten v o n den G roß u n tern eh m ern
als B ed ro h u n g aufgefasst w urde, durch die D ik tatu r in einer W eise ge­
schw ächt w urde, dass die folgenden zivilen R egierungen v o m „populisti­
schen“ E ntw icklungsm odell A bschied neh m en kon n ten u n d m ussten.
Bei unserer B etrachtung des politischen Systems A rgentiniens u n d
seiner w ichtigsten soziopolitischen A kteure w ar der stetige B ezug auf
den P eronism us unausw eichlich. Schon deshalb, aber auch angesichts
d er T atsache, dass Carlos M enem seine politische K arriere im R ahm en
dieser T radition begann, ist es angebracht, abschließend das Spezifische
des „ P h än o m en s“ P eronism us n äh er zu betrachten.

D er Peronism us: E in vielschichtiger politischer Akteur mit


w andelndem Selbstverständnis

F ü r die W ahlen 1946 p räsentierte sich P eró n als K an d id at der kurz zuvor
gegründeten A rbeiterpartei (Partido Laborista), die sich v o r allem a u f ge­
w erkschaftliche K ader stützte. E ine d er ersten M aßnahm en P eróns nach
d er R egierungsübem ahm e w ar die A uflösung der Partido Laborista, die
n ich t so gefügig w ar wie erw artet. Stattdessen w urde m it staatlicher U n­
terstü tzu n g die P eronistische Partei (Partido Peronista) gegründet u n d insti-
42 S andra C arreras

nationalisiert. 1949 en tstan d zudem die P eronistische Frauenpartei (Parti­


do Peronista Femenino) u n ter dem V orsitz v o n E va Perón.
D ie B eziehungen zw ischen „P artei“ u n d „B ew egung“ w urden nie­
m als klar definiert. L etztere bestan d theoretisch aus der „politischen“ ,
d er „w eiblichen“ u n d d er „gew erkschaftlichen“ Säule. Kama (Zweig) w ar
die diffuse spanische B ezeichnung dafür. D ieses im m er w ieder zitierte
O rganisationsprinzip kam jedoch nie zur effektiven A nw endung. D ie
u nbestrittenen de facto-A utoritäten w aren P eró n u n d seine Frau Eva.
D ie verschiedenen Parteibezirke w urden v o n In terventoren un d der
w eibliche Sektor durch eine v o n o ben eingesetzte Delegierte geleitet. D ie
angeblich gleichm äßige V erteilung d er zur W ahl stehenden P o sten zwi­
schen den einzelnen Säulen w urde w eder in die Satzungen aufgenom m en
no ch kam sie als ungeschriebenes G esetz zu r G eltung. W enn bei der
A ufstellung v o n K andidaten das Schw ergew icht häufig bei den G ew erk­
schaften lag, so v o r allem deshalb, weil es kaum peronistische Politiker
gab. Z u erw ähnen ist auch, dass n iem an d jemals auch n u r im T raum da­
m it rechnete, dass tatsächlich ein D rittel der zu r W ahl stehenden P osten
an die F rauenvertreterinnen vergeben w ürde (Luna 1984: 55-62; Chum -
bita 1989: 92-96; N av arro 1997: 217-235).
A u f dieser w enig soliden institutionellen G rundlage w urde ein neues
politisches E x p erim en t gestartet, w obei der damalige O b e rst P eró n zur
Schlüsselfigur avancierte u n d in vierfacher H insicht eine Führungsrolle
übernahm : als politischer A n fü h rer d er A rbeiterklasse, als Staatschef, als
F ü h re r der Streitkräfte u n d als C h e f einer neuen Partei (H orow icz 1985:
102). V o r diesem H in terg ru n d kann nicht überraschen, dass die D efiniti­
o n der peronisrischen Id en tität v o n A nfang an ein sehr um strittenes
T h em a sow ohl im eigenen als auch im frem den Lager w ar u n d im m er
w ied er Anlass zu k o ntroversen In terp retatio n en gab un d zum Teil noch
gibt (C hum bita 1989; D e Ipola 1989; Jo rra t 1990; D e Ipola 1990). So
w urde d er Peronism us als faschistisches Regim e, als bürgerlicher N a tio ­
nalism us, als eine F o rm des B onapartism us, als E ntw icklungsdiktatur
u n d als In b eg riff des lateinam erikanischen P opulism us interpretiert. An­
dere A u to re n b eto n en dagegen die O riginalität des Justizialism us als ei­
ner B ew egung sui generis. D ie Pero n isten selbst verstanden sich ihrerseits
stets u n d übereinstim m end als eine „nationale V olksbew egung“ , w obei
die O perationalisierung dieses K o n zep tes jedoch zu endlosen A useinan­
dersetzungen führte.
D ie Vielzahl v o n In terp retatio n en der peronisrischen Id en tität ist
keinesw egs zufällig, jed e einzelne kann sich a u f V erlautbarungen stützen,
die der A n fü h rer der B ew egung zu den unterschiedlichsten G elegenhei-
In stab ilität als K o n sta n te ? 43

ten geäußert hat, dabei all jene Ä uß eru n g en w eglassend, die sich in das
jeweils vordefinierte Bild n ich t einord n en lassen. D em gegenüber b esteh t
die einzige vernünftige L ö su n g des „peronisrischen Rätsels“ darin, den
W idersp rü ch en R ech n u n g zu tragen u n d d en Justizialism us als eine Be­
w egung zu charakterisieren, die v o n A nfang an eine Vielfalt v o n A n ­
schauungen in sich vereinigte. D ab ei hegt die plausibelste E rklärung der
justizialistischen V ielfalt in der politischen Praxis begründet, v o r allem in
der Taktik, die zuerst P eró n selbst, später seine A nhänger u n d N ach fo l­
ger einsetzten, u m die U n terstü tzu n g unterschiedlicher gesellschaftlicher
u n d politischer G ru p p e n zu gew innen.
P eró n s W ahlsieg 1946 m achte ihn zu einem verfassungsm äßigen P rä ­
sidenten m ilitärischer H erk u n ft, d er zu n äch st ü b er keine strukturierte
politische P artei verfügte, die ih m als U nterstützungs- u n d V erm itdungs-
instanz gedient hätte. E r sah sich deshalb dazu genötigt, seine heterogene
G efolgschaft zu disziplinieren, breite soziale U n terstü tzu n g zu suchen
u n d sow eit wie m öglich zu verm eiden, dass die A ufm erksam keit, die er
einem Teil seiner K lientel zuteil w erden Heß, ihn die G eneigtheit der an­
deren kostete. U n ter diesen U m stän d en w aren dem Peronism us all jene
h o ch w illkom m en, die d em n euen M achthaber bereitwillig folgten. W ie
d er H istoriker Félix L una treffend beobachtete:
W e n n e tw a s P e r ó n w ä h r e n d se in e s g e s a m te n p o litis c h e n W e rd e g a n g s c h a ­
ra k te ris ie rte , w a r es d e r P ra g m a tis m u s , d e r s e in H a n d e ln p rä g te , d e r R e alis­
m u s , d e r se in e Z ü g e le n k te , d ie U n g e z w u n g e n h e it, m it d e r e r d ie e in e S a c h e
v e rfo lg te , d ie a n d e r e v e rw a rf, w ie es ih m g e ra d e z u p a s s k a m . D ie s e H a n d ­
lu n g sw e ise is t d e r S c h lü sse l z u m V e rs tä n d n is d e r N a t u r je n e s S ta ate s, d e n e r
in d e r e r s te n P h a s e s e in e r H e r r s c h a f t a u fb a u te : ‘w e d e r Y a n q u i, n o c h m a rx is ­
tis c h ’, w e d e r fa sc h is tisc h , n o c h p o p u lis tis c h , w e d e r b o n a p a r tis tis c h n o c h e i­
n e M a s s e n d e m o k ra tie . E in e M is c h u n g all d e s s e n , w a s ih m d ie n lic h w a r, e in
re ic h h a ltig e s A llerlei, d e m e r ste ts se in e p e r s ö n lic h e G e w ü r z m is c h u n g b e i ­
g a b , o h n e sic h u m fr ü h e re I d e o lo g ie n o d e r u m W id e rs p rü c h e z w is c h e n
d e m , w a s e r sa g te u n d d e m , w a s e r ta t, z u k ü m m e r n (L u n a 1984: 4 0 7 -4 0 8 ).

P eró n selbst w ar n o c h deutlicher:


D ie D o k t r i n is t fü r n ie m a n d e n e in e fe stg e le g te R eg el. Sie g ib t v ie lm e h r e in e
g r o b e O r ie n tie r u n g v o r , m it G r u n d s ä tz e n , die ste ts in u n te rs c h ie d lic h e r
F o r m e in g e h a lte n w e rd e n . M a n is t a n n ic h ts F e s te s g e b u n d e n , v e rfü g t v ie l­
m e h r ü b e r e in e g e istig e O r ie n tie r u n g , u m in je d e r S itu a tio n in n e rh a lb e in e r
b e s tim m te n R ic h tu n g , je d o c h m it ü b e ra u s g r o ß e m S p ie lra u m b e z ü g lic h d e r
jew eilig e n k o n k r e te n H a n d lu n g e n , z u e n ts c h e id e n ( Z itie rt n a c h C iria 1971:
147).
44 S andra C arreras

K o n k ret bedeu tete dies zum Beispiel, dass w ährend der zw eiten Präsi­
den tsch aft P eróns zu r gleichen Z eit, als sich einerseits der offizielle nati­
onalistische D iskurs herauskristallisierte, die in dustriepolidschen P ostula­
te w iederholt u n d die V o rrech te d er A rbeiter bestätigt w urden, anderer­
seits die reale W irtschafts- u n d Sozialpolitik eine K ehrtw ende zugunsten
d er A g rarexporteure vollzog, flankiert v o n einer A npassungspolitik un d
dem Z ugeständnis beachtlicher R echte bezüglich der E rdölexploration
an nordam erikanische U nternehm en.
D e r Sturz P eróns 1955 füh rte zu einem E in sch n itt in der E ntw ick­
lung der p eronistischen Identität. D as V e rb o t u n d die V erfolgung, die
die P ero n isten u n d ein G ro ß teil ih rer Sym pathisanten erleiden m ussten,
m ü n d ete in eine K u ltu r des W iderstands, die um so stärker w urde, je
m e h r das M ilitärregim e zu repressiven M aßnahm en g riff m it dem Ziel,
das L an d u n d v o r allem die G ew erk sch aften zu „entperonisieren“ .
W ährend d er P ro skriptionsjahre flössen in den peronistischen D is­
kurs aufrührerische, teilweise revolutionäre T ö n e ein. G egen E n d e der
sechziger Jah re n ah m er teilweise Unke P o sitio n en an u n d näherte sich
rhetorisch der kubanischen R evolution. V o n da an trat eine neue G en e ­
ratio n v o n A ktivisten dem Justizialism us bei, die die „Peronisrische J u ­
gen d “ (Juventud Peronista', JP) bildeten. Sie n ah m en w esentlich radikalere
P ositionen als die G rü n d erg en eratio n ein. V ielen v o n ihnen diente Eva
P eró n in ihrer käm pferischsten V ersion als Leitfigur, wie sie in der Parole
zum A usdruck kam: „D as L eb en fü r P e ró n “ . Einige v o n ihnen gründe­
ten revolutionäre „S onderorganisationen“ u n d gingen zum bew affneten
K a m p f über. T reu seiner G ew o h n h eit, sich u m U n terstützung um jeden
Preis zu b em ühen, fachte P e ró n v o n seinem spanischen Exil aus diese
w idersprüchlichen P arolen ebenso an wie die H o ffn u n g seiner G efolg­
schaft, dass er, einm al an d er M acht, alle ihre W ünsche erfüllen w ürde
(V erón/S igal 1986: 91-129; H alperin D o n g h i 1994: 57-64).
Inn erh alb d er B ew egung kam es A n fan g der 70er Jah re zur K o n fro n ­
tation zw ischen den linken G m p p e n , d er alten gew erkschaftlichen G arde
u n d den rechtsnationalistischen Sektoren. D e r Streit zw ischen den p ero ­
nistischen S tröm ungen beschränkte sich n ich t au f die rhetorische E bene,
so n d e m n ah m bald die Z üge einer gew alttätigen A useinandersetzung an.
D ie in n eren W idersprüche des P eronism us verlagerten sich ab 1973 au f
die neue justizialistische R egierung u n d som it a u f das L and insgesam t.
Z u m Z e itp u n k t v o n P eróns T o d (1974) w ar die sogenannte „nationale
B ew egung“ lediglich n o c h eine A n sam m lu n g v o n F aktionen, die sich
gegenseitig bekäm pften. Jed e v o n ih n en b eanspruchte für sich allein die
genuine R epräsentation des „p eronistischen W esens“ u n d der Interessen
In stab ilität als K o n stan te? 45

d er N a tio n u n d k o n n te sich dabei a u f Passagen aus den unzähligen Re­


d en des G enerals berufen.
A uch nach 1983 gingen diese A useinandersetzungen w eiter, w e n n ­
gleich diesm al o hne G ew altanw endung. Im Streit um das E rb e versuch­
ten die „W aisen P e rö n s“, die Legitim ität ih rer jeweiligen F raktion durch
T reueschw üre a u f die „P eronistische D o k trin “ zu belegen. O rth o d o x e
wie E rn eu erer b eanspruchten jeweils für sich, den „echten P ero n ism u s“
zu repräsentieren, w obei ganz verschiedene E instellungen v o r allem be­
züglich des D em okratieverständnisses u n d d er konkreten W irtschaftspo­
litik in die „ n eu en “ D iskurse der 80er Jah re E ingang fanden (Carreras
1999: 161-168).
Als E rgebnis bleibt festzuhalten, dass die M annigfaltigkeit der pero-
nistischen K räfte die A ufrechterhaltung eines D iskurses bestim m te, der
um fassen d genug war, um d en unterschiedlichsten ideologischen Rich­
tungen einen Platz zu bieten. So gesehen w ar die v o r allem in peronis-
tischen K reisen geäußerte Ü berraschung bzw. E m p ö ru n g ü b er die an­
gebliche „kopem ikanische W en d e“ der Regierung M enem kaum berech­
tigt.
In den 80er Jah ren vollzog sich jedoch eine andere, vielleicht viel
entscheidendere V eränderung des Peronism us. D ieser vielschichtige A k ­
teur, d er fünfzig Jah re lang allen V ersuchen seiner G egner, ihn zu zerstö­
ren, w iderstanden hatte, zerfiel, sobald er frei handeln durfte un d sich
m it der O ppositionsrolle begnügen m usste, in verschiedene K o m p o n en ­
ten. D ie K onflikte innerhalb des Peronism us in den Jah ren der Regie­
rung A lfonsin w aren som it sow ohl R esultat einer kom plizierten histori­
schen E ntw icklung als auch A nzeichen eines teils bew ussten, teils intuiti­
v en A npassungsprozesses an die n euen U m stände.
D ie Ü bern ah m e d er O ppositionsrolle gegen die U C R -R egierung
d urch die peronisrischen G ew erkschaften w urde in den 80er Jah re n als
eine F o rtsetzu n g d er M acht der K o rp o ratio n en interpretiert. A us heuti­
g er Sicht stellt sie sich jedoch eher als ein letzter A k t einer spezifischen
F o rm d er politischen A useinandersetzung dar, die lange Z eit a u f der Ba­
sis des D ru ckpotentials der heu te im R ückzug befindlichen Industriear­
beiterschaft funktioniert hatte. D ie V eränderungen der sozioökonom i-
schen S truktur des L andes sind also alles andere als irrelevant für die E r­
klärung des politischen T ransform ationprozesses. E rst v o r diesem H in ­
terg ru n d w ird verständlich, dass ab 1987 erst die E rn e u erer u n d dann
C arlos M enem die F ü h ru n g des P eronism us ü b ernehm en konnten, un d
dass im L aufe d er 90er Jah re die „politische Säule“ des Justizialism us der
„gew erkschaftlichen“ den R ang ablief. D ad u rch w urde —w ohl endgültig
46 S andra C arreras

— die T re n n u n g zw ischen d er politischen u n d der funktionalen In teres­


senrepräsentation vollzogen.
D ie gängige B ehauptung, der Peronism us in toto hätte sich in eine
m o d ern e politische Partei gew andelt, w ird allerdings den T atsachen nicht
gerecht. D e r „A ltperonism us“ als solcher ist gestorben. W eder seine alte
B eschaffenheit n o ch seine überm ächtige Rolle im gesellschaftspoliti­
schen K o n te x t A rgentiniens sind w iederzubeleben. K ein anderer A kteur
w ird seine alte F u n k tio n innerhalb des politischen Systems jemals ü b e r­
n eh m en könn en , weil das System selbst sich neu konfiguriert hat u n d
keinen R aum m e h r für ein d erart vielschichtiges P h än o m en offen lässt.
D ie Justizialistische Partei ist nicht der A lleinerbe der alten peronisri­
schen B ew egung, so n d em lediglich eine A bw andlung einer seiner u r­
sprünglich zahlreichen K o m p o n en ten .

Literaturverzeichnis

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Mariana Llanos

Über Gesetze und Dekrete: Eine N euinterpretation


der Beziehungen zwischen Präsident und Kongress
im A rgentinien der 90er Jahre*

D ie K o n zen tratio n d er potitischen M acht im Bereich der E xekutive gilt


als eines der en tscheidenden M erkm ale des politischen Systems A rgenti­
niens w äh ren d der neunziger Jahre. Begriffe wie U nilateratism us, D e zi­
sionism us, D ekretism us, präsidentieller C äsarism us, hobbesianischer Stil,
personatistischer Stil u n d andere sollen die deutliche T en d en z v o n Präsi­
d en t Carlos M enem ausdrücken, E ntsch eid u n gen in seinem eigenen W ir­
kungsbereich zu zentralisieren.1 G leichzeitig h at m an einen M angel an
K o m p eten zen u n d einen A uton o m iev erlu st v o n Legislative u n d Judikati­
ve beklagt. D ie V erlagerung der M achtbalance hin zur E xekutive habe zu
einer U n tero rd n u n g d er anderen V erfassungsorgane sowie zu einer R e­
duzierung ih rer K o m p eten zen a u f ein M inim um geführt.
Einige A u to ren betrach ten die Regierung v o n Carlos M enem als
sym ptom atisch für einen g ro ß en Teil der im argentinischen Hyperpräsiden-
tialismus (N ino 1996: 165-170) auftretenden Fehlfunktionen. D abei h a n ­
delt es sich u m ein bereits au fg m n d d er V erfassungsbestim m ungen m it
gro ß er M achtfülle ausgestattetes P räsidentenam t, dessen M acht no ch zu ­
sätzlich durch die d em dem okratischen Prozess innew ohnende D ynam ik
verstärk t wird. T atsächlich verw eist das A rg u m ent des H yperpräsidentia-
lism us darauf, dass d er K o ngress sich aufgrund der starken P artei­
disziplin eher durch U n te ro rd n u n g als durch konstruktive D ialogbereit­
schaft auszeichnet. G leichzeitig sei auch die Justiz (die E rn e n n u n g der
R ichter ist v o n der Z u stim m u n g des Senats abhängig) kaum gewillt, die
M acht des P räsidenten h erauszufordem . A us diesem G ru n d g eh t m an
v o n einer A llm acht der E xekutive a u f K o sten der anderen staatlichen
G ew alten aus, die form al u n d auch in d er Praxis irrelevant seien. D iese
Schlussfolgerung stim m t m it der D iagnose einer delegativen Demokratie

* D ie A utorin dankt A na Maria M ustapic für K o m m en tare zu einer früheren V ersion


dieser Arbeit.
1 Siehe zum Beispiel A cuña (1994); Bresser P ercira/M aravall/P rzew orski (1990); Hag-
g a rd /K au fm an (1995); O ’D onnell (1994a); R oberts (1995); T o rre (1994).
54 M ariana L lanos

(O ’D o n n ell 1994: 60) überein, die sow ohl a u f A rgentinien u n ter M enem
als auch a u f andere lateinam erikanische Fälle angew andt w urde. Z u den
grundlegenden M erkm alen eines solchen Regim es geh ö rt ein Präsident,
der den A nspruch erhebt, die N atio n als solche zu verkörpern, der w ich­
tigste H ü te r ih rer In teressen zu sein, u n d der sich selbst als ü b er den P ar­
teien u n d organisierten Interessen stehend präsentiert. M ehr noch, dieser
P räsident b etrachtet die übrigen V erfassungsorgane (das P arlam ent u n d
die Judikative) als eine B elästigung der ih m übertragenen A utorität, w es­
halb er sich ihnen gegenüber bei seinen R egierungsgeschäften nicht ver­
antw ortlich fühlt. All dies sei größtenteils eine Folge des W iederaufle­
bens plebiszitärer u n d populistischer T raditionen. Sie erklärten die N eiung
des P räsid en ten zu W illkürakten u n d zur K ultivierung eines personalis-
tischen Stils — n eo p o p u listisch en V erhaltensw eisen, die m it den E r ­
fahrungen der V ergangenheit m eh r G em einsam keiten als U nterschiede
aufw iesen (K night 1998; O ’D o n n ell 1994; R o b erts 1995; W eyland 1996).
D e r folgende Beitrag kon zen triert sich a u f das V erhältnis zw ischen
E xekutive u n d Legislative u n d schlägt eine N eu in terp retatio n dieser Be­
ziehungen u n te r B erücksichtigung d er E rgebnisse neuer em pirischer
Studien vor. E inerseits bestätigt unsere Analyse einm al m eh r die vom
mainstream d er F o rschung bereits hinreichend belegten zentralisierenden
T endenzen. A ndererseits gelangen w ir nicht zu der Schlussfolgerung,
dass d er h erv orgehobene Status der E xekutive durchgehend m it einer
p ro p o rtio n alen Schw äche d er Legislative einherging. U nsere A rgum en­
tation b e to n t vielm ehr, dass diese K onstellation lediglich einer bestim m ­
ten Phase der B eziehungen zw ischen beiden Institutionen entsprach un d
nicht d er gesam ten Regierungsperiode. So zeichneten sich die B eziehun­
gen zw ischen den politischen Institu tio n en im V erlauf des vergangenen
Jah rzeh n ts durch ein kom plexes u n d w echselndes M uster aus, w obei der
P räsident überw iegend zu unilateralen H andlungsm odalitäten tendierte.
D ie Rolle des K ongresses erfu h r dagegen im L aufe der Ja h re eine gew is­
se Stärkung. Sie schw ankte zw ischen d er A u sübung reiner K ontrollfunk-
tionen u n d dem aktiven G eb rau ch d er parlam entarischen In terv en tio n s­
m öglichkeiten im R ahm en des G esetzgebungsprozesses.
U nsere Studie analysiert die B eziehung zw ischen beiden G ew alten
anh an d ihrer Interak tio n im R ahm en jener E ntscheidungsprozesse, die
im Z usam m en h an g m it den strukturellen R eform en anstanden. D ie
grundlegende Fragestellung lautet, w elcher institutionellen Instru m en te
u n d M echanism en sich P räsident M enem bediente, um die angestrebten
W irtschaftsreform en zu verw irklichen. Im M ittelpunkt der Analyse steht
die Exekutive. Sie dom inierte die w irtschaftspolitischen E n tsch eid u n g s­
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 55

prozesse, b em üh te sich u m eine vollständige Im plem entierung ihrer Poli­


tiken u n d k o n n te dazu a u f eine Vielzahl v o n M itteln zurückgreifen, über
die sie aufgrund ihrer institutionellen V erankerung verfügte (D ekrete,
G esetzesinitiativen, V etos). U nter diesen U m ständen k o nnte die Rolle
des K ongresses n ich t anders als reaktiv sein, auch w enn er nach wie v o r
v o n entscheidender B edeutung war, verfügte er doch ü b er das verfas­
sungsm äßige R echt, V o rh ab en der E xekutive zu stoppen, zu verabschie­
d en, zu m odifizieren u n d h in auszuzögern. D e r erste Teil der Studie
beschäftigt sich m it den institutionellen Ressourcen, die von der Regierung
zu r D u rch setzu n g ih rer w irtschaftspolitischen E ntscheidungen eingesetzt
w urden. A u sgehend v o n diesen D aten erfolgt eine N eu interpretation der
B eziehungen zw ischen E xekutive u n d Legislative. D e r zw eite Teil be­
fasst sich m it den politischen u n d institutioneilen R ahm enbedingungen,
w elche die R egierung zu m E insatz bestim m ter R essourcen au f K osten
an derer veranlassten. Im abschließenden Teil erfolgt neben einer Z u ­
sam m enfassung der w ichtigsten E rgebnisse eine kritische A useinander­
setzung m it dem mainstream d er Forschung.

D ie institutioneilen R essourcen der Präsidentschaft M enem s

D as politische Regim e A rgentiniens ist gekennzeichnet durch die in der


V erfassung v o n 1853 v erankerten Prinzipien des präsidialen R egierungs­
systems. E s basiert a u f einer G ew altenteilung zw ischen Exekutive, Legis­
lative u n d Judikative, deren B eziehungen durch ein System vo n gegensei­
tigen checks and balances reguliert w erd en (Linz 1994). Inn erh alb dieses
gew altenteiligen R ahm ens gew ährt die V erfassung dem Präsidenten auch
bedeu ten d e legislative R essourcen, so dass dieser zum M o to r des Regie­
rungssystem s w erden konnte. E rsten s v erfügt der P räsident ü b er das
R echt, eigene G esetzesinitiativen in den K ongress einzubringen, w o ­
durch er zu r zentralen Figur im R ahm en des G esetzgebungsverfahrens
w urde. Z w eitens kann d er P räsident durch seine V eto m ach t auch nach
der Z u stim m u n g durch den K ongress in den G esetzgebungsprozess ein-
greifen. D ritten s kann er d urch die E rklärung des B elagerungszustandes
sowie durch föderale In terv en tio n K on tro lle ü b er die R egierungen der
P ro v in zen ausüben. Z u diesen verfassungsm äßigen R echten kam en w ei­
tere R essourcen hinzu, die sich in der politischen Praxis herausbildeten:
der G eb rau ch des partiellen V etos sowie die N otstan d s- u n d D ringlich­
keitsdekrete. D ie V erfassung v o n 1853 sah die M öglichkeit v o r, ein voll­
ständiges o d er partielles V eto gegenüber einem durch den K ongress ver­
abschiedeten G esetz auszusprechen, w obei sich aus dem G eb rau ch des
56 M ariana L lanos

partiellen V etos stets K onflikte ü b er dessen V erfassungsm äßigkeit erga­


ben. D u rc h eine E ntsch eid u n g des O bersten G erichtshofes in den 60er
Jah re n w urde es als verfassungsgem äß akzeptiert. Z w ar gew ährte die
V erfassung dem Präsidenten nicht das Recht, durch D ekrete zu regieren,
aber dieses In stru m en t w urde in der politischen Praxis eingesetzt, u n d
zw ar v o r allem v o n den seit der erneuten E tablierung eines dem okrati­
schen Regim es im Ja h r 1983 am tierenden Präsidenten.
D ie R essourcen des P räsidenten gegenüber der Legislative w erden
fast einm ütig als sehr w eit gefasst betrach tet u n d seine v o n der V erfas­
sung gew ährte G esetzgebungskom petenz gilt als „potenziell d o m in an t“
(M ainwaring 1997: 49). N ich tsd esto tro tz sprechen einige A u to ren lieber
v o n einem „lim itierten Z entralism us“, da trotz der zentralen Rolle des
P räsidenten nach wie v o r gewaltenteilige E lem ente existieren (M ustapic
2000). In einem System der checks and balances, wie es die V erfassung v o r­
sieht, d a rf die Rolle des K ongresses im G esetzgebungsprozess nicht un­
terschätzt w erden. E r verfügt ü b er M öglichkeiten, u m G esetzesinitiativen
einzubringen, zu verabschieden, zu verzögern, zu ergänzen o d er zurück­
zuw eisen. E r k ann die v o n d er Exekutive ausgesprochenen V etos ü b er­
stim m en, w enn die dafür notw endigen M ehrheiten zustande kom m en.
K onflikte zw ischen P räsident u n d K ongress sind im R ahm en eines der­
artigen institutionellen R ahm ens stets m öglich. E in D ilem m a hegt in der
W ahl des angem essenes M odels zur L ösung politischer K onflikte: en t­
w eder w ird u n te r A nw endung der M ehrheitsregel regiert oder es w ird ein
K o n sen s gesucht m ittels V erhandlungen, Ü b ereinkünften u n d K o m p ro ­
m issen. Insgesam t haben w ir es m it einem institutionellen R ahm en zu
tun, d er sow ohl kooperatives als auch unilaterales H andeln erm öglicht.
A usgangspunkt für ein V erständnis der B eziehungen zw ischen ver­
schiedenen In stitu tio n en ist die V erteilung der jeweiligen M achtressour­
cen. Im H inblick au f den v o n uns untersu chten Fall verschafften die
W ahlergebnisse Carlos M enem deutliche Vorteile. D as galt besonders für
den Senat, w o die peronisrische P artei (Partido ]ustiáalista\ PJ) stets über
eine absolute M ehrheit verfügte. Im A bgeordnetenhaus besaß sie w äh­
ren d M enem s erster sechsjähriger A m tszeit n ur eine einfache M ehrheit,
die allerdings nie sehr w eit v o n d er Quorumsgtzsxzz en tfern t w ar.2 N ach
M enem s W iederw ahl 1995 verfügten die P eronisten ü b e r eine größere
A nzahl v o n Sitzen im U nterhaus, so dass der P räsident sein zweites

2 D as Quorum, d.h. die H älfte der Stim m en plus einer Stim m e im A bgeordnetenhaus,
ist die notw endige M indestzahl an A bgeordneten sow ohl für die B eratung eines G e ­
setzes und als auch für die jeweilige A bstim m ung am E n d e der D ebatte.
Ü b e r G ese tz e u n d D e k re te 57

M andat v o r dem H in terg ru n d einer absoluten M ehrheit in beiden K am ­


m ern an treten konnte. D iese K onstellation blieb über zwei Jah re hinw eg
konstant. E rs t 1997 k o n n ten die oppositionellen Parteien, die gem einsam
die Allianz bildeten, bei den W ahlen zu r teilweisen N eu besetzung des
A bgeordnetenhauses G ew inne verzeichnen, so dass sich die absolute
M ehrheit d er P ero n isten w ieder a u f eine einfache reduzierte. N u r zu Be­
ginn d er ersten A m tszeit M enem s verfügte die PJ ü b er keine M ehrheit
im U nterhaus. D ies war, wie später n o c h ausgeführt w ird, eine direkte
Folge der b eso n d eren B edingungen, die für die vorzeitige A m tsübergabe
v o n A lfonsin zu M enem festgelegt w o rd en w aren. D iese Phase w ährte
n u r v o n Juli bis D ez e m b e r 1989.

T abelle 1: Z usam m en setzun g des A bgeordnetenhauses (1987-1999)


1987-89 1989-91 1991-93 1993-95 1995-97 1997-99
Parteien Sitze % Sitze % Sitze % Sitze % Sitze % Sitze %
p.i 96 37,8 120 47,2 117 45,5 128 49,8 131 51,0 119 46,3
UCR 114 44,9 90 35,4 84 32,7 83 32,3 68 26,4 66 25,7
Frepaso - - - - - - - - 22 8,6 38 14,8
UceDé 7 2,7 11 4,3 10 3,9 4 1,5 2 0,8 - -
PI 5 2,0 2 0,9 2 0,8 1 0,4 1 0,4 - -
Andere 32 12,6 31 12,2 44 17,1 41 16,0 33 12,8 34 13,2
In 254 100 254 100 257 100 257 100 257 100 257 100
Quelle: D ie Tabelle wurde au f Basis der D aten des A bgeordnetenhauses erstellt. Es ist zu beachten, dass die
Zahl der A bgeordneten aufgrund der Etablierung Feuerlands als eigenständige Provinz v o n 254 au f 257 anstieg.

D ie T atsache, dass M enem w äh ren d seiner P räsidentschaft fast im m er


au f eine sehr günstige V erteilung d er politischen M acht bauen konnte,
stellte ein beachtliches P otenzial dar. D ie einem System der G ew altentei­
lung in n ew o h n en d en Risiken w urden dadurch jedoch nicht beseitigt. E s
k ö n n te argum entiert w erden, dass stets latente K onflikte v o rh an d en w a­
ren, insofern d er P räsident im m er n o ch die eigene Partei disziplinieren
m usste u n d a u f die U n terstü tzu n g oppositioneller K räfte angew iesen
w ar, um das Q u o ru m zu erreichen. A u f w elche W eise setzte also Präsi­
d en t M enem angesichts d er ihm zur V erfügung stehenden institutioneilen
u n d politisch en R esso u rcen seine E n tsc h e id u n g e n durch? Im folgen­
den w erden die w ichtigsten v o n ih m im V erlauf der G esetzgebungspro­
zesse zur W irtschaftreform u n d deren Im plem entierung eingesetzten in­
stitutionellen In stru m en te analysiert. D ab ei w ird deutlich, dass Carlos
M enem die dem P räsidenten laut V erfassung zu r V erfügung stehenden
legislativen R essourcen u m fassend ausschöpfte. H inzu kam der R ück­
58 M ariana L lanos

g riff a u f w eitere R essourcen, deren V erfassungsm äßigkeit u m stritten war.


D ie D elegation v o n M acht, Ä nderungen in der Z usam m ensetzung des
O b ersten G erichtshofes sowie die N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekrete
sind norm alerw eise als Indikatoren für M enem s T endenz angesehen
w orden, einen autokratischen R egierungsstil zu pflegen. Z u berücksichti­
gen sind aber auch die zahlreichen norm alen legislativen V erfahren sowie
der G eb rau ch des V etorechts. D ie A rt u n d W eise, wie die letztgenannten
R essourcen eingesetzt w urden, liefert H inw eise für eine N eu in terp retati­
on d er B eziehungen zw ischen den verschiedenen politischen In stitutio­
nen w äh ren d M enem s A m tszeit.

T abelle 2: D ie Z usam m en setzun g des Senats (1983-1998)


1989-1992 1992-1995 1995-1998
Parteien Sitze % Sitze % Sitze %

PJ 26 56,5 30 62,5 37 57,8


UCR 14 30,4 11 22,9 15 23,4
Provinzparteien 6 13,1 7 14,6 10 15,6
Frepaso - - - - 2 3,2
Insgesam t 46 100 48 100 64 100
Anmerkung: Die Zahl der Senatoren stieg aufgrund der Etablierung Feuerlands als ei­
genständige Provinz von 46 auf 48. D er Zeitraum von 1995-98 schließt in Überein­
stimmung mit der Verfassungsreform von 1994 neue Senatoren ein.

D ie D elegation von M acht

In den ersten beiden M onaten v o n M enem s erster A m tszeit fand, inm it­
ten des A u sbruchs d er H yperinflationskrise v o n 1989, ein erster Schritt
zu einer M achtkonzentration hin statt. Z u diesem Z eitpunkt forderte die
E xekutive v o m P arlam en t die Z u stim m u n g zu zwei w ichtigen G esetzen:
dem W irtschaftsnotstandsgesetz (Ley de Emergencia Económica) un d dem
Staatsreform gesetz (Ley de Reforma del Estado). D iese G esetzesvorlagen
lieferten einen u m fassenden R ahm en für zukünftige politische H an d lu n ­
gen. Sie beschränkten sich jedoch n ich t a u f den E n tw u rf eines Regie­
rungsprogram m s, so n d ern trugen gleichzeitig der T atsache R echnung,
dass für eine rasche U m setzung des W irtschaftsprogram m s eine solide
politische M achtbasis n o tw endig war.
D ie G esetzesvorlage zum W irtschaftsnotstandsgesetz sah eine Sanie­
rung der öffentlichen F inanzen vor. D ie M aßnahm en zielten a u f eine so­
fortige u n d zeitweise R eduzierung d er öffentlichen A usgaben. Beihilfen
u n d S ubventionen sowie Z u w endungen im R ahm en der Industrieförde-
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 59

ru n g sollten gestrichen w erden, E instellungen, die eine Steigerung der


staatlichen V erw altungsausgaben im plizieren k ö n nten, entfallen. W eitere
P u n k te betrafen die Z urückstellung v o n S chulden un d den V erkauf vo n
staatlichem E igentum . D ie Z en tralb an k sollte m it A u tonom ie ausgestat­
tet w erden, u m W ährungsstabilität zu gew ährleisten u n d u m eine direkte
o d er indirekte F inanzierungen der nationalen R egierung o d er der P ro ­
vinzen m it Flilfe d er N o te n p re sse zu verhindern. G leichzeitig zielten an­
dere M aßnahm en a u f eine M odifizierung d er M arktbedingungen ab. D a­
zu g ehörte die G leichbehandlung v o n nationalem un d ausländischem
Produktionskapital sowie eine A u fh eb u n g d er V orzugsbehandlung nati­
onaler P rodukte. D ie E rteilung v o n Im portgenehm igungen sollte liberali­
siert w erden, u m teuer produzierte einheim ische P rodukte u n ter K o n ­
kurren zd ru ck zu setzen u n d A ngebotsengpässe zu überw inden.
D ie im E n tw u rf des W irtschaftsnotstandsgesetzes vorgesehenen
M aßnahm en w u rd en durch die B estim m ungen des G esetzes z u r Privati­
sierung u n d R estrukturierung öffentlicher U n tern eh m en vervollständigt.
D ie en tsprechende V orlage w ar v o n R o b erto D rom i, dem M inister für
Ö ffentliche A rb eiten u n d D ienste, entw orfen w orden u n d bildete den
A usgangspunkt für die Privatisierungspolitik der R egierung M enem .
T ro tz d er m it dieser G esetzesinitiative angestrebten langfristigen struktu­
rellen V eränderungen w urde bei den m eisten B estim m ungen die große
Eile deutlich, m it der die R efo rm a u f den W eg gebracht w erden sollte.
D e r G esetzesen tw u rf sah den A u sn ah m ezustand für alle staatlichen
R echtspersonen, U n tern eh m en u n d G esellschaften vor. Als ersten
Schritt zu deren R eorganisation sah das G esetz die Ü bernahm e durch ei­
nen T reu h än d er interventor) für einen Z eitraum v o n sechs M onaten vor.
D iese P hase k o n n te u m w eitere sechs M onate verlängert w erden. W ich­
tigste A ufgabe d er T re u h ä n d e r in dieser Z eit w ürde es sein, das en tsp re­
chende U n tern eh m en gem äß den In stru k tio nen durch die Exekutive o-
der den zuständigen M inister a u f eine Privatisierung vorzubereiten. D e r
G esetzesen tw u rf stellte n ich t n u r die Regeln für zukünftige Privatisie­
rungen auf, er gab auch den Startschuss für die Staatsreform , indem er in
einem A n h an g zahlreiche staatliche U n tern eh m en aufführte, die zu „P ri­
v atisieru n g so b jek ten “ erklärt w urden. D ie Liste um fasste öffentliche
U nternehm en aus den unterschiedlichsten W irtschaftsbereichen, insbeson­
dere öffentliche D ienstleistungen u n d G rundstoffindustrien. Festgelegt
w urde auch, o b lediglich eine T eilprivatisierung oder ein vollständiger
V erk au f anzustreben sei.
S ow ohl das W irtschaftsnotstandsgesetz als auch das Staatsreform ­
gesetz schufen breiten R aum für zukünftige politische A ktivitäten un d
60 M ariana L lanos

enthielten darüber hinaus eine Reihe v o n V orschriften, die der Exekutive


eine Im plem entierung d er M aßnahm en o h n e größere E inm ischung von
Seiten anderer In stitu tio n en erm öglichen sollten. D as G esetz zu r Staats­
refo rm m achte deutlich, dass in erster Linie die E xekutive u n d das K abi­
nett, u n d nicht etwa d er K ongress, den R estrukturierungsprozess des öf­
fentlichen Sektors k ontrollieren w ürden, u n d zw ar aus dem einfachen
G ru n d , dass aufgrund der D ringlichkeit dieser A ufgabe keine Z eit für die
D iskussion jeder einzelnen Privatisierungen sei. In so fern w ürde die Pri-
vadsierungspolitik v o r allem m ittels D ek reten u n d nicht durch G esetze
im plem entiert w erden. W äh ren d m an sich a u f die K n sen situ atio n berief,
um diese D elegation v o n M acht zu rechtfertigen, blieb die K on tro lle der
d u rch zu fü h ren d en R efo rm en dem K ongress Vorbehalten. Z u diesem
Zw eck o rd n ete das G esetz die E in rich tu n g einer aus sechs Senatoren
un d sechs A b g eo rd n eten besteh en d en K o m m ission (comisión bicameral)
an, die alle In fo rm atio n en bezüglich des G esetzes erhielt u n d ü b e r das
R echt verfügte, w eitere In fo rm atio n en ein zu fordem sowie V orschläge,
Ratschläge u n d B erichte zu form ulieren. In ähnlicher W eise ü b ertrug
auch das W irtschaftsnotstandsgesetz d er E xekutive legislative R echte, al­
lerdings in geringerem U m fang, da w esentliche B estim m ungen bereits
durch das G esetz selbst form uliert w urden. A uch in diesem Fall behielt
der K ongress das K o n tro llv o rrech t, d enn A rtikel 88 sah die E inrichtung
einer Z w eikam m erkom m ission zu r K on tro lle der E xekutive bei der
A u sü b u n g d er ih r zugew iesenen F u n k tio n en vor.

D er Oberste G erichtshof

K u rz nach V erabschiedung d er N otstan d sg esetze nahm die R egierung


zur K en n tn is, dass die Justiz ein w eiterer Bereich w ar, in dem W ider­
stand gegenüber den W irtsch aftsrefo rm en geäußert w erden könnte. Als
verh eeren d für die zukünftige W irtschaftspolitik galt die A ussicht, dass
die en tsp rech en d en G esetze für nicht v erfassungskonform erklärt w ür­
den. A uch die V erfassungsm äßigkeit d er N o tstan d s- u n d D ringlichkeits­
dekrete w ar ein für die R egierung w ichtiges T hem a. U m jedes Risiko für
die R eform en zu verm eiden, w ar eine K on tro lle des O b ersten G erichts­
hofes notw endig.3 M it dem A rg u m en t, dass d er Wille des V olkes, wie er

3 V erbitsky (1993: 33-46) h at behauptet, dass die R eform des O b ersten G erichtshofes
nicht n u r aus Sorge um die V erfassungsm äßigkeit der N otstandsregelungen vorge­
no m m en w orden sei, so n d ern auch dafür sorgen sollte, dass das G erich t die M aß­
nahm en der Regierung zur L ösung der Problem e m it dem Militär billigen w ürde. D e r
Ü b e r G ese tze u n d D e k re te 61

durch dessen gew ählte R ep räsentanten ausgedrückt w erde, durch keiner­


lei H indernisse gestört w erden sollte (der G e rich tsh o f w ar kein gew ähltes
G rem ium ), legte die E xekutive einen G esetzen tw u rf vor, der darau f ab­
zielte, sich im O b ersten G e ric h tsh o f durch die A n h eb u n g der Mitglie­
derzahl v o n fü n f a u f neun eine regierungsfreundliche M ehrheit zu schaf­
fen. D e r G esetzen tw u rf w urde im Septem ber 1989 eingereicht un d im
A pril 1990 verabschiedet, nach einem recht einfachen D u rch la u f im Se­
n at (wo die kom fortable peronisrische M ehrheit ihn innerhalb von elf
T agen annahm ) u n d einem kom plizierteren D urchgang im U nterhaus.4
W ie w eiter o ben angem erkt, w ar das E rgebnis eine V ergrößerung der
M itgliederzahl des O b ersten G erichtshofes u n d die E rn en n u n g v o n re­
gierungstreuen K andidaten. Bereits im M ai 1990 ernannte M enem m it
Z u stim m u n g des Senats sechs neue R ichter am O b ersten G erichtshof:
vier a u f den neu geschaffenen Stellen u n d die übrigen zwei als N a c h ­
folger für diejenigen, die zurückgetreten w aren.5
D ie d u rchgeführten V eränderungen erw iesen innerhalb kurzer Z eit
ihre Effektivität. D e r vielsagendste Fall w ar der des dissidenten p ero ­
nisrischen A bgeo rd n eten M oisés F ontela, d er m it H ilfe der Justiz die
P rivatisierung v o n A.erolineas Argentinas in Frage stellen wollte. D e r A bge­
ord n ete versuchte, eine U n terb rech u n g der endgültigen V erkaufsver­
handlungen zu erreichen, indem er eine B eschw erde (acción de amparó)

von M enem w ährend seines ersten A m tsjahres verkündete G nadenakt (indulto) b e tra f
m ehr als zw eihundert M ilitärangehörige, die an dem „schm utzigen K rieg“ in den
70er Jahren, am M alvinas-K rieg und an den A ufständen v o n 1987 u n d 1988 beteiligt
gew esen waren.
4 D er G esetzgebungsprozess im A bgeordnetenhaus w urde w egen U nregelm äßigkeiten
kritisiert. E rstens w urde angem erkt, dass m ittels eines irregulären P rozedere die D e ­
batte über das G esetz um viele Stunden bis tie f in die N a ch t verlängert wurde. O b ­
w ohl eine A bstim m ung über die U nterbrechung der D ebatte bis zum folgenden Tag
veranlasst w orden war, entschied sich eine „unklare“ M ehrheit für die F ortsetzung
der Sitzung. In der T a t w urde angeprangert, dass die M ehrheit durch Strohm änner
erzielt w orden sei. Zw eitens w urde der G esetzesentw urf „im allgem einen“ , jedoch
nie „im einzelnen“ (Artikel für Artikel) angenom m en - was nur den ersten Schritt im
Z ustim m ungsprozess darstellt u n d zw ar schlicht und einfach desw egen, weil die
Sitzung nach der allgemeinen A nnahm e des G esetzes als b eendet b etrachtet w urde
(Vidal 1995: 73-104; V erbitsky 1993: 47-51).
5 M enem w irkte auch a u f die B esetzung anderer Bereiche der Justiz ein. E r ernannte
den m it der A ufsicht über die E rm ittlungs- und Prozessfunktionen der richterlichen
G ew alt beauftragten Procurador General de la Corte ohne die notw endige Z ustim m ung
d urch den Senat. A ußerdem sorgte er für den R ücktritt von vier der fü n f M itglieder
des R echnungshofes (Tribunal de Cuentas), dessen A ufgabe die Ü berw achung der G e­
setzm äßigkeit v o n R egierungsausgaben ist (Larkins 1998: 430-431).
62 M ariana L lanos

einreichte, in d er B edenken gegen die R echtm äßigkeit des V erfahrens


präsentiert w urden. D e r R ichter gab dem A ntrag statt u n d veranlasste ei­
ne U n terb rech u n g des A ngebotsverfahrens, bis die angezeigten U n re ­
gelm äßigkeiten geklärt w ären. K urz d arau f richtete sich der M inister für
Ö ffentliche A rbeit u n d D ienste, R o b erto D rom i, direkt an den O b ersten
G e ric h tsh o f u n d erreichte d o rt innerhalb kurzer Z eit die A u fhebung der
richterlichen E ntscheidung. D ieser Fall w ar nicht n u r desw egen interes­
sant, w eil sich die R egierung in ihrer A n nahm e bestätigt sah, dass die J u s ­
tiz o hne die R eform des O b ersten G e ric h tsh o f ein H indernis für ihre
Politik gew esen w äre, so n d ern auch, weil das um strittene M ittel des per
saltum zu m ersten M al in d er argentinischen G eschichte A nw endung
fand. D as Ü berspringen v o n Z w ischenstufen eines gerichtlichen V erfah­
rens w ar v o m G esetzgeber n ich t eindeutig geregelt, w eshalb die A kzep­
tanz dieser V orgehensw eise durch den O b ersten G e rich tsh o f etwas legi­
tim ierte, was in der V ergangenheit zu K o n tro v ersen u n d D eb atten ge­
führt hatte.
D ie R eaktion des O b ersten G erichtshofes au f den Erlass vo n N o t­
stands- u n d D ringlichkeitsdekreten d urch die R egierung M enem zeigte
ein w eiteres Mal, wie effektiv die V eränderungen in seiner B esetzung
gew esen w aren. In einer E n tsch eid u n g v o n 1990 (Fall Peralta) w urde die
diesbezügliche P ositio n des G erich tsh o fes festgelegt: obw ohl diese
D ekrete in d er V erfassung n ich t erw ähnt w ürden, könne in „sehr ernsten
Situationen“ a u f sie zurückgegriffen w erden. V o n da an m usste sich das
G erich t verschiedene Male m it R echtsbegehren auseinandersetzen, durch
die v o n der Regierung erlassene N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekrete in
Frage gestellt w urden. In den m eisten Fällen stellte es sich a u f die Seite
der R egierung u n d u n terstü tzte deren R echt zum Erlass v o n D ekreten.
E ine A u sn ah m e stellten lediglich jene Fälle dar, die V o rrech te des
O b ersten G erichts selbst betrafen (Ferreira R ubio u n d G o re tti 1996:
466-469).

D ie N otstan d s- und D ringlichkeitsdekrete

W ie bereits ausgeführt, w urde ein G ro ß teil der w irtschaftlichen S truktur­


reform en u n te r P räsident M enem m it H ilfe v o n D ekreten um gesetzt.
D ies galt auch für einige w eitere R eform en, etw a die Rationalisierung der
öffentlichen V erw altung m ittels D ekreten, deren Legitim ität sich aus den
verfassungsm äßigen R echten des Präsidenten ergab. D a n eb e n g riff M e­
nem auch a u f die M öglichkeit der „G esetzg ebung“ durch D ekrete z u ­
rück. D u rc h den E insatz v o n N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekreten
Ü b e r G e se tz e u n d D ek re te 63

n ah m d er P räsident legislative V o rrech te in A nspruch, die allein dem


K ongress zustehen —u n d zw ar o h n e jegliche R echtsgrundlage.
D ie N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsverordnungen k ö nnen als eine der
g ro ß en N eu eru n g en des 1983 w iederbegründeten dem okratischen R e­
gim es angesehen w erden.6 Z u v o r w aren solche M aßnahm en sehr selten
angew endet w orden, in extrem en w irtschaftlichen u n d institutionellen
K nsensituationen, w elche außerordentliche L ösungen erforderten. E in ­
griffe des P räsidenten in die Sphäre d er legislativen E n tscheidungen oh­
ne nachfolgende Z u stim m u n g durch den K ongress w aren insofern ein
V orrecht, das P räsid en t Raúl A lfonsin erstm als für sich in A nsp ru ch ge­
n o m m en hatte. P räsident Carlos M enem trieb diese V orgehensw eise
d ann a u f die Spitze. M enem w ar nicht der erste Regierungschef, der vo n
diesem M ittel G eb rau ch m achte, aber b em erkensw ert w ar die gewaltige
M enge d er v o n ihm in einer einzigen A m tsperiode erlassenen D ekrete.
Ferreira R ubio u n d G o re tti (1996: 451) h aben gezeigt, dass P räsident
M enem zw ischen Juli 1989 u n d A ugust 1994 336 N o tsta n d s- u n d D rin g ­
lichkeitsdekrete U nterzeichnete, w äh ren d zw ischen 1853 u n d Juli 1989
n u r 35 D ek rete erlassen w orden w aren.7
W en n a u f N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekrete n u r in au ß ero rd en t­
lichen S ituation zurückgegriffen w erden soll, ist der d u rch M enem er­
folgte G eb rau ch dieses M achtinstrum entes kaum zu rechtfertigen. D ie
v o n ih m erlassenen D ek rete bezogen sich v o r allem au f W irtschafts fra­
gen. M enem m achte v o n dieser M öglichkeit w ährend seiner gesam ten
ersten A m tsperiode G ebrauch, sow ohl in Z eiten der H yperinflation als
auch in Situationen m ak roökonom ischer Stabilität.8 W arum sollte es ein

6 Molinelli (1996: 75) konstatiert, dass m an „vor 1983 ein B uch ü ber V erfassungsrecht
schreiben konnte, ohne das T hem a zu erw ähnen, u n d w enn es erw ähnt w urde, dann
n u r im Z usam m enhang m it ,politischen’ E ntscheidungen, A usnahm eerscheinungen,
welche darüber hinaus im allgem einen als irregulär betrach tet w urden.“
7 Ferreira R u b io /G o re tti (1994: 2-4) haben ausgefuhrt, dass sich, da der V erfassungs­
text von 1853 keine N otstands- u n d D ringlichkeitsdekrete vorsah, eine K ontroverse
hinsichtlich ihrer verfassungsm äßigen G ültigkeit ergab. E inige Fachleute waren der
M einung, dass sie den V erfassungsnorm en w idersprächen, da kein A usnahm ezustand
eine U nterbrechung des Prinzips der G ew altenteilung rechtfertigen könne, a u f dem
das politische System basiere. A ndere hielten dagegen, dass D ekrete erlassen w erden
könnten, w enn der K ongress nicht zusam m entrete u n d schwierige u n d außerordent­
liche Situationen das Ü berleben des Staates u n d der Zivilgesellschaft bedrohten. U n ­
geachtet dieser D ifferenzen bestand eine Ü bereinstim m ung in bezug a u f die N o t­
w endigkeit, die erlassenen D ekrete innerhalb eines angem essenen Z eitraum s der
Z ustim m ung o der A blehnung durch den K ongress zu unterw erfen.
8 V on insgesam t 336 zw ischen 1989 und 1994 erlassenen D ekreten w urden 30 zw i­
schen Juli u n d D ezem b er 1989, 63 im Ja h r 1990, 85 im Ja h r 1991, 69 im Jahr 1992,
64 M ariana L lanos

P räsid en t m it einer solchen M ehrheit im Parlam ent nötig haben, per


D ek ret zu regieren? W enn M enem s D ek rete n icht notw endigerw eise m it
A u snahm esituationen in Z usam m enhang stehen, eignen sie sich sehr gut
als B eleg für einen besonders autokratischen Entscheidungsstil. D ie Re­
gierung verließ sich a u f ihre eigene Risikoanalyse, w enn sie dem K o n ­
gress W irtschaftsgesetze vorlegte. In so fern ist der extrem e E insatz v o n
D ek reten vielleicht nicht u n b ed in g t ein In d ik ator für Fügsam keit un d
Schw äche des K ongresses.

D ie Rolle des K ongresses

A ngesichts der Z entralisierung v o n E ntscheidungen u n d des autokrati­


schen Regierungsstils d er E xekutive stellte sich die Frage, ob der K o n ­
gress ü b e rh a u p t keinen E influss a u f die W irtschaftsreform en nehm en
konnte o d er o b es ihm trotz der w idrigen U m stände gelang, eine gewisse
Rolle zu spielen. In diesem Sinne gilt es zunächst zu berücksichtigen
(und dies h at d er mainstream d er Fachliteratur bislang nich t getan), dass
trotz des E insatzes v o n außergew öhnlichen R essourcen autokratischen
T yps (D ekrete u n d D elegation legislativer Funktionen) auch norm ale
G esetzgebungsverfahren stattfanden. M it anderen W orten: M enem re­
gierte nicht n u r p er D ekret, so n d em auch durch G esetze. N e b en 336
N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekreten9 w urden w ährend seiner ersten
A m tsp erio d e 835 G esetze verabschiedet, die zu 46% a u f V orlagen der
E xekutive u n d zu 54% a u f Initiativen des K ongresses zurückgingen
(M ustapic 2000: 591). D iese A ngaben zeigen zum einen, dass der K o n ­
gress die v o n d er E xekutive eingereichten V orlagen verabschiedete, und
zum anderen, dass er selbst seine verfassungsm äßigen R echte hinsicht­
lich d er Initiierung u n d V erabschiedung v o n G esetzen nutzte. W ie die
D aten zeigen, n u tzten beide G ew alten ihre Initiativfunktion etw a in glei­
chem A usm aß. M ustapic w eist d arau f hin, dass der K ongress zw ar den

62 im Ja h r 1993 und 27 zw ischen Jan u ar und A ugust 1994 v erkündet (Ferreira Ru-
b io /G o re tti 1996:454).
9 E s sollte vielleicht klargestellt w erden, dass die Regierung v o n den insgesam t 336
N otstands- und D ringlichkeitsdekreten n u r 166 anerkannte. D ie übrigen 170 w urden
v o n Ferreira R ubio u n d G o retti nach einer sorgfältigen Analyse der gleichen K atego­
rie zugeordnet. D ie Regierung dagegen verm ied es, diese als N o tsta n d s- u n d D ring­
lichkeitsdekrete zu bezeichnen, obw ohl es sich um solche handelte. E inige A utoren
ziehen es vor, n u r die v o n d er E xekutive selbst anerkannten D ekrete zu berücksichti­
gen, deren A nzahl freilich auch so n o ch signifikant genug ist.
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 65

E ingaben der E xekutive P riorität einräum te, aber darüber nicht die aus
seinen eigenen R eihen hervorgegangenen E n tw ürfe vernachlässigte.
Insgesam t scheinen die Z ah len die große gesetzgeberische R evoluti­
o n zu bestätigen, die w ährend der A m tszeit M enem s stattfand u n d m it
einem n euen E ntw icklungsm odell sowie einer neuen Rolle des Staates in
V erb in d u n g steht. U m gesetzt w urde sie sow ohl durch norm ale als auch
d urch außergew öhnliche G esetzgebungsverfahren. V erglichen m it ande­
ren P räsidentschaften lag die A nzahl der w ährend der ersten A m tsp erio ­
de Carlos M enem s verabschiedeten G esetze au f einem vorderen Platz.
L aut M ustapic (2000: 591) erließ der K ongress w äh ren d der P räsident­
schaft v o n Raul A lfonsin 645 G esetze, hinzu kam en etwa zehn N o t­
stands- u n d D ringlichkeitsdekrete. F ü r frühere Präsidentschaften liegen
folgende D aten vor: u n te r Illia 441 G esetze, u n ter C ám pora 10, u n ter
Lastiri 27, w ährend der dritten P räsidentschaft P eró n s 142 u n d u n ter
M artínez de P e ró n 569 G esetze (M o lin elli/P alanza/S in 1999:416). E s
gab zw ar im V erlau f des 20. Ja h rh u n d erts Präsidentschaften, w ährend
denen eine größere A nzahl v o n G esetzen verabschiedet w urde (zum Bei­
spiel u n te r Y rigoyen 1114 u n d w äh ren d d er ersten A m tszeit Peróns 1292
G esetze), allerdings h än g t dies auch dam it zusam m en, dass bis 1964 sehr
viele R enten- u n d Pensionsgesetze erlassen w urden. D eren A nteil an den
gesam ten G esetzen lag zw ischen 21% u n d 57% (M olinelli/P alanza/S in
1999: 415).
D ie große A nzahl der u n ter M enem verabschiedeten G esetze führt
uns zu einem zw eiten w ichtigen A spekt, u n d zw ar zu den Inhalten der
G esetze. D ab ei ist d a ra u f hinzuw eisen, dass grundlegende w irtschaftspo­
litische R eform gesetze v o m K ongress debattiert un d verabschiedet w ur­
den. A n erster Stelle ist die V erabschiedung des K onvertibilitätsgesetzes
(Ley de Convertibilidad) zu nennen. M eh r als zehn v o m Parlam ent verab­
schiedete Privatisierungsgesetze (zusätzlich zu den durch das Staatsre­
form gesetz v o n 1989 autorisierten Privatisierungen) u n d wichtige G esetze
w ie die z u r Steuer- u n d A rb e itsre c h tsre fo rm zeigen, dass das P arla­
m e n t durchaus an w irtschaftspolitischen E n tscheidungsprozessen betei­
ligt war. M ehrere Studien haben aufgezeigt, dass der K ongress an der in­
haltlichen A usgestaltung der b etreffen d en G esetze in substanzieller A rt
u n d W eise beteiligt w ar.10 E tc h e m e n d i/P a le rm o (1998: 581-582) un-

10 Z u r Privatisierungspolitik siehe L lanos (1998); zur R eform des A rbeitsrechts E tch e­


m en d i/P a le rm o (1998); zur R eform des Pensionssystem s: A lonso (1998); zur Steuer­
gesetzgebung: E aton (1998); zur W irtschaftsliberalisierung: T o rre /G e rc h u n o ff (1996).
F ür eine allgemeinere In terpretation siehe auch Palerm o (1995) und (1998).
66 M ariana L lanos

terstreichen bei ihrer Analyse der arbeitsm arktrelevanten Strukturrefor­


m en, dass die entsp rech en d en G esetzesvorlagen der R egierung im P ar­
lam en t a u f erhebliche W iderstände stießen u n d dass die E xekutive in die­
sem Politikbereich lediglich Teilerfolge erzielen konnte. D ie A u toren
w eisen insbesondere d arau f hin, dass der K ongress eine bedeutende R ol­
le beim A bblocken d er anfänglichen V ersuche der E xekutive spielte, ihre
Politik m it unilateralen R essourcen durchzusetzen. M it dieser H altu n g sei
es gelungen, der E xekutive m e h r V erhandlungsbereitschaft abzuringen.
A u ch A lonso (1998: 620-624) stellt in seiner Studie zur R eform des So­
zialversicherungssystem s fest, dass die E xekutive ihren unilateralen F ü h ­
rungsstil m odifizieren u n d sich a u f V erhandlungen einlassen m usste. In ­
folgedessen w urde das K apitaldeckungsverfahren n u r m it bedeutsam en
inhaltlichen K o rrek tu ren gegenüber der ursprünglichen R egierungs­
vorlage verabschiedet. E in e Studie zur S teuerreform (Eaton: 1998) w eist
a u f ähnliche T en d en zen hin: die peronisrischen A b g eordneten billigten
die entsp rech en d en V orlagen erst, nach d em sie M odifikationen durchge­
setzt h atten, die insbesondere den Interessen der vo n ihnen vertretenen
P ro v in zen entsprachen.
In so fe rn gingen die G esetze zur W irtschaftsreform zw ar a u f Initiati­
ven d er E xekutive (sei es des P räsidenten selbst o d er ihm nahestehender
A bgeordneter) zurück, ihre endgültige F assung erhielten sie jedoch erst
im V erlau f v o n V erhandlungen in den K om m issionen bzw. im P lenum
beider H äuser des K ongresses. D ab ei w urden zahlreiche M einungen be­
rücksichtigt, die sich in den R egierungsvorlagen nicht w iederfanden und
die in vielen Fällen den ursprünglichen Z ielsetzungen w idersprachen.
D ie kritische E instellung des K ongresses gegenüber den Initiativen der
E xekutive beschränkte sich im übrigen n ich t a u f die W irtschaftsrefor­
m en. D ie H älfte der zw ischen 1989 u n d 1995 v o n der E xekutive vo rg e­
legten Initiativen w urde m it M odifikationen des K ongresses verabschie­
d e t (87 v o n insgesam t 165 G esetzen, w obei hier nicht die internationalen
V erträge hinzugerechnet w erden, da bei diesen laut V erfassung keine
M odifikationen erlaubt sind). 40% der R egierungsvorlagen w urden vom
P arlam en t nicht gebilligt (M ustapic 1999). H in zu kam , dass der K ongress
die E xekutive w iederholt dazu brachte, bereits eingereichte Initiativen
w ieder zurückzuziehen u n d durch V orlagen zu ersetzen, die eher den
Forderu n g en der A bgeordneten en tsp rach en (wie im Fall der Sozialversi­
cheru n g srefo rm u n d der Privatisierung des staatlichen E rd ö lu n te rn e h ­
m ens). In anderen Fällen verzichtete die E xekutive ganz au f bestim m te
V o rh ab en , da der K ongress bereits im V orfeld signalisiert hatte, dass er
seine Z u stim m u n g verw eigern w ürde. Beispielsweise verzichtete M enem
Ü b e r G e se tz e u n d D ek re te 67

au f die ins A uge gefasste P rivatisierung d er N atio n alb an k u n d w agte es


auch nicht, dies p e r D e k re t a u f den W eg zu bringen.
D e r K ongress m achte im L aufe d er A m tszeit M enem s in u n ter­
schiedlicher A rt u n d W eise v o n seinen G esetzgebungskom petenzen
G ebrauch. In einer früheren A rb eit habe ich drei Phasen des V erhältnis­
ses zw ischen E xekutive u n d Legislative u nterschieden (Llanos 1998). D ie
erste Phase entspricht den ersten M onaten der ersten Präsidentschaft
M enem s, als der K ongress dem P räsidenten inm itten der H yperinflati­
onskrise gesetzgeberische Befugnisse übertrug. D am it verzichtete der
K ongress a u f die B eteiligung an einer V ielzahl v o n G esetzgebungsver­
fahren im Z u sam m en h an g m it der W irtschaftsreform . D ie entsprechen­
den E ntsch eid u n g en w urden in d er Folgezeit einseitig v o n der E xekutive
getroffen. W äh ren d dieser „delegativen P hase“ beschränkte sich das P ar­
lam ent darauf, d urch die zu diesem Z w eck geschaffenen K om m issionen
eine K o n tro llfu n k tio n auszuüben. D ie G esetze zu r Staatsreform u n d zur
W irtschaftsreform m arkierten insofern den Z eitp u n k t des größten insti­
tutionellen U ngleichgew ichts zugunsten d er Exekutive. D anach änderte
sich die K o nstellation u n d bis zum E n d e der ersten P räsidentschaft M e­
nem s kann v o n einer „kooperativen P h ase“ gesprochen w erden. Je tz t
w ar d er K ongress n ich t m e h r zur Ü bertragung vo n gesetzgeberischen
K o m p eten zen an die E xekutive bereit, vielm ehr bem ühte er sich däm m ,
einige seiner K o m p eten zen w iederherzustellen. D ie E xekutive entfaltete
im m er n o ch ein enorm es politisches F ü h rungspotenzial u n d es gelang
ihr, die Z u stim m u n g des Parlam ents zu zentralen R eform en zu erhalten.
D ies w ar jedoch n u r durch Z ugeständnisse der E xekutive hinsichtlich
der G esetzesinhalte m öglich. D ie dritte Phase entfällt a u f die zw eite
A m tszeit M enem s u n d k ann als „konfliktive P hase“ bezeichnet w erden.
D as K räfteverhältnis zw ischen beiden G ew alten w ar jetzt ausgeglichener
als zuvor. D e r K ongress m odifizierte u n d verzögerte jetzt nicht n u r V o r­
schläge d er E xekutive, er n u tzte auch entschlossen seine Präventivrechte
u n d w eigerte sich, einige d er v o n der R egierung vorgelegten G esetzes­
initiativen zu verabschieden.
Sicherlich k o n n te d er P räsident letztendlich im m er noch a u f sein
partielles V eto rech t zurückgreifen, das er auch au f rech t um strittene
W eise n u tzte.11 M ustapic (1995) w eist d a ra u fh in , dass der G ebrauch des

11 Partielles V eto bedeutet, dass der P räsident gegen Teile eines v o m K ongress verab­
schiedeten G esetzes sein V eto einlegt u n d die restlichen Bestim m ungen in K raft tre­
ten lässt. V on dieser M öglichkeit m achte M enem ausführlich G ebrauch. D u rch die
68 M ariana L lanos

partiellen V etos d erart effektiv w ar, dass die E xekutive dadurch einen
G ro ß te il ihrer Initiativm acht bew ahren konnte. Jed o ch gelang es ihr nie,
eine B eteiligung des K ongresses ganz zu verhindern. D a h er behielten
wichtige, m it einem partiellen V eto belegte G esetze, wie etw a das zur
Sozialversicherungsreform , einen g ro ß en Teil des im K ongress ausge­
handelten W ortlauts. D ie E rfah ru n g en m it dem partiellen V eto verw ei­
sen so m it n icht n u r a u f die institutioneile M acht des P räsidenten, sie sind
gleichzeitig ein w eiterer Beleg dafür, in w elchem U m fang die A bgeo rd n e­
ten eigenständig handeln u n d M odifikationen v o n G esetzen gegen den
W illen d er E xekutive d urchsetzen konnten. W äre für die N o tsta n d s- u n d
D ringlichkeitsdekrete eine ähnliche In terp retation denkbar?
Zw eifellos w aren diese D ek rete eine m ächtige institutionelle W affe
in den H än d en M enem s u n d ein u n u m stö ß lich er In d ik ato r für seine au-
tokratischen R egierungstendenzen. A b er zahlreiche konkrete D ekrete (in
der M ehrzahl solche, die im Z u sam m en h an g m it den W irtschaftsrefor­
m en standen) sollten besser als m ächtige W affen in den H ä n d en eines
schw achen Präsidenten charakterisiert w erden. E in Präsident, der mittels
D ek reten regieren kann, ist in einem institutionellen Sinne im m er m äch­
tig, aber dies bed eu tet nicht, dass er auch politisch stark wäre. P arad o ­
xerweise reicht d er E influss eines P räsidenten, der durch D ekrete regiert
n u r so w eit, wie es ih m gelingt, dass seine D ekrete nicht d u rch ein G e­
setz des K ongresses außer K ra ft g esetzt w erden. E r ist gleichzeitig aber
auch so schw ach, dass er a u f D ek rete zurückgreift u n d es n ich t wagt,
sich bei der V erabschiedung eines G esetzes m it dem K ongress auseinan­
der zu setzen.
The rate at which the administration issues N U D s has declined by more
than 50 percent relative to the period before the (1994 constitutional) re­
form. In the first twenty-seven months under the new 1994 Constitution,
the administration issued sixty-two NU D s - less than its yearly average over
the 1989-94 period (Ferreira R ubio/G oretti 1998: 59).12

D e r zahlenm äßige R ückgang v o n N o tsta n d s- u n d D ringlichkeitsdekre­


ten, den die A uto ren beo b ach ten , findet zu r gleichen Z eit statt, in der die
g rö ß ten K onflikte zw ischen P räsid en t u n d K ongress auftreten, nach der
W iederw ahl M enem s 1995. D iese D a te n legen die A nn ah m e nahe, dass
ein Präsident, dem es an politischer D u rchsetzungsfähigkeit z u r V erab­

V erfassungsreform v o n 1994 w urde diese V orgehensw eise legitim iert (wie im übrigen
auch die N otstands- u n d D ringlichkeitsdekrete).
12 N U D s = Necessity and Urgency Degrees (N otstands- u n d D ringlichkeitsdekrete).
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 69

schiedung v o n G esetzen fehlt, auch zu schw ach ist, u m m it H ilfe v o n


D ek reten zu regieren. In jedem Fall d a rf die Rolle des K ongresses, un d
insbesondere die d er in ihm v ertreten en Parteien, nicht vernachlässigt
w erden, gleichgültig, o b der P räsid en t allein oder m it dem K ongress re­
giert.

D as Verhältnis zw ischen Exekutive und Kongress:


E in ige erklärende Faktoren

E s w urde bereits d arau fh in g ew iesen , dass die Präsidialverfassung A rgen­


tiniens unterschiedliche M odalitäten d er M achtausübung durch den P rä­
sidenten erm öglicht. D iese bew egen sich zw ischen den E xtrem en eines
unilateralen H andlungsstils einerseits u n d d er Suche nach K onsens ande­
rerseits (R ockm an 1997). N orm alerw eise schw anken Präsidenten zw i­
sch en beiden E n tsch eid u n g saltern ativ en hin- u n d her. D ie politische
G eschichte A rgentiniens zeichnet sich durch große Instabilität, personalisti-
sche Führungsstile u n d hegem oniale E n tw ü rfe aus. In der politischen
Praxis herrschte stets eine N eigung vor, sich eher der ersteren der beiden
gen annten A lternativen zu bedienen. A ngesichts dieses historischen Le­
gats sorgte d er autokratische R egierungsstil M enem s kaum für Ü b erra­
schung (O ’D o n n ell 1994b). T ro tz d e m soll im Folgenden deutlich ge­
m ach t w erden, dass die N eigung eines P räsidenten, sich für die eine oder
die andere Strategie zu entscheiden, auch m it konjunkturellen Faktoren
zusam m enhängt. P räsidenten handeln nicht isoliert, so n d em interagieren
m it anderen sozialen, politischen u n d institutionellen A kteuren. A uch
w en n sie eigene politische P räferenzen h aben un d zu einem bestim m ten
Führungsstil neigen, so m üssen sie d och die E xistenz anderer A kteure
m it eigenen politischen P räferenzen im A uge behalten. D ies gilt insbe­
so n d ere für das V erhältnis zw ischen E xekutive u n d Legislative.
In den folgenden A bsch n itten w erden zwei Faktoren herausgestellt,
die ausschlaggebend für das V erhältnis zw ischen P räsident u n d K ongress
w äh ren d der A m tszeit M enem s w aren. E rstens der sozioökonom ische
K o n tex t, v o r dessen H in terg ru n d sich dieses V erhältnis entwickelte, un d
zw eitens die B eziehungen zw ischen dem P räsidenten un d den anderen
w ichtigen politischen A kteuren: seiner eigenen Partei, den O p p o sitio n s­
parteien u n d schließlich den für den E n tw u rf der W irtschaftsreform ver­
antw ortlichen T echnokraten.
70 M ariana L lanos

D ie hyperinflationären U m stände

V erschiedene A u to ren haben d arau f hingew iesen, dass eine durch eine
tiefgreifende W irtschaftskrise gekennzeichnete Situation einen positiven
E influss au f die Im p lem entierung erfolgreicher W irtschaftsreform en ha­
ben k an n .13 D ies w ird dam it erklärt, dass eine solche Situation nicht nur
die Initiierung eines R eform program m s durch die R egierung erleichtert,
son d er dass auch eher R egierungskapazitäten geschaffen w erden können,
um die R eform en langfristig aufrecht zu erhalten.14 W ie im Folgenden
gezeigt w ird, veranlassten die hyperinflationären U m stände M enem bei
seinem A m tsan tritt zu einer W irtschaftspolitik, für die er nie P räferenzen
gezeigt hatte. D ie E xekutive verfügte infolge der K rise ü b e r große politi­
sche u n d institutionelle H andlungsspielräum e, was für die D u rch setzu n g
der ersten W irtschaftsreform m aßnahm en entscheidend war.
D ie H yperinflationskrise w ar eine Folge struktureller Problem e. Sie
m achte den K ollaps des Staates a u f dram atische W eise deutlich, eines
Staates, der nach u n d nach seine A uto n o m ie gegenüber dem sozialen, ex­
ternen u n d privaten D ru ck verloren hatte (P a le rm o /N o v a ro 1996: 85-94;
O ’D o n n ell 1993). D ie H yperinflation w u rd e durch w irtschaftliche u n d
politische Faktoren ausgelöst, die sich w äh ren d der letzten M onate der
Präsidentschaft A lfonsins ereigneten. D ies setzte einer Reihe v o n ge­
scheiterten Stabilisierungsversuchen im L aufe der zw eiten H älfte der
80er Ja h re ein dram atisches E n d e (C anitrot 1994).
B ereits v o r A usbruch der K rise h atten die M ittel der Regierung zur
Finanzierung des öffentlichen Sektors einen T iefstand erreicht. A ber
auch die U nsicherheit angesichts der bev o rstehenden P räsidentschafts­
w ahlen trug zu r V erschlechterung der Situation bei (G e rc h u n o ff/T o rre
(1996: 735). D ie A ussicht, dass der P eronism us w ieder an die M acht
kom m en könnte, beunruhigte in sbesondere die Privatw irtschaft. D e r
populistische W ahlkam pfstil des peronistischen K andidaten w urde durch
das Im age verstärkt, das er als G o u v ern eu r v o n La Rioja gew onnen h a t­
te. W äh ren d M enem v o n einem Schuldenm oratorium , v o n salariado un d
einer „pro d u k tiv en R evolution“ sprach, glich sein W irken als G o u v er­
neur d em eines typischen caudillo, der V erteilungspolitiken m it einem
feudalen Regierungs stil v erband, bei dem der M angel an V erantw ortlich­

13 Z u dieser T hese siehe: H ag g ard /K au fm an (1995); N elson (1994); O ’D onnell


(1994b); Przew orski (1995); S m ith /A c u fia/G a m a rra (1994); W illiam son (1993).
14 D e r E rklärungsw ert der Variable „W irtschaftskrise“ ist v o n Corrales (1999) in Frage
gestellt w orden.
Ü b e r G e se t 2 e u n d D ek re te 71

keit die Regel war. V o r diesem H in terg ru n d b estand eine große U n si­
cherheit dahingehend, was w ohl v o n einem P räsidenten M enem zu er­
w arten sein w ürde. M enem s W ah lk am p f trug dazu bei, die Ä ngste h in ­
sichtlich zukünftiger finanzieller U nw ägbarkeiten u n d dam it die Inflation
w eiter anzuheizen.
N ach d em M enem die Präsidentschaftsw ahlen gew onnen hatte, w ur­
de die Inflation, die in den M onaten zu v o r dem steigenden D ollarkurs
gefolgt war, zu r H yperinflation (Sm ith 1991: 40). D as ganze L and w urde
d urch den V erlust der K on tro lle ü b er die W irtschaft erschüttert, in den
V o ro rten der G ro ß städ te kam es zu K rawallen. U n ter diesen U m ständen
stellte sich die Frage nach dem Z eitp u n k t der A m tsübergabe v o n A l­
fonsin zu M enem . A lfonsin trat schließlich fü n f M onate v o r A b la u f sei­
n er A m tszeit zurück u n d M en em ü b ern ah m bereits im Juli 1989 die Re­
gierungsgeschäfte.
D ie Situation ließ im H inblick a u f die W irtschaftspolitik nicht viele
M öglichkeiten offen. D a der Staat fast alle ihm zur V erfügung stehenden
R essourcen u n d Regierungskapazitäten eingebüßt hatte, w ürde n u r die
E inleitung stabilitätsorientierter R eform en w irkungsvoll zu r B eruhigung
d er F inanzm ärkte beitragen u n d die Bewilligung dringend b en ötigter ex­
terner K redite erm öglichen. M enem verstan d dies u n d w echselte vo n
seiner im W ah lk am p f p räsentierten unklaren H altu n g zu einer klaren P o ­
sition. Seine neue H altu n g w ar w eit en tfern t v o n dem , was seine politi­
sche L aufbahn u n d die Z ugehörigkeit zum Peronism us hätten verm uten
lassen. Sie um fasste — gleicherm aßen zu r Ü berraschung v o n M enem s
G egnern u n d A nhängern —die Prinzipien eines neoliberalen Program m s:
die A ufgabe des Staatsinterventionism us u n d des geschützten K apitalis­
m us, die P rivatisierung v o n staatlichen U n ternehm en, einen finanzpoliti­
schen Sparkurs sowie die Ö ffn u n g der W irtschaft.
D ie E n tsch eid u n g für ein innovatives W irtschaftsprogram m scheint
eine direkte Folge d er öko n o m isch en u n d institutionellen K rise gew esen
zu sein, m it d er sich M enem n ach seiner W ahl kon fro n tiert sah. E r m u ss­
te erkennen, dass die objektive w irtschaftliche Situation keine großen
Spielräum e für andere staatliche Politiken als die in R ichtung m arktw irt­
schaftlicher R efo rm en ließ. In d e m er einen m arktw irtschaftlichen R e­
form kurs einschlug, k o n n te M enem die U n terstü tzu n g der nationalen
P rivatw irtschaft sowie der internationalen Banken u n d K reditgeber er­
langen. T o rre /P a le rm o (1992) sind zu d er Schlussfolgerung gelangt, dass
M enem s K ehrtw ende direkt nach seiner W ahl „das E rgebnis einer stra­
tegischen K alkulation war; genauer gesagt, die E ntsch eid u n g für m a rk t­
w irtschaftliche P olitiken w ar ein M ittel z u r N eutralisierung seiner politi-
72 M ariana L lanos

sehen Schw äche, zu r E tablierung einer bis dahin u n b ek annten sozialen


K oalition u n d zum E rh alt seiner eigenen M acht.“ In der T a t sah sich
M enem durch den plötzlichen W andel des „politischen O p p o rtu n ism u s“
beschuldigt (Canitrot: 1994) u n d es w urde die „Frage der politischen
G laubw ürdigkeit“ aufgew orfen, w o ra u f er in der Folge stets m it einem
H inw eis a u f den raschen F o rtsch ritt d er R eform en antw ortete (G erchu-
n o ff/T o rre 1996; P a le rm o /N o v a ro 1996; T o rre /P a le rm o 1992).

D as Verhältnis zw ischen Präsident und O pposition

D ie schw ierigen U m stände, u n te r denen d er M achtw echsel zw ischen Al­


fonsin u n d M enem stattfand, führten sow ohl zu einer Ü bereinkunft zur
Ü bergabe der P räsidentschaft als auch zu r E tablierung vo n Regeln für
einen bestim m ten Z eitraum der K o habitation zw ischen den Parteien.
A u f dem H ö h e p u n k t der K rise w ar die zu diesem Z eitp u n k t regierende
Radikale P artei dazu bereit, m it den designierten peronistischen A m tsträ­
gem zusam m enzuarbeiten. E s kam zu einer Ü bereinkunft zw ischen den
beiden g ro ß en Parteien, die aus zwei Teilen bestand. D ie erste A b sp ra­
che b e tra f die D au e r d er Ü bergangsphase zw ischen den W ahlen u n d der
A m tsübergabe. N orm alerw eise hätte M enem erst am 10. D ezem b er die
R egierungsgeschäfte ü bernom m en. E ine sechsm onatige Ü bergangsphase
erschien jedoch gefährlich lang, w eshalb sich beide P arteien darau f einig­
ten, die A m tsübergabe a u f Juli vorzuziehen.
D ie V erkürzung der A m tszeit A lfonsins w irkte sich jedoch nicht au f
den K ongress aus, dessen neugew ählte A b geordnete erst im D ezem b er
ihr A m t ü b ern eh m en w ürden. D a die Radikale Partei bis zu diesem Z eit­
p u n k t im A bgeordnetenhaus ü b er eine M ehrheit verfügte, w ürde M enem
anfangs o h n e die U n terstü tzu n g des K ongresses regieren m üssen. D ie
P ero n isten willigten in eine vorgezogene A m tsübernahm e ein, erreichten
aber im G eg en zu g die V erpflichtung d er U C R (Unión Cívica Radical', Ra­
dikale B ürgem nion), die V erabschiedung aller W irtschaftsgesetze zu er­
m öglichen, w elche die P e ro n iste n d em K o n g ress zw ischen Juli u n d
D ezem ber vorlegen würden. D azu verpflichteten sie sich, durch ihre A nw e­
senheit im U nterhaus das Quorum sicherzustellen. D ie K oo p eratio n sb e­
reitschaft der U C R erm öglichte bis D ezem b er die V erabschiedung
grundlegender W irtschaftsgesetze, insbeso n dere des W irtschaftsnot­
standsgesetzes u n d des Staatsreform gesetzes. D ie durch diese G esetze
autorisierte D elegation v o n M acht w ar 1989 m öglich, weil die K nsensi-
tuation zu einer politischen A nn äh eru n g führte: die Radikale P artei hielt
sich an die im Ü b ergangsabkom m en getroffenen V ereinbarungen; die
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 73

P artei des P räsidenten leistete keinen W iderstand gegen eine Politik des
P räsidenten, die durch die U m stän d e diktiert w urde; schließlich gaben
auch w eitere kleinere P arteien ihre U n terstü tzung, w eshalb die G esetzes­
vorlagen im Senat einstim m ig u n d im A b g eordnetenhaus m it einer brei­
ten M ehrheit angenom m en w urden.
A b D ezem b er 1989 gestaltete sich das V erhältnis des Präsidenten zur
U C R w ieder im R ahm en des norm alen M usters zw ischen R egierung un d
O pp o sitio n . D ab ei p rofitierte die R egierung vo n den Schwierigkeiten der
Radikalen Partei, sich zu einer w irkungsvollen O p p o sitio n zu entwickeln.
A u f d er einen Seite m achte die öffentliche M einung die U C R für das
w irtschaftliche D ebakel direkt verantw ortlich, w eshalb P räsident M enem
für eine beträchtliche Z eit nicht m it d er G efah r ungünstiger W ahlergeb­
nisse konfrontiert war. F erner n utzte M enem die Situation listig aus, indem
er d en R adikalen b ei jeder sich b ieten d en G elegenheit öffentlich I n ­
effizienz u n d D irigism us vorw arf. A u f d er anderen Seite ließ das dram a­
tische E n d e v o n A lfonsins Regierungs zeit die U C R in einem Z u stan d der
in n eren K rise zurück. D ies verhinderte in den m eisten Fällen ein abge­
stim m tes u n d konsistentes H an d eln der w ichtigsten O ppositionspartei.
E rs t w äh ren d M enem s zw eiter A m tszeit entw ickelte sich die U C R w ie­
d er zu einer echten A lternative. D o c h tro tz ihrer Schw äche verweigerte
die Radikale Partei o ft die Z usam m en arb eit im K ongress (d.h. sie versag­
te die B ereitschaft, durch die A nw esenheit ih rer A bgeordneten das Q u o ­
ru m zu gew ährleisten), w eshalb P räsident M enem a u f die U n terstü tzu n g
seiner eigenen P artei u n d a u f ad Aor-Übereinkünfte m it anderen opposi­
tionellen P arteien angew iesen war.
W ie bereits erw ähnt, garantierten die W ahlergebnisse Carlos M enem
eine vorteilhafte V erteilung d er institutionellen M acht. D as w ar beson­
ders im Senat der Fall, w o die PJ ü b er eine absolute M ehrheit verfügte.
Im A b g eordnetenhaus hatte die R egierungspartei n u r eine einfache
M ehrheit, die jedoch m it U n terstü tzu n g einiger kleinerer Parteien ohne
größere Schw ierigkeiten zum E rreich en des Q u o ru m s ausreichte. E ine
solche U n terstü tzu n g erhielt die R egierung zum Beispiel v o n M itgliedern
der U ceD é (Unión del Centro Democrático), die auch in der E xekutive m it
ih r zusam m enarbeitete.15 A ndere gute V erb ü n d ete der R egierungen wa-

15 D ie A nnäherung zw ischen dem Peronism us u n d der U ceD é w ar Teil der Strategie


des Präsidenten, der W irtschaft Signale dafür zu geben, dass er den neu eingeschla-
genen W eg wirklich w eiterzuverfolgen gedachte. D ies nahm seinen A nfang m it der
B erufung von A lvaro Alsogaray, der führenden Figur des U ceD é, a u f eine für die
W irtschaftsreform zentrale P osition, u n d zwar als B erater des Präsidenten bei Fragen
der A ußenverschuldung. Später w urde M aria Julia, die T o ch ter Alsogarays u n d e b en ­
74 M ariana L lanos

ren: das Movimiento Popular Neuquino, d er Partido Renovador de Salta, der Par­
tido Planeo de los Jubilados, der Partido U beral de Corrientes, die A lia n za Acción
Chaqueña, d er Partido Demócrata Cristiano Federal u n d der Partido Conservador
Popular. D iese R egionalparteien w aren zw ar als einzelne K räfte num e­
risch irrelevant, sie spielten jedoch für das E rreichen der nötigen Stim ­
m en zu r V erabschiedung v o n G esetzesvorlagen eine w ichtige Rolle. D ie
Z u sam m en arb eit m it diesen P arteien hatte für die E xekutive aber auch
ih ren Preis, d en n sie m usste sich a u f K o m p ro m isse einlassen, insbeson­
dere a u f V ergünstigungen für diejenigen D istrikte, die v o n diesen kleine­
ren P arteien repräsentiert w urden. E n tsch eid en d w ar jedoch, dass es P rä­
sident M enem gelang, sich die U n terstü tzu n g seiner eigenen P artei für
die Im plem en tieru n g eines politischen P rogram m s zu sichern, das dem
historischen P eronism us diam etral entgegengesetzt war.

D as Verhältnis zw ischen Präsident und Regierungspartei

M enem s Fähigkeit, die PJ w irkungsvoll zu kontrollieren, hing dam it zu­


sam m en, dass er ih r erster w irklicher politischer F ü h rer seit P eróns T o d
w ar (P a le rm o /N o v a ro 1996: 215). N a c h dem Sieg bei den ersten in ter­
nen W ahlen in der G eschichte des Peronism us w urde M enem 1988 zum
K an d id aten d er P artei für die bevo rsteh en d en Präsidentschaftsw ahlen
gekürt. M it diesem E rgebnis w ar es M enem gelungen, seine K an didatur
gegenüber d er des dam aligen P arteivorsitzenden A n to n io C añero durch­
zusetzen. S ow ohl M enem als auch C añero g eh örten dem Flügel der „ E r­
neu erer“ (Renovadores) an, einer G ru p p e v o n peronisrischen A bgeordne­
ten u n d G o u v ern eu ren , die einen P rozess der internen N eustrukturie­
ru n g des P eronism us an fü h rten (M ustapic 1988: 25). M it dem Ziel, die
peronisrische B ew egung den neuen dem okratischen Z eiten anzupassen,
traten die E rn e u e re r u.a. für W ahlen zu r B estim m ung der K andidaten

falls ein bekanntes M itglied der U ceD é, m it allen die Privatisierung der Telefongesell­
schaft b etreffenden Fragen beauftragt. A ndere Fachleute der U ceD é erhielten P osten
in der B undes- u n d den Provinzverw altungen. D ie B erufung v o n M itgliedern der
Familie A lsogaray stand im Z usam m enhang m it der v o n Miguel Roig zum W irt­
schaftsm inister. Beide E rn ennungen w aren auch von großer sym bolischer B edeu­
tung, insofern R oig Präsident v o n Bunge & B orn gewesen war, des g rößten m ultina­
tionalen argentinischen U nternehm ens, u n d Alsogaray eine P erson des rechten Z en t­
rum s m it einer langen T radition der U nterstützung liberaler W irtschaftsideen war.
Beide P erso n en w aren zudem Symbole für die Feinde, die der Peronism us als V olks­
bew egung stets gehabt hatte.
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 75

u n d für eine A blösung der peronisrischen G ew erkschaftler in der P artei­


füh ru n g ein.
M enem profitierte v o n den V orteilen, die es für eine K arriere als P rä ­
sident m it sich brachte, lediglich eine kleine Provinz zu regieren. Im
G egensatz dazu sah sich C afiero m it der d o ppelten institutioneilen Ver­
antw ortlichkeit als P arteivorsitzender u n d als G o u v ern eu r der bevölke­
rungsreichen P rovinz B uenos Aires konfrontiert. M enem ko n n te es sich
leisten, einen G roßteil seiner Z eit m it Reisen durch das ganze L an d zu
verbringen u n d sich m it nationalen P roblem en zu beschäftigen. E r k o n n ­
te denjenigen Schutz gew ähren, die im L aufe des R eorganisationsprozes­
ses v o n der F ü h ru n g der P artei ausgeschlossen w orden w aren, insbeson­
dere d en G ew erkschaftsführern. E r w ar n icht dazu gezw ungen, K o m ­
prom isse m it der nationalen R egierung einzugehen, K om prom isse, die
für den F o rtb estan d des politischen Regim es v o n zentraler B edeutung
w aren, besonders n achdem es dem Peronism us bei den W ahlen von
1987 gelungen w ar, die K on tro lle ü b er die m eisten Provinzregierungen
zu erlangen. Infolgedessen verw andelte M enem seinen Status als A u ß en ­
seiter in einen V orteil gegenüber Cafiero. Später sollte sich dieser Status
auch als nützlich erweisen, u m die öffentliche M einung für sich einzu­
neh m en u n d die Präsidentschaftsw ahlen zu gewinnen. M enem führte
seinen W ah lk am p f m ittels direkter A ppelle an die B evölkerung u n d be­
m ü h te sich darum , seine persönlichen Q ualitäten in den V ord erg ru n d zu
stellen u n d eine Identifikation m it den in M isskredit geratenen Parteior­
ganisationen zu verm eiden.16
Als politischer F ü h rer repräsentierte M enem für seine Partei jene tra­
ditionellen E lem ente, aus den en die peronisrische Identität hervorgegan­
gen war. Als P räsidentschaftskandidat präsentierte er sich selbst als Retter,
d er das Los der M enschen v erän d ern w ürde. T ro tz dieses durch p o pulis­
tische E le m e n te g ep räg ten Stils b ed eu tete M enem s F ü h ru n g keine
R ückkehr in die V ergangenheit. Sein Führungsstil beinhaltete vielm ehr
eine M ischung aus traditionellen u n d neuen E lem enten, w urde er doch
g egenüber einer Partei eingesetzt, die auf dem W eg der Institutionalisie­
ru n g bereits F ortsch ritte gem acht hatte. A u f diese A rt u n d W eise stellte
M enem den M ythos der Bew egung w ieder h er u n d v erhalf ihr zu einem

16 N o v a to (1994: 65) hat v o n einer „R epräsentationskrise“ gesprochen, die sich in ei­


nem generellen M isstrauen gegenüber Parteien und „Parteipolitikem “ m anifestierte.
Indem er sich selbst als politischer A ußenseiter präsentierte, gelang es M enem , nicht
dem selben M isskredit ausgesetzt zu w erden, m it dem sich die m eisten dem okrati­
schen politischen F ührer konfrontiert sahen.
76 M ariana L lanos

F üh rer —zwei A ufgaben, w elche die E rn e u e re r u n v ollendet gelassen h a t­


ten.17
D ie T atsache, dass M enem d er F ü h rer einer P artei w ar, deren Insti­
tutionalisierungsprozess F ortschritte gem acht hatte, beeinflusste die
E ntw icklung des V erhältnisses zw ischen d em P räsidenten u n d seiner
Partei. A u f der einen Seite w ar die E in h eit d er P artei u n te r M enem s F ü h ­
ru n g funktional für die Regierungsaufgaben. M it seinen W ahlsiegen 1988
u n d 1989 legitim ierte M enem seine F ührungsrolle u n d errang die U n ter­
stützung der Partei. D as blieb selbst dann so, als seine E n tscheidungen
als P räsid en t die K o rrek tu r d er Parteiprinzipien nach sich zogen. M e­
nem s führende Rolle innerhalb der Partei verlieh ihm große E n tsch ei­
dungsfreiheit u n d sicherte den F o rtb e sta n d des 1989 eingeschlagenen
w irtschaftspolitischen K urses. D ie W ahlsiege bei den P arlam entsw ahlen
v o n 1991 u n d 1993 bestätigten die unangefo chtene P o sition des P räsi­
denten. A u f der anderen Seite legitim ierte sich M enem m it H ilfe der U n ­
terstü tzu n g der W ähler u n d der E ffizienz seiner Regierung. A nders als
P eró n w ar er n ich t d er natürliche F ü h rer d er peronisrischen Bewegung.
Infolgedessen bed eu tete die A kzeptanz seiner F ührungsrolle durch die
P artei nicht im m er autom atisch die K o o p eratio n m it ihm u n d das Fehlen
jeglicher K onflikte. V ielm ehr sah sich d er P räsident im V erlauf der Im p ­
lem entierung seiner P olitiken m it verschiedenen F o rm en des W iderstan­
des k o nfrontiert. E in G roßteil davon w u rd e a u f der parlam entarischen
E b e n e ausgedrückt, w o die peronisrischen A b g eordneten aus dem G e ­
w erkschaftslager (ungefähr zw anzig A bgeordnete, die v o r allem im A u s­
schuss für A rbeit saßen) sowie die R epräsentanten peronisrisch regierter
P rovinzen n icht im m er die A nsichten des P räsidenten teilten (Corrales
2000: 132). H in zu kam , dass nach M enem s W iederw ahl 1995 die in n er­
parteiliche K o n k u rren z um dessen N achfolge begann. D a m it endete
M enem s unangefochtene Führungsrolle u n d seine K o n k u rren te n (insbe­
sondere d er G o u v ern eu r d er P rovinz B uenos Aires, E d u a rd o D uhalde)
forderten ihn auch a u f parlam entarischer E b e n e heraus, w o A bgeordnete
aus d er Provinz B uenos Aires den Initiativen des P räsidenten oftm als ih ­
re U n terstü tzu n g verw eigerten.

17 D ieses N ebeneinander v o n Populism us u n d Institutionalism us ist v o n Palerm o


(1999) b e to n t w orden (auch P a lerm o /N o v aro (1996). D iese Analyse des M enem is-
m us steht im G egensatz zum mainstream der L iteratur, nach w elcher der F ü h re r der
Bew egung die O rganisation beherrscht, über große E rm essensfreiheit verfügt und
die P arteistruktur desinstitutionalisiert (W eyland 1996). E ine solche E inschätzung
übersieht den fundam entalen internen R estrukturierungsprozess des Peronism us seit
1983, den M enem n icht rückgängig m achen konnte.
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 77

D as Verhältnis zw ischen Präsident und T echnokraten

D ie E ntw icklung d er V erantw ortlichkeiten innerhalb d er E xekutive im


H inblick a u f die Im plem en tieru n g der W irtschaftsreform kann g u t durch
die Brille der M achtk o n zen tratio n b etrach tet w erden. D e r Präsident
strebte eine vollständige U m setzung d er R eform en an u n d w ar daher da­
zu genötigt, K on flik te a u f ein M inim um zu beschränken, die seine
G laubw ürdigkeit gegenüber d er Ö ffentlichkeit u n d die Fähigkeit seiner
Regierung, die R efo rm anzugehen, beeinträchtigen konnten. Tatsächlich
m usste sich M enem m it den Schw ierigkeiten auseinandersetzen, die eine
ausgedehnte u n d kom plex strukturierte E xekutive m it sich brach te.18
A bgesehen v o n d er V ertretung eigener Interessen hatten alle M it­
glieder d er E xekutive auch ihre eigenen V orstellungen v o n W irtschafts­
politik. D e r P räsid en t h atte die allgem einen Ziele vorgegeben, aber die
E inzelheiten u n d D etails ergaben sich n ich t zw angsläufig für Leute, die
au f der G rundlage eines h o h e n A usm aßes v o n Im provisation agierten.
D e r P räsident reagierte a u f diese Schw ierigkeiten m it einer politischen
iop-i/iWÄ-Strategie, w od u rch er sein E ngagem ent für die m ak roökonom i­
schen u n d strukturellen R eform ziele u n terstreichen wollte. Beispielsweise
tra f er P ersonalentscheidungen a u f eine A rt u n d W eise, die R efo rm an ­
hänger bevorzugte (oder belohnte); er b em ühte sich u m eine direkte
K on tro lle d er V orgänge innerhalb der Exekutive, indem er w öchendiche
Sitzungen des gesam ten K abinetts abhielt, was historisch gesehen eine
ungew öhnliche R egelm äßigkeit bedeutete; E ntscheidungen, w elche die
S trukturen u n d die O rganisation d er M inisterien betrafen, w urden in der
A bsicht getroffen, die M acht in denjenigen Bereichen zu zentralisieren,
die m it d er R efo rm beauftragt w aren. D ie w ichtigste E n tsch eid u n g in
dieser H in sich t w ar w ohl die Z u sam m enfassung der M inisterien für

18 E rstens bestand die Exekutive aus verschiedenen M inisterien u n d Sekretariaten m it


konkurrierenden Interessen, v o n denen viele ein begründetes Interesse am W ider­
stand gegen m arktw irtschaftliche R eform en hatten, die einen A bbau des Staatsappa­
rates m it sich brachten. Zw eitens w aren die politischen E ntscheidungen von einem
Führer getroffen w orden, der in A nbetracht der schwierigen U m stände dazu ge­
zw ungen gew esen war, sich von überkom m enen politischen V orstellungen zu ent­
fernen. D ie führenden M itglieder u n d G rem ien der Partei w aren som it zwar bereit,
den V orgaben des Präsidenten zu folgen, aber von ihren G rundüberzeugungen her
standen sie dem Populism us w esentlich näher als den A npassungspolitiken. Schließ­
lich g e h ö rte n der E xekutive M itglieder d er großen gesellschaftlichen K oalition an, die
nach den W ahlen entstand. A us der K oexistenz alter und neuer M itglieder der Regie­
rungskoalition ergaben sich natürlicher K onflikte um verschiedene Ziele innerhalb
der G re n ze n der gem einsam en Regierungsverantw ortung.
78 M ariana L lanos

W irtschaft u n d für Ö ffentliche A rb eit u n d D ienste. D am it sollte der Re­


form prozess in einer einzigen V erw altungseinheit konzentriert w erden.19
D iese M aßnahm e ging a u f die Initiative v o n M inister D om ingo Cavallo
kurz nach dessen A m tsü b ern ah m e A nfang 1991 zurück.
D ie V erdrängung v o n Parteim itgliedern u n d die E rn e n n u n g v o n
T ech n o k raten in den Schlüsselbereichen des R eform prozesses w ar w ahr­
scheinlich der w ichtigste S chritt der Exekutive bei ihrem Streben nach
m eh r A uto n o m ie u n d Expertise. D ie A ufnahm e vo n T ech nokraten in
die E xekutive erfolgte schrittw eise. M an begann dam it zu einem Z e it­
punkt, als das Scheitern der Politik v o n W irtschaftsm inister Rapanelli
deutlich w urde. D ie V erw undbarkeit hatte zugenom m en u n d die K apazi­
täten des Staates zur Ü berw indung d er K rise h atten sich verringert.20 Im
Zuge d er anschließenden E rn e n n u n g des F inanzfachm anns E rm an
G onzález, einem persönlichen F reu n d M enem s aus La Rioja, w urden
professionelle Ö k o n o m en in das K ab in ett aufgenom m en. In dieser P h a­
se reagierte die R egierung w eiterhin gefällig gegenüber der Privatw irt­
schaft, aber E ntsch eid u n g en w urden o hne deren direkte M itw irkung ge­
troffen. E rst m it der E rn e n n u n g v o n D o m in g o Cavallo jedoch w urde die
H an d h ab u n g der W irtschaftsproblem e endgültig in die H än d e der T ec h ­
nokraten gelegt. Als Cavallo im Ja n u a r 1991 das W irtschaftsm inisterium
übernahm , brachte er ein T eam v o n F achleuten m it, die entw eder schon
länger m it ih m zusam m engearbeitet h atten o d er die a u f die eine o d er an­
dere A rt u n d W eise m it seinem eigenen W irtschaftsforschungs- u n d Be­
ratungsinstitut v erb u n d en w aren. So brachte Cavallo Fachw issen, ein
hom ogenes T eam u n d gute B eziehungen zur nationalen u n d ausländi­
schen W irtschafts- u n d Finanzw elt m it. D as T eam verfügte über eine
außergew öhnlich gute fachliche Q ualifikation, einen starken inneren Z u ­
sam m enhalt u n d ein ungew öhnlich hohes M aß an gem einsam en V orstel­
lungen u n d K o n zep ten . D e r M inister k o n n te daher einen soliden Ver-
w altungskem aufbauen, was eine qualitative W ende gegenüber früheren
A rbeitsgruppen bedeutete, die für die E ntscheidungen ü b er u n d die Im p ­
lem entierung v o n R efo rm en verantw ortlich gew esen w aren.

19 D ie Z usam m enlegung w ar das E rgebnis einer G esetzesvorlage (294-PE-90, dem


K ongress vorgelegt am 6. F ebruar 1991), welche das M inisterialgesetz m odifizierte.
D a die V erfassung v o n 1853 eine Z ahl von acht M inisterien vorschrieb, verfügte m an
parallel zur F usion der beiden M inisterien die A ufspaltung des M inisterium s für E r ­
ziehung und Justiz in zwei eigenständige Behörden.
20 Rapanelli war ebenfalls M itarbeiter des m ultinationalen K onzerns Bunge & Born. E r
ersetzte M inister Miguel R oig als W irtschaftsm inister, nachdem dieser n u r eine W o­
che nach seiner Eirnennung verstorben war.
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 79

Sow ohl die m it d er W irtschaftspolitik betrauten T ech n o k raten als


auch d er P räsident u n d seine engeren politischen V erbündeten b em ü h ­
ten sich darum , die M acht zu zentralisieren u n d die politischen R eform
a u f autokratische A rt u n d W eise d u rchzusetzen.21 E rstere w ollten au f
diese W eise den W iderstand v o n staatlichen B ehörden u n d In teressen­
gru p p en überw inden, die v o m staatlichen Interventionism us bislang p ro ­
fitiert h atten u n d daher strukturellen R eform en ablehnend gegenüber
standen. D e r P räsident u n d seine V erb ü n d eten w aren dagegen an einem
raschen E rfolg der R eform en interessiert, um das eigene politisches Ü b er­
leb en zu gew ährleisten. G em ein sam w ar b eiden ein unilateraler A n ­
satz im H inblick a u f E ntsch eid u n g en , was sich a u f ihr V erhältnis zu den
anderen R egierungsinstitutionen auswirkte. So w urde die T en d en z Carlos
M enem s, N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekrete zu erlassen, häutig vo n
M inister Cavallo geteilt, der einm al öffentlich zugab, dass diese M aß­
nah m en für die Im plem entierung d er W irtschaftsreform entscheidend
gew esen seien.22 N ich tsd esto tro tz funktionierte diese m ächtige Regie­
rungsm aschinerie n ich t im m er ohne Schwierigkeiten. D e r P räsident u n d
sein W irtschaftsm inister k o n n ten leicht zu P artnern, aber ebenso leicht
auch zu Rivalen w erden. E s gab d ah er durchaus K onflikte zw ischen dem
P räsidenten u n d seinem M inister, wie auch R ivalitäten um die G u n st des
P räsidenten. D ie Z u n ah m e dieser A useinandersetzungen im L au f der
Z eit reduzierte schließlich die K apazitäten des R egierungsoberhauptes
zu r Im plem entierung seiner Politiken. Im A ugust 1996 tra t Cavallo a u f
D ru c k M enem s hin v o n seinem M inisteram t zurück.

Schlussfolgerungen

D ie E in fü h ru n g der S trukturreform en in A rgentinien v o r dem H in te r­


gru n d einer hyperinflationären K risensituation begünstigte eine starke
K o n zen tratio n d er politischen M acht u n d trug dazu bei, dass institutio­
nelle H indernisse für die w irtschaftspolitischen E ntscheidungsprozesse
aus dem W eg g eräum t w erden konnten. D e r argentinische Fall entw i­
ckelte sich som it zu einem w eiteren Beispiel dafür, wie krisenhafte Z u­
sam m enhänge sich durch eine Z entralisierung v o n E ntscheidungen in ­

21 W eyland (1996: 16-17) h at hervorgehoben, dass diese Ä hnlichkeit der politischen


Strategien eine der „unerw arteten A ffinitäten“ zw ischen N eopopulism us und N e o ­
liberalism us gew esen sei.
22 „[...] ohne die N otstands- und D ringlichkeitsdekrete w ären nicht m ehr als zwanzig
Prozent der W irtschaftsreform um gesetzt w orden“ , äußerte M inister Cavallo gegen­
ü ber L a Nación, so zitiert bei Palerm o (1995: 98) und bei Ferreira R ubio (1996: 446).
80 M ariana L lanos

nerhalb d er E xekutive positiv a u f die Regierbarkeit ausw irken können.


T ro tz d e m äußerten viele A u to ren die A nsicht, dass die K rise in W irk­
lichkeit den B oden für das W iederaufleben v o n politischen H an d lu n g s­
w eisen bereitet habe, die in der G eschichte des Landes fest verw urzelt
sind. Ih re E insch ätzu n g im H inblick a u f die Z u k u n ft des dem okratischen
Regim es ist infolgedessen d urch Pessim ism us geprägt. D iese Sichtweise
w urde n o c h d adurch bestärkt, dass der autokratische R egierungsstil o f­
fenbar auch nach d em E n d e d er K rise aufrecht erhalten w urde. D er
großzügige G eb rau ch unilateraler R essourcen zur Im plem entierung eines
ehrgeizigen R eform program m s w ar ein Indikator dafür, dass es sich um
ein Regim e handelte, dem es an R eflexionsinstanzen u n d an einem Stre­
b en n ach K om p ro m issen , wie es für dem okratische politische Prozesse
charakteristisch ist, m angelte. Im R ahm en dieses Systems erwies sich der
dezisionistische Stil d er R egierung als w irkungsvoll, u m die D u rc h se t­
zung v o n E ntscheidungen zu erreichen, aber er offenbarte gleichzeitig
die Schw äche u n d die m angelnde Beteiligung des Parlam ents an den
E ntscheidungsprozessen.
V o r dem H in terg ru n d der oben ausgeführten A rgum ente w ird deu t­
lich, dass eine solche In terp retatio n d er Funktionsw eise der politischen
Institu tio n en u n te r d er Regierung M enem s die R ealität n u r teilweise wi­
derspiegelt. D as wuchtigste P ro b lem besteht zum einen in dem A n­
spruch, die F unktionsw eise der Institu tio n en in einer K risensituation als
dauerhafte M erkm ale des politischen Regimes zu betrachten. So nim m t
m an an, dass die politische Z usam m enarbeit in einem M om ent der K rise
ein Z eichen für die N achgiebigkeit u n d U n tero rd n u n g der im K ongress
rep räsentierten politischen K räfte sei. Z u m anderen berücksichtigen die
entsp rech en d en Interp retatio n en n u r einen Teil der politischen Realität.
Sie beziehen sich v o r allem a u f den E insatz unilateraler R essourcen sei­
tens des P räsidenten u n d gehen davon aus, dass politische V erhand-
lungs- u n d K onzertierungsprozesse dadurch vollständig verdrängt w or­
den seien.
D ie vorliegende A rb eit h a t aufgezeigt, dass dies einer vereinfachen­
den u n d unvollständigen Sichtw eise des V erhältnisses zw ischen den In­
stitutionen in den 90er Jah ren entspricht. E ine differenziertere Analyse
d a rf d en F ak to r Z eit n ich t unberücksichtigt lassen, d.h. die Tatsache,
dass das V erhalten d er politischen A kteure im Laufe einer A m tszeit des
Präsidenten aufgrund v erschiedener U m stände variieren kann. H ier wair-
de v o r allem a u f den K o n te x t hingew iesen w orden, in dem diese A kteure
agieren m üssen. O b w o h l die K o o p eratio n zw ischen den P arteien un d
der E xekutive in K risenzeiten fast einm ütig w ar, kam en doch m it der
Ü b e r G e se tz e u n d D e k re te 81

m o n etären Stabilität w ieder K onfliktsituationen auf, u n d m it diesen


ebenfalls d er E insatz institutioneller M echanism en, um diese K onflikte
zu lösen. D ie vorliegenden D aten w eisen d a ra u f hin, dass die E xekutive
zur F o rtfü h ru n g des R eform program m s sow ohl autokratische als auch
stärker konsensorientierte R essourcen einsetzte. E s w urde zw eitens auf­
gezeigt, dass das V erhältnis zw ischen dem P räsidenten u n d seiner eige­
n en P artei (das —w ie w ir gesehen hab en —v o n zentraler B edeutung für
das V erhältnis zw ischen E xekutive u n d Legislative w ar) verschiedene
Phasen durchm achte. D ie unu m stritten e F ührungsrolle des Präsidenten
innerhalb seiner eigenen Partei verlieh ihm große H andlungsfreiheit, was
ih m bei der D u rch setzu n g des R eform program m s zugute kam. D en n o ch
o rd n ete sich die Partei nach Ü berw indung d er K rise nicht u n ter u n d ihre
K o o p eratio n hinsichtlich der B eibehaltung des neuen w irtschaftspoliti­
schen K urses verlangte v o m Präsidenten die B ereitschaft, sich a u f eine
neue V erhandlungsinstanz einzulassen. D a rü b e r sah sich der Präsident
nach seiner W iederw ahl zu n eh m en d v o n anderen führenden P arteim it­
gliedern m it Präsidentschaftsam bitionen herausgefordert, w odurch sich
die D ialektik zw ischen O p p o sitio n u n d O ffizialism us innerhalb der Re­
gierungspartei ern eu t verschärfte (T orre 1996).
E s liegt n ich t in der A bsicht dieser A rbeit, durch das H ervorheben
der E xistenz v o n K onflikten, V erhandlungsprozessen u n d der Suche
nach K o n sen s das dezisionistische u n d willkürliche V erhalten der E x ek u ­
tive in A bred e zu stellen. U m diese T en d en zen besser v erstehen zu kön­
nen w ar es wichtig, die interne Stru k tu r der E xekutive genauer zu analy­
sieren (wo deutlich w ird, w elche politischen H andlungsw eisen ihre M it­
glieder bevorzugen). D e r unilaterale H andlungsstil der R egierung M enem
u n d ih r R ückgriff a u f beliebige R essourcen ist u n b estreitbar u n d verw erf­
lich, sind d o ch den In stitu tio n en zahlreiche Schäden zugefügt w orden,
speziell im Bereich der Judikative. N ich tsd esto tro tz w ar das politische
L eben in den Jah ren u n ter M enem intensiv. D ie M acht der E xekutive
w ar n ich t absolut, sond ern stieß durchaus a u f G renzen, w elche ihren in­
stitutionellen A usdruck im K ongress fanden. E ine nuanciertere Sicht die­
ser Jah re erscheint uns daher zufriedenstellender. Sie lässt uns u n ter an­
derem verstehen, w arum der politische N iedergang M enem s nach seiner
W iederw ahl seinen L a u f n ah m (dies zeigte sich im Scheitern seiner V er­
suche, eine erneute W iederw ahl zu erreichen), u n d w arum es m öglich
w ar, dass nach zehn Jah ren M enem ism us erneut ein M achtw echsel zwi­
schen den politischen Parteien stattfand.
82 M ariana L lanos

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Katja Hujo

Die W irtschaftspolitik der Regierung Menem:


Stabilisierung und Strukturreformen im Kontext des
Konvertibilitätsplans

E inleitung

D ie Frage, w arum A rgentinien — reich ausgestattet m it natürlichen R es­


sourcen u n d qualifizierten A rbeitskräften — noch bis in die N achkriegs­
zeit m it den am w eitesten fortgeschrittenen Industrieländern konkurrie­
ren k o n n te u n d d en n o ch das Stadium eines Schw ellenlandes bis heute
nicht zu überw inden verm ag, beschäftigt die Ö k o n o m en seit langer Zeit.
O rth o d o x e W irtschaftsw issenschafder fü h rten die h o h en Inflationsraten
u n d regelm äßigen Z ahlungsbilanzkrisen, die das L and zw ischen den 50er
u n d 80er Ja h re n kennzeichneten, a u f Protektionism us, überzogene
Staatsintervention u n d undisziplinierte B udgetpolitik sowie a u f die D o ­
m inanz ren ten o rien tierter E liten zurück. A uch das regelm äßige A lternie­
ren zw ischen expansiven R eaktivierungsversuchen u n d restriktiven Stabi­
lisierungsprogram m en w urde als Politikversagen interpretiert, w obei sich
diese w irtschaftliche Stop-and-Go-VoYiük auch in politischer H insicht in
einem ständigen W echsel zw ischen Zivil- u n d M ilitärregierungen w ider­
spiegelte. M annigfaltige ö konom ische T heo rien w urden in A rgentinien
angew endet u n d führten das L an d n u r tiefer in die Krise: D e r V ersuch
d er M ilitärregierungen zw ischen 1976-83, die argentinische W irtschaft
ü b er ein orthodox-m onetaristisches Stabilisierungsprogram m zu sanieren
u n d eine forcierte W eltm arktintegration zu erreichen, endete m it der
Schuldenkrise 1982 in politischem u n d ö k o nom ischen Chaos. D as hete-
rodoxe W irtschaftsprogram m der folgenden Zivilregierung u n ter A l­
fonsin m ü n d ete in einer H yperinflation, die den H ö h e p u n k t d er geschei­
terten R eform en des „verlorenen Jahrzehnts“ m arkierte.
U n te r P räsident M enem scheint sich eine grundlegende W ende in der
W irtschaftspolitik vollzogen zu haben: N achdem in der A nfangszeit
n o c h eine Politik des K risenm anagem ents v orherrschte, w urde m it der
E in fü h ru n g des K onvertibilitätsplans im A pril 1991 das argentinische
86 K atja H u jo

„W irtschaftsw under“ begründet, welches dem L and bis E n d e 1994 eine


beispiellose Stabilität m it h o h en W achstum sraten bescherte.
Im R ahm en des nach dem dam aligen W irtschaftsm inister benannten
Plan Cavallo w urde ein fixer W echselkurs m it einer 1:1 P arität zum US-
D o llar eingeführt u n d die M öglichkeit einer aktiven G eldpolitik, die nach
A uffassung neoliberaler Ö k o n o m en vielfach für exzessive D efizitfinan­
zierung des Staates m issbraucht w o rd en war, eliminiert. E rg än zt w urde
das neue m onetäre Regim e durch radikale m arktorientierte R eform en,
die eine strikte H aushaltsdisziplin, Privatisierungen der m eisten Staatsbe­
triebe, eine D eregulierung u n d Liberalisierung der W irtschaft sowie eine
N e u o rd n u n g d er internen u n d externen Staatsverschuldung im plizierten.
D ie v o n internationalen Finanzorganisationen u n d Ö k o n o m en als
vorbildlich bezeichnete R eform politik, die w eitgehend den Leitlinien des
sogenannten Washington Consensus (W illiamson 1990) entsprach, ü b er­
raschte um so m ehr, als sie v o n einer peronistischen R egierung im ple­
m en tiert w urde, die in A rgentinien traditionell m it einer populistisch-
etatistischen W irtschaftspolitik in V erbindung gebracht w urde, wie sie
v o r allem für die im portsubstituierende Industrialisierungsphase bis M it­
te d er 70er Jah re charakteristisch war.
D ie erfolgreiche W achstum sphase zw ischen 1991-94 m it einer spek­
takulären Senkung der Inflationsrate w urde durch die Tequila-K rise ab­
ru p t beendet. D en n o ch k o n n te M enem die Präsidentschaftsw ahlen im
K risenjahr 1995 ein zw eites Mal für sich entscheiden. D ie ökonom ische
Bilanz seiner zw eiten A m tsperiode fällt jedoch gem ischt aus: Im Zuge
v o n M exiko-, A sien-, Russland- u n d Brasilienkrise kam es zu einer
schw eren B ankenkrise, historisch h o h en A rbeitslosenzahlen un d einer
w irtschaftlichen Rezession, die —unterb ro ch en vo n einer E rh o lungspha­
se 1996 u n d 1997 —bis zum E n d e seiner A m tszeit anhielt (Tabelle 1).
Z w ar kon n te die T atsache, dass das argentinische W echselkursregim e
die diversen externen Schocks u n d zwei Präsidentschaftsw ahlen überleb­
te, als Indiz dafür gew ertet w erden, dass nach B estehen der H ärtetests
eine langfristige w irtschaftliche K onsolidierung stattgefunden habe. D ie
R egierung D e la Rúa hätte en tsp rech en d an die anfängliche R eform dy­
nam ik der Regierung M enem anknü p fen u n d das ehrgeizige M odernisie­
rungsprojekt m it einer zw eiten G eneration v o n R eform en im sozialen
un d w ettbew erbspolitischen Bereich abschließen k ö nnen (P astor/W ise
1999: 493-94). D ie folgende Analyse der W irtschaftspolitik u n te r P räsi­
d en t M enem legt eine w eniger optim istischen E inschätzung nahe, die
sich v o r allem a u f die T h ese stützt, dass das gew ählte K onvertibilitäts-
schem a zw ar einer kurz- u n d m ittelfristigen Stabilisierung dienlich war,
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n e m 87

langfristig jedoch als E ntw icklungsblockade fungierte u n d den „D ritte-


W elt-Status“ A rgentiniens zem entierte. Z u n äch st w erden das K risenm a­
nagem ent u n d die ersten S trukturreform en v o r E in fü h ru n g des K o n v er­
tibilitätsplans dargestellt, daran anschließend folgt die Analyse des Plan
Cavallo u n d die W achstum sphase v o n 1991-1994. Im dritten Teil des Bei­
trags w erd en die A usw irkungen d er Tequila-K rise analysiert, ein w eiterer
A b sch n itt befasst sich m it der P ost-T equila-Periode u n d den Folgen der
internationalen Finanzkrisen zw ischen 1997 u n d 1999, w ährend das ab­
schließende K apitel einen A usblick a u f potenzielle H andlungsm ög­
lichkeiten u n d Z u k unftsperspektiven A rgentiniens gibt.

H yperinflation und K risenm anagem ent

Bei seiner vorzeitigen A m tsü b ern ah m e im Juli 1989 sah M enem sich m it
einer katastrophalen w irtschaftlichen Situation konfrontiert: D ie A u s­
landsschuld w ar a u f ca. 60 M rd. US$ angestiegen, die interne V erschul­
du n g erreichte 6 M rd. US$ u n d die Preissteigerungsraten lagen M itte des
Jah res bei fast 200% m onatlich, so dass die W ährung A ustral im Z uge
der H yperinflation praktisch säm tliche G eldfunktionen an den U S-D ollar
verloren hatte. Z u d em befand sich die W irtschaft m it einem R ückgang
des S ozialprodukts, d er Reallöhne u n d d er B eschäftigung in einer R ezes­
sion. D ie R eallöhne w aren seit 1983 u m 30-60% gesunken u n d die A r­
beitslosigkeit a u f 17% angestiegen. Soziale U n ru h en (Plünderungsw ellen)
führten E n d e Mai 1989 zur V erhängung eines 30-tägigen A u sn ah m ezu ­
stands (B odem er 1991: 243).
M enem s W ah lk am p f schien dem traditionellen Politikschem a der pe­
ronisrischen Partei zu entsprechen: N e b e n vagen A nkündigungen bezüg­
lich einer n euen E p o c h e eines d er sozialen G erechtigkeit verpflichteten
m o d ern en P ero n ism u s sowie einer „produktiven R evolution“ u n ter E in ­
schluss aller gesellschaftlichen K räfte versprach der P räsidentschaftskan­
didat eine B eendigung der H yperinflation, L o hnerhöhungen („salariado“)
bei gleichzeitigen Steuersenkungen sowie eine harte H altung gegenüber
den externen G läubigern (B odem er 1991: 244; E rro 1993: 195ff.).
Als M enem jedoch sein neues K ab in ett vorstellte, w urde rasch d e u t­
lich, dass v o n den populistisch-etatistischen Prinzipien des Peronism us
w enig übrig geblieben war. M enem beteiligte alle w ichtigen M achtgrup­
pen (G roßindustrie, G ew erkschaften u n d K irche) an seiner Regierung
u n d überraschte m it der E rn e n n u n g des V izepräsidenten eines großen
m ultinationalen K o n zern s —Bunge & B orn —zum W irtschaftsm inister.
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D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n e m 89

D ie W irtschaftspolitik M enem s n ah m in der Folgezeit einen neoliberalen


K urs: E ntstaatlichung, Rationalisierung, Stärkung der K o n k u rren zfäh ig ­
keit d er heim ischen Industrie, Privatisierung v o n S taatsuntem ehm en un d
Ö ffn u n g zu m W eltm arkt erw iesen sich als ökonom ische Leitlinien der
Regierung. D iese ersten M aßnahm en signalisierten zw ar eine Ä nderung
d er „Spielregeln“ in der argentinischen W irtschaft, ko n n ten jedoch no ch
keine Stabilisierung erzielen. E rst m it dem K onvertibilitätsplan w urde ein
m onetäres Regim e im plem entiert, das zu einer drastischen Senkung der
Inflation führte und die D u rch fü h ru n g der o rth o d o x en R eform en v o ran ­
trieb.

V om Plan BB zum Plan B onex

D ie Ö k o n o m en des Bunge & B orn -K o n zern s im plem entierten als erste


S tabilisierungsm aßnahm en eine M axiabw ertung un d V ereinheitlichung
des W echselkurses, eine E rh ö h u n g der öffentlichen Preise, einen P reis­
sto p p für K on su m en ten p reise in V erbindung m it Preisabsprachen m it
fü hrenden U n tern eh m en , ein staatliches S parprogram m sowie einen
einm aligen L o h n zu sch u ss (Sm ith 1991: 53; Stiefl 1993: 191). D ie V er­
w irklichung d er langfristigen Ziele - Sanierung des Staatshaushaltes, D e­
regulierung der M ärkte, Privatisierung v o n S taatsuntem ehm en, E rh ö ­
h u n g d er W ettbew erbsfähigkeit - sollte m it H ilfe eines R eform paketes
erreicht w erden, w elches drei G esetze um fasste, die zw ischen A ugust
u n d O k to b e r v erabschiedet w u rd en (B odem er 1991: 247-249):

• Ö konom isches N otstan d sgesetz (Ley de Emergencia Económica):


D as G esetz enthielt zum einen außenw irtschaftliche M aßnahm en,
d aru n ter die A u fh eb u n g d er G enehm igungspflicht für ausländische
Investitionen, Steuerrückerstattungen, die zu r B egleichung v o n H an-
delssteuem verw en d et w erd en k ö n n en u n d die A n h eb u n g einer Z u­
satzsteuer (Tasa Estadística) u m 3%. D ie fiskalischen M aßnahm en
u m fassten eine zeitlich begrenzte E instellung säm tlicher S ubventio­
nen, die K ü rz u n g v o n S teuervergünstigungen für Industrie un d
Bergbau, einen E instellungsstopp im öffentlichen D ien st u n d den
V erk au f staatlicher Im m obilien.
• G esetz zur Staatsreform (Ley de Keforma del Estado): D ie S trukturre­
form sollte v.a. das P ro b lem d er stark defizitären öffentlichen U n ter­
n eh m en angehen sowie die staatliche V erw altung straffen. Im R ah­
m en des G esetzes w urden der Regierung w eitreichende K o m peten-
90 K atja H u jo

zen zu r U m stru k tu rieru n g u n d Privatisierung v o n S taatsuntem ehm en


zugew iesen.
• G esetz zur Steuerreform: Ziel dieses G esetzes w ar die E rh ö h u n g
der Steuerquote v o n 16% a u f 24% des B IP ü b er eine A n h eb u n g und
V erallgem einerung d er M ehrw ertsteuer (15%) u n d der E in k o m ­
m en ssteu er - die G ew innsteuern w urden allerdings anfangs v o n 33%
a u f 20% gesenkt - sowie einer V ereinfachung des Steuersystem s u n d
einer V erbesserung d er K ontrollen.

D ie drastischen M aßnahm en der neuen R egierung stießen a u f Sym pathie


beim Intern atio n alen W ährungsfonds (IW F), W eltbank u n d der US-
am erikanischen R egierung u n te r B ush, so dass es bereits im H e rb st zu
einem A b k o m m en ü b er einen Stand-By-Yjetàri. m it dem IW F kam (Stiefl
1993: 195). N a c h d e m die Inflation im Z uge d er S chocktherapie bis O k ­
to b e r 1989 a u f 6% zurückging, die N o m inalzinsen a u f u n te r 10% m o n a t­
lich sanken, die Z entralbankreserven stiegen u n d die E innahm esituation
des Staates eine signifikante V erbesserung erfuhr, zeigten sich im N o ­
vem b er erste Z eichen einer V erschlechterung der ökonom ischen Lage:
P reiserhöhungen im öffentlichen Sektor, D evisenzuflüsse durch steigen­
de E x p o rte m it anschließender M onetisierung (d.h. U m tausch in heim i­
sche W ä h ru n g u n d E in sch leu su n g in den G eldkreislauf) fü h rten zu
einem A nstieg d er Inflationsraten u n d des D ollarkurses au f dem Parallel­
m ark t (B odem er 1991: 249; Sm ith 1991: 56-57).
D ie sich verschärfende K rise führte im D ezem ber zu einem W echsel
im W irtschaftsm inisterium . A n to n io E rm an G onzález übern ah m das
A m t des W irtschaftsm inisters u n d verschärfte den neoliberalen K urs sei­
nes V orgängers. Im Ja n u a r 1990 g riff G onzález zu einer drastischen
M aßnahm e, w elche de facto einer K o nfiszierung liquider A ktiva gleich­
kam: M it dem Plan Bonex w u rd e die gesam te verzinsliche interne Staats­
schuld in a u f D o llar lautende B onds (Bonos Exteriores Serie ‘89) m it zehn­
jähriger L aufzeit u m gew andelt (D e P ablo 1994: 39; E rro 1993: 207-208).
Im E rgebnis fand eine starke K o n trak tio n der L iquidität statt u n d die
N achfrage nach A ustrales stieg beträchtlich an, da V erm ögenseigentüm er
D o llar an die Z en tralb an k verkaufen m ussten, um nationale W ährung für
notw endige T ransaktionen zu erhalten. D ie Regierung erreichte m it dem
Plan Bonex zw ar eine Streckung ih rer intern en V erbindlichkeiten u n d eine
kurzfristige H ärtu n g d er W äh ru n g ü b er die extrem e L iquiditätsabschöp­
fung, langfristig w u rd e jedoch einer w eiteren D ollarisierung der Ö k o n o ­
mie V o rsch u b geleistet (N icolas/S ym m a 1992: 133).
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en e m 91

W ährend in den ersten drei M onaten 1990 die Preissteigerungsraten


au f h o h em N iveau verharrten, k o n n te die Inflationsrate ab A pril bis E n ­
de des Jahres a u f einem m onatlichen N iveau v o n 11% gehalten w erden.
G onzález im plem entierte im L aufe des Jah res 1990 w eitere W irtschafts­
pläne, m ittels derer die Steuereintreibung verbessert w erden sollte, die
A ußenhandelsliberalisierung durch eine Senkung der Im portzölle u n d
dem A b b au v o n S chutzm aßnahm en für die heim ische Industrie vertieft
w u rd e sowie die Privatisierung v o n Staatsbetrieben (Telefongesellschaft
E N T E L , ^Aerolíneas Argentinas) vorangetrieben wurde.
D iese W irtschaftspolitik füh rte zu einer starken Rezession: D ie Ü ber­
bew ertung des A ustral in V erb in d u n g m it Z ollreduktionen für Im p o rte
verstärkte den W ettbew erbsdruck a u f heim ische U n ternehm en, die z u ­
n e h m en d m it billigen Im p o rtp ro d u k te n konkurrieren m ussten. D e r ü b er­
bew ertete W echselkurs erleichterte zw ar durch die Im p o rtkonkurrenz die
Inflationsstabilisierung ab A pril 1990, der zu nehm ende A bw ertungs­
druck führte jedoch zu F luchtbew egungen aus dem Austral. M assenent­
lassungen im öffen tlich en S ek to r aufg ru n d v o n P rivatisierungen u n d
Rationalisierungen erhöhten die A rbeitslosenquote, zudem sanken die Real­
lö h n e — im S taatssektor u m ca. 40% ; das B IP ging 1990 leicht zurück
u n d die M an u fakturgüterproduktion sank im V ergleich zum V orjahr. P o ­
sitiv w ar ein h o h e r H an d elsb ilan zü b ersch u ss v o n 8,2 M rd. US$, der
jedoch in erster Linie a u f den Z usam m enbruch der internen N achfrage zu­
rü ck zu fü h ren w ar (Sm ith 1991: 61-62). Als deutlich w urde, dass der ö k o ­
n om ische A usteritätskurs n ich t zu einer w irtschaftlichen Reaktivierung
führte u n d zudem m it einem h o h en B udgetdefizit gerechnet w urde, kam
es im D ezem b er 1990 u n d Jan u ar 1991 d urch eine F lucht in den D ollar
zu einem rapiden K ursverfall des A ustral v o n fast 70% . G onzález erklär­
te seinen R ücktritt, u n d D o m in g o Cavallo w urde zum vierten W irt­
schaftsm inister d er M enem -R egierung ernannt.

Stabilisierung und Strukturreformen in der B oom phase

A m 1.4.1991 tra t d er Stabilisierungsplan des H arv ard -Ö k o n o m en un d


W irtschaftsm inisters Cavallo in K raft, der als zentrale M aßnahm e die
volle K onvertierbarkeit der L andesw ährung A ustral in US$ zu einem fi­
xen W echselkurs gesetzlich garantierte. D e r neue W echselkurs w urde au f
10.000 A ustrales —ab 1992 1 Peso p ro US$ — festgelegt, w obei sich die
Z entralb an k verpflichtete, eine 100% ige D eckung der G eldbasis (Bar­
geldum lauf, K assenbestände der G eschäftsbanken, E inlagen der G e ­
schäftsbanken bei d er Z entralbank) durch D evisen, G o ld u n d zu einem
92 K atja H u jo

geringen Teil durch staatliche W ertpapiere zu garantieren. D a eine voll­


ständige R eservedeckung der G eldm enge eine aktive G eldpolitik (d.h.
G eld sch ö p fu n g ü b er kurzfristige K reditvergabe an den G esch äftsb an ­
kensektor) unm öglich m ach t u n d die G eldm enge allein d u rch die v o r­
h andene D evisenm enge, also ü b er den Z ahlungsbilanzsaldo, bestim m t
w ird, elim iniert sie nach o rth o d o x er A uffassung das Risiko einer exzessi­
ven D efizitfinanzierung ü b er die N o ten p resse o d er einer politischen
M anipulationen des W echselkurses. D ie argentinischen Politiker e rh o ff­
ten sich v o n der E in fü h ru n g des so genannten Currency Board (W ährungs­
amt) als rigidester F o rm eines Fixkurssystem s eine erh ö h te N achfrage
nach heim ischer W ährung, eine rasche Senkung v o n Inflations- un d
Z insraten au f U S-am erikanisches N iveau sowie eine E rh ö h u n g der
G laubw ürdigkeit der W irtschaftspolitik gegenüber internationalen K api-
talgebem : N eb en der W echselkursgarantie im plizierte das System auch
einen autom atischen A usgleich der Z ahlungsbilanz. Ü ber die A n b in d u n g
der heim ischen W ährung an den U S-D ollar im V erhältnis 1:1 bei voll­
ständiger D eck u ng d er G eldbasis sollten die W irtschaftsakteure v o n der
G leichw ertigkeit d er beiden W ährungen ü berzeugt w erden un d eine
kom plette D ollarisierung v o n T ransaktionen, die sich im K o n te x t der
H yperinflation ankündigte, verm ieden w erden (Canavese 1991: 256).
D ie selbst v ero rd n ete geldpolitische „Z w angsjacke“ in F o rm eines
Currency Board m it ihren D isziplinierungseffekten au f H aushalts- un d
Strukturreform en — das Regim e erfo rd ert einen ausgeglichenen Staats­
haushalt sowie freien K apital- u n d G ü terv erk ehr — erschien dem W irt-
schaftsteam u n te r Cavallo als ultim ative D e m o n stratio n ihres R eform w il­
lens. Im G egensatz zu einem L e h rb u c h -Currency Board behielt sich die
argentinische Z entralb an k jedoch eine gewisse Flexibilität vor: In die R e­
servedeckung der G eldm enge sind bis zu einem D rittel a u f US$ n o m i­
nierte S taatsbonds bew ertet zu M arktpreisen eingeschlossen. D ie Z e n t­
ralbank kann im R ahm en ih rer Ü berschussreserven O ffenm arkt- un d
D iskontpolitik betreiben u n d das In stru m e n t der M indestreserve steht
zur V erfügung. U m die S ubstituierbarkeit zw ischen heim ischer W ährung
u n d U S-D ollar zu unterstreichen, w u rd en p er G esetzesänderung D o llar­
verträge bzw. K redite u n d D epositeneinlagen in F rem dw ährung legali­
siert, de facto also d er U S-D ollar als zw eites Z ahlungsm ittel (Legal Tender)
neben dem Peso eingeführt. D ie in der V ergangenheit übliche Indexie­
rung v o n V erträgen w urde verb o ten , u m die F u n k tio n des W echselkur­
ses als nom inalen A nker d er Preisbildung zu festigen.
W ie schon beim Plan A-Ustral v o n 1985 w urde auch m it dem K o n v er­
tibilitätsgesetz eine W ährungsum stellung a u f Basis eines psychologischen
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en e m 93

Kalküls an Stelle einer W äh ru n g srefo rm vorgenom m en, bei der A nfang


1992 ü b er eine N u llenstreichung die neue W ährung Peso (1 Peso =
10.000 A ustrales) m it einer 1:1-Parität zum D ollar eingeführt w urde. D ie
C hance einer E n tw ertu n g der B estände gegenüber den E in k o m m en s­
ström en u n d dam it eines V erm ögensschnitts, der sow ohl den staatlichen
als auch den privaten Sektor ü b er eine E n tw ertu n g v o n S chuldenbestän­
d en entlasten könnte, w urde erneut vertan u n d stattdessen die U m schul­
dung ü b er den Blan Bonex vorgezogen (N icolas/Sym m a 1992: 135).
N eb en einer V ertiefung d er D eregulierung der M ärkte sowie der
Ö ffn u n g d er Ö k o n o m ie w ar die w eitere Sanierung der Staats finanzen das
w ichtigste Ziel im R ahm en des K onvertibilitätsplans: Sie sollte — nach
einem V erb o t der D efizitfinanzierung durch die Z entralbank — m ithilfe
einer F o rtsetzu n g der restriktiven A usgabenpolitik, der Steuer- un d
S taatsreform en u n d einer F o rtfü h ru n g der Privatisierungen erreicht w er­
den. D e r E rfo lg des Program m s sollte w eiterhin durch Senkungen von
Preisen u n d L ö h n en ü b er V erhandlungen m it dem P rivatsektor un d
durch V erhandlungen m it den externen G läubigem u n d som it einer Re­
finanzierung alter V erbindlichkeiten sowie dem Zufluss externer K redite
abgesichert w erden (N icolas/S ym m a 1992: 134).

D eregulierungspolitik und Staatsreform

D ie U m stru k tu rieru n g des öffentlichen Sektors u n d die D eregulierungs­


politik w urden im H inblick a u f folgende Ziele vorgenom m en: E rstens
erforderte der K onvertibilitätsplan eine Preis flexibilisierung nach unten,
die n u r ü b er einen erh ö h ten W ettbew erbsdruck au f internen M ärkten
bzw. gegenüber ausländischen P ro d u k ten erfolgen w ürde. Z w eitens soll­
te ein Inflationsdruck aufgrund v o n F in anzproblem en im öffentlichen
Sektor verm ieden w erden, u n d drittens k o n n ten ü b e r die D eregulierung
sow ohl E insparungen durch die A ufgabe v o n staatlichen Tätigkeiten u n d
S ubventionen als auch E in n ah m en erzielt w erden, wie z.B. durch die
V erkaufserlöse d er Privatisierungen.
D ie ersten M aßnahm en d er Regierung M enem bestanden in dem
ö k o nom ischen N otstandsgesetz u n d dem G esetz zu r Staatsreform 1989
sowie einer u m fassenden V erw altungsreform , die ab 1990 in erster Linie
ü b er Präsidialdekrete durchgesetzt w urde (R o jo /C an o sa 1992: 31).
D u rch die verschiedenen M aßnahm en w urden zw ischen 1991 u n d 1992
103.000 A rbeitsstellen in der öffentlichen V erw altung abgebaut (W elt­
b ank 1993: 14); zu d em w urde m it dem Ziel einer stärkeren D ezentralisie­
rung — u n d natürlich auch der E n tlastu n g des Z entralstaates — die Ver-
94 K atja H u jo

antw ortlichkeit für das Bildungs- u n d G esundheitsw esen an die P ro v in ­


zen transferiert, was zu einem w eiteren Stellentransfer führte.1
N ach d em im V erlaufe des K onvertibilitätsprogram m s aufgrund der
R estinflation der D ru c k a u f den nom inalen W echselkurs zunahm , b e­
schloss die Regierung, die D eregulierung zu vertiefen, u m die P reisent­
w icklung u n d den realen W echselkurs, den sogenannten costo argentino zu
beeinflussen. P e r D ek ret w u rd en im N o v em b er 1991 au f den internen
M ärkten für G ü te r u n d D ienstleistungen säm tliche B eschränkungen wie
A ngebots-, Z utritts- u n d Preisregulierungen sowie alle R estriktionen für
ausländische D irektinvestitionen u n d K apitalrückführungen aufgehoben.
W ährend d urch die M assenentlassungen in der öffentlichen V erw al­
tung, die A uflösung einer V ielzahl v o n R egelungsinstitutionen u n d die
A bschaffung v o n sektoralen In d ustrieförderungsprogram m en beträchtli­
che E insparungen erzielt w erden ko n n ten , gingen die zentralen Fiskalef­
fekte d er D eregulierung au f die Privatisierungspolitik zurück.

D ie Privatisierungspolitik

D as Privatisierungsprogram m der R egierung M enem gilt als ein K ern ­


pu n k t ih rer W irtschaftsstrategie (Birle 1991: 11) u n d überraschte in- u n d
ausländische A kteure sow ohl durch den U m fang der E ntstaatlichung als
auch d urch das T em p o , m it dem der Prozess abgew ickelt w urde. Dies
w ar u m so erstaunlicher, zieht m an die W iderstände der P eronisten gegen
die zaghaften Privatisierungsvorhaben der A lfonsin-R egierung in B e­
tracht (A zp iazu /V isp o 1994: 130). M it dem G esetz zu r Staatsreform
w urde bereits kurz nach M enem s A m tsü b ern ahm e der G ru ndstein für
das ehrgeizige P ro jek t gelegt. F ast säm tliche staatliche U n ternehm en im
P roduktions- u n d D ienstleistungsbereich w u rd en zu r Privatisierung frei-
gegeben, u n d d er R egierung w u rd en für die U m setzung um fassende In­
terventions- u n d E n tscheidungskapazitäten zugewiesen.
W äh ren d in d er ersten P hase d er Privatisierungspolitik bis zu r E in ­
führu n g des K onvertibilitätsplans ein schneller T ransfer der U n tern eh ­
m en o h n e einen transparenten regulatorischen R ahm en sowie die K api­
talisierung v o n Schuldtiteln im V o rd erg ru n d standen, w urde das P ro ze ­

1 D ie W eltbank spricht v o n 284.000 L ehrern u n d A ngestellten im G esundheitsdienst,


die an die Provinzen transferiert w urden sowie 103.000 E ndassungen. N ach Ro-
jo /C a n o sa (1992: 30) befanden sich 1989 jedoch nur ca. 70.000 L eh rer d er Sekundar­
stufe u n d 25.000 Angestellte im G esundheitsw esen im öffentlichen D ienst; sie schät­
zen die Stellenreduzierung n ach dem A ufgabentransfer insgesam t a u f 120.000 (Welt­
bank 1993: 14).
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n e m 95

dere m it E in fü h ru n g des K onvertibilitätsplans etwas differenzierter u n d


regelgebundener.
A us reform politischen G rü n d e n w ar eine gewisse E ntstaatlichung in
A rgentinien durchaus rational: Ö ffentliche U n ternehm en erw iesen sich
größtenteils als chronisch subventionsabhängig, da sie in K risensituatio­
n en sow ohl einen privaten N achfrageausfall kom pensieren m ussten als
auch ein h o h e r sozialer u n d politischer D ru ck bestand, A rbeitsplätze zu
erhalten u n d die Preise der staatlichen G ü te r u n d D ienstleistungen nied­
rig zu halten. D ie R egierung b eto n te entsp rechend die langfrisdgen Ziele,
die d urch die Privatisierungen erreicht w erden sollten u n d die in einer
N e u o rd n u n g d er B eziehung Staat — Privatsektor, verm ehrten Investiti­
o nsanreizen u n d einer E rh ö h u n g v o n Q ualität u n d Effizienz der G ü te r
u n d D ienstleistungen d er U n tern eh m en bestanden.
E ine genauere B etrach tu n g d er E rgebnisse der Privatisierungspolitik
legt den Schluss nahe, dass diese strukturpolitischen Ziele gegenüber der
kurzfristigen N o tw endigkeit d er B udgetlinanzierung zurücktreten m u ss­
ten. In den letzten n eu n M o n aten v o n 1991 betrugen die Privatisierungs­
einnahm en fast 80% der staatlichen G esam teinnahm en un d stellten so­
m it ein unverzichtbares E lem en t des fiskalischen A usgleichs im R ahm en
des K onvertibilitätsplans dar (A zp iazu /V isp o 1994: 131-132). D ie akku­
m ulierten V eräußerungserlöse v o n 1990-93 betrugen 9,7 M rd. US$ in bar
sowie 13,4 M rd. US$ in Schuldtiteln bei Z ugrundelegung des N o m in al­
w ertes bzw. 5,8 M rd. US$ bei R ech n u n g m it M arktpreisen - insgesam t al­
so ein E rgebnis v o n 23,2 M rd. US$ bzw. 15,5 M rd. US$.
D e r fiskalische E ffe k t d er Privatisierungen w urde durch verschiedene
F ak to ren geschm älert: E rsten s w urden die staatlichen A ktiva v.a. in der
ersten Privatisierungsphase u n te r ihrem g eschätzten Realw ert verkauft,
zw eitens m usste der Staat in Z u k u n ft als K o n su m en t der nu n privatisier­
ten G ü te r u n d D ienstleistungen höh ere Preise u n d T arife zahlen, un d
drittens hatte die R egierung teilweise A ltschulden der zu privatisierenden
U n tern eh m en übern o m m en , den K äufern Steuererleichterungen ge­
w ährt, um die A ttraktivität d er U n tern eh m en zu erhöhen u n d K osten
der Personalrationalisierung (A bfindungszahlungen) übernom m en.
In B ezug a u f die strukturpolitischen Z ielsetzungen w erden v.a. die
u nzureich en d en Investitionszusagen d er neu en B etreiber, geringe M ulti­
plikatorw irkungen u n d die kaum erfolgte E n tm o nopolisierung un d E n t­
flechtung v o n K o n zern stru k tu ren kritisiert (A zpiazu/V ispo 1994: 145-
146).
96 K atja H u jo

T abelle 2: E rgeb n isse des Privatisierungsprogram m s 1990-1994


(in M io. US$)
S e k to r B a r­ S c h u ld tite l S c h u ld e n ­ G e sa m t
e in n a h m e n n o m in a l tra n s fe r
T elefon 2270,9 5000 - 7270,9
Fluglinien 260 1610 - 1870
E isenbahn _ _ _ _

E lektrizität 866,9 3769 1556,4 6192,3


H äfen 9,8 - - 9,8
S eetransport 14,6 - - 14,6
Straßen . .

F e m se h en /R a d io - - -

Öl 2060,2 - - 2060,2
Y.P.F. (Öl) 3040 1271,1 - 4311,1
Gas 820,6 3082,1 1110 5012,8
W asser _ _ _ _

Fleischverarbeitung 1,9 _ _
1,9
Petrochem ie 55,7 133,6 - 189,3
W erftindustrie 59,8 - . 59,8
Stahl 143,3 41,8 - 185,1
S trom versorger 12,4 3,5 - 15,9
militär. U nternehm en 11,3 _ _ 11,3
F inanzsektor 86,3 _ _ 86,3
Staatsim m obilien 202,5 _ - 202,5
Sonstige 3,7 12 15,7
G esam t 9920 14923,1 2666,4 27509,5
Quelle: W irtschaftsm inisterium (M E O SP) 1995: 42.

E ine w eitere P rivatisierung m it beträchtlichen fiskalischen K on seq u en ­


zen fand im B ereich d er Sozialversicherung statt. Im Juli 1994 w urde m it
einem neuen R entengesetz die staatliche A lters Sicherung grundlegend re­
form iert: E in integriertes gem ischtes M odell, das eine staatliche G ru n d ­
ren te m it privaten o d er öffentlichen R entenfonds a u f individueller K api­
taldeckungsbasis kom biniert, w urde als A lternative zu einem staatlichen
System (bestehend aus G ru n d ren te u n d einer Zusatzrente) m it U m lage­
finanzierung angeboten. D ie R egierung erho ffte sich über diese M aß­
nah m e eine langfristige H aushaltsen tlastu n g sowie eine B elebung der
K apitalm ärkte u n d des F inanzsektors (H ujo 1997 u. 1999). K urzfristig
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 97

zeigte sich jedoch durch die Privatisierung eines beträchtlichen Teils der
B eitragszahlungen (Beiträge v o n ca. drei Mio. A rbeitnehm ern gehen an
die privaten F onds) eine zusätzliche B elastung der Staatskassen, da die
staatliche R entenversicherung w eiterhin füir einen G roßteil der R enten­
leistungen aufkom m en m usste. Z u d em hatte die R egierung die A rbeitge­
berbeiträge z u r Sozialversicherung schrittw eise gesenkt, um durch eine
V erringerung d er L o h n n eb en k o sten die W ettbew erbsfähigkeit der U n ­
ternehm en zu erhöhen u n d m e h r B eschäftigung zu erzielen. Insgesam t
w aren die gesunkenen E in n ah m en der Sozialversicherung zu einem be­
träch tlichen Teil für die sinkenden Staatseinnahm en ab dem dritten
Q u artal 1994 verantw ortlich (F undación Cedeal 1994, N r. 20: 18).
D a d er G ro ßteil der Privatisierungen bereits w ährend der ersten Jahre
d er Regierung M enem durch g efu h rt w urde u n d ein E n d e der Finanzie­
ru n g laufender A usgaben durch einm alige, außerordentlichen E in n ah ­
m en abzusehen war, w urden die übrigen K o m p o n en ten der B udgetpoli­
tik —Steuer- u n d V erschuldungspolitik —für die Flaushaltskonsolidierung
im m er wichtiger.

D ie Steuerpolitik

Im R ahm en des K onvertibilitätsplans w urden die m it dem Steuerreform -


G esetz v o n 1989 eingeleiteten B em ühungen, das Steuersystem transpa­
ren ter u n d effektiver zu gestalten, fortgeführt. D ie R egierung legte bei
ihrer Steuerpolitik die v o n d er W eltbank in einer Studie em pfohlenen
P rinzipien zugrunde (W eltbank 1990a) u n d strebte eine generelle V erein­
fachung des Systems, eine A usw eitung d er Steuerbasis, die R eduzierung
v o n M arktverzerrungen sowie eine verstärkte B ekäm pfung der Steuer­
hin terzieh u n g an (M E O S P 1993: 10).
Z u r E rreich u n g d er postulierten Ziele w urde bereits im F ebruar 1990
die strafrechtliche V erfolgung v o n V erstößen gegen das Steuerrecht ver­
schärft u n d die R eform der S teuerbehörde vorangetrieben. T echnische
u n d personelle K apazitäten w urden e rh ö h t u n d ähnlich wie in der ü b ri­
gen staatlichen V erw altung L eistungsanreize verbessert sowie eine er­
h ö h te T ra n sp a re n z bei E n tsc h e id u n g sp ro z essen u n d E valuierungen
gefördert. Im O k to b er 1992 w urden zudem regionale u n d sektorale F örde­
rungsprogram m e bzw. S teuererstattungen eingestellt, w o durch sich die
R egierung E in sp aru n g en sowie eine E rh ö h u n g der Effizienz der b e tro f­
fenen Indu strien erhoffte (M E O SP 1993: 11). 1993 folgte die Elim inie­
rung zahlreicher v erzerrender Steuern (z.B. a u f Finanzdienstleistungen,
öffentliche W ertpapiere, D iesel u n d Gas) sowie eine E rh ö h u n g der
98 K atja H u jo

M ehrw ertsteuer v o n 16 a u f 18% (seit A pril 1995 21% ), der G ew in n steu ­


er v o n 20 au f 30% u n d der Statistiksteuer au f Im p o rte v o n 3 a u f 10%.
D ie positive w irtschaftliche E ntw icklung, die E rfolge bei der Be­
käm p fu n g der Steuerhinterziehung, die A usw eitung der Steuerbasis u n d
die A n h eb u n g der Steuersätze fü h rten zu einer beträchtlichen E in n a h ­
m esteigerung. G leichzeitig m ach ten sich jedoch die V erluste aufgrund
der R enten refo rm u n d der Senkung der A rbeitgeberbeiträge bem erkbar
u n d auch die T ransfers an die P rovinzen stiegen beträchtlich, so dass
1994 zum ersten Mal ein D efizit im öffentlichen H aushalt auftrat.

T abelle 3: Ö ffentliche Finanzen (in Mrd. U S$), 1991-1998

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998


E in n a h m en 28,6 38,8 44,7 48,7 46,6 46,1 54,6 56,4
A u sg a b en 27,8 35,7 39,7 46,6 46,4 47,4 53,1 54,0
Z in sza h lu n g e n 3,1 3,9 2,9 3,2 4,1 4,6 5,8 6,7
P rivatisieru n gen * 2,2 1,7 0,5 0,7 1,2 0,4 0,1 0,1
Prim är-U oh n e Priv. 0,9 3,1 5,1 2,2 0,2 -1,3 1,5 2,5
Prim är-Ü + Priv. 3,1 4,9 5,6 2,9 1,5 -0,9 1,6 2,6
B u d g etsa ld o o h n e P -2,2 -0,8 2,2 -1,1 -3,9 -5,9 -4,3 -4,2
B u d g etsa ld o +Priv. 0,002 1,0 2,7 -0,3 -2,7 -5,5 -4,2 -3,8
Quelle: Fundación Cedeal 3/95, 2/99, *Bareinnahmen, Primärüberschuss = Budgetsaldo ohne
Zinszahlungen

D ie Staatsverschuldung

In einem Currency Board ist die M öglichkeit externer V erschuldung b e­


sonders wichtig, da ü b er internationale K reditaufnahm e das G eldangebot
flexibilisiert w erden k ann u n d sich Schw ankungen im A u ß enhandel nicht
unm ittelb ar a u f die G eldm enge ausw irken m üssen. A uch w enn V erschul­
d un g im P rinzip einer U m g eh u n g der D isziplinierungsregeln entspricht,
ist d e r Z u flu ss v o n in te rn a tio n a le n K re d ite n E rg eb n is d e r h ö h e ren
G laubw ürdigkeit der W irtsch aftsp o litik eines L andes u n d in der Regel
die entscheidende M otivation, ein W ährungsam t einzuführen.
D e r zuneh m en d e D ru c k der externen G läubiger aufgrund v o n Z ah ­
lungsrückständen bzw. M oratorien A rgentiniens gegen E n d e der Regie­
ru n g A lfonsin sowie die inflationären E ffek te der F inanzierung der in ­
ternen Staatsschuld m ach ten eine U m strukturierung der öffentlichen
Schuld unum gänglich. F olgende Schritte w u rden u n te r der R egierung
M enem unternom m en:
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 99

1. Umstrukturierung der internen Staatsverschuldung: D ie interne V erschul­


dung, die im ersten Q u artal 1989 a u f 17,3 M rd. US$ angestiegen w ar -
1985 hatte sie n u r 1,3 M rd. US$ betragen w urde ü b er die H yperinflati­
o n im gleichen Ja h r zw ar extrem entw ertet (auf 6 M rd. US$ im zweiten
Q uartal 1989), die steigende T en d en z bis E n d e 1989 veranlasste die Re­
gierung jedoch A nfang 1990 zur Z w angskonvertierung der Schuld in
langfristige, a u f D o llar lautende Staatsbonds im R ahm en des Plan Bonex
(M E O SP 1993: 19). D ie T endenz einer D ollarisierung der internen Staats­
schuld w urde im S eptem ber 1991 m it der A usgabe v o n V erschuldungs-
K onsolidierungs-B onds (Bonos de Consolidación B O C O N , G esetz N r.
23.982) fortgeführt: D e r Staat hatte beträchtliche Z ahlungsrückstände
gegenüber Z ulieferern u n d der Sozialversicherungskasse akkum uliert.
D ie bis zur E in fü h ru n g des K onvertibilitätsplans aufgelaufenen V er­
pflichtungen w u rd en in F o rm v o n B onds m it 16-jähriger Laufzeit bei ei­
nem M oratorium a u f Z ins u n d Tilgung v o n sechs Ja h re n explizit ge­
m acht, w obei für die G läubiger eine O p tio n zw ischen a u f D ollar­
nom inierten K onsolidierungsbonds u n d B onds in P eso bestand. D ie
V erbindlichkeiten gegenüber d er Sozialversicherung w urden in F o rm ei­
n er E m ission v o n Staatspapieren (B O C O N PRE l-U SIO N ^LU ) legalisiert.
M it diesen M aßnahm en w urde zw ar die notw endige Streckung der in ­
tern en V erschuldung erreicht. D e r V erzicht a u f eine W ährungsreform
m it einer E n tw ertu n g v o n S chuldenbeständen in heim ischer W ährung
u n d die D ollarisierung eines beträchtlichen Anteils der Schuld bedeute­
ten jedoch für die Z u k u n ft, dass staatliche Z ins- u n d T ilgungszahlungen
sow ohl D ru c k a u f das H au sh altsb u d g et als auch a u f die D evisenreserven
der Z en tralb an k ausüben w ü rd en —eine T endenz, die in der zw eiten R e­
gierungsperiode M enem s deutlich w urde.

2. Umstrukturierung der externen Verschuldung. A b 1988 existierte de facto


ein M orato riu m für Z inszahlungen a u f die argentinischen A uslandsver­
bindlichkeiten, so dass bis 1992 die akkum ulierte Z insschuld ca. 8 M rd.
US$ b etru g (W eltbank 1993: 18). U m die B eziehungen m it den externen
G läubigern zu norm alisieren, schloss die R egierung M enem 1992 ein
dreijähriges A b k o m m en ü b er erw eiterte Fazilitäten (F F F -Extended Fund
Facility ü b e r ca. 3,5 M rd. US$) m it dem IW F, w elches den W eg für w eite­
re S chuldenverhandlungen öffnete. I m ju li 1992 folgte eine Ü bereinkunft
m it dem P ariser Club, dem Z usam m enschluss der w ichtigsten G läubiger­
regierungen, zu r R efinanzierung eines Teils der Zinsverbindlichkeiten
u n d d er gesam ten T ilgungsverpflichtung zw ischen 1992-95 m it einer
neuen L aufzeit v o n 16 Jahren. W ichtig w ar auch die R efinanzierung der
100 K atja H u jo

V erschuldung gegenüber privaten G läubigerbanken im R ahm en des Bra-


dy-Plans im A pril 1992 (M E O S P 1994: 175).
D ie beschriebenen M aßnahm en führten in V erbindung m it einem
niedrigen in tem ad o n alen Z insniveau zu h o h en K apitalzuflüssen: 1993
erreichten sie einen M axim alw ert v o n 13 M rd. US$ (der erst 1997 ü b er­
tro ffen w urde), w o v o n ca. 50% a u f P rivatisierungen u n d Finanzinvestiti­
on en entfielen, 15,8% a u f K redite m ultilateraler O rganisationen, 15,8%
a u f A ußenhandelsfinanzierung, 5,8% a u f E m issionen neuer Staatstitel
u n d 5,8% au f D irektinvestitionen (Fundación Cedeal 1993, N r. 18: 16).

Außenöffnung und regionale Integration

D ie Regierung M enem vollzog den endgültigen B ruch m it dem alten


Protektions- u n d Subventionssystem u n d im plem entierte eine radikale
A ußenhandelsliberalisierung. G erade in einem Currency Board w ird eine
Liberalisierung des A ußenhandels als notw endige B edingung für P reis­
senkungen u n d einen A usgleich der Leistungsbilanz ü b er den autom ati­
schen A npassungsm echanism us bezeichnet.
D ie H andelspohtik M enem s bestan d in einer Senkung bzw. vollstän­
digen E lim inierung v o n Z öllen u n d n ich t-tarifären Flandelshem m nissen
sowie einer Staffelung der Im portzollsätze nach V erarbeitungsstufen, um
die heim ische W ertsch ö p fu n g zu fördern. Z usätzlich w urde M aßnahm en
ergriffen, um die W ettbew erbsfähigkeit der E x portw irtschaft zu erhöhen,
die aufgrund des stark ü berbew erteten W echselkurses K o m p en satio n s­
m aß n ah m en forderte. Bereits im O k to b e r 1989 w urden die m axim alen
Im p o rttarife v o n 90% a u f 40% gesenkt u n d im Laufe des Jahres 1990
sank d e r durch sch n ittlich e Z ollsatz für Im p o rte v o n 34 a u f 24% . Im
Jan u ar 1991 w urden Im p o rtlizen zen —die n o c h 1988 für 32% der heim i­
schen P ro d u k tio n galten —abgeschafft u n d durch ein M eldeverfahren er­
setzt.
Im R ahm en des Plan Cavallo w urden Z ollsätze v o n 11% für H albfer­
tigw aren u n d 22% für Fertigw aren (ausgenom m en K raftfahrzeuge u n d
Elektronikgeräte m it 35%) eingeführt, w äh ren d nicht im L and hergestell­
te G ru n d sto ffe, K apitalgüter sowie international w ettbew erbsfähige
N ahrungsm ittel zollfrei im p o rtiert w erden konnten. Säm tliche quantitati­
ven E in fuhrbeschränkungen w urden aufgehoben, ebenso die E x p o rtb e­
steuerung. E ine gleichzeitig eingeführte A.nti-D um ping-Regelung erlaubte
U n tern eh m en a u f Basis v o n R eferenzlisten die B eantragung v o n
Strafzöllen, w enn Im p o rtg ü ter w eit u n te r dem W eltm arktpreisniveau
ang eboten w urden (Birle 1991: 12).
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n e m 101

E ine dritte Liberalisierungsstufe begann im O k to b e r 1992 m it dem


Ziel, verstärk t die E x p o rtw irtsch aft zu fördern u n d das durch die O ff-
nungs- u n d W echselkurspolitik entstandene H andelsbilanzdefizit zu sen­
ken. D ie insgesam t 13 Z ollrefo rm en in den ersten beiden Ja h ren des
K onvertibilitätsprogram m s w erden a u f die gegensätzlichen Ziele der Re­
gierung, F ö rd eru n g d er A ußenhandelsliberalisierung versus M axim ierung
d er fiskalischen E in n ah m en , zurü ck g efü h rt (Carrassai 1998: 127-128).
D e r D ru c k der heim ischen Industrie w ar ein w eiterer G ru n d für die zyk­
lische H andelshberalisierung. Im Ja n u a r 1995 traten schließlich der ge­
m einsam e externe Z o lltarif u n d die H au p tk o m p o n e n ten der gem einsa­
m en H andelspolitik des M erco su r ('Mercado Común del Surj in K raft.

Grafik 1: Zentrale Absatzmärkte argentinischer Exporte (Handelsbilanz­


saldo in Mio. US$)

M io USS -1000

-5000 -
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
■ Mercosur 238,9 -1349,5 -344,7 19,9 2176,1 2118 1986 1484,6 674
O Nafta -556,3 -1838,8 -2621,7 -2735,7 -2826,9 -3238,3 -4601,3 -4516,2 -2412
M EU 2095,1 401 -363,6 -2249 -1559 -2340 -4327,9 -4017,9 -2181

Quelle: FID E 12/99, S. 22 (1999 bis November)

F ü r A rgentinien entw ickelte sich d er M ercosur-P artner Brasilien im


R ahm en des K onvertibilitätsplans zum H auptexportm arkt: W ährend
1990 die E x p o rte nach Brasilien n u r 11,5% d er G esam texporte ausm ach­
ten, stieg der A nteil 1994 a u f 22,8% an. N o c h stärker entw ickelten sich
allerdings in der A nfangsphase die Im p o rte aus Brasilien als Folge der
102 K atja H u jo

V erteuerung d er argentinischen P ro d u k te durch die starke Ü berbew er­


tun g des W echselkurses in V erbindung m it der Z ollreduktion, dem eine
kontinuierliche A bw ertungspolitik d er brasilianischen Regierung gegenü­
berstand. E n tsp rech en d verzeichnete A rgentinien bis 1994 ein D efizit im
H an d el m it Brasilien, das sich jedoch v o n einem H ö ch ststan d v o n 1,7
M rd. US$ bis 1994 a u f 700 Mio. US$ verringerte. 1995 k o n n te zu m ers­
ten Mal ein H andelsbilanzüberschuss m it Brasilien erw irtschaftet w erden,
was v.a. a u f die veränderte m ak roökonom ische K onstellation in Brasilien
zurück zu fü h ren war, dessen W äh ru n g infolge des Plan Real stark aufw er­
tete. Z u d em hatte in dem N achbarland eine N achfrageerholung stattge­
funden, w elche sich in V erbindung m it dem zollpolitischen P räferenzre­
gim e ab 1.1.1995 positiv a u f die N achfrage nach argentinischen E x p o rt­
pro d u k ten auswirkte.

D er wirtschaftliche Aufschwung: Stabilität m it W achstum

Als g rö ß ter E rfolg des Plan Cavallo gilt die spektakuläre Senkung der In ­
flationsrate u n d die V erteidigung des fixen W echselkurses sowie das dy­
nam ische W achstum zw ischen 1991-94. D ie A ngleichung des Preisni­
veaus an die U S -Inflationsrate sollte ü b er die D eindexierung v o n Preisen,
L ö h n en u n d Schuldverträgen, eine Preisderegulierung u n d Preisabspra­
chen m it führenden U ntern eh m en im G egenzug für steuerliche V ergüns­
tigungen erfolgen (Schweickert 1995: 334). D ie D eregulierung un d Ö ff­
nu n g der Ö k o n o m ie sollte zudem W ettbew erbsdruck a u f die nationalen
U n tern eh m er ausüben u n d Preissenkungen fördern. Als E rgebnis konnte
die Inflationsrate zw ar abrupt gesenkt w erden, das Ziel der N ullinflation
bzw. D eflation w urde jedoch erst nach d er Tequila-K rise erreicht: D ie
Jahresinflation 1991 b etrug für V erbraucherpreise im m erhin noch 84%
(G roßhandelspreisindex 56,7%), was zu einer A ufw ertung des realen
W echselkurses u n d einer V erzerrung d er relativen Preise durch einen
stärkeren A nstieg d er Preise nicht-handelbarer G ü te r u n d D ienstleistun­
gen im Vergleich zu E x p o rtp ro d u k ten , die einem höheren K o n k u rren z­
dru ck ausgesetzt w aren, führte.
D ie Preis- u n d W echselkursstabilität führte in V erbindung m it den
h o h e n K apitalzuflüssen zu einer R em onetarisierung der Ö konom ie, die
sich in einer zu n eh m en d en L iquidität durch die ho h e D evisenakkum ula­
tion der Z entralbank u n d in einer positiven D epositen- u n d K red iten t­
w icklung im F inanzsektor m anifestierte.
D a innerhalb eines Currency Board eine A usw eitung der G eldm enge
v o n positiven N ettodevisenzuflüssen abhängig ist, ist die langfristige
D ie W irtsch aftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 103

K onsolidierung d er R eserveposition d er Z en tralbank vo n entscheidender


B edeutung. W äh ren d 1990 u n d 1991 H andelsbilanzüberschüsse für ein
erhöhtes D evisen an g eb o t verantw ortlich zeichneten, w urden im w eiteren
V erlau f des P rogram m s K apitalim porte — D irektinvestitionen im R ah­
m en der Privatisierungen u n d P ortfolioinvestitionen sowie K redite m ul­
tilateraler F inanzorganisationen u n d internationaler G eschäftsbanken —
zu r zentralen Q uelle des D evisenangebots. D ie ho h en K apitalzuflüsse
führten zu einer kontinuierlichen R eservenaufstockung durch die Z e n t­
ralbank, die einen an n äh ern d gleich h o h en A nstieg der G eldbasis m it
sich brachte. D as W achstum d er G eldaggregate nahm bereits im Ja h r
1994 w ieder ab, nach d em sich die externen K apitalzuflüsse in Folge v o n
Z in serh ö h u n g en in den USA abgeschw ächt h atten un d sow ohl H andels­
bilanz als auch L eistungsbilanz steigende D efizite aufwiesen.
D ie D ep o siten stru k tu r, ein aufschlussreicher G radm esser für das
V ertrauen der W irtschaftsakteure in das heim ische G eld u n d den D o lla­
risierungsgrad der Ö k o n o m ie, entw ickelte sich im R ahm en des K o n v er­
tibilitätsplans wie folgt: A llgem ein fand eine rasante Z unahm e der E inla­
gen im B ankensektor statt, die zu einer A usw eitung der L iquidität u n d
einem starken W achstum des Sektors führte. W ährend der A nteil der
D o llardepositen an den gesam ten Einlagen bis E n d e 1993 hinter dem
d er Pesoeinlagen zurückblieb, überstiegen sie seit 1994 die E inlagen in
heim ischer W ährung deutlich, was u.a. a u f eine aktive D ollarisierungs­
strategie d er R egierung zurück zu fü h ren ist, die sich eine geringere A nfäl­
ligkeit v o n D o llark o n ten gegenüber spekulativen E inlagenabzügen ver­
sprach (Fundación Cedeal 1994, N r. 19: 149-150).
A uch die rasante Z u n ah m e v o n D ollarkrediten zeigt eine zu n eh m en ­
de D ollarisierung an: D a D ollarkredite in D ollar bedient w erden m üssen,
w erden dollarerw irtschaftende G ro ß u n tern eh m en im E x p o rtsek to r bei
d er K reditvergabe bevorzugt: K leine u n d m ittlere U n tern eh m en sind
hingegen a u f Peso-K redite angew iesen, die im V ergleich zu D ollarkredi­
ten höh ere Z insen aufweisen. N e b e n dem Z insdifferential zw ischen Peso
u n d D ollar besteht zudem ein Spread zum A nkerland USA: D ollareinla­
gen u n d —kredite {Argendollars) w erden in A rgentinien h ö h er verzinst, da
sie m it einer R isikopräm ie belegt werden.
Im R ahm en des Plan Cavallo erlebte die argentinische Ö konom ie ei­
n en beachtlichen A ufschw ung: D ie Senkung der Inflation erhöhte die
K aufkraft der L öhne; die Senkung d er N om inalzinsen, die A usw eitung
des K reditvolum ens (auch zu K onsum zw ecken) u n d der ho h e Z u stro m
an A uslandskapital fü h rten zu einer R em onetarisierung u n d einer starken
A ktivierung des Realsektors. D as W irtschaftsw achstum erreichte zwi-
104 K atja H u jo

sehen 1990-94 kum ulierte 30,8% . D a v o n p ro fitierten allerdings n ich t alle


Sektoren in gleicher W eise: D u rc h die H andelsliberalisierung u n d das
W echselkursregim e ergaben sich negative E ffekte für den E x p o rtsek to r
u n d die m it Im p o rte n kon k u rrieren d en B ranchen, w ährend der D ien st­
leistungssektor, einige B ereiche d er verarb eitenden Industrie u n d der
B ergbau h ö h ere Z uw ächse verzeichneten.

Grafik 2: Entwicklung der Depositenstruktur, 1991-1999

2 25000

9‘ Dez 93 Dez 94 Dez 95 Ja n 96 Dez 97 Dez 98

1qG esam t USS ■G esamt Peso 1

Quelle: Fundación Cedeal IV /95, Nr. 26, La Nación 9.-15.1.96, F ID E 12/99, S. 31.

D ie Struktureffekte d er H andelspolitik u n te r M enem zeigen sich v.a. in


den h o h e n W ach stu m sraten der A utom obilbranche: Z w ischen 1991-94
k o n n te ein kum uliertes W ach stu m v o n 174,8% erreicht w erden. Positiv
entw ickelte sich ebenfalls die M etallindustrie ab 1993, v.a. aufgrund der
h o h e n In landsnachfrage aus dem K fz-S ektor u n d der b o o m e n d en B au­
w irtschaft. Z u d en „V erliererbranchen“ g eh ö ren Textilien, P apier un d
die nationale K apitalgüterindustrie — letztere p roduzierte 1994 nur no ch
ein D ritte l des V olum ens v o n 1990 (A rgentinische B otschaft 1996: 17).
D ie E ntw icklung d er Z ahlungsbilanz spiegelte deutlich die E ffekte
des K onvertibilitätsplanes wider: N a c h h o h e n H andelsbilanzüberschüs­
sen 1990 (8,3 M rd. US$) u n d 1991, die in V erbindung m it niedrigen
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n e m 105

Z inszahlungen 1990 sogar zu einem L eistungsbilanzüberschuss (4,8 M rd.


US$) führten, sind ab 1992 steigende D efizite zu verzeichnen, die über
h o h e K apitalim porte finanziert w erden m üssen.

Tabelle 4: Entwicklung des BIP nach Sektoren (prozentuale Veränderung


zum Vorjahr)

A grarsektor B ergb au In du strie Bau


1989 -8.6 -0.8 -7.8 -24.5
1990 8.4 2.8 -2.3 -16.2
1991 4.3 2.9 9.9 25.4
1992 -1.0 11.1 10.2 16.9
1993 3.1 10.0
00
00 5.1 11.2
1994 3.6 6.2 15.2
1995 2.0 6.7 -6.7 -10.5
Quelle: Cepal 1999.

Tabelle 5: Entwicklung der Zahlungsbilanz (in Mio. US$), 1989-1994

Salden 1989 1990 1991 1992 1993 1994

E xp orte 9.579 12.354 11.978 12.235 13.118 15.739

Im p orte 4.203 4.079 8.275 14.872 16.784 21.544

H a n d elsb ila n z 5.376 8.275 3.703 -2.637 -3.666 -5.805

L e istu n g sb ila n z -1.303 4.816 -672 -6.664 -7.288 -10.074

K apitalbilanz -43 -1173 3.400 10.490 12.122 10.612


Quelle: BfA! 1995, Fundación Cedeal 4/95 Nr. 26, Argentinische Botschaft 1996, Weltbank
1996. (Berechnung nach alter Methode, vgl. Tab. 1)

D er Tequila-Effekt: Bankenkrise und R ezession

B ereits v o r A u sb ru ch der M exiko-K rise zeigten sich die ersten Zeichen


einer A bschw ächung d er expansiven W irtschaftsentw icklung. D ie Ü b e r­
b ew ertung des P eso sowie die radikale Ö ffn u n g der W irtschaft beein ­
trächtigten die W ettbew erbsfähigkeit d er U n ternehm er u n d führten zu
steigenden H andels- u n d L eistungsbilanzdefiziten, die Reallöhne sanken
ab 1992, w äh ren d gleichzeitig A rbeitslosigkeit u n d U nterbeschäftigung
Z unahm en, die V erschuldung h atte sich trotz der Privatisierungseinnah­
106 K atja H u jo

m en u m fast 50% e rh ö h t u n d die H aushaltskonsolidierung geriet zu ­


n eh m en d u n te r D ruck. D e r V orsatz der Regierung, die V erschuldung
nicht w eiter zu erhöhen, w urde ab 1994 unrealistisch, als die Federal Re­
serve R ank der U SA ihren Leitzinssatz erhöhte. Im E rgebnis verringerten
sich die K apitalim porte. D ie N o tieru n g en d er staatlichen Schuldver­
schreibungen sowie der B örsenindex sanken u n d die R enditeforderungen
bei d er Platzierung v o n neuen Schuldtiteln privater U n tern eh m en un d
des Staates stiegen an (F undación C edeal 1994, N r. 21: 11).
Im letzten Q uartal 1994 o ffen b arten sich M einungsverschiedenheiten
m it d em IW F: Im R ahm en der erw eiterten K reditfazilität w aren ehrgeizi­
ge Ziele in B ezug a u f die Fiskalpolitik festgelegt w o rd en , die bis 1993
aufg ru n d der w achsenden S teuereinnahm en u n d h o h en Privatisierungs­
erlöse erfüllt w erden konnten. 1994 k o n n te hingegen den Z ielvorgaben
des IW F selbst u n te r B erücksichtigung der P rivatisierungseinnahm en
nich t en tsp ro ch en w erden (Fundación C edeal 1995, N r. 26: 30).

T abelle 6: Ö ffentliche Finanzen (in Mrd. U S$), 1991-1998

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998


E in n a h m e n 28,6 38,8 44,7 48,7 46,6 46,1 54,6 56,4
A u sg a b en 27,8 35,7 39,7 46,6 46,4 47,4 53,1 54,0
Z in sza h lu n g e n 3,1 3,9 2,9 3,2 4,1 4,6 5,8 6,7
P rivatisierun gen * 2,2 1,7 0,5 0,7 1,2 0,4 0,1 0,1
P rim är-U oh n e Priv. 0,9 3,1 5,1 2,2 0,2 -1,3 1,5 2,5
P rim är-Ü + Priv. 3,1 4,9 5,6 2,9 1,5 -0,9 1,6 2,6
B u d g etsa ld o o h n e P -2,2 -0,8 22 -1,1 -3,9 -5,9 -4,3 -4,2
B u d g etsa ld o +P riv. 0,002 1,0 2,7 -0,3 -2,7 -5,5 -4,2 -3,8
Quelle: Fundación Cedeal 3/95, 2/99, *Bareinnahmen, Primärüberschuss = Budgetsaldo ohne
Zinszahlungen

Im S ep tem b er 1994 verzichtete Cavallo a u f die letzte T ranche der erwei­


terten K reditfazilität, u m den D ifferen zen m it der m ultilateralen K redit­
organisation aus dem W eg zu gehen. E ine w eitere Z in serh ö h u n g der
USA im N o v e m b e r 1994 führte jedoch zu einer Ä nd eru n g d er Regie­
rungsstrategie (Starr 1999: 211, 230): Ü b er eine B udgetsperre, H aushalts­
kürzungen u n d forcierte Privatisierungen sollte das D efizit verm indert
w erden. D ie K onsolidierung gelang jedoch nicht, da der m exikanische
Peso im D ezem b er 1994 abgew ertet w urde u n d die internationalen F i­
nanzm ärkte in T u rb u len zen stürzte. D ie internationalen K apitalzuflüsse
D ie W irtsch aftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 107

verzeichneten einen drastischen E inbruch. A usländische u n d inländische


In v esto ren begannen, ihre Einlagen abzuziehen, was zu einer V ertrau­
ens- u n d L iquiditätskrise im B ankensektor führte. D ie Tatsache, dass
G eschäftsbanken nie eine 100%ige D eckungsreserve halten u n d som it
zu r E rfüllung ih rer Z ahlungsverpflichtungen bei einem m assiven E inla­
genabzug au f die R efinanzierung d urch die Z en tralbank angew iesen sind
(Lender o f L a st Rijort-Funktion), m acht ein Currency Board durch seine ein­
geschränkte G eldpolitik extrem anfällig für Finanzsektorkrisen. In A r­
gentinien k o n n te diese n u r ü b er eine A ussetzung der Currency Board-
K egeln in V erb in d u n g m it um fangreichen internationalen K rediten ge­
m eistert w erden. D e r A b lau f der E reignisse u n d das K risenm anagem ent
der Z entralbank gestaltete sich wie folgt:
Z w ischen dem 23.12.94 u n d 31.3.95 gingen die B ankeinlagen um
15% zurück, die D evisenreserven der Z en tralbank fielen u m 37% u n d
die D ollarreserven im F inanzsektor sanken u m 35% (Fundación Cedeal
1995, N r. 24: 13). D e r autom atische M echanism us des Currency Board-
S ystem s setzte ein u n d führte zu einer K o n trak tio n der G eldm enge so­
wie steigenden Z insen. D ie Z entralbank reagierte m it einer Senkung der
M indestreservebestim m ungen, w ollte sich jedoch in der ersten Phase der
K rise gem äß d em Z entralbankgesetz eher passiv verhalten. Stattdessen
sollte — neb en der üblichen Finanzierung der G eschäftsbanken ü b er den
Interb an k en m ark t — die N atio n alb an k (Banco Nación) K redite an Banken
m it L iquiditätsschw ierigkeiten vergeben (Fundación Cedeal 1995/24:

14)-
Schon bald erzw angen jedoch die Ereignisse eine verstärkte Interven­
tion der m o n etären A utorität: M itte F ebruar w urde das Z entralbankge­
setz ü b er ein N o tstan d sd ek ret geändert, das im A pril 1995 v o m K o n ­
gress gebilligt w u rd e u n d die Lender o f L a st Ritor^-Funktion der Z en tral­
b ank zum Teil w iederherstellte: D as G esetz erlaubte in verstärktem Ma­
ße eine R efinanzierung der G eschäftsbanken. U m die W ährungsreserven
d er Z entralbank n ich t zu belasten, w urde der Z entralbank ü b er das N o t­
standsdekret die M öglichkeit zugebilligt, externe Schulden aufzunehm en
u n d deren L aufzeit zu verlängern (A rgentinische B o tschaft 1996: 29).
Im M ärz erreichte die K rise m it einem D epositenverlust vo n 4,2 Mrd.
US$ u n d extrem h o h en Z insraten ihren H ö h ep u n k t, zudem w urden nun
verm eh rt D ollarguthaben abgezogen, w ährend anfangs v.a. Pesoeinlagen
betro ffen w aren. D ie Z entralbank erlaubte P rivatbanken fortan bis zu
50% ihrer B arreserve zu den M indestreserveverpflichtungen h inzuzu­
rechnen. Im A pril 1995 w urde erneut ein E inlagenversicherungssystem
eingeführt, u n d m it H ilfe v o n N o tfo n d s zur U m strukturierung u n d Fusi-
108 K atja H u jo

on v o n Banken m it L iquiditätsproblem en sowie zu r Privatisierung v o n


P rovinzbanken sollte der anhaltende Run g estoppt w erden. D ie N o t­
fonds m it R essourcen v o n ca. 4,5 M rd. US$ w urden ü b e r eine m assive
internationale Finanzhilfe gebildet, die nach einem A b kom m en m it dem
IW F im M ärz einsetzte. Z usätzlich w urde v o n der R egierung eine Staats­
anleihe a u f den internationalen F inanzm ärkten sowie bei argentinischen
G ro ß u n tern eh m en v o n insgesam t 2 M rd. US$ (Bono Argentino) platziert
(R ozenw urcel/B leger 1998: 384).
U b er die Sum m e d er M aßnahm en u n d v.a. nach der Bewilligung der
internationalen L iquiditätszuschüsse k o n n te die K rise entschärft w erden;
allerdings hatte die Z entralb an k ihre externe V erschuldung u m 1,9 M rd.
US$ u n d die R egierung um 5,4 M rd. US$ e rh ö h t (Calcagno 1997: 80).
D e r W ahlsieg M enem s im M ai 1995 trug zu einer w eiteren B eruhi­
gung d er A nleger bei, so dass die D ep o siten w ieder anstiegen u n d die
Z insen nach u n ten tendierten. E rs t A nfang 1996 k o n n ten die V olum ina
v o n E n d e 1994 w ieder erreicht w erden, w obei eine w eitere U m stru k tu ­
rierung zugunsten v o n D ollareinlagen stattfand. Als E rgebnis der K rise
verringerte sich auch die Z ahl der B anken v o n 205 zu A nfang des Jahres
au f 167 im A pril 1995 (bis A pril 1998 a u f 135): v.a. kleinere Institute
w urden ü b er F u sio n en absorbiert, so dass M itte des Jahres a u f die 30
grö ß ten B anken ca. 80% des D epositenvolum ens entfielen.

Tabelle 7: Angebot und Nachfrage (prozentuale Veränderung), 1995-1999

1995 1996 1997 1998 1999*


00
00

Privater K onsum -4.4 6,7 3,9 -4,9


B ru ttoin vestition en -13.1 8,9 17,7 6,6 -10,7
Im porte -10.0 17,4 26,6 8,4 -13,5
E xporte 22.6 7,8 12,0 10,1 -2,8
Quelle: FIDE Jan./Feb. 2000, *erste neun Monate.

D as K risenjahr 1995 w ar n ich t n u r eine B ew ährungsprobe für die G eld-


un d W echselkurspolitik, son d ern m arkierte auch das E n d e einer relativ
problem lo sen B udgetfinanzierung: T ro tz neuer, au f IW F -D ru ck ab F eb ­
ruar 1995 im plem entierter M aßnahm en, die eine A usw eitung der Steuer­
basis, eine E rh ö h u n g der M ehrw ertsteuer v o n 18 a u f 21% sow ie eine
E rh ö h u n g der Im portzölle, d er A rbeitgeberbeiträge zur Sozialversiche­
rung, eine Senkung d er L ö h n e öffentlicher B ediensteter u n d eine Sen­
kung d er E rstattungszahlungen für E x p o rte um fasste, blieben die E in ­
nah m en 1995 w eit h in ter den P ro g n o sen zurück. D ie rezessive K onjunk-
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 109

tu r w irkte sich v.a. a u f die k o n su m bezogenen Steuern (M ehrwert-, B en­


zinsteuer), aber auch a u f die G ew in n steu er aus: V o r dem H in terg ru n d
h o h er Z insen un d zu n eh m en d er K reditrationierung optierten viele U n ­
ternehm en für eine „F inanzierung“ ü b er die N icht-Z ahlung ihrer Steuer­
verpflichtungen (F undación Cedeal 1995, N r.24: 12, 24).
D as A usm aß d er w irtschaftlichen K rise zeigte sich besonders deutlich
an einem rapiden A nstieg d er A rbeitslosigkeit, die im M ai 1995 18,6%
erreichte, sowie einem drastischen N achfrageeinbruch, der zu einem
R ückgang der P ro d u k tio n v.a. im Bereich langlebiger K o n sum güter führ­
te (F undación Cedeal 1995, N r 25: 18).

D ie Post-Tequila-Periode: A sien-, Russland und Brasilienkrise

T ro tz des drastischen E in b ru ch s im Z uge der T equila-K rise gelang A r­


gentinien in den Ja h re n 1996 u n d 1997 eine rasche w irtschaftliche E rh o ­
lung u n d die E rzielung h o h e r W achstum sraten. M o to r des A ufschw ungs
w ar die R ückkehr d er K apitalzuflüsse sowie eine günstige E x p o rte n t­
w icklung (v.a. für P rim ärgüter u n d Energie- u n d B rennstoffe) als R eakti­
o n a u f die sinkende interne N achfrage. E ine gute E rn te 1995/96, hohe
W eltm arktpreise für A g rarex p o rtp ro d u k te (Rindfleisch, O lsaaten, E rdöl,
W eizen u n d W olle), die 1990 60% d er E x p o rte ausm achen (M essner
1997: 219), u n d eine rasante E x p o rtsteig eru n g in das N ach barland Brasi­
lien w irkte sich zusätzlich positiv a u f die A u sfuhren aus.
D ie günstigen externen B edingungen k o n n ten zw ar das A brutschen
in eine längerfristige R ezession verhindern, die Phase des leichten
W achstum s g ehörte jedoch d er V ergangenheit an. D as V erharren der
A rbeitslosigkeit a u f h o h em N iveau (17,3%), stagnierende Investitionen,
soziale Problem e u n d d er w eitere Z w ang zu fiskalischer A usterität ließen
das W ahlversprechen M enem s, in seiner zw eiten A m tsperiode eine
W achstum sphase m it sozialer G erechtigkeit einzuleiten (El País 9.7.95),
zu n eh m en d unglaubw ürdig erscheinen.
Im V erlau f des Jahres 1996 kam es zu w achsenden P ro testen u n d
Streiks, als im R ahm en einer „zw eiten S taatsreform “ w eitere E in sp aru n ­
gen u n d ein Stellenabbau im öffentlichen Sektor beschlossen w urden
u n d nach d er E ntlassu n g Cavallos im Juli der neue W irtschaftsm inister
R oque B. Fernández ein weiteres Sparpaket ankündigte. D as Ja h r endete
m it einer zufriedenstellenden H andelsbilanz un d E xportperform ance
sowie positiven E ntw icklungen a u f den K apital- u n d Finanzm ärkten,
w ährend K o n su m u n d In v estitionen u n ter den W erten für 1994 verbhe­
ben, sich das H aushalts- (5,26 M rd. US$) u n d Leistungsbilanzdefizit (6,5
110 K atja H u jo

M rd. US$) rasant vergrößerte u nd die U nzufriedenheit der B evölkerung


ü b er die Beschäftigungskrise stieg (M E C O N 1997).
1997 schien eine R ückkehr zum dynam ischen W achstum der A n ­
fangsphase des K onvertibilitätsplans in Sichtweite: D ie Indu striep ro d u k ­
tion u n d Investitionen verzeichneten h ohe Z uw achsraten, die externen
K apitalzuflüsse stiegen a u f R ekordhöhe u n d die A rbeitslosigkeit ging
leicht zurück. D as P anoram a änderte sich jedoch, als die A usläufer der
W irtschaftskrise in Südostasien Lateinam erika erreichten u n d das V er­
trauen der Investoren in die emerging markets erneut strapaziert wurde:
K apitalabflüsse, eine E rh ö h u n g der Finanzierungskosten für E ntw ick­
lungsländer a u f den internationalen Finanzm ärkten, B örseneinbrüche,
spekulative A ttacken gegen die heim ischen W ährungen, fallende R oh­
stoffpreise sowie eine V erringerung der E x p o rte in die asiatische K risen­
region aufgrund deren sinkender N achfrage w aren die Folgen für L atein­
am erika (Cepal 1998, Fritz 1999).
A rgentinien w ar 1997 n o c h n icht so stark v o n der K rise betroffen, da
im G egensatz zum T equila-E ffekt eine Bankenkrise verm ieden w erden
k o n n te u n d die E x p o rte nach A sien n u r 8,7% der G esam texporte aus­
m ach ten (Fundación Cedeal 1998, N r. 38: 10). N ach der Russlandkrise
u n d d eren A usw irkungen a u f den H au p th an d elspartner Brasilien geriet
das L a n d jedoch ab dem dritten Q uartal des Jahres 1998 in eine erneute
R ezession, die sich im Jan u ar 1999 nach der drastischen A bw ertung des
brasilianischen Real verschärfte. D ie H au p tschw achpunkte des argentini­
schen E ntw icklungsm odells — die starke Ü berbew ertung des Peso, das
P rim ärg ü ter-E x p o rtp ro fil bei geringer A bsatzm arktdiversifizierung (die
sogenannte Brasil-dependendd) sowie die steigende A uslandsverschuldung
durch h o h e Fiskal- u n d L eistungsbilanzdefizite - kam en d u rch das ver­
änderte internationale u n d regionale U m feld voll zu m Tragen:
D ie W ettbew erbsfähigkeit des Peso w urde durch die asiatischen un d
lateinam erikanischen A bw ertungen bei gleichzeitiger A ufw ertung des
U S -D ollar w eiter beeinträchtigt u n d m achte die E rfolge einer über nied­
rige Inflationsraten u n d P ro d u k tivitätsfortschritte erreichten realen A b ­
w ertu n g zw ischen 1996-98 w ieder zunichte. D ie W eltm arktpreise für ar­
gentinische P rim ärgüterexporte fielen beträchtlich (durchschnittlich 8%,
M E C O N 1998), w äh ren d die Industriegüterexporte durch die sinkende
N ach frag e aus Brasilien b etro ffen w aren (1998 gingen 51% der In d u st­
riegüterexporte nach Brasilien); die A u to m o b ilproduktion fiel bereits im
D e z e m b e r 1998 a u f die H älfte, da aufgrund des Präferenzregim es in n er­
halb des M ercosur ca. 98,5% der E x p o rte des Sektors nach Brasilien gin­
gen (F ID E 3/20 0 0 : 7). E in steigender K apitalbedarf durch w achsende
D ie W irtsch aftsp o litik d e r R egierung M enem 111

Leistungsbilanzdefizite m usste aufgrund der K risen a u f den internationa­


len Finanzm ärkten m it h ö h e re n Z insen u n d kürzeren Laufzeiten finan­
ziert w erden u n d das angeschlagene V ertrauen der externen G läubiger
erfo rd erte eine ständige D em o n stratio n fiskalischer A usterität, w ährend
das heim ische A ktivitätsniveau durch h ö h ere Z insen u n d geringere E x ­
p o rte g ed äm p ft w urde.
A m 1.1.99 im plem entierte die R egierung eine Steuerreform m it dem
Ziel, d urch höh ere E in n ah m en bei d er M ehrw ert- u n d G ew innsteuer ei­
ne Senkung d er A rbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung um d u rch­
schnittlich 6,5% zu erreichen u n d dam it die W ettbew erbsfähigkeit der
U n tern eh m en u n d die N eueinstellung v o n A rbeitskräften zu fördern. Als
jedoch Brasilien am 13. Ja n u a r abw ertete, verschärfte sich der R eform ­
druck in A rgentinien radikal. U m spekulativen A ttacken entgegenzuw ir­
ken, begann die R egierung eine D iskussion ü b er die M öglichkeit einer
D ollarisierung d er Ö k o n o m ie, bei d er die heim ische W ährung Peso
k o m p lett durch den U S-D ollar ersetzt w ürde, u m das W echselkursrisiko
u n d A bw ertungserw artungen endgültig zu eliminieren.

D as M enem sch e Erbe —W irtschaftspolitik ohne Alternative?

M enem s W irtschaftspolitik hinterließ eine schrum pfende W irtschaft,


stagnierende B eschäftigung u n d Investitionen, eine staatliche A uslands­
verschuldung, die trotz h o h er Privatisierungseinnahm en u n d Brady-Plan
fast 150 M rd. US$ erreichte u n d deren B edienung einen G roßteil der
E x p o rterlö se u n d Staatseinnahm en verschlingt, einen dollarisierten Fi­
nan zsek to r m it geringer K reditkapazität u n d eine au f P rim ärgüter spezia­
lisierte P ro d u k tio n sstru k tu r, w äh ren d die In du striep ro d u k tio n v o n der
(schw achen) regionalen N achfrage innerhalb des M ercosur abhängt.
D e r w irtschaftspolitische H andlungsSpielraum der neuen Regierung
hatte sich nach 10 Ja h re n neoliberaler Politik u n te r M enem w eiter v er­
ringert. D ies bezog sich nicht allein a u f die selbstangelegten H andschel­
len durch eine dem onstrative A ufgabe aktiver G eld-, W echselkurs- un d
H andelspolitik, so n d ern in erster Linie a u f die M arktkonstellation un d
das Spezialisierungsm uster der argentinischen Ö konom ie, die nicht so
leicht rückgängig zu m achen w aren. D as Currency fW n/-M odell hatte sich
zw ar als erfolgreiches Stabilisierungsinstrum ent erwiesen, schloss jedoch
eine a u f dynam ischen Investitionen u n d E x p o rte n basierende E ntw ick­
lungsperspektive aus. D ie Illusion, ü b er einen fixen W echselkurs-A nker
eine Stabilisierungskrise wie bei den o rth o d o x en IW F -P rogram m en ver­
m eiden zu k ö n n en (Fritz 1999: 27), realisierte sich allenfalls in einer
112 K atja H u jo

durch billige Im p o rte u n d V erschuldung alim entierten B oom phase, die


bei steigender Ü b erb ew ertu n g des W echselkurses in V erbindung m it ei­
ner radikalen A u ß en ö ffn u n g schnell in eine defizitäre H andels- un d Leis­
tungsbilanz m ündete. D iese V erschlechterung der F undam entaldaten
w iederum im plizierte die G e fa h r einer U m k ehrung der K apitalström e
durch sinkendes In v esto rv ertrau en u n d k o n n te in einer Z ahlungsbilanz­
krise o d er wie im Falle eines Currency Board auch in einer Liquiditätskrise
im B ankensektor resultieren.

D eflation, Abwertung oder Dollarisierung?

M it dem Currency Board-M-oàeB. hatte A rgentinien ein R ezept aus dem


geldpolitischen In stru m en ten k asten des 19. Jah rh u n d erts hervorgeholt,
w elches als historisch u n d theo retisch ü b erh o lt galt (Nicolas 1994, H ujo
1996). D as w iedererw achte Interesse neoklassischer Ö k o n o m e n an dem
Currency Board-M odell basiert a u f der Idee, durch eine rein regelgebunde­
ne G eld p o litik die in E ntw icklungsländern häufig übliche D efizitfinan­
zierung ü b er die N o ten p resse zu v erh in d ern u n d eine m ak ro ö k o n o m i­
sche D isziplinierung zu erreichen, die das V ertrauen in die heim ischen
W ährungen zu (re-) etablieren verm ag. D ie W iederherstellung der G laub­
w ürdigkeit d er G eldpolitik durch eine E ntpolitisierung der Z entralbank
ist auch das stärkste A rg u m en t d er B efürw orter v o n Currency Boards'.
T ran sp aren te Regeln u n d die E in fü h ru n g einer stabilen u n d konvertiblen
W äh ru n g erm öglichen d em gem äß sow ohl Stabilität als auch positive
Entw icklungsperspektiven: D e r autom atische A npassungsm echanism us
soll zu einer A n n äh eru n g v o n Inflations- u n d Z insraten an das A nker­
land führen u n d eine stabile konvertible W äh rung ist attraktiv für auslän­
dische Investoren u n d K red itg eb er (H an k e/S ch u ler 1992, 1994).
W as ist n u n das P ro b lem an d em Currency Board-M odell o d er anders
gefragt: W arum zeichnen sich m o d ern e G eldw irtschaften der „E rsten
W elt“ durch aktive G eldpolitik u n d unabhängige Z en tralb an k en aus,
w äh ren d ein Currency Board als eine „institutionalisierte unterentw ickelte
G eldverfassung“ (Schelkle 1999) charakterisiert w erden kann? D ie feh­
lende geldpolitische A uto n o m ie, m angelnde Flexibilität bei externen
Schocks o d er starren Preisen sowie die U nfähigkeit der Z entralbank, in
einer K risensituation dem G esch äftsb an k en sektor unbeg ren zt Liquidität
zu r V erfü g u n g zu stellen (Lender o f C ast R&rotf-Funktion) sind N achteile,
die selbst v o n Ö k o n o m e n neoliberaler bzw. m onetaristischer Provenienz
kritisiert w erden. A uch die notw endigen R ahm enbedingungen in F orm
eines ausgeglichenen Staatshaushalts sowie eines L eistungsbilanzüber­
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en e m 113

schusses sind gerade für E ntw icklungsländer schw er zu realisieren. O h n e


ausreichende D ev iseneinnahm en ist das W ährungsam t jedoch a u f K api­
talim porte angew iesen, um eine flexible G eldversorgung zu erreichen.
D ies bed eu tet eine steigende V erschuldung u n d som it eine d rohende
Zahlungsunfähigkeit nach außen, w äh ren d die fehlende Inender o f R ast Re­
sort-F unktion d er Z entralbank zu einer Z ahlungsunfähigkeit nach innen
bzw. einer Liquiditätskrise im F in an zsek to r fuhren kann.
O ffensichtlich entsprach die M arktkonstellation in A rgentinien nicht
dem Idealfall v o n L eistungsbilanz- u n d H aushaltsüberschüssen, sondern
genau dem Gegenteil: D ie D evisennachfrage in einem ho ch dollarisierten
B ankensektor u n d die Finanzierung des H andelsbilanzdefizits führte zu
einer steigenden A uslandsverschuldung u n d drohte in einen kum ulativen
P ro zess zu m ünden. D ie A bhängigkeit v o n volatilen K apitalzuflüssen
p roduzierte einen u n steten W achstum sprozess ähnlich dem Stop-and-Go-
Zyklus, d er n ich t geeignet w ar, stabile P rofiterw artungen zu w ecken un d
Investitionen zu fördern (Fritz 1999: 33).
Bei dem 1999 erfolgten Regierungsw echsel in A rgentinien stand der
K onvertibilitätsplan trotz der stagnativen W irtschaftslage nicht zur D is ­
position. D ie K o sten einer A ufgabe d er fixen P arität w urden als zu ho ch
eingeschätzt: E in e Freigabe des W echselkurses w ürde eine m ehr oder
w eniger drastische A bw ertung nach sich ziehen, die in einer hoch-
dollarisierten Ö k o n o m ie wie der argentinischen rasch zu einem Z u sam ­
m en b ru ch des U n ternehm ens- u nd B ankensektors sowie zu r Z ah lungs­
unfähigkeit des Staates führen könnte. E ine A bw ertung bedeutete die
A ufw ertung der Schulden (und G uth ab en ) in U S-D ollar u n d einen e n t­
sprechenden W ertverlust der P ositio n en in heim ischer W ährung: F ür
Banken, deren D ollareinlagen ihre K reditvergabe in Peso überstieg, w äre
eine A bw ertu n g eine E n tw e rtu n g der F orderu ngen im V ergleich zu ihren
V erbindlichkeiten. F ü r U n tern eh m en , die für den B innenm arkt p ro d u ­
zierten, jedoch in D ollar verschuldet w aren, w ürde es ebenfalls zu einer
A ufw ertung d er Schuldenbestände bei sinkenden E in n ah m en u n d zu ei­
ner d ro h en d en Insolvenz ko m m en — m it negativen Folgen für den ge­
sam ten B ankensektor. F ü r den Staat, der in erster Linie über das Steuer­
system E in n ah m en in heim ischer W äh ru n g hatte, dessen V erschuldung
aber zum g rö ß ten Teil in US$ abgeschlossen war, hätte eine A bw ertung
ähnlich prekäre K o n seq u en zen gehabt. A uch ein G roßteil der Bevölke­
ru n g hatte sich in der V ergangenheit ü b er großzügige K o n su m en ten k re­
dite in D ollar verschuldet: D ie private A uslandsverschuldung w urde für
1999 a u f 58 M rd. US$ g eschätzt (F ID E 1 2 /9 9: 7).
114 K atja H u jo

W u rd e eine A bw ertung als n ich t praktikabel angesehen, bedeutete die


B eibehaltung des Currency Board die N otw endigkeit einer A npassung des
realen W echselkurses ü b er D eflation, wie sie bereits in Folge der T equi-
la-K rise u n d seit d er brasilianischen A bw ertu n g in A rgentinien aufgetre­
ten war. D eflation führte jedoch zu R ezession u n d A rbeitslosigkeit, ohne
dass die W ettbew erbsfähigkeit durch fallende Preise signifikant erh ö h t
w erden konnte. A rgentinien hatte d urch P roduktivitätssteigerungen, Real­
lohnverluste u n d Inflationsraten, die seit 1995 u n te r dem internationalen
N iveau lagen, eine reale A bw ertu n g erreicht, die jedoch durch die A uf­
w ertu n g des U S-D ollar, sinkende R ohstoffpreise sowie A bw ertungen der
asiatischen u n d lateinam erikanischen Schw ellenländer sowie des E u ro -
R aum es zunichte gem acht w urde. L ohn- u n d Preisdeflation w ar entspre­
chen d ein sch m erzhafter W eg, der in kürzester Z eit an seine sozialen u n d
politischen G ren zen stieß.
S om it blieb die O p tio n einer vollständigen D ollarisierung, die v o n
P räsident M enem seit d er brasilianischen A bw ertung v eh em en t als
Schutz gegen spekulative A ttack en u n d h o h e R isikopräm ien sowie als
A k t der D em okratisierung (das G e ld d er E liten für das Volk) postuliert
w urde (M enem 2000). D ie A ufgabe des P eso w äre einem B eitritt zu einer
W ährungsunion m it den U SA gleichgekom m en, oh n e jedoch gem einsa­
m e G eld- u n d W irtschaftspolitik zu b etreiben u n d der B ankenaufsicht
der U S -Z entralbank zu unterliegen. E n tsp re ch e n d skeptisch reagierte
U S -Z entralbankpräsident A lan G reen sp an a u f das A nliegen der argenti­
nischen R egierung (Clarín, 24.02.99) u n d lehnte im plizit eine bilaterale
Ü berein k u n ft m it der Ü b ern ah m e v o n V erantw ortlichkeiten ab.

D er Finanzsektor

D e r argentinische Finanz- u n d B ankensektor erlebte in den 90er Jahren


nich t n u r ein bis dato ungekanntes W achstum , so n dern erfuhr im R ah­
m en des K onvertibilitätsplans u n d d er Liberalisierung auch eine um fas­
sende strukturelle T ransfo rm atio n . Z w ei gegensätzliche F aktoren beein­
flussten die Entw icklung: Z u m einen fü h rten die Preisstabilität, das ge­
stiegene V ertrauen d er in- u n d ausländischen V erm ögenseigentüm er in
das fixe W echselkurssystem u n d die im internationalen V ergleich h o h e
V erzinsung zu h o h e n K apitalzuflüssen u n d einer R em onetisierung der
Ö k o n o m ie, sinkenden aber v.a. in B ezug a u f E inlagen positiven Realzin­
sen sowie zu einer E rh ö h u n g des E inlagen- u n d K reditvolum ens. Z u m
anderen im plizierten jedoch das Currency Board u n d die ho h e D ollarisie­
ru n g Instabilität u n d die G e fa h r eines spekulativen Einlagenabzugs.
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M e n em 115

W äh ren d in d er expansiven P hase des K onvertibilitätsplans trotz o ffen ­


sichtlicher Ineffizienzen kaum strukturelle A n passungen im F inanzsektor
stattfan d en u n d die K o m b in atio n aus schw acher B ankenaufsicht u n d ag­
gressiver K reditpolitik (v.a. im Bereich der K onsum entenkredite) zu ei­
n e r A kkum ulation fauler K redite füh rte (R ozenw tircel/B leger 1998: 3*71-
381), erzw ang die T equila-K rise einen K o n zen trationsprozess sowie ver­
stärkte R eform anstrengungen der Z entralbank.
D as V ertrau en in die Stabilität des B ankensektors w ar so hoch, dass
durch die internationalen Finanzkrisen zw ischen 1997 u n d 1999 keine
N euauflage d er T equ ila-E rfah ru n g stattfand, sondern im G egenteil die
Einlagen zw ischen Juli 1997 u n d M ärz 2000 um ca. 15 M rd. US$ Z u ­
nahm en. D ie R ezession führte allerdings zu einer V erschlechterung des
K reditportfolios im B ankensektor, was in V erbindung m it den negativen
E ntw icklungsperspektiven in eine K red itk o ntraktion m ündete, die v.a.
den kleinen u n d m ittleren U n tern eh m en zu schaffen m achte. Flohe reale
K reditzinsen (für K lein u n tem eh m en im Schnitt 30% , für G ro ß u n te r­
n eh m en ca. 10%, F ID E 4 /9 8 : 27), eine starke Segm entierung des K red it­
sektors (nach G rö ß e u n d geographischer Lage der U nternehm en), das
F o rtb esteh en h o h e r Intermediations-jprftzd'.r zw ischen A ktiv- u n d P assiv­
zinsen, die Z insdifferentiale zw ischen Peso, Argendollar u n d US$ sowie
die in B ezug a u f In v estitionserfordernisse u n zureichenden K reditlaufzei­
ten w aren die H au p tp ro b lem e des Finanzsektors (R ozenw urcel/F ernän-
dez 1994: 79-80; R o zen w u rcel/B leg er 1998: 392). E in e Z u n ah m e der
K reditbeziehungen in heim ischer W äh ru n g w ar nicht zu beobachten,
w o d u rch eine dynam ische Investitionsentw icklung beh in d ert w urde. U m
finanzierbare Pesokredite zu erhalten, w ar die M ehrzahl der kleinen u n d
m ittleren U n tern eh m en a u f die verbleibenden staatlichen G ro ß b an k en
angew iesen, die spezielle subventionierte K reditlinien vergaben.

D as E nde der nachholenden Industrialisierung

D ie A usw irkungen d er m akro ö k o n o m isch en R ahm enbedingungen in ei­


n e r Ö k o n o m ie sind en tscheidend für die W ettbew erbsfähigkeit des p ro ­
duktiven Sektors. E in e Strategie n a c h h o le n d er E ntw icklung, die au f
einem kum ulativen Prozess steigender E x p o rte u n d steigender Investitio­
nen b e ru h t (und som it einen A b b au d er V erschuldung, bzw. eine Im ­
portfinanzierung durch E x p o rterlö se erlaubt), erfordert einen u n terb e ­
w erteten fixen W echselkurs u n d eine stabilitätsorientierte B udget- u n d
L ohnpolitik, w äh ren d die G eldpolitik die Investitions- u n d E x p o rten t­
w icklung u n te rstü tz t (Riese 1997: 99-100). E in überbew erteter W echsel­
116 K atja H u jo

kurs hingegen b eh in d ert die E xportentw icklung u n d in V erb in d u n g m it


einer A ußenhandelsliberalisierung u n d der resultierenden Im p o rtk o n k u r­
renz die H erausbildung einer rentablen heim ischen Produktion.
Bei d er F estsetzung des W echselkurses im R ahm en des Plan Cavallo
w urde bew usst ein ü berbew erteter K urs angesetzt, u m die vollständige
D eck u n g der G eldm enge durch D evisenreserven zu erleichtern, die Be­
lastung des externen Schuldendienstes zu verringern u n d die notw endige
Preisniveaustabilisierung m it billigen Im p o rten zu fördern. D ie Ü b erb e­
w ertu n g verschärfte sich durch die h ohe R estinflation 1991 u n d führte
bereits 1992 in V erbindung m it der radikalen A u ß en ö ffn u n g zu einer
Passivierung d er H andelsbilanz. D e r steigende W ettbew erbsverlust der
heim ischen Industrie, w elche sich gegen eine Schw em m e billiger Im p o rte
beh aupten m usste, führte zu U n tem eh m en szusam m enbrüchen v.a. bei
m ittelständischen Firm en u n d zu nehm enden F orderungen nach kom ­
pensierenden M aßnahm en. D ie Regierung entsprach diesen Forderungen
zum Teil ü b er die 1992 eingeführten E xp o rtrückerstattungen u n d E x ­
p ortfö rd erp ro g ram m e (Sirlin 1999), einer E rh ö h u n g der Im portzölle,
P räferenzabkom m en (v.a. K fz-Industrie) im R ahm en des M ercosur, der
Senkung d er A rbeitgeberbeiträge zu r Sozialversicherung u n d d u rch spe­
zielle K reditlinien des öffentlichen Bankensektors.
D ie globale B enachteiligung durch den W echselkurs u n d der ho h e
R efo rm d ru ck nach d er H andelsliberalisierung führte jedoch tro tz der
notw endigen U m strukturierungsprozesse zu r V erdrängung ganzer In d u s­
triesektoren (K apitalgüter-, E lektro-, Textilindustrie), deren W ettb e­
w erb sfäh ig k eit n ic h t wie bei den trad itio n ellen P rim ärg ü te rn u n d
ressourcennahen Industriezweigen (Öl, Gas, N ahrungsm ittel) au f kom para­
tive V orteile o d e r wie im D ienstleistungsbereich au f quasi-m onopolisti­
sche M arktbedingungen zurückgeführt w erden k o nnte (B ekerm an/Sirlin
1996: 131; M essner 1997: 222-223). D ie 90er Jah re in A rgentinien w aren
entsp rech en d durch extrem e D eindustrialisierungsprozesse u n d eine
S chrum pfung technologie- u n d arbeitsintensiver B ranchen im Vergleich
zu w ertschöpfungsarm en, ressourcennahen Bereichen gekennzeichnet,
was negative A usw irkungen au f B eschäftigung u n d langfristiges W achs­
tum hat.
D e r instabile W achstum sprozess der W irtschaft, der abhängig vo n
volatilen internationalen K apitalim porten u n d schw ankenden R o h sto ff­
preisen war, generierte negative Profiterw artungen, die im K o n tex t einer
D eflation n o ch v erstärkt w urden u n d b rem ste die Investitionsentw ick­
lung. N a c h der Brasilienkrise verlegten zahlreiche argentinische U n te r­
n eh m en ihre P ro d u k tio n in das N achbarland Brasilien, w o die Produkt!-
D ie W irtschaftspolitik d e r R egierung M en em 117

onsko sten je nach B ranche zw ischen 30-60% niedriger w aren —ein deu t­
liches V o tu m ü b er die S tandortqualität A rgentiniens. W eder der F inanz­
sektor n o ch der a u f einen ständigen Sparkurs festgelegte öffentlich Sek­
to r w ar dazu in d er Lage, durch eine en tsprechende K reditpolitik oder
öffentliche In v estitionen einen positiven Im puls zu leisten.

Grafik 3: E xportstruktur 1999 (in Prozent)

Brennstoffe

R ohstoffe
22%

M OA
35%

Quelle: FIDE Jan./Feb. 2000: 16. MOI=verarbeitete Industriegüter, MOA=verarbeitete Agrargüter

Kein E nde der Austerität in Sicht

Im K o n tex t des K onvertibilitätsschem as hing die G laubw ürdigkeit der


W irtschaftspolitik in erster Linie v o n einer erfolgreichen Fiskalpolitik ab,
da die restlichen Politikvariablen „auto m atisch“ b estim m t w urden, eine
D efizitfinanzierung ü b er die N o ten p resse v erw ehrt w ar u n d allein die
118 K atja H u jo

B udgetpolitik aktive Politikgestaltung erm öglichte. Z u d em w ar der E r­


folg bei d er fiskalischen K onsolidierung für die existenziell notw endigen
B eziehungen m it den m ultilateralen K reditorganisationen sowie für die
R isikoeinstufung des L andes a u f den internationalen Finanzm ärkten vo n
zentraler B edeutung. H in zu kam die N otw endigkeit, ü b er das indirekte
In stm m e n t d er Fiskalpolitik das externe U ngleichgew icht zu beheben,
indem eine K o rrek tu r des ü berbew erteten W echselkurses durch eine
Senkung v o n Steuern u n d A bgaben angestrebt w urde.
W äh ren d der expansiven P hase v o n 1991-94 k o n n ten die ehrgeizigen
Ziele eines ausgeglichenen B udgets aufgrund der h o h en Steuer- u n d P ri­
vatisierungseinnahm en u n d relativ geringer S chuldendienstverpflichtun­
gen erfüllt w erden. Seit 1995 verschärfte sich der D ru ck a u f die H a u s­
haltspolitik jedoch extrem , da eine stagnierende bzw. deflationierende
W irtschaft zu geringeren Steuereinnahm en u n d höh eren Staatsausgaben
für Sozial- Beschäftigungs- u n d Industriepolitik führte. Z u d em erh öhten
sich die A usgaben für Z ins- u n d T ilgungszahlungen der Staatsverschul­
dung, die sich ab 1991 m eh r als v erd o p p elt hatte, drastisch u n d ver­
schlangen am E n d e d er Regierung M enem 73% der E xporterlöse
(D resd n er Bank 3/20 0 0 : 4). D as m ehrfach nach ob en korrigierte D efizit
v o n 1999 in H ö h e v o n ca. 7 M rd. US$ (2,44% des BIP) in V erbindung
m it einem D efizit der P rov in zen in H ö h e v o n 3,7 M rd. US$ zw ang die
au f M enem folgende Regierung zu im m er neuen Sparprogram m en.

Arbeitsm arktflexibilisierung als L ösung der Beschäftigungskrise?

D ie h o h e A rbeitslosigkeit u n d U nterbeschäftigung im A rgentinien der


90er Jah re stellte das drängendste soziale P ro b lem dar. D ie U rsachen der
Beschäftigungskrise lagen im N iedergang der arbeitsintensiven Industrie­
branchen in V erb in d u n g m it den m assiven E n d assungen im Z uge der
Rationalisierung d er öffentlichen V erw altung u n d der Privatisierung der
Staatsbetriebe. D e r R ückzug des Staates aus seiner Rolle als A rbeitgeber
w urde n ich t ü b e r den M arkt kom pensiert, weil eine B eschäftigung von
heim ischen R essourcen aufgrund d er m akroö k onom ischen K onstellation
nich t rentabel war.
A u ch die zuneh m en d e E in k o m m en sk o n zentration sowie die negative
R eallohnentw icklung spiegelten den D ru ck a u f den L o h n sek to r wider.
D as Z urückbleiben der R eallöhne bei expansivem W irtschaftsw achstum
bis 1994 w ar u.a. a u f den h o h en H andlungsspielraum der peronistischen
R egierung gegenüber den G ew erkschaften zurückzu führen u n d v erh in ­
derte einen Inflations druck ü b er Lohn-Preis-Spiralen. Z w ischen 1991-94
D ie W irtsch a ftsp o litik d e r R eg ieru n g M en em 119

w u rd en ca. 350.000 A rbeitsplätze abgebaut. Schvarzer (1997: 265-66)


schätzt den V erlust d er In dustriearbeitsplätze seit E n d e der 80er Jah re
a u f 20% u n d den A b b au im R ahm en der Privatisierungen zw. 1990-94
a u f ca. 200.000. L eider k o n n te diese stabilitätsorientierte L ohnpolitik
n ich t in den D ien st einer A bsicherung einer U nterbew ertungsstrategie
gestellt w erden, sond ern m usste allein die negativen Folgen der Ü b erb e­
w ertu n g kom pensieren.
Z u r B ekäm pfung d er A rbeitslosigkeit versuchte die R egierung M e­
nem , ü b er A rbeitsm arktflexibilisierung, öffentliche B eschäftigungspro­
gram m e u n d eine E n tlastu n g d er A rbeitgeber A bhilfe zu schaffen. W äh­
ren d die letzten beiden M aßnahm en zu einer Belastung des ohnehin
strapazierten B udgets führten u n d ihre B eschäftigungseffekte vielfach in
Zw eifel gezogen w urden, ru h ten viele H o ffn u n g en a u f der Flexibilisie­
ru n g des A rbeitsm arktes — ein Projekt, das aufgrund der starken G e­
w erkschaftsopposition w äh ren d d er A m tszeit M enem s nur zum Teil un d
p er D e k re t realisiert w erden k o n n te (T o rre /G e rc h u n o ff 1999: 29-44)
u n d deshalb u n te r d er R egierung D e la Rúa erneut au f der A genda stand.
D e r A rbeitsm arkt w ar auch E n d e d er 90er Jah re aufgrund einer Viel­
zahl v o n Regelungen rigide organisiert: Zeitlich unbefristete V erträge,
h o h e E ntschädigungszahlungen bei E ntlassungen, ho h e L oh n n eb en k o s­
ten sowie zentralisierte T arifverhandlungen schränkten die Flexibilität
v o n E instellungen u n d E ntlassungen sowie d er L o h n festsetzu n g ein.
D ie starke B etonung der N otw endigkeit einer um fassenden R eform
des A rbeitsm arktes auch v o n Seiten in ternationaler G läubigerorganisati­
o n en täuscht darü b er hinw eg, dass die B eschäftigungskrise A usdruck der
stagnativen T en d en z des gew ählten E ntw icklungsm odells ist. A uch eine
n o ch so flexible L ohn festsetzu n g u n d E instellungspolitik in V erbindung
m it niedrigen Sozialversicherungsbeiträgen ist nicht hinreichend, u m die
W eltm arktfähigkeit d er argentinischen P ro d u k tio n zu gew ährleisten.

Fazit

D as argentinische E ntw icklungsm odell u n te r der R egierung M enem ent­


sprach dem neoliberalen Zeitgeist der 90er Jah re u n d schien im K o n tex t
der H yperinflation als geeignetes In stru m en t, u m rasche Stabilisierung
m it W achstum zu erzielen. M it der Im p lem entierung eines Currency Board
w urde jedoch ein W eg eingeschlagen, der die produktive E ntw icklung
des Landes system atisch behinderte. A rgentinien käm pfte zw ar nach
zeh n Jahren peronisrischer R egierung nicht m ehr m it einer h o h en Infla­
tion, w ar aber dem Stop-and-Go-Ty^Bws, der internationalen K apitalström e
120 K atja H u jo

unterw o rfen , w as einen stabilen W achstum sprozess m it B eschäftigungs­


perspektiven u nterband.
D ie A bhängigkeit v o n K apitalim porten veranlasste die Regierung
M enem zu einer ständigen D em o n stratio n ihres m arktorientierten R e­
form w illens: S tatt „Politikversagen“ zu riskieren sollte paradoxerw eise
eine E lim inierung des w irtschaftspolitischen H andlungsSpielraum s die
G laubw ürdigkeit derselben erhöhen. O h n e G eld-, W echselkurs- u n d
H andelspolitik lastete jedoch d er A n p assungsdruck insbesondere a u f der
Fiskal- u n d E inkom m enspolitik. D ass dies n ich t nachhaltig ist, zeigte
sich an der w achsenden S taatsverschuldung, der E ntledigung staatlicher
A ufgaben in d er Sozial-, B ildungs- u n d Investitionspolitik u n d den w ach­
senden sozialen P ro b lem en in F o rm v o n A rbeitslosigkeit, A rm ut, einer
Individualisierung v o n sozialen Risiken (R entenversicherung, A rbeits­
m arkt) sowie sinkenden Reallöhnen.
D as M enem sche E rb e w ar für die R egierung D e la Rúa n ich t einfach
zu handhaben: D ie H an d lu n g so p tio n en in B ezug a u f den K onvertibili­
tätsplan —A bw ertung, D eflation o d er D ollarisierung — w aren w enig at­
traktiv, d er A u sv erk au f u n d das V erschw inden (über K onkurs oder
Standortverlegung) ganzer W irtschaftszw eige w ar n u r bedingt bzw.
ü b e rh a u p t n ich t rückgängig zu m achen, staatliche R essourcen für drin ­
gend notw endige M odem isierungs- u n d Sozialm aßnahm en standen nicht
zu r V erfügung. A u f die R egierung D e la Rúa kam en dam it große H erau s­
forderungen zu, um neb en den notw endigen M arktsignalen an die in ter­
nationale Finanzw elt auch glaubhafte Signale an die eigene B evölkerung
zu senden, dass d er Preis d er Stabilität n ich t in der A ufgabe des argenti­
nischen E ntw icklungstraum es bestünde.

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Susana Sottoli

Sozialpolitische Reformen und soziale Entw icklung

E inleitung

A rgentinien g ehörte zu den P ioniernationen der Sozialpolitik in L atein­


amerika. Bereits in den letzen Jah ren des 19. Jahrhunderts w urden die
G rundlagen für ein universell angelegtes, kostenloses u n d obligatorisches
G rundschulw esen geschaffen. D ie ersten S ozialversicherungsprogram m e
starteten A nfang des 20. Jah rh u n d erts. V o r dem H intergrund der im ­
p o rtsu b stitu ieren d en Industrialisierung w uchs der Staat in den 1940er
u n d 1950er Jahren in die Rolle einer zentralen Steuerungsinstanz hinein
u n d griff, u.a. durch institutionelle In n o v ationen, sozialpolitische G e ­
setzgebung u n d F ö rd eru n g d er gew erkschaftlichen O rganisation, aktiv in
die G estaltung der A rbeitsbeziehungen ein. Indem der Staat a u f w ach­
sende F o rderungen unterschiedlicher korporatistischer Interessengrup­
p e n m it sozialpolitischen Z ugeständnissen reagierte, entw ickelte sich die
Sozialpolitik zu einem w ichtigen M echanism us der verteilungspolitischen
K onfliktregulierung u n d d er sozialen u n d w irtschaftlichen Integration.
D ie m aterielle G rundlage für diese Politik bildeten die relativ günsti­
gen w irtschaftlichen B edingungen d er 1940er u n d 1950er Jahre, die ver­
teilungspolitische Spielräum e für eine expansive Sozialpolitik schufen.
D ie sozialpolitische E x p an sio n schlug sich auch in ausgedehnten L eis­
tungen insbeso n d ere im Bildungs- u n d G esundheitsw esen sowie in
w achsenden öffentlichen Sozialausgaben nieder. So en tstan d ein sozial­
politisches System , das hinsichtlich Reichw eite, A ufw endungen u n d E r­
gebnissen (etwa hinsichtlich sozialer Indikatoren wie A lphabetisierung,
L ebenserw artung, K indersterblichkeit) an d er Spitze der lateinam erikani­
schen L änder lag.
D ie strukturellen Schw ächen dieses W ohlfahrtsm odells traten jedoch
spätestens u n te r dem E in d ru ck d er sich ab den 1960er un d verstärkt ab
den 1970er Jah ren v erschlechternden w irtschaftlichen R ahm enbedingun­
gen zutage: A u f organisatorischer E b e n e handelte es sich um ein frag­
m entiertes, stark zentralisiertes u n d bürokratisiertes System. T rotz der im
Laufe der Z eit w achsenden staatlichen Sozialausgaben verzeichneten die
sozialen D ienstleistungssystem e —insbeso n d ere das Sozialversicherungs-
126 Susana S ottoli

system — aufgrund v o n E ffizienzproblem en ständig finanzielle Defizite.


Z w ischen dem program m atisch erho b en en universellen Leistungsan­
spruch d er Sozialpolitik u n d der je nach beruflichen, sozialen o d er geo­
graphischen K riterien qualitativen Segm entierung sozialer Leistungen
u n d P ro g ram m e klaffte eine zu n ehm ende Lücke. D as sozialpolitische
System wies stark klientelistische Z üge auf; die arm en B evölkerungs­
g ru p p en blieben v o n den sozialpolitischen L eistungen w eitgehend ausge­
schlossen, in sbesondere diejenigen, die n ich t im form ellen A rbeitsm arkt
integriert w aren sowie auch die ländlichen A rm en.
D ie R ezession u n d m akroökonom ische Instabilität der 1980er Jahre
verschlim m erten die P roblem e des sozialpolitischen Systems no ch w ei­
ter. M it dem R edem okratisierungsprozess ab 1983 u n d der dam it einher­
geh en d en Ö ffn u n g politischer u n d gesellschaftlicher H andlungsSpiel­
räum e fanden die im repressiven K o n tex t des M ilitärregimes unterd rü ck ­
ten sozialen P ro b lem e zu n eh m en d A usdruck. D as sozialpolitische Sys­
tem erwies sich als unfähig, die negativen Folgekosten der K rise der
1980er Jah re abzufedem . E s v erm ochte nicht, au f die durch A rbeitslo­
sigkeit u n d sinkende R ealeinkom m en erh ö h te N achfrage nach sozialen
D ienstleistungen flexibel u n d effizient zu reagieren. D arü b e r hinaus ver­
fügte die staatliche Sozialpolitik, die sich stark a u f die traditionellen Be­
reiche wie B ildung u n d Sozialversicherung konzentrierte, nicht über die
geeigneten In stru m en te u n d Program m e, u m die v o n V erarm ungspro­
zessen b etro ffen en B evölkerungsgruppen auffangen zu können.
D iese K onstellation führte u n te r der Regierung A lfonsin zu einer
P rioritätensetzung, die ü b er das kurzfristige K nsen m an ag em en t hinaus
n u r vereinzelte A b federungsprogram m e u n d restitutive M aßnahm en (wie
etw a die A b sch affu n g d er v o n d er M ilitärregierung eingeführten Studien­
geb ü h ren an d en U niversitäten), aber keinen artikulierten sozialpoliti­
schen A nsatz beinhaltete. Im K o n tex t einer H yperinflation vo n über
3000% , eines M inusw achstum s v o n m e h r als 6% u n d zuneh m en d er so­
zialer u n d politischer U n ru h e gew ann 1989 der peronistische K andidat
Carlos M enem die Präsidentschaftsw ahlen. A ngesichts der w irtschaftli­
chen N otlage verfügte M enem bei seinem A m tsantritt über einmalige
politische H andlungsspielräum e, um einen drastischen K ursw echsel in
der W irtschaftspolitik v orzunehm en, der nach Chile u n d Bolivien den
d ritten rigorosen Ü bergang zum N eoliberalism us darstellte. Zielsetzung
der m arktw irtschaftlichen R efo rm en w aren die W iederherstellung der
W ährungsstabilität, die R ücknahm e des Staatsinterventionism us, die P ri­
vatisierung der öffentlichen U n tern eh m en , die A u ß en ö ffn u n g der W irt­
schaft u n d die Suche nach n euen externen M ärkten.
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 127

N ach den ersten positiven E rgebnissen des w irtschaftlichen Stabili­


sierungsplans v o n 1991 n ah m die R egierung M enem ab 1992 u n d ver­
stärkt im Ja h r 1993 einige sozialpolitische R eform m aßnahm en in A ngriff,
die Parallelen zu r w irtschafts- u n d entw icklungspolitischen R eform poli­
tik erkennen ließen. D iese R eform en zeichneten sich in der Regel durch
die E inschaltung privater u n d /o d e r lokaler T räger sowie die E in fü h ru n g
m arktw irtschaftlicher E lem en te in der Bereitstellung u n d D u rch fü h ru n g
sozialer D ienstleistungen aus u n d fü h rten zu einer N eudefinition der
Rolle des Staates im sozialen Bereich. E s handelte sich um folgende
M aßnahm en: die E in rich tu n g arm utsorientierter Sozialprogram m e, die
T eilprivatisierung der R entenversicherung, D eregulierungsm aßnahm en
im G esundheits- u n d B ildungsw esen sowie die Ü bertragung v o n K o m ­
peten zen im Bildungs- u n d G esundheitsbereich v o m Z entralstaat au f die
P rov in zen (A bbildung 1).
D e r folgende B eitrag analysiert in einem ersten Teil die w ichtigsten
E lem ente d er genannten R eform en. Im A nschluss daran erfolgt ein Blick
a u f die soziale E ntw icklung w äh ren d d er P räsidentschaft v o n Carlos
M enem . D ab ei g eh t es um die w ichtigsten Sozialindikatoren sowie um
die P h än o m en e A rm u t u n d E inkom m ensverteilung. D e r Beitrag endet
m it einigen allgem eineren Schlussfolgerungen hinsichtlich der A usgestal­
tung der Sozialpolitik u n te r d er peronisrischen Regierung.

Sozialpolitische Reform en unter der R egierung M enem

A us A nlass des Sozialgipfels d er V ereinten N atio n en in K openhagen


1995 (C N C D S 1995) stellte die R egierung M enem ihre sozialpolitische
Program m atik dar. D e m offiziellen B ericht der nationalen K om m ission
für soziale E ntw icklung zufolge sollte die Sozialpolitik nach folgenden
K riterien form uliert u n d d u rch g efü h rt w erden: A rm utsorientierung, D e­
zentralisierung, integriertes sozialpolitisches H andeln sowie Partizipation
d er B etroffenen bei d er Form ulierung u n d D u rc h fü h ru n g v o n P ro ­
gram m en u n d deren E valuierung im H inblick au f das Ziel der E ffizienz­
steigerung. Als sozialpolitische Schw erpunkte w urden Bildung, B eschäf­
tigung, S lum san ieru n g u n d A rm u tsb e k ä m p fu n g festgelegt. D ieses
D o k u m e n t definierte program m atisch einen „neuen sozialpolitischen A n­
satz“, der eine A b k eh r v o n traditionellen staatszentrierten F orm en der
sozialpolitischen In terv en tio n sowie eine U m orientierung der Sozialpoli­
tik im Sinne v o n m e h r E ffizienz, T ransparenz un d Partizipation als V o r­
aussetzung einer w irksam en A rm utsb ek äm p fung beinhaltete (C N C D S,
1995: 23). Im folgenden w ollen w ir a u f die sozialpolitischen M aßnahm en
128 Susana S otto li

der R egierung M enem eingehen, die hinsichtlich A rm utsbekäm pfung,


Privatisierung u n d D ezentralisierung sozialer D ienstleistungen tatsäch­
lich eingefuhrt w urden.

A b b ild u n g 1: S o z ia lp o litik in A rg en tin ien unter der R e g ier u n g M en em

V erhältnis W irt­ Sozialpolitik w ird w eitgehend der W irtschaftspolitik untergeordnet;


schafts- u n d So­ Sozialpolitische M aßnahm en in Funktion des w irtschaftlichen Re­
zialpolitik form program m s;
Sozialausgaben Steigende T endenz seit 1990 (BIP-A nteil von ca. 18% im Jahr 1997);
A rm utsbekäm ­ E inrichtung vereinzelter u n d kurzlebiger kom pensatorischer N o t­
pfung hilfeprogram m e;
E inrichtung eines Sozialinvestitionsfonds (FO PA R) m it Schw er­
p u n k t soziale Infrastruktur und F örderung produktiver Projekte;
A rm utsbekäm pfung keine sozialpolitische Priorität;
E inführung Ziel: Staatliche Sozialpolitik soll sich a u f eine Regulierungsfunktion
m arktw irtschaft­ beschränken. D eregulierende und liberalisierende M aßnahm en sol­
licher E lem ente len den privaten Sektor im sozialen Bereich fördern u n d den Staat
im Sozialbereich finanziell entlasten.
und Privatisie­ M aßnahm en:
rung
L iberalisierungsm aßnahm en im Bildungssektor;
E in fü h ru n g v o n FIffizienz- und Leistungskriterien sowie von w ettb e­
w erbsorientierten E lem enten im H ochschulsektor;
Schaffung der gesetzlichen M öglichkeit, S tudiengebühren in H och­
schulen einzuführen;
D eregulierungsm aßnahm en im K rankenversicherungssystem (E in­
führung der W ahlm öglichkeit der V ersicherten hinsichtlich der
K rankenkassen);
E inführung eines gem ischten R entenversicherungssystem s (K om bi­
nation von U m lageverfahren u n d K apitaldeckungsverfahren);
D ezentralisie­ Ziel: Politische und adm inistrative D ezentralisierung. Schw erpunkt
rung a u f finanzieller E ntlastung des Zentralstaates.
M aßnahm en:
F ortsetzung der D ezentralisierung sozialer D ienstleistungen: Ü ber­
tragung der E inrichtungen des Sekundarschulw esens u n d des nicht
universitären H ochschulw esens (Lehrerausbildung) sowie derjenigen
nationalen K rankenhäuser an die Provinzen, die noch u n ter dem
Zuständigkeitsbereich der N ationalregierung standen.
Quelle: Sottoli 1999.
S ozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ic k lu n g 129

Armutsorientierte Sozialhilfeprogram m e

Bis E n d e d er 1970er Jah re bildete die A rm utsbekäm pfung keinen


S chw erpunkt d er argentinischen Sozialpolitik. N u r selten w urden P ro ­
gram m e u n d E inzelm aßnahm en selektiv a u f die in extrem er A rm u t le­
b enden B evölkerungsgruppen ausgerichtet. In den 1980er Ja h ren u n d im
Z uge dram atischer V erarm u n g sp ro zesse1 richtete die R egierung A lfonsin
einige k o m pensatorische Sozialprogram m e ein. D ie A ufm erksam keit
richtete sich w egen seiner R eichw eite u n d w egen des V olum ens der ein­
gesetzten M ittel beson d ers a u f das nationale E m äh ru n g sp ro g ram m (Pro­
grama Alim entario Nacional - P A N ), d urch das landesw eit L ebensm ittelpa­
kete verteilt w urden: 1986 erreichte das P ro gram m ca. 5,5 Mio. M en­
schen, bei einer G esam tbevölkerung v o n 30 M illionen; täglich w urden
ca. 1.000 T o n n e n L ebensm ittel verteilt, die ca. 30% der E m äh ru n g sb e-
dürfnisse einer vierköpfigen Fam ilie abdeckten. D ie Z ielgruppenorientie­
ru n g erfolgte beim P A N m eistens geographisch, au f der Basis v o n A r­
m utsprofilen, die v o m N atio n alen In stitu t für Statistiken u n d Z ensus
(IN D E C ) erstellt w u rd en {Queisser u.a. 1993: 50). Als eine „typische“
Strategie d er A rm u tsb ek äm p fu n g durch E m ährungsbeihilfen, die in ei­
nem für lateinam erikanische V erhältnisse reichen L and um gesetzt w urde,
dessen W irtschaft a u f dem E x p o rt v o n G etreide u n d Rindfleisch aufge­
b au t w o rd en war, signalisierte die E in rich tu n g des P A N das dram atische
A usm aß der w irtschaftlichen K rise.
D as P ro g ram m zielte darauf, die „kritische U nterernährungslage der
in ex trem er A rm u t leb en d en B ev ö lk eru n g sg ru p p en “ zu bew ältigen
G o/bert/i^m i, 1991:15). M an ging davon aus, dass solche N othilfem aßnah­
m en v o rü b erg eh en d er N a tu r sein w ürden, d enn bald w erde die dem okra­
tische R egierung dazu in der Lage sein, das L an d w ieder a u f W achstum s­
kurs zu bringen u n d som it die soziale Lage d er breiten B evölkerung qua­
si autom atisch zu verbessern. D as A usm aß der K rise u n d ihre gravieren­
den sozialen Im p lik atio n en w aren offensichtlich vo n den politischen
A kteuren n o ch n ich t w ah rg en o m m en w orden. D as P A N w urde bis 1988
zweim al verlängert. Schließlich erklärte die R egierung M enem das P ro ­
gram m 1989 für beendet, allerdings n ich t im Z uge einer zurückgew on­
nen Prosperität, so n d ern vielm ehr a u f dem H ö h ep u n k t der Krise. D iese
E n tsch eid u n g w urde dam it begründet, dass die R egierung A lfonsin das
P A N klientelistisch instrum entalisiert habe.

1 N ach offiziellen A ngaben erhöhte sich die A rm utsquote zw ischen 1980 u n d 1986
von 6,14% a u f 11,33%. Z u r A rm utsentw icklung vgl. T abelle 2 u. 3.
130 S usana S ottolí

A u f Initiative d er Regierung M enem w urde kurz nach ihrem


A m tseintritt ein neues kom pensatorisches N o thilfeprogram m eingerich­
tet (Bono Nacional de Emergencia), w elches in einigen konzeptionellen As­
pekten v o m P A N abwich. Z w ar w urden allgemein dieselben Ziele u n d
Zielgruppen definiert, die H ilfe w urde aber durch die V ergabe v o n B ons
verm ittelt, w elche die L eistungsem pfánger gegen L ebensm ittel un d
K leidung eintauschen konnten. A uch hinsichtlich des E rm ittlungs- un d
Selektionsverfahren u n terschieden sich P A N u n d das Bo«ar-Programm:
D ie potenziellen Bo/zor-Empfänger sollten die H ilfe individuell bei den
kom m unalen V erw altungen beantragen, indem sie offiziell u n d schrift­
lich ihre B edürftigkeit erklärten. W ährend das P A N ausschließlich m it
staatlichen M itteln finanziert w urde, w urde das Bö/zor-Programm au f
V orschlag der Regierung zu m Teil v o n einer G ru p p e v o n 1.000 fü hren­
den nationalen U n tern eh m en finanziert. D as P rogram m w urde w egen
K orruptions- u n d K lientelism usvorw ürfen E n d e 1990 früher als u r­
sprünglich vorgesehen abgebrochen.
H erv o rh eb en w ollen w ir hier drei M erkm ale des Bonos-Program m s,
an denen zum indest Z üge einer neuen sozialpolitischen O rientierung im
V ergleich zur traditionellen Sozialpolitik A rgentiniens zu erkennen sind,
näm lich: a) eine deutliche A rm utsorientierung, b) ein individueller, au f
B edürftigkeitsprüfung basierender /¿zrzp/z’«i;-M echanismus, der sich eben­
so v o m kollektiven u n d geographischen targeiing-Verfahren des P A N u n ­
terschied, sowie c) die E inb ezieh u n g v o n privaten A kteuren bei der Fi­
nanzierung staatlicher Sozialprogram m e. A bgesehen davon w ar sow ohl
beim P A N als auch beim ßö/zar-Programm nach wie v o r der m aßgebliche
Einfluss v o n m achtpolitischen u n d parteipolitischen F aktoren bei der
Form ulierung u n d D u rch setzu n g sozialpolitischer P rogram m e festzustel­
len. D ies w urde beim folgenden P rogram m n o ch offensichtlicher.
A b M itte 1990 entw ickelte die P rovinzregierung v o n B uenos Aires
ein neues E rn äh ru n g sp ro g ram m (Programa Alim entario Integraly Solidario —
PA IS), das sich gezielt an die b edürftigsten B evölkerungsgruppen richte­
te. D as PAIS sah drei S chw erpunktm aßnahm en vor: E m ährungsbeihil-
fen für Familien, S elbstversorgung u n d F ö rd erung pro d u k tiv er Projekte.
Z u n äch st w urden Schulkantinen organisiert, in denen G ru p p e n vo n 5 bis
20 Fam ilien sich für das E inkäufen u n d die Z u b ereitu n g vo n L eb en sm it­
teln sowie zum E ssen zusam m entaten. A u f d er Basis v o n existierenden
B asisorganisationen en tstan d eine O rganisatio nsstruktur m it gew ählten
V ertretern (über 60% Frauen). P roduktive Projekte u n d K leinuntem eh-
m er w u rd en m ittels K red iten bzw. finanziellen Beihilfen gefördert.
So 2Íalpolitische R efo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 131

D ie E in rich tu n g des Program m s m uss v o r dem H in terg ru n d der G e­


gensätze zw ischen d er peronistischen R egierung M enem u n d dem eben­
falls peronisrischen G o u v ern eu r v o n B uenos Aires, A n to n io C añero, in­
terpretiert w erden. D ieser hatte bei den V orw ahlen u m die peronistische
P räsidentschaftskandidatur für die nationalen W ahlen v o n 1989 gegen
M enem verloren. Als G o u v ern eu r v o n B uenos Aires bezog C añero ö f­
fentlich gegen das rigorose Stabilitäts- u n d S trukturanpassungsprogram m
M enem s Stellung u n d betrieb in B uenos Aires eine Politik der sozialen
A bfederung. D as P rogram m w urde kurz nach einer Reihe v o n P lünde­
rungen v o n L ebensm ittelgeschäften eingerichtet, die in Folge zuneh m en ­
d er sozialer U n ru h e in G ran Rosario, G ran B uenos Aires un d C ordoba
stattfanden. E s ist d aher als R eaktion a u f eine angespannte soziale Lage
zu interpretieren. O b w o h l nach dem Regierungsw echsel in der Provinz
B uenos Aires die P ro g ram m m aß n ah m en teilweise fortgesetzt w urden,
k o n n te die institutionelle u n d finanzielle K o n tin u ität des PA IS langfristig
nicht gesichert w erden.
1992 richtete die damals ebenfalls peronisrische R egierung der Stadt
B uenos Aires das Pro g ram m Plan de Justicia Social (PJS) ein, dessen
A ktivitäten sich im G ro ß ra u m B uenos Aires u n d vornehm lich au f
Infrastru k tu rarb eiten sowie die B ereitstellung vo n sozialen G ru n d ­
diensten konzentrierten. Finanziert w urde das P rogram m m it 10% des
A ufkom m ens aus d er G ew innsteuer. D as PJS, dem politisch-klientelisti-
sche Instrum entalisierung vorgew orfen w urde, soll bei den W ahlerfolgen
des P eronism us 1995 eine w ichtige Rolle gespielt haben (R epetto 1994:
140fi; H aldenw ang 1996: 187).
G escheiterte u n d inkonsistente Sozialprogram m e, die m eist nach
kurzer Z eit w ieder ab gebrochen w urden, führten zu einem zu n eh m en ­
den G laubw ürdigkeitsverlust der R egierung M enem in bezug a u f ihre so ­
zialpolitische Problem lösungskapazität. Im G ru n d e spiegelte dies das
Fehlen einer k o nsistenten sozialpolitischen Strategie zu r Bew ältigung der
sozialen Folgekosten d er w irtschaftlichen U m strukturierung w ider. Le­
diglich vereinzelte P rogram m e w aren w eitgehend frei v o n politischen In ­
strum entalisierungsversuchen, v o r allem aufgrund externer finanzieller
u n d technischer U nterstützung. E in Beispiel dafür ist das M utter-K ind-
P rogram m (P R O M IN ), das m it W eltbank-F inanzierung u n d technischer
U n terstü tzu n g v o n U N IC E F u n d U N D P einen integrierten arm utsorien­
tierten A nsatz m it E m äh ru n g s-, Bildungs- u n d G esu n d h eitsk o m p o ­
n en ten aufwies. Z en tral definierte Z ielvorgaben, dezentralisierte D u rc h ­
führu n g u n d strenge Z ielgruppenorientierung bildeten die G rundpfeiler
dieses als erfolgreich eingeschätzten P rogram m s (M artínez 1995: 50ff.).
132 S usana Sottoli

1993 verkündete die R egierung M enem ein P rogram m zu r A rm u ts­


b ekäm pfung (Plan Sodal) für die Jah re 1993-1995, das ein G esam tv o lu ­
m en v o n 1,5 bis 2 M rd. US$ vorsah. D as P rogram m um fasste insgesam t
46 E inzelprojekte, die in jeweils verschiedenen institutionellen R ahm en
verankert w aren u n d auch unterschiedhche F inanzierungsquellen, Z iel­
setzungen u n d Z ielgruppen aufwiesen. E s stellte sich freilich bald heraus,
dass das P ro g ram m u n te r derselben organisatorischen u n d program m ati­
schen K onzeptionslosigkeit wie die vorangegangene Initiativen litt (M ar­
tinez N . 1995: 49). V o r diesem H in terg ru n d w urde 1994 das Sekretariat
für Soziale E ntw ick lu n g [Secretaría de Desarrollo Sodal) eingerichtet, das di­
rek t der E xekutive u n terstan d u n d als eine K oordinierungsinstanz für die
verschiedenen arm utsorientierten Sozialprogram m e konzipiert w urde.
Z u m in d est im offiziellen D iskurs erhielt som it das T hem a A rm utsbe­
käm p fu n g als A ufgabe d er Sozialpolitik eine zunehm ende Beachtung.
In diesem Z u sam m en h an g w urde 1994 der w eltbankfinanzierte Sozi­
alfonds Fondo Partidpativo de Inversion Sodal (FO PA R) geschaffen, m it
dem sich auch A rgentinien den m itüerw eile zahlreichen lateinam erikani­
schen L än d ern anschloss, die einen solch F onds als arm utsorientiertes
u n d kom pensatorisches In stru m en t einrichteten. D e r F O P A R w idm ete
das Ja h r 1995 d er m ethodologischen u n d konzeptionellen Form ulierung
seines A nsatzes u n d begann erst 1996 u n d verstärkt 1997 effektiv zu ar­
beiten (F O PA R , 1997a, 1997b). D e r F O P A R w urde als program m ati­
scher B estandteil eines u m fassenden Sozialentw icklungsprojekts (Progra­
ma Partidpativo de Desarrollo Sodal, P R O D E S O ) dem Sekretariat für Sozia­
le E ntw icklung angegliedert. D e m nachfrageorientierten A nsatz der ü b ri­
gen lateinam erikanischen Sozialfonds entsprechend, führt F O P A R nicht
selbst S ozialprogram m e durch, so n d em finanziert m it n ich t rückzahlba­
ren Z uschüssen soziale Program m e u n d Projekte nach dem A ntragsprin­
zip u n d ü b er A usschreibungen. D ie Projekte w erden v o n den Z ielgrup­
pen bzw. v o n D u rchführungsorganisationen (N G O s, K om m unen, B a­
sisorganisationen) eigenständig konzipiert. E s w erden drei P rogram m ­
schw erpunkte definiert: a) M aßnahm en zur F örderung der Selbsthilfeka­
pazität, B eteiligung u n d p ro d u k tiv er Fähigkeiten der b etroffenen G ru p ­
pen; b) soziale P rojekte zum A usbau bzw. zur Instandhaltung sozialer
u n d w irtschaftlicher Infrastruktur; c) M aßnahm en zur F ö rd em n g v o n
produktiven P ro g ram m en wie etwa E inkom m ensverbesserung, K lein­
kredite, technische Hilfe, V erbesserung der B etriebsführung u n d V er­
m arktungsm öglichkeiten bei K leinbetrieben im inform ellen Sektor.
F O P A R o periert dezentral ü b er neu gegründete Instanzen au f p ro ­
vinzieller u n d kom m unaler E b en e, die sich aus den V ertretern regionaler
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 133

u n d k om m unaler R egierungen, v o n In teressengruppen u n d N G O s,


kirchlichen O rganisationen, Bürgerinitiativen sowie der Z ielgruppen
selbst zusam m ensetzen. D a F O P A R als ein arm utsorientiertes sozialpoli­
tisches In stru m en t konzipiert w urde, erhielt die F okussierung d er M aß­
nah m en a u f die A rm en höch ste P riorität bei der technischen A usgestal­
tu n g des F onds. M it H ilfe geographischer u n d grundbedürfnisorientier­
ter fa^tóV ^-M echanism en sollten die ärm sten K o m m u n en u n d Bevölke­
ru ngsgruppen erm ittelt w erden. D u rc h dieses Z ielgruppenorientierungs­
v erfahren w urden G em ein d en u n d Stadtviertel v o n zehn P rovinzen des
N ord w esten s u n d N o rd o sten s, in den en sich ca. 95% der ärm sten Be­
v ölkerungsgruppen A rgentiniens befinden, als H auptbezugsraum des
F O P A R in den beiden ersten A rbeitsjahren des P rogram m s identifiziert.
Frauen, Jugendliche u n d A rbeitslose w u rd en dabei als Z ielgruppen defi­
niert. Bis Ju n i 1997 hatte der F O P A R aber aus organisatorischen G rü n ­
d en n u r sechs der ursprünglich zehn vorgesehenen Provinzen m it seinen
M aßnahm en erfasst.
Im Ja h re 1997 w u rd en 806 P rojekte (aus insgesam t 1.458 eingereich­
ten V orhaben) m it M itteln in H ö h e v o n 31 Mio. US$ bewilligt, die
212.696 M enschen zugute kom m en sollten. W ährend knapp 80% der
bewilligten P rojekte a u f den S chw erpunkt „Soziale In frastru k tu r“ entfie­
len, zählten n u r 4,2% zu den „p roduktiven P ro jek ten “, die längerfristige
A usw irkungen hab en können. E ine erste Reihe v o n 52 P rojekten, die
v o m F O P A R finanziert w urden u n d v o n denen 10.549 M enschen p ro fi­
tierten, w ar E n d e 1997 abgeschlossen u n d befand sich in der Phase der
ex-post E valuierung. H insichtlich der allgem einen A usw irkungen der P ro ­
jekte bzw. M aßnahm en des F O P A R sind aufgrund der geringen Z eit­
spanne n o ch keine A ussagen m öglich.

E inführung privatwirtschaftlicher E lem en te im System der


Sozialleistungen

E ine offensive Privatisierungspolitik g eh ö rte zu den zentralen B estand­


teilen der v o n d er Regierung M enem in A n g riff genom m enen ordnungs-
politischen R eform en. D a h e r stellt sich die Frage nach den Privatisie­
rungsbem ü h u n gen dieser R egierung im sozialen Bereich: W ie w urde un­
ter M enem die sozialpolitische Rolle des Staates sowie seine B eziehung
zu nicht-staatlichen sozialpolitischen A kteuren definiert? A u f pro g ram ­
m atischer E b en e sprach sich die Regierung für eine pluralistische Träger­
struktur im sozialpolitischen Bereich aus. E ine V ielzahl v o n staatlichen
134 Susana Sottoli

u n d nicht-staatlichen A kteuren sollte dem nach unterschiedliche bzw. er­


gänzende A ufgaben erfüllen: D e r Staat sollte die Politikform ulierung
ü bern eh m en sowie Sozialleistungsträger koordinieren; durch den M arkt
sollten die h ö h eren E in k o m m en sg ru p p en m it G esundheits-, B ildungs­
u n d Sozialversicherungsleistungen v ersorgt w erden; die O rganisationen
der Zivilgesellschaft sollten unterschiedliche A ufgaben a u f gesellschaftii-
cher E b e n e erfüllen, u n d schließlich w urde der Familie m it Verw eis au f
ihre R olle bei d er Sozialisierung u n d B etreuung v o n K indern sowie bei
der F ürsorge v o n K ranken u n d älteren M enschen eine w ichtige sozialpo­
litische F u n k tio n zugeschrieben (C N C D S, 1995: 24).
A n dieser A ufgabenverteilung im sozialen Bereich lässt sich der E in ­
fluss jen er neuen sozialpolitischen A nsätze erkennen, die au f eine R edu­
zierung d er Rolle des Staates im sozialen Bereich als P ro d u zen t u n d A n­
bieter sozialer D ienstleistungen u n d seine B eschränkung au f subsidiäre
E ingriffe sowie a u f die R egulierung privat p ro d u zierter bzw. durchge­
fü h rter sozialer L eistungen setzen.
A u f d er U m setzungsebene betrieb die Regierung M enem im sozialen
B ereich eine R eform politik, die zum einen w eniger dram atisch bzw. m as­
siv als die im W irtschaftssektor verlief u n d zum anderen nich t prim är au f
eine V ollprivatisierung sozialer D ienstleistungen ausgerichtet war. D ie
R eform politik bediente sich vielm ehr unterschiedlicher F o rm en der P ri­
vatisierung u n d D eregulierung: m aterielle u n d funktionelle (Teil-) Privati­
sierung, Z ulassung v o n p rivaten T räg em in v o rh er ausschließlich vom
Staat kontrollierten L eistungsbereichen, E in fü h ru n g privatw irtschaftli­
cher bzw. W ettbew erbs- u n d effizienzorientierter E lem ente im sozialen
Bereich, u.a.
D ie Privatisierungs- u n d D eregulierungspolitik w urde in der Regel
v o r d em H in terg ru n d sinkender Leistungsfähigkeit u n d finanzieller D e fi­
zite öffentlicher T räg er m it dem A rg u m en t gefordert, privatw irtschaft­
liche E lem en te w ü rd en das System d er Sozialleistungen zu m ehr E ffi­
zienz u n d Q ualität veranlassen. K ritiker beklagten aber, dass die R efor­
m en eher aus fiskalpolitischen G rü n d e n entstanden seien u n d reihten
diese Politik in die allgem eine T en d en z zu r V erkleinerung des Staates u n ­
ter d er R egierung M enem ein (IR ELA , 1995). Privatisierungs- u n d D ere­
gulierungsm aßnahm en w urden im Bereich der sozialen Sicherheit sowie
im G esundheits- u n d B ildungsw esen2 in G ang gesetzt. Im Folgenden
sollen die R eform en des K ranken- u n d R entenversicherungssystem s nä­
her b etrach tet w erden.

2 Z u r R eform des Bildungswesens siehe den Beitrag von Braslavsky in diesem Band.
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ic k lu n g 135

D eregulierungsm aßnahm en im K rankenversicherungssystem

U n ter P e ró n (1945-1955) w u rd en a u f Initiative des Staates zahlreiche ge­


w erkschaftlich verw altete K rankenkassen (sog. Obras Sociales, etwa: Sozi­
alwerke) gegründet. D as System entw ickelte sich kontinuierlich m it der
G rü n d u n g im m er n eu er gew erkschaftlicher Sozialwerke u n d w urde 1970
gesetzlich institutionalisiert: D ie K rankenversicherungspflicht für alle
abhängig B eschäftigten w urde eingeführt,3 die V erw altung der V ersiche­
rungsbeiträge durch die G ew erkschaften festgeschrieben u n d die Bei­
tragsätze (6% u n d 3% L ohn steu er, die jeweils vo n A rbeitgebern u n d A r­
beitn eh m ern ab zuführen sind) gesetzlich festgelegt. D ie K rankenkassen
k o n n ten ihre eigenen m edizinischen E inrichtungen unterhalten u n d so­
m it selber die L eistungen bereitstellen o d er a u f V ertragsbasis m it priva­
ten bzw. staatlichen A nbietern Zusam m enarbeiten. E in er staatlichen A u f­
sichtsbehörde (Adm inistration Nacional del Seguro de Salud:, ANSSAL) kam
die R egulierung u n d K o o rd in atio n des gesam ten Systems zu.
D as System der Obras Sociales entw ickelte sich sehr heterogen. D ie
V ersicherungsleistungen variierten erheblich nach G röße, E in n ah m ek a­
pazität u n d gew erkschafdicher Z ugehörigkeit d er jeweiligen K asse. D ie
B eschäftigten v erfügten n icht ü b e r eine freie W ahlm öglichkeit. Sie w ur­
d en autom atisch M itglieder ih rer B ranchen-K rankenkasse u n d w aren
som it a u f bestim m te m edizinische E inrich tu n gen u n d Ä rzte angewiesen.
D ies führte u.a. zu ü b erdim ensionierten B ehandlungskosten, w illkürli­
chen m edizinischen E n tscheidungen u n d b eschränkter O ptionsfreiheit
für die B etro ffen en (K a tz /M u ñ o z 1988; Pérez Irigoyen 1989).
U m verteilungseffekte gab es zw ar zw ischen den V ersicherten der­
selben B ranche, d en n alle V ersich erten w aren zu gleichen L eistungen
berechtigt, obw ohl ihre Beiträge einkom m ensbezogenen waren. G ravieren­
de U nterschiede b estanden jedoch zw ischen den verschiedenen B ran­
chen. Jedes Sozialw erk verfugte frei u n d unabhängig ü b er die eigenen
R essourcen, d.h. das System sah keine Z usam m enlegung v o n R essourcen
vor. Z w ar w urde ein gesetzlich festgelegter P rozentsatz (10%) der ge­
sam ten Beiträge einem A usgleichsfond überw iesen, doch wies dieser
ständig finanzielle D efizite auf, n ich t zuletzt w egen Z ahlungsverzöge­
rungen u n d U nregelm äßigkeiten seitens d er großen K rankenkassen. D a­
h er b estanden erhebliche L eistungsunterschiede zw ischen den K assen
d er größ ten u n d dynam ischsten Industrie- u n d L eistungsbranchen un d
jenen der w eniger pro d u k tiv en B ranchen (FIE L , 1993: 34f£).

3 D av o n ausgeschlossen blieben die Polizei und die Streitkräfte.


136 Susana S ottoli

N ach 1973 w urde v o n d er peronisrischen R egierung der V ersuch u n ­


tern o m m en , ein integriertes nationales G esundheitssystem zu schaffen.
A u fgrund des W iderstandes sow ohl der G ew erkschaften als auch des
privaten G esundheitssektors w urde das System der Obras Sodales v o n die­
sen institutionellen R eform m aßnahm en jedoch so gut wie nicht tangiert.
Ä hnliches geschah m it einem v o n der R egierung A lfonsin vorgelegten
R eform vorschlag zu r Schaffung eines nationalen, einheitlichen K ranken­
versicherungssystem s.
In den 1980er Ja h re n v erschärften sich die finanziellen P roblem e des
K rankenversicherungssystems. D ie w irtschaftliche K rise u n d die H y p er­
inflation bew irkten rasante K ostensteigerungen, die freilich bereits früher
w egen ineffizienter u n d zum Teil k o rru p ter P raktiken der gew erkschaft­
lichen O rganisationen festzustellen w aren. Bei gleichzeitigen verringerten
E in n ah m en w egen v erstärkter Z ahlungshinterziehung, w achsender A r­
beitslosigkeit bzw . U n terbeschäftigung im in form ellen A rbeitsm arkt u n d
realen E inkom m ensverlusten standen die bis dahin abgesicherten E in ­
künfte der Sozialwerke z u n eh m en d in Frage. In zuneh m en d em M aß
m ussten defizitäre gew erkschaftliche Sozialw erke u n d andere halbstaatli­
che Sozialeinrichtungen staatlich b ezu sch u sst w erden, w obei die drei
g rö ß ten Sozialwerke zwei D rittel aller staatlichen M ittel absorbierten
(G rew e 1994: 101 f.). 1991 kam es z u r In te rv e n tio n d er staatlichen A u f­
sichtsbehörde (ANSSAL). A uslöser dafür w aren die vo n den verschiede­
nen Sozialw erken d er G ew erkschaften angesam m elten Schulden.
Als 1992 die N o tw endigkeit einer R efo rm des K rankenversiche­
rungssystem s zu n eh m en d in d er Ö ffentlichkeit them atisiert w urde, k ü n ­
digte M enem einen G e setzen tw u rf für eine um fassende R eform der
Obras Sodales an. D ieser fand aber w egen d er erw arteten starken O p p o si­
tion v o n Seiten parteipolitischer u n d gew erkschaftlicher G ruppierungen
nicht einm al seinen W eg ins P arlam en t (F IE L 1993: 43). Stattdessen e n t­
schied die R egierung, zum indest einige R efo rm m aßnahm en a u f dem V er­
ordnungsw eg durchzusetzen. Im Jan u ar 1993 w urde das D e k re t N r. 9 /9 3
erlassen, das eine N e u o rd n u n g d er Obras Sodales im Sinne einer D ereg u ­
lierung des Systems vorsah. D ab ei handelte es sich u m eine „abgem ilder­
te“ V ersion des ursprünglichen, ausführlicheren G esetzentw urfes. Z w ar
w urde das D e k re t v o n den G ew erkschaften verurteilt, sie verm ochten
aber keine A lternative zur R egierungspolitik zu artikulieren (G rew e 1994:
107). N ach d er neuen R egelung blieb die K ran kenversicherung nach wie
v o r verpflichtend; w ichtigste N eu eru n g w ar die freie W ahlm öglichkeit
der B eschäftigten zugunsten bestim m ter K assen. D em zufolge sollten die
A rbeiter n ich t m eh r autom atisch M itglied ih rer Branchen-Sozialversiche-
S ozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ic k lu n g 137

rung w erden, sond ern diejenige w ählen dürfen, die ihren B edürfnissen
am ehesten entsprach. D ad u rch sollte ein W ettbew erb zw ischen den
K rankenkassen geschaffen w erden, die n u n um die M itglieder konkurrie­
ren m ussten. D a v o n erhoffte m an sich eine V erbesserung der L eistungs­
fähigkeit des seit Jahren ineffizient gew ordenen K rankenversicherungs­
systems. A ufgrund des starken gew erkschaftlichen W iderstands gegen
w eitergehende D eregulierungsm aßnahm en kam en radikalere V orschläge,
nach denen die V ersicherten sich auch n ich t gew erkschaftlich verw alte­
ten K rankenkassen h ätten anschließen dürfen, n ich t zum Z uge (IRELA
1995: 27).
Z usam m en fassen d kann m an festhalten, dass die G ew erkschaften
zw ar w eiterhin eine einflussreiche Rolle bei der V erw altung d er V ersi­
chertenbeiträge spielten, durch die Liberalisierung bzw . D eregulierung
des K rankenkassensystem s aber erhebliche M achteinbußen hinnehm en
m ussten, n ich t zuletzt, weil die E in fü h ru n g der W ahlfreiheit einen ü b er­
k o m m en en M echanism us zur Sicherung d er M itgliederloyalität u n te r­
grub. In diesem Sinne trug die R efo rm des System s der Obras Sociales
n eb en dem v o n der R egierung M enem bereits in G an g gesetzten tiefgrei­
fenden gesam tgesellschaftlichen R eform prozess (Privatisierung, Flexibili­
sierung des A rbeitsm arkts, V erw altungsreform en) dazu bei, einen U m ­
bru ch des bereits in einer O rientierungsknse befindlichen G ew erk­
schaftssystem s einzuleiten.4 D ie N euregelung des K rankenversicherungs­
system s trat am 1. A pril 1993 in K raft.

Teilprivatisierung des R entenversicherungssystem s

D as argentinische System der R entenversicherung w urde bereits zu Be­


ginn des 20. Ja h rh u n d erts eingeführt. Bis E n d e der 1930er Jah re w ar die
M ehrheit d er A ngestellten im öffentlichen D ien st u n d im Bank- und
V ersicherungsw esen sowie der Journ alisten einer R entenkasse der Sozi­
alversicherung angeschlossen. H insichtlich D eckungsgrad u n d A ufw en­
du n g en w u rd e das R en ten v ersich eru n g ssy stem tro tz z u n eh m en d e r
F inanzierungsproblem e stetig bis in die 1980er Jah re ausgebaut. D ie w irt­
schaftliche K rise d er 1980er Jah re förderte die strukturellen Problem e
des R entensystem s a u f dram atische W eise zutage. D iese P roblem e stan­
den m it unterschiedlichen F aktoren in V erbindung: extrem liberalen A n­
spruchsvoraussetzungen u n d großzügigen L eistungen, h o h en V erw al­

4 Z u r E ntw icklung der G ew erkschaften siehe den Beitrag von Palom ino in diesem
Band.
138 S usana S ottoli

tungskosten, w achsender E vasion u n d Z ahlungsverzögerungen u n d


n ich t zuletzt m it dem ographischen V eränderungen, die zu einer w ach­
senden älteren B evölkerung führten.5
G aloppierende Inflation u n d h ö h ere A rbeitslosigkeit führten zu sin­
kenden E in n ah m en bei gestiegenen R entenansprüchen. D e r Staat kam
seinen V erpflichtungen gegenüber dem Sozialversicherungssystem nicht
m eh r nach. D ie R en tn er gingen v o r G erich t u n d klagten gegen die R e­
gierung, weil sie ihre gesetzlichen V erpflichtungen nicht erfüllt habe. D ie
A n h äu fu n g v o n G erichtsverfahren veranlasste die R egierung A lfonsin
1986, einen „nationalen S ozialversicherungsnotstand“ auszurufen. Z u ­
n ächst v ersuchte die R egierung, durch das E rschließen neuer Finanzie­
rungsquellen die K rise zu bewältigen: Z u m einen richtete sie die vo n der
M ilitärregierung abgeschafften A rbeitgeberbeiträge w ieder ein u n d zum
anderen ließ sie die E rlö se d er ab 1986 neu geschaffenen steuerlichen In ­
strum ente (etwa B enzinsteuer, M ehrw ertsteuer) in das R entenversiche­
rungssystem einfließen. D araus ergab sich aber keine langfristige Lösung,
vielm ehr nah m en sow ohl die Schulden als auch die K lagen w eiter zu.
1986 erarbeitete die R egierung A lfonsin den nach der R eform vo n
1967 ersten um fassenden G esetzen tw u rf für eine tiefgreifende U m stru k ­
turierung des Systems. D e r R eform vorschlag um fasste die teilweise U m ­
stellung des Finanzierungsm odus v o m U m lage- a u f das K apitalde­
ckungsverfahren, die A bschaffung v o n S onderrenten (regímenes de privile­
gió), sow ie eine V ersch ärfu n g d er A n sp ru ch sv oraussetzungen. U n ter
ungünstigen politischen Bedingungen und in A nbetracht der Reichweite der
intendierten R eform en ist kaum verw underlich, dass der G esetzen tw u rf
nich t einm al seinen W eg ins Parlam ent fand.
D ie R eform d er R entenversicherung stand im M ittelpunkt des Regie­
rungsprogram m s v o n M enem . Z w ischen 1989 u n d 1991 w urden zahlrei­
che technische Studien m it ausländischer Finanzierung (etwa P N U D ,
W eltbank) d u rch g efü h rt u n d v o m Sekretariat für Soziale Sicherheit ko­

5 T ro tz einer L ebenserw artung von 69 Jahren für M änner u n d 76 Jah ren für Frauen lag
das R uhestandsalter bei 60 Jahren für M änner und 55 Jahren für Frauen. D ie L o h n ­
ersatzraten w urden gesetzlich m it 70% bis 82% des G rundverdienstes festgesetzt, der
sich aus dem D u rch sch n itt der drei b esten Jahre aus den zehn Jah ren v o r dem R uhe­
stand errechnete. D abei w ar es m öglich, in den ersten Jahren m inim ale Beiträge ab-
zuführen und dann hohe Beiträge lediglich a u f die letzen d re ija h re zu konzentrieren,
u m eine ausreichende R ente zu beziehen. D ie zahlreichen Sonderrenten, die nach nur
w enigen A rbeitsjahren einen R uhestand unabhängig vom Alter oder auch nicht b ei­
tragsbezogene R enten erlaubten, belasteten das System 1991 zusätzlich m it 16 M rd.
US$ (Mesa-Lago 1993: 193ff.).
S ozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 139

o rdiniert u n d g efö rd ert (M esa-Lago 1993: 193). A b M itte 1991 kam es zu


einer N euau srich tu n g d er R eform debatte. Z u diesem Z eitp u n k t w aren
sich die an diesem T h em a am m eisten interessierten A kteure m eh r oder
w eniger darü b er einig, dass eine R eform unausw eichlich 'war. M einungs­
unterschiede b estan d en jedoch hinsichtlich des einzuschlagenden R e­
form kurses, w obei die O p tio n e n (Teil-) Privatisierung versus R eform en
innerhalb des existierenden staatlichen Systems, U m lageverfahren versus
K apitaldeckungsverfahren sowie die jeweiligen M ischvarianten debattiert
w u rd en (Isu an i/S an M artino 1993: 65ff.).
Im Ju n i 1992 w urde ein erster E n tw u rf d er E xekutive ins P arlam ent
eingebracht. E r sah ein R entenversicherungsm odell vor, w elches aus ei­
n em fortb esteh en d en öffentlichen, nach dem U m lageverfahren finan­
zierten System u n d einem ergänzenden, privat verw alteten System, das
nach dem K apitaldeckungsverfahren finanziert w erden sollte, bestand.
Ä hnlich wie im Fall der chilenischen R entenreform folgte das R eform ­
p ro jek t n ich t zu letzt entw icklungsstrategischen Ü berlegungen. D ie T eil­
privatisierung des Rentenversicherungssystem s sollte den Staatshaushalt ent­
lasten, die p rivaten R en ten fo n d s den K ap italm arkt dynam isieren u n d
die niedrige Sparquote erhöhen.
W äh ren d die R entnerorganisationen, die G ew erkschaften, Teile der
Sozialversicherungbürokratie, die peronisrischen A bgeordneten u n d eini­
ge A b geordnete der O p p o sitio n sich kritisch gegenüber einem privaten
System äußerten, fand der E n tw u rf u.a. beim Finanz- u n d V ersiche­
rungssektor, der an einer U m stellung des Finanzierungsm odus au f kapi­
talgedeckte System e u n te r p rivater V erw altung u n d som it an der E n t­
w icklung des nationalen K apitalm arktes interessiert w ar, große Z u stim ­
m ung. Im Parlam ent w u rd e das T hem a sehr kontrovers diskutiert. D er
ursprüngliche G ese tz e n tw u rf d er R egierung w urde erheblich verändert,
n ich t zu letzt aufgrund der v o m G ew erkschaftsflügel des P eronism us er­
h o b e n e n E inw ände (T hibaut 1996: 305). Schließlich w urde die R eform in
letzter L esung im O k to b e r 1993 verabschiedet u n d trat 1994 in K raft.
D as neue System stellte einen K om p ro m iss zw ischen den u n ter­
schiedlichen R efo rm k o n zep ten dar. E s w urde ein M ischsystem v erab ­
schiedet, das universalistische, individualistische, private un d öffentliche
K o m p o n en ten kom binierte. D as neue System der A lters Sicherung (Siste­
ma Integrado de ] ubilacionesj Pensiones — SIJP) b esteh t aus zwei sich ergän­
zenden K om p o n en ten : einem reform ierten öffentlichen System (Sistema
Nacional de Previsión Sodal — SN P S), das nach dem U m lageverfahren fi­
n anziert w ird, u n d einem nach d em K apitaldeckungsverfahren finanzier­
ten System, das sow ohl privat als auch staatlich verw altet w erden kann.
140 Susana Sottoli

D as öffentliche System zahlt eine aus A rbeitgeberbeiträgen sowie aus


Steuerm itteln finanzierte G ru n d ren te an alle V ersicherten aus. D arü b er
hinaus k ö n n en sich die V ersicherten entw eder für eine w eitere um lagefi­
nanzierte, v o m öffen tlich en System ausgezahlte Z u satzren te o d er für
eine a u f d er Basis individueller K apitaldeckung finanzierte R ente entschei­
den, w obei die Beiträge der V ersicherten einem individuellen K o n to gut­
geschrieben u n d a u f dem K apitalm arkt investiert werden.
D ie nach dem K apitaldeckungsverfahren finanzierten R entenfonds
w erden v o n V ersicherungsgesellschaften {Administradoras de Fondos de Ju-
biladonesj Pensiones; AFJP) verw altet u n d a u f dem K apitalm arkt investiert.
D ie A FJPs k ö n n en sow ohl v o n staatlichen als auch v o n privaten, p ro fit­
orientierten u n d nicht-gew innorientierten In stitutionen wie etwa G e ­
w erkschaften, K oop erativ en gegründet w erden. Inso fern w ird das ö f­
fentliche System n ich t ersetzt, son d ern durch das private System ergänzt.
D e r Staat ü b ern im m t eine finanzielle u n d regula torische V erantw ortung
für das G esam tsystem . D ie R egulierungsfunktion w ird durch eine neu
gegründete A u fsichtsbehörde erfüllt (,Superintendenda N adonal de Compa­
ñías Aseguradoras). D u rc h die beitrags finanzierte G ru n d ren te w urden soli­
darische bzw. um verteilungspolitische K o m p o n en ten innerhalb des Sys­
tem s beibehalten. D ie G ru n d ren te w ird unabhängig v o n L o h n h ö h e u n d
G esch lech t als einheitliche L eistung für alle V ersicherten gezahlt. In so ­
fern erfolgen T ransferzahlungen zw ischen den V ersicherten durch einen
kollektiven Risikoausgleich, der für N iedrigeinkom m ens bezieher v o n be­
sonderer Relevanz ist.
Z usam m en fassen d kann festhalten w erden, dass m it der R eform ein
System entstand, in dem die P rinzipien der U niversalität, der Solidarität
u n d d er E ffizienz Z usam m enkom m en sollten. O h n e v o m P rinzip der So­
lidarität zw ischen den G en eratio n en abzurücken, w ird eine stärkere V er­
bind u n g zw ischen den ausgezahlten Beiträgen u n d den erbrachten L eis­
tungen hergestellt. E in e Individualisierung d er A lterssicherung w ird je­
doch m it dem K o n z e p t der aus den allgem einen R entenfonds bezahlten
G ru n d ren te um verteilungspolitisch ausbalanciert. D ie Frage nach der
F unktionsfähigkeit des neuen R entenversicherungssystem s kann erst
langfristig b ean tw o rtet w erden. E inige vorläufige E rgebnisse der R eform
lassen sich d en n o ch kom m entieren.
Seit der R eform erhöhte sich die Z ahl der M itglieder des integrierten
R entensystem s v o n 86,1% a u f 99,6% d er E rw erbstätigen. Insbesondere
im gem ischten System ist die Z ahl d er V ersicherten gestiegen: W ährend
im J a h r 1994 46,9% der E rw erbstätigen dem U m lagensystem u n d 39,3%
dem gem ischten System angeschlossen w aren, änderte sich 1996 das
S ozialpolitische R e fo rm en u n d soziale E n tw ic k lu n g 141

V erhältnis m it 32,4% im U m lagesystem u n d 67,1% im gem ischten Sys­


tem . D ie R eform h at ein zuv o r existierendes P roblem des R entensystem s
aber n ich t gelöst, näm lich den h o h en G rad an Z ahlungshinterziehung:
D ie Z ahl der effektiven B eitragszahler n ah m vo n 76,7% im Jahr 1994 au f
56,1% im Ja h r 1996 ab. A uch in bezug a u f die A usw eitung des R en ten ­
systems a u f die im inform ellen A rbeitsm arkt B eschäftigten sowie au f
F rauen u n d A rbeitlose w urde die V erschärfung der A nw artschaftskrite­
rien (30 M indestbeitragsjahre) für R entenleistungen negativ bew ertet
(H ujo 1997: 75ff.).
D ie R en ten fo n d s entw ickelten sich zun ächst vielversprechend: Sie
akkum ulierten 1995 2,5 M rd. US$ bzw. 0,9% des B IP bei einer h o h e n
R entabilitätsrate v o n 17,9% (die R entabilitätsrate der chilenischen
R entenfonds b etru g im jährlichen D u rc h sc h n itt 12,8% zw ischen 1981
u n d 1995). D iese E ntw icklung w irkte als w ichtiger vertrauenerw eckender
F ak to r für das System , zum al der B eitritt zu m K apitaldeckungssystem —
im U nterschied zu Chile — n ich t obligatorisch ist (Arenas de Me-
sa /B e rtra n o u 1997: 335).

D ezentralisierung

L aut V erfassung ist A rgentinien föderal organisiert. Faktisch ist der ar­
gentinische Föderalism us jedoch —ganz im Sinne des traditionell ausge­
p rägten adm inistrativen u n d politischen Z entralism us d er lateinam erika­
nischen Regierungs sys tem e (N ohlen 1991) — durch ein stark asym m etri­
sches V erhältnis zw ischen Z entralstaat (und insbesondere der nationalen
Exekutive) u n d den föderalen E inheiten geschw ächt (T hibaut 1996:
90f£). D iese K o nstellation k o m m t u.a. in einem starken Entw icklungsge­
fälle zw ischen den perip h eren P rovinzen u n d der w irtschaftlichen K e rn ­
region des L andes, zu d er die H a u p tsta d t B uenos A ires u n d die gleich­
nam ige P rovinz gehören, deutlich zu m A u sdruck D iese U nterschiede
sind freilich n ich t jüngeren D atu m s, so n d ern resultierten aus jahrzehn­
tenlangen, geographisch heterogenen E ntw icklungsprozessen. Im G efol­
ge d er K rise d er 1980er Jah re v erschärften sich die entw icklungspoliti­
schen U nterschiede innerhalb des Landes: D ie M ehrheit der Provinzen
b efand sich in d er Regel in einer im V ergleich zu r H au p tstadtregion p o li­
tisch, w irtschaftlich u n d sozialpolitisch w eniger güngstigen Lage, u m a u f
die negativen A usw irkungen d er K rise reagieren zu können.
D ie S trukturanpassungsreform en der 1990er Jah re erfolgten z u ­
n äch st in B uenos Aires u n d bezogen sich in erster Linie au f den Z en tral­
staat. D ie w irtschaftliche U m stru k tu rieru n g in den P rovinzen kam später
142 Susana S ottoli

u n d fiel insbeso n d ere in den ärm eren P ro v in zen des N o rd en s, W estens


u n d Südens schw ieriger aus. Fiskalpolitisch w urden die P ro vinzen stark
v o n einigen restriktiven M aßnahm en b etroffen, die im R ahm en des
K onvertibilitätsplanes v o n Finanzm inister Cavallo in A n g riff genom m en
w u rd en .6 W äh ren d die R egierung M enem die finanziellen P roblem e der
P rov in zen in erster Linie a u f fehlerhafte Politiken u n d K o rru p tio n sei­
tens der P rovinzregierungen zu rückführte, beklagten diese, dass der
Z entralstaat sozialpolitische A ufgaben an die P rovinzen übertragen habe,
ohne entsprechende Finanzierungsquellen zu r V erfügung zu stellen.
B ereits E n d e d er 60 Jah re hatte die damalige M ilitärregierung staatli­
che A ufgaben im G esundheitsbereich an die P rovinzen übertragen. D ie­
ser P rozess w urde v o n der peronisrischen Regierung zw ischen 1973 un d
1976 u n terb ro ch en . N ach der M achtübernahm e der M ilitärs ging zwi­
schen 1976 u n d 1978 nah ezu die gesam te gesundheitliche G ru n d v erso r­
gung in den K om peten zb ereich der Provinzregierungen u n d der Stadt­
verw altung v o n B uenos A ires ü b er (Braslavsky 1996: 264; B arb eito /L o
V uolo 1993). Z u r B egründung dieser P olitik hieß es, m an nehm e m it der
Ü bertrag u n g sozialpolitischer A ufgaben an die P rovinzen die ersten
Schritte eines D ezentralisierungsprozesses vor. K ritiker hielten dagegen,
dass es dabei — entsp rech en d dem neoliberalen A nsatz der M ilitärregie­
ru n g — in erster Linie u m fiskalpolitische u n d ideologische Ziele ging,
näm lich einerseits u m eine R eduzierung der zentralstaatlichen Sozialaus­
gaben u n d andererseits u m eine generelle V erkleinerung des Z entralstaa­
tes (Braslavsky 1996: 265). Ä hnlich wie in Chile u n te r P in o ch e t erfolgte
som it eine V erlagerung v o n Z uständigkeiten oh n e eine entsprechende
Ü bertrag u n g v o n E ntscheidungsbefugnissen. D ie politische K ontrolle
ü b er die sozialen T räger verblieb a u f der zentralen E bene. D ie P rovinzen
erhielten lediglich D u rch fü h ru n g sk o m p eten zen . D as Personal w urde von
den zentralen B ehörden ernannt.

6 So w ar es für die in finanzielle Schwierigkeiten geratenen P rovinzbanken nach In­


krafttreten des K onvertibilitätsplanes nicht m ehr m öglich, an die U nterstützung der
Z entralbank zu appellieren. Som it verschlim m erten sich die bereits gravierenden und
n icht zuletzt durch fehlerhafte Politiken bedingten D efizite der Provinzregierungen
weiter. D iese sahen sich m it der N otw endigkeit konfrontiert, unpopuläre, m it hohen
politischen und sozialen K osten verbundene A npassungsm aßnahm en zu ergreifen,
wie etw a E ntlassungen im öffentlichen Sektor u n d Privatisierungen. D ies führte in
einigen v o n den Folgen der w irtschaftlichen R eform en besonders b etroffenen P ro ­
vinzen im F rühjahr 1994 und zuweilen im Ja h r 1995 zu D em onstrationen und sozia­
ler U n ru h e (IR E LA 1995: 24ff.).
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 143

D ie R egierung M enem erklärte die D ezentralisierung zu einer zen tra­


len D im en sio n ih rer Sozialpolitik (C N C SD S 1995: 26f.). Im G esu n d ­
heitsw esen w urde die Ü bertragung v o n nationalen K rankenhäusern so­
wie v o n etlichen E rn äh ru n g sp ro g ram m en a u f die Provinzen, im Jahre
1992 abgeschlossen. Im V erantw ortungsbereich des Z entralstaats ver­
blieben die präventive G esundheitsversorgung, hygienische V o rb eu ­
gungsprogram m e, Infrastrukturentw icklung u n d die F orm ulierung der
G esundheitspolitik (IR E L A 1995: 27). D ie A usw irkungen der D ez e n tra ­
lisierungspolitik im sozialen Bereich spiegelten sich darin w ider, dass die
Provinzregierungen u n d die K o m m u n e n ihren A nteil an den gesam ten
Sozialausgaben v o n 37% 1980-81 a u f 45% 1993 erh ö h ten , w ährend der
en tsprechende A nteil der Z entralregierung im selben Z eitraum v o n 63%
a u f 55% zurückging (M artínez N . 1995: 41).
T ro tz eines im A ugust 1993 geschlossenen „Fiskalpaktes“ zw ischen
Z entralstaat u n d Provinzregierungen, dem zufolge die P rovinzen sich zu
A n p assungsm aßnahm en u n d zu r A b schaffung etlicher Steuern u n d die
nationale R egierung sich ihrerseits zu r Ü b ern ah m e v o n 900 Mio. US$ der
Schulden d er Provinzen sowie zu erh ö h ten T ransferleistungen verpflich­
teten, stieß eine effektive D ezentralisierungspolitik im m er w ieder an fi­
nanzielle u n d technische G renzen.
D e r D ezentralisierungspolitik M enem s w urde vorgew orfen, sie folge
einem rein fiskalpolitischen Kalkül u n d beinhalte keinerlei K onzept. Im
G ru n d e gehe es lediglich um eine E n tlastu n g des Z entralstaates un d
n ich t um sozialpolitische Ziele (IR E IA 1995: 27; B eccaria/C arciofi
1995: 226ff.). F ü r diese K ritik spricht, dass der D ezentralisierungsprozess
im G esundheitsw esen v o r allem v o n einem direkt dem P räsident u n te r­
stellten, neugegründeten Sekretariat für Soziale E ntw icklung vorange­
trieben w urde. D ie M inisterien spielten dabei eine sekundäre Rolle; zu ­
d em w urde a u f das Fehlen v o n K oordinationsm echanism en u n d einer
N euverteilung v o n Rollen u n d K o m p eten zen hinsichtlich der Regulie­
rung, K oordinierung, Po/zky-Formulierung u n d -D u rch fü h ru n g zw ischen
den R essortm inisterien a u f nationaler E b en e, den Provinzregierungen
u n d den G esundheitseinrichtungen hingew iesen. (Braslavsky 1996: 266;
B eccaria/C arciofi 1995: 226ff.; T en ti 1990).
Z u sam m enfassend kann m an festhalten, dass im R ahm en der Sozial­
politik der R egierung M enem die D ezentralisierung des G esundheitsw e­
sens zw ar program m atische P riorität erhielt u n d entschieden vorange­
trieben w urde, jedoch bedeutende finanzielle P roblem e u n d k o n zep tio ­
nelle Schw achstellen aufwies. D ie Ü bertragung v o n E n tscheidungskom ­
p eten zen w urde faktisch insofern begrenzt, als einerseits die dezentrali-
144 S usana S ottoli

sierten Instan zen finanziell u n d technisch n ich t in der Lage w aren, die
neuen sozialpolitischen A ufgaben k o m p eten t w ahrzunehm en u n d ande­
rerseits die D ezentralisierungspolitik k o n zeptionell eher a u f die finanziel­
le E n tlastu n g des Z entralstaates reduziert w urde. D ieses V erständnis v o n
D ezentralisierung läßt sich v o r dem H in terg ru n d des w irtschaftlichen
R eform program m s der Regierung M enem , in dem die N eudefinition des
Z entralstaates u n d die Sanierung seiner F inanzen im M ittelpunkt stan ­
den, g u t nachvollziehen.
G leichw ohl u n tern ah m die R egierung einige Schritte, u m diese D e fi­
zite zu korrigieren: E in Consejo Federal de Desarrollo Social w urde eingerich­
tet, d er m it d er K oord in ieru n g der dezentralisierten sozialpolitischen
K o m p eten zen zw ischen der zentralen R egierung u n d den P rovinzen be­
auftragt w urde (C N C D S 1995: 25). D a rü b e r hinaus u n d angesichts der
zuneh m en d en technischen u n d finanziellen U nterschiede zw ischen den
P rovinzen, die sich negativ a u f die Q ualität dezentralisierter Sozialleis­
tungen ausw irkten, verkündete die R egierung 1994 die D u rch fü h ru n g ei­
nes u m fassenden sozialen Investitions- u n d In frastrukturprogram m s für
die ärm sten P rovinzen (IR E L A 1995: 26).

E ine B ilanz der sozialen E ntw icklung

Z u r V ervollständigung d er Analyse scheint es sinnvoll, im F olgenden au f


die E ntw icklung einiger grundlegender Sozialindikatoren in den 90er Ja h ­
ren einzugehen. T raditionell wies A rgentinien soziale E ntw icklungsindi­
kato ren auf, die deutlich ü b er dem lateinam erikanischen D u rc h sc h n itt
lagen. D iese T en d en z h a t sich auch in den 90er Ja h re n n ich t um gekehrt
(Tabelle 1). Bei d er L ebenserw artung, dem B esuch v o n Prim är- u n d Se­
kundarschulen, d er K inder- u n d M üttersterblichkeit sowie im H inblick
au f den A nalphabetism us zeichneten sich positive T endenzen ab.
Im Ja h r 1999 lag A rgentinien u n te r den lateinam erikanischen L än­
dern an erster Stelle im Human-Development-Index. N e b en Chile u n d U ru­
guay w ar es das einzige L and aus d er R egion, das der K ategorie „ h o h e
m enschliche E ntw icklung“ zu g eo rd n et w urde (U N D P 2001). T ro tz der
volksw irtschaftlichen K rise u n d tro tz d er schw ierigen Situation der so­
zialen Sicherungssystem e h aben sich die Sozialindikatoren som it auch in
den vergangenen Jah rzeh n ten w eiterhin positiv entwickelt. D iese au f den
ersten Blick w idersprüchliche E ntw icklung h at m ehrere G ründe: E rstens
schlägt sich d er A b b au sozialer L eistungen in K nsen zeiten erst m it einer
gew issen zeitlichen V erzögerung in sozialen Indikatoren wie A lphabeti­
sierungsquote u n d M ortalitätsraten nieder. Z w eitens sind in den B erei­
S ozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 145

chen, in denen V erbesserungen stark v o n individuellen V erhaltensw eisen


u n d L ernprozessen (etwa in bezug a u f H ygiene u n d E rnährung) abhän-
gen, unm ittelbare, d urch restriktive w irtschaftliche B edingungen negative
A usw irkungen n ich t zu erw arten. Z u d em spiegeln positive E ntw icklun­
gen bei einigen Indikatoren die öko n o m isch en B edingungen u n d politi­
schen E ntscheidungen einer u m Jah re zurückliegenden P hase wieder.

Tabelle 1: Argentinien: Indikatoren der sozialen Entwicklung

1980 1985 1990 1991 1995 1999 R eg io n a ler


D u rc h ­
sc h n itt
L eb en serw artu n g bei 70,2 71,0 72,1 k.A. 73,1 73,2 69,7
G eburt (in Jahren)
S ä u glin gssterb lich k eit 33,2 26,2 25,6 24,7 22,2 19,0 32
(pro l.OOOp
M ü ttersterb lich k eits­ 70 59 52 48 k.A. 38
rate (pro 100.000)
A n alp h ab e­ 6,1 k.A. 4,3 4,0 k.A. 3,3 12,3
tism u s (%) b
E in sch u lu n g sra te 90,1 k.A. k.A. 95,7 95,0 99,0 93,3
P rim arbereich (%)c
E in sch u lu n g sra te, 38,3 k.A. k.A. 53,7 k.A. 76,9 65,3
Seku nd arb ereich (%)d
T rin k w asser­ k.A. k.A. 89 k.A. 75 71 78
v e rsorgu n g (%)e
H D I (H u m a n D e v e l­ 0,795 0,801 0,807 k.A. 0,829 0,842 0,758
o p m e n t In d e x )f
* Todesfälle pro Jahr je Tausend lebendgeborener Kinder zwischen 0 und 1 Jahr; b Bezogen auf
die Bevölkerung im Alter von über 15 Jahren; c Bezogen auf die Altersjahrgänge zwischen 6
und 12 Jahren, in Prozent der Bevölkerung dieser Altersgruppe (Angabe 1998 entspricht
1997); d Bezogen auf die Altersjahrgänge zwischen 13 und 18 Jahren, in Prozent der Bevölke­
rung dieser Altersgruppe (Angabe 1998 entspricht 1997); c Prozent der Bevölkerung mit dem
entsprechenden Versorgungsanschluss (Angabe 1995 entspricht 1996); f Nach dem UNDP-
HDI, gemessen an folgenden Indikatoren: Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, Schulbe­
such und Pro/Kopf Einkommen.
Quelle: Altimir/Beccaria, 1998; www.un.org.ar/tematicas.htm; UNDP, 2001.

D a rü b e r hinaus d ürfen die a u f den ersten Blick positiven Entw icklungen


der sozialen In dikatoren n ich t darü b er hinw egtäuschen, dass D u rc h ­
schnittszahlen erhebliche U nterschiede zw ischen B uenos Aires u n d den
P rovinzen verbergen. A u ch diese U ngleichgew ichte, d arau f w urde w eiter
o ben bereits hingew iesen, sind n ich t erst in den vergangenen Jah ren e n t­
146 Susana S ottoli

standen, sond ern charakterisieren die E ntw icklung des Landes seit vielen
Jahrzehnten. In den 90er Jah ren setzten sich die entsprechenden T en ­
denzen fort: Beispielsweise liegt die K in d ersterblichkeitsrate in der P ro ­
vinz Chaco m eh r als d oppelt so h o ch wie im H au p tstadtdistrikt B uenos
Aires u n d die A b b rech erq u o te im B ereich des Prim arschulw esens ist
d o rt fünfm al so h o ch wie in d er H auptstadt. D e r A nteil der H aushalte,
deren G ru n d b ed ü rfn isse n ich t erfüllt sind, liegt in der P rovinz Formosa
fünfm al so h o c h wie in B uenos Aires. D iese gravierenden U ngleichhei­
ten rinden ihren A usdruck in der T h ese v o n den „zw ei A rgentinien“ , de­
ren soziale u n d w irtschaftliche U nterschiede vergleichbar seien m it den
D ifferen zen zw ischen den Industrieländern u n d der D ritten W elt.7

Tabelle 2: Armutsentwicklung im Großraum Buenos Aires

H a u sh a lte unterhalb der H a u sh a lte unterhalb der


A rm utsgrenze (in %) H u n g er g re n z e (in %)
1980 6,14 1,53
1986 11,33 2,61
1991 16,44 2,32
1994 14,23 3,03
1996 20,08 5,50
Offizielle Angaben ermittelt auf der Basis eines Grundwarenkorbes und der laufenden Haushalts­
einkommen.
Quelle: Altimir/Beccaria, 1998

W enn w ir zwei w eitere A spekte der sozialen E ntw icklung in den zurück­
liegenden Jah rzeh n ten betrachten, die A rm u t u n d die E inkom m ensver­
teilung, so ist ein b eträchtlicher A nstieg d er u rbanen A rm u t (G ro ß rau m
B u en o s A ires) in d e n 80er Ja h re n (von 6% im Ja h r 1980 a u f 11%
im J a h r 1986) zu v erzeich n en , v e ru rsa c h t v o r allem d u rch die E in ­
kom m en sein b u ß en u n d die Inflationskrisen. Im Z uge der Stabilisierungs­
erfolge zw ischen 1991 u n d 1994 k o n n te d er A nteil der u n te r d er A rm u ts­
grenze lebenden H aushalte v o n 16,4% a u f 14,2% gesenkt w erden. Z w i­
schen 1994 u n d 1996 trug die R ezession infolge des „T equila-E ffekts“
der m exikanischen K rise erneut zu einem A nstieg der A rm utsniveaus
bei. In sb eso n d ere die Fam ilieneinkom m en der un teren M ittelschicht ge­
rieten u n te r D ruck.

7 Vgl. Inform e argentino sobre desarrollo hum ano 1995 (w w w .un.org.ar/tem aticas.
htm).
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ic k lu n g 147

T a b elle 3: A rm ut und extrem e A rm ut n ach P rovin zen (1999)

P rovinz B evölk eru n g A n zah l der A n zah l der A n teil der


M en sc h e n in M en sc h e n in M en sc h e n in
extrem er Arm ut A rm ut (%)
A rm ut
|ujuy 594.117 104.564 332.111 55,89
Salta 1.044.973 173.915 584.139 55,89
T ucum án 1.278.216 214.966 714.522 55,89
Catam arca 312.269 54.959 174.530 55,89
Santiago del 720.982 116.892 403.028 55,89
E stero
Form osa 492.513 85.592 208.187 42,27
Chaco 940.901 156.889 529.136 56,23
Corrientes 909.207 150.930 510.975 56,20
M isiones 972.672 172.862 500.341 51,43
La Rio ja 273.471 29.261 130.445 47,69
San Juan 574.053 51.423 233.823 40,73
San Luis 354.959 37.980 149.315 42,06
M endoza 1.588.091 129.925 717.519 45,18
La Pam pa 301.466 17.786 89.836 29,80
N e u q u en 540.384 30.402 161.034 29,79
R ío N egro 606.575 33.433 178.971 29,50
C hubut 438.236 23.417 130.594 29,79
Santa Cruz 201.642 11.896 60.089 29,79
T ierra del 109.988 6.379 32.779 29,79
Fuego
Santa Fé 3.068.765 214.707 1.107.824 36,0
E n tre Ríos 1.104.836 81.707 398.844 36,09
C órdoba 3.059.115 213.906 1.104.300 36,00
B uenos Aires 5.063.719 380.288 1.628.002 32,15
(Provinz)
Buenos Aires 12.027.764 651.665 3.124.134 25,9
(G roßraum )
Landesw eit 36.578.358 3.145.738 13.204.478 36,10
Quelle: Equis 2000

A m E n d e d er A m tszeit v o n Präsident M enem lag der A nteil der A rm en


an d er G esam tb ev ö lk eru n g bei ü b er 36% , in acht v o n 24 P rovinzen so­
gar deutlich ü b e r 50% (Tabelle 3). D e r R ückgang der Reallöhne stand in
engem Z u sam m en h an g m it einem kontinuierlichen A nstieg der A rbeits­
lo senquote, die v o n 7,4% im Ja h r 1990 a u f 14,5% M itte des Jahres 1999
anstieg. H insichtlich der E inkom m ensverteilung hatte es ebenfalls be­
trächtliche R ückschritte gegeben, in sbesondere verglichen m it der Situa­
tion zu Beginn d er 80er Jahre. D ie im G in i-Index zusam m engefassten
148 Susana S ottoli

W erte zeigten eine kontinuierliche T en d en z zu einer stärkeren E inkom ­


m en sk o n zen tratio n (1980: 0,406; 1990: 0,423; 1997: 0,439). W äh ren d der
A nteil d er ärm sten H aushalte am V olkseinkom m en zw ischen 1990 und
1999 k o n sta n t blieb, k o n n ten die reichsten 10% w eitere Z ugew inne ver­
zeichnen (Tabelle 4).

Tabelle 4: Entwicklung det Einkommensverteilung“

Jahr ärm ste n ä c h ste 30% 20% unterhalb der reich ste G ini-
40% reich sten 10% 10% K oeffizient
1990 14,9 23,6 26,7 34,8 0,423
1994 13,9 23,4 28,6 34,1 0,439
1997 14,9 22,2 27,1 35,8 0,439
1999 15,4__________ 2T 6______________26,0_____________37J)
a Anteil am gesamten urbanen Haushaltseinkommen in % im G roßraum Buenos Aires; die Anga­
ben beziehen sich jeweils auf die nach Einkommen klassifizierten Haushalte.
Quellen: CEPAL (2000) u. CEPAL (2001: 235ff.).____________________________________________

D e r sozialpolitische A nsatz einer R egierung lässt sich einerseits in Bezug


au f die sozialen A usw irkungen ih rer w irtschaftspolitischen M aßnahm en
u n d andererseits an h an d der policies im sozialen Bereich analysieren. A uch
w en n d er S chw erpunkt dieses Beitrages sich a u f die zuletzt genannte
D im en sio n bezog, sollen im folgenden einige Schlussfolgerungen im
H inblick au f die erstgenannte D im en sio n form uliert w erden, denn sie
betreffen direkt die T h em en A rm utsentw icklung u n d E inkom m ensver­
teilung. T atsächlich kann gezeigt w erden, dass die rasche Stabilisierung
u n d E rh o lu n g der argentinischen V olksw irtschaft zu Beginn der 1990er
Jah re positive soziale E ffek te m it sich brachte u n d zu einem Rückgang
der A rm utsindikatoren führte. D ies reichte aber nicht aus, u m zu den
n o ch A nfang der 1980er Jah re v o rh an d en en N iveaus zurückzukehren
u n d bedeu tete auch keine T en d en z zu einer dauerhaften R eduziem ng der
A rm ut.
D ie in der ersten H älfte der 1990er Jah re registrierte w irtschaftliche
D ynam ik führte n ich t zu einer egalitäreren E inkom m ensverteilung, son­
d e m im G egenteil zu einer w eiteren E inkom m enskonzentration. A nge­
sichts des Fehlens v o n expliziten Politiken zu r V erm eidung vo n E in ­
kom m en sein b u ß en u n d zu r B ekäm pfung d er inegalitären K onsequenzen
des W irtschaftsprogram m s führte dieses zu h o h en sozialen K osten, ins­
beso n d ere zu A rbeitslosigkeit, w achsender A rm u t u n d einer V erschlech­
terung d er L ebensbedingungen g roßer Teile der Bevölkerung, die bereits
Sozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 149

seit vielen Jah ren u n te r den Folgen d er W irtschaftskrise u n d der h o h en


Inflation zu leiden hatten.
Sow eit die E ntw icklungen d er 1990er Jah re zu r E in d äm m u n g der
Staatstätigkeit, zu r Schw ächung vorm als m ächtiger kollektiver A kteure
wie den G ew erkschaften u n d zu einer äußerst restriktiven W irtschaftspo­
litik führten, h ab en sie die überk o m m en e Sozialpolitik in ihren G ru n d ­
festen ersch ü ttert u n d zugleich jene strukturellen P roblem e des sozialpo­
litischen Systems offenbart, die eine A npassung an neue R ahm enbedin­
gungen m itu n ter verhindern.
So w urden die sozialpolitischen R eform en zw ar durch die neoliberale
R eform politik, aber auch durch die spätestens seit E n d e der 1970er Jahre
sich abzeichnenden u n d m it dem A u sb ru ch d er Krise in den 1980er J a h ­
ren vollends zutage g etretenen S trukturproblem e des sozialpolitischen
System s (B ürokratisierung, finanzielle D efizite, Z entralisierung, U n ­
gleichheit) hervorgerufen. D ie k onkrete A usgestaltung der vo n der R e­
gierung M enem eingeführten Sozialreform en stand vornehm lich in
F u n k tio n der w irtschaftspolitischen Z ielsetzung der Regierung, indem sie
d urch Privatisierungen, D eregulierungen u n d D ezentralisierungen im so­
zialen B ereich zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt beitragen sollten.
D ie sozialpolitischen M aßnahm en dienten budgetpolitischen u n d zuw ei­
len politischen Z w ecken, die m eist im Z usam m enhang m it W ahlzyklen
standen u n d in d er E in rich tu n g v o n vorübergehenden k o m p ensatori­
schen S ozialhilfeprogram m en zu m A usbau bzw. zu r Festigung kliente-
listischer L oyalitätsbeziehungen u n te r w ahltaktischen G esichtspunkten
ihren N iederschlag fanden.
W eder kurzfristige, angem essene sozialkom pensatorische N o th ilfe­
program m e n o ch langfristige Z ielsetzungen wie etwa A rm u tsb ek äm p ­
fung, die B ildung v o n H um ankapital, die Schaffung sozialer Integrati­
onskanäle o d er die F ö rd eru n g des sozialen Ausgleichs standen im V o r­
dergrund d er R eform agenda d er Regierung M enem —v o r allem in ihrer
ersten A m tszeit. Selbst nach den ersten Stabilisierungs- u n d W achstum s­
erfolgen, die vergleichsw eise günstigere B edingungen für sozial pro g res­
sive Po/Zcy-Entscheidungen hervorbrachten, spielten sozial- bzw. vertei­
lungspolitische E rw ägungen, etw a bei steuerlichen R eform m aßnahm en,
keine große Rolle. D u rc h die rezessiven E ffek te der m exikanischen W äh­
rungskrise v o n 1994 ergaben sich freilich erneute fiskalpolitische R estrik­
tionen für das R egierungshandeln.
Inhaltlich kann m an den v o n der Regierung M enem durchgeführten
R eform en der Sozialpolitik eine w eit geringere Radikalität, im Sinne des
B ruches m it d er traditionellen Sozialpolitik, bescheinigen als etwa den
150 S usana S ottoli

sozialpolitischen R eform en in Chile u n te r P inochet. D u rc h den U m ­


stand, dass in C hile die R eform en deutlich früher erfolgten als in A rgen­
tinien, w u rd en L em effek te m öglich. D a ra u f w eisen jedenfalls die kom bi­
nierten u n d pragm atisch orientierten A nsätze hin, die sich hinsichtlich
konzeptioneller O p tio n e n wie etwa „staatlich-privat“, „Subsidiarität-Soli­
darität“ , „selektiv-universell“ bei den argentinischen R eform en der Sozi­
alpolitik erkennen lassen.
So wies das neue argentinische System der A lterssicherung, bei des­
sen A u sarbeitung u n d A ushan d lu n g das chilenische R entensystem als
O rien tieru n g sp u n k t eine w ichtige Rolle spielte, bedeutende M odifikatio­
nen g egenüber dem „chilenischen M odell“ auf. A n statt eines rein priva­
ten, a u f Basis individueller K apitaldeckung finanzierten Systems wie im
chilenischen Fall, das eine radikale A b k eh r v o m v o rh er staatlichen Sozi­
alversicherungsm odell darstellte, w urde in A rgentinien ein gem ischtes
System eingeführt, das E lem ente öffentlicher U m lagesystem e u n d priva­
ter P en sio n sfo n d s m itein an d er verband.
Z u sam m en fassen d kann m an sagen, dass das Fehlen eines m ittel- bis
langfristig orientierten sozialpolitischen K o n z ep ts u n te r der Regierung
M enem im Z u sam m en h an g m it einem ebenso fehlenden langfristig orien­
tierten entw icklungspolitischen K o n z e p t stand, das ü b e r die Stabilisie-
rungs- u n d W achstum serfolge d er ersten Jah re hinausgew iesen hätte.
D es w eiteren erfolgte die R eform politik M enem s im R ahm en eines rela­
tiv auto k ratisch en R egierungsstils, m it dem m an zw ar effektiv m it dem
hergeb rach ten staatszentrierten E ntw icklungsm odell zu brechen ver­
m ochte. Bei d er notw endigen U m stru k tu rierung v o n Staat u n d W irt­
schaft m angelte es ab er an einem breiten gesellschaftlichen u n d politi­
schen K o n sen s, a u f dessen Basis die Regierung hätte versuchen können,
ü b e r die Stabilisierung hinaus w eitere R eform en in G ang zu setzen, um
die sozialen K o ste n d er S trukturanpassung gerechter zu verteilen u n d
letztendlich das R egierungsprojekt, d.h. die N eudefinition der B eziehung
zw ischen Staat, G esellschaft u n d W irtschaft, einschließlich der langfristi­
gen Rolle der Sozialpolitik, u n te r M itw irkung w eiterer A kteure offener zu
gestalten.
A u ch w en n die u n te r M enem d u rchgeführten R eform en im Fhnblick
a u f ihre m ittel- u n d langfristigen A usw irkungen n o ch nicht abschließend
beurteilt w erden könn en , so trat am E n d e der Ä ra M enem doch klar v o r
A ugen, dass gravierende D efizite im H inblick a u f eine u n te r V erteilungs­
gesichtspunkten ausgeglichenere u n d gerechtere G esellschaft sowie h in ­
sichtlich der In teg ratio n der arm en u n d ausgegrenzten Teile der G esell­
schaft existierten. B eide erw ähnten A spekte, d.h. sow ohl die Schwierig­
S ozialpolitische R e fo rm e n u n d soziale E n tw ick lu n g 151

keiten, ein v o n breiten B evölkerungsschichten akzeptiertes u n d z u ­


kunftsfähiges G esellschafts- u n d E ntw icklungsm odell a u f den W eg zu
bringen, als auch das F o rtb esteh en bzw. die Z u sp itzu n g sozialer P ro b ­
lem lagen w aren Faktoren, die sich im A rgentinien der A ra Post-M enem
als U rsachen v o n Instabilität u n d K onflikten erwiesen.

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C e c ilia B raslavsk y

Transform ation und Reform des Bildungswesens


(1989-1999)

Gegenwärtig befindet sich das Land in einer Situation, in der die


Bevölkerung nach mehr Schulbildung strebt und dies auch erreicht und in
der der Staat mehr Ressourcen investiert, um dies zu ermöglichen. Aber
trotzdem sind viele Stimmen zu hören, die ihrer großen Unzufriedenheit
mit der Bildungssituation Ausdruck verleihen. Wie kann man dieses
Paradoxon erklären? (Braslavsky 1999: 80)

E inleitung

T h em a dieses Beitrages sind die T ransform ationsprozesse un d R eform en


im argentinischen Bildungsw esen w äh ren d des vergangenen Jahrzehnts.
D ie w ährend der beiden R egierungsperioden vo n Carlos M enem erfolg­
ten B ildungspolitiken w erden im L ichte m ittelfristiger T endenzen analy­
siert. In früheren A rbeiten (Braslavsky 1995 u. 1996) habe ich aufgezeigt,
dass sich m it der W iederherstellung der D em okratie im Ja h r 1983 M ög­
lichkeiten für F ortschritte bei d er R eform des Bildungsw esens ergaben.
In zehn der 23 P rovinzen, im H au p tstad td istrikt B uenos Aires sowie in­
nerhalb des nationalen Bildungs- u n d E rziehungsm inisterium s fanden
entsprechende T ransfo rm atio n sp ro zesse statt, allerdings a u f eine h etero ­
gene u n d asym m etrische A rt u n d W eise. D ie w ichtigste Strategie zur
S chaffung v o n V oraussetzungen für V eränderungen w ar die E in b e ru ­
fung eines N ationalen B ildungskongresses m it dem A uftrag, die u n ter­
schiedlichen P ositionen für den E rlass eines nationalen Bildungsgesetzes
zu diskutieren u n d zu einer gem einsam en P osition zu finden (D e Lel-
la /K ro ts c h 1990). Bis 1992 basierte das B ildungsw esen allein a u f G eset­
zen d er einzelnen Provinzen. E s existierte kein allgemeines nationales
o d er —wie m an es 1993 n an n te — föderales Bildungsgesetz. D as einzige
nationale Bildungsgesetz w ar 1884 erlassen w o rd en u n d galt n u r für die
direkt v o m N ationalstaat durch den N ationalen B ildungsrat finanzierten
u n d geleiteten Prim arschulen. D ie S ekundarschulen hingen direkt vom
N ationalen Bildungs- u n d E rziehungsm inisterium ab. D ie Leitung des
P rim arschulw esens w ar 1968 den P rovinzen übertragen w orden, u n d
zw ar durch die damalige M ilitärregierung.
154 C ecilia B raslavsky

D ie w ichtigsten B ildungsreform en a u f P rovinzebene zw ischen 1984


u n d 1992 k onzentrierten sich a u f zwei Aspekte: 1.) V eränderungen der
L ehrpläne u n d -program m e u n d 2.) die F örd erung vo n dem okratischeren
Leitungsform en u n d Stilen des Z usam m enlebens innerhalb der B ildungs­
institutionen. D ie V eränderungen der L ehrpläne u n d -program m e orien­
tierten sich v o r allem an einer D em okratisierung der Inhalte der sozial­
w issenschaftlichen Bildung u n d der staatsbürgerlichen E rziehung; aller­
dings ging es auch in anderen W issensbereichen u m eine A ktualisierung
der A nsätze (D ussell 1994). D iese V eränderungen w urden bereits in den
m oderneren u n d reicheren P rovinzen sehr langsam um gesetzt. In den
(ärm eren) Provinzen im N o rd e n des Landes existierten no ch 1988 P ro ­
gram m e, die m e h r als 40 Jah re alt w aren oder die w ährend der letzten
M ilitärdiktatur (1976-83) erlassen w o rd en waren.
D ie a u f eine D em okratisierung der Lei tungs form en u n d Stile des
Z usam m enlebens abzielenden M aßnahm en w aren nicht im m er erfolg­
reich. Schwierigkeiten u n d W iderstände unterschiedlichster A rt standen
den V ersuchen entgegen, Schulräte zu etablieren oder die W ahl der
Schuldirektoren durch die betro ffen en G em einden durchführen zu las­
sen (Cigliutti 1993; G o b iern o de M endoza 1999).
A ls die Regierung v o n P räsident M enem 1989 an trat, herrschte ein
allgem einer K o nsens hinsichtlich d er N otw endigkeit, eine R ahm enge­
setzgebung für den gesam ten Bildun g ssektor zu entw ickeln u n d Politiken
einzuleiten, die F ortsch ritte a u f dem W eg zu einer konzertierteren T ran s­
form ation erlauben w ürden, in die alle B ildungseinrichtungen des Landes
einbezogen w ürden. E s bestan d auch so etwas wie eine M ischung aus
E inverständnis u n d E rn ü ch teru n g hinsichtlich der Tatsache, dass dieser
allgem eine gesetzliche R ahm en sich a u f die Beschlüsse des v o n der Re­
gierung A lfonsin einbem fenen N ationalen Pädagogikkongresses stützen
m üsse. D ie D iskussions- u n d V erhandlungsprozesse im R ahm en dieses
K ongresses w aren überaus kom plex gew esen u n d ihre E rgebnisse k o n n ­
ten als ein U n entschieden hinsichtlich der klassischen bildungspoliti­
schen K o n tro v ersen des L andes gew ertet w erden: jenen zw ischen V er­
fechtern eines privaten u n d denen eines staatlichen B ildungsw esens un d
jenen zw ischen konfessionellen u n d laizistischen O rientierungen.
T ro tz d e m w aren die B eschlüsse des N ationalen Pädagogikkongresses
hinsichtlich einiger A spekte eindeutig; sie betrafen: 1.) die A usw eitung
der Schulpflicht; 2.) die D ezentralisierung des gesam ten Bildungssystem s;
dabei galt es, Ü berschneidungen v o n V erantw ortlichkeiten zw ischen
dem N ationalstaat, v o n dem nach wie v o r ein gro ß er Teil der Sekundar­
schulen u n d d er L ehrerbildungseinrichtungen abhing, u n d den V erant-
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 155

w örtlichen in den P rovinzen, denen bereits alle Prim arschulen u n d die


M ehrheit d er S ekundarschulen unterstanden, zu verm eiden; 3.) die A ktu­
alisierung v o n L ehrplänen u n d -program m en u n d 4.) die G arantie vo n
m eh r C hancengleichheit in einem L an d m it sehr reichen und. sehr arm en
B evölkerungsschichten.
Infolge d er ungelösten K onflikte zw ischen den A nhängern privater
u n d den V erfech tern staatlicher B ildungseinrichtungen sowie zw ischen
konfessionellen u n d laizistischen O rientierungen w aren die Beschlüsse
hinsichtlich an derer A spekte w eniger eindeutig; dies betraf: 1.) die Rolle
u n d die F u nktionen, die der N ationalstaat im Bildungsw esen ü b ern eh ­
m en sollte; 2.) die B eziehung zw ischen N ationalstaat u n d P rovinzen so­
wie die B eziehungen zw ischen den einzelnen Provinzen; 3.) die Finanzie­
rungsquellen u n d die H ö h e d er einzelnen H aushaltsansätze im B ildungs­
sektor u n d 4.) die Lehrinhalte.

D ie B ildungspolitik der Periode 1992-1999

D ie B ildungspolitik d er P erio d e 1989-1999 stützte sich a u f die B eschlüs­


se des N atio n alen Pädagogikkongresses u n d ü b erw and jene K onflikte
zw ischen unterschiedlichen O p tio n en , die damals n ich t gelöst w erden
konnten. D ie D isk u ssio n u n d F orm ulierung dieser Politiken fand im
R ahm en einer kom plexen D ynam ik statt, bei der zahlreiche P rotagonis­
ten m itw irkten u n d unterschiedliche Spannungslinien auftraten (Braslavs-
k y /C o sse 1997).
Z u den P rotagonisten, die an d er A usgestaltung u n d Im plem entie­
ru n g der n eu en B ildungspolitik m itw irkten, gehörten: 1.) die nationale
E xekutive u n d innerhalb d er R egierung das Bildungs- sowie das W irt­
schaftsm inisterium ; 2.) die beiden K am m ern des N ationalen K ongresses;
3.) die E xekutiven u n d Legislativen d er P rovinzen; 4.) die G ew erkschaf­
ten; 5.) die n icht organisierten L ehrerinnen u n d L ehrer; 6.) eine A nzahl
„sym bolischer A nalysten“ (B ru n n er/S u n k el 1993) m it eigenen V orstel­
lungen hinsichtlich der Z u k u n ft der Bildung; 7.) die katholische K irche
u n d andere konfessionelle u n d G em eindesektoren sowie 8.) die interna­
tionalen F inanzorganisationen.
Z u den politischen Ström ungen, deren D iskurse im R ahm en der
D iskussion eine Rolle spielten, gehörten: 1.) d er N eoliberalism us als V er­
fechter eines Q uasi-B ildungsm arktes u n d einer R eduzierung der Rolle
des Staates a u f ein M inim um ; 2.) d er N eokonservatism us als V erfechter
einer durch den N ationalstaat betriebenen V erm ittlung v o n W erten, die
m it den Interp retatio n en der w ichtigen Sektoren der katholischen K ir-
156 C ecilia B raslavsky

chenhierarchie übereinstim m ten; 3.) technokratische V isionen, die für


einen raschen u n d m assiven E insatz n eu er K om m unikations-, Info rm a­
tions- u n d O rganisationstechnologien in den Schulen eintraten; 4.) neo-
keynesianische V isionen im Sinne einer schnellen U m verteilung von
R essourcen m it H ilfe v o n B ildung u n d E rziehung, w obei der national­
staatliche V erw altungsapparat als R ed istributionsagent fungieren sollte
sowie 5.) hum anistische V isionen einer sozialen D em okratie, denen es
v o r allem um eine E rn eu eru n g d er L ehrinhalte u n d -praktiken u n d um
eine Stärkung d er innerhalb des B ildungssektors aktiven A kteure ging.
E s geht in diesem Beitrag n ich t däm m , die Interaktionsprozesse zw i­
schen den genannten A kteuren u n d P erspektiven zw ischen 1989 un d
1999 im einzelnen nachzuzeichnen. D iese D ynam ik ist zu kom plex u n d
h at sich im L aufe der Z eit zu sehr verändert, als dass sie a u f w enigen Sei­
ten angem essen dargestellt w erd en k önnte, zum al bislang no ch keine
grundlegenden Studien ü b er die T h em atik existieren. H ier geht es u m ei­
nen w eitaus bescheideneren Beitrag. V orgestellt w ird die Bildungspolitik
des B undesm inisterium s für B ildung zw ischen 1992 u n d 1999; deren
w ichtigstes Ziel w ar die Im p lem en tieru n g d er grundlegenden A spekte
des 1992 erarbeiteten u n d 1993 v erabschiedeten föderalen Bildungsge­
setzes.
Z u n ä c h st m uss jedoch d a ra u f hingew iesen w erden, dass diese Politi­
ken eine A lternative zu einem anderen G e setzen tw u rf darstellten, den
der B ildungsm inister v o n P räsid en t M enem , A n to n io Salonia, u n d der
P räsid en t selbst in den K ongress eingebracht hatten u n d der vo n den
G ew erkschaften, den L eh rern u n d den seit geraum er Z eit m it der Situa­
tio n des Bildungsw esens befassten akadem ischen u n d sozialen Instituti­
o n e n abgelehnt w o rd en w ar (N arodow ski 1998). E in erster, v o n M enem
u n d Salonia U nterzeichneter, G e se tz e n tw u rf w ar 1992 im Senat einge­
reich t u n d d o rt verabschiedet w orden. E r w urde au f den Straßen durch
beeindruckende D e m o n stratio n en der G ew erkschaften u n d der L ehrer
zurückgew iesen. D ie öffentliche Z urückw eisung des G esetzentw urfes
w urde u n te r dem N am en „ D e r w eiße M arsch“ bekannt, den n die L ehre­
rinn en u n d L eh rer kleideten sich bei dieser D em o n stratio n m it den tradi­
tionellen w eißen K itteln, die die B eschäftigten der staatlichen Schulen
tragen. M it dieser D e m o n stra tio n sollte d er W iderstand gegen ein G esetz
v erdeutlicht w erden, das den In teressen u n d N otw endigkeiten vo n
H aushaltsein sp aru n g en im B ildungssektor zu entsprechen schien. D e r
P ro te st richtete sich auch gegen die neoliberale G ru n dausrichtung des
G esetzentw urfes, gegen die V erein n ah m u n g durch die privaten B ildungs­
institu tio n en sowie gegen das Fehlen v o n allgem einen O rientierungs­
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 157

u n d R egulierungsm aßstäben für die Bildung, d.h. grundlegende Inhalte,


curriculare Richtlinien, E valuierungsm aßstäbe, etc.
Z u m dam aligen Z e itp u n k t w aren bereits säm tliche B ildungsdienst-
leistungen den P rovinzregierungen bzw. d er'S tadtverw altung v o n B ue­
n os Aires unterstellt w orden, w o m it der 1968 begonnene P rozess einer
D ek o n zen tratio n des Bildungsw esens zu E n d e geführt w urde. D ie priva­
ten E inrichtungen, w elche zu v o r durch das nationale Bildungsm inisteri­
u m kontrolliert w urden, u n terstan d en jetzt der A ufsicht derjenigen P ro ­
vinz, in deren T erritorium sie sich befanden. D as neue G esetz m usste
darüber entscheiden, o b u n d w en n ja w elche nationalstaatlichen Richdi-
nien es für die G esam th eit der B ildungsdiensdeistungen geben w ürde,
u n g eachtet dessen, w elcher V erw altungsjurisdikdon die verschiedenen
E in rich tu n g en unterstellt w aren u n d unabhängig davon, ob es sich dabei
u m öffentliche oder u m private T räger handelte.
D e r v o n M enem u n d Salonia eingebrachte u n d im Senat —u n te r an­
derem m it d er Stim m e des späteren Staatspräsidenten u n d dam aligen Se­
nators F em an d o de la Rúa —verabschiedete G esetzen tw u rf enthielt keine
B estim m ungen, die für die V erfech ter eines staatlichen Bildungsw esens
zufriedenstellend gew esen w ären. G an z im G egenteil zielten die im G e­
setzen tw u rf enthaltenen V orschriften n ich t zuletzt darau f ab, einen Q u a ­
si-B ildungsm arkt zu schaffen u n d zu stärken (N arodow sli 1998). A nge­
sichts d er öffentlichen P ro teste der L ehrerinnen un d L ehrer m achten
sich d er dam alige V orsitzende der B ildungskom m ission des A b g eo rd n e­
tenhauses, der A bg eo rd n ete Jo rg e Rodríguez, u n d seine Beraterin Susana
D ecibe für einen D ialogprozess stark, an dem auch A bgeordnete anderer
P arteien u n d führende V ertreter der L ehrergew erkschaften teilnahm en.
Als E rgebnis dieses D ialogprozesses w urde 1993 das Föderale B ildungs­
gesetz verabschiedet. D e r T e x t dieses G esetzes sieht R egulierungs- u n d
O rg anisationsm echanism en eines „föderalen B ildungssystem s“ v o r un d
räu m t dem N ationalstaat eine starke orientierende u n d ausgleichende
Rolle im R ahm en des Bildungsw esens ein. A ußerdem sah das G esetz ei­
ne 20% ige jährliche Steigerung des B ildungshaushalts v o r (R epública A r­
gentina 1993).
D as neue G esetz ging a u f eine Initiative aus dem A bgeordnetenhaus
zurück u n d w urde d o rt u n te r E in b ezieh u n g aller politischen K räfte aus­
gehandelt. A us G rü n d en , die m it der für A rgentinien typischen A rt v o n
parlam entarischen V erhandlungen Zusam m enhängen, w urde das G esetz
d ann aber n u r v o n d er M ehrheitsfraktion angenom m en. Bei der erneuten
A b stim m u n g im Senat w urde d er E n tw u rf dagegen einstim m ig v erab ­
schiedet. D ie Stärke des E n tw u rfes rü h rte n icht zuletzt daher, dass es
158 C ecilia B raslavsky

dam it —w enn auch n u r für eine gewisse Z eit —gelang, die Situation a u f
den Straßen u n d im B ildungssektor w ieder zu beruhigen. E in e gewisse
Schw äche des G esetzes basierte teilweise darauf, dass es trotz n u r gerin­
ger U nterschiede zu den V orschlägen einiger w ichtiger M inderheitsfrak-
tionen (N osig lia/M arq u in a 1993) v o n diesen im A bgeordnetenhaus nicht
angenom m en w urde, w eshalb die parlam entarische O p p o sitio n das neue
G esetz niem als vollständig akzeptierte. N o c h m ehr basierte die Schw ä­
che des neuen G esetzes allerdings darauf, dass das darin enthaltene P ro ­
gram m niem als v o n d er G esam theit d er nationalen E xekutive
übern o m m en w urde. In der T a t bestan d die v o n Seiten des W irtschafts­
m inisterium s p ropagierte Bildungspolitik darin, alle B ildungseinrichtun­
gen a u f die P ro v in zen zu übertragen u n d diesen die öffentliche Bildung
zu überan tw o rten , o hne dabei au f die sehr unterschiedlichen O rientie-
rungs-, F ührungs-, K ontroll- u n d Finanzierungskapazitäten äußerst h ete­
rogen er regionaler G esellschaften u n d Ö k o n om ien R ücksicht zu n e h ­
m en. So lag beispielsw eise das B IP p ro K o p f in der S tadt B uenos Aires
dam als bei etwa 20.000 US$ jährlich, in La Rioja, Santiago del E ste ro un d
Jujuy dagegen n ich t einm al bei 3.000 US$. D as G esetz zu r Ü bertragung
der S ekundarschulbildung u n d der L ehrerausbildung w nrde im W irt­
schaftsm inisterium o h n e E in beziehung des B ildungsm inisterium s erar­
beitet. Einige seiner w ichtigsten R epräsentanten, so u.a. Ju a n Llach, der
B ildungsm inister d er R egierung de la Rúa, form ulierten nachträglich
V orschläge, die in eine andere R ichtung gingen, beispielsw eise eine F i­
nanzierung p ro Schüler, o hne K o rrek tu ren aufgrund sozioökonom ischer
U nterschiede, u n d die V ergabe v o n Schulkonzessionen durch die
G em einden (L lach/ M o n to y a /R o ld á n 1999: 366f£).
1993 w urden die w ichtigsten V erfechter des F öderalen Bildungsge­
setzes v o n P räsid en t M enem an die Spitze des B ildungsm inisterium s be­
rufen. Jo rg e R odríguez u n d Susana D ecibe bekleideten nacheinander das
M inisteram t. D ie w echselnden K räfteverhältnisse innerhalb der Regie­
rung, die unzulänglichen A nw eisungen des P räsidenten u n d die persönli­
chen S chw ächen v o n R odríguez u n d D ecib e, w en n es daru m ging,
hinsichtlich der unterschiedlichsten them atischen Fronten die Dialogprozes­
se in G a n g zu halten u n d sich die U n terstü tzu n g zu erhalten, die sie ins
M inisterium g ebracht hatte —all dies führte dazu, dass ihre F ü h ru n g nach
anfänglicher Stärke jeweils in eine Schw ächephase überging.
Z w ischen 1993 u n d 1996 stan d en relativ große H andlungsSpielräum e
zur V erfügung, aber danach kam es zu einer fortschreitenden Schwä­
chung. D ies hing m it den genan n ten G rü n d e n zusam m en, aber auch m it
dem A bklingen des w irtschaftlichen W achstum szyklus. D ieser Zyklus
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 159

hatte zusätzliche R essourcen für den B ildungssektor verfügbar gem acht


u n d die im Föderalen Bildungsgesetz vorgesehenen N euinvestitionen
tatsächlich in d er vorgesehenen F o rm erm öglicht. D ie politische E n t­
scheidung bestan d darin, diese R essourcen zu verw enden, u m „histori­
sche Schulden zu begleichen“ im H inblick a u f den Z u stan d der
B ildungsinfrastruktur, der Schulausstattungen, der Stipendien u n d der
L ehrerausbildung; aber nicht, um die G ehälter d er L ehrer zu erhöhen.
Im Ja h r 1996 w aren die L ehrer u n d P ro fesso ren nicht m eh r länger dazu
bereit, sich m it dieser Situation abzufinden, zum al vo n ihnen auch eine
V eränderung d er ü b erk o m m en en institutionellen K ultur, d.h. die Bereit­
schaft zur W eiterbildung u n d die A kzeptanz v o n E valuierungsm aßnah­
m en erw artet w urde.
Im Ja h r 1992 initiierten die L ehrergew erkschaften eine neue Phase
ihres K am pfes, w obei es ihnen jetzt u m L ohnerh ö h u n g en ging. Ihre
F o rd eru n g en sahen sich m it der W eigerung des W irtschaftsm inisterium s
konfrontiert, sich a u f neue K riterien zur E rm ittlu n g der Lehrergehälter
sowie a u f deren E rh ö h u n g einzulassen. D as sogenannte „w eiße Z elt“
stand m e h r als 1.000 Tage v o r dem K ongressgebäude in B uenos Aires,
w äh ren d m an in V erhandlungskom m issionen ü b er verschiedene A lterna­
tiven debattierte u n d vergeblich versuchte, zu einer Ü bereinkunft zw i­
schen B ildungsm inisterium , W irtschaftsm inisterium u n d den beiden
H äu sern des Parlam ents zu gelangen. N ach Jah re n kollektiver Streikakti­
onen, die an den staatlichen Schulen im m er w ieder zu U nterrichtsausfall
führten u n d v o n d er Ö ffentlichkeit in zun ehm endem M aße abgelehnt
w urden, schlugen die L ehrergew erkschaften einen neuen K urs ein. Sie
setzten jetzt a u f individuelle H ungerstreiks, die in dem v o r dem K o n ­
gressgebäude errichteten Z elt durch g efü h rt w urden u n d dazu dienen
sollten, die A ufm erksam keit d er M assenm edien au f die A nliegen der
L ehrer zu lenken. D ie m it d em „w eißen Z elt“ v erb u n d en en Ziele w urden
erreicht. E s entw ickelte sich zu einem A n ziehungspunkt für Sänger,
Schauspieler sowie für andere Persönlichkeiten des gesellschaftlichen
u n d politischen L ebens u n d zog w äh ren d eines langen Z eitraum s die
Sym pathien der B evölkerung a u f sich.
Bildungs m inis terin D ecibe b em ü h te sich im R ahm en einer neuen
Initiative däm m , m it staatlichen G eldern u n d finanzieller U n terstützung
der W eltbank eine grundlegende R efo rm der L ehrerlaufbahn a u f den
W eg zu bringen. Ihre w ichtigsten V orschläge lauteten: 1.) L o h n erh ö h u n ­
gen, aber u n te r d er V oraussetzung, dass das D ienstalter nicht m e h r zum
w ichtigsten K riterium für L o h n erh ö h u n g en herangezogen w ürde; 2.) ei­
ne stärkere B erücksichtigung d er individuellen B efähigungen der L eh­
160 Cecilia B raslavsky

re r/in n e n ; 3.) eine A b k eh r v o n der überkom m enen L aufbahnfolge L eh­


re r /in —S chulsekretär/in —D ire k to r/in —A u fsich tsb ea m te /r durch E in ­
füh ru n g paralleler K arrierem uster als K lassen leh rer/in u n d als D irek ­
to r/in ; 4.) die E inrich tu n g eines verpflichtenden Systems zur regelm äßi­
gen K ontrolle, inw iew eit die K enntnisse d er L ehrerinnen, L ehrer u n d
D irek to ren dem jeweils aktuellen K en n tn isstan d entsprechen.
Als G egenleistung für die ihnen zugedachten G elder sollten die P ro ­
vinzen die Schulverw altung m odernisieren, die In fo rm atio n des L ehr­
körpers über die A ktivitäten in den verschiedenen B ildungsbereichen
gew ährleisten u n d die B estim m ungen hinsichtlich der K rankschreibung
rationalisieren, w obei gerade letzteres ein A spekt war, der in starkem
M aße für die Ineffizienz d er bisherigen A usgaben verantw ortlich war.
D as P rojekt zur P rofessionalisierung des L ehrkörpers hätte ein In stru ­
m e n t zur M odernisierung u n d Rationalisierung des B ildungsw esens w er­
den können. D e r G esetzen tw u rf w urde dem P arlam ent vorgelegt, w o er
jedoch aufgrund des bevorstehenden W ahlkam pfes sowie der polidschen
B edürfnisse der O p p o sitio n scheiterte.
Im d arau f folgenden Ja h r (1998) legte das durch M obilisierungsm aß­
nahm en, M edien u n d O p p o sitio n u n te r D ru ck geratene B ildungsm iniste­
rium eine neue, w esentlich bescheidenere Initiative vor, die aus der tech­
nischen Perspektive des W irtschaftsm inisterium s u m stritten war: den
Fondo de Incentivo Docente (Fonds zur S chaffung v o n A nreizen für den
Lehrkörper). D u rch eine Sondersteuer a u f A utos, Flugzeuge u n d Schiffe
finanziert sollten ca. 700 M illionen US$ eingenom m en w erden, die für
eine E rh ö h u n g der M onatsgehälter des L ehrkörpers um 60 US$ —bei ei­
nem D urchschnittsgehalt v o n w eniger als 500 US$ — v erw andt w erden
sollten. Im Laufe des E ntscheidungsprozesses kam es jedoch zu einer
harten A useinandersetzung zw ischen Bildungs- u n d W irtschaftsm iniste­
rium . A n der Spitze des W irtschaftsm inisterium s stand dam als bereits
R oque Fernández, d er sich durch ein buchhalterischeres u n d käm pferi­
scheres V erhalten als sein V orgänger auszeichnete. D e r K onflikt zw i­
schen d en M inisterien drehte sich in sbesondere um die Frage, inwieweit
es zw eckm äßig sei, dass die B undeskasse eine B ürgschaft hinsichtlich der
vorgesehenen Steuereinnahm en übernehm e. P räsident M enem schloss
sich d er Perspektive des W irtschaftsm inisterium s an u n d die in der u r­
sprünglichen V orlage vorgesehene staatliche B ürgschaft in H ö h e v o n
700 M illionen US$ jährlich w urde gestrichen.
Z u r D eb atte ü b er den Fondo de Incentivo Docente gesellte sich ein v e ­
h em en ter K onflikt hinsichtlich der S parm aßnahm en im R ahm en des
H aushalts für das Ja h r 1999. W äh ren d das B ildungsm inisterium der A n­
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 161

sicht war, dass die M ittel für den B ildungssektor nicht vo n den Spar­
m aß n ah m en b etro ffen sein dürften, w ar das W irtschaftsm inisterium sehr
w ohl dieser A nsicht. D ie ersten E ntsch eid u ngen hinsichtlich der Spar­
m aß n ah m en b etrafen die U niversitäten in starkem A usm aß, m it der Fol­
ge, dass die S tud en ten ihrem U n m u t a u f den Straßen zum A usdruck ver-
halfen. Z u sam m en m it den v o n den L ehrergew erkschaften angeführten
M obilisierungsm aßnahm en führten diese P ro teste dazu, dass sich das
B ildungsm inisterium im m er stärker v o n den P ositionen des W irtschafts­
m inisterium s distanzierte.
M it dem H inw eis a u f „ein U nverständnis seitens der R egierung be­
züglich der E rzieh u n g srefo rm “ —so die F orm ulierung in ihrer R ücktritts­
erklärung —verzichtete Susana D ecib e im M ai 1999 freiwillig a u f ih r Mi­
nisteram t. Z usam m en m it ihr trat auch eine G ru p p e vo n B eam ten zu ­
rück, die aufgrund ih rer N äh e zur akadem ischen W elt u n d ih rer U n ab ­
hängigkeit gegenüber d er Parteipolitik — u ngeachtet dessen, ob es sich
u m A nhänger der peronistischen Partei handelte oder nicht — als „sym ­
bolische A nalysten“ bezeichnet w erden können. A ufgrund dieser R ück­
tritte verlangsam ten sich auch diejenigen R eform politiken, die v o m natio­
nalen B ildungsm inisterium a u f d er G rundlage v o n K o n ze rtieru n g sp ro ­
zessen m it den Bildungsm inisterien der Provinzen angestoßen w orden
w aren (Braslavsky 1999a). In einigen P rovinzen, die stärker in den K o n ­
zertierungsprozess involviert gew esen w aren bzw. eigene R eform pläne
verfolgten, b em ü h te m an sich auch w eiterhin u m eine F o rtfü h ru n g der
R eform en. In einigen anderen Provinzen w urden die R efo rm b em ü h u n ­
gen regelrecht „eingefroren“ .

Grundlinien der B ildungspolitik (1992 - 1999)

D ie w ichtigsten bildungspolitischen Ziele der Jahre 1992 bis 1999 waren:


1.) die E in b ezieh u n g des größtm öglichen Teils der K in d er un d Jugendli­
chen in die B ildungsinstitutionen durch Z uw eisung v o n M itteln für eine
A u sd eh n u n g u n d A npassung d er In frastru k tu r sowie für die V ersorgung
m it didaktischem M aterial; 2) die U m stru k tu rierung des B ildungssystem s
u n d 3.) die A ktualisierung der L ehrpläne u n d L ehrm ethoden. D azu griff
m an 4.) a u f ein gem ischtes F ührungsm odell zurück, in dessen Z en tru m
das B ildungsm inisterium stand, w elches seinerseits einer A npassung sei­
ner F u nktionen, S trukturen u n d P ersonalausw ahlkriterien unterlag. D ie
E rru n g en sch aften dieser Politiken sind beachtlich, genauso wie dies —
u n d so paradox es auch erscheinen m ag —für ihre D efizite gilt.
162 Cecilia B raslavsky

D ie A ktualisierung der L ehrpläne u n d -m e th o d e n w ar sehr um strit­


ten u n d führte zu einer ganzen R eihe v o n K ontroversen, die bereits in
verschiedenen Studien behandelt w u rd en .1 Infolgedessen konzentriere
ich m ich a u f den folgenden Seiten a u f die anderen angesprochenen As­
pekte. Einige M erkm ale der neuen L ehrpläne sollten aber zum indest
kurz erw ähnt w erden. D ies betrifft die beso n dere B etonung der K o m ­
m unikationsfähigkeit, die E in b ezieh u n g d er E volutionstheorien in den
U n te rric h t (gegen den W iderstand konservativer Sektoren) u n d die Be­
rücksichtigung der gegenw ärtigen globalen u n d nationalen Realität. Z u ­
dem w aren die neuen L ehrpläne nicht sexistisch u n d verliehen den m it
den M enschenrechten in V erbindung stehenden T h em en w ährend der
gesam ten Schulzeit P riorität

W achsende Investitionen und zunehm ende N achfrage

Im L aufe des vergangenen Jah rzeh n tes h ö rte u n d las m an im politischen


u n d akadem ischen U m feld oft, dass das öffentliche Bildungsw esen A r­
gentiniens zerstö rt w erde (Puiggros 1997). E in Blick a u f die quantitativen
E n tw icklungstendenzen w äh ren d dieser Periode zeigt, dass diese B e­
h au p tu n g absurd ist. T atsächlich hatte die öffentliche Bildung in A rgen­
tinien seit vielen Ja h rzeh n ten keine d erart um fangreiche E x p ansionspha­
se erlebt, wie dies zw ischen 1992 u n d 1999 der Fall w ar (Tabelle 1).
G leichzeitig hatte m an niem als zu v o r d erart um fassende V eränderungen
der n o c h aus dem 19. Ja h rh u n d e rt stam m enden Strukturen des Bil­
dungsw esens angestoßen wie in diesem Z eitraum . E s ist diese Politik des
S trukturw andels, die unseres E rach ten s einige B eobachter dazu bringt,
v o n „Z e rstö ru n g “ zu sprechen.
Im F öderalen Bildungsgesetz ist v o n „A llgem einer G ru n d b ild u n g “
(Education General Básica) die Rede. D am it sind jene neun Jah re andauern­
den B ildungsprozesse gem eint, die für alle K in d er zw ischen 6 u n d 15
Jah ren v erpflichtend sind. A u ß erd em ist vorgesehen, dass v o r Beginn der
A llgem einen G ru n d b ild u n g eine „A nfangsbildung“ (Educación Inicial)
erfolgt, deren letztes Ja h r ebenfalls obligatorisch ist un d a u f die ein
dreijähriger „poly-m odaler Zyklus“ (Ciclo Polimodal) folgt. D iese Bestim ­
m u n g en im plizieren, dass die traditionelle S ekundarschulbildung durch
eine B ildung ersetzt w ird, die stärker a u f ein häufig vorgebrachtes

1 Siehe Braslavsky 1995; F em an d e z/F in o c ch io /F u m ag a lli 1999; G v irtz/A isenstein


1999a, b; G v irtz /L ó p e z Arriaga 1999; G v irtz/P alam idessi 1998a, b, c; T erigi 1996;
W ain erm an /H ered ia 1999).
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 163

A nliegen d er B evölkerung — eine V erlängerung der Schulzeit — eingeht.


D ies ist auch d er w ichtigste G ru n d dafür, w arum der durchschnittliche
Schulbesuch in A rgentinien sch o n 1991 bei 10,3 Jahren lag. D am it beleg­
te A rgentinien im lateinam erikanischen Vergleich einen vorderen Rang.
H in te r diesem D u rch sch n itt verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche
W erte. In d er Stadt B uenos Aires u n d in anderen urbanen Z en tren gibt
es einen h o h en A nteil v o n U niversitätsabsolventen, die ebenfalls in den
genannten D u rch sch n ittsw ert einfließen. G leichzeitig existieren jedoch
starke regionale u n d soziale D ifferenzen, unterschiedliche A usbildungs­
w ege u n d stark abw eichende B ildungserfolge.

Tabelle 1: Entwicklung des Schulbesuches, 1991-1998

Schüler in allen A rten v o n B ild u n g se in ric h tu n g en


^ C )\ 1998 Z unahm e Z unahm e
(absolut) (in Prozent)
In sg e sa m t 8.290.144 9.555.187 1.265.043 15,3
A nfangsbildung 982.483 1.178.281 195.798 19,9
Prim arschulen 5.044.398 5.475.218 430.820 8,5
M ittelschulen 2.263.263 2.901.688 638.425 28,2
Quelle: Eigene Ausarbeitung auf der Grundlage von Daten des Bildungsministeriums (Programa
Estudio de Costos del Sistema Educativo) sowie der Censos de Población y Vivienda-von 1980 und 1991.

D ie deutliche Z u n ah m e des Schulbesuches im V erlauf der Periode w ar


au f eine R eihe v o n F aktoren Z urückzufuhren. D azu g ehörten u n te r ande­
rem die veränderte N achfrage infolge der W irtschaftsreform en, die stär­
kere Präsenz v o n B ildungsthem en in d er öffentlichen D iskussion un d die
m it d er V erabschiedung des Föderalen B ildungsgesetzes zusam m enhän­
g enden B udgeterhöhungen. D ie w irtschaftlichen S trukturreform en führ­
ten gleichzeitig zu einer E rh ö h u n g d er N achfrage nach besser qualifizier­
ten A rbeitskräften u n d zu w achsender A rbeitslosigkeit u n d A rm ut, in s­
b esondere u n te r den jungen M enschen (F ilm us/M iranda 1999). D am it
ergab sich für die Ju g endlichen ein d o p p elter Im puls, länger innerhalb
des B ildungssystem s zu verbleiben.
Z w ischen 1993 u n d 1999 stieg d er A nteil der B ildungsausgaben am
B undeshaushalt um 39% (Tabelle 2). D e r g rößte A nteil der M ittel, die
infolge des gestiegenen H aushaltsansatzes zu r V erfügung standen, w urde
für folgende Zw ecke eingesetzt: 1.) In stan d setzung v o n Schulgebäuden
in ländlichen G egenden; 2.) A uf- u n d A usbau vo n Schulgebäuden u n d
K lassenzim m ern als R eaktion a u f eine gestiegene N achfrage; 3.) M oder­
164 Cecilia B raslavsky

nisierung v erschiedener E inrichtungen; 4.) V ergabe v o n Stipendien in


einer G esam th ö h e v o n 124 M illionen D o llar für m e h r als 100.000 Schü­
ler im siebten, achten u n d n eu n ten Schuljahr zw ischen 1997 u n d 1999
sowie 5.) V ersorgung der S chülerinnen u n d Schüler in den ärm sten P ro ­
vinzen m it S chulbüchern u n d w eiterem Lem m aterial. Zw ischen 1993
u n d 1999 w u rd en an die Schulen in G eg en d en m it dem g rößten A nteil
an B evölkerung, deren G ru n d b ed ü rfn isse n ich t befriedigt sind, m e h r als
15 M illionen Schulbücher übergeben. E in b ed eutender A nteil der finan­
ziellen M ittel w urde auch für die L ehrerausbildung an privaten u n d
staatlichen U niversitäten, L ehrerbildungseinrichtungen u n d anderen m it
dieser A ufgabe b etrau ten In stitu tio n en aufgew andt.

Tabelle 2: Der Anteil der Bildungsausgaben am Bundeshaushalt,


1993-1999

Jahr B ild u n g sa u sg a b e n A n teil der B ild u n g sa u s­ B ild u n g sa u s g a b e n /


(in 1.000 P eso ) g a b e n an d en B ruttoinland sprodu kt
G esa m ta u sg a b en (%)
1993 9.183 19.3 3.5
1994 10.107 19.2 3.6
1995 10.449 19.5 4.0
1996 10.877 20.4 4.0
1997 12.024 21.1 4.1
1998(*) 12.335 13.5 (**) 4.1
1999(*) 12.799 13.6 4.3
(*) vorläufige Angaben; (**) der prozentuale Rückgang ergab sich, weil der Schuldendienst um
mehr als das siebenfache anstieg, während die Gesamtausgaben nur um weniger als das fünffache
Zunahmen. Quelle: Dirección National de Programación del Gasto Social —MEyOSP.

D ie V ergabe u n d V erw altung der R essourcen geschah durch zwei große,


m it eigenen M itteln finanzierte In v estitionsprogram m e u n d zwei kleine­
re, m it M itteln der W eltbank u n d der Interam erikanischen E ntw icklungs­
bank finanzierte Investitionsprogram m e. Bei den m it eigenen M itteln fi­
nanzierten P rogram m en handelte es sich um den „Sozialen B ildungs­
p la n “ (Plan Social Educativo) u n d den „F öderalen B ildungspakt“ (Pacto Fe­
deral Educativo) (Tabelle 3 u. G rafik 1). D ie im R ahm en des Plan Social
Educativo vergebenen M ittel m ussten a u f d er G rundlage v o n A rm utsindi­
kato ren zugew iesen w erden. D ie im R ahm en des Pacto Federal Educativo
vergebenen M ittel w u rd en aufgrund v o n durch die P rovinzen vorgeleg­
ten P rojekten verteilt. D ies führte dazu, dass die M ittel im R ahm en des
T ra n sfo rm a tio n u n d R efo rm des B ildungsw esens 165

Pacto Federal Educativo leichter zugänglich w aren für P rovinzen m it einem


niedrigen A nteil an H aushalten, deren G ru n d bedürfnisse nicht befriedigt
sind, d enn diese P ro v in zen w aren aufgrund der v o rh an d en en techni­
schen u n d professionellen K apazitäten eher dazu in der Lage, Projekte
zu beantragen.

Tabeile 3: Investitionen pro Schüler im Rahmen des Plan Social


Educativo und des Pacto Federal Educativo, 1993-1998 (in US-Dollar)

P rovinzen nach A n teil der H au sh alte m it P acto Federal P lan Social


n ich t befriedigten G rundbedürfnissen E du cativo E du cativo
niedriger A n teil (NBI bajo) 121 95
m ittlerer A nteil (NBI medio) 93 137
hoher A nteil (NBI alto) 59 148
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage von Daten des Programa de Costos del Sistema
Educativo. Secretaria de Programación y Evaluación Educativa.

G ra fik 1: In v e s titio n e n im R a h m e n d e s P a c to F e d e ra l
E d u c a tiv o u n d d e s P la n S o c ia l E d u c a tiv o in In fra s tru k tu r,
L e m m a te ria l, S c h u lb ü c h e r u n d S tip e n d ie n (in % )

70
60
50

20
10
0
PLAN SOCIAL

□ N B I B A JO B N B I M E D I O B N B I A L T O B N B I M E D IO + A L T O |

Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Grundlage von Daten des Programa Estudio de Costos del
Sistema Educativo. Secretaria de Programacióny Evaluación educativa. Zur Erläuterung siehe Tabelle 3.

D em g eg en ü b er p ro fitierten v o m Plan Soäal Educativo in größerem A us­


m aße die P rovinzen m it einem m ittleren u n d h o h en A nteil an H aushal­
ten, deren G ru n d b ed ü rfn isse n ich t befriedigt sind. Beide nationalen P ro ­
gram m e trugen zu einer V erbesserung d er R ahm enbedingungen des Bil­
dungsw esens bei u n d schufen V oraussetzungen, u m dem W unsch der
166 C ecilia B raslavsky

B evölkerung nach längeren Schulzeiten entgegenzukom m en, u n d dies


neben u n d m it einer gew issen U nabhängigkeit v o n den T ran sfo rm atio n s­
prozessen, die die verschiedenen P ro v in zen gleichzeitig im Bereich des
B ildungsw esens in die W ege leiteten.
V erschiedene Indikatoren sprechen für eine angem essen effiziente
u n d w irksam e V erw endung der B ildungsausgaben des N aüonalstaates.
Beispielsweise h eiß t es im m er w ieder, im B ildungssystem stünden viele
P erso n en au f den G ehaltslisten, die keinen U n terricht erteilen. D ies trifft
zu. A b e r a u f diesen Personenkreis entfällt lediglich ein A nteil vo n 16,7%
der B ildungsausgaben d er P rovinzen. D ies scheint nicht zu viel zu sein,
u m den A ufgaben in den B ereichen Führung, A ufsicht, V erw altung u n d
B eratung angem essen nachzu k o m m en . Infolgedessen — u n d auch w enn
die E ffizienz der M ittelverw endung sicherlich in vielen B ereichen noch
w eiter v erbessert w erden m uss — scheint es n icht m öglich zu sein, die
durch die gegenw ärtigen B ildungshaushalte n icht abgedeckten B edürf­
nisse allein d urch eine effizientere V erw en d u n g der zu r V erfügung ste­
hen d en M ittel abzudecken.
A ndererseits übersteigen die B ildungsausgaben der P rovinzen viel­
fach bereits m e h r als ein V iertel d er G esam tausgaben (Tabelle 4). D ah e r
w äre es auch kaum m öglich gew esen, d en A nteil der B ildungsausgaben
w eiter zu erhöhen, u m m eh r M ittel für notw endige R eform en zu erhal­
ten. U n ter U m ständen —u n d w en n der politische W ille dazu vorh an d en
gew esen w äre — hätte m an die B ildungsausgaben au f K o sten der M ittel
für den M ilitärhaushalt u n d für die B edienung der A uslandsschulden so­
wie m ittels E insparungen durch eine effizientere V erw endung der M ittel
für B auten u n d Projekte erh ö h en können. D av o n abgesehen ko n n te die
A lternative jedoch n u r darin b estehen, das W irtschaftsw achstum zu er­
h ö h e n u n d eine positive W echselw irkung zw ischen B ildung u n d w irt­
schaftlicher u n d sozialer E ntw icklung zu erzeugen. D azu w ürde auch ein
fortschrittliches Steuersystem g ehören, w elches die w irtschaftliche P ro ­
duk tio n des L andes als das E rgebnis einer gem einsam en A nstrengung
betrach tet u n d infolgedessen auch dessen F rü ch te zw ischen allen verteilt.
E b e n so ist bekannt, dass die Ineffizienzquellen in den P ro vinzen a u f die
Fortexistenz klientelistischer M echanism en in einem U m feld, das durch
R estriktionen a u f dem A rb eitsm ark t geprägt ist, zurückzu führen sind.
D ie K o m b in atio n aus A rbeitsplatzm angel, einem w enig transparenten
H aushaltsgebaren, ineffizienten etatistischen Praktiken sowie v o rm o d er­
nen O rganisationskulturen w ar ein großes H indernis für F ortschritte in
R ichtung einer effizienteren V erw en d u n g d er H aushaltsm ittel in den
P ro v in zen im allgem einen u n d in einigen P ro v inzen im besonderen.
T ra n sfo rm a tio n u n d R efo rm des B ildungsw esens 167

Tabelle 4: Der Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben


der Provinzen, 1993-1997 (in Prozent)

P rovinz B ild u n g s­ A n dere A u sg a ­ A u sg a b en in s ­


a u sg a b e n b en g e sa m t
B U E N O S A IR E S 32.51 67,49 100
G CBA 31,07 68,93 100
C A T A M A RCA 28,65 71,35 100
CHACO 26,42 73,58 100
CHUBUT 23,09 76,91 100
CORDOBA 31,24 68,76 100
C O R R IE N T E S 26,15 73,85 100
E N T R E R IO S 24,18 75,82 100
FORM OSA 13,64 86,36 100
JUJUY 25,98 74,02 100
LA PA M PA 24,02 75,98 100
LA R IO ]A 26,96 73,04 100
M ENDOZA 28,62 71,38 100
M IS IO N E S 23,50 76,50 100
NEUQUEN 26,68 73,32 100
R IO N E G R O 22,77 77,23 100
SALTA 22,91 77,09 100
SA N JU A N 22,58 77,42 100
SA N LUIS 24,02 75,98 100
SA N T A C R U Z 23,14 76,86 100
SA N T A FE 33,05 66,95 100
SG O . D E L E S T E R O 28,79 71,21 100
T IE R R A D E L F U E G O 17,46 82,54 100
TUCUM AN 28,60 71,40 100
D u rc h sch n itt 28,79 71,21 100
Anmerkung: Es handelt sich um vorläufige Angaben; Quelle: Programa de Costos del Sistema
Educativo. Secretaría de Evaluación y Programación Educativa. Ministerio de Cultura y Educa­
ción de la Nación.
168 Cecilia B raslavsky

U nzureichende und instabile qualitative V erbesserungen

Einige D a te n scheinen dafür zu sprechen, dass auch im H inblick a u f die


E rgeb n isse d er schulischen L ernprozesse F o rtschritte erzielt w erden
kon n ten . Z w ischen 1993 u n d 1999 verzeichnete m an bei den L ern p ro ­
zessen in den B ereichen M athem atik u n d Sprache V erbesserungen u m 7
bzw . u m 26 P ro zen t. D ie g rö ß ten V erbesserungen ergaben sich in den
P ro v in zen m it einem h o h e n A nteil an H aushalten, deren G rundbe-
dürfnisse n ich t erfüllt sind. D ies w aren auch die Regionen, in die die
m eisten M ittel für In frastru k tu r, A usstattung u n d A usbildung flössen
(G rafik 1 u. 2). N eu este D a te n zeigen, dass die Leistungssteigerungen in
den B ereichen Sprache u n d M athem atik, deren B edeutung m an n u r er­
fassen kann, w en n m an berücksichtigt, dass 1.265.000 zusätzliche K inder
u n d Jugendliche in das Bildungssystem integriert w urden, im V e rla u f des
tu rb u len ten Jahres 1999 einen R ückschlag verzeichneten.
Insg esam t stellte sich die Situation des B ildungsw esens im Ja h r 1999
folgenderm aßen dar: D ie B evölkerung w ar an längeren Schulzeiten in te­
ressiert u n d erreichte dies auch; auch bei den A usbildungsergebnissen
w aren F o rtsch ritte zu v erzeichnen u n d d er Staat investierte m eh r M ittel
in das Bildungsw esen. T ro tz d e m w aren viele Stim m en zu h ören, die ihre
U nzufried en h eit m it der Situation zum A usdruck brachten. W ie ist dies
zu erklären?

G ra f ik 2 : Z u n a h m e d e r z u f r ie d e n s te lle n d e n P r ü f u n g s e r g e b n is s e a n
P rim a r- u n d M itte ls c h u le n n a c h P ro v in z e n (g e m ä ß d e m A n te il d e r
H a u s h a lte , d e r e n G ru n d b e d ü r f n is s e n ic h t e rf ü llt s in d ), 1 9 9 3 -1 9 9 8
(in % )

34,8

□ Primarschulen
■ Mittelschulen

NBI Bajo NBI Medio NBI Alto

Anmerkung: NBI Bajo = Provinzen mit 7-16% Haushalten, deren Grundbedürfnisse nicht befrie­
digt sind; NBI Medio = Provinzen mit 17-25% Haushalten, deren Grundbedürfnisse nicht befriedigt
sind; NBI Alto = Provinzen mit mehr als 26% Haushalten, deren Grundbedürfnisse nicht befriedigt
sind.
Quelle: Programa de Estudios de Costos del Sistema Educativo. Ministerio de Educación.
T ra n sfo rm a tio n u n d R efo rm des B ildungsw esens 169

D ie W ahrnehm ung der Reform en durch die Bevölkerung

A ngesichts der o ben beschriebenen Situation könnte m an annehm en,


dass die ablehnenden S tim m en a u f partikulare Interessen der Presse, der
O p p o sitio n , d er Intellektuellen o d er anderer G ru p p e n zurückzuführen
seien; o d er darauf, dass ein Z usam m en h an g zw ischen den dem okratie­
förderlichen B ildungspolitiken u n d den ausgrenzenden W irtschafts- u n d
Sozialpolitiken hergestellt w erde; o d er a u f die U nfähigkeit der Regierung,
ihre E rru n g en sch aften in der Ö ffentlichkeit angem essen darzustellen.
M öglicherw eise findet sich in allen drei Interpretationen ein Teil der
W irklichkeit.
T ro tz d e m kann die zweifellos v o rh an d en e U nzufriedenheit großer
Teile der B evölkerung m it den Bildungspolitiken auch u n te r B ezugnah­
m e a u f andere F ak to ren interpretiert w erden. E ine V erm u tu n g lautet,
dass die erzielten F ortsch ritte aufgrund der dram atischen A usgangssitua­
tio n als T ro p fe n a u f den heißen Stein em p fu nden w urden u n d dass sich
die L eute zudem aufgrund d er besseren V erfügbarkeit v o n In fo rm atio ­
n en sowie d er Präsenz v o n B ildungsthem en in der öffentlichen D iskus­
sion eher darü b er klar w erden k o n n ten , wie gravierend die Situation war.
E in e andere m ögliche E rklärung für die U nzufriedenheit lautet, dass die
B evölkerung zw ar eine Struk turre form für n otw endig erachtete, die tat­
sächlich realisierten R eform en jedoch — da sie nicht in ausreichendem
M aße v erm ittelt u n d erklärt w urden — n ich t richtig verstanden w urden,
zum al die S trukturreform auch m it anderen Strategien hätte um gesetzt
w erden können.
M an kann davon ausgehen, dass ein Teil der U nzufriedenen den A n­
stieg der Investitionen im B ildungssektor w ah m im m t u n d auch selbst
m e h r E nergie in die eigene B ildung investiert. G leichzeitig hab en die
L eute jedoch das G efühl, dass diese In v estitionen n ich t zu den erw arte­
ten E rgebnissen führen, auch w en n einige partielle F o rtschritte zu ver­
zeichnen sind. A nders ausgedrückt: E in Teil der B evölkerung h a t das
G efühl, m eh r B ildungsleistungen zu erhalten, aber ohne dass eine quali­
tative V erbesserung stattgefunden hätte; gleichzeitig sind die L eute der
A nsicht, dass sie eine ganz andere B ildung als v o rh e r benötigen. In ge­
w isser W eise k ö n n te die U nzufriedenheit ein A usdruck dafür sein, dass
eine rein quantitative A usw eitung des aus dem 19. Ja h rh u n d e rt stam ­
m en d en B ildungssystem s n ich t ausreicht, u m die sinnvolle A usgestaltung
einer ausgew eiteten Schulpflicht zu garantieren. E s m uss daher darum
gehen, einen qualitativen S prung in die W ege zu leiten: einen W andel im
H inblick a u f das M odell des Bildungsw esens, im H inblick a u f die A rt
170 C ecilia B raslavsky

u n d W eise, wie Fam ilien, politische E n tscheidungsträger u n d V erw al­


tungsfunktionäre m it diesen Institutionen v erbunden sind. E s geht um
den A u fb au einer neuen Pädagogik u n d einer anderen Bildungspolitik.
E s geht, so kann m an es zusam m enfassen, u m die „N eu erfindung“ der
argentinischen Bildung (Braslavsky 1999b).
Im U m feld der dam aligen Regierung w ar es sehr schw er, diese
H y p o th ese aufzuzeigen, u n d erst recht, V erständnis dafür vorzufinden.
F unktionäre d er v ordersten Linie in Provinzen m it R egierungen u n te r­
schiedlicher politischer C ouleur, die A nhänger der R eform en w aren,
zeigten sich verb lü fft angesichts der paradoxen Situation, dass die V er­
besserungen n ich t au f gesellschaftliche A nerk ennung stießen. M an ver­
stan d nicht, w arum die Leute p ro testierten, obw ohl Schulgebäude errich­
tet, Schulbücher u n d L aborausstattungen verteilt un d H u n d erttau sen d e
v o n Stipendien an bedürftige Jugendliche vergeben w urden.
U n sere H ypothese geht davon aus, dass dies der Fall w ar, weil die
g en an n ten m ateriellen E rfordernisse zw ar für eine V erbesserung der Bil­
du n g n otw endig sind, aber absolut nicht ausreichen, um einen W andel zu
fördern, an dem die B evölkerung sich selbst als T eilhaber versteht. D ie
vorg en o m m en en Investitionen in M aterial u n d Personal w urden v e rm u t­
lich in d er W ahrnehm ung der L eute m it dem bitteren V erdacht in V er­
b in d u n g gebracht, dass es sich dabei um politischen K lientelism us h a n ­
delte, aus dem parteipolitischer N u tz e n gezogen w erden sollte. D ie m it
gew issen Fortsch ritten im Bildungsw esen einhergehende gesellschaftliche
U nzu fried en h eit dürfte d arau f zurück zu fü h ren sein, dass kein um fassen­
der gesellschaftlicher D iskussionsprozess stattfand un d kein breiter K o n ­
sens gesucht w urde hinsichtlich der Fragen, w arum eine N eu erfindung
des argentinischen Bildungsw esens notw endig ist u n d w elche R ichtung
eine derartige R eform neh m en sollte.
D as alte B ildungssystem , w elches sich au sdehnt u n d das m an refo r­
m ieren will, h at seine U rsprünge in E u ro p a u n d basiert a u f zwei aufein­
anderfolgenden Stufen: der Prim ar- u n d d er Sekundarstufe. U rsprünglich
w aren diese beiden Stufen n ich t als konsekutiv konzipiert. D ie siebenjäh­
rige Prim arschule m it einem einzigen L ehrer o der einer einzigen L ehrerin
w urzelt in der V olksschule als bescheidener A lternative für die form ale
B ildung der A rm en. D ie Sekundarschule m it m eh r als zehn L ehrern pro
J a h r g e h t dem gegenüber a u f die G ym nasien u n d Lyzeen zurück, w elche
als A lternative für die form ale Bildung der O b erschichten konzipiert
w u rd en (D ürkheim 1983). D ie E rfin d er dieser M odelle gingen n ich t da­
v o n aus, dass diejenigen, die eine V olksschule besuchen, später auch ein
G ym nasium o d er Lyzeum absolvieren w ürden. A ndererseits w ar es nicht
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 171

notw endig, eine V olksschule b esu ch t zu haben, um in ein G ym nasium


o d er Lyzeum aufgenom m en zu w erden.
D as A uftauchen der europäischen M ittelschichten führte zu einer
langen Phase d er U m stru k tu rieru n g der Bildungssystem e (M üller/R in ­
g e r/S im o n 1992). G rund leg en d e A chse dieser R ekonfiguration w ar die
U n tero rd n u n g eines B ildungstyps u n te r den anderen u n d eine A rt „V er­
kleben“ v o n zwei seh r unterschiedlichen M odellen, oh n e dass m an für
beide wirklich nach neu en E n tw ü rfen gesucht hätte. E rst in den 1950er
Ja h re n stieß die Idee einer G esam tschule in E u ro p a a u f m ehr Rückhalt.
Sie w ar n ich t nur für die A usbildung aller B ürger gedacht, sondern auch
für die A usbildung v o n B ürgern, a u f die durch eine gem einsam e Bildung
eine nivellierende W irkung ausgeübt w erden sollte (H argreaves 1982;
B e n n /C h itty 1997). D ie Idee der G esam tschule blieb stets kontrovers.
T ro tz d e m wmrde sie in einigen L ändern zur v o rh errschenden Schulform
u n d stiftete in anderen viel U nruhe.
D e r V orschlag einer neunjährigen A llgem einen G rundbildung geht
a u f jenes Streben nach sozialer G erechtigkeit u n d politischer G leichheit
zurück. D ie E inrich tu n g eines dritten Zyklus der A llgem einen G ru n d b il­
dung, der die Schülerinnen u n d Schüler der siebten, achten u n d n eunten
K lasse in einer pädagogisch verstan d en en O rganisationseinheit zusam ­
m enfasst u n d den Ü bergang v o n einem im w esentlichen auf Inhaltsver-
m itd u n g u n d Sozialisation orientierten M odell zu einer poly-m odalen
Stufe erleichtern soll, die in überw iegendem M aße der E rläuterung vo n
Z usam m en h än gen dient, spielt bei der V erw irklichung dieses Strebens
eine Schlüsselrolle. G leichzeitig sollen w eitere V orrichtungen für die Be­
w ah ru n g d er V ielfalt u n d die F ö rd eru n g der Freiheit sorgen (Braslavsky
1999b).
E in K riteriu m für die N eu erfin d u n g des argentinischen Bildungssys­
tem s b esteh t infolgedessen darin, das System als ein nach Zyklen stru k ­
turiertes K o n tin u u m zu konzipieren. D e r Föderale Rat für K u ltu r u n d
B ildung einigte sich a u f die O rganisation v o n fü n f Zyklen: A nfangszyk­
lus, prim ärer, sekundärer, tertiärer u n d poly-m odaler Zyklus; au f diese
A rt u n d W eise k ö n n en die K in d er u n d Jugendlichen ihre Schullaufbahn
o h n e abrupte Schnitte zw ischen verschiedenen institutionellen M odellen
durchlaufen. A u ßerdem w urde b eto n t, dass es notw endig u n d m öglich
ist, jedem Zyklus eine eigene Id en tität zu verleihen u n d die einzelnen
Zyklen jeweils m it den v o rh erg eh en d en u n d nachfolgenden abzustim ­
m en. M öglicherw eise ist ein Teil d er U nzu friedenheit m it den Strukturre­
fo rm en in den Bildungs sys tem en einiger P rovinzen d a ra u f zurückzufüh­
ren, dass die genannten K riterien vielen T echnokraten, M edien un d v o r
172 C ecilia B raslavsky

allem A ufsichtsbeam ten, D irektoren, E lte rn u n d Schülern kaum bekannt


sind bzw. v o n ih n en w enig b eachtet w urden.
T atsächlich initiierten die P rov in zen B uenos A ires u n d C ordoba ihre
S trukturreform en a u f d er üblichen Basis v o n R undschreiben. D ie P ro ­
vinz B uenos A ires entschied sich explizit dafür, dem Z ugang der ärm e­
ren B evölkerungsschichten zum Bildungssystem u n d deren V erw eildauer
innerhalb des System s V o rran g zu geben. M an v erordnete zunächst die
O rganisation d er drei Zyklen d er A llgem einen G ru n d b ild u n g innerhalb
desselben Schulgebäudes, w obei im dritten Zyklus der U m fang des
L ehrk ö rp ers reduziert w erden sollte. In d er öffentlichen M einung w urde
diese E n tsch eid u n g als „Prim arisierung“ des dritten Zyklus in terpretiert
u n d führte zu A b leh n u n g u n d W iderstand v o n Seiten der M ittelschich­
ten. D ie Provinz C o rd o b a entschied sich dafür, den ehem als siebten
G ra d der Prim arschule in die Sekundarschulen zu verlagern u n d gem äß
den d o rt existierenden V orsch riften zu organisieren, w o durch die A nzahl
der Schüler zu n äch st zurückging. D iese O p tio n w urde v o n der Ö ffe n t­
lichkeit als „Sekundarisierung“ des siebten G rades interpretiert. V o r al­
lem die G ew erkschaften lehnten dieses M odell ab.
In W irklichkeit ging es bei diesen Politikentw ürfen w eder u m eine
„Sekundarisierung“ des dritten Zyklus —wie es in C o rd o b a den A nschein
hatte —, n o ch u m eine „Prim arisierung“ v o n zwei Jah re n des alten Se-
kundarzyklus —wie es in B uenos A ires d er Fall zu sein schien. E s handel­
te sich darum , im gesam ten Bildungssystem eine A b k eh r v o n der ü b er­
kom m en en E inteilung in Prim ar- u n d S ekundarschulen zu vollziehen.
Stattdessen sollte ein angem essenes System für eine G esellschaft ohne
soziale K lassen geschaffen w erden. D ieses System sollte sich im besten
Sinne an den am bitioniertesten V orschlägen d er liberalen oder sozialisti­
schen U to p ie n orien tieren (M cp h erso n 1977) u n d ein H ö c h stm a ß an
sozialer G erechtigkeit u n d dem okratischem R adikalism us gew ährleisten,
zwei leicht m iteinander zu verein b aren d en Zielen.
D as Fehlen eines angem essenen D iskurses u n d die Schwierigkeiten
bei d er E rarb eitu n g v o n V orschlägen bezüglich der O rganisation u n d
den pädagogischen In h alten des B ildungsw esens, die m it dem tieferge­
h en d en Sinn d er angestrebten Strukturreform übereingestim m t hätten,
füh rten dazu, dass diese in einigen der bevölkerungsreichsten P rovinzen
als „n o ch m eh r A rb eit“ angesehen w urde. V ielen L ehrerinnen u n d L eh­
rern, P rofesso ren , E ltern sowie d er öffentlichen M einung insgesam t fiel
es schw er, V erständnis dafür zu entw ickeln. N eu e G ebäude u n d Bücher,
schön u n d gut. A b er w ozu? D e r S trukturw andel ist sehr kom plex, un d
w iederum : w ozu?
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 173

A ngesichts dieser Zw eifel entschieden sich die R egierung der Stadt


B uenos Aires u n d andere Sektoren für eine V erschiebung des R eform ­
prozesses o d er leh n ten ih n ganz ab. D ies w ar darau f zurückzuführen,
dass es in einer ersten R eform phase so aussah, als o b -der w ichtigste A s­
p ek t d er B ildungsreform n ich t die E tab lieru ng neuer Schulm odelle u n d
einer sie m eh r o d er w eniger harm onisch stützenden S truktur des G e ­
sam tsystem s sei, so n d ern ein Strukturw andel m it dem Ziel, einen
„G rü n d erg eist“ zu hinterlassen. E s h a t den A nschein, als ob d er B evöl­
k erung gelegentlich das M ittel (eine andere Struktur) als Z w eck (instituti­
oneile M odelle m it h arm onischeren Ü bergängen im Sinne einer v erbes­
serten B etreuung der K in d er u n d Jugendlichen) präsentiert w urde. Z u ­
dem scheint es, als o b die in d en füh ren d en P rovinzen gew ählten O p tio ­
n en eine gewisse S tarrheit aufgew iesen hätten. Sie erinnerten teilweise an
die ü b erk o m m en en P olitiken u n d an E n tsch eidungen a u f der G rundlage
em pirisch w enig fündierter u n d nicht genügend zukunftsgerichteter Pla­
nungen. N o tw en d ig gew esen w äre dem gegenüber eine zustandsbezogene
P lanung a u f der G run d lag e eines A bw ägens v o n kreativen A lternativen,
u m den sehr verschiedenartigen Realitäten in den einzelnen Provinzen
m öglichst gerecht zu w erden.
D iejenigen P rovinzen, die den R eform prozess erst in einem zw eiten
Schritt initiierten, schlugen einen anderen W eg ein. D e r Ü bergang zu
neuen S trukturen vollzog sich hier in g rößerem M aße im R ahm en eines
A bw ägens zw ischen verschiedenen A lternativen. Im Z en tru m standen
dabei die jeweils spezifischen B edürfnisse u n d M öglichkeiten der einzel­
nen P rovinzen u n d nicht die rasche E tablierung eines einheitlichen M o­
dells für eine V ielfalt v o n Situationen.
E in zw eites K riterium , das in V erb in d u n g m it dem V orschlag für ei­
ne strukturelle R efo rm des Bildungssystem s steht, bezieht sich au f die
N otw endigkeit, die Schülerinnen u n d Schüler gleichzeitig a u f eine A r­
beitsw elt v o rzubereiten, die geprägt ist v o n einem knappen Stellenange­
b o t u n d einem ständigen W andel, u n d ihnen die für das F inden eines ers­
ten A rbeitsplatzes notw endigen Q ualifikationen zu verm itteln. D erartige
Ü berlegungen stecken h in ter d er E n tsch eid u ng für eine kom plem entäre
O rganisation der poly-m odalen Stufe einerseits u n d den stärker tech­
nisch orientierten A usbildungsw egen (Trajectos Técnico Profesionales) ande­
rerseits. Sie berücksichtigen überdies die T atsache, dass viele A bsolven­
ten diese T echnischen Schulen vorzeitig verlassen u n d dass es unbedingt
n o tw endig ist, daran etwas zu ändern. E s g eht nicht darum , die alten
T echnischen Schulen einfach zu schließen, aber es kann auch nicht zuge­
lassen w erden, dass sie o h n e jegliche R efo rm w eiterm achen wie bisher.
174 Cecilia B raslavsky

D ie D ienstleistungen dieser Schulen m üssen so flexibilisiert w erden, dass


sie fü r unterschiedliche N achfragetypen ein angem essenes A ngebot p rä­
sentieren; für Jugendliche, die die Sekundarschule beendet haben genau­
so wie für solche, die die poly-m odale Stufe der alten H andelsschulen
u n d G ym nasien besuchen u n d ü b er keinerlei technisch-berufsbezogene
A usbildung verfügen, daran jedoch interessiert sind.
E s w urde vorgeschlagen, zwei k om plem entäre A usbildungsw ege ein­
zurichten: eine allgem eine G rundausbildung, die a u f eine ungew isse u n d
im ständigen W andel begriffene A rbeitsw elt v o rb ereitet u n d eine tech­
nisch-berufsbezogene A usbildung, die a u f einen ersten A rbeitsplatz v o r­
bereitet, der sicherlich in einigen Jah ren n ich t m e h r in dieser F o rm exis­
tieren wird. E in solches M odell w u rd e jedoch v o n den L ehrern un d P ro ­
fessoren zahlreicher T echnischer Schulen bei verschiedenen G elegenhei­
ten als n ich t sinnvoll interpretiert, u m als G rundlage für ein B ildungs­
m odell zu dienen, das eine andere —u n d bessere —Z u k u n ft erm öglichen
soll. D ie Frage lautet: w arum ?
E in drittes K riterium das dem V orschlag für eine R eform des Bil­
dungsw esens zugrunde liegt, steh t in Z u sam m enhang m it der N o tw en ­
digkeit, nicht länger eine geringe A nzahl v o n v o rbestim m ten Persönlich­
keitsprofilen zu r G rundlage d er A usbildung zu m achen, so n dern eine
unb estim m te Vielfalt v o n P ersönlichkeiten heranzubilden, die eine ethi­
sche G ru n d ü b erzeu g u n g u n d eine Z ugehörigkeit teilen. D ie alte Sekun-
darschulbildung ging d avon aus, dass es vier P ro to ty p en vo n w ertvollen
P ersönlichkeiten gibt: den A biturienten, den T echniker, den H an d els­
kaufm ann u n d die Lehrerin. D ie B ildung bzw. A usbildung jedes einzel­
nen dieser P ro to ty p en erfolgte m ittels einer A nzahl v o n identischen P lä­
nen u n d P rogram m en, die d ann in sehr unterschiedlichen Z usam m en­
hängen angew andt w urden. In d er Realität führten die unterschiedlichen
K ontex tsim atio n en dazu, dass V eränderungen u n d A npassungen der
Studienpläne u n d -program m e notw endig w urden. Im R ahm en des Bil­
dungssystem s entstanden dadurch zahlreiche höhere Schulen (colégios),
insbeso n d ere private. D ie A usbildungsunterschiede zw ischen diesen
Schulen sind so groß, dass v o n einem anarchischen Z u sta n d gesprochen
w erden kann (A guerrondo 1996). G egenw ärtig gibt es in A rgentinien
m e h r als 2.000 Studienpläne für die Sekundarschulausbildung. In einigen
Pro v in zen übersteigt die Z ahl der verabschiedeten Studienpläne die der
funktionierenden Schulen. D ies alles ist zudem w enig tran sp aren t u n d
kaum dazu geeignet, u m d en Fam ilien u n d Jugendlichen eine E n tsch ei­
dung ü b e r den zu w ählenden A usbildungsw eg zu erm öglichen.
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 175

U m diese Situation zu verändern, erfand m an eine neue E inrichtung,


die „curriculare G ru n d stru k tu r“ (estructura curricular básica): Sie besteht
n ich t m eh r aus einem Studienplan m it der gleiche A nzahl v o n M aterien
für drei o d er vier P ro to ty p en v o n A b solventen bzw. aus einer w enig
transparenten Vielfalt m ultipler, aber gleicherm aßen rigider Studienpläne,
so n d ern u m fasst vielm ehr die flexible U n terstü tzu n g für „R äum e“ (espa­
cios), im R ahm en derer die P rovinzen o d er die B ildungsinstitutionen die
V erm itdung d er allgem einen G ru n d k en n tn isse (contenidos básicos comunes)
e n tsp rech en d ihren V orstellungen u n d B edürfnissen organisieren können
(Consejo Federal de C ultura y E d u cación 1996). D iese S truktur beinhal­
tet n u r w enige rigide B estim m ungen. E in e davon lautet, dass die Schüler
in jedem Ja h r an h öchstens zeh n „curricularen R äum en“ (M aterien,
W orkshops, Projekte u.a.) teilnehm en können. V orgesehen ist außerdem
in allen Fällen die R ealisierung v o n F orschun gsprojekten un d V orträgen
sowie ein P raktikum im sozialen Bereich o d er in der W irtschaft.

A u f dem W eg zu ein em neuen Führungsm odell

E ine w eitere E rru n g en sch aft dieser Jah re d er T ransform ation des Bil­
dungssystem s ist die H erausbildung u n d A kzeptanz eines gem ischten
F ührungsm odells im B ereich der B ildung (Braslavsky 1999a). Bis v o r
kurzem argum entierte m an a u f d er G rundlage einer fundam entalisti­
schen R hetorik, dass die gesam te V erw altung des Bildungssystem s de­
zentralisiert w erden sollte. D ab ei w urde nicht berücksichtigt, dass die
V erw altung des Bildungsw esens erstens darin besteht, eine große M enge
v o n R essourcen a u f verschiedene B ildungseinrichtungen zu verteilen u n d
zw eitens die B eteiligten so zu m obilisieren u n d bei ihren B em ühungen
zu u n terstü tzen , dass sie in voller A u sü b u n g ih rer K reativität m ittels gu­
ter L eh rm eth o d en für ein funktionierendes B ildungssystem sorgen. Z u r
E rreich u n g dieser Ziele gibt es jedoch keinen K önigsw eg. D ie T ra n sfo r­
m atio n des Bildungsw esens w urde m it H ilfe v o n m indestens vier u n te r­
schiedlichen F ü h ru n g sm ed io d en angestoßen.
D ie erste k ö n n te m an als dekonzentrierte Im plem entierung bezeich­
nen. A u f diese W eise w urden die k o m pensatorischen Politiken in einem
beträchtlichen Teil des Landes in die Praxis um gesetzt. D abei handelt es
sich u m jene Politiken, deren Ziel es ist, einen A usgleich für die sehr u n ­
terschiedlichen R ahm enbedingungen des Bildungsw esens in den einzel­
nen P ro v in zen zu schaffen. E s ging u m die G ew ährleistung einer ausrei­
ch en d en E rn äh ru n g sg ru n d lag e für die jeweilige B evölkerung, um die
G arantie einer angem essenen Infrastruktur u n d die B eschaffung v o n Lehr-
176 Cecilia B raslavsky

materialien, aber auch u m technische U nterstützung, u m in den einzel­


nen B ildungseinrichtungen qualifizierte E ntscheidungsprozesse zu er­
m öglichen.
D ie zw eite M odalität k ö n n te als inter-gouvernem entale K o n zertie­
ru n g bezeichnet w erden. Sie b esteh t darin, dass E ntscheidungen un d
H andlungslinien v o n den — unterschiedlichen politischen P arteien ange­
hören d en — R epräsentanten d er D epartem entregierungen u n d d er natio­
nalen Regierung gem einsam entw ickelt, getroffen un d evaluiert w erden.
Als F o ru m für den D ialog u n d die Suche nach K o m p ro m issen diente der
„Föderale R at für K u ltu r u n d Bildung“ (Consejo Federal de C ulturay Educa­
ción). N iem als zu v o r in d er G eschichte des argentinischen B ildungsw e­
sens existierte ein derartiger M echanism us, um den föderalen C harakter
der V erfassung m it L eben zu füllen. Z u m ersten Mal gelang es, die In te ­
ressen u n d Funktionsw eisen gro ß er u n d kleiner P rovinzen m iteinander
zu versö h n en , u n d dies unabhängig davon, ob sie vo n einer der beiden
großen Parteien o d er v o n einer P rovinzpartei regiert w urden. D ie inter-
gouvernem entale K onzertierung w eist n ichtsdestotrotz eine Schw äche
auf, d enn sie u m fasst keine Ü bereinkünfte m it den zivilgesellschaftlichen
K räften. In Einzelfällen w ar es m öglich, m it diesen Sektoren in einen D i­
alogprozess zu treten. D ies hing aber v o m jeweiligen T hem a u n d v o n
den spezifischen Z eitum ständen ab.
Als dritte M odalität im R ahm en des gem ischten Führungsm odells
setzte m an a u f die technische Z usam m enarbeit zw ischen den einzelnen
Provinzen. D ie verantw ortlichen G rem ien der verschiedenen Provinzen
trafen E n tsch eid u n g en u n te r Berücksichtigung der jeweiligen regionalen
G egebenheiten, sie griffen jedoch gem einsam a u f existierende K apazitä­
ten zurück u n d tauschten sich ü b er E rfah ru n g en u n d L ernprozesse aus.
D iese F o rm der F ü h ru n g w urde einigerm aßen erfolgreich zu r A usarbei­
tun g der L ehrpläne für die einzelnen P rovinzen angew andt.
D ie vierte Führungsm odalität im R ahm en des gem ischten M odells
bestan d in einer K o n zertieru n g a u f lokaler E bene. D abei ging es insbe­
sondere um E ntscheidungen darüber, an w elchen O rten die Zyklen des
reform ierten B üdungssystem s angesiedelt w erden sollten. A n den V er­
handlungen hinsichtlich der territorialen R eorganisation der B ildungs­
dienstleistungen w u rd en sow ohl die G em einden als auch kom m unale In ­
stitutionen beteiligt. L eider g riff m an n u r in w enigen P rovinzen au f diese
F o rm d er K o n zertieru n g zurück, beispielsweise in La Pam pa. Z u d em ge­
schah dies erst, nach d em die beiden g ro ß en Parteien F ortschritte bei der
E inigung ü b er eine territoriale R eorganisation des Systems erzielt hatten.
D abei w u rd en die M öglichkeiten für eine E inbeziehung der G em einden
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 17 7

u n d an derer dem B ildungsw esen n ah esteh en d er Institutionen in den D is­


kussionsprozess n ich t ausgeschöpft.
D as gem ischte F ührungsm odell erm öglichte es, E rfah ru n g en zu
sam m eln u n d gleichzeitig sehr unterschiedliche P roblem e zu lösen. An­
dererseits erforderte dieses M odell v o n Seiten d er Schulen, sich a u f sehr
unterschiedliche L ogiken einzulassen, je nachdem , w elche R essourcen
für sie v orgesehen w aren u n d w elche P rozesse g efö rd ert w erden sollten.
W äh ren d die erste F ü hrungsm odalität den unitarischen u n d zentralisti­
schen T raditionen einerseits u n d den w ohlfahrtsstaatlichen andererseits
n äh er steht, greift die vierte M odalität d er Realisierung einer sozialen
D em o k ratie vor, die a u f K räfte angew iesen ist, die in der argentinischen
Zivilgesellschaft n ich t im m er v o rh an d en sind.

Errungenschaften und Schw ierigkeiten der Bildungsreform

Sechs Jahre nach dem B eginn der letzten Phase der B ildungsreform
k o n n ten m indestens sechs E rru n g en sch aften u n d zahlreiche Schw ierig­
keiten u n d D efizite hervorg eh o b en w erden.
E ine erste E rru n g en sch aft b estan d darin, dass es gelang, F ortschritte
bei d er Integration d er K inder u n d Jugendlichen aus den ärm eren Bevöl­
kerungsschichten in das Schulsystem zu erzielen. G leichzeitig existierten
jedoch große H indernisse a u f d em W eg zu r V erw irklichung eines ange­
m essenen pädagogischen K o n zep tes, um H eranw achsenden, die v o n der
Straße in die Schulen geholt w erden ko n n ten , kognitive u n d zu r G estal­
tu n g des Z usam m enlebens notw endige Fähigkeiten zu verm itteln un d
dam it ihre L ebensqualität zu verbessern.
D ie zw eite E rrung en sch aft bestan d in den F o rtschritten hinsichtlich
einer w ürdevolleren A u sstattu n g d er schulischen L ehr- u n d L em räum e.
D ie Schulgebäude w u rd en m odernisiert u n d renoviert, die B ildungsein­
richtungen verfügten jetzt ü b er eine bessere A usstattung: T extbücher,
L ehrerbibliotheken, C om puter, L aboreinrichtungen. T ro tz dieser V er­
besserungen w ar m an aber n o ch w eit en tfern t v o n für alle Schülerinnen
u n d Schüler des L andes angem essenen u n d einigerm aßen vergleichbaren
V oraussetzungen. Z u d em en tsprach den Investitionen in den Bereichen
In frastru k tu r u n d A usstattung keine gleicherm aßen effiziente V erbesse­
ru n g hinsichtlich der L ehrerausbildung. T ro tz gro ß er A nstrengungen
stießen die a u f den W eg gebrachten A us- u n d W eiterbildungsm odelle
n ich t a u f große Begeisterung v o n Seiten der L ehrer u n d k o n n ten nur
w enig dazu beitragen, deren Fähigkeiten zu r Bew ältigung v o n P roblem en
des Schulalltages zu stärken.
178 C ecilia B raslavsky

D ritten s k o n n ten F ortschritte im H inblick au f die L ernerfolge erzielt


w erden. D ie N eugestaltung der L ehrpläne u n d die V erbesserungen h in ­
sichtlich d er angew andten L ernm odelle in vielen B ildungseinrichtungen
des L andes trugen v o r allem in den ärm sten P rovinzen zu besseren
Lernerfolgen in den Bereichen Sprache u n d M athem atik bei. T ro tzd em
gingen auch hier die F ortsch ritte ungleichm äßig u n d langsam vonstatten
u n d reichten bei w eitem nicht aus, u m den H erausforderungen des X X I.
Ja h rh u n d erts angem essen zu begegnen. Z u d em gab es auch im H inblick
au f diesen A sp ek t R ückschritte u n d Stagnationen.
V iertens k o n n te erreicht w erden, dass die B em ühungen u m eine E r­
neu eru n g des Bildungsw esens nicht m eh r in aller H eim lichkeit v o rg e­
b rach t w erd en m ussten, so n d em als legitim u n d w ünschensw ert galten.
T ro tz dieser neuen W ertschätzung für eine grundlegende S trukturreform
gab es erst w enige B ildungseinrichtungen, die m essbare un d übertragbare
In n o v atio n en verw irklicht hatten, die sich auch in den E rgebnissen der
L ernprozesse a u f Seiten d er Schülerinnen u n d Schüler niederschlugen.
F ünften s k o n n te das Szenario für einen grundlegenden W andel des
gesam ten Bildungsw esens entw ickelt w erden. D abei w urden die U n ter­
richtspraxis, die institutionellen u n d strukturellen M erkm ale, alle E b en en
u n d F unktionsw eisen des Systems u n d einige w eitere A spekte berück­
sichtigt. In der T a t gab es kaum einen A spekt des B ildungsw esens, der
n ich t in Frage gestellt u n d ü b er den in den M inisterien nicht a u f die eine
o d er andere A rt u n d W eise nachgedacht w orden wäre. A ber gleichzeitig
w aren in diesem Z usam m enhang m indestens drei D efizite zu beklagen.
D as erste hing m it d er Schwierigkeit zusam m en, einen Z eitplan für die
R efo rm des gesam ten Bildungsw esens aufzustellen, oh n e dabei —wie Ju ­
an C arlos T edesco (1998) sagen w ü rd e —alles zu r gleichen Z eit u n d u n ­
terschiedliche Z u sam m en h än g e stets a u f die gleiche A rt u n d W eise
anzugehen. D as zweite D efizit bezog sich au f die Schwierigkeiten, den D ia­
log m it allen B etro ffen en in einer für sie verständlichen Sprache zu pfle­
gen u n d au f ihre spezifischen In teressen so einzugehen, dass sie ihre ei­
genen Beiträge einbringen u n d so die staatlichen V orschläge um deuten
o d er g ar zu deren vollständiger U m orientierung beitragen konnten. In
der R egel ging m an davon aus, dass dieses D efizit politischer N atu r sei.
E ine alternative A n sich t lautete dagegen, dass es dabei zw ar eine politi­
sche K o m p o n e n te gebe, darüber hinaus aber auch eine m ethodologische
K o m p o n e n te , die m it einem w eiteren D efizit Zusam m enhänge: dem F eh ­
len installierter K apazitäten, um einen k o nzertierten W andel der seit lan­
gem existierenden u n d tiefgreifend verw urzelten Strukturen, Praktiken
u n d R epräsentations form en in die W ege zu leiten.
T ra n sfo rm a tio n u n d R e fo rm des B ildungsw esens 179

Sechstens gelang es zum indest teilweise, das technische Personal u n d


die L eh rer in die U m setzung einiger A spekte der B ildungsreform einzu­
beziehen, aber es w ar nicht m öglich, ein B ündnis zw ischen B ildungsein­
richtungen, Fam ilien u n d G em ein d en zustande zu bringen. Z w ar gab es
in ländlichen Sektoren in dieser H in sich t große F ortschritte, aber im
g rö ß ten Teil d er u rb an en G esellschaft u n d ganz besonders in den m argi­
nalen G eg en d en d er g roßen Städte k o n n te n icht verhindert w erden, dass
E le n d u n d G ew alt a u f die B ildungseinrichtungen Übergriffen. N o c h we­
niger gelang es, W ege zu finden, m ittels derer aus den B ildungseinrich­
tungen heraus eine G egenkultur des Z usam m enlebens u n d der P otenzie­
rung d er Fähigkeiten zur V erbesserung d er L ebensqualität entw ickelt
w o rd en wäre.
M öglicherw eise sind die E rru n g en sch aften in h ohem M aße a u f die
Fähigkeit zu rückzuführen, die Spielräum e des B ildungssektors für F o rt­
schritte bei seiner S elbsttransform ation zu nutzen. D azu trug die m ehr
o d er w eniger dauerhafte U n terstü tzu n g d urch einen Teil der politischen
M achthaber bei, aber auch die innerhalb des Bildungssektors selbst erkann­
te N o tw endigkeit, durch den W andel eine neue L egitim ationsgrundlage
u n d die n o tw en d ig en R essourcen für seinen F o rtb esta n d zu erhalten.
Viele d er D efizite hingen m öglicherw eise m it d er schw ierigen sozio-
ö k o nom ischen Situation zusam m en.
F ü r die B ildungspolitik nach dem E n d e d er R egierung M enem gab es
zahlreiche A lternativen. E in er W eiterführung der B ildungsreform setzte
die E in sich t voraus, dass strukturelle V eränderungen ebenso notw endig
seien wie ein a u f nationaler E b en e reguliertes B ildungssystem , dass das
nationale B ildungsm inisterium diesbezüglich eine w ichtige Rolle spielen
m üsse u n d dazu die U n terstü tzu n g aller Sektoren benötige u n d dass die
Investitionen in den Sektor w eitergehen m üssten. E ine andere A lternati­
ve bestan d darin, die K o m p eten zen des nationalen M inisterium s zurück­
zuschneiden u n d zu einer in erster Linie an Finanzgesichtspunkten orien­
tierten B ildungsreform zurückzukehren, wie sie — bei einem m e h r oder
w eniger g ro ß en Bew usstsein aller Beteiligten hinsichtlich dieser T atsache
— die erste P hase der Regierung M enem prägte. D ies hätte bedeutet, die
Z uständigkeit für S trukturreform en bei den P rovinzen anzusiedeln, den
R essourcenfluss in den B ildungssektor zu reduzieren u n d die B eteiligung
des B ildungsm inisterium s an der E valuierung der L ernerfolge einzu­
schränken. E in e dritte A lternative b estan d darin, ungeduldig zu w erden
u n d m it m e h r o d er w eniger R essourcen zu einer neo-keynesianischen
Politik d er direkten In terv en tio n des N ationalstaates zurückzukehren,
u m einen A usgleich für die U ngleichheiten zu schaffen, ohne diese E in ­
180 C ecilia B raslavsky

griffe m it d er F ö rd eru n g v o n S trukturreform en zu verbinden, die m it


den Provinzm inisterien abgesprochen w erden m üssten.
Z u m Z e itp u n k t d er A bfassung dieses Beitrages w ar no ch nicht klar
abzusehen, w elcher K urs die n ächsten Jah re prägen w ürde. D ie in der
letzten Phase d er R egierung M enem verantw ortliche F ü h ru n g des natio­
nalen B ildungsm inisterium s verfügte n ich t ü b er ausreichende Spielräu­
m e, u m ih r M andat m it einer E valuierung ih rer Politiken zu vervollstän­
digen, die en tsp rech en d en In fo rm atio n en aufzubereiten u n d die öffentli­
che D eb atte darü b er anzuregen. D ie R essourcen sind knapp u n d die
H erau sfo rd eru n g en zahlreich. V ielleicht schlägt erneut die S tunde des
Parlam entes.

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Auf dem Weg zur Norm alität. Die Außenpolitik der


Regierung M enem zwischen pragm atischem
Bilateralismus, neuen Integrationsim perativen und
sicherheitspolitischen Arrangements

A u sgangsb ed in gun gen , außenpolitische Grundprinzipien und


Prioritäten der R egierung M enem

N ach Jah ren d er M ilitärherrschaft (1976-1983) sah es der erste dem okra­
tisch gew ählte Präsident, Raúl A lfonsin, angesichts des gravierenden Le-
gitim itätsverlusts w äh ren d d er D ik tatu r — in der Innenpolitik: schw ere
M enschenrechtsverletzungen, der w irtschaftliche N iedergang u n d eine
dram atisch ansteigende V erschuldung, in d er A ußenpolitik: N iederlage
im F alkland/M alvinen-K rieg —als seine vorrangige A ufgabe an, die D e ­
m okratisierung nach innen m it einer bew ussten Reintegration nach au­
ß en zu v erb in d en (B odem er 1987: 21-37 u. 1996: 273-296). A ufrechter­
h altung des intern en u n d internationalen Friedens, K onsolidierung der
D em okratie, w irtschaftliche u n d soziale E ntw icklung, R espektierung der
M enschenrechte u n d E rh ö h u n g d er außenpolitischen E ntscheidungsau­
ton o m ie galten als strategische Leitziele der neuen Politik. Insgesam t
sollte die A ußenpolitik durch einen n euen Realism us u n d Pragm atism us
gekennzeichnet sein, d er jedoch eine ethische F undierung nicht aus­
schloss, sie vielm ehr im G egenteil nachdrücklich forderte. D e m D ilem ­
m a der p erm an en ten „Statussuche“ (G rabendorff) A rgentiniens versuch­
te die neue R egierung d adurch zu entgehen, dass sie aus der N o t gleich­
sam eine T u g en d m achte u n d A rgentinien als „w estliches, blockfreies,
a u f dem W eg d er E n tw ick lu n g befindliches L an d “ (un país occidental, no
alineadoy en vías de desarrollo) ap ostrophierte. V o r dem H in tergrund der ge­
n an n ten Ziele u n d außenpohtischen P rioritäten galten gleichsam als „na­
türliche“ A n sp rech p artn er (1) Lateinam erika (vor allem die traditionellen
Rivalen Chile u n d Brasilien); (2) die V ereinigten Staaten u n d (3) W esteu­
ropa.
Als M enem im Juli 1989 die R egierungsgeschäfte v o n seinem A m ts­
vorgänger A lfonsin ü b ern ah m , sah er sich m it grundlegend gew andelten
internationalen u n d intern en L ageparam etern konfrontiert. M it der fried-
184 K laus B o d em e r

lichen R evolution in O steu ro p a u n d dem Fall der B erliner M auer w ar die


Ä ra des K alten K rieges u n d d er B lockkonfrontation zu E nde. G eorge
B ush rie f die U SA als G ew inner aus u n d p rognostizierte das A ufkom ­
m en einer „N eu en W elto rd n u n g “ . Francis Fukuyam a diagnostizierte des
„ E n d e der G eschichte“ m it dem „furchdosen Sieg des ökonom ischen
u n d politischen L iberalism us“ (Fukuyam a 1989: 3). A ndere sahen eine
A ra des C haos voraus. W äh ren d die G efah r der V ernichtung durch
A tom w affen sich spürbar reduziert hatte, d ro h ten andere K onflikte, sei
es zw ischen den Zivilisationen (H untington 1993) oder endang sozio-
ökono m isch er B ruchlinien (Brzezinski 1993). Bislang eher latente, v o n
der System konkurrenz überlagerte E ntw icklungstrends im innersystem i­
schen B ereich (D em okratisierung), au f der transnationalen E b en e (öko­
nom ische G lobalisierung) wie in den internationalen Institutionen (E in­
schw ören au f den sog. „K onsens v o n W ashington“) w urden deudicher
sichtbar u n d w ichtiger, als in Z eiten des K alten Krieges. M ilitärisch w ar
das internationale System n u n m e h r unipolar, m it den USA als unb estrit­
tenem Z en tru m , w irtschaftlich m ultipolar m it der T riade N orth American
Free Trade Association (N A FT A ; M itglieder: USA, K anada, M exiko), E u ­
ropäische U nion (EU) u n d Jap an als K ern.
In seiner A ußenpolitik versuchte M enem v o n A nfang an —entgegen
seiner in der T radition des klassischen P eronism us stehenden R hetorik
w äh ren d des W ahlkam pfs — sich den neuen Strukturen, Prozessen u n d
Regeln in der W eltw irtschaft u n d W eltpolitik anzupassen. D e m G ew icht
der Ö k o n o m ie u n d einem erw eiterten Sicherheitsverständnis entspre­
ch en d stützte sich die „neue A ußenpolitik“ a u f zwei Pfeiler: zum einen
die Flandelspolitik (unter den Leitgedanken der V oraussehbarkeit, Stabi­
lität u n d Ö ffnung), zum anderen a u f eine sicherheitspolitische Strategie,
die K onflikte (insbesondere m it dem H eg em on USA un d den Rivalen
Brasilien u n d Chile) v erm ied u n d sich den verschiedenen internationalen,
hem isphärischen u n d regionalen A brüstungsschritten nicht länger ver­
w eigerte (Bem al-M eza 1999: 57-58). D e r neue außenpolitische K urs ba­
sierte v o r allem a u f drei G rundeinsichten:

1. In einer liberalen D em okratie u n d einem internationalen K ontext, in


dem ein konfliktives V erhalten zur w estlichen F ührungsm acht USA
m it erheblichen K o sten v erb u n d en ist, m uss es das vorrangige Ziel
d er A ußenpolitik sein, den B ürgern zu dienen. N ach der V eranke­
ru n g der D em okratie als H errsch aftsfo rm u n d Regelsystem nach in­
n en u n d ihrer glaubhaften P ropagierung nach außen — beides das
unbestreitbare V erdienst der Regierung A lfonsin — hieß „den B ü r­
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d er R egierung M en em 185

gern d ienen“ n u n m e h r in erster Linie F ö rderung des w irtschaftlichen


W achstum s — ein Feld, a u f dem die Radikalen ru n d u m versagt h a t­
ten.
2. D as nationale Interesse definiert sich u n te r den gegenw ärtigen Be­
dingungen in erster Linie durch w irtschaftliches W achstum . D ies gilt
in beso n d erem M aße für ein L and der D ritte n W elt, das keinen
glaubhaften externen B edrohungen ausgesetzt ist;
3. D ie V ereinigten Staaten sind die m it A b stan d w ichtigste externe Be­
zugsgröße für die A ußenpolitiken der lateinam erikanischen Staaten,
w eshalb es v o n vitalem Interesse ist, m it dieser M acht stets gute Be­
ziehungen zu pflegen, solange davon n icht vitale m aterielle In teres­
sen in M itleidenschaft gezogen w erden. D araus zog die neue Regie­
ru n g den Schluss, dass jede n ich t m it der E ntw icklung A rgentiniens
v erb u n d en e H erau sfo rd eru n g der nord-am erikanischen F ührungsrol­
le k o n trap ro d u k tiv ist (E sc u d é /F o n ta n a 1995: 5).

E n tsp rech en d diesen G ru ndeinsichten distanzierte sich M enem v o m rea­


listischen (m achtpolitischen) M odell der A ußenpolitik ebenso wie vom
idealistischen M odell seines V orgängers A lfonsin u n d sprach sich für ei­
ne B ürger-zentrierte (ciudadano-céntrica) neue A ußenpolitik aus. D e re n A k­
zentsetzungen sollten durch die Schlüsselbegriffe „R ealism us“, „P ragm a­
tism us“ u n d „N o rm alität“ v erdeutlicht w erden. A ußenm inister Cavallo
gab en tsprechende Interpretationshilfe: „Realistisch“ sei die argentini­
sche A ußenpolitik dann, w en n sie in den B eziehungen m it den b efreun­
deten N atio n en das geeignete politische A m biente für die L ösung der
dringenden ö konom ischen u n d sozialen P roblem e der argentinischen
B evölkerung schaffe; sie sei „pragm atisch“, w enn sie a u f einen (falschen)
prindpismo u n d idealismo (nach A uffassung d er R egierung M enem die K ar­
dinalsünden d er A lfonsinschen A ußenpolitik) verzichte; sie sei „n o rm al“,
w enn sie nach dem V orbild d er erfolgreichen L änder des N o rd e n s ihre
P roblem e m it V ern u n ft u n d Seriosität zu lösen versuche m it dem Ziel,
den L ebensstandard der eigenen B evölkerung zu heben (M inisterio de
R elaciones E xteriores y C ulto, 21.9.1989: 1).
A u f d er Basis dieser L eitprinzipien fixierte die R egierung M enem
drei außenpolitische Prioritäten:

1. die V ertiefung d er B eziehungen m it den F ührungsm ächten des N o r­


dens, insbesondere den V ereinigten Staaten u n d (m it A bstand) der
E G m it dem Ziel, „eine gute Integration des L andes in die W eltw irt­
schaft u n d eine gute L ösung d er V erschuldungsfrage „ zu erreichen;
186 K laus B o d e m er

2. den A usbau der B eziehungen m it den lateinam erikanischen N ach ­


barn, insbesondere Brasilien u n d Chile;
3. die Ü b erw indung der V erhandlungsblockade in der Falkland/M alvi-
nas-Frage (B odem er 1996: 275-276; F uentes 1996: 24).

Alle drei Politikfelder w eisen —wie im F olgenden zu zeigen sein w ird —


n eb en d er diplom adschen u n d w irtschaftlichen auch eine sicherheitspoli-
dsche D im en sio n au f (K u rte n b a c h /B o d e m e r/N o lte 2000).

D ie privilegierten B eziehu n gen zu den USA - Z w ischen „neuem


P ragm atism us“ und vorauseilendem Gehorsam

D as schwierige V erhältnis zu den USA d urchzieht wie ein ro ter F aden


die argendnische D iplom atiegeschichte v o n der ersten Panam erikani­
sch en K o n fe re n z in W ash in g to n (18 8 8 /8 9 ) bis in die jüngste Zeit.
A rgentinien ging system atisch a u f K o n fro n tatio n sk u rs zu den USA in in­
ternationalen O rganisationen u n d K onferenzen, lehnte die M onroe-
D o k trin ab, b estan d a u f einer neutralen P osition in den beiden W eltkrie­
gen, v e rtra t in den Ja h re n des ersten P ero n ism us (1945-1955) einen
D ritten , v o r allem gegen die U SA gerichteten außenpolitischen K urs un d
arbeitete ü b er Jah re aktiv in der B lockfreienbew egung mit. Zivil- wie Mili­
tärregierungen verw eigerten ihre U nterschrift u n ter den V ertrag über die
N icht-V erb reitu ng spaltbaren M aterials u n d den V ertrag v o n Tlatelolco
ü b er eine atom w affenfreie Z o n e in Lateinam erika. D as L and lieferte sich
bis E n d e der 70er Jah re m it dem Rivalen Brasilien einen W ettlau f m it ei­
n em eigenen N uklearprogram m , legte den G rundstein für eine eigene
R ak eten p ro d u k tio n (Condor 1 u n d 2), stand 1978 am R ande eines Krieges
m it Chile u n d stü rzte sich 1982 in d en F alkland/M alvinas-K onflikt.
V erantw ortlich für das belastende Legat w aren m ehrere Faktoren:

1. die ein halbes J a h rh u n d e rt (1880-1930) w ährende, a u f einer extensi­


ven L andw irtschaft basierende, w irtschaftliche P rosperität, die A m ­
bitionen in R ichtung eines G roßm acht-S tatus aufkom m en ließ;
2. die geographische Isolierung A rgentiniens, die dazu verleitete, den
internationalen K o n te x t aus dem Bück zu vertieren u n d den eigenen
Status zu ü b erhöhen;
3. ein durch curriculare E lem en te im argentinischen Erziehungssystem
verstärk ter N ationalism us, der die eigene G eschichte glorifizierte, die
S onderrolle des L andes h erv o rh o b u n d seine künftigen M öglichkei­
ten system atisch überzeichnete;
A u f dem W eg z u r N orm alität. D ie A u ß en p o litik d er R egierung M en em 187

4. d er eklektische U m gang m it b estim m ten T h eorien der internationa­


len B eziehungen, w obei dependenzth eo retische un d geostrategische
V orstellungen m it solchen des Idealism us u n d (N eo)-R ealism us ein
je nach politischer K o n ju n k tu r u n d R egim etyp variables, in der Regel
jedoch äußerst diffuses M ischungsverhältnis eingingen (Escudé
1998: 63-66).

W äh ren d A lfonsin nach einer ersten P hase eines eher distanzierten V er­
hältnisses in der zw eiten H älfte seiner A m tsp eriode den B eziehungen zu
den U SA stillschw eigend den ersten Platz einräum te, ließen M enem u n d
sein A u ßenm inister Cavallo, ab 1992 d ann dessen N achfolger D i Telia,
keine G elegenheit aus, die U SA d em onstrativ als den privilegierten P art­
n e r hinzustellen. D ieses V erhalten w ar n ich t zuletzt K o n sequenz einer
Allianz m it der lokalen Finanz- u n d U ntem ehm erelite u n d deren In teres­
senvertretungen. Ih m lag die Präm isse zugrunde, dass A rgentinien als
m ittlere M acht nicht ü b er die K apazität verfüge, u m eine globale A u ß e n ­
politik zu betreiben, vielm ehr pragm atisch sich a u f jene P a rtn e r zu kon­
zentrieren habe, v o n denen m an am ehesten U n terstützung bei dem v o r­
rangigen (entw icklungs)politischen Ziel: dem A ufbau einer ökonom isch
p o te n te n , a u f dem W eltm arkt konkurrenzfähigen u n d w eltw eit respek­
tierten M ittelm acht erw arten könne. A ußenpolitik w urde dam it — m ehr
no ch als zu Z eiten A lfonsins — zum Reflex der Innenpolitik (B odem er
1991).
D ass die U SA u n te r den privilegierten P artn ern so eindeutig den ers­
ten Platz einnehm en sollten, hatte w eitere G ründe: Z u m einen erschie­
n en die U SA in d er P erzep tio n der peronistischen R egierung auch in der
post-b ip o laren W elto rd n u n g als die politische u n d m ilitärische F üh ru n g s­
u n d regionale V orm acht. A u ch galten sie als glaubw ürdigster G aran t ei­
n er freien M arktw irtschaft, d.h. der W irtschaftsordnung, die nach dem
Z u sam m en b ru ch der sozialistischen Planw irtschaften n u n m eh r unange­
fochten die Szene beherrschte. Z u dem H eg em o n a u f K o n fro n tatio n zu
gehen —wie in der V ergangenheit m ehrfach geschehen —zahle sich nicht
aus, sei vielm ehr den eigenen Interessen a u f der ganzen Linie abträglich.
Z u m anderen m ache die v o n A lfonsin geerbte chaotische W irtschaftssi­
tu atio n die U n terstü tzu n g der U SA (als H andelspartner, K reditgeber u n d
Investor, v o r allem aber als p o te n te E influssgröße in den internationalen
Finanzinstitutionen) notw en d ig er denn je (B u sso/B ologna 1994: 29).
Als M enem 1989 inm itten eines w irtschaftlichen D esasters vorzeitig
das R u d er üb ern ah m , w ar die B ush-A dm inistration zu n ächst ausgespro­
chen skeptisch, ob ein in d er internationalen Presse als Provinzcaudillo
188 K lau s B o d e m e r

beschriebener Politiker bereit sein w ürde, m it der tradidonell anti-am eri­


kanischen T radition seiner P artei zu brechen. D e m K o n z e p t entspre­
chend, dass ein konfliktfreies V erhältnis zu r w estlichen F ü h rungsm acht
auch eine sicherheitspolitische In v estition darstelle, g riff die neue Regie­
rung im R ahm en ihrer Strategie des low profile zu w eitreichenden K o n zes­
sionen in den konfliktiven Fragen d er bilateralen A genda, u m sich das
V ertrau en d er U SA zu erw erben. So entsandte der neue P räsident w äh­
ren d des G olf-K rieges d em onstrativ ein T ru p p en k o n tin g en t u n d zwei
K riegsschiffe in die K risenregion. D iese innenpolitisch heftig um strittene
A ktion — eine ureigene Idee M enem s — sollte sym bolisch A rgentiniens
neue A ußenpolitik u n d seinen Schulterschluss m it dem H egem on im
N o rd e n zu m A u sd ru ck bringen, die aktive Teilnahm e argentinischen
Personals am W iederaufbau K uw aits fördern (eine H o ffn u n g , die sich
nich t erfüllen sollte) u n d m ithelfen, dem argentinischen M ilitär eine
neue, friedensstiftende Rolle zuzuschreiben (H ufty 1996: 173-174).
A u f w irtschaftlichem G eb iet u n terstrich M enem seine feste A bsicht,
staatliche U n te rn e h m e n zu privatisieren, S ubsidien ab zu b au en u n d
sukzessive a u f eine zu m W eltm arkt hin o ffene u n d international k o n k u r­
renzfähige W irtschaft hinzuarbeiten. E rg än zen d versprach er die K apita­
lisierung d er A uslandsschulden, die E rrich tu n g eines rechtlichen G aran ­
tiesystem s für A uslandsinvestitionen sowie die G leichbehandlung inlän­
dischen u n d ausländischen K apitals. A uch a u f politischem G eb iet ü b er­
n ah m M enem in diversen Fragen d en U S-am erikanischen Standpunkt.
So u nterschrieb er die am erikanische T hese, dass das D ro g en p ro b lem ei­
nes der g ro ß en politischen u n d sozialen Risiken in L ateinam erika sei,
vergleichbar der G uerilla in d en 60er u n d 70er Jah ren , u n d versprach ak­
tive argentinische U n terstü tzu n g im K a m p f gegen die D rogenm afia.
Im G eg en zu g kündigte B ush die A u fh eb u n g des so genannten
H um phrey -K en n ed y -A m en d m en ts an, das den W affenverkauf an A rgen­
tinien verb o t, versprach, sich bei den K reditgebern für eine dem M exiko-
D eal vergleichbare S chuldenlösung, den Plan Brady, einzusetzen u n d gab
grünes L ich t für einen 1,4 M illiarden U S-D ollar stand-by-K seàit des IW F
an A rgentinien (Russell 1990: 6). Ingesam t w aren die nordam erikani­
schen K onzessio n en jedoch eher sym bolischer N atu r, was angesichts des
realen G ew ichts A rgentiniens in den A ußenw irtschaftsbeziehungen bei
nüch tern er B etrachtung auch kaum v erw u n d ern konnte. W ährend der
A rgentinien-H andel d er U SA ganze 0,2% am gesam ten A ußenhandel
ausm achte, b ezog das L an d am Rio de la Plata seinerseits 21,6% seiner
Im p o rte aus den U SA u n d exportierte 11,6% seiner P ro d u k te dorthin
(M akuc 1990, zit. nach H u fty 1996: 174).
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d e r R egierung M en em 189

A u f sicherheitspolitischem G eb iet im engeren Sinn w urden m it dem


Stop des R aketenprogram m s Condor I I (Mai 1991) u n d der U nterzeich­
n u n g einer Reihe v o n V erträgen ü b er die H erstellung u n d V erbreitung
v o n M assenvernichtungsw affen1 jene Stolpersteine aus dem W ege ge­
räum t, die in d er V ergangenheit das argentinisch- am erikanische V er­
hältnis erheblich belastet hatten.
A usdruck eines n euen sicherheitspolitischen D enkens sowie des
W unsches einer engeren Allianz m it fü hrenden Industrieländern w ar
schließlich auch das m ehrfach bekun d ete Interesse an einer M itglied­
schaft in der N A T O . E s stieß jedoch bei den B ündnispartnern a u f kei­
nerlei R esonanz. M it dem A n g eb o t d er R egierung C linton im Juli 1996,
A rgentinien einen privilegierten Status außerhalb der N A T O einzuräu­
m en, w urde a u f das E rsu ch en schließlich d och noch, w enn auch m it er­
heblicher V erzögerung u n d eher sym bolisch reagiert.
E in letzter Bereich sicherheitspolitischer Erw ägungen b e tra f die in­
teram erikanischen B eziehungen. H ier teilte A rgentinien w eitgehend die
P ositionen der USA u n d K anadas u n d u n terstü tzte die B em ühungen der
O A S, Fragen der politischen D em okratie, der M enschenrechte, des in ­
ternationalen R echts u n d d er M arktw irtschaft in einen erw eiterten, der
p o st-bipolaren W elt angem essenen sicherheitspolitischen D ialog einzu­
beziehen (FRET,A 1995: 30).
M it sicherheitspolitischen Fragen eher indirekt zu tu n hatte die ar­
gentinische P osition im V erhältnis zu den K aribikstaaten K u b a u n d H ai­
ti. In der K uba-Frage ü b ern ah m M enem in diam etralem G egensatz zu
seinem V orgänger A lfonsin voll den U S-Standpunkt. W ährend die Staa­
ten d er R io-G ruppe m ehrheitlich für eine R ückkehr der Inselrepublik in
die regionalen u n d hem isphärischen O rganisationen oh n e jegliche politi­
sche V orbedingungen votierten, reklam ierte M enem einen spürbaren po­
litischen W andel in K u b a als V orau ssetzu n g für die argentinische U n ter­
stützung. A uch w ar die argentinische R egierung die einzige, die die E m ­
bargo-Politik d er U SA n ich t ausdrücklich verurteilte. Im A lleingang m it
P anam a v otierte A rgentinien am 6. M ärz 1991 in der U N -M enschen-
rechtskom m ission zugunsten eines U S-A ntrags, die M enschenrechtssitu­
ation a u f K u b a zu u n tersuchen. A llerdings schloss sie sich, u m den K o n ­
sens n ich t zu gefährden, d er a u f dem 8. R io-G ipfel am 9 ./1 0 . Septem ber

1 Im einzelnen: V ertrag von M endoza vom 5.9.1991 über das V e rb o t des Besitzes, des
T ransfers u n d des E insatzes chem ischer und bakteriologischer W affen; V ertrag von
T latelolco v om 10.11.1993 über eine atom freie Z o n e in Lateinam erika; V ertrag über
die N ichtverbreitung spaltbaren M aterials v om 22.12.1994 (IR E LA 1995: 33).
190 K laus B o d e m er

1994 verabschiedeten K u b a-E rk läru n g an, die die A ufh eb u n g des E m ­


bargos forderte (IR E L A 1995: 31).
A uch in der H aiti-Frage scherte die Regierung M enem - aus dem re­
gionalen K o nsens aus, u n terstü tzte die U S-Position 2 ugunsten einer m ili­
tärischen In tervention (gegen das V o tu m der R io-G ruppe, die a u f ihrem
8. G ipfeltreffen m ehrheitlich für Selbstbestim m ung u n d gegen eine mili­
tärische Intervention v o tiert hatte), beteiligte sich an der U N -T ruppe, die
das O l- u n d W affenem bargo überw achen sollte un d später an der U N -
F riedenstruppe (IR E L A 1995: 31).
W eitere E lem ente d er pro-nordam erikanischen A ußenpolitik Me-
nem s w aren der dem onstrative A u stritt aus der Bew egung der B lockfrei­
en, die k onsequente U n terstü tzu n g des U N -Sicherheitsrats u n d seiner
R esolutionen sowie die Beteiligung an ü b er einem D u tz en d Friedensm is­
sionen. L etztere dienten ü b er die deklarierten friedenspolitischen A bsich­
ten hinaus dem Ziel, die durch das F alk land/M alvinas-A benteuer u n d
verschiedene M ilitärrevolten „kontam inierten“ Streitkräfte zu „säu b ern “ ,
sie v o n der Innenpolitik fem zuhalten u n d ih n en einen neuen, k o n stru k ­
tiven A uftrag (sowie ein neues image) zu geben.
Insgesam t k onnte M enem am E n d e seiner zw eiten P räsidentschaft
ein v o n K onflikten w eitgehend freies V erhältnis zu den USA vorw eisen.
E ine A usnahm e bildete lediglich d er sog. P aten tstreit a u f dem M edika-
m entensektor. D e r dem onstrative Schulterschluss m it den USA un d das
Interesse an einer dauerhaften strategischen Allianz m it der G ew inner­
koalition des K alten K rieges führte dazu, dass die peronisrische A u ß en ­
politik die U S-am erikanischen sicherheitspolitischen Initiativen b ed in ­
gungslos u n te rstü tz te u n d dam it die H o ffn u n g eines b e so n d e re n
Verhältnisses zur N A T O verband. D ie Kehrseite: Bei m ehreren Gelegenhei­
ten m anövrierte sich das argentinische A ußenm inisterium m it seiner p ro ­
nordam erikanischen O rientierung im lateinam erikanischen K o n tex t
(G ruppe v o n Rio, M ercosur) ins A bseits, so im Z u sam m enhang m it der
U S -Intervention in H aiti u n d dem A usschluss K ubas aus dem In teram e­
rikanischen System. D ie V erstim m ungen ü b er die argentinischen A llein­
gänge erhielten 1997 neue N ah ru n g , als eine Reihe paralleler E reignisse
(die Freihandelsoffensive der USA, die A u fh eb u n g des U S-W affenem -
bargos sowie d er argentinisch-brasilianische D isp u t ü b er einen ständigen
Sitz im U N -Sicherheitsrat) das V erhältnis der M ercosur-Staaten unterein­
ander wie zu den V ereinigten Staaten belastete.
A u f dem W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d e r R egierung M en em 191

D ie B eziehu n gen zu Brasilien: A u f dem W eg zu einer kooperativen


Partnerschaft und geteilter Führungsverantwortung im Cono Sur

N ach 150 Jah ren w echselseitiger V erdächtigungen u n d Rivalität u m die


w irtschaftliche u n d politische V o rm ach t im C ono Sur traten die argenti­
nisch-brasilianischen B eziehungen ab den 80er Jah ren in eine Phase der
E n tsp a n n u n g u n d des schrittw eisen A usbaus. E r fand in der zw eiten
H älfte d er 80er Ja h re seinen vertraglichen N iederschlag in d er U n ter­
zeichnung einer R eihe v o n Protokollen, die ein breites S pektrum v o n
K ooperationsfeldern absteckten. D ie E n tsch eidung zu verstärkter In teg­
ration diente den dem okratisch legitim ierten Führungen beider Seiten
zur A bsicherung ih rer (in den ersten nach-diktatorialen Jahren) no ch
zerbrechlichen D em okratien. D ab ei gelang es in A rgendnien jedoch erst
der zw eiten dem okratisch legitim ierten Regierung, in Brasilien sogar erst
der dritten, die w irtschaftliche K o o p eratio n in der Region erfolgreich m it
einer n u n m e h r dezidierten w irtschaftlichen R eform politik im In neren zu
verknüpfen.
A nlässlich des Besuchs des brasilianischen P räsidenten C ollor de
M ello in B uenos A ires im Juli 1990 kündigten beide R egierungen die Bil­
dung einer W irtschaftsgem einschaft an. W enig später w urden U ruguay
u n d Paraguay eingeladen, sich an dem am bitionierten P rojekt zu beteili­
gen. M it dem V ertragsw erk v o n A suncion im M ärz 1991 w urde dann der
G ru n d stein für den „G em einsam en M arkt des Südens (M ercosur)“ ge­
legt. D e r V ertrag b eruhte, wie schon die argentinisch-brasilianischen
V orverträge, a u f der G ru n d ü b erzeu g u n g der Signatarregierungen, dass
zw ischen D em okratisierung, w irtschaftlicher E ntw icklung u n d regionaler
Sicherheit ein unauflöslicher Z usam m en h an g besteht, sie sich w echsel­
seitig bedingen. V o r dem H in terg ru n d dieses gem einsam en G ru n d v e r­
ständnisses w urde zu n äch st die N uklearpolitik beider L änder a u f eine
neue G rundlage gestellt. W ichtigste Bausteine einer n u n m eh r angestreb­
ten kooperativen N uklearpolitik w aren die um gehende Inform ation un d
d er w echselseitige B eistand bei N uklearunfällen, Z usam m enarbeit in der
Forschung, die V erpflichtung zur ausschließlich friedlichen N u tz u n g der
K ernenergie, die E inleitu n g v ertrauensbildender M aßnahm en, die ver­
stärkte außenpolitische K o o rd in ieru n g u n d die nuklearpolitische K o o p e ­
ration m it anderen L ändern in der Region. (IRELA , 1996: 13). M it der
„D eklaration v o n R io“ schufen beide F ü hrungsm ächte im südlichen La­
teinam erika die G rundlagen für eine „strategische A llianz“, verpflichte­
ten sich zu sicherheitspolitischen K o n su ltationen u n d zu r A usarbeitung
192 K lau s B o d e m e r

einer breiten A genda, die jeglichen m ilitärischen A benteuern den B oden


entziehen sollte (R oett 1999: 18).
Z u m unbestrittenen Z en tru m , aber auch zum Prüfstein des neuen
V erhältnisses zu Brasilien w u rd e der M ercosur. D u rch eine kooperative
H altu n g aller Beteiligten, in sbesondere der beiden Führungsm ächte B ra­
silien u n d A rgentinien, die n ich t w eniger als 98% der In d ustrieprodukti­
on u n d 93% des M ercosur-H andels a u f sich vereinten, gelang au f w irt­
schaftlichem G ebiet bis M itte der 90er Jah re die Bildung einer w enn
auch n o c h unvollständigen Z ollunion. V orrangiges Ziel der zw eiten In­
tegrationsphase, die m it dem G ipfel in O u ro P reto (D ezem ber 1994) ih­
ren A usgangspunkt nahm , w ar die V ervollständigung der Z ollunion un d
d er W egfall d er zahlreichen länder- u n d produktspezifischen A u snah­
m eregelungen bis 2006. D abei blieb auch für diese P hase das T andem
Brasilien-A rgentinien v o n entscheidender Bedeutung. Sein über Jahre re­
lativ reibungsloses Z usam m enspiel geriet jedoch ab 1997/98 zun eh m en d
aus dem T ritt. Als sich die brasilianische Regierung nach M onaten w äh­
rungspolitischer T u rb u len zen im G efolge der internationalen F inanzknse
(B odem er 1998) im F eb ru ar 1999 zu einer m assiven A bw ertung des Real
v o n ü b er 30% veranlasst sah, tra f dies die Ö k o n o m ien der M ercosur-
P artn er m it voller H ärte. V o r allem in A rgentinien, das ü b er ein D rittel
seines A ußenhandels m it dem N ach b arlan d abwickelt, kam es zu m assi­
ven E x p o rtein b u ß en u n d einem A ufleben protektionistischer F o rd eru n ­
gen seitens der b etroffenen Sektoren (insbesondere der A utom obilbran­
che, d er Textil- u n d Schuhindustrie).
D e r M ercosur, das u n b estritten erfolgreichste lateinam erikanische
Integrationsgebilde, durchlebte 1999 die schw erste K rise seit seiner
G rün d u n g . Alle Seiten griffen zu einseitigen S chutzm aßnahm en u n d be­
zichtigten sich w echselseitig des V ertragsbruchs. U ngeachtet dieses eher
konjunkturellen K onflikts b ek u n d en jedoch alle Beteiligten nach wie v o r
ihren W illen, zu einvem ehm lichen L ösungen zurückzufinden, die In teg ­
ration zu vertiefen u n d m it w eiteren potenziellen Interessenten in V er­
handlungen einzutreten.
E xtraregionale E ntw icklungen kam en dieser T endenz no ch entgegen.
So d ü rften die k o n k u rrieren d en B em ühungen zw ischen den V ereinigten
S taaten u n d der E U u m F reihan d elsab k o m m en m it der R egion (ALCA)
bzw. einer Subregion (EU -M ercosur) —bei gleichzeitiger Beibehaltung p ro ­
tektionistischer Politiken, in sb eso n d ere a u f dem A grarsektor — sowie das
Scheitern eines neuen Liberalisierungsanlaufs a u f m ultilateraler E b en e im
R ah m en d er W T O -K o n fe ren z v o n Seattle im N o v e m b e r 1999 (B odem er
2000) als externe F ö d erato ren w irken u n d die M ercosur-R egierungen in
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d e r R egierung M en em 193

ihrer erklärten A bsicht, regionalen K o o p erations- u n d Integrationsansät­


zen V o rran g einzuräum en v o r bilateralen A lleingängen u n d m ultilatera­
len R egim ebildungsversuchen, n o ch bestärken.
Reste des tradierten Rivalitäts- u n d Spannungsverhältnisses zw ischen
A rgentinien u n d Brasilien d ü rften jedoch auch in den kom m enden Ja h ­
ren w eiter b estehen u n d den F ortgang des Integrationsprozesses b eh in ­
dern. V erantw ortlich hierfür sind die trotz aller K o o p erationsfortschritte
nach wie v o r virulenten unterschiedlichen Perzeptionen u n d V erh an d ­
lungsstrategien beider Seiten. O b w o h l beide L änder nach dem E n d e des
K alten K rieges eine w eitgehend ü bereinstim m ende Sicht ü b er den G ang
der internationalen Politik nach dem W egfall der System altem ative h at­
ten, fü h rten die jeweiligen innenpolitischen Politikverläufe zu u n te r­
schiedlichen Lageanalysen, A ußenpolitik-V arianten u n d K osten -N u tzen -
Bilanzen.
D ie argentinische R egierung begann — wie bereits ausgeführt — ein
S onderverhältnis zu den V ereinigten Staaten aufzubauen, das sie als die
b este strategische O p tio n zur W iedergew innung internationaler G lau b ­
w ürdigkeit u n d innenpolitischer Stabilität ansah. A ktive Teilnahm e im
R egionalbündnis M ercosur u n d Schulterschluss m it dem H egem on im
N o rd e n w urden als kom p lem en tär angesehen, desgleichen die K o o rd i­
nierung v o n w irtschaftlicher In tegration u n d regionaler wie hem isphäri­
scher Z u sam m en arb eit in Sicherheitsfragen. D ie H erausbildung eines
System s k ooperativer Sicherheit sowie die Schaffung einer Freihandels­
zo n e v o n Alaska bis F euerland (ALCA) w u rden ebenfalls als kom ple­
m entäre, sich w echselseitig verstärkende P rozesse begriffen.
W ahrn eh m u n g en u n d E rw artu n g en a u f brasilianischer Seite u n te r­
schieden sich davon erheblich. D e r V ertrag v o n A suncion w urde als ers­
ter Schritt a u f dem W eg zu einer Südam erikanischen Freihandelszone
(ALCSA) interpretiert; zu Plänen einer kooperativen Sicherheitspolitik
ging m an in Brasilia a u f D istanz, stattdessen sprachen sich die V eran t­
w ortlichen für die Stim ulierung v ertrauensbildender M aßnahm en aus.
Insgesam t verfolgte Brasilien nach d er Ü b erw indung in tern er Schw ierig­
keiten (1990 bis 1992) eine A ußenpolitik, die a u f A u to n o m ie abstellte
u n d sich den nordam erikanischen V ersuchen der H errschaftsausdehnung
in den hem isphärischen B eziehungen w idersetzte. A u f keinen Fall dürfe
d er M ercosur v o n einer gesam them isphärischen F reihandelszone (in G e ­
stalt der A L C A bzw. einer erw eiterten N A FT A ) aufgesogen w erden
(H irst 1999: 60-62).
A u ch in der B ew ertung des M ercosur setzte das Itam araty andere
A kzente als sein argentinisches P endant. D ie G ew inne der H andelslibe-
194 K lau s B o d e m e r

ralisierung im M erco su r seien zw ar beachtlich, die A nreize zu r Beseiti­


g un g aller Schranken im W aren- u n d D ien sdeistungsverkehr u n d zur
V ertiefung des Integrationsprozesses in R ichtung eines G em einsam en
M arktes seien jedoch n ich t zuletzt w egen der erheblichen w irtschaftli­
chen A sym m etrien im Integrationsraum u n d dessen begrenzter M arkt­
grö ß e eher beschränkt. V o n d aher sah die brasilianische Seite auch kei­
nen A nlass, interne R egulationsbestim m ungen abzubauen.
W ie die insgesam t defensive V erhandlungsstrategie der B rasilianer in
Sachen A L C A bew eist, erklären die F aktoren M arktgröße un d w irt­
schaftliche U ngleichgew ichte die brasilianische Politik jedoch n u r teilwei­
se. H in zu treten zwei w eitere E lem ente: Z u m einen das größere politi­
sche G ew icht jener Sektoren, die v o n Im p o rten besonders betroffen
sind, gegenüber den ex portorientierten W irtschaftszw eigen bei der F o r­
m ulierung d er brasilianischen Industrie- u n d A ußenhandelspolitik, zum
anderen die V o rh errsch aft einer A ußenpolitik-V ision, die sich in Zielen
ausd rü ck t wie dem d e r „ K o n stru k tio n einer Regionalm acht“ oder K o n ­
zep ten wie dem der „au to n o m en E ntw icklung“ , in dem no ch erhebliche
E lem en te des tradierten desarrollismo konserviert w urden (D a M otta Veiga
1999: 47-48).
T ro tz v erstärkter B em ühungen der E U u n d der V ereinigten Staaten
um die H erausbildung einer interregionalen (EU -M ercosur) bzw. hem i­
sphärischen F reihandelszone (ALCA) hatte für die brasilianische F ü h ­
ru n g auch n o ch am E n d e d er zw eiten A m tszeit M enem s die D o p p elstra ­
tegie: „Stärkung u n d E rw eiterung des M ercosur“ a u f der einen, V o ran ­
treiben des M ultilateralism us (W TO ) a u f d er anderen Seite ihre G ültig­
keit. Als A n tw o rt a u f das V erhandlungsdebakel in Seattle v erschob sich
das außenpolitische In teresse Brasiliens w iederum eindeutig a u f die M er­
cosur- (und hier in sb eso n d ere a u f eine Erw eiterungs-)Strategie (Bodem er
2000: 49). A nd ere A kzente setzten dem gegenüber argentinische A u ß e n ­
politiker. F ü r sie w aren u n d sind die Freihandelsangebote aus dem N o r­
den (ALCA, E U -M ercosur) sowie die V ertiefung u n d (an zw eiter Stelle)
E rw eiterung des M ercosur kom plem entäre Prozesse, die es parallel
v oran zu treib en gilt.
U ngeach tet dieser D iskrepanzen stim m ten die R egierungen beider
L än d er jedoch darin überein, dass eine sim ple A u sdehnung d er N A F T A
nach Süden ebenso abzulehnen sei wie bilatererale V erhandlungen m it
den U SA u n d dass für die V erhandlungen sow ohl m it den U SA w ie m it
d er E U das Prinzip des single undertaking, d.h. der Paketlösung, zu gelten
habe. A u ß erd em ergriffen beide Seiten gem einsam w ichtige Initiativen
zu r S tärkung der politischen D im en sio n des M ercosur. So w urden au f
A u f dem W eg z u r N orm alität. D ie A u ßenpolitik d e r R egierung M en em 195

dem P räsidenten-G ipfel in San Luis (1996) m it der V erabschiedung der


D em okratie-K lausel — sie erlaubt die Sanktionierung nicht-dem o­
kratischer R egierungen im M ercosur bis hin zum A usschluss aus dem In ­
tegrationsbündnis — u n d der V ereinbarung eines politischen K o o rd in ie­
rungsm echanism us zw ischen beiden R egierungen zwei w ichtige politi­
sche E ntscheidungen getroffen (H irst 1999: 67). E in Ja h r später kam es
zu r V erabschiedung der „R io-D eklaration“ , die den Status der bilateralen
B eziehungen als „strategische A llianz“ definierte. D ieser sym bolische
Schulterschluss änderte aber nichts daran, dass die A ußenpolitiken nach
wie v o r divergieren. Als die nordam erikanische Regierung die m ehrfach
argentinische G efolgschaftstreue m it dem Status eines „V erbündeten au­
ßerhalb der N A T O “ belohnte, sah dies die brasilianische R egierung als
einen w eiteren Beweis für das B estreben der C linton-A dm inistration an,
ihren E influss im C o n o Sur zu vergrößern u n d einen K eil zw ischen die
M ercosur-M itglieder zu treiben. Im G egenzug reagierte das Itam araty
m it dem A n sp ru ch a u f einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der V erein­
ten N ationen. D ies stieß w iederum a u f A b lehnung des argentinischen
A ußenm inisterium s, das als A lternative einen p erm anenten Sitz für La­
teinam erika m it ro tieren d er B esetzung vorschlug.
D ie skizzierten U nterschiede in den A ußenpolitiken d er beiden F ü h ­
rungsm ächte des M ercosur stellten jedoch kein H indernis dafür dar, dass
sich die bilaterale K o o p eratio n w ährend der A m tszeit M enem s in einem
breiten them atischen S pektrum erheblich vertiefte. So rangierte A rgenti­
nien E n d e d er 90er Jah re u n te r den brasilianischen E rdöllieferanten an
erster Stelle. D as staatliche E rd ö lu n te m e h m e n P etrobras akzeptierte
nach jahrzehntelangem W iderstand die L ieferung v o n argentinischem
N aturgas in den Süden Brasiliens. Im B ereich der E nergieversorgung
sowie des städtischen, regionalen u n d transozeanischen T ran sp o rts w ur­
den zahlreiche gem einsam e Projekte gestartet, desgleichen au f den G e­
bieten der K ultur, d e r W issenschaft u n d E rziehung. Selbst a u f dem sen­
siblen Feld der V erteidigungspolitik kam es — trotz der ob en genannten
E inschränkungen — zu einer V ertiefung der B eziehungen, w obei diese
jedoch unterhalb des N iveaus institutioneller M echanism en oder gar einer
pluralen S icherheitsgem einschaft v erbheben. Im M ittelp u n k t standen
M aßnahm en der w echselseitigen V ertrauensbildung, w obei die Idee einer
Friedenszone im C o n o Sur den konzeptionellen H in terg ru n d bildete
(H irst 1999: 69-71).
A ngesichts d er m achtpolitischen A sym m etrien zw ischen A rgentinien
un d Brasilien dürfte d er U m fang „kooperativer Spiele“ zw ischen beiden
L ändern auch in Z u k u n ft seine G ren zen haben. So zielt die argentinische
196 K lau s B o d e m e r

Politik u n d öffentliche M einung gegenüber dem N ac h b arn Brasilien zwar


m ehrheitlich a u f ein langfristig angelegtes kooperatives V erhältnis,
gleichzeitig aber w ächst das argentinische U nbehagen ü b e r den k o n tin u ­
ierlichen M achtzuw achs des g ro ß en B ruders. D abei sind zwei u n te r­
schiedliche Sichtw eisen zu untersch eid en (H irst 1999: 68-69). D ie einen
interpretieren den w achsenden politischen u n d w irtschaftlichen Einfluss
Brasiliens in d er R egion wie in der W elt als eine P ositivsum m enspiel, bei
dem auch A rgentinien gew innt, w obei es seine Teilhabe am M acht- un d
Einflussgew inn seines M ercosur-P artners diesem m it V ertrauenskapital
vergütet. In diesem Szenario stellt sich ein p erm an en ter Sitz Brasiliens im
Sicherheitsrat d er V ereinten N atio n en als ein A ktivposten für den M er­
cosu r dar, w äh ren d die Allianz m it den V ereinigten Staaten (die favori­
sierte O p tio n d er M enem schen A ußenpolitik) eine eher unsichere strate­
gische O p tio n abgibt. V ertreter einer alternativen Sicht favorisieren
dem gegenüber den Schulterschluss m it den V ereinigten Staaten. Sie se­
hen darin ein G egengew icht zu d er w achsenden Brasil-dependencia A rgen­
tiniens. E n tsp rech en d dieser V ision b ietet die „Strategie der zw ei W ege“
die einzige C hance, die internationalen B eziehungen A rgentiniens eini­
germ aß en auszubalancieren .
W elche d er beiden In terp retatio n en auch gew ählt wird: Sicher ist,
dass beide M ercosur-Protagonisten auch in der Z u k u n ft m it ihren u n ter­
schiedlichen M achtpotenzialen, L ageperzeptionen u n d A ußenpolitik-V a­
rianten leben u n d dazu bereit sein m üssen, die individuellen in tern atio n a­
len Initiativen ihres jeweiligen P artn ers als legitime O p tio n en in der p o st­
bipolaren W elt anzusehen.

D ie B eziehu n gen zu Chile: V on Grenzkonflikten zur


sicherheitspolitischen Partnerschaft

D as außenpolitische V erhältnis zum N ach b arland Chile w urde seit je v o n


einer M ischung aus politischen, w irtschaftlichen u n d geostrategischen
Ü berlegungen bestim m t. B ereiche des K onsenses u n d der K o o p eratio n
zum beiderseitigen N u tzen stehen n eben solchen des K onflikts. D e r A n­
teil letzterer ging in den 90er Jah ren allerdings kontinuierlich zurück.
A u f d er operativ-institutionellen E b en e der argentinisch-chilenischen
B eziehungen sind in sbesondere die seit 1990 stattfindenden regelm äßi­
gen G ipfeltreffen zu erw ähnen, ergänzend die binationalen u n d die ge­
m isch ten K o m m issionen zu den Politikfeldem : G renzangelegenheiten,
A rbeitsbeziehungen, G esu n d h eit u n d U m w elt, schließlich seit 1994 die
halbjährlichen T reffen der A ußenm inister. D ie T h em en des D ialogs bzw.
A u f d em W eg zu r N orm alität. D ie A ußenp o litik d e r R egierung M en em 197

d er vertraglichen G estaltung sind breit g estreut u n d reichen v o n Fragen


d er P osition sab Stim m ung in internationalen F oren, der V erteidigung, des
T ran sp o rts, des Flandels, des G renzverlaufs, der E rziehung u n d der phy­
sischen Integration ü b er A spekte d er E nergiew irtschaft, des Zollw esens
u n d des Bergbaus bis zu den P olitikfeldem U m w elt, öffentliche Sicher­
h eit u n d T ourism us. Insgesam t bilden jedoch w irtschaftliche M aterien -
dem allgem einen T re n d zu r Ö k o n o m isieru n g der A ußenpolitik folgend -
den K ern d er bilateralen Agenda.
In der Frage der G ren z- u n d G ebietsstreitigkeiten, seit je einer der
neuralgischsten P u n k te im bilateralen V erhältnis, k o n n ten seit der R ück­
k eh r zu r D em okratie erhebliche F ortsch ritte erzielt w erden. Sichtbarer
A u sd ru ck dafür w ar die E n tsch eid u n g d er R egierungen Aylwin u n d Me­
nem , in den n o ch offen en G ren z fragen zu einer definitiven E inigung zu
kom m en. E n tsp rech en d w urde eine binationale G renzkom m ission be­
auftragt, einen B ericht ü b er die n o ch offenen Streitfragen zu erstellen.
M ittels dieses M echanism us k o n n te n 23 v o n 24 S treitpunkten einver­
n ehm lich geregelt w erden. D e r 24. (und schwierigste) P unkt, die H o h eit
ü b er die Laguna del Desierto, w urde einer lateinam erikanischen Ju risten ­
k om m ission übertragen. D e re n Schiedsspruch v o m 21. O k to b er 1994
begünstigte die argentinische P osition, was zu einem E in sp ru ch der chi­
lenischen Seite führte. E r w urde jedoch v o n der K om m ission abgew ie­
sen, w om it d er S chiedsspruch im O k to b e r 1995 rechtsgültig w urde.
E in zw eiter K onfliktfall en tzü n d ete sich an der südlich der Laguna del
Desierto gelegenen Z o n e Campos de Hielo. H ier verhinderten unversöhnli­
che A n sprüche beider Seiten sowie die technische u n d politische K o m ­
plexität des T hem as ü b er Jah re eine L ösung. 1999 kam es schließlich zu
einem K om prom iss. M it d er Z u stim m u n g beider L änderparlam ente am
2. Ju n i 1999, v o m chilenischen M agazin Mensaje als „ d er beste M om ent
in den bilateralen B eziehungen der letzten D ek ad en “ gefeiert (G aspar
1999: 17), w ar der letzte n o ch b esteh en d e G renzkonflikt einvem ehm lich
geregelt. A u f sicherheitspolitischem G eb iet kam es in den letzten Jahren
ergänzend zu einer Reihe vertrau en sb ild en d er M aßnahm en, die - analog
den B em ühungen zw ischen A rgentinien u n d Brasilien - ü b er die „ p ro to ­
kollarische D ip lo m atie“ hinaus zu einem dichteren B eziehungsgeflecht
zw ischen den W affengattungen beider L änder u n d einer zunehm enden
Institutionalisierung des sicherheitspolitischen D ialogs führten.
D ie w achsende w irtschaftliche In terd ep endenz, die diversen N eu b e ­
lebungen w irtschaftlicher Integration, m ultisektorielle V ereinbarungen
u n d politische K onfliktlösungen zw ischen den N achbarländern A rgenti­
nien u n d Chile w erfen die Frage auf, o b u n d in w elchem M aße diese
198 K lau s B o d e m e r

P rozesse die B ed rohungsperzeptionen u n d Sicherheitspolitiken beider


Seiten beeinflussten.
Im Falle A rgentiniens k ö n n en bezüglich des Z usam m enhangs von
subregionaler Integration u n d V erteidigungspolitik grundsätzlich drei
A nsätze unterschieden w erden:

1. die H yp o th ese des K onflikts m it den N achbarstaaten. Sie w ird v o n


T eilen des M ilitärs a u f b eiden Seiten d er A n d en nach wie v o r auf­
rechterhalten. Als K o n seq u en z w ird a u f die N otw endigkeit verw ie­
sen, eine starke L andesverteidigung aufrechtzuerhalten, u m einen
m öglichen K onflikt m it d em N ach b arn Chile zu bestehen;
2. die H yp o th ese v o n der N o tw endigkeit einer U m strukturierung der
Sicherheitsbeziehungen als Folge des veränderten internationalen
u n d regionalen U m felds. D iese in A rgentinien m ehrheitlich vertrete­
ne P ositio n bew egt sich in drei k o n zentrischen K reisen: A u f der na­
tionalen E b en e (innerer Kreis) stellt sie a u f eine ausreichende V er­
teidigungskapazität ab, in der R egion (m ittlerer Kreis) favorisiert sie
eine Serie v o n V erträgen zu r A ufrech terhaltung des m ilitärischen
G leichgew ichts u n d zu r S icherung des Friedens; die eingeleiteten
K o o p eratio n sm aß n ah m en w erden
3. als erster Schritt in R ichtung eines regionalen Sicherheitssystem s
begriffen (Fuentes 1996: 28).

A u f globaler E b en e (äußerer Kreis) ist die A ufrechterhaltung des W elt­


friedens das o b erste Ziel. Z u seiner F ö rd eru n g b ed arf es - darin b esteh t
K o n sen s zw ischen Chile u n d A rgentinien - d er aktiven Beteiligung an
friedenstiftenden u n d -bew ahrenden M aßnahm en der U N . D ie D irekti­
ven des argentinischen V erteidigungsm inisterium s orientieren sich exakt
an diesen H y p o th esen , in d em sie als Ziele ausweisen:

1. F ö rd eru n g einer strikt defensiven A b schreckung zum Schutz des


T erritorium s v o r jeglichem A ngriff;
2. G arantie d er ausschließlichen N u tz u n g aller eigenen R essourcen
(V erteidigung der Souveränität);
3. M itarbeit bei der E rrich tu n g eines regionalen Sicherheitssystem s;
4. B eteiligung bei M aßnahm en der Friedensw ahrung der V ereinten
N atio n en (D iam int 1993).

A uch in der B ew ertung d er globalen E b en e b esteht in der politischen,


m ilitärischen u n d w irtschaftlichen E lite A rgentiniens ein w eitgehender
A u f d em W eg zu r N orm alität. D ie A u ß en p o litik d e r R egierung M e n e m 199

K onsens. So w ird die N achkriegsordnung als ein bipolares System pre­


kärer Stabilität u n d organisierter Friedlosigkeit begriffen. D esgleichen
b esteh t K o n sen s, dass die strukturellen W andlungen, die das internatio­
nale System seit den 80er Jah ren erfuhr, die w achsende Interdependenz
der Staaten u n d G esellschaften u n d die H erausforderungen der G lobali­
sierung bislang n o c h zu keiner klaren K o n tu rierung der künftigen W elt­
o rd n u n g g eführt haben, m ithin U nübersichtlichkeit, U nsicherheit un d
die G leichzeitigkeit des W idersprüchlichen das internationale G eschehen
präge. D ie globalen strategischen V eränderungen erforderten die E n t­
w icklung v o n nationalen V erteidigungssystem en, die in eine globale V er­
teidigungsarchitektur eingegliedert seien u n d in der den Interessen aller
Beteiligten R echnung getragen w erde. A u f der operativen E b en e im pli­
ziere diese Sicht die B eteiligung an friedenstiftenden u n d -bew ahrenden
E insätzen u n te r der F ü h ru n g d er U N .
Bezüglich d er regionalen E b en e h errscht m ehrheitlich die A uffas­
sung vo r, dass es hier gegenw ärtig keine signifikanten m ilitärischen Be­
d rohungen m e h r gebe, m an vielm ehr die C hance v o r A ugen habe, durch
die Trias v o n D em okratie, In tegration u n d U nabhängigkeit das Sicher­
heitsdilem m a zu überw inden.
W ährend in den 80er Jah ren die M öglichkeiten zur E tablierung einer
kooperativen regionalen Sicherheitspolitik n o ch relativ optim istisch ge­
sehen w urden, setzte sich zu B eginn der 90er Jahre eine pragm atischere
Sicht durch. Als m ach b ar erschien n u n m e h r eine gewisse Integration auf
d em V erteidigungssektor entsp rech en d den F ortschritten bei den ver­
trauensbildenden M aßnahm en u n d d er m ilitärischen K o o peration, w o ­
hingegen die Z eit für den A ufbau eines regionalen Sicherheitssystem s als
n o ch n ich t re if galt (Fuentes 1996: 31).
D e r W andel des internationalen Systems gibt den argentinischen
E n tscheidungsträgern im A ußen- u n d V erteidigungsm inisterium u n d den
V erantw ortlichen in ihrem E inzugsbereich auch Anlass zum Ü berdenken
d er überk o m m en en B edrohungsvorstellungen. M it der A usw eitung u n d
zu n eh m en d en D iffu sität d er B ed ro h u n g en m üsse auch die Rolle der m i­
litärischen G ew alt u n d deren E insatz überd acht w erden. D e r m ilitärische
E insatz m üsse flexibler g ehandhabt, der H andlungsspielraum der politi­
schen u n d m ilitärischen F ü h ru n g erw eitert w erden, um m it neuen, u n b e ­
stim m ten B edrohungssituationen fertig zu w erden, a u f die die u n te r­
schiedlichsten K räfte u n d A kteure einwirken. F ür die Streitkräfte b ed eu ­
tet dieser verän d erte K o n tex t in d er Sicht argentinischer Spezialisten die
zu n eh m en d e N otw endigkeit, sich den verteidigungspolitischen T rends in
der E rste n W elt anzupassen, a u f kleinere, schlagkräftige, ho ch professio-
200 K laus B o d e m er

nalisierte M ilitäreinheiten hinzuarbeiten, schnelle E ingreiftruppen parat


zu h ab en u n d den technologischen F o rtsch ritt voll zu nutzen.
A u f dem V erteidigungssektor reagierten beide Seiten a u f die geschil­
derten globalen Prozesse u n d K onstellationsveränderungen m it größerer
V orsicht als in anderen Bereichen. W enngleich die verschiedenen V erträ­
ge die N otw endigkeit unterstrichen, institutionalisierte M echanism en der
K o o p eratio n zu schaffen, so kam es im politischen A lltag doch n u r zu w e­
nigen gem einsam en Initiativen. Seit 1990 verstärkten sich die institutio­
nellen B eziehungen zw ischen den Streitkräften, der M arine u n d L u ftw af­
fe beider L änder m it einer starken A kzentsetzung a u f protokollarischen
Besuchen. Sie stellten erste vertrauensbildende M aßnahm en dar, ohne
dass durch derartige K o n tak te bereits B edrohu ngsperzeptionen abgebaut
w o rd en w ären. 1994 u n d 1995 w u rd en zwei A b k om m en abgeschlossen.
D ie G eneralstäbe beider L än d er kam en überein, ihre T reffen zu institu­
tionalisieren, einen K alender für die jährlichen T reffen aufzustellen, Ar­
beitsgruppen für punktuelle T h em en einzurichten, m it der Junta Interame-
ricana de Defensa einen kontinuierlichen D ialog zu pflegen u n d gem einsam e
R eisen der Streitkräfte beider L änder in die U SA zu organisieren.
D as zweite, gew ichtigere A b k o m m en w ar das „M em orandum zw i­
schen Chile u n d A rgentinien ü b er die Stärkung der K o o p eratio n in sol­
chen Fragen d er Sicherheit, die v o n gem einsam em Interesse sind“ im
N o v e m b e r 1995. M it ihm w urde ein Perm anentes Sicherheitskom itee
(Comité Permanente de Seguridad) aus R ep räsentanten der jeweiligen A ußen-
u n d V erteidigungsm inisterien (im R ang eines U nterstaatssekretärs oder
Botschafters) sowie V ertretern der jeweiligen G eneralstäbe geschaffen
(Fuentes 1996: 21). D e m K om itee oblag die A ufstellung eines A rbeits­
plans zu r V ertiefung der sicherheitspolitischen B eziehungen zw ischen
beiden N achbarn.
A u ß erd em w urde ein Sekretariat eingerichtet, das m ittels eines ro tie ­
ren d en Systems zw ischen den A ußen- u n d V erteidigungsm inisterien
funktionieren u n d m indestens zw eim al im J a h r zu sam m entreten sollte.
D a n eb en enthielt das M em orandum eine Reihe spezifischer B estim m un­
gen, die u.a. a u f die Stärkung d er K om m unikationskanäle, a u f die Be­
kanntgabe v o n m ilitärischen M anövern, die T eilnahm e v o n B eobachtern
sowie a u f die F ö rd eru n g des w issenschaftlichen A ustauschs zw ischen
den beiden Signatarstaaten abzielten.
D ie beiden A bk o m m en stellen deutliche F ortschritte in der sicher­
heitspolitischen Z usam m enarbeit beider L än d er dar, die zuvor v o r allem
durch eine „protokollarische D iplom atie“ gekennzeichnet war. N e u ist
auch, dass n eb en d er K ooperationsachse M ilitär-M ilitär (m it direkten
A u f dem W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d er R egierung M en em 201

K om m unikationskanälen zw ischen den drei W affengattungen) verstärkt


auch zivile K räfte (der R egierung sowie des akadem ischen Bereichs) an
der sicherheitspolitischen D eb atte aktiv teilnehm en. In beiden L ändern
h at sich ein P o o l sicherheitspolitischer E x p erten form iert —in Chile insti­
tutionell v erankert v o r allem in d er „L ateinam erikanischen F akultät für
Sozialw issenschaften“ (FLA CSO ) m it Sitz in Santiago, in A rgentinien im
F orschungs- u n d D o k u m en tatio n szen tru m Ser en el 2000 u n d der (priva­
ten) U niversität Torcuato de Telia in B uenos Aires.
Als E rgebnis d er geschilderten Initiativen lässt sich insgesam t eine
z u n eh m en d e Institutionalisierung des sicherheitspolitischen D ialogs zw i­
schen den M ilitärs beider Seiten sowie zw ischen diesen u n d zivilen Ak­
teuren ausm achen.
D ass bei d er P ositionierung Chiles in d er „neuen A ußenpolitik“ Me-
nem s n ich t n u r nachbarschaftliche u n d integrationspolitische Ü berlegun­
gen im R ahm en des M ercosur eine Rolle spielten, so n d em darüber h in ­
aus auch k o n tinentübergreifende geopolitische u n d geoökonom ische
K alküle, w urde deutlich in den W o rten des ehem aligen argentinischen
B otschafters in Chile, A n to n io C añero, der beide L änder erm ahnte,
„gem einsam zu w ach sen “ u n d das alte Prinzip des vergangenen Ja h r­
h underts des „A rgentinien am A tlantik, Chile am Pazifik“ hin ter sich zu
lassen. A ngesichts eines n euen biozeanischen Profils sei es vielm ehr legi­
tim , dass A rgentinien genauso einen Z ugang zu m Pazifik beanspruche,
wie Chile zum A tlantik. N u r durch die Bildung eines gem einsam en süd­
am erikanischen Raum s u n ter Beteiligung Chiles könne m an m it den
H eraus forderungen d er G lobalisierung fertig w erden (A m bito Financie­
ro, 21.7.1992).

D er U m g a n g m it dem Sicherheitsrisiko „M alvinas-Frage“: Vom


M ultilateralism us zum Bilateralism us

U n ter d er A lfonsin-R egierung n ah m die M alvinas-Frage einen für die ar­


gentinischen In teressen m e h r u n d m e h r dys funktionalen Verlauf. N ach
dem gescheiterten V ersuch bilateraler V erhandlungen in B ern (Juni
1984) setzte die D iplom atie der U C R -R egierung a u f die m ultilaterale
K arte. T ro tz w achsender E rfolge, v o r allem in der V ollversam m lung der
V ereinten N atio n en , u n d zu n eh m en d en diplom atischen D rucks a u f die
britische Regierung, die V erhandlungen w ieder aufzunehm en, blieb diese
hart. Sie praktizierte eine Politik d er vollendeten Tatsachen.
U m die V erhandlungsblockade zu überw inden, bem ühte sich die ar­
gentinische D iplom atie u m eine alternative Strategie. So kam es, verm it-
202 K lau s B o d e m er

telt ü b er das State D ep artm en t, ab M itte 1986 zu einer Reihe inform eller
G espräche m it den B riten u n d der V orlage sog. non papers. In einem die­
ser nicht-offiziellen Papiere schlug A ußenm inister C aputo am 12. Juli
1987 ü b er die völkerrechtliche Figur des „R egenschirm s“ den A usschluss
der Souveränitäts frage sowie ergänzend eine offene V erhandlungsagenda
vor. D ie britische Seite akzeptierte ersteres, nicht jedoch den zw eiten
V orschlag, w ar vielm ehr lediglich bereit, begrenzte T h em en zu v erh an ­
deln (Russell 1990: 2). Z u substantiellen F o rtsch ritten sollte es in der
verbleibenden A m tszeit A lfonsins jedoch nicht m ehr kom m en.
F ü r die U m setzu n g der w irtschaftlich dom inierten außenpolitischen
Ziele der R egierung M enem w aren F ortsch ritte in der M alvinas-Frage
v o n h ö c h ste r Priorität. N u r ü b er eine V erständigung m it E ngland konnte
der A usbau der w irtschaftlichen B eziehungen zu r E U , die m it dem zum
1. Jan u ar 1993 in K ra ft treten d en europäischen B innenm arkt zusätzliche
Im pulse bekam , vorangetrieben w erden. N ach dem M achtantritt vollzog
der neue A ußenm inister Cavallo um g eh en d eine radikale A b k eh r v o m
M ultilateralism us m it d em (richtigen) A rgum ent, die v o n den Radikalen
lange Z eit favorisierte P räsen tatio n v o n R esolutionen in der U N -
V ollverSam m lung habe keinen Schritt w eiter geführt.
D ie argentinisch-britische A n n äh eru n g erfolgte schrittw eise u n d m it
diplom atischer V orsicht. D ab ei ging es w eniger u m den Inselstaat selbst
als u m den europäischen M arkt u n d die britische Fähigkeit, H andelsab­
kom m en m it der G em einschaft zu torpedieren.
Bereits bei d em ersten bilateralen T reffen in M adrid im O k to b er
1989 kam es zu substanziellen Fortschritten: So w urde 1.) der V orrang
bilateraler V erhandlungen zw ischen A rgentinien u n d G ro ß b ritan n ien u n ­
ter dem „S chirm “ der S ouveränität (von d er beide Seiten keine A bstriche
m achten) bestätigt; es w u rd en 2.) konsularische B eziehungen aufgenom ­
m en, 3.) als vertrauensbildende M aßnahm e A rbeitsgruppen zu r V erm ei­
dung m ilitärischer Zw ischenfälle u n d zur V erbesserung des In fo rm ati­
onsaustauschs, der w irtschaftlichen K o o p eratio n u n d zum Schutz der
F ischbestände gebildet, 4.) der L uft- u n d Seeverkehr zw ischen beiden
L än d ern w ieder aufgenom m en. G leichzeitig versprach die britische R e­
gierung, die A u sd eh n u n g d er v o n ih r einseitig dekretierten Fischerei­
schutzzo n e zu reduzieren2 u n d die H indernisse für einen A usbau der B e­
ziehungen zw ischen d er E U u n d A rgentinien abzubauen.

2 Sie deckte sich fo rtan m it der m ilitärischen Schutzzone. F ü r A rgentinien bedeutete


dieser S chritt die W iedergew innung einer Fischereizone v o n rund 4000 qkm.
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d er R egierung M e n e m 203

Bei dem zw eiten M adrider T reffen im F eb ru ar 1990 w urde die A u f­


n ahm e voller diplom atischer B eziehungen beschlossen u n d dam it die
Politik d er E n tsp a n n u n g k o n seq u en t w eiterverfolgt. Bei einem w eiteren,
dritten T reffen in M adrid im N o v e m b e r 1990 einigten sich beide Seiten
a u f eine Z o n e, in d er d er kom m erzielle Fischfang verb o ten war. A ußer­
dem sch u f m an eine gem einsam e „F ischereikom m ission des Südatlan-
tiks“ . A u f der Linie einer V erbesserung der W irtschaftsbeziehungen lag
auch d er bei dem Besuch A u ßenm inister Cavallos in L o n d o n im D e ­
zem b er 1990 U nterzeichnete V ertrag ü b er den Schutz britischer Investi­
tionen in A rgentinien (R u ssell/Z u v an ic 1991: 15-28). D ie Fischerei-
V erb o tszo n e u m die Inselgruppe w urde zu 90% aufgehoben, A b k o m ­
m en ü b er die V erw altung u n d E rschließung der R oh sto ffv o rk o m m en
abgeschlossen u n d im S eptem ber 1995 ein V ertrag ü b er die gem einsam e
E rd ö lfö rd eru n g unterzeichnet.
D ie im Mai 1997 an die M acht gelangte Labour-R egierung u n te r T o ­
ny Blair w urde v o n Falkländern u n d A rgentiniern m it gem ischten
G efü h len begrüßt. B efürchtungen (der Inselbew ohner, der K elpers) bzw.
H o ffn u n g en (in B uenos Aires), die neuen H erren in D ow ning Street
w ürden einen w eicheren V erhandlungskurs einschlagen, erwiesen sich als
unbegründet. A uch für sie blieb die Souveränitäts frage außerhalb der
V erhandlungsagenda. D ie K elpers selbst sprachen sich 1998 m it klarer
M ehrheit für den V erbleib bei der britischen K ro n e aus u n d dam it gegen
die argentinische H oheit, aber auch gegen die E n tlassung in die U n ab ­
hängigkeit. E rg än zen d verstärkte die F alkland/M alvinas-R egierung in
den letzten Jah ren ihre B em ühungen um das R echt a u f Selbstbestim ­
m ung, so u.a. im R ahm en der U N -D eb atten über E ntkolonisierung,
konkret: im „A usschuss für abhängige T errito rien “, zu dessen G rü n ­
dungsm itgliedern sie g eh ö rt (D odds 1998: 626-627). A u f der anderen
Seite äußerten in einer U m frage v o m O k to b e r 1997 ü b e r 90% der be­
fragten A rgentinier die Ü berzeugung, es sei „w ichtig“ (28% es sei „sehr
w ichtig“), die Inseln zurückzugew innen (Buenos Aires E conóm ico,
31.10.1997).
In sgesam t w ich d er W iderstand, den die R egierung A lfonsin gegen­
ü b er d er britischen Seite an den T ag gelegt hatte, u n ter M enem einer P o ­
litik, die sich um A b k o m m en ü b er die M alvinen-R egion a u f dem m ilitäri­
schen G ebiet, dem Fischfang u n d der R ohstoffexploration bem ühte. E r­
gän zen d initiierte A u ßenm inister D i Telia eine Reihe v o n M aßnahm en,
die a u f den direkten u n d indirekten E in b ezu g der Inselbew ohner abstell­
ten, so die T eilnahm e an B B C -R adiosendungen (<Calling the Falklands), die
E n tse n d u n g v o n V ideos u n d B ü ch er-G eschenken an die K inder der
204 K laus B o d e m e r

K elpers (an W eih n ach ten 1993 u n d 1994) u n d die O rganisation v o n ge­
m einsam en Sem inaren zur Sim ulation v o n K onflikdösungsm odellen
(D odds 1998: 624). D ie Bilanz am E n d e d er zw eiten A m tszeit M enems:
In der zentralen Frage d er Souveränität blieben die F ro n ten festgefahren.
Im Bereich der bilateralen B eziehungen w aren dem gegenüber zum indest
in dreierlei H in sich t F ortsch ritte zu verzeichnen: M it d er A ufnahm e der
diplom atischen u n d konsularischen B eziehungen im F ebruar 1990 w urde
ein V ersöhn u n g sp ro zess eingeleitet, der im L ondon-B esuch M enem s
1998 seinen H ö h e p u n k t fand. Begleitet w urde dieser P rozess —zw eitens
— v o n einer Intensivierung der politischen, w irtschaftlichen, kulturellen
u n d w issenschaftlich-technologischen B eziehungen. Schließlich kam es
zu einer engeren Z usam m enarbeit in den F o ren der V ereinten N ationen,
die sich u.a. in gem einsam en B lauhelm -E insätzen m aterialisierte (Russell
1999: 28). N ach wie v o r ist eine M ehrheit der A rgentinier davon ü b e r­
zeugt, dass die Inseln ihrem L an d gehören sollten. P räsident M enem
v erstan d es andererseits, rhetorische V ersprechen bezüglich der R ück­
gew innung d er Inselgruppe m it einer pragm atischen Strategie der V er­
trauensbildung u n d praktischen Z usam m enarbeit (m it den B riten wie m it
den K elpers) zu verbinden. D ie In selbew ohner selbst gew annen zun eh ­
m en d an Selbstbew usstsein u n d w erden in den k o m m enden Jah ren m ö g ­
licherw eise ein breites Spektrum v o n O p tio n en , einschließlich volle U n­
abhängigkeit o d e r Selbstverw altung, in E rw ägung ziehen. A u f m ittiere
Sicht ist w ahrscheinlich, dass die britisch-argentinischen V erhandlungen
zu w eiteren kooperativen A rrangem ents a u f k o nkreten G ebieten (Fische­
rei, E rd ö lp ro sp ek tio n , K om m unikation) fuhren, in V erbindung m it ei­
nem gew issen G ra d v o n Selbstverw altung a u f der Inselgruppe (D odds
1996: 630).

D ie B ezieh u n gen zu Europa —A rgentiniens neuer Pragm atism us


als ‘trading state’

D ie B eziehungen zu E u ro p a n ah m en aus historischen, kulturellen, politi­


schen u n d w irtschaftlichen G rü n d e n seit je einen besonderen R ang im
außenpolitischen B eziehungsgeflecht A rgentiniens ein. N ach d em diese
B eziehungen m it d em F alkland/M alvinas-K rieg 1982 einen absoluten
T iefp u n k t erreicht h atten, erfuhren sie u n te r den nachfolgenden d em o ­
kratischen R egierungen einen kontinuierlichen A usbau (Russell 1999).
D abei sind m ehrere P hasen zu unterscheiden. U n ter A lfonsin w ar die
„europäische V erb in d u n g “ eine Schlüsselgröße bei dem B em ühen, durch
eine D iversifizierung d er P artnerb ezieh u n g en den u n te r den Militärs
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d er R egierung M en em 205

w eitgehend v erlorenen außenpolitischen H andlungsspielraum zurückzu­


gew innen u n d der H egem onie d er V ereinigten Staaten ein G egengew icht
entgegenzustellen. D ie gravierenden u n d sich im Laufe der A m tszeit Al-
fonsins kontinuierlich v erschlechternden binnenw irtschaftlichen Param e­
ter setzten diesem B em ühen aber deutliche G renzen. D ie guten politi­
schen B eziehungen k o ntrastierten m it n u r bescheidenen F ortschritten im
w irtschaftlichen Beziehungsgeflecht. A u ch die beiden w ichtigsten bilate­
ralen A rrangem ents, die W irtschaftsabkom m en m it Italien un d Spanien,
blieben zunäch st o hne greifbare ö konom ische Substanz.
M it der A m tsü b ern ah m e M enem s 1989 begann eine zweite, bis 1995
dauernde Phase, deren H au p tm erk m al eine in ihrem Instrum entenset
breit ausdifferenzierte pro-w estliche Strategie w ar, die sich nahezu aus­
schließlich am Ziel „w irtschaftliche E ntw icklung“ ausrichtete. M it dem
w irtschaftlichen Stabilitätsprogram m v o n 1991, insbesondere seinen
K ern stü ck en D ollar-P eso-P arität, D eregulierung, Privatisierung u n d A u­
ß enö ffn u n g , w aren die V oraussetzungen für eine m assive A usw eitung
a u f dem G eb iet des H andels u n d d er privaten D irektinvestitionen gelegt,
eine C hance, die in sbesondere Spanien (G udino 1997), Italien, m it A b ­
stand aber auch Frankreich, die N iederlande un d G ro ß britannien zu n u t­
zen w ussten. D e r für den argentinischen E x p o rt nach wie v o r zentrale
L an dw irtschaftssektor sah sich allerdings auch w eiterhin m it den vielfäl­
tigen Spielarten des europäischen A grarprotektionism us konfrontiert.
M it dem A bschluss eines R ah m enabkom m ens zw ischen der E U un d
dem M ercosur im D ezem b er 1995 begann eine dritte Phase, in der die
traditionellen V erbindungen (zur E U u n d ihren M itgliedstaaten) um eine
dritte, kom plem entäre V ariante (EU -M ercosur) erw eitert w urde. D as
vo n den Beteiligten als „historisch“ eingestufte R ahm enabkom m en bil­
dete den A uftak t für eine intensive Z usam m enarbeit zw ischen zwei (im
Falle des M ercosur allerdings n o ch unvollständigen) Z ollunionen, w obei
die them atische B andbreite n eben w irtschaftlichen un d politischen F ra­
gen auch die Bereiche K ultur, W issenschaft u n d T echnologie, U m w elt
sowie die D ro g en p ro b lem atik einschloss.
Insgesam t erh ö h te sich die B edeutung A rgentiniens für die E U u n d
ihre M itgliedsstaaten in den 90er Jah ren spürbar. E m pirische Belege hier­
für sind neben einem kontinuierlichen A nstieg der europäischen E x p o r­
te, der D irektinvestitionen u n d E ntw icklungsleistungen der A bschluss
zahlreicher A b k o m m en , die regelm äßigen politischen K onsultationen au f
h o h e r E b e n e sowie die H äufigkeit v o n B esuchen aus Politik, W irtschaft
u n d G esellschaft. A uslösende F ak to ren für diesen qualitativen W andel
w aren insbeso n d ere der politische u n d w irtschaftliche K onsolidierungs-
206 K laus B o d em e r

prozess, die (trotz gelegentlicher Rückschläge) insgesam t posidve E n t­


w icklung des M ercosur, die europäisch-nordam erikanische K onkurrenz
um eine privilegierte P osition au f dem südam erikanischen M arkt un d
n ich t zu letzt die zu n eh m en d globale A usrichtung der europäischen A u­
ßenpolitik. V orrangige Forderungen A rgentiniens an die A dresse E u ro ­
pas sind d er A bbau des leidigen A grarprotektionism us, der w eitere A u s­
b au des beiderseitigen H andels (der seit 1996 für A rgentinien defizitär
ist) u n d der Investitionstätigkeit europäischer U nternehm en, die V ertie­
fung der industriellen u n d w issenschaftlich-technologischen Z u sam m en ­
arbeit sowie der A usbau der politischen K o o p eratio n a u f den verschie­
densten G ebieten, v o n der R eform der U N bis zum K a m p f gegen die
organisierte K rim inalität (Russell 1999: 21).
A m E n d e der zw eiten A m tszeit M enem s n ahm E u ro p a som it a u f der
außenpolitischen Prioritätenskala einen den USA vergleichbaren Rang
ein, ü b ertro ffen aus strategischen G rü n d en n u r noch v o n den M ercosur-
Staaten (plus Chile u n d Bolivien). M it d er anhaltenden U nbew eglichkeit
der E U in Sachen A grarprotektionism us u n d dem Scheitern der W T O -
A uftaktkonferenz in Seattle, die eine neue L iberalisierungsrunde einleiten
sollte, dürfte allerdings das außenpolitische Interesse A rgentiniens an ei­
nem w eiteren A usbau seiner Süd-Süd-B eziehungen, konkret: der V ertie­
fung u n d E rw eiterung des M ercosur m it d em entsprechenden A usbau
der intraregionalen B eziehungen, m ittelfristig sogar no ch gestärkt w er­
den, ergänzt um eine für die argentinische A ußenpolitik relativ neue D i­
m ension: die Z usam m enarbeit m it den L ändern des asiatisch-pazifischen
Raum s.

D er außenpolitische E ntscheidungsprozess

Charakteristisch für den außenpolitischen E ntscheidungsprozess w äh­


ren d d er M ilitärherrschaft w ar eine klare T re n n u n g zw ischen Fragen der
„h o h e n Politik“, die d er m ilitärischen Führungsspitze V orbehalten w u r­
den, u n d solchen m aterieller A rt, die der d em W irtschaftsm inisterium
un tersteh en d en W irtschaftsdiplom atie überlassen blieben. D as A u ß en ­
m inisterium w urde dem gegenüber w eitgehend marginalisiert. K ehrseite
des h o h e n Zentralisierungsgrades w ar eine erhebliche A b sch o ttu n g ge­
genüber In teressen u n d V orstellungen aus dem gesellschaftlichen Raum .
U n te r den k orporativen A kteuren k o n n te lediglich das M ilitâr, dem Re­
gim echarakter entsprechend, m it seinen m ateriellen u n d im m ateriellen
Interessen G e h ö r finden. M it dem w eitgehenden V erzicht a u f den Sach­
verstan d d er B erufsdiplom aten u n d dem R ekurs a u f einen v o n konjunk­
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A ußenp o litik d er R egierung M en em 207

turellen Zufälligkeiten b estim m ten, hochgradig fragm entierten bargai-


ning-P rozess zw ischen den drei W affengattungen w ar der außenpoliti­
sche K urs jener Jah re geprägt v o n Inkonsistenzen u n d Sprunghaftigkeit
(Russell 1991: 71-77).
In den ersten Jah ren der A lfonsin-R egierung w ar der außenpolitische
Planungs- u n d E n tscheidungsprozess, dem plebiszitären C harakter der
ersten P räsidentschaft en tsprechend, stark v o n der P erson A lfonsins un d
seines A ußenm inisters C aputo bestim m t. D e r R egierungspartei kam nur
ein nachgeo rd n eter R ang zu, desgleichen dem K ongress. Z u den engsten
außenpolitischen B eratern geh ö rten w eniger P arteirepräsentanten als u n ­
abhängige Fachleute. D ie A lltagsarbeit lag in erster Linie beim A u ß en m i­
nisterium , das seine zentrale Steuerungs- u n d U m setzungsfunktion zu ­
rückgew ann. In seinen A rbeitsgang m ischte sich der P räsident lediglich
in K risensituationen ein (so in d er F alkland/M alvinas-Frage u n d im D is­
p u t ü b er den Beagle-Kanal) bzw. w en n solche M aterien anstanden, bei
denen die K o m p eten zen zusätzlicher M inisterien tangiert w aren (so bei
d en K ooperations-V erträgen m it Italien u n d Spanien).
M it dem V erlust der P arlam entsm ehrheit 1987 erfuhr die präsidiale
P rärogative eine em pfindliche E in b u ß e; gleichzeitig erhöhte sich das
G ew icht der Parteien in d er außenpolitischen A rena. D e r E inbezug der
u n teren u n d m ittleren H ierarchieebenen in den E ntscheidungsfindungs­
prozess, d en A ußenm inister C aputo gelegentlich praktizierte, um die aus
d er M ilitärzeit geerbten Schw ächen d er oberen E b e n e n des A ußenam tes
auszugleichen, stießen ebenso wie die gelegentlichen Alleingänge des
M inisters bei den S pitzenbeam ten a u f A blehnung.
V erschiedene A nläufe aus dem A p p arat heraus, die S trukturen un d
P rozesse des A ußenm inisterium s zu m odernisieren, blieben in A nsätzen
stecken. D ies gilt auch für die Jah re u n te r der Regierung M enem . K o m ­
petenzkonflikte m it dem W irtschaftsm inisterium a u f dem G ebiet der
A ußenhandelspolitik trugen hierzu ebenso bei wie eine w enig rationale
Personalpolitik u n d eine geringe B ereitschaft zu r N u tzu n g v o n Lerner-
fahrungen. D iese M ängel poten zierten sich no ch in ihren W irkungen
d urch die geringe außenpolitische K o m p eten z des K ongresses u n d des­
sen m arginales E ngagem ent in außenpolitischen A ngelegenheiten (von
einigen öffentlichkeitsw irksam en T h em en abgesehen).
M it dem F ortgang d er dem okratischen K onsolidierung ließ sich je­
d och eine Ö ffn u n g des außenpolitischen D iskurses in den öffentlichen
R aum b eobachten, ablesbar an der Z ahl einschlägiger politischer D e ­
m on stratio n en u n d D ebatten, w issenschaftlichen K olloquien u n d A u s­
landsreisen. D ie außenpolitische Prärogative der E xekutive —u n d hier im
208 K lau s B o d e m e r

Z uge d er Ö ko n o m isieru n g d er A ußenpolitik v o r allem der w irtschaftspo­


litischen A bteilungen —w urde dam it aber n ich t ernsthaft gefährdet.

D ie M enem sch e Außenpolitik in der Kontroverse - ein ige


abschließende Bem erkungen

C hronische politische Instabilität w ar das herausragende M erkm al der


argentinischen G eschichte des 20. Jah rh u n d erts. Sie stellt auch für die
A ußenpolitik des Landes die m it A b stan d w ichtigste innenpolitische D e ­
term inante dar. H äutige Ä n derungen der R egim eform en, unregelm äßige
R egierungsw echsel u n d K risen innerhalb des jeweils dom inierenden
M achtkartells erschw erten trotz der starken M achtkonzentration in der
E xekutive —A u sd ru ck eines H yperpräsidentialism us — die E ntw icklung
u n d U m setzung kohären ter außenpolitischer K onzeptionen. E rst m it
Beginn d er postau to ritären P hase (1983) fand das L and nach innen wie
nach außen zur N o rm alität u n d B erechenbarkeit zurück, ließ es seinen
Status als paria intemaáonal h in ter sich. H ö c h st u m stritten ist jedoch, ob
die belastenden Legate der V ergangenheit bereits m it der ersten dem o­
kratischen Regierung u n te r A lfonsin abgearbeitet w urden oder erst u n ter
seinem N achfolger M enem o d er gar —eine dritte D eutungsvariante —ob
sie nach wie v o r virulent sind. D iese D eb atte kann hier aus P latzgründen
nich t aufgearbeitet w erden (B odem er 1996; T ulchin 1996: 166,184-191;
E scu d é 1998: 67-73). V o r d em H in terg ru n d em pirischer B efunde un d
des A rgum entationsgangs dieses Beitrags soll jedoch abschließend fol­
gendes festgehalten werden:

1. D ie vielfach g eforderte R ückkehr zu r N orm alität, zu Realism us u n d


B erechenbarkeit in den außenpolitischen B eziehungen A rgentiniens
w ar bereits u n te r der A dm inistration A lfonsin erklärte P olitik u n d
trug außenpolitische Früchte. D ies gilt auch für das in besonderem
M aße sensible V erhältnis zu d en V ereinigten Staaten. O bgleich die
R egierung M enem ihre Politik als „kopem ikanische W en d e“ be-
zeichnete, fand eine solche W ende in W irklichkeit nicht statt, w ohl
aber A kzentverschiebungen u n d K o rrek tu ren inhaltlicher u n d klim a­
tischer N atu r, v o m ehem aligen A ußenm inister der A lfonsin-Regie-
rung, D a n te C aputo, als „m ethodologischer D issens“ apostrophiert.
2. U n ter beiden R egierungen sahen sich die außenpolitischen E n t­
scheidungsträger dem D ru ck innenpolitischer u n d internationaler
H an d lu n g sd eterm in an ten ausgesetzt, die spezifische außenpolitische
O p tio n en nahe legten o d er als in o p p o rtu n erscheinen ließen.
A u f d em W eg z u r N orm alität. D ie A u ß en p o litik d e r R egierung M en em 209

D ie (auch in d er w issenschaftlichen Literatur) w iederholt verw andte


E tikettieru n g d er A lfonsinschen A ußenpolitik als „idealistisch“ , der
A ußenpolitik M enem s als „realistisch“ erw eist sich v o r diesem H in ­
tergrund als w enig tauglich. D ie ethische U n terfü tteru n g der A u ß e n ­
politik in den ersten Ja h re n der U C R -R egierung w ar angesichts der
traum atischen Jah re der zurückliegenden M ilitärdiktatur nicht w eni­
ger realistisch als die F okussierung der M enem schen A ußenpolitik
a u f Fragen des w irtschaftlichen W achstum s u n d des A ußenhandels
zu einem Z eitpunkt, als d er T ransitionsprozess abgeschlossen, die
dem okratischen In stitu tio n en u n d V erfahrensw eisen etabliert, zu­
gleich jedoch die W irtschaft in eine schw ere K rise geraten war.
G leichzeitig enthielt die optim istische E rw artung M enem s (und sei­
nes A ußenm inisters D i Telia), eine P olitik der bedingungslosen G e­
folgschaft gegenüber dem H eg em o n im N o rd e n w erde dieser m it ei­
ner Politik beantw orten, die ü b er sym bolische G esten hinausgehe,
no ch durchaus idealistische Züge.
A ktionen wie die E n tse n d u n g eines T ru p p enkontingents u n d zw eier
K riegsschiffe an den persischen G o lf —v o n m anchen Interpreten (so
v o n Carlos E scudé, einem der besten K en n er der argentinischen
A ußenpolitik u n d V erteidiger d er M enem schen Politik) als Beispiel
außenpolitischer Reife ap o stro p h iert —zeugen, lässt m an ihre innen­
politischen Im plikationen beiseite, eher v o n S elbstüberschätzung als
v o n realistischem (bzw. idealistischem ) Kalkül.
E rst in der zw eiten A m tszeit M enem s erfuhr der latente „Idealis­
m u s“ des „neu en R ealism us“, der die erste A m tszeit (vor allem im
V erhältnis zu den USA) prägte, eine A bschw ächung, — auch hier
w iederum am deutlichsten sichtbar in einem pragm atischeren Z uge­
hen a u f den außenpolitischen F avoriten USA.
W as die anderen außenpolitischen Politikfelder b e tra f —das V erhält­
nis zu den lateinam erikanischen N ach b arn (insbesondere zu Brasi­
lien u n d Chile) u n d zu E u ro p a - setzte die M enem -A dm inistration
die pragm atische, a u f gradualistische Schritte setzende Politik der
U C R in durchaus k o n stru k tiv er W eise fort, w obei die neuen A kzent­
setzungen in d er F alkland/M alvinas-F rage, die aktive Integrations­
politik sowie die w achsende B ereitschaft, Fragen der dem okratischen
K onsolidierung, w irtschaftlichen Integ ration u n d kollektiven Sicher­
heit als ein G anzes zu begreifen, als adäquate A n tw o rten a u f die ge­
w andelten U m w eltbedingungen im nationalen, regionalen un d inter­
nationalen R aum in terp retiert w erden können.
210 K lau s B o d e m e r

7. E s ist v o r diesem H in terg ru n d kein Zufall, dass die theoretischen


A ufgeregtheiten u n d polarisierenden W erturteile ü b e r die A u ß en p o ­
litiken A lfonsins u n d M enem s in der ersten H älfte der 90er Jahre m it
d er zw eiten A m tszeit M enem s w eitgehend verschw unden sind.

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Peter Birle

Parteien und Parteiensystem in der Ära M enem -


Krisensymptome und A npassungsprozesse

E inleitung

D ie beiden großen argentinischen Parteien befanden sich in einer


schw ierigen Situation, als Carlos M enem im Juli 1989 inm itten einer tief­
greifenden w irtschaftlichen u n d sozialen K rise das A m t des Staatspräsi­
den ten vorzeitig v o n seinem V orgänger Raúl A lfonsin übernahm . D ie
bisherige R egierungspartei U C R (Unión Cívica Radical-, Radikale B ürger­
union) h a tte bei d en im M ai d u rc h g e fü h rten P räsid en tsch afts- u n d
Parlam entsw ahlen eine schwere Niederlage erlitten. W egen der wirtschaftli­
chen, sozialen u n d politischen K rise u n d des chaotischen E ndes der R e­
gierungszeit v o n P räsid en t A lfonsin w ar sie bei der B evölkerung stark
diskreditiert u n d zu d em innerlich zerstritten. A b er auch die aus den
W ahlen als klarer Sieger hervorgegangene peronistische PJ (Partido Justi-
dalista\ G erechtigkeitspartei) befand sich in einer U m bruchsituation. D e r
überrasch en d e innerparteiliche A ufstieg des populistischen outsiders M e­
n em seit 1987 b edeutete gleichzeitig das E n d e der in den 80er Jah ren
en tstan d en en innerparteilichen „E m eu eru n g sbew egung“ . Z u d em stieß
M enem , der seinen W ah lk am p f im Stil eines Provinzcaudillos des 19.
Ja h rh u n d e rts g efü h rt u n d in p o pulistischer M anier viele V ersprechen
gem acht hatte, unm ittelbar nach seinem W ahlsieg einen großen Teil der
Partei v o r den K opf. W eder das v o n ih m berufene K abinett n o c h sein
R egierungsprogram m entsp rach en den national-populistischen un d eta-
tistischen T raditionen des Peronism us u n d den im W ahlkam pf geschür­
ten E rw artungen seiner A nhänger.
Viele B eobachter befü rch teten zu Beginn der 90er Jahre, dass sich
die Personalisierung, D e-Institutionalisierung u n d Inform alisierung der
argentinischen Politik u n te r M enem w eiter verstärken u n d die Fähigkeit
der Parteien zur S teuerung v o n R egierungsentscheidungen u n d zu r V er­
m ittlung zw ischen Staat u n d G esellschaft w eiter verringern w ürde. D o ch
obw ohl viele dieser B efürchtungen b erechtigt w aren, h atte sich das P ar­
teiensystem nach zehn Jah ren p eronistischer R egierungszeit als üb erra­
schend anpassungsfähig erwiesen. A nders als in L ändern wie Peru, E cua-
214 P e te r B irle

d o r o d er V enezuela, w o die traditionellen P arteien innerhalb w eniger


Jah re w eitgehend v o n der politischen B ühne v erdrängt w urden, ko n n ten
PJ u n d U C R ihre zentrale Rolle innerhalb des Parteiensystem s trotz einer
sich verschärfenden R epräsentationskrise erhalten. Allerdings entstand
m it der F R E P A S O (Frente País Solidario-, F ro n t Solidarisches Land) im
Laufe d er 90er Jah re eine neue relevante K raft im M itte-Links-Spektrum .
G em ein sam m it d er U C R bildete sie 1997 das W ahlbündnis „Allianz für
A rbeit, G erechtigkeit u n d B ildung“ (A lianza para el Trabajo, la Justina y la
Educación-, im folgenden A lia nza), das aus den W ahlen v o n 1997 u n d 1999
'siegreich hervorging u n d m it F em an d o de la Rúa ab 1999 den Staatsprä­
sidenten stellte. E rstm als in der G eschichte des Landes kam es dam it zu
einer K oalitionsregierung. D iese verfügte jedoch vo n A nfang an ü b er ei­
ne seh r fragile M achtbasis, d enn die m eisten P rovinzen des L andes w u r­
den w eiterhin v o n p ero n istisch en G o u v e rn e u re n regiert u n d auch im
Senat behielt die jetzt oppositionelle PJ die O berhand. Z udem blieb abzu­
w arten, inw iefern der innere Z u sam m enhalt der heterogenen A lia n za
ü b e r ein reines W ahlbündnis hinaus sichergestellt w erden könnte.
N a c h einem kurzen Blick a u f traditionelle M erkm ale des argentini­
schen Parteiensystem s analysiert d er folgende Beitrag zunächst die E n t­
w icklung der w ichtigsten Parteien w ährend der Regierungs zeit v o n P rä­
sident M enem . D aran schließt sich eine E in schätzung der parteipoliti­
schen L andschaft nach den P räsidentschafts-, Parlam ents- u n d G o u v er­
neursw ahlen des Jah res 1999 an. Im letzten A b schnitt geh t es u m K o n ti­
nuität u n d W andel, um E rrun g en sch aften u n d fortbestehende D efizite
des Parteiensystem s in den 90er Jah ren u n d u m dessen Beitrag zum
F unktionieren der repräsentativen D em okratie.

Traditionelle M erkmale des Parteiensystem s

P arteien gehören seit E n d e des 19. Jah rh u n d erts zu den zentralen A kteu­
ren der argentinischen Politik. Sow ohl die bereits 1891 gegründete U C R
als auch die 1945 entstandene u n d seit 1973 u n te r dem N am en Partido
Justirialista (PJ) auftretende peronisrische P artei blicken a u f eine lange
P arteigeschichte zurück. V o n einem funktionierenden Parteiensystem
kann jedoch aus verschiedenen G rü n d en für den größten Teil des 20.
Jah rh u n d erts n ich t die R ede sein.
Sow ohl die U C R als auch die PJ zeichneten sich ü b er w eite Phasen
ihrer G eschichte durch eine B ew egungsm entalität aus. Sie verstanden
sich n ich t als V ertreter partieller Interessen im R ahm en einer pluralisti­
schen G esellschaftsordnung, so n d em als alleinige R epräsentanten „des
P arte ien u n d P arteien sy stem in d e r A ra M en em 215

V olkes“ o d er „der N a tio n “ m it A n sp ru ch a u f eine hegem oniale P osition


(Rock 1987: 6ff.). N u r selten kam es zu einem P arteienw ettbew erb zw i­
schen A kteuren, die sich w echselseitig als legitime T eilnehm er an der p o ­
litischen A useinandersetzung anerk an n t hätten. D e r grundlegende gesell­
schaftliche K onflikt zw ischen P eronism us u n d A nti-P eronism us führte
zu einer starken Polarisierung des P arteiensystem s u n d der argentini­
schen Politik insgesam t (Birle 1989).
Parteien u n d P arlam ent fungierten auch in P hasen ziviler politischer
H errsch aft n ich t als zentrale K anäle zu r B earbeitung u n d L ösung gesell­
schaftlicher K onflikte. D ies hing nicht zuletzt dam it zusam m en, dass seit
1955 w iederholt — vergeblich — v ersu ch t w urde, den P eronism us vom
politischen L eb en des Landes auszuschließen. D ad u rch kam es zu einer
V erm ischung v o n territorialer R epräsentation durch die Parteien u n d
funktionaler R epräsentation durch In teressengruppen bzw. „K o rp o rati­
o n e n “, d enn die quasi als E rsatz für die n ich t zu W ahlen zugelassene pe­
ronisrische Partei h andelnden G ew erkschaften, aber auch die U n ter­
nehm erverbände, die katholische K irche u n d die Streitkräfte traten in
K o n k u rren z zu den Parteien u n d unterg ru b en deren Legitim ation und
Funktionalität. D as daraus resultierende politische System w urde m it
M etaphern wie „unm ögliches Spiel“ (O ’D o n n ell 1977) o d er „duales p o li­
tisches System “ (Cavarozzi 1983) um schrieben.
D as Parteiensystem zeichnete sich durch ungew öhnliche cleavage-
S trukturen aus, w obei sozialstrukturell verm ittelte K onfliktlinien eine u n ­
tergeordnete Rolle spielten. W eder eine linke, sozialdem okratische oder
sozialistische A rbeiterpartei, n o c h eine bürgerlich-konservative „U n ter­
nehm erpartei“ k o n n te sich a u f D au er erfolgreich etablieren. D as Fehlen
einer bedeu ten d en konservativen P artei w urde w iederholt als eine U rsa­
che dafür bezeichnet, dass sich bei Teilen der O b ersch ich t eine A nti-
Parteien-M entalität u n d die B ereitschaft zu r U n terstü tzu n g v o n M ilitär­
diktaturen herausbildete (D i Telia 1998).
D ie L inks-R echts-D im ension spielte zw ar durchaus eine Rolle für
die argentinische Politik, sie w urde aber seit M itte des 20. Jah rh u n d erts
d urch eine v o n sozio-kulturellen u n d politisch-kulturellen E lem enten ge­
prägte D im ension gebrochen. Infolgedessen hingen die D ifferenzen zwi­
schen den beiden w ichtigsten A kteuren —P eronism us u n d R adikalism us —
nich t in erster Linie m it program m atischen V orstellungen, so n d em m it
divergierenden sozio-kulturellen Iden titäten , Politikstilen u n d D em o k ra­
tiekonzepten zusam m en. Perón m achte ab M itte der 1940er Jahre nicht nur
die G ew erkschaften zu w ichtigen Stützen seiner H errschaft, er etablierte
sich auch als R ep räsen tan t eines hem dsärm eligen, inform ellen politi-
216 P e te r Birle

sehen Stils, der a u f form al-dem okratische Spielregeln w enig W ert legte.
W o ra u f es ankam war, dass die konkreten P ro b lem e der A rbeiter u n d der
U ntersch ich t — am b esten durch einen starken M ann —m it E n tsch ied en ­
heit angepackt w ürden. D ie m ittelschichtenbasierte U C R verstand sich
dagegen stets als F ü rsp rech er v o n R echtsstaatlichkeit, bürgerlichen R ech­
ten, Pluralism us u n d republikanischen Institutionen. D e m „bürgerli­
ch en “ u n d „zivilisierten“ politischen D iskurs u n d Stil der U C R stand ein
an „das V o lk “ (elpueblo) appellierender „prim itiverer“ , aber gerade des­
halb o ft auch „p o p u lärerer“ P eronism us gegenüber. D ie au f einer Links-
R echts-A chse zu m essen d en sozio-ökonom ischen P räferenzen v o n P e ­
ronism us u n d Radikalism us u n terschieden sich dem gegenüber nicht
grundlegend. B eide P arteien traten für einen starken, die W irtschaft regu­
lierenden Staat u n d für den Schutz der einheim ischen Industrie gegen­
ü b e r ausländischer K o n k u rren z ein (O stiguy 1998). L inks-R echts-D iver-
genzen innerhalb d er beiden g roßen Parteien w aren o ft größer als ^wischen
ihnen. D a die argentinische politische K u ltu r o hnehin einen personalisti-
schen G ru n d z u g aufw eist, erhielt der innerparteiliche Faktionalism us
durch derartige D ivergenzen zusätzliche N ahrung.
D am it ist ein „E rzü b el argentinischer Politik“ (B odem er/C arreras
1997: 185) an g esprochen —P ersonalism us u n d Klientelism us:
Auslöser für parteiinterne Gruppierungen bzw. Abspaltungen sind somit
nur selten von der Mehrheitslinie abweichende Grundsatzpositionen, son­
dern vielmehr vor allem neuaufkommende populistische Führungsfiguren,
von deren politischen Vorlieben und Machtkalkülen Aufstieg und Nieder­
gang solcher Klientel- und Gefolgschaftsnetze entscheidend abhängen.
(Bodemer/Carreras 1997: 185f.)

D ritte P arteien spielten keine b edeutende Rolle, so dass u n te r form alen


G esich tsp u n k ten v o n einem geringen Fragm entierungsgrad des P arteien­
systems gesprochen w erden konnte. D ie fehlende wechselseitige A n er­
k en n u n g u n d die stets m anifest o d er zum indest latent v o rh andene H e ­
gem onie einer der beiden g ro ß en Parteien verhinderten jedoch, dass sich
aus dem Z usam m enw irken der einzelnen A kteure ein funktionierendes
Parteiensystem ergeben hätte. Einige A u to ren sind aufgrund der geschil­
derten M erkm ale sogar davon ausgegangen, dass v o n einem Parteienryr-
tem in A rgentinien lange Z eit ü b erh au p t nicht die R ede sein k o nnte (Ca-
varozzi 1989). D em g eg en ü b er ist jedoch zu R echt angem erkt w orden,
dass ein Parteiensystem im Sinne v o n m eh r o d er w eniger stabilen Bezie-
h u n g sm u stem zw ischen den P arteien sehr w ohl existierte. Allerdings
zeichneten sich die Parteien nicht durch V erhaltensm uster aus, die aus
P arte ie n u n d P a rteien sy stem in d e r A ra M en em 217

einer dem okratisch-pluralistischen Perspektive w ünschensw ert gewesen


w ären, u n d die F unktionslogik des Parteiensystem s trug m it zu r Instabili­
tät des politischen System s bei (Abal M edina/C astiglioni 2000).
M it d er R ückkehr zu r D em o k ratie E n d e 1983 traten die Parteien
nach einer m eh r als siebenjährigen M ilitärdiktatur erneut ins Z en tru m
des politischen L ebens. In organisatorischer H insicht knüpften sie an die
v orauto ritären S trukturen an, ern eu t w aren U C R u n d P] die dom inieren­
den A kteure. Im U nterschied zu früheren Ja h re n fand seit 1983 jedoch
ein o ffener P arteienw ettbew erb statt. Parteienverbote gehörten der V er­
g angenheit an u n d die W ahlergebnisse standen nicht durch etablierte
H egem onien v o n v o rn h erein fest. Alle relevanten Parteien erkannten
sich w echselseitig als legitim e politische A kteure an u n d akzeptierten die
g rundlegenden R egeln des dem okratischen W ettbew erbs, die E rgebnisse
v o n W ahlen sowie den Parteienw ettbew erb als zentrale Legitim ations-
quelle u n d als g rundlegenden M echanism us für den Z ugang zu r politi­
schen M acht. D e r Polarisierungsgrad des Parteiensystem s erreichte trotz
zahlreicher K onflikte zu keinem Z eitp u n k t das A usm aß früherer Ja h r­
zehnte. Z w ar kam es nach der v erheerenden N iederlage des Peronism us
bei den W ahlen v o n 1985 in T eilen d er U C R zu einem W iederauffla-
ckem der B ew egungsm entalität, derartige G edankenspiele erfuhren je­
d och spätestens m it dem V erlust der absoluten M ehrheit bei den Parla­
m entsw ahlen v o n 1987 eine deutliche Absage.
D e r Fragm entierungsgrad des Parteiensystem s blieb gering. A u f
U C R u n d PJ entfielen bis 1989 sow ohl im A bgeordnetenhaus als auch
im Senat stets m e h r als 80% d er Sitze. D ie Stim m enanteile „dritter P ar­
teien“ n ah m en im V erlau f der 80er Jah re leicht zu, sie verteilten sich aber
a u f eine V ielzahl kleiner, zum eist n u r in einer P rovinz relevanter P artei­
en, so dass sich daraus a u f nationaler E b en e keine H erausforderung für
die beiden g ro ß en P arteien ergab (D e R iz /A d ro g u é 1990: 21 f.).

T a b elle 1: S tim m en an teile von PJ un d U C R b e i d en P arlam en tsw ah len 1983,


1985 u. 1987 (in %)

1983 1985 1987


Partido Justicialista 33,5 34,6 41,5
U nión Cívica Radical 47,4 43,2 37,2
A ndere 19,1 22,2 21,3
Quelle: D e Riz 1998: 135
218 P e te r Birle

D ie U C R k o n n te sich im Z uge des Ü bergangs zu r D em o k rad e v o n ih­


rem Im age einer konservativ-kleinbürgerlichen P artei lösen u n d als G a­
ran t einer dem okratischen P olitik profilieren. Ih r Einfluss a u f die Z u ­
sam m ensetzung des K abinetts u n d a u f die Politik der R egierung A l­
fonsin blieb jedoch gering (Birle 1989: 65 ff.). P räsident A lfonsin agierte
w eitgehend unabhängig v o n den G rem ien der U C R u n d rekurrierte m it
dem A rgum ent, die Partei liefere keine zeitgem äßen A n tw o rten a u f drän ­
gende P roblem e, a u f eine kleine G ru p p e v o n persönlichen G efolgsleuten
u n d n ich t d er P artei angehörende Fachleute. A lfonsin betrieb zw ar einer­
seits eine E rn eu eru n g der P artei v o n oben, in d em er beispielsw eise einige
ü b erk o m m en e w irtschaftspolitische V orstellungen der U C R in Frage
stellte, die v o n ihm zu veran tw o rten d e „D eaktivierung“ der Partei ver­
schärfte jedoch letztendlich die R epräsentationskrise (A cuña 1998:
105ff.). T ro tz k nap p er M ehrheitsverhältnisse im P arlam ent suchte A l­
fonsin n ich t in erster Linie eine ü b er öffentliche D iskussionen u n d V er­
einbarungen abgesicherte Z usam m enarbeit m it der parteipolitischen
O p p o sitio n , so n d em er setzte — o hne bleibende Erfolge — a u f diskret
ausgehandelte „P akte“ m it verschiedenen G ru ppierungen aus dem G e ­
w erkschafts- u n d U ntem ehm erlager. E rs t n achdem die U C R bei den
Parlam entsw ahlen v o n 1987 eine klare N iederlage erlitten u n d ihre ab so ­
lute M ehrheit im A bgeord n eten h au s eingebüßt hatte, ging A lfonsin ver­
stärkt a u f die O p p o sitio n zu.

T a b e lle 2: Z u sa m m e n se tz u n g d es A b g eo r d n ete n h a u se s 1983 - 1989

1983-85 1985-87 1987-89


M andate % M andate % M andate %
U nión Cívica Radical 129 50,8 129 50,8 113 44,5
P artido Justicialista 111 43,7 101 39,7 103 40,5
U ceD é 2 0,8 3 1,2 7 2,7
PI 3 1,2 6 2,4 5 2,1
A ndere 9 3,5 15 5,9 26 10,2
T otal 254 100 254 100 254 100
Quelle: De R iz/ Adrogué 1990: 66.

E ine im Sinne d er K onsolidierung der D em o k ratie w ünschensw erte kon­


struktive Z usam m en arb eit d er R egierung m it der parlam entarischen O p ­
positio n w urde aber auch d adurch erschw ert, dass a u f Seiten der größten
O p p o sitio n sp artei n u r w enig B ereitschaft dazu v o rh an d en war. D ie PJ
erlitt bei den W ahlen v o n 1983 u n d 1985 schw ere N iederlagen u n d
P a rte ie n u n d P arteien sy stem in d er A ra M e n e m 219

k o n n te die seit dem T o d des Parteigründers P eró n im J a h r 1974 schw e­


lende Identitätskrise zun äch st n ich t lösen. D ie innerparteilichen A usein­
andersetzungen in d er zw eiten H älfte der 80er Jah re w aren geprägt vom
K a m p f zw ischen „ O rth o d o x e n “ u n d „E rn eu erern “ um die innerparteili­
che V orherrschaft. Bei den Parlam entsw ahlen vo n 1987 k o nnte die P ar­
tei u n te r F ü h ru n g des E m euererflügels erstm als seit 1973 w ieder einen
W ahlsieg erringen. D e r Einfluss d er E rn eu erer sank jedoch m it dem Sieg
v o n Carlos M enem bei den innerparteilichen V orw ahlen zur A usw ahl
des K an d id aten für die P räsidentschaftsw ahlen 1989. In allen zentralen
Politikfeldem der 80er Jah re v ertrat die g rößte O p p o sitionspartei u n ter­
schiedliche, zum T eil w idersprüchliche P ositionen. G leichw ohl n ah m sie
gro ß en E influss a u f die politische E ntw icklung jener Ja h re u n d trug m it
„ihren H andlungen u n d U nterlassungen [...] beträchtlich zum Scheitern
d er R egierung bei“ (Carreras 1999: 285).
D as V erhältnis zw ischen Parteiensystem u n d Zivilgesellschaft entw i­
ckelte sich negativ. D ie „W iedergeburt“ der Zivilgesellschaft im V erlauf
des Ü bergangs zur D em o k ratie hatte zu erheblichen M obilisierungen in
der A nfangsphase d er R egierung A lfonsin geführt. In sbesondere die
M enschenrechtsbew egung w ar in dieser Z eit sehr aktiv. A b M itte der
80er Jah re erlahm te jedoch das zivilgesellschaftliche E ngagem ent, w obei
E n ttäu sch u n g ü b er die m angelnde R esponsivität der R egierung sowie
zu n eh m en d e ökonom ische u n d soziale K risensym ptom e eine w ichtige
Rolle spielten (Birle 2000). M it den peronisrisch dom inierten G ew erk­
schaften fand die R egierung n u r in kurzen Phasen zu einem tragbaren
modus vivendi. D reizeh n G eneralstreiks des G ew erkschaftsdachverbandes
C G T (Confederación General del Trabajo), d er in den ersten Regierungsjahren
w iederholt als „ E rsa tz “ für die w enig handlungsfähige PJ handelte, tru ­
gen m it dazu bei, die R egierbarkeit zu untergraben. D ie außer K ontrolle
geratene soziale Situation zw ang P räsid en t A lfonsin letztendlich zum
vorzeitigen R ücktritt.
In den ersten Ja h re n nach d em E n d e der D ik tatu r stießen die politi­
schen P arteien a u f große gesellschaftliche A kzeptanz. Fast ein D rittel der
W ahlberechtigten traten 1983 einer Partei bei (C atterberg 1989: 86).
M einungsum fragen zeigten bis in die zw eite H älfte der 80er jah re bei ca.
70% d er Befragten eine positive E in sch ätzu ng der politischen Parteien.
E rs t im V erlau f der sich ab 1987 v erschärfenden w irtschaftlichen u n d
sozialen K rise verschlechterte sich auch das Im age der Parteien. D am it
deutete sich eine E ntw icklung an, die sich in den 90er Ja h ren w eiter ver­
stärken sollte. D ies gilt auch für einige andere T endenzen, die sich b e­
reits in den 80er Jah ren abzeichneten: die sinkende B edeutung der tradi-
220 P e te r B irle

tionellen Iden titäten u n d kulturellen Milieus d er beiden großen Parteien,


die Z u n ah m e d er W echselw ähler, die Schw ächung der P arteien als M as­
senorganisationen u n d die zu n ehm ende B edeutung der M assenm edien
bei politischen A useinandersetzungen u n d W ahlkäm pfen (Carreras 1996:
248). D ie institutioneilen R essourcen, derer sich die P arteien traditionell
bedient h atten, gerieten im V erlauf der 80er Jah re verstärkt u n te r D ruck.
D ies b e tra f insbesondere die A ufrechterhaltung klientelistischer N e tz ­
werke a u f nationaler u n d regionaler E b en e d urch R ückgriff a u f öffentli­
che G elder u n d V ergabe v o n P o sten innerhalb der staatlichen V erw al­
tung. D erartige Praktiken w aren angesichts d er tiefgreifenden Struktur-
u n d Finanzkrise des Staates im m er schw erer aufrecht zu erhalten (N ova-
ro 1998: 120f.) —was n ich t heißen soll, dass sie verschw unden w ären.

D ie E ntw icklung der PJ unter M enem

D ie v o n P räsid en t M enem eingeleiteten grundlegenden W irtschaftsre­


form en, insbeso n d ere die Privatisierungspolitik, die D eregulierung der
W irtschaft u n d die Ö ffn u n g gegenüber d em W eltm arkt stießen in großen
Teilen seiner Partei zunäch st a u f A blehnung. D ie ersten beiden A m tsjah­
re w aren geprägt v o n Skepsis u n d U nbehagen der PJ gegenüber dem
K urs M enem s. D ass es M enem tro tzd em gelang, sich die U n terstü tzu n g
der PJ zu sichern, w ar a u f m ehrere U rsachen zurückzuführen.
E rsten s m utete M enem seiner Partei zw ar in w irtschaftspolitischer
H insicht einen „R ech tsru tsch “ zu, er b o t ih r aber gleichzeitig in sozio-
kultureller u n d politisch-kultureller H in sich t starke K on tin u ität zum tra­
ditionellen Peronism us. D e n n trotz d er A b k eh r v o n dem im W ahlkam pf
gepflegten populistischen sozio-ökonom ischen D iskurs blieb M enem im
H inblick a u f seinen politischen F ührungsstil, seinen Pragm atism us, sein
C harism a u n d die v o n ihm gepflegte Sym bolik ein „echter P ero n ist“ (de
Riz 1998: 137; O stiguy 1998: 29ff.).
Z w eitens ü b ern ah m M enem die M acht inm itten einer schw eren K ä ­
se, so dass auch die m eisten K ritiker im eigenen Lager die E n tsch eid u n ­
gen des P räsidenten aus A n g st v o r einer w eiteren D estabilisierung z u ­
n ächst n ich t öffentlich in Frage stellten —zum al sie ihrerseits w enig ko n ­
krete A lternativen anzubieten hatten. U m so m ehr hielten sich die G eg ­
n er des neu en K urses m it K ritik zurück, als sich 1991 die ersten Stabili-
sierungs- u n d W ahlerfolge einstellten.
D ritten s w ar M enem gegenüber seinen parteiinternen K ritikern vo n
A nfang an in einer starken Position. D ie E rn eu erer hatten sich als in ter­
ne S tröm ung nach ih rer N iederlage bei den V orw ahlen des Jahres 1988
P arteien u n d P arteien sy stem in d er A ra M en em 221

aufgelöst. Z w ar bekleideten einige v o n ihnen no ch w ichtige P ositionen


innerhalb d er Partei, eine offene K o n fro n tatio n m it M enem scheuten je­
doch die m eisten. M enem verstan d es seinerseits, viele seiner einstigen
G eg n er so zu integrieren, dass seine A u to rität dadurch w eiter gestärkt
w urde. D ie v o r allem w ährend des ersten A m tsjahrs gezeigte Toleranz
gegenüber p arteiinternen K ritikern m achte ab 1990 aber auch einer ge­
zielten E in fo rd eru n g v o n Parteidisziplin Platz. A n to n io C añero, einst­
m als fü h ren d er K o p f d er E rneuerer, trat nach einer v o n ihm gegen den
W u n sch M enem s initiierten — u n d gescheiterten — V olksabstim m ung
ü b er eine V erfassungsänderung in d er P rovinz B uenos A ires im A ugust
1990 als P arteiv o rsitzen d er der PJ zurück. A uch seine erneute K andida­
tu r als G o u v ern eu r d er Provinz B uenos Aires bei den W ahlen im O k to ­
b er 1991 k o n n te er nicht gegen den W iderstand M enem s durchsetzen.
Sein politisches Schicksal m achte den M enem -K riükern klar, wie gefähr­
lich es sein k onnte, einen unabhängigen K urs gegenüber dem Präsiden­
ten zu w agen (M cG uire 1995: 231f.; P a le rm o /N o v a ro 1996: 217ff.).
V iertens p rofitierte M enem davon, dass der E influss der G ew erk­
schaften innerhalb d er P artei bereits im Z uge der „ E rn eu eru n g “ in der
zw eiten H älfte der 80er Jah re gesunken war. T ro tz starker V orbehalte
d er G ew erkschaften gegen M enem s Politik bildete sich keine geschlosse­
ne A blehnungsfront. E in Teil d er G ew erkschaften w ar zu r Z usam m en­
arbeit m it der Regierung bereit u n d eine w eitere G ru p p e scheute zum in­
dest die offene K o n fro n tatio n m it d er A dm inistration (G utiérrez 1998;
Levitsky 1997: 91 f.).
F ünftens setzte M enem sow ohl gegenüber den kooperationsbereiten
G ew erkschaftern als auch gegenüber den peronistischen G ouverneuren
au f eine Politik v o n selektiven A nreizen u n d der G ew ährung v o n P frü n ­
den. T ro tz d er W irtschafts- u n d S taatsreform verfügte die E xekutive
üb er R essourcen, die für die Pflege u n d den E rh alt v o n klientelistischen
N etzw erk en eingesetzt w erden konnten. D azu dienten beispielsweise
Z ugeständnisse gegenüber den G ew erkschaften bei den vo n diesen ver­
w alteten Sozialw erken o d er spezifische Sozialfonds. D ie grö ß te A u f­
m erksam keit erfu h r d er a u f V erlangen v o n E d u a rd o D uhalde 1991 auf­
gelegte Fondo de Reparación Histórica für Sozialprogram m e im G ro ß rau m
B uenos A ires, durch den der G o u v ern eu r der P rovinz die V erfügungs­
gew alt ü b e r zusätzliche M ittel in H ö h e v o n 400 bis 600 M illionen D ollar
jährlich erhielt (P a le rm o /N o v a ro 1996: 437).
Sechstens k o n n te sich M enem gegenüber der Parteibasis au f einen
fast im ganzen L and nach wie v o r funktionierenden O rganisationsappa­
rat m it um fassenden V erbindungen zu r A rbeiter- u n d U nterschicht un d
222 P e te r Birle

einer Vielzahl sozialer O rganisationen verlassen. D am it stand ihm eine


In frastru k tu r zur V erfügung, ü b er die nicht n u r materielle U n te rstü t­
zungsleistungen verteilt, so n d em auch politische E ntscheidungen im ­
p lem entiert u n d für U n terstü tzu n g gezielt gew orben w erden k o nnte (Le­
vitsky 2001: 40f£).
D ie genan n ten F aktoren trugen dazu bei, dass die PJ M enem s R e­
form kurs trotz zunächst starker B edenken m ittrug. Insbesondere nach
dem erfolgreichen A bschneiden d er Partei bei den Parlam entsw ahlen
v o n 1991 bis zu r W iederw ahl M enem s im Ja h r 1995 w urde die H eg em o ­
nie M enem s u n d seiner G efolgsleute innerhalb der Partei so g u t wie
nicht hinterfragt. D ies hing auch n och m it einem w eiteren F ak to r z u ­
sam m en: zu Beginn seiner A m tszeit hatte M enem die PJ v o n der B eset­
zung v o n R egierungsäm tem u n d v o n R egierungsentscheidungen w eitest­
gehend ausgeschlossen. N ach einer ersten Phase, in der die Partei kaum
eine Rolle spielte, eröffnete M enem ih r jedoch schrittw eise Z ugang so­
w ohl zu politischen E n tscheidungsprozessen als auch zu r B esetzung vo n
P o sten (N ovaro 1998: 123£). A uch im Parlam ent ergaben sich neue G e-
staltungs- u n d B eteiligungsm öglichkeiten für die Regierungspartei, v o r
allem im L aufe der zw eiten A m tszeit M enem s (siehe den Beitrag v o n
Llanos in diesem Band). D ie Beteiligung der Partei an grundlegenden
E n tscheidungen lief allerdings in d en w enigsten Fällen über die eigent­
lich dafür vorgesehenen Parteigrem ien, so n d em ü b er inform elle G re­
m ien wie die „Liga d er peronistischen G o u v erneure“, die M enem in sei­
ner doppelten E igenschaft als Staatspräsident u n d P arteivorsitzender re­
gelm äßig einberief.
D iese T en d en z verstärkte sich im V erlauf der zw eiten A m tszeit M e­
nem s, v erursacht insbesondere durch den sich im m er w eiter ausdehnen­
den K onflikt zw ischen M enem u n d E d u ard o D uhalde. A b 1989 hatte
D uh ald e zunächst für zwei Jahre das A m t des V izepräsidenten bekleidet,
b ev o r er a u f W unsch M enem s im O k to b e r 1991 als K andidat bei den
G ouverneursw ahlen in der Provinz B uenos Aires antrat. D uhalde ge­
w ann diese W ahlen u n d w urde nach einer ersten A m tszeit im Ja h r 1995
als G o u v ern eu r d er w ichtigsten P rovinz des Landes wiedergewählt.
G leichzeitig m achte er nach der W iederw ahl M enem s 1995 seine A m bi­
tionen für die P räsidentschaftsw ahlen v o n 1999 deutlich, bei denen M e­
nem laut V erfassung, die n u r eine einmalige W iederw ahl erlaubt, nicht
m eh r antreten durfte. D uh ald e setzte dabei v o n A nfang an a u f eine D is­
tanzierung gegenüber der P olitik M enem s, die in der zw eiten H älfte der
90er Jah re aufgrund im m er lauter w erd en d er K orruptionsvorw ürfe,
w achsender A rbeitslosigkeit u n d gravierender sozialer P roblem e ver-
P a rteien u n d P arteien sy stem in d e r Ä ra M en e m 223

stärkt u n te r Beschuss geriet. E r kritisierte das W irtschaftsm odell u n d


forderte eine stärkere soziale K o m p o n en te. Innerhalb der Partei scharte
D u h ald e ab 1995 alle diejenigen u m sich, die m it M enem unzufrieden
w aren. A u sgehend v o n seiner H eim atprovinz B uenos Aires kontrollierte
er so relativ schnell einen g roßen Teil der PJ-Pariam entsfraktion u n d der
Parteigrem ien.
D uhaldes D istanzierungsstrategie führte jedoch auch bei M enem u n d
seinen A nhängern zu erbitterten R eaktionen. M enem setzte alles daran
zu verhindern, dass die p eronistischen G ouverneure, die G ew erkschaften
u n d die Parteigrem ien d er PJ frühzeitig einer P räsidentschaftskandidatur
D uhaldes zustim m ten. N ach d em die O p p o sitio n bei den P arlam ents­
w ahlen 1997 in D uhaldes P rovinz B uenos A ires einen deutlichen Sieg er­
rungen hatte, n ah m en die A nh än g er M enem s dies zum Anlass, u m —ent­
gegen aller rechtlichen B estim m ungen u n d tro tz m iserabler U m fragew er­
te — eine erneute W iederw ahl M enem s anzustreben. D e r daraufhin aus­
b rechende offene K on flik t zw ischen M enem u n d D uhalde zog sich bis
kurz v o r d en P räsidentschaftsw ahlen 1999 hin u n d nahm im m er gro tes­
kere Z üge an. M enem brachte alternative K andidaten ins Spiel, er be­
m ü h te sich u m eine erneute V erfassungsreform oder zum indest u m eine
„N eu in terp retatio n “ d er geltenden V erfassung in seinem Sinne; D uhalde
initiierte in d er Provinz B uenos Aires eine — letztendlich nicht durchge­
führte —V olksabstim m ung, bei der die B evölkerung ihre M einung zu ei­
n er erneuten W iederw ahl M enem s k u n d tu n sollte (Clarín Digital,
10.7.1998); ein v o n M enem M itte 1998 einberufener Parteitag w urde v o n
D uh ald e boykottiert, m it d er R echtm äßigkeit der d o rt getroffenen E n t­
scheidungen m ussten sich jahrelang die G erichte beschäftigen (Clarín
D igital, 14.7.1998). M itte 1998 v erk ü n d ete M enem zw ar offiziell seinen
V erzicht a u f eine erneute K andidatur, nach wie v o r bem ü h te er sich je­
d och darum , auch eine N o m in ieru n g D uhaldes zu verhindern. Selbst
nach d em d er v o n M enem als K andidat ins Spiel gebrachte R am ón O rte ­
ga sich im F rü hjah r 1999 gegenüber D uh ald e bereit erklärte, als dessen
V izepräsidentschaftskandidat ins R en n en zu gehen, w ollte M enem D u ­
haldes P räsidentschaftskandidatur n o c h n ich t hinnehm en (Clarín Digital,
23.2.1999). E rs t als m it Carlos R eutem ann u n d A dolfo R odríguez Saá
auch die letzten v o n M enem als K and id aten genannten P eronisten a u f
eine K an d id atu r verzichtet h atten, w urde d er für A nfang Juli 1999 v o rg e­
sehene N o m inierungsparteitag abgesagt u n d D uhalde offiziell zum PJ-
K and id aten ern an n t (Clarín D igital, 8.6.1999 u. 19.6.1999).
P hasenw eise d ro h te d er K onflikt M enem -D uhalde die PJ vollständig
zu spalten. Im Juli 1998 grün d ete D u h ald e m it seinen A nhängern eine
224 P e te r Birle

eigene Parlam ents fraktion, den Bloque Parlamentario Federal (Clarín Digital,
19.7.1998). N ach d em M enem seine W iederw ahlm öglichkeiten schw inden
sah, änd erte er seine Strategie u n d setzte n u n darauf, sich langfristig die
K o n tro lle ü b e r die P artei zu sichern. O b w o h l seine A m tszeit als P artei­
vo rsitzen d er erst im J a h r 2000 abgelaufen w äre, ließ er sich sein M andat
bereits 1998 vorzeitig bis zu m Ja h r 2003 verlängern. W iederum diente
ihm dazu eine R esolution, die a u f einem v o n den parteiinternen G egnern
nich t anerkannten P arteitag getroffen w o rd en w ar (Clarín Digital,
10.12.1998). D ie P artei w urde durch den K o n flikt an der Spitze nicht n u r
gelähm t, die w iederholte U m gehung u n d Instrum entalisierung der
form alen Parteigrem ien führte auch dazu, dass die alternativen
M achtzentren an G ew icht gew annen. In sbesondere die peronisrischen
G o u v ern eu re d er g roßen P rovinzen B uenos A ires, C ordoba u n d Santa
Fe kristallisierten sich als neues M achtzentrum heraus, was w iederum
dazu führte, dass sich auch die peronisrischen G o u v erneure der kleineren
P ro v in zen zu einer eigenen „Liga“ zusam m enschlossen. A m E n d e der
Ä ra M enem b o t die PJ som it ein sehr heterogenes Bild.

D ie U C R in der Krise

D ie U C R d u rchlief in der ersten H älfte d er 90er Jah re eine schw ere K ri­
se. N a c h dem vorzeitigen E n d e d er R egierung A lfonsin 1989 gelang es
ih r zu n äch st nicht, zu einer einheitlichen u n d konsistenten O p p o sitio n s­
rolle zu finden. D ies hing zum einen m it dem M isskredit zusam m en, in
den die Regierung A lfonsin in ihren letzten beiden A m tsjahren geraten
war. Z u m anderen w ar die P artei als O p p o sitio n dam it konfrontiert, dass
P räsid en t M enem jene R eform en durchführte, die A lfonsin in der E n d ­
phase seiner R egierungszeit vorgeschlagen u n d die auch der P räsident­
schaftskandidat d er U C R für den Fall eines W ahlsieges angekündigt h a t­
te. W ü ten d e P ro teste gegen M enem s Politik hätten daher w enig glaub­
w ürdig gewirkt. D ie W ahlniederlagen bei den P arlam entsw ahlen v o n
1991 (29% d er Stim m en) u n d 1993 (30%) schw ächten die nationale P a r­
teispitze zusätzlich u n d fü h rten zu einer M achtverlagerung zu den v o n
der U C R gestellten G o u v ern eu ren d er P rov in zen C órdoba, Catam arca,
C h u b u t u n d R ío N eg ro , die ihrerseits u m ein nicht allzu konfliktives
V erhältnis zu r peronisrischen R egierung b e m ü h t w aren (P alerm o /N o -
varo 1996: 2 47f.).
T ro tz des k atastrophalen E n d e s seiner R egierung u n d trotz eines
sehr negativen p ersönlichen Im ages gelang es Raúl A lfonsin, den P artei­
vorsitz u n d die K o n tro lle ü b e r die U C R zu behalten. E in e dringend n o t­
P arte ie n u n d P a rteien sy stem in d er A ra M en em 225

w endige A useinandersetzung m it den U rsachen des eigenen Scheitem s


unterblieb dam it eb enso wie eine personelle u n d program m atische E r­
n euerung der Partei. V o r eine Z erreiß p ro b e w urde die U C R gestellt,
n achdem P arteich ef A lfonstri im N o v em b er 1993 m it P räsident M enem
d en „P akt v o n O livos“ U nterzeichnete, durch den der W eg für eine V er­
fassungsreform —u n d dam it auch für eine W iederw ahl M enem s —geeb­
n et w urde. A lfonsin selbst hatte M itte der 80er Jah re vergeblich eine V er­
fassungsreform angestrebt. In der A nfangsphase der R egierung M enem
schlug er d ann ern eu t —vergeblich —eine V erfassungsreform vor, u m die
M achtfülle des P räsid en ten durch die E in fü h ru n g eines parlam entari­
schen Systems zu begrenzen. D ie v o n M enem seit dem peronisrischen
W ahlsieg 1993 aus persönlichen M otiven angestrebte V erfassungsreform
hatte er jedoch v eh em en t abgelehnt. U m so erstaunter u n d erboster rea­
gierten Partei u n d Ö ffentlichkeit, als ih n en — w ie so o ft als E rgebnis
nichtöffentlicher V erhandlungen — d er „P akt v o n O livos“ präsentiert
w urde.
D ie Parteigrem ien d er U C R stim m ten dem P akt zw ar —w en n auch
w iderw illig —zu, aber gegenüber der U C R -W ählerschaft kam all dies zu ­
m in d est a u f kurze Sicht einem politischen S elbstm ord gleich. Bereits
zuv o r w ar die U C R w egen ih rer schw achen O p p o sitio n gegenüber der
R egierung M enem kritisiert w orden, jetzt aber w a rf m an ihr eine voll­
ständige K apitulation gegenüber den M achtam bitionen des Statspräsi-
d enten vor. Z u d e m verabschiedete sich die Partei durch die Ü berein­
k u n ft m it M enem in den A ugen vieler W ähler v o n ihrer T radition eines
F ürsprechers v o n R echtsstaat, D em okratie u n d Ethik. Bei den W ahlen
zu r V erfassungsgebenden V ersam m lung im A pril 1994 erhielt die U C R
n u r n och 19,8% der Stim m en. Bei den P räsidentschaftsw ahlen im dar­
auffolgenden J a h r kam ih r K an d id at H o racio M assaccesi sogar n u r au f
16,4% (de Riz 1998: 139ff.) u n d lag dam it w eit abgeschlagen an dritter
Position. E tw as besser schnitt die U C R D an k ihrer w eiterhin funktio­
nierenden lokalen u n d regionalen P arteistrukturen m it 21,7% bei den
gleichzeitig stattfin d en d en Parlam entsw ahlen ab, u n d auch bei den 1995
abgehaltenen G ouvem eu rsw ah len m usste sie keine w eiteren E inbußen
h innehm en. 1996 gelang es dann, m it F e rn an d o de la Rúa als K andidat
die B ürgerm eisterw ahlen in B uenos A ires zu gewinnen.
T ro tz d er en o rm en K o sten des „P ak t v o n O livos“ für die Partei
blieb A lfonsin zu n äch st w eiter Parteivorsitzender. E rst E n d e 1995 er­
folgte m it d er W ahl R odolfo T erragnos eine E rn eu eru n g der Führung.
T erragno, ein politischer Q uereinsteiger, d er erst 1987 M itglied der U C R
gew orden w ar, sollte d er P artei ein m oderneres Im age u n d eine zeitge­
226 P e te r Birle

m äße Program m atik verschaffen. In P artei u n d Ö ffentlichkeit w eckte


seine W ahl große E rw artungen, letztendlich traf aber w eiterhin A lfonsin
die w ichtigen E ntscheidungen. T errag n o verfugte nicht ü b er eine H a u s­
m ach t innerhalb d er Partei, w ä h ren d die durch traditionelle Treuever-
hältnisse u n d klientelistische S tru k tu rm u ster unterm auerte B indung vieler
A ktivisten an A lfonsin fortb estan d , obw ohl dieser offiziell kein Parteiam t
bekleidete (Acuña 1998: 113). A lfo n sin gelang es auch, sich für die P ar­
lam entsw ahlen des Jah res 1997 als Spitzenkandidat in der U C R -H och-
burg, dem H au p tstad td istrik t B uenos A ires, aufstellen zu lassen. M ei­
nungsum fragen ließen jedoch erw arten, dass die U C R m it A lfonsin an
d er Spitze erneut eine klare W ahlniederlage zu erw arten hätte. D ies dürf­
te ein entscheidendes M otiv d afü r gew esen sein, dass die P arteiführung
sich entgegen der Parteitradition u n d gegen m anchen W iderstand in den
eigenen R eihen im A ugust 1997 a u f ein W ahlbündnis m it der zw ischen­
zeitlich zu r zw eitstärksten politischen K ra ft avancierten F R E P A S O ein­
ließ (Acuña 1998: 114f.).

Von der Gruppe der A cht zur FREPASO

N ach einem ersten Schock h atten sich viele P eronisten m it d er Politik


v o n P räsident M enem arrangiert. E ine G ru p p e v o n acht peronisrischen
K ongressabgeordneten, die d em linken Parteiflügel angehörten u n d den
E rn eu erern zu zu rechnen w aren, distanzierte sich jedoch in zu n eh m en ­
dem M aße v o n der Regierung. A b ju n i 1990 traten sie als „ G ru p p e der
A ch t“ (Grupo de los Ocho) öffentlich in E rsch ein u n g u n d forderten eine
R ückbesinnung a u f den „w ahren P ero n ism u s“ . F ü h render K o p f der
G ru p p e w ar der A b geordnete Carlos „C h ach o“ Alvarez. N ach d em die
„ G ru p p e der A c h t“ o h n e E rfo lg v ersu ch t hatte, die Position M enem s
innerhalb der F raktion zu schw ächen, k eh rten ihre M itglieder der Partei
ab E n d e 1990 den Rücken. Z u d en P arlam entsw ahlen im O k to b e r 1991
traten m ehrere G ru p p ieru n g en an, die d a ra u f bauten, dass das „p e ro ­
nisrische V olk“ den „V errat M en em s“ , den dieser durch das „B ündnis
m it dem Liberalism us“ begangen habe, bestrafen w erde (N ova-
ro /P a le rm o 1998: 81£).
D iese E rw artu n g erwies sich jedoch als Irrtu m , u n d nach dem ü b er­
zeugenden W ahlsieg der PJ d urchlebten die peronisrischen D issidenten
zu n äch st eine schwierige Situation. E in Teil kehrte in die P artei zurück,
andere gaben die aktive P olitik auf. D ie „B ew egung für D em okratie un d
soziale G erechtigkeit“ (Movimiento por la Democracia j la Justicia Social,
M O D E JU S O ) u m Carlos Á lvarez hatte sich bereits 1991 m it d er G ru p p e
P a rteien u n d P arteien sy stem in d e r A ra M en em 227

„V olksdem okratie“ (Democraáa Popular) zu r „ F ro n t für D em okratie u n d


soziale G erechtigkeit“ (Frente para la Democraáa y la Justiáa Soáal;
F R E D E JU S O ) zusam m engeschlossen. A b 1992 bem ü h te sie sich u m ein
breites B ündnis d er gem äßigt linken K räfte. N ich t zuletzt die traditions­
reichen sozialistischen Parteien sollten dafür gew onnen w erden, diese
leh n ten das jedoch lange Z eit ab (Abal M edina 1998: 4ff.).
Bei den Senatsw ahlen des Jahres 1992 u n terstü tzte F R E D E JU S O in
d er S tadt B uenos A ires die K an d id atu r des bekannten linken Film regis­
seurs F ern an d o „ P in o “ Solanas, dessen „ F ro n t des S üdens“ (Frente del
Sur) aus D issidenten der K om m unistischen Partei, der C hristdem okratie
u n d U nabhängigen bestand. Im Mai 1993 bildeten F R E D E JU S O , Frente
del Sur u n d einige w eitere kleine G ru p p ieru n g en die „ G ro ß e F ro n t“ (Fren­
te Grande, FG ). D as h eterogene B ündnis aus tendenziell sozialdem okrati­
schen K räften um A lvarez u n d deutlich radikaleren linksnationalistischen
K räften u m Solanas verm ied jede program m atische D iskussion. Z u sam ­
m engehalten w urde es in erster Linie v o n dem W unsch, bei den P arla­
m entsw ahlen im O k to b e r 1993 ein akzeptables E rgebnis zu erzielen. D ie
E rgebnisse der W ahlen ü bertrafen die küh n sten E rw artungen. D ie vo n
A lvarez angeführte Liste im H au p tstad td istrikt B uenos Aires erhielt fast
15% der Stim m en u n d stellte m it A lvarez u n d der M enschenrechtsakti­
vistin G raciela F ernández M eijide zwei A bgeordnete. D ie v o n Solanas
angeführte Liste in der Provinz B uenos A ires kam a u f gut 4% der Stim ­
m en. D am it v ersch o b en sich die M ehrheitsverhältnisse innerhalb der F G
zugu n sten des gem äßigten Flügels u m Alvarez. D ie M edien schenkten
„C h ach o “, d er zum R epräsentanten einer neuen, m o d ern en Linken
hochstilisiert w urde, große A ufm erksam keit (Abal M edina 1998: 10).
E ine unerw artete Profilierungsm öglichkeit b o t sich der F G , nachdem
die U C R u n te r Raúl A lfonsin dem „P ak t v o n O livos“ zugestim m t hatte.
D ie dadurch hervorgerufene E n ttäu sch u n g bei vielen traditionellen
U C R -W ählem w usste die F G geschickt zu nutzen. Bei den W ahlen zur
V erfassungsgebenden V ersam m lung im A pril 1994 öffnete sie ihre L is­
ten für unabhängige Intellektuelle u n d R epräsentanten sozialer Bew e­
gungen. A uch den Sozialisten b o t A lvarez erneut —vergeblich —eine Z u ­
sam m enarbeit an. D e r D iskurs der F G hatte sich inzw ischen deutlich ge­
ändert. V o n der R ückkehr zum „w ahren P eronism us“ w ar längst nicht
m e h r die R ede u n d auch in w irtschaftspolitischer H insicht gab m an sich
w eitaus gem äßigter als n o c h einige Jah re zuvor. W ichtigste W ahlkam pf­
them en w aren der K a m p f gegen die K o rru p tio n , die K rise der Justiz u n d
des E rziehungssystem s, das V ersagen d er U C R als O p p o sitio n u n d die
F o rd eru n g nach einer funktionierenden G ew altenteilung. D am it tra f die
228 P e te r B irle

F G den N erv d er Bevölkerung, v o r allem vieler Stam m w ähler der UCR:


in d er Stadt B uenos A ires w urde sie m it m e h r als 37% der Stim m en zur
stärksten politischen K raft, selbst in der peronisrischen H o chburg, der
P rovinz B uenos A ires, landete sie a u f Platz zwei. W iedem m hatten die
M edien n ich t unerheblich zum E rfo lg d er P artei beigetragen, denn die
F G verfugte zw ar w eder ü b er eine ausgebaute Infrastru k tu r no ch über
eine große A nzahl v o n A ktivisten, ihre „m ediale Performance“ erwies sich
jedoch als sehr erfolgreich (C astiglioni/A bal M edina 1998: 62f.).
D e r z u n eh m en d gem äßigtere u n d „bürgerlichere“ D iskurs v o n C ar­
los A lvarez führte aber auch zu A useinandersetzungen innerhalb der FG .
Im N o v e m b e r 1994 verließ F e m a n d o Solanas das B ündnis im Streit. E i­
nen M o n at später erfolgte ein w eiterer Schritt zu r B ündelung der gem ä­
ßigt linken K räfte. G em einsam m it der im Septem ber 1994 gegründeten
Partei „ O ffen e Politik für Soziale Integrität“ (Política A bierta para la In ­
tegridad Social, PAIS) des aus der PJ ausgetretenen Senators Jo sé O ctavio
B ordón, den sozialistischen Parteien u n d einigen kleineren G ru p p ieru n ­
gen rief die F G das B ündnis „ F ro n t für ein Solidarisches L a n d “ (Frente
por un País Solidario; FR E P A SO ) ins Leben. K urze Z eit später schloss sich
auch eine G ru p p e v o n enttäuschten U C R -A ktivisten (Nuevo Espacio) dem
B ündnis an. V o r den Präsidentschaftsw ahlen 1995 führte F R E P A S O o f­
fene V orw ahlen durch, bei denen sich B o rd ó n knapp gegen Alvarez als
K an d id at durchsetzen konnte. F ast eine halbe Million M enschen hatten
sich an der W ahl beteiligt. Bei den Präsidentschaftsw ahlen im Mai 1995
erhielt B o rd ó n 28,8% d er Stim m en, w om it die U C R erstm als in ihrer
m e h r als 100jährigen G eschichte zur d rittstärksten politischen K raft de­
gradiert w urde. Im O k to b e r 1995 k o n n te sich G raciela F ernández Meiji-
de bei Senatsw ahlen in d er S tadt B uenos Aires m it 45,7% der Stim m en
durchsetzen (Abal M edina 1998: 12ff.; N o v a ro /P a le rm o 1998: 95f£).
Jo sé O ctavio B o rd ó n verließ das B ündnis im F ebruar 1996, nachdem
er vergeblich v ersu ch t hatte, den ehem aligen Innenm inister der Regie­
rung M enem , G u stav o Béliz, als F R E P A S O -K andidaten für die B ürger­
m eisterw ahlen in der S tadt B uenos Aires durchzusetzen. W ie schon beim
R ückzug F e m a n d o Solanas entschieden sich jedoch auch jetzt viele A n­
hänger B ord ó n s für einen V erbleib in F R E P A SO . Bei den im Ju n i 1996
durchg efü h rten B ürgerm eisterw ahlen in B uenos Aires erlitt F R E P A S O -
K andidat N o rb e rto L a P o rta eine deutliche N iederlage gegen U CR-
K an d id at D e la Rúa. E rstm als seit 1993 w ar es der U C R w ieder gelun­
gen, einen W ahlsieg in ihrer traditionellen H o c h b u rg zu erzielen. F ü r die
w eitere E ntw icklung v o n F R E P A S O hatte das W ahlergebnis in zweierlei
H in sich t K onsequenzen. E rsten s b em ü h te sich das B ündnis infolge der
P a rteien u n d P arteien sy stem in d e r A ra M en e m 229

N iederlage verstärk t um seine lange Z eit vernachlässigte Institutionalisie­


rung u n d w andelte sich im D ezem b er 1996 in eine Parteienkonföderati­
o n um . Z w eitens zeichnete sich ab, dass die F R E P A S O ihr W ählerpo­
tenzial w eitgehend au sgeschöpft hatte u n d die U C R m it geeigneten K a n ­
didaten durchaus n o c h dazu in der Lage war, ihre Stam m w ähler zu
m obilisieren. D ies h atte erhebliche A usw irkungen für die w eitere Z u sam ­
m enarbeit zw ischen den beiden w ichtigsten oppositionellen K räften.
Z u sam m en fassen d bleibt festzuhalten, dass es den gem äßigt linken
K räften d er argentinischen Politik m it der F G u n d F R E P A S O im Laufe
d er 90er Jah re gelang, ein erhebliches W ählerpotenzial für sich zu m o b i­
lisieren. D ie w ichtigsten R epräsentanten d er G ru p p ieru n g distanzierten
sich im L aufe der Z eit v o n d er Idee der „V erteidigung des w ahren P ero ­
nism u s“ u n d dem Ziel einer „sozialen F ro n t“ gegenüber den neolibera­
len R eform en d er Regierung M enem . Stattdessen gew annen neben dem
K a m p f gegen die K o rru p tio n T h em en wie R echtsstaatlichkeit, T ran sp a­
renz u n d G ew altenteilung an B edeutung für den D iskurs v o n F G /
F R E P A S O . D am it g riff m an traditionelle U C R -T hem en auf, die v o n den
Radikalen infolge des „P akt v o n O livos“ n ic h t m e h r überzeugend ver­
k ö rp ert w urden — u n d gew ann gleichzeitig w achsenden Z u sp ru ch vo n
Seiten d er M ittelschichten u n d der öffentlichen M einung (N o v a ro /P ale r-
m o 1998: 99).
D ie schrittw eise M äßigung der w ichtigsten F G /F R E P A S O -R e p rä -
sentanten u n d in sbesondere deren grundsätzliche A kzeptanz der von
M enem d urchgeführten W irtschaftsreform en w urde allerdings n u r vo n
einem Teil der Partei- bzw. B ündnisbasis m itvollzogen. Z w ar kam es an­
gesichts des w achsenden W ählerzuspruchs n ich t zu öffentlich ausgetra­
genen K onflikten, aber die K lu ft zw ischen F ü h ru n g u n d Basis wuchs.
A uch die T atsache, dass die Führungsriege bisweilen m e h r U m gang m it
den M edien als m it der eigenen Basis pflegte, trug nicht zu r Stärkung des
organisationsinternen Z usam m enhalts bei.
D ie schw achen O rganisationsstrukturen u n d die w eitgehend a u f die
S tadt u n d die Provinz B uenos Aires beschränkte territoriale Präsenz v o n
F G /F R E P A S O k o n n te durch das Prestige einer kleinen G ru p p e vo n
F ührungspersönlichkeiten u n d eine effiziente K om m unikationsstrategie
ausgeglichen w erden, zum al sow ohl die M edien als auch die öffentliche
M einung große A ufnahm ebereitschaft für den D iskurs der G ru p p ieru n g
zeigten. D ie schw ache Institutionalisierung u n d starke Personalisierung
ging jedoch au f K o sten der H erausbildung eines soliden politischen u n d
program m atischen K onsenses (N o v a ro /P a le rm o 1998: 115f£). T ro tz des
A nspruches, eine neue, fortschrittliche politische K raft darzustellen un d
230 P e te r B irle

sich O ffen h eit gegenüber den zivilgesellschaftlichen G rup p ieru n g en zu


bew ahren, u nterschied sich F R E P A S O hinsichtlich ihrer personalisti-
schen G ru n d m u ste r n ich t v o n den traditionellen Parteien.

A b b ild u n g 1: D ie E n tste h u n g v o n F R E P A SO un d A lianza


U nidad S ocialista Partido Demócrata u n io n C ívica
* 1985 [1890] C ristiano Radical (U CR)
* 1954

G rupo de los Ocho


(G 8 ) * 1989

D em ocracia Popular
M ovim iento p o r la * 1990
D em ocracia y la
Justicia Social
(M O D E JU SO ) * 1991

Frente p ara la D em ocracia y la


Justicial Social (FRED E JU SO )
►1991
F rente del S u r
* 1992

Frente G rande Política A bierta p ara la


(FG ) * 5/1993 Integndad Social (PA IS) * 9/94
N uevo Espacio
1994

Frente País Solichno


(FREPASO)
* 12/1994

A lianza p ara el Trabajo, la Justicia y


la Educación (A L IA N Z A ) * 8/1997

A nm erkung: Die A bbildung berücksichtigt n u r die w ichtigsten politischen K räfte, die bei
der E n tsteh u n g v o n F G /F R E P A S O und A lia n za eine Rolle spielten. D ie Pfeile w eisen
lediglich d a rau f hin, dass eine politische K raft sich an einem W ahlbündnis / einer Partei­
enkonföderation beteiligt. D ies bedeutet n icht zwangsläufig, dass die betreffende K raft
darin vollständig aufgeht.
* = G rün d u n g sd atu m der Partei / des Bündnisses;
I = [ahr, in dem erstm als eine politische K raft der entspr. T endenz entstand.__________

D ie Alianza: E in neuer Hoffnungsträger?

T ro tz d er 1995 bereits k n ersten W ahlgang erfolgten W iederw ahl Präsi­


den t M enem s, der im V erlau f des W ahlkam pfs erfolgreich a u f den Slo­
gan „Ich o d er das C haos“ gesetzt hatte, w uchs angesichts der z u n eh ­
m en d kritischeren ö k o nom ischen u n d sozialen Situation des Landes
schon bald nach den W ahlen der U n m u t der B evölkerung ü b e r die Re­
gierung. D ie O p p o sitio n hatte zw ar bei den W ahlen insgesam t fast die
P arte ien u n d P arteien sy stem in d e r A ra M en em 231

H älfte der W ählerstim m en erhalten, diese verteilten sich jedoch au f zwei


g rößere u n d einige kleinere A kteure, die bislang w enig D isposition zur
Z u sam m en arb eit gezeigt hatten. U C R u n d F R E P A S O w urden sich zwar
langsam bew usst, dass es n u r vereint gelingen könnte, die peronisrische
R egierung bei den 1999 ansteh en d en Präsidentschaftsw ahlen abzulösen,
aber in beiden L agern gab es zahlreiche W iderstände gegen ein m ögli­
ches B ündnis. A u f Seiten d er F R E P A S O glaubte m an nicht nur, dass ei­
ne Z usam m enarbeit m it der für viele B ürgerinnen u n d B ürger im m er
n o c h diskreditierten U C R auch a u f das eigene Im age einer „neuen un d
u n v erb rau ch ten politischen K ra ft“ abfärben könnte, m an fürchtete auch,
v o n d er überlegenen P arteim aschinerie der Radikalen erdrückt zu w er­
den. A u f Seiten der U C R galt es zum einen, die seit G rü n d u n g der Partei
(1891) existierende u n d fest in der Parteitradition verankerte intransigen-
ßh-Tradition, d.h. die A b lehnung einer K oalition m it anderen politischen
K räften zu überw inden (Birle 1989). Z u m anderen hielten viele Radikale
die F R E P A S O nach wie v o r für ein vorübergehendes P h änom en, dessen
E xistenz u n d W ahlerfolge v o r allem a u f Irrtü m e r der U C R zurückzufüh­
ren seien. D ie eigene Profilierung schien ih n en daher w ichtiger als eine
Z usam m enarbeit m it der F R E P A S O (G odio 1998: 166).
Im V orfeld der Parlam entsw ahlen v o n 1997 u n d angesichts der A u s­
sicht, bei g etrenn tem A n treten ern eu t eine N iederlage gegen die PJ zu er­
leiden, gelang jedoch im A u g u st 1997 in 13 vo n 24 P rovinzen die Bil­
dung des W ahlbündnisses „Allianz für A rbeit, G erechtigkeit u n d Bil­
d u n g “ (A lianza para el Trabajo, la justicia y la Educación). In den übrigen
P rovinzen traten U C R u n d F R E P A S O m it g etrennten Listen an, da ins­
beso n d ere die jeweiligen V erantw ortlichen der U C R nicht zu einer Z u ­
sam m enarbeit bereit w aren. F ü r program m atische D eb atten zw ischen
d en beiden B ü n d n isp artn er blieb so gut w ie keine Zeit. F ü r den W ahl­
k a m p f einigte m an sich lediglich darauf, den v o n M enem eingeschlage­
n e n w irtschaftspolitischen K urs grundsätzlich w eiterführen zu w ollen,
gleichzeitig aber einen entschlossenen K a m p f gegen die K o rruption, eine
R efo rm d er Justiz u n d des B ildungsw esens u n d einen grundsätzlich an­
deren Regierungsstil {goodgovernance) in A ussicht zu stellen (Acuña 1998).
D e r Sieg ü b er die PJ bei den W ahlen im O k to b e r 1997 m achte d eu t­
lich, dass die A lia n za auch dazu in der Lage sein könnte, die peronisri­
sche R egierung bei den Präsidentschaftsw ahlen v o n 1999 abzulösen. D e r
E rfo lg sorgte gleichzeitig dafür, dass sich jetzt auch viele v o rh e r skepti­
sche Stim m en m it dem B ündnis identifizierten. D ie institutionelle A bsi­
cherung des B ündnisses erfolgte ü b er eine fünfköpfige nationale Lei­
tungsinstanz u n d ähnliche S trukturen a u f Provinzebene. G leichw ohl
232 P e te r Birle

blieb die Praxis der Z usam m enarbeit bestim m t durch inform elle Ü b er­
einkünfte u n d K onflikte zw ischen den w ichtigsten F ührungspersönlich­
keiten: A lfonsín, D e la R úa u n d T erragno a u f Seiten der U CR, Alvarez
u n d F ernández M eijide a u f Seiten v o n F R E PA SO . E rschw ert w urde die
Z u sam m enarbeit innerhalb d er A lia n za n ich t n u r durch die bereits ange­
sprochenen — u n d nie vollständig ü b erw u n d enen — A nim ositäten zwi­
schen U C R u n d F R E P A S O , so n d e m auch durch die Tatsache, dass die
füh ren d en R ep räsentanten des B ündnisses sehr unterschiedliche persö n ­
liche Projekte verfolgten (N o v aro 2000).
Ih ren K andidaten für die Präsidentschaftsw ahlen v o n 1999 bestim m ­
te die A lia n za in offen en V orw ahlen, bei den en sich F em a n d o de la Rúa
im N o v e m b e r 1998 m it 63% der Stim m en deutlich gegen G raciela F er­
nández M eijide durchsetzen konnte. D a diese nicht als V izepräsident­
schaftskandidatin an treten w ollte, einigte m an sich im F rühjahr 1999 a u f
Carlos A lvarez für diese K andidatur, w äh ren d Fernández M eijide sich
um den G o u v em eu rsp o sten in d er Provinz B uenos Aires bew erben
w ürde. D ie A lia n za dem onstrierte bis zu den W ahlen nach außen H ar­
m onie u n d w ar geeint in dem Ziel, die peronistische R egierung abzulö­
sen. Als entscheidendes M anko des B ündnisses sollte sich jedoch schon
rasch erw eisen, dass es nie zu einer Institutionalisierung v o n E ntschei-
dungs- u n d K o n flikdösungsm echanism en u n d vo n M echanism en zur
H erausbildung v o n program m atischen Ü bereinkünften zw ischen den
nach wie v o r sehr unterschiedlichen u n d zudem auch no ch in sich hete­
rogenen B ündnisp artn ern kam (N ovaro 2000).

D ie parteipolitische Landschaft nach den W ahlen des Jahres 1999

D as J a h r 1999 w ar für A rgentinien ein M am m utw ahljahr. N eb e n der


W ahl v o n P räsiden t u n d V izepräsident, A b g eordnetenhaus sowie einer
V ielzahl lokaler R ep räsen tan ten am 24. O k to b e r w urden in m ehreren
Einzelw ahlen ab D ez e m b e r 1998 auch die G o u verneure un d P ro ­
vin zp arlam en te n eu bestim m t. Bei den P räsidentschaftsw ahlen gelang
K an d id at F e m a n d o de la R úa (UCR) zusam m en m it V izeprä­
sidentschaftskandidat Carlos Á lvarez (FR E PA SO ) m it 48,5% bereits im
P a rte ie n u n d P a rteien sy stem in d er A ra M en em 233

ersten W ahlgang ein deutlicher Sieg.1 D e r peronistische K andidat E d u ­


ardo D uh ald e kam dagegen m it 38,08% a u f das schlechteste E rgebnis,
das jemals ein p eronistischer P räsidentschaftskandidat erzielt hatte. D e r
ehem alige W irtschaftsm inister Cavallo (AR) erhielt als D rittplatzierter
10,1 % der Stim m en.

Abbildung 2: Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus 1983-1999

60

43,6 45,1
42,9 [6,4 43,4
■ £ 45,5
40,4

[7,3 36,3
33,1
30,5 30,2
34,!
30 -
29,1
21,7
26,4
20 -
21,5 19,8 20,5
13,3 14,2 113,5

1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999

P J — B — U C R — â — A lia n z a — * — F R E P A S O — t— A R — 0 — S o n s tig e

Q u e lle : d e R iz 1 9 9 8 ; G e o r g e to w n U n iv e rs ity : P o litic a l D a ta b a s e o f th e A m e r ic a s


w w w .g e o rg e to w n .e d u /p d b a /E le c d a ta /A r g /D ip 9 9 .h tm l)_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Bei den Parlam entsw ahlen2 kam die A lia n za au f 45,5% der Stim m en, die
PJ erhielt 33% , A R 8% , die übrigen Stim m en entfielen zu m g rö ß ten Teil
a u f R egionalparteien. Im A bgeordnetenhaus ergab sich dam it eine Sitz­
verteilung v o n 124 M andaten (48%) für das zukünftige R egierungsbünd-
nis A lian za , w obei 84 M andate a u f die U C R u n d 38 a u f die F R E P A S O

1 D ie Artikel 97 u n d 98 der reform ierten argentinischen V erfassung v o n 1994 sehen


vor, dass ein Präsidentschaftskandidat im ersten W ahlgang gew ählt ist, w enn er
entw eder m ehr als 45% der Stim m en erhält o der w enn a u f ihn m ehr als 40% der
Stim m en und gleichzeitig m indestens 10 P rozentpunkte m ehr als a u f den
zw eitplatzierten K andidaten entfallen. Z u den W ahlen 1999 siehe Böhler 1999 und
N olte 1999, zum W ahlkam pf Priess 1999.
2 D ie A m tszeit der A bgeordneten b eträgt vier Jahre. Alle zwei Jahre w ird die Hälfte
d er A bgeordneten neu gewählt, so dass auch 1999 n u r die H älfte der M andate zur
W iederw ahl anstand.
234 P e te r B irle

entfielen. D ie PJ kam a u f 101 A bgeo rd n ete, A R a u f 12, die restlichen


M andate gingen w eitestgehend an die P rovinzparteien. Som it verfügte
das R egierungsbündnis n ich t ü b er eine eigene absolute M ehrheit. D a die
Z usam m en setzu n g des Senats u n v erän d ert blieb (er w urde erst im O k to ­
b er 2001 neu gewählt) u n d die jetzt oppositionelle PJ d o rt ü b er eine
deutliche M ehrheit verfügte, w ar die zukünftige R egierung v o n A nfang
an a u f eine Z usam m en arb eit m it der O p p o sitio n angewiesen.
D ies galt u m so m ehr, als die A lia n za bei den G ouvem eursw ahlen
schlechter abgeschnitten hatte als erhofft. Bereits im D ezem b er 1998 w ar
es d er PJ gelungen, in d er traditionellen U C R -H ochburg C ordoba m it
Jo sé M anuel de la Sota ern eu t den G o u v ern eu r zu stellen. E ntgegen den
E rw artungen der A lia n za gelang es 1999 nicht, die w ichtige Provinz
B uenos Aires zu gew innen. H ier setzte sich der peronistische K andidat
Carlos R u ck au f gegen die A lia n za -K andidatin G raciela F ernández Meiji-
de (FR E PA SO ) durch. A u ch die P rovinz Santa Fe blieb in den H än d en
eines peronistischen G o u v ern eu rs (Carlos R eutem ann). Insgesam t regier­
te die PJ in 14 v o n 24 P rovinzen, d aru n ter m it B uenos Aires, C órdoba
un d Santa Fe in den drei w ichtigsten. D ie A lia n za k o n n te sich dagegen
n u r in 8 P rovinzen durchsetzen. In zw ei P rovinzen stellten R egionalpar­
teien die G ouverneure.
D e r neugew ählte S taatspräsident D e la R úa hatte som it d u rch die
W ählerinnen u n d W ähler zw ar einen p ersönlichen V ertrauensbew eis er­
halten, seine R egierung verfügte jedoch v o n A nfang an ü b er eine w eitaus
schw ächere M achtbasis als die R egierungen A lfonsin u n d M enem . U m
die schw ierigen P ro b lem e des L andes anzugehen, m usste daher nicht nur
die Z u sam m en arb eit innerhalb d er R egierungskoalition funktionieren,
son d ern auch die m it der O p p o sitio n im P arlam ent u n d in den P rovin­
zen. D ie V oraussetzungen d afü r w aren sehr ungünstig. W ie w eiter oben
dargestellt w urde, handelte es sich bei d er A lia n za um ein äußerst h etero ­
genes u n d fragiles B ündnis, das — abgesehen v o n dem W unsch, die Re­
gierung M enem abzulösen —w eder ü b er einen v o n allen relevanten A k­
teuren geteilten program m atischen K onsens n o ch ü b er form ale M echa­
nism en verfügte, u m einen derartigen K o n sens herzustellen u n d um
K o nflikte zu lösen. V iel w ürde d ah er v o n P räsident D e la Rúa abhängen.
Zahlreiche B eo b ach ter trauten diesem durchaus zu, eine integrierende
u n d v erm ittelnde Rolle zu spielen - irrtüm licherw eise, wie sich relativ
rasch heraussteilen sollte. D ie oppositionelle PJ verfügte nach zehn Ja h ­
ren R egierung u n te r Carlos M enem nicht m e h r ü b er eine anerkannte na­
tionale Führung. M enem hatte sich zw ar frühzeitig den form alen P artei­
vorsitz bis 2003 gesichert, aber die Partei dro h te in konkurrierende
P a rte ie n u n d P a rteien sy stem in d e r A ra M en em 235

M achtzentren aus D uh ald e-A n h än g em , die gerade eine schw ere N ied er­
lage erlitten h atten, M enem -A nhängem , die sich bereits au f die W ahlen
des Jahres 2003 v orbereiteten u n d eine größere A nzahl vo n G o u v ern eu ­
ren, den en zum Teil ebenfalls A m b itio n en a u f eine Präsidentschaftskan-
didatur im J a h r 2003 nachgesagt w urden, zu zerfallen.

E in konsolidiertes Parteiensystem ?

D ie A rgentinier begegneten ihren politischen P arteien am E n d e der


A m tszeit v o n P räsident M enem m ehrheitlich m it M isstrauen. Sie hielten
ihnen K o rru p tio n , Ineffizienz u n d V ersagen bei der L ösung der d rän ­
gendsten w irtschaftlichen u n d sozialen Problem e vor. H a tte n sich noch
1984 88% u n d 1988 63% d er B efragten bei M einungsum fragen positiv
geäußert, so sagten im F eb ru ar 2000 n u r n o ch 15% , sie hätten V ertrauen
in die Parteien.
V ier zentrale U rsachenbündel w urden für die R epräsentationskrise
ausgem acht: die w irtschaftlichen P roblem e, zu deren L ösung die Parteien
nich t in d er Lage w aren, die E rsc h ö p fu n g traditioneller Politikm uster
(z.B. K lientelism us), der relative B edeutungsverlust der Parteien gegen­
üb er anderen V erm ittlungsinstanzen (z.B. den M edien) u n d die T ran s­
form ation der B eziehung zw ischen Staat u n d Politik (A d ro g u e /A rm es to
2001: 625). N eu ere U m fragen bestätigen den A nsehensverlust der P ar­
teien, sie zeigen aber gleichzeitig auf, dass die m eisten B ürgerinnen u n d
B ürger Parteien u n d P arlam ent nach wie v o r für unverzichtbar halten.
„ O h n e Parteien kann eine D em o k ratie n ich t funktionieren“, dieser A n ­
sicht stim m ten 1995 71% , 1997 75% u n d A nfang 2000 im m erhin noch
72% der B efragten zu. Z u d em k o n n te nachgew iesen w erden, dass die
Parteiidentitäten trotz aller Personalisierung u n d M ediatisierung der P oli­
tik n ich t in einem A usm aß v erschw unden w aren, wie dies verschiedent­
lich angenom m en w urde. E in beträchtlicher Teil der A rgentinierinnen
u n d A rgentinier sagte auch E n d e d er 90er Jah re no ch v o n sich, einer p o ­
litischen P artei nahe o d er sehr nahe zu stehen. U ntersuchungen zeigten
zudem , dass das Im age v o n P olitikern nach wie v o r in engem Z u ­
sam m enhang m it der Partei beurteilt w urde, der sie angehörten (Adro-
g u e /A rm e sto 2001: 627ff.).
D iese B indekraft k ö n n te erklären, w arum das argentinische P arteien­
system tro tz d er in den 90er Ja h re n w eiter eskalierenden R epräsentati­
onskrise vergleichsw eise stabil geblieben ist u n d es nicht zu peruanischen
o d er venezolanischen Z u stän d en , d.h. zu einem nahezu vollständigen
V erschw inden der traditionellen P arteien kam. N eb en den ausführlichen
236 P e te r B irle

beschriebenen T endenzen im gem äßigt linken politischen Spektrum


spielten w ährend der Regierungszeit v o n P räsident M enem auch im k o n ­
servativen Lager verschiedene kleinere P arteien eine gewisse Rolle. D ie
bereits in den 80er Jah ren entstandene w irtschaftsliberale „U nion des
D em okratischen Z e n tru m s“ (Union del Centro Democrático', U CeD é) u n te r
F ü h ru n g v o n A lvaro A lsogaray erreichte ihren Z en it bei den W ahlen v o n
1989. Sie unterstützte die v o n M enem eingeleitete R eform politik u n d b e­
setzte phasenw eise auch P o sten innerhalb der Exekutive. D ie U m a r­
m ungsstrategie M enem s u n d interne Q uerelen führten jedoch dazu, dass
ihre W ahlergebnisse ab 1991 stark rückläufig w aren. M itte des Jah rzehnts
w ar die P artei in der B edeutungslosigkeit versunken. A uch die A nfang
der 90er Jah re entstandene rechtspopulistische „Bew egung für W ürde
u n d N ationale U nabhängigkeit“ (Movimiento por la D ignidady la Independen­
cia Nacional, M O D IN ) u n te r F üh ru n g des ehem aligen O b e rst A ldo Rico
erwies sich als ein vorübergehendes P h änom en. 1997 gründete der kurz
zu v o r zurückgetretene W irtschaftsm inister D o m in g o Cavallo seine „A k­
tio n für die R epublik“ (Acción por la República', AR), die bei den Parla­
m entsw ahlen v o n 1999 a u f 8% d er S tim m en kam. D aneb en spielen in
der argentinischen Politik traditionell die Provinzparteien eine gewisse
Rolle. Im nationalen Parlam ent sind sie jedoch im m er n u r m it w enigen
A bgeordneten vertreten (Jones 1997: 264).
W ie aus Tabelle 3 hervorgeht, erh ö h te sich die effektive A nzahl der
im Parlam ent v ertretenen Parteien in den 90er Jah ren v o n 2,8 (1989) au f
3,39 (1999). D e r dam it erreichte Fragm entierungsgrad des Parteiensys­
tem s w ar allerdings nicht besorgniserregend, ebenso w enig wie die leicht
angestiegene W ählerfluktuation (N olte 2000). E rin n e rt sei auch noch
einm al an die seit den 80er Jah ren v o rh an d en e u n d in den 90er Jah ren
fortbesteh en d e grundsätzliche w echselseitige A nerkennung d er Parteien
als legitim e T eilnehm er der politischen A useinandersetzung, an die ge­
sunkene Polarisierung u n d die geringe Relevanz extrem istischer K räfte.
T ro tz dieser positiv zu bew ertenden F aktoren fiel die G esam tein­
schätzung des Parteiensystem s negativ aus, u n d zw ar v o r allem w egen
d er vielen ,,-ism en“ d er argentinischen Politik u n d deren katastrophaler
K o n seq u en zen für die D em okratie: P eronism us, M enem ism us, A lfonsi-
nism us, A lvarism us, Cavalüsm us, D eL aR üism us ... — nicht Ideen un d
P rogram m e bestim m ten E n d e der 90er Jah re das D en k en u n d Flandeln
der argentinischen Parteien, sond ern persönliche Projekte. Alle relevan­
ten P arteien w aren geprägt durch einen extrem en Personalism us, fehlen­
de program m atische D iskussionen u n d Festlegungen, eine große D istanz
zw ischen Führungseliten u n d Basis, zentralistische, klientelistische un d
P arte ie n u n d P arteien sy stem in d e r Ä ra M en em 237

o ft w enig transparente E n tsch eid u n g sstru k turen u n d — v o n w enigen


A u sn ah m en abgesehen — ebenso w enig transparente M echanism en zur
B estim m ung v o n K andidaten für P arteiäm ter un d öffentliche W ahläm ­
ter.

T a b elle 3: E ffek tive A n zah l der P arteien u n d M an d atsverteilu n g im A b g eo r d n e ­


ten h au s (M andate und M andatsanteil der R egierungsparteien fettgedruckt)

Jahr PJ UCR FG / Linke3 Z ent­ Rech­ Pro- PJ Effektive


Fre- rum1’ te0 vinz- + Anzahl der
paso partei- Parteien1*
en UCR

1983 111 129 - 3 1 2 8 94 2,22


(51%)
1985 101 129 - 6 4 3 11 91 2,39
(51%)
1987 104 115 - 6 6 7 16 86 2,64
(41%)
1989 120 90 - 6 7 12 18 83 2,80
(47%)
1991 120 84 - 11 6 14 22 79 2,96
(47%)
1993 126 85 3 4 3 12 23 82 2,75
(47%)
1995 129 68 23 2 7 8 20 76 2,96
(49%)
1997 119 66 38 - 5 6 23 73 3,21
(50%)
1999 101 84 38 - 3 17 14 72 3,39
124(4 3%)
aLinke Parteien: Partido Soáalista Popular und Partido Socialista Democrático n u r bis 1995, danach gehören sie
FREP ASO an; Partido Intransigente, Partido Comunista, Molimiento al Socialismo, Corriente Grande, Grupo de los Ocho.
b Zentrumsparteien: Partidos Demócrata Progresista, Partidos Demócrata Cristiano, PAIS.
c Konservative Parteien: UCeD é, Fuerza Republicana, Acciónpor la República, M O D IN .
d Effektive Anzahl der Parteien errechnet auf G rundlage des Laakso-Taagepera-Index.
Quelle: Abal M edina/Castiglioni 2000: 9.

D iese P roblem e w aren w eder neu n o ch m angelte es an V orschlägen, um


sie zu überw inden. In sb eso n d ere das geltende W ahlrecht u n d das darin
vorgesehene L istenw ahlverfahren (listas sábana) w urde w iederholt als
P ro b lem ausgem acht. D ie Parteien präsentieren sich ihren W ählern bei
den P arlam entsw ahlen m it geschlossenen Listen, bei denen den W ähle­
rinnen u n d W ählern o ft n u r die L istenführer bekannt sind. D ie übrigen
K andidaten w erden durch die Parteiführungen bestim m t, m it der K o n ­
sequenz, dass deren Loyalität in erster Linie den Parteicaudillos u n d
n ich t einer k o n k ret auszum achenden W ahlkreisbevölkerung gilt. D as
238 P e te r Birle

w eitgehende M o n o p o l der Parteiführungen zur K andidatenausw ahl trägt


zum E rh a lt v erk n ö ch erter F ührungsStrukturen bei u n d schränkt die
W ahlm öglichkeiten der B evölkerung stark ein (Jackisch 1993).
D ie nationalen Parteiführungen verfügen daneben no ch ü b er weitere
„D isziplinierungsinstrum ente“ gegenüber ihren jeweiligen D istriktorga­
nisationen. Sie k ö nnen diese u n te r b estim m ten V oraussetzungen „inter­
v enieren“ , d.h. die lokalen/regionalen V erantw ortlichen entm achten u n d
die dortigen Strukturen der vorüberg eh en d en V erw altung durch die n a ­
tionale F ü h ru n g unterstellen. V o n dieser M öglichkeit w urde in der V er­
gangenheit sow ohl v o n der PJ als auch v o n der U C R G ebrauch gem acht.
O ft reichte aber auch die D ro h u n g m it einer Intervention, um aufm üpfi­
ge P rovinzorgane zu disziplinieren (Jones 1997: 271 ff.). D erartige M e­
chanism en tragen m it dazu bei, die p arteiinternen K lientelstrukturen auf­
rechtzuerhalten u n d u n tergraben die innerparteiliche D em okratie.
W iederholt angem ahnt w urden auch R eform en der parteiinternen
M echanism en d er K andidatenausw ahl, wie dies in F orm vo n D irektw ah­
len u n te r Beteiligung d er Basis seit den 80er Jah ren vereinzelt —v o r allem
bei den Präsidentschaftskandidaturen — praktiziert w urde. Seit N o v e m ­
ber 1991 schreibt das W ahlgesetz eine 30% ige F rau en q u o te für alle
W ahllisten vor. Listen, au f denen die vorgeschriebene M indestquote
nicht erreicht w ird, w erden n ich t zu den W ahlen zugelassen. D e r F rauen­
anteil im A bgeordnetenhaus hat sich dadurch in den 90er Jah ren deutlich
erh ö h t (Tabelle 4).
E ine w eitere M öglichkeit zur D em okratisierung der P arteien b e stü n ­
de in einer D ezentralisierung im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung
lokaler u n d regionaler K räfte im R ahm en der nationalen F ü h ru ngsstruk­
turen. D erartige R eform en w urden seit den 80er Jah ren im m er w ieder
diskutiert u n d auch im R ahm en v o n G esetzesinitiativen vorgebracht, ihre
V erw irklichung scheiterte jedoch w iederholt am W iderstand derjenigen,
deren M acht d urch sie eingeschränkt w ürde: den Parteieliten. D ie feh­
lende B ereitschaft der politischen E liten zu r Realisierung vo n R eform en,
die v o n Seiten d er Zivilgesellschaft w iederholt gefordert w urden, trug
som it zum w eiteren A n sehensverlust der politischen K lasse bei u n d ver­
hinderte eine dringend notw endige E rn eu eru n g derjenigen Institutionen,
die auch v o n d er argentinischen V erfassung als grundlegende In stitu tio ­
nen der D em okratie bezeichnet w erden —der politischen Parteien.
O b w o h l das Parteiensystem seit der R ückkehr zur D em okratie im
Ja h r 1983 in m ancherlei H in sich t positive E ntw icklungen verzeichnete
u n d im H inblick au f einige d er v o n der Politikw issenschaft als relevant
erach teten K riterien z u r K o n so lid ieru n g eines dem okratischen Parteien-
P a rte ie n u n d P arteien sy stem in d er A ra M e n e m 239

Tabelle 4: Der Anteil von Frauen im Abgeordnetenhaus,


1983-1995
Jahr Sitze insgesam t weibliche A nteil w eiblicher
A bgeordnete A bgeordneter in %
1983 254 11 4,3
1984 254 13 5,1
1985 254 13 5,1
1985* 254 11 4,3
1986 254 12 4,7
1987 254 12 4,7
1987* 254 12 4,7
1988 254 12 4,7
1989 254 14 5,5
1989* 254 16 6,3
1990 254 16 6,3
1991 254 18 7,1
1991* 254 15 5,9
1992 257 15 5,8
1993 L 257 16 6,2
1993* 257 36 14,0
1994 257 38 14,8
1995 257 38 14,8
1995* 257 71 27,6
* = Zusam m ensetzung ab dem 10. D ezem ber des entsprechenden Jahres;
Quelle: Consejo Nacional de la Mujer (http://w w w .cnm .gov.ar/).

system s (Beyme 1997) durchaus zufriedenstellende W erte aufwies (G rad


an E xtrem ism us u n d Polarisierung, W ählerfluktuation, F ragm entierungs­
grad), trug es m it dazu bei, dass die gravierenden ökonom ischen, sozialen
u n d politischen P roblem e des L andes n ich t in angem essener A rt u n d
W eise angegangen w erden konnten. N ach zehn Jah ren peronistischer R e­
gierungszeit u n te r Carlos M enem w aren w eder die neue R egierungskoali­
tion n o ch die größte O p p o sitio n sp artei für die a u f sie zukom m enden
A ufgaben ausreichend vorbereitet. D ie g rö ß ten D efizite des Parteiensys­
tem s bestanden in F o rm des innerparteilichen Personalism us, Faktiona-
lism us u n d K lientelism us sowie in d er — in m ancherlei H insicht dam it
zusam m enhängenden —U nfähigkeit zur B ildung einer regierungsfähigen
K oalition.
240 P e te r B irle

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Héctor Palomino

Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften,


U nternehm ern und Staat: Akteure und Spielregeln
im W andel

E inleitung

D ie w irtschaftlichen u n d politischen T ransform ationsprozesse der 90er


Jah re h ab en die gesellschaftlichen G rundlagen der gew erkschaftlichen
u n d u n ternehm erischen In teressenrepräsentation in A rgentinien tiefgrei­
fend v erän d ert u n d zu einer M odifikation der traditionellen B eziehungs­
m u ster zw ischen G ew erkschaften, U nternehm enserbänden, Staat un d
politischem System geführt. D ie h o h e A rbeitslosigkeit u n d die prekäre
A rb eitsplatzsituadon g ro ß er Teile der B evölkerung schw ächte die soziale
u n d politische K raft d er G ew erkschaften. D ie K rise stand im Z u sam ­
m enhang m it der im L aufe des Jah rzeh n ts im plem entierten staatlichen
Politik, die eine M ark tö ffn u n g sowie die Privatisierung der großen staat­
lichen Industrie- u n d D ienstleistu n g su n tem ehm en in G ang setzte un d
dam it auch grundlegende V eränderungen der U ntem eh m en sstru k tu ren
herbeiführte. D ie K luft zw ischen den G ro ß u n tern eh m en un d den üb ri­
gen W irtschaftsakteuren verg rö ß erte sich u n d es kam zu radikalen V er­
änderungen bei d er Z u sam m en setzu n g d er Spitze der w irtschaftlichen
M acht. D ie B edeutung der nationalen U n tern eh m er innerhalb des w irt­
schaftlichen E stablishm ents ging stark zurück.
D e r Staat w ar in den 90er Ja h re n ebenfalls signifikanten V erän d eru n ­
gen unterw orfen. D iese w iesen in eine ähnliche R ichtung wie die in an­
deren lateinam erikanischen L ändern d u rchgeführten neoliberalen Refor­
m en: E s handelte sich u m die R eduzierung d er p ro duktiven u n d sozialen
Rolle des Staates. D e r Staatsabbau w ar allerdings in A rgentinien, w o die
externe finanzielle A bhängigkeit beispiellose A usm aße erreicht hatte, be­
sonders stark. Im F olgenden w erden die angesprochenen E ntw icklungen
in g roben Z ügen beschrieben u n d ihre A usw irkungen a u f die Sozial­
struktur, die A rbeitsbeziehungen sowie a u f die R epräsentationsform en
der G ew erkschaften u n d der U n tern eh m er herausgearbeitet.
244 H é c to r P alo m in o

D ie Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt

D ie w äh ren d der M ilitärdiktatur v o n 1976 bis 1983 im plem entierten


W irtschaftspolitiken schränkten in den 80er Jah ren die staatlichen M ög­
lichkeiten zur G estaltung der w irtschaftlichen E ntw icklung stark ein
(G alin /N o v ick 1990). Insb eso n d ere die en o rm gesüegene A uslandsver­
schuldung u n d die daraus resultierende Inflation stellten sich als P ro b le­
m e dar, die schon frühzeitig a u f die d ann in den 90er Jah ren erfolgten
R efo rm en verw iesen (Schw arzer 1998: 174ff.). D as große N o v u m der
90er Jah re w ar ein nie zuvor erlebter A nstieg der A rbeitslosenraten in ei­
nem Land, das bis E nde des 19. Jah rh u n d erts kaum bevölkert w ar un d
dessen regierende E lite die E in w an d eru n g fördern m usste, u m eine Ag­
rarexportw irtschaft aufbauen zu könn en , die a u f der P ro d u k tio n von
Rindfleisch u n d G etreide für den W eltm arkt basierte. W ährend eines
großen Teils des 20. Jah rh u n d erts überstieg die N achfrage das A ngebot
an A rbeitskräften o d er es pendelte sich ein G leichgew icht bei niedrigen
A rbeitslosenzahlen ein. V o n den 30er Jah ren bis M itte der 70er Jahre
spielte die Industrie direkt u n d indirekt eine bedeutende Rolle bei der
N achfrage nach A rbeitskräften. Infolge des städtischen W achstum s ver­
vielfachte sich die N achfrage nach A rbeitskräften im Bereich der ö ffen t­
lichen u n d privaten D iensdeitungen. Schließlich sorgte die H erausbil­
dung einer breiten Schicht v o n unabhängigen E rw erbstätigen — au f eige­
ne R echnung tätigen E rw erb sp erso n en ('cuentapropistas) sowie städtischen
Klein- u n d K lein stu n tem eh m em — für ein G leichgew icht a u f dem A r­
beitsm arkt.
In den 70er Jah ren lag die offene A rbeitslosigkeit im D u rch sch n itt
nicht ü b er 4% der städtischen E rw erbsbevölkerung. In den 80er Jahren
schw ankten die A rbeitslosenzahlen tro tz der w irtschaftlichen Stagnation
um die 6%. D agegen vervielfachte sich die A rbeitslosenrate v o n 1993 an,
bis sie im M ai 1995 18% erreichte. Parallel dazu stieg der A nteil der ge­
ringfügig B eschäftigten — d.h. derjenigen P ersonen, die w eniger als 35
S tunden in der W oche arbeiten; die U nterbeschäftigungsrate betru g E n­
de der 90er Jah re etwa 14%. A uch die Z ahl p rekärer A rbeitsverhältnisse
nahm stark zu. D am it sind A rbeitsbedingungen gem eint, bei denen das
G eh alt n ich t m e h r m it G arantien u n d In stitu tio n en der sozialen A bsiche­
rung v erb u n d en ist.
D iese E ntw icklungen führten bei den G ew erkschaften zu einer rück­
läufigen M itgliederentw icklung u n d sinkenden Beitragszahlungen. N o c h
w ichtiger d ürften die A usw irkungen der strukturellen R eform en au f das
gesellschaftliche B ew usstsein gew esen sein, d en n dadurch erhöhten sich
D ie B ezieh u n g en zw ischen G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d S taat 245

die Schw ierigkeiten d er G ew erkschaften zur A npassung ihrer Strategien


an den neuen K ontext. E ine genauere B etrachtung der V eränderungen
des rechtlichen Status d er A rb eitn eh m er verdeutlich diesen A spekt. V er­
gleicht m an die B estim m ungen des A rbeitsvertragsgesetzes (Ley del Con­
trato de Trabajo, LCT) m it deren tatsächlicher A nw endung in der A rbeits­
w elt der 90er Jah re, so zeigen sich deutliche D iskrepanzen zw ischen
N o rm u n d Realität. D as v o m L C T propagierte A rbeitsvertragsm odell
k ann zu sam m enfassend als ein stabiles (oder zeitlich nicht eingeschränk­
tes) u n d m it verschiedenen Sozialleistungen gekoppeltes E rw erbsarbeits­
verhältnis beschrieben w erden. N ach einer neueren Schätzung trifft die­
ses M odell jedoch n u r a u f jeden sechsten A rb eitn eh m er tatsächlich zu
(G o d io et al. 1998: 74£). D ie Reichw eite des L C T , das traditionell als
zentrales E lem en t des argentinischen A rbeitsrechtes galt, ist dam it stark
eingeschränkt, auch w enn dies n icht ausschließlich au f die V erän d eru n ­
gen im L aufe der 90er Jah re zurückgeführt w erden kann.
V o n A n fan g an schloss das L C T bestim m te G ru p p e n aus, w ie etwa
die B eschäfdgten d er Ö ffentlichen V erw altung, die Landarbeiter, die
H ausangestellten u n d zu m Teil auch die B auarbeiter, für die jeweils be­
sondere V orschriften galten. D ie Z ahl der in diesen K ategorien erfassten
B eschäftigten belief sich 1991 a u f etwa vier M illionen A rbeitnehm er, d.h.
a u f die H älfte der L ohnarbeiter. Z u d e m w ar die M ehrzahl der nicht im
R ahm en eines L ohnarbeitsverhältnis Beschäftigten ebenfalls v o m G el­
tungsbereich des L C T ausgeschlossen, was laut dem Z ensus v o n 1991
m e h r als vier M illionen der E rw erbsbevölkerung ausm achte. D aru n ter
fielen die cuentapropistas sowie ein Teil der „A rbeitgeber“ , die in so u n te r­
schiedlichen Bereichen wie d er V erm ittlung v o n D iensdeistungen, H a n ­
delsaktivitäten o d er handw erklichen T ätigkeiten aktiv sind; alle diese Be­
rufsg ru p p en blieben bereits v o r Beginn der 90er Jah re ganz oder teilwei­
se außerhalb des G eltungsbereiches des LCT.
D ie Z ahl d er durch das prototy p isch e M odell des L C T abgedeckten
L ohnarbeitsverhältnisse belief sich 1991 a u f ca. vier M illionen, was n u r
etwa einem D rittel der B eschäftigten entsprach. D e r K o n tra st zw ischen
dem n orm ativen B eschäftigungsm odell u n d den „real existierenden A r­
b e itn eh m ern “ w ar also sch o n 1991 sehr ausgeprägt, obw ohl dies w ahr­
scheinlich dam als n o ch n ich t ins öffentliche Bew usstsein gerückt war.
G ru n d dafür w ar die relativ g roße B ed eutung der B eschäftigung im öf­
fentlichen D ienst, die etwa 17% d er G esam tbeschäftigung ausm achte.
W äh ren d d er 80er Ja h re w ar es zu einer signifikanten Z u n ah m e des O r­
ganisationsgrades u n d d er A ktivitäten der G ew erkschaften der Staatsbe­
diensteten u n d zu einer teilw eisen A ngleichung ihrer O rganisation und
246 H é c to r P alo m in o

ihres V orgehens an die der Industriearbeiter gekom m en. Im Laufe der


90er Ja h re führte dies zu r K onsolidierung d er A T E (Asoáaáón de Trabaja­
dores del Estado; V ereinigung d er Staatsbediensteten) als führender K raft
innerhalb der durch die C TA (Central de los Trabajadores Argentinos-, D a ch ­
v erb an d der A rgentinischen A rbeiter) repräsentierten neuen G ew erk­
schaftsström ung. D ie Z ahl der nach dem M odell des L C T beschäftigten
L ohn arb eiter b etru g 1998 n u r n o c h etwa 2,4 M illionen, 40% w eniger als
1991. D iese E ntw icklung kann a u f die V eränderungen der arbeitsrechtli­
chen R egelungen im V erlau f d er 90er Jah re zurückgeführt w erden, durch
die die G eltu n g des L C T n o c h w eiter eingeschränkt w urde.

Arbeitsrechtsreform en in den 90er Jahren

Im L aufe der 90er Jah re w u rd en verschiedene B estim m ungen verab­


schiedet, w elche die bis dahin gültigen arbeitsrechtlichen Regelungen
m odifizierten. D ies geschah, o hne dass die w ichtigsten A rbeitsgesetze
m o difiziert w o rd en w ären, so dass es zu einer gewissen norm ativen K o n ­
fusion kam. E inige Ä nderu n g en w urden sogar a u f dem W ege der R echts­
sprechung verw irklicht, d.h. d urch eine neue A uslegung älterer N orm en.
M it Bück a u f ähnliche P h än o m en e in anderen L ändern w urde dieses
P h än o m en als „eine D eregulierung [des A rbeitsm arktes] durch H yperre­
glem entierung“ bezeich n et (C o u tro t 1999: 15).
U nm ittelbar nach ihrer A m tsü b ern ah m e im Ja h r 1989 erhielt die Re­
gierung M enem die Z u stim m u n g des K ongresses zu dem vo n ihr einge-
b ra c h te n S taatsn o tstan d sg esetz, w o d u rch die E n tlassu n g zahlreicher
A ngestellter d er öffentlichen V erw altung erm öglicht w urde. D ie entspre­
chende N o rm u n d ihre A n w endung w aren auch als Signal an das u n te r­
nehm erische E stab lish m en t gedacht, dem m an zeigen wollte, dass die
F o rd eru n g en nach einer „V erkleinerung“ des Staates a u f offene O h ren
stießen. 1990 erließ das A rbeitsm inisterium ein D ekret, m it dem das ver­
fassungsm äßig garantierte Streikrecht im öffentlichen D ien st einge­
sch rän k t w urde. D a h in te r stand die A bsicht, das D ruckpotenzial der v o n
den Privatisierungen d er staatlichen U n tern eh m en betroffenen G ew erk­
schaften zu schw ächen u n d gleichzeitig einer F orderung der zukünftigen
K äufer dieser U n tern eh m en nachzukom m en. A ngesichts der starken P o ­
sition d er G ew erkschaften in den L eitungsgrem ien der zu privatisieren­
den B etriebe erleichterte diese R egelung die U m strukturierung durch die
neuen Besitzer. D ie V erabschiedung dieser N o rm geschah w ährend der
P rivatisierung d er staatlichen T elefongesellschaft E N T E L u n d w urde
dam it zu einer deutlichen B otsch aft an die Investoren.
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 247

E benfalls im Ja h r 1990 verabschiedete d er K ongress ein neues B e­


schäftigungsgesetz, das v o n d em dam aligen A rbeitsm inister, dem V orsit­
zenden d er G ew erkschaft d er B eschäftigten der Plastikindustrie, Jorge
T riacca, entw orfen w o rd en war. A uch w enn die A nw esenheit vo n Triac-
ca im K a b in e tt der alten p ero n istisch en T rad itio n en tsp rach , dieses
M inisterium m it einem G ew erkschaftsvorsitzenden zu besetzen, so war sei­
ne B erufung d och eher a u f seine guten B eziehungen zum unternehm eri­
schen E sta b lish m e n t als a u f seine E ig en sch aft als G e w erk sch after
zurückzuführen. D as B eschäftigungsgesetz sah eine Reihe neuer V ertrags­
form en vor, beispielsw eise Z eitverträge v o n sechs M onaten bis zu zwei
Jahren. D ad u rch w ar es den U n tern eh m en m öglich, Personal u n ter V er­
trag zu neh m en, o hne dass bei einer B eschäftigungsdauer vo n m ehr als
drei M o n aten im Falle d er E n d assu n g autom atisch die im A rbeitsver­
tragsgesetz vorgesch rieb en en E ntschädigungszahlungen fällig w urden.
D ie neuen V ertrags form en befreiten die A rbeitgeber auch zum Teil von
den A bgaben zu r R enten- u n d Sozialversichem ng.
1993 erließ die R egierung ein D ek ret, das a u f die D eregulierung zahl­
reicher A ktivitäten ausgerichtet war. U n te r anderem eröffnete sich dam it
die M öglichkeit, K ollektivverhandlungen a u f betrieblicher E b en e zu füh­
ren. Bislang h atten diese stets au f B ranchenebene stattgefunden. D ie
V ero rd n u n g befähigte zudem den A rbeitsm inister, die R epräsentation
der A rbeitn eh m er a u f U n tem eh m en seb en e anzuerkennen. D en B etriebs­
räten k o n n te som it eine aktivere Rolle im R ahm en v o n K ollektivver­
handlungen eingeräum t w erden, was eine D ezentralisierung der T arif­
v erhandlungen zur Folge hatte.
A u f diese W eise hatte die R egierung im L aufe v o n n u r vier Jahren
Richtlinien geschaffen, die a) die A rbeitsplatzsicherheit der öffentlichen
B ediensteten einschränkten, b) das Streikrecht im öffentlichen D ienst
begrenzten, c) neue F o rm en „flexibler“ A rbeitsverträge erm öglichten
u n d d) T arifverhandlungen a u f U n tem eh m en seb en e erlaubten, w odurch
das bislang vorh errsch en d e M odell v o n B ranchentarifverträgen in M it­
leidenschaft gezogen w urde. Alle diese R ichtlinien ergänzten den existie­
ren d en u n d nach wie v o r gültigen n orm ativen R ahm en, dessen G ru n d la­
gen durch das A rbeitsvertragsgesetz, das T arifverhandlungsgesetz, das
G ew erkschaftsgesetz u n d das G esetz ü b er die Sozialwerke gebildet w er­
den.1 D ie gro ß e A nzahl neuer Richtlinien, die o ft im G egensatz zu b is­

1 D ie Sozialwerke w erden durch die G ew erkschaften geführt, w elche die Beiträge der
A rbeitnehm er und der A rbeitgeber verwalten. Alle A rbeitnehm er, egal o b sie gewerk-
248 H é c to r P alo m in o

her gültigen N o rm e n standen, führte zu einer zusätzlichen Schw ächung


der alten arbeitsrechtlichen Regelungen, was sich in aller Schärfe in der
A rb eitsrechtssprechung zeigte.
W äh ren d d er zw eiten P räsidentschaft M enem s w urden w eitere neue
Richtlinien erlassen, etw a das G esetz zur G estaltung der A rbeitsverhält­
nisse in K lein- u n d M itteluntem ehm en, w o ru n ter m an in A rgentinien
U n tern eh m en m it bis zu 50 B eschäftigten u n d einem bestim m ten J a h ­
resum satz versteht. D iese U n tern eh m en w urden v o n einem Teil der A b­
findungszahlungen ausgenom m en, die so n st bei E n d assu n g en fällig w er­
den. 1998 w u rd e die H ö h e d er A bfindungssum m en für A rbeitnehm er,
die w eniger als zwei Jah re in einem B etrieb beschäftigt w aren, verringert.
G leichzeitig w urde allerdings die maxim ale Länge der P ro b ezeit v o n drei
M onaten a u f einen M onat reduziert.2 M it dem neuen G esetz verringerte
sich auch die Z ahl der gesetzlich gefö rd erten V ertrags typen.
G rundsätzliches Ziel der neuen arbeitsrechtlichen N o rm e n w ar die
„Flexibilisierung“ d er A rbeitsverträge, w od u rch K o steneinsparungen für
die A rbeitgeber erm öglicht w erden sollten. D iesem Z w eck galt auch die
R eduzierung d er A rbeitgeberbeiträge zu den Sozialleistungen. D ie arbeit­
geberfreundliche R efo rm d er A rbeitsgesetzgebung zielte a u f eine A n p a s­
sung d er gesetzlichen Richtlinien an die neuen w irtschaftlichen R ahm en­
bedingungen. D azu g eh ö rte insbeso n d ere die Ö ffn u n g gegenüber dem
W eltm arkt u n d die dam it v erb u n d en e verbesserte W ettbew erbssituation
v o n Im p o rtg ü tern a u f dem B innenm arkt. U m die W ettbew erbsfähigkeit
der einheim ischen U n tern eh m en gegenüber d er ausländischen K o n k u r­
renz zu verbessern, sollten die A rbeitskosten reduziert w erden.
D ie n euen arbeitsrechtlichen N o rm e n führten in V erbindung m it der
w achsenden A rbeitslosigkeit u n d U nterbeschäftigung dazu, dass im m er
m e h r Beschäftigte in G ren zb ereich en der E rw erbsarbeit tätig w aren. Für
solche am bivalenten A rbeitsverhältnisse setzten sich B ezeichnungen wie
„n ich t registrierte A rb eit“ u n d „Schw arzarbeit“ durch. D a in A rgentinien
kein Sozialstaat nach europäischem M uster existiert, w urden die sozialen
K o sten d er R eform en für diejenigen A rbeitnehm er, die sich dadurch aus
dem offiziellen A rbeitsm arkt verd rän g t sahen, in keiner W eise um fassend
abgefangen o d er abgedeckt.

schaftlich organisiert sind oder nicht, m üssen Beiträge entrichten, die autom atisch
nach festen P rozentsätzen von den G ehältern abgezogen werden.
2 H ierzu ist anzum erken, dass die P robezeit im R ahm en der a u f Initiative der
Regierung D e la Rúa im Mai 2000 verabschiedeten A rbeitsrechtsreform w iederum
a u f sechs M onate verlängert wurde.
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew erk sc h a ften , U n te rn e h m e rn u n d S taat 249

D ie E ro sio n der faktischen G ültigkeit des A rbeitsvertragsgesetzes


v o n 1974 hatte zu r Folge, dass sogar ein g ro ßer Teil der gesetzlich gere­
gelten A rbeitsverhältnisse n u r n och zu prekären B eschäftigungsfarm en
führte, die a u f legale W eise v o n w ichtigen traditionellen Sozialleistungen
abgekoppelt w aren. D ie B eschäftigten akzeptierten im K o n te x t h o her
A rbeitslosigkeit E in b u ß en an A rbeitsplatz Sicherheit u n d Sozialleistungen,
u m zum indest n o c h ein gewisses G ru n d g eh alt zu erhalten.
G leichzeitig breiteten sich in den 90er Ja h re n andere B eschäftigungs­
form en außerhalb des Bereichs der L o h n arb eit aus. D abei handelt es sich
um „D ien sd eistu n g en “, die a u f der G rundlage zivil- u n d handelsrechtli-
cher N o rm e n geregelt w erden, einhergehend m it einer beachtlichen
T ran sfo rm atio n des Status der A rbeit: w ährend das A rbeitsrecht g ru n d ­
sätzlich v o n einer A sym m etrie zw ischen A rb eitnehm ern un d A rbeitge­
bern ausgeht u n d den A rbeitnehm ern infolgedessen gewisse S chutzrech­
te gew ährt, n eh m en das Zivil- u n d das H an d elsrecht die V ertragspartner
als gleichgestellt w ahr. D iese E ro sio n des juristischen Status der B eschäf­
tigten stellt die klassischen sozialen V orstellungen hinsichtlich der A r­
beitsw elt in Frage —das, was einige A u to ren als die soziale K o n stru k tio n
d er A rbeitsm ärkte bezeichnet hab en (Bryn 1996). Schaubild 1 gibt einen
Ü berblick zu verschiedenen T ypen v o n A rb eitsform en, au f die in den
folgenden A bsch n itten näher eingegangen wird.

Veränderungen im Bereich der Lohnarbeit

D ie starke Z u n ah m e prekärer L ohnarbeitsverhältnisse führte zu be­


trächtlichen A usw irkungen für die G ew erkschaften, die große Schw ierig­
keiten hatten, A rbeitn eh m er anzusprechen, die sich in einem unsicheren
B eschäftigungsverhältnis befanden. D as P ro blem b estand darin, dass in
A rgentinien laut offiziellen Schätzungen etwa 40% der Beschäftigten
1999 als „n ich t registriert“ eingestuft w urden, w ährend es A nfang der
90er Jah re n u r 30% gew esen w aren. E in g ro ß er Teil d er prekären L ohn­
arbeitsverhältnisse entfiel a u f B ranchen, in denen ansonsten V ertragsar­
beit vorherrschte. H in zu kam en verschiedene T ätigkeiten im Bereich der
traditionellerw eise inform ellen D ienstleistungen. E ine K luft zw ischen
stabilen u n d instabilen A rbeitsverhältnissen herrschte auch in saisonab­
hängigen A ktivitäten vor, v o n den E rn te n in der L andw irtschaft bis zu
b estim m ten In dustrien, deren P ro d u k tio n jahreszeitlichen Zyklen u n ter­
liegt (wie etw a die H erstellung bestim m ter G etränke: Bier, L im onaden,
etc.). In vielen U ntern eh m en entstanden T rennungslinien zw ischen einer
„zentralen“ (stabilen) u n d einer „perip h eren “ (instabilen) Belegschaft. In
250 H é c to r P alo m in o

Schaubild 1: Verschiedene Typen von Arbeitsformen

Organisation

Subordination' ' Autonomie --------


stabil/geschützt Variationen:
H e im a rb e it/T elearbeit/
Abhängigkeit Lohn­ A rbeit m it Q ualifikati­
onsnachw eis bzw. Z ulas­
arbeit
su n g / Selbstbeschäfti­
instabil/ungeschützt g u n g / A ndere

Vertrag

Bereitstellung
Vertragsarbeit von
Unabhängigkeit Dienstleistungen

gew isser W eise fü h rten die vertikalen R epresentations- u n d O rganisati­


onstraditionen der G ew erkschaften dazu, dass diese T rennungslinien in
vielen U n tern eh m en als selbstverständlich erachtet w urden.
Stabile L ohnarbeitsverhältnisse fanden sich m ehrheitlich im öffendi-
chen Sektor (in den nationalen, regionalen u n d lokalen V erw altungen)
u n d in verschiedenen staatlichen D ien sdeistungsbereichen (wie im Bil-
dungs- u n d G esundheitsw esen). In d er T a t ergaben sich gerade in diesen
Bereichen im L aufe der 90er Ja h re zahlreiche gew erkschaftliche K onflik­
te, v o r allem in jenen P rov in zen u n d G em einden, in denen die A usw ir­
kungen der Sparpolitik ab 1995 b eso n d ers deutlich zu spüren w aren.
D agegen ging d er A nteil stabiler L ohnarbeitsverhältnisse in den
m eisten B ranchen der Privatw irtschaft zurück, insbesondere in der In ­
dustrie. Lediglich im H an d el zeigte sich eine gegenläufige T endenz. D ies
galt v o r allem für den B ereich der Superm ärkte, die im V erlau f des Ja h r­
zehnts ein äußerst dynam isches W achstum u n d einen starken B eschäfti­
gungszuw achs verzeichnen konnten.
D ie B eziehun g en zw isch en G ew e rk sch a fte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 251

Als die L o h n arb eit n och die v o rh errsch en de F orm der Beschäftigung
darstellte, fanden sich ihre G rau zo n en insbesondere in F o rm der soge­
n a n n te n „betrügerischen V ertragsverhältnisse“ , m ittels derer abhängige
B eschäftigungsverhältnisse innerhalb der physischen G ren zen einer G e­
schäftsniederlassung v ertu sch t w erd en sollten. D iese Situation veränderte
sich insofern, als P rozesse betrieblicher R estrukturierung stattfanden, die
die A uslagerung eines Teils der P ro d u k tio n vo n G ü tern oder D ienst­
leistungen an D ritte (outsourcing) fö rd erten (N o v ic k /G a lla rt 1998; W al-
te r/S e n é n G onzález 1996). Innerh alb der Betriebe koexistierten u n te r
einem D ach verschiedene A rbeitstätigkeiten, die v o n unterschiedlichen
U n tern eh m en w ahrgenom m en w urden, die untereinander durch V erträ­
ge u n d U nterverträge so v e rn e tz t w aren, dass es schw ierig war, die jewei­
ligen A bhängigkeitsverhältnisse genau auszum achen. G leichzeitig stim m ­
ten die G ren zen der U n tern eh m en im m er w eniger m it den physischen
G ren zen d er N iederlassungen überein. D azu trugen separate V erm ark-
tungs- u n d D istrib u tio n sn etze genauso bei wie die A usgliederung v o n
T ätigkeitsbereichen in F o rm v o n T elearbeit u n d ähnlichem .

Subunternehm er und Vertragsarbeit

V o n V ertragsarbeit w ird g esprochen, w en n die B eziehung zw ischen ei­


n em E rw erbstätigen u n d dem U n tern eh m en, dem er seine A rbeit zur
V erfügung stellt u n d dessen O rg an isatio n sstruktur er sich unterordnet,
n ich t in F o rm eines arbeitsrechtlichen V ertragsverhältnisses stattfindet.
E s k ö n n en verschiedene M odalitäten d er V ertragsarbeit v ero rtet werden.
Sie sind zum Beispiel für die B auindustrie typisch, w o die E ingliederung
in die A rbeitsorganisation durch ad-hoc V ertragsklauseln gew ährleistet
wird. W enn im Z u sam m en h an g m it V ertragsarbeit vo n U nabhängigkeit
die R ede ist, so bezieht sich dies a u f A rbeitsleistungen, die in einem U n ­
ternehm en v o n B eschäftigten eines anderen U nternehm ens erbracht
w erden. D a d u rc h en tstehen „dreiseitige“ A rbeitsverhältnisse, die je nach
A nzahl d er S u b u n tern eh m er äußerst kom plex sein können. D e r einzelne
B eschäftigte ist d er A rbeitsorganisation des beauftragenden U n ter­
nehm ens unterw orfen. M it dem u n te r V ertrag genom m enen U n tern eh ­
m en ist er durch ein L ohnarbeitsverhältnis verbunden. Zw ischen den
U n tern eh m en w ird dagegen ein V ertrag ü b er die „E rb rin g u n g vo n
D ienstleistungen“ geschlossen (Schaubild 2).
D ie A usbreitung der V ertragsarbeit generierte U nterschiede in den
gew erkschaftlichen Strategien. E inige G ew erkschaften versuchten, auch
V ertragsarbeiter zu v ertreten, in d em sie sich um eine G leichstellung der
252 H é c to r P alo m in o

Schaubild 2: Schematische Darstellung der Vertragsarbeit

Beauftragendes
Unternehmen
V ertrag über die B ereitste!
lung v o n D iensdeistungen O rganisatorische
Subordination

Sub- <------------------------------ Vertrags-


untemehmen A Arbeiter

L ohnabhängigkeit

A rbeitsbedingungen u n d -garanden u n te r dem A spekt ihrer gem einsa­


m en organisatorischen U n tero rd n u n g bem ühten.
D iese Strategie verfolgte beispielsw eise die M echanikergew erkschaft
SM A TA (Sindicato de Mecánicos j A fines a l Transporte Automotor)3 m it dem
Ziel, die A rbeiter an den F ertigungsstraßen der Fahrzeugfabriken m it
den en der Z ulieferbetriebe v o n A utoteilen zusam m enzuführen. A ndere
G ew erkschaften b etrachteten V ertragsarbeiter als außerhalb ihres B e­
reichs agierende Beschäftigte. Sie akzeptierten das Prim at v o n D ienstleis­
tungserbringungsverträgen zw ischen U nternehm en, bei denen aus­
schließlich v o n einer L ohnabhängigkeit des V ertragsarbeiters gegenüber
dem S u b u n tern eh m en ausgegangen wird. M it dieser H altung resignierten
die G ew erkschaften gegenüber der A ufteilung der B eschäftigten in
„In te rn e “ u n d „ E x tern e“ .
D ie A usbreitung der V ertragsarbeit g eht zu einem großen Teil au f
P roduktionsausgliederungen zurück, derer sich die großen U nternehm en

3 In A rgentinien gibt es eine eigene gew erkschaftliche V ertretung der A rbeiter und
A ngestellten der A utom obilindustrie (die auch jene einschließt, die als abhängig B e­
schäftigte bei den L izenznehm ern im Bereich des Fahrzeugverkaufs u n d des V er­
triebs v o n A utoteilen tätig sind, ebenso wie die unabhängigen W erkstattbesitzer), und
zw ar die M echanikergew erkschaft SM ATA. D iese ist unabhängig von der M etall­
arbeitergew erkschaft Unión O brera M etalúrgca (U O M ).
D ie B ezieh u n g en zw isch en G e w erk sch aften , U n te rn e h m e rn u n d S taat 253

aller B ranchen im V erlau f der 90er Jah re zu nehm end bedienten. D ieser
Beschäftigungstyp findet auch im A rbeitsvertragsgesetz E rw ähnung, des­
sen A rtikel 29 eine G leichbehandlung v o n direkt u n te r V ertrag g enom ­
m en en A rbeitern u n d V ertragsarbeitern (die ü b er ein drittes U n tern eh ­
m en u n te r V ertrag g enom m en w erden) vorschreibt. D ie V erantw ortlich­
keiten des beauftragenden U nternehm ens w erden m it denen des Subun-
tem ehm ens gekoppelt, w o d u rch für die A rbeiter beispielsweise die Z a h ­
lung v o n A bfin d u n g en im E ntlassungsfall garantiert wird. D iese Schutz­
funktion erw eist sich als zentral im R ahm en eines W irtschaftssystem s, in
d em Subuntem eh m erb ezieh u n g en in d er Regel zw ischen F irm en v o n
sehr unterschiedlicher w irtschaftlicher B edeutung aufgebaut w erden. D ie
R ichter neigten jedoch bei der A uslegung dieser N o rm im R ahm en der
R echtssprechung dazu, die V eran tw o rtu n g der beauftragenden U n ter­
n eh m en zu negieren. Sie folgten dabei einem U rteil des O b ersten G e­
richtshofes v o n 1994, der sich für eine restriktive In terpretation der ent­
sprechenden B estim m ung ausgesprochen hatte.
A ufgrund dieser E ntw icklung g riff d er E insatz v o n V ertragsarbeitern
w eiter um sich. W äh ren d er sich in der V ergangenheit v o r allem au f
D iensdeistungen in den B ereichen Sicherheit, V erpflegungsw esen un d
R einigung b eschränkt hatte, ließen die U n tern ehm en jetzt auch eine V iel­
zahl v o n A ktivitäten v o n S u b u n tern eh m ern ausführen, die zu v o r m it ei­
genem Personal erledigt w o rd en w aren. D ie G ew erkschaften bekam en
diese E ntw icklung in so fern zu spüren, als sie im w esentlichen a u f die
R epräsentation der direkt u n te r V ertrag stehenden A rbeitnehm er be­
schränkt w aren u n d Schw ierigkeiten hatten, ihren V ertretungsbereich au f
die B elegschaften der kleinen S u b u n tern eh m en auszudehnen.
D e r E insatz v o n S u b u n tem eh m ern stand im Z en tru m des v o n den
privatisierten D ienstieistungsunternehm en praktizierten outsourcing. D eren
M anager n u tzten die A usgliederung v o n Teilen der P ro d u k tio n nicht nur
als In stru m en t der Personalführung, son d ern auch als M ittel, u m die Ba­
sis d er m ächtigen G ew erkschaften zu schw ächen, m it denen sie sich k o n ­
frontiert sahen. In den G asw erken, bei der P ro d u k tio n un d dem V ertrieb
v o n E rdöl, in den S trom konzernen, bei den E isenbahn- u n d T elefonge­
sellschaften, etc., überall w urde die eigene Belegschaft stark reduziert.
D ie dabei v erdrängten A rbeitskräfte k o n n ten teilweise als V ertragsarbeiter
in den neu en tsteh en d en S u b u n tem eh m en A rbeit finden, teilweise reih­
ten sie sich in die Schlangen der A rbeitslosen ein. A u f die eine oder an­
dere W eise gaben sie jedoch ihre G ew erkschaftsm itgliedschaft auf.
D ie in diesem n euen K o n tex t d urchgeführten Tätigkeiten sind neuen
V ertragsbedingungen unterw orfen. O b w o h l die Inhalte u n d die A rt der
254 H é c to r P alo m in o

A ufgaben gleich bleiben, v erän d ert sich die soziale O rganisation der A r­
beit u n d deren sym bolische R epräsentation beträchtlich. A u f der O rgani­
sationsebene ist ein deutlicher W andel des „Z ugehörigkeitsgefühls“ zu
beo bachten, d enn denselben physischen R aum zu teilen o d er der glei­
chen Firm a seine A rbeitsergebnisse abzuliefem , reicht nicht m ehr aus,
um ein Z ugehörigkeitsgefühl ^wischen den B eschäftigten zu schaffen. A u f
der sym bolischen E b en e findet eine Spaltung zw ischen der traditionellen
Figur des „abhängigen A rbeitnehm ers“, der durch einen A rbeitsvertrag
der v on dem A rbeitgeber vorgegebenen O rganisationsw eise verpflichtet
ist, u n d d er Figur des „unabhängigen A rbeitnehm ers“ statt. D ieser ist
„unabhängig“ v o n dem U n tern eh m en , für das oder in dem er Tätigkeiten
durchführt, seine zeitweise B indung an dieses U n ternehm en basiert nicht
au f einem A rbeitsvertrag, so n d em a u f einem H andelsvertrag zw ischen
dem U n tern eh m en u n d einem S ubuntem ehm en.
D ie A usw irkungen dieser P rozesse a u f die G ew erkschaften sind im ­
m ens, b etreffen sie d och den zentralen K ern der A rbeitsidentität und
dam it auch die V oraussetzungen für die R ekrutierung v o n M itgliedern.
Im H inblick a u f die G rü n d e für diese E ntw icklungen existieren u n te r­
schiedliche In terpretationen. W ährend die einen die A usw irkungen des
technologischen W andels a u f die Reorganisation der A rbeit b eto n en , he­
ben andere den sozialen C harakter d er organisatorischen U m strukturie­
rungsprozesse u n d d er v o n den U n tern eh m ern vorangetriebenen Flexibi­
lisierung d er A rbeit hervor. In der Realität w irken beide F aktoren häufig
gleichzeitig u n d beeinflussen sich dabei gegenseitig.

D ie neuen M anagem ent-Praktiken

E ine w eitere B eschäftigungsform stellt eine K o m b in atio n aus vertragli­


cher A bhängigkeit u n d au to n o m er A rbeitsorganisation dar (Schaubild 1).
E in Beispiel d afü r ist die Telearbeit, bei w elcher der A rbeitnehm er zw ar
nach wie v o r ein G ehaltsem pfänger ist, seine Tätigkeit jedoch außerhalb
der K o ntrolle u n d direkten Ü berw achung durch den A rbeitgeber ausübt.
In den 90er Ja h re n h a t diese A rt v o n A rbeit infolge m o d ern er P ersonal­
führungsm odelle in den g roßen U n tern eh m en, w o „horizontalere“ B e­
ziehungen dom inieren u n d die A rb eitn eh m er sich selbständig u n d auto­
n o m organisieren können, deutlich zugenom m en. D ie M anagem entideo­
logie, die solche neuen A rbeitsform en unterstützt, b e to n t die größere
V eran tw o rtu n g u n d A uto n o m ie d er A rb eitn ehm er in bezug au f E n t­
scheidungen an ihrem A rbeitsplatz. N eb en solchen A spekten stehen für
die U n tern eh m en dabei v o r allem K o steneinsparungen u n d P roduktivi­
D ie B ezieh u n g en zw isch en G e w erk sch aften , U n te rn e h m e rn u n d Staat 255

tätssteigerungen durch eine intensivere A u sn utzung der A rbeitskraft im


V ordergrund. Sie brauchen w eniger Personal, k ö n n en die A ufgaben zw i­
schen den im B etrieb verbleibenden B eschäftigten neu verteilen un d die
für die traditionellen A rbeitsform en typischen E rholungszeiten —die „ to ­
ten Z eiten “ —reduzieren.
D ie G ew erkschaften sahen sich im Z usam m enhang m it den neuen
Führungsm odellen m it verschiedenen Schw ierigkeiten konfrontiert. D ies
b e tra f n icht n u r die A ufrechterhaltung der K ontakte m it den U n tern eh ­
m en, so n d ern auch die Bew ahrung d er Loyalität der A rbeitnehm er. V or
allem in den g roßen U n tern eh m en w urde das M anagem ent zu einem
m ächtigen Rivalen der G ew erkschaften, u n d zw ar um so m ehr, w enn es
diesen n ich t gelang, eine h o h e Q ualität d er traditionellen R essourcen zur
A n b in d u n g d er M itgliedschaft (z.B. d er D ienstleistungen der Sozialwer­
ke) zu garantieren. D ies ist in verschiedenen Fallstudien zu den großen
privatisierten D ienstleistungsunternehm en b eobachtet w orden, in denen
die A rb eitn eh m er den A ustritt aus den G ew erkschaften im G egenzug für
v o n U ntem eh m en sseite angebotene D ienstleistungen akzeptierten. D a ­
m it vertieft sich die K lu ft zw ischen dem Personal, das sich „innerhalb
des A b k o m m en s“ (gew erkschaftlich organisiert), u n d dem , das sich „au ­
ßerhalb des A b k o m m en s“ (nicht gew erkschaftlich organisiert) befindet.
D a rü b e r hinaus reduzieren die neuen F ü h ru ngsm ethoden, die eine grö­
ßere E in b in d u n g u n d eine stärkere Identifizierung der A rbeitnehm er m it
dem U n tern eh m en verlangen, die Rolle der G ew erkschaften am A rbeits­
platz, ähnlich wie dies auch in anderen G esellschaften beob ach tet w er­
den k ann (A laluf 1997: 469-491).
D ie T en d en z, d er B elegschaft durch eine im m er größere E igenver­
antw ortung bei E ntscheidungen m eh r A u to n om ie zu übertragen, w irkte
sich direkt a u f die A bteilungsleiter u n d die m ittleren E b en en der in ei­
n em U m strukturierungsprozess befindlichen U n tern eh m en aus, indem
ihnen W eisungsbefugnisse u n d /o d e r ihre Stelle entzogen w urden. D ie
M öglichkeiten, eine neue A nstellung zu finden, w aren angesichts stei­
gen d er A rbeitslosigkeit n icht n u r für w eniger qualifizierte A rbeitssu­
chende beschränkt, so n d em auch für die entlassenen A bteilungsleiter,
Chefs u n d M anager v o n U ntern eh m en , die a u f neue F orm en der Perso-
n alfuhrung setzten. D iese E ntw icklungen v erschärften den B ruch, der
durch die M ittelschichten ging sowie das A uftauchen dessen, was m an
gem einhin die „neuen A rm en “ zu n en n en pflegt. A u f diese W eise w irkte
sich die A rbeitsplatzunsicherheit u n d die daraus folgende A ngst u n d U n ­
gew issheit gegenüber der Z u k u n ft neb en den A rbeitern auch a u f w eitere
soziale Schichten aus.
256 H é c to r P alo m in o

E ine dritte V ariation dieses B eschäftigungstyps bezieht sich a u f die


A rbeit v o n professionals (A kadem iker u n d A ngestellte m it einer qualifizier­
ten B erufsausbildung) u n d anderen B eschäftigten, die aufgrund eines
Q ualifikationsnachw eises o d er einer Z ulassung für eine bestim m te T ä ­
tigkeit ü b e r eine gew isse A u to n o m ie bei der B ereitstellung ihrer A rbeits­
kraft verfügen. D ies ist d er typische Fall v o n professionals, die sich in eini­
gen T ätigkeitsbereichen, beispielsw eise d em als A rzt, nach u n d nach ver­
n etz t organisierten D ienstleistu n g su n tem eh m en u n tero rd n en m ussten.
E in Beispiel dafür sind die m it V orauszahlungen arbeitenden G esund-
heitsu n tem eh m en . Sie legen die T arife fest u n d beschränken dam it die
M öglichkeiten der E inkom m ens Steigerung für die A rzte. D eren Status
zeichnet sich einerseits durch G ehaltsabhängigkeit u n d andererseits
durch gewisse Spielräum e bei der A u sü b u n g ih rer A rbeit aus.

D ie B ereitstellung von D ien stleistu n gen

D ie B ereitstellung v o n D iensdeistungen ist u n ter vertraglichen G esichts­


pun k ten eine unabhängige T ätigkeit u n d aus organisatorischer P erspekti­
ve autonom . H ierbei handelt es sich nicht u m A rbeitsverträge, sondern
um H andelsverträge, die ganz unterschiedliche F o rm en annehm en kön­
nen. E inige davon k ö n n en v o n Seiten des A uftraggebers m it derart de­
taillierten V orgaben ausgestattet sein, dass die A u tonom ie n u r no ch eine
Illusion ist. O b w o h l D ien sd eistu n g en in die K ategorie der H andelsver­
träge fallen, ist in den g ro ß en U n tern eh m en eine T endenz zu beobach­
ten, K o n tro llen u n d Ü berw achungsm echanism en derart zu spezifizieren,
dass die vertragliche U nabhängigkeit des A u ftragnehm ers n u r n o c h sehr
gering ist; dies gilt etw a für den H a n g zur genauen Festlegung v o n Q uali­
tätsnorm en, d er eine m e h r o d er w eniger ständige Ü b erp rü fu n g der Z ulie­
ferbetriebe durch d en A uftraggeber m it sich bringt. In dem M aße, in
dem sich der V ertragsabschluss n ich t zw ischen gleichberechtigten P art­
nern vollzieht, w erden die R ichtlinien für die D iensdeistung durch das
auftraggebende U n te rn e h m e n diktiert. V erschiedene Studien belegen,
dass die A u to n o m ie des A rbeitnehm ers in diesem Fall gering ist un d dass
sich in W irklichkeit ein A bhängigkeitsverhältnis ergibt (Esquivel 1997).
V ielleicht han d elt es sich sogar u m eines d er schlim m eren A rt, da es,
quasi verkleidet in F o rm eines durch den A uftragnehm er akzeptierten
V ertrages u n te r G leichen, v o m V ertragsnehm er akzeptiert w ird, der im
A llgem einen auch das Risiko trägt.
D iese V ertrag sfo rm breitete sich in den 90er Jah ren in zahlreichen
T ätigkeitsbereichen aus, angefangen v o m öffentlichen Sektor, der u n ter
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 257

H inw eis a u f eine Professionalisierung seiner A rbeit u n d a u f der G ru n d ­


lage einer V ervielfachung externer K redite v o n m ultilateralen O rganisa­
tio n en wie d er W eltbank u n d der Interam erikanischen E ntw icklungsbank
im m er m eh r P erso n en im R ahm en v o n D ienstleistungsverträgen (W erk­
verträgen) beschäftigte. D ie entsp rech en d en A rbeitnehm er m üssen selbst
für ihre K rankenversicherung sorgen u n d individuell Beiträge z u r Sozial­
versicherung entrichten, was die A rbeitgeber vo n diesen V erantw ortlich­
keiten en tb in d et u n d einen G ren z fall d er Individualisierung v o n A rbeit
schafft. In gew issem Sinne stellte dies eine F o rm des ontsourdng innerhalb
des öffen d ich en Sektors dar.
D ie A usbreitung solcher A rbeitsm odalitäten beeinträchtigte die
M öglichkeiten gew erkschaftlicher R epräsentation u n d M itgliederrekrutie­
rung, da sich die A n b ieter v o n D iensdeistungen nicht au f ein stabiles
V ertragsverhältnis stützen können. A uch die Id en tität der B eschäftigten
selbst w ar betroffen. E in en G renzfall stellen in diesem Sinne die T axi­
fahrer der S tadt B uenos Aires dar, die sich bis in die 80er Jah re selbst als
L ohnarbeiter ansahen. G egenw ärtig gelten sie als „ P ro to u n tern eh m e r“,
die ein F ahrzeug —d.h. ein K apitalgut —v o n dessen E igentüm er m ieten.
A us L ohnabhängigen w u rd en a u f diese A rt un d W eise M ikrounterneh­
m er, o h n e dass sich ihre A ufgaben u n d gewiss nicht ihre E in n ah m en im
geringsten v erän d ert hätten. D e r U nterschied b esteh t darin, dass diese
F ah rer jetzt selbst eine K rankenversicherung u n d eine private R enten­
v ersicherung abschließen m üssen, w ährend d er B esitzer des Fahrzeuges
v o n diesen V erpflichtungen en tb u n d en ist.
V ielleicht enthüllen die b eschriebenen Beispiele am deutlichsten das
A usm aß d er durch die neoliberale Ideologie bew irkten Substituierung
v o n A rbeitsverträgen durch V erträge zu r E rb rin g u n g v o n D ienstleistun­
gen im Laufe der 90er Jahre. A ufschlussreich ist auch, bis zu w elchem
P u n k t sich diese V erschiebungen in zwei g ro ßen T en denzen äußerten: in
d er Privatisierung der G esundheitsfürsorge, die durch die V ergrößerung
des N etzes privater ärztlicher B etreuungen erreicht w urde, u n d insbe­
so ndere in d er R eform d er R entenversicherung, in deren V erlauf das alte
U m lageverfahren d urch ein individualisiertes K apitaldeckungsverfahren
ersetzt w urde. Z u m gegenw ärtigen Z e itp u n k t zahlt allerdings n u r ein
V iertel der E rw erbstätigen regelm äßig Beiträge in die R enten- u n d P e n ­
sionsfonds d er privaten V ersicherungsgesellschaften ein, w ährend m in­
d estens 40% d er aktiven A rb eitn eh m er ü b e r keinerlei A rt der A lters­
vorsorge verfügen. D ies w ird o hne Zw eifel ü b er kurz o d er lang zu einer
K rise des R entensystem s führen.
258 H é c to r P alo m in o

Z usam m en fassen d kann festgestellt w erden, dass die Fähigkeiten der


G ew erkschaften zur R ekrutierung u n d zur R epräsentation v o n M it­
gliedern erheblich zurückgingen. U rsachen dafür w aren neb en der h o h en
A rbeitslosigkeit u n d U nterbeschäftigung die prekäre Situation vieler Be­
schäftigten in einem L ohnarbeitsverhältnis, die Z u n ah m e v o n V ertrags­
arbeit u n d S u b u n tem eh m ertu m u n d die V eränderungen v o n Loyalitäten
im Z uge der E in fü h ru n g neuer F üh m n g s- u n d M anagem entm odelle.
D ies w ar d er entscheidende U nterschied zur K onsolidierungsperiode der
peronistischen G ew erkschaften, als die E x pansion der urbanen A rbeits­
m ärkte a u f d er G rundlage stabiler u n d geschützter L ohnarbeitsverhält­
nisse deren organisatorische E ntw icklung förderte. W as E n d e der 90er
Jah re a u f dem Spiel stand, w ar d er sym bolische B oden, aus dem die Idee
des A rbeiters an sich erwächst.

Strategien gew erkschaftlichen H andelns

D ie gew erkschaftlichen Strategien d er 80er Jahre hatten sich au f die


W iederherstellung der durch die M ilitärdiktatur v o n 1976-83 beeinträch­
tigten In stitu tio n en u n d d er A rbeitsgesetzgebung konzentriert, so etwa in
bezug a u f die K ollektivverhandlungen u n d die gew erkschaftliche K o n ­
trolle der Sozialwerke. D iese Ziele w aren G egenstand v o n K onflikten
zw ischen den G ew erkschaften u n d d er v o n der U C R (Unión Cívica Radi­
cal) gestellten Regierung, was zw ar die gew erkschaftliche E in h eit förder­
te, aber gleichzeitig zu starken Spannungen u n te r den G ew erkschaften
selbst führte. D ie Strategie zur W iederherstellung der v o r Beginn der
D ik tatu r gültigen A rbeitsgesetzgebung w ar w eitgehend erfolgreich. Z w i­
schen 1987 u n d 1989 w urden das G ew erkschaftsgesetz, das K ollektiv-
verhandlungsgesetz u n d das G esetz ü b er die gew erkschaftliche K ontrolle
der Sozialwerke verabschiedet, u n d zw ar m it fast identischem W ortlaut
wie in den v o n den Militärs außer K raft gesetzten Regelungen.
Im politischen B ereich erm öglichten die Führungskrise des P eronis­
m us nach seiner W ahlniederlage im Ja h r 1983 u n d später die durch die
M ilitärrebelhonen aufgrund der Prozesse gegen die V erantw ortlichen des
Staatsterrorism us verursachte Regierungskrise den G ew erkschaften eine
P rotagonistenrolle innerhalb des politischen Systems. In der Praxis er­
schien die G ew erkschaftsbew egung häufig als ein E rsatz der peronisti­
schen P artei (Partido justidalista; PJ) a u f der öffentlichen B ühne. Sie ging
dabei deutlich in O p p o sitio n zu den Regierungspolitiken, w obei sie Alli­
anzen m it den U n tern eh m ern u n d anderen sozialen u n d politischen
K räften schm iedete. D iese Strategie führte zu einer R estrukturierung der
D ie B ezieh u n g en zw isch en G e w erk sch aften , U n te rn e h m e rn u n d Staat 259

PJ u n d erlaubte einigen G ew erkschaftsführern w ährend der Regierung


A lfonsin eine Beteiligung an der Staatsm acht, v o n w o aus sie die W ie­
derherstellung der überk o m m en en A rbeitsgesetzgebung voran trieben.
D ie drastische N eu o rien d eru n g d er staatlichen Politiken seit Beginn
d er P räsidentschaft M enem s im Ja h r 1989 drängte die G ew erkschaften in
die D efensive u n d bew irkte eine A ufspaltung ihrer strategischen O rien­
tierungen, die auch zu einer organisatorischen Spaltung führte:
• E rsten s gaben die G ew erkschaften die A usrichtung a u f gem einsam e
Ziele auf, da die neoliberalen R eform politiken des Staates bei einigen
G ew erkschaften a u f A kzeptanz u n d bei anderen au f A blehnung
stießen. B esonders o ffenkundig w ar dies im Fall derjenigen R efor­
m en, w elche die A rbeitn eh m er direkt betrafen, wie etwa die an einer
Flexibilisierung des A rbeitsm arktes orientierte A rbeitsgesetzgebung.
• Z w eitens schw ächten die neuen w irtschaftlichen R ahm enbedingun­
gen die E rfolgsaussichten d er traditionellen gew erkschaftlichen
H andlungsstrategien. D ie seit 1991 erreichte m akroökonom ische
Stabilität sowie die A u ß en ö ffn u n g d er W irtschaft behinderten insbe­
sondere die a u f nom inale G ehaltszuw ächse ausgerichteten Strate­
gien. T raditionell h atten sich die G ew erkschaften m it ihren Strate­
gien der Inflation angepasst u n d bei T arifverhandlungen A nglei­
chungen d er N om in allö h n e erstritten. Je tz t sahen sie sich dazu nicht
m eh r in der Lage, da L o h n erh ö h u n g en nicht a u f die Preise um gelegt
w erden konnten.
• D ritten s erodierte das Schem a zentralisierter K ollektivverhandlun­
gen an sich, da sich die g roßen U n tern eh m en aufgrund der A ußen­
ö ffn u n g der W irtschaft dazu gezw ungen sahen, im m er m ehr Son­
d erkonditionen für ihre N iederlassungen auszuhandeln. D ies diente
dem Zw eck, die eigenen Preise den internationalen anzugleichen,
statt sie wie zuvor, u n te r den B edingungen einer abgeschotteten
W irtschaft, a u f die K o sten zu übertragen. In den privatisierten ö f­
fentlichen D ienstleistu n g su n tem eh m en , die aufgrund der günstigen
V erkaufsbedingungen keinem internationalen W ettbew erb ausge­
setzt w aren, w urden entsprechende S onderkonditionen in der V er­
kaufsphase ausgehandelt u n d später zu r Schw ächung der G ew erk­
schaften beibehalten.
• V iertens beschränkte die politische K onsolidierung der Regierung
den politischen Spielraum der G ew erkschaften, die nicht einm al ihre
F o rd eru n g nach der K o ntrolle des A rbeitsm inisterium s — ein tradi­
tionelles E lem en t d er peronisrischen Regierungen — a u f D auer
260 H é c to r P alom in o

durchsetzen konnten. W ie bereits erw ähnt, handelte es sich n u r beim


ersten A rbeitsm inister der Regierung M enem u m einen G ew erk­
sch aftsführer (Jorge Triacca). Z u d em w urden die G ew erkschafter
nach u n d nach v o n den L istenplätzen der PJ verdrängt. Im Vergleich
zu d er g ro ß en G ru p p e v o n G ew erkschaftern, die n o ch 1983 im N a­
tionalkongress vertreten w aren, sind d o rt heute n u r no ch relativ w e­
nige zu finden. Bei den W ahlen im O k to b e r 1999 gelangten sogar
m e h r G ew erkschaftsvertreter ü b er die Parteilisten der A lia n za in den
K ongress als ü b er die d er peronistischen Partei.
• A uch w enn es fünftens den G ew erkschaften gelang, sich in be­
stim m ten K onju n k tu ren —v o r allem v o r W ahlen —in staatliche E n t­
scheidungsinstanzen zu inkorporieren, so blieb ihr E influss a u f die
staatlichen Politiken d och begrenzt. D ies w ar zum einen a u f das
Fehlen kon k reter Politikvorstellungen zurückzuführen. F ührende
G ew erkschafüer u n terstü tzten in E rm angelung eigener Pläne die Re­
form projekte der Regierung. Z u m anderen lag die U rsache auch in
d er Strategie der Regierung selbst, die A llianzen m it den G ro ß u n te r­
n eh m ern u n d dem Finanzestablishm ent einging.
• Sechstens spalteten die neoliberalen R eform en nicht n u r die H altung
d er G ew erkschaften in zustim m ende u n d ablehnende P ositionen,
so n d e m sie v erstärkten in vielen O rganisationen auch die K luft zw i­
schen dem G ew erkschaftsapparat u n d den einfachen M itgliedern.
D as argentinische G ew erkschaftsw esen galt aufgrund der starken
Z entralisierung v o n E ntscheidungen an der F ührungsspitze, der
A usschaltung d er inneren O p p o sitio n u n d der daraus folgenden
P erm anenz u n d R eproduktion der G ew erkschaftsführer an der Spit­
ze der O rganisationen gem einhin als „b ü ro kratisch“ . E s gibt kaum
einen W echsel u n te r den G ew erkschaftsführern u n d n u r wenige Z u ­
gangsm öglichkeiten für Sektoren, die m it der F ü h ru n g in K o n k u r­
renz stehen. D iese K lu ft zw ischen F ü h ru n g u n d Basis zw ingt zu ei­
n er differenzierten B etrachtung ihrer jeweiligen Interessen.

E in gutes Beispiel für die neue Stellung d er G ew erkschaftsführungen ge­


g enüber den M itgliedern bieten die privaten R entenversicherungsgesell­
schaften, die Administradoras de Fondos de Jubilacionesy Pensiones, (AFJP). Sie
sind zentraler B estandteil des neu en R entenversicherungssystem s, das
a u f einem individuellen K apitaldeckungsverfahren basiert, w elches das
vorherige System d er solidarischen sozialen A bsicherung ersetzt hat. D ie
R eform , in deren V erlau f die A FJPs eingeführt w urden, eröffnete den
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d S taat 261

G ew erkschaften neue H andlungsfelder, u n d zw ar a u f d er G rundlage ei­


nes neudefinierten V erhältnisses zu ihren M itgliedern: M ehrere G ew erk­
schaften w urden selbst als A F JP tätig u n d n u tzten ihr V ertretu n g sm o n o ­
pol, u m ihren M itgliedern V ersicherungsleistungen zu verkaufen. D ie
G ew erkschaften beteiligten sich auch an den A usschreibungen zu r P riva­
tisierung einiger staatlicher D iensd eistu n g su n tem ehm en. W o sie den Z u ­
schlag erhielten, verw andelte sich das V erhältnis zu den B eschäftigten
v o n dem zw ischen G ew erkschaft u n d M itgliedern zu einer B eziehung
zw ischen A rbeitgeber u n d A rbeitnehm ern. E inen Extrem fall stellt in die­
ser H in sich t die G ew erkschaft d er E lektrizitätsarbeiter L u g j Fuerza dar,
die in m ehreren Städten des L andesinneren den Z uschlag für die S trom ­
v ersorgung erhielt u n d sich so in eine d er m ächtigsten Elektrizitätsgesell­
schaften verw andelte.
Im H inblick a u f diese neu en gew erkschaftlichen Strategien w urde
auch v o n business unions o d er sindicalismo de negoáos gesprochen: D ie G e ­
w erkschaftsm itglieder w erden als eine (durch das R ep räsentationsm ono­
p o l der G ew erkschaften) „gefangene“ B evölkerung angesehen, der m an
D iensdeistungen verkauft. In gew issem Sinne existieren hier Parallelen
zur au f Pflichtbeiträgen d er A rb eitn eh m er basierenden traditionellen ge­
w erkschaftlichen K on tro lle ü b er die Sozialwerke. D ie Projekte zu r R e­
form dieses System s zielten a u f eine F ö rd erung des M itgliederw ettbe­
w erbs zw ischen den Sozialw erken ab. M it H ilfe der M arktm echanism en
sollten sich die leistungsfähigsten Sozialwerke durchsetzen u n d zudem
sollten die zu v o r „gefangenen“ (da autom atisch einem bestim m ten Sozial­
w erk zugeordneten) A rb eitn eh m er größere W ahlfreiheiten erhalten.
W elche W ege b o ten sich jedoch den G ew erkschaftsführern, die nicht
m it dem neuen „M odell“ übereinstim m ten? D ie m eisten G ew erkschafter
w aren in die peronistische B ew egung eingebunden u n d hatten im Jah r
1989 für M enem gestim m t. D ie S pannungen nahm en in dem M aße zu,
wie sich die R egierung konsolidierte u n d v o r allem, nachdem sich die
m akroö k o n o m isch e Situation 1991 stabilisierte. Z u m ersten Mal schien
eine peronistische R egierung n ich t dazu in d er Lage zu sein, die E inheit
d er G ew erkschaften zu garantieren. D ie G eg n er des M odells w ählten zu­
nächst den W eg der politischen O p p o sitio n u n d bem ühten sich däm m ,
den „w ahren“ , v o n der Regierung M enem „verratenen“ Peronism us
w iederherzustellen. D ies führte dazu, dass bei den Parlam entsw ahlen v o n
1991 einige G ew erkschafter a u f L isten der O ppositionsparteien antraten.
D ie Strategie w ar jedoch w egen des W ahlerfolgs der Regierungspartei
zum Scheitern verurteilt. D ie gew erkschaftliche O p p o sitio n entschloss
sich d ah er zu einer A usw eitung d er sozialen M obilisierung gegen die Re­
262 H é c to r P alo m in o

gierungspolitiken u n d begann eine D iskussion ü b er den B ruch der ge­


w erkschaftlichen E inheit. D a z u kam es schließlich m it der G rü n d u n g der
CT A {Central de los Trabajadores Argentinos) im Ja h r 1997.
Im Prinzip stützte sich die soziale M obilisierung a u f die E rw artungen
der „V erlierer“ im R ahm en des neuen W irtschaftsm odells: die Staatsbe­
diensteten, die kleinen u n d m ittleren U n tern eh m er, die in gefährdete re­
gionale W irtschaftsaktivitäten eingebundenen Beschäftigten. M ehrfach
bem ü h ten sich die oppositionellen G ew erkschaften um die B ildung um ­
fassender K oalitionen d er „V erlierer“ , w äh ren d sie gleichzeitig zu r F o r­
m ulierung v o n A lternativen zu dem neu en W irtschaftsm odell aufriefen.
D ie g rö ß te Schwierigkeit bestan d darin, die unterschiedlichen Situa­
tionen u n d Interessen der verschiedenen beträchtlich geschw ächten Sek­
to ren in eine gem einsam e Strategie um zusetzen. E ine erfolgreiche F o ­
kussierung v o n In teressen fiel dagegen im m er dann leichter, w en n die
V oraussetzungen für die A n w en d u n g v o n „bew egungsorientierten“ T ak ­
tiken gegeben w aren, d.h. w enn die Forderungen sich nicht au f die
D u rch setzu n g v o n Partikularinteressen beschränkten, so n d em sich au f
die G ew ährleistung v o n bürgerlichen u n d universellen R echten bezogen.
D ie L ehrergew erkschaften beispielsw eise stießen in dem M aße au f breite
Z u stim m u n g v o n Seiten d er Bevölkerung, wie sie ihre F orderungen m it
der V erteidigung des öffentlichen Schulw esens un d m it dem R echt au f
B ildung v erknüpften. D iese Z u stim m u n g u n d dam it auch die M öglich­
keit zu r B ildung v o n B ündnissen verschw and, sobald partikulare In teres­
sen die V erhandlungslogik d er G ew erkschaften dom inierten.
E ine andere Strategie der G ew erkschaftsopposition bestand in der
V erteidigung d er ü b erk o m m en en arbeitsrechtlichen E rrungenschaften
gegenüber den entsp rech en d en R eform plänen der Regierung M enem .
A uch w en n diese Strategie teilweise m it den regierungsfreundlichen G e­
w erkschaften gem einsam verfolgt w erden k onnte, so fehlte den o p p o si­
tionellen G ew erkschaften d o ch eine vergleichbare R ückversicherung (wie
die Strategie der business unions, durch die die Interessen der regierungs­
nahen G ew erk sch aftsfü h rer gestärkt w urden). D ie radikale V erfolgung
dieser Strategie führte d ah er zu einer system atischen E ro sio n der G e ­
w erkschaftseinheit.
Z usam m en fassen d kann festgestellt w erden, dass die gew erkschaftli­
chen R eaktionen a u f die neoliberalen R efo rm en zur A ufspaltung in kon­
kurrierende Ström ungen u n d O rganisationen führten. D ie v o rh errschen­
de O rientierung, v ertreten durch die in d er C G T {Confederación General del
Trabajo-, A llgem eine A rbeiterkonföderation) angesiedelte M ehrheitsströ­
m ung, b estan d in einer „konservativ-angepassten“ A ntw ort, bei der die
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d S taat 263

V erteidigung k o rp o rativ er Privilegien zum D reh - u n d A ngelpunkt des


A ustauschs u n d d er politischen V erhandlungen zw ischen G ew erkschaf­
ten u n d R egierung w urde. D ab ei ging es u m folgende A spekte:
• das a u f der personería gremial basierende R epräsentationsm onopol;
• die Rolle d er G ew erkschaften im R ahm en der T arifverhandlungen
u n d v o r allem die diesbezügliche P osition der Führungsgrem ien —
einschließlich ih rer Fähigkeit, selbst bei dezentralisierten V erh an d ­
lungen den T o n anzugeben;
• die K o n tro lle d er F onds d er Sozialwerke — auch w enn die A rbeitge­
berbeiträge zeitweise durch A n o rd n u n g en der E xekutive reduziert
w urden;
• die A u fnahm e v o n G ew erkschaftern in die W ahllisten der PJ u n d
dam it auch deren V ertretung in d er peronistischen Parlam entsfrak-
tion — v o r allem in der K om m issio n zu r A rbeitsgesetzgebung des
A bgeordnetenhauses, deren peronistische M itglieder m ehrheitlich
aus dem B ereich der G ew erkschaften stam m en.

In einigen Fällen, wie zu m Beispiel bei den Privatisierungen der Staatsun-


tem eh m en , bei der R enten refo rm u n d bei der R eform der A rbeitsunfall­
versicherung erhielten die G ew erkschaftsführer im G egenzug für ihre
U n terstü tzu n g der R egierungsvorhaben die M öglichkeit, in den so en t­
standenen U nterneh m en sb ereich en tätig zu w erden. D erartige gew erk­
schaftliche U n tern eh m en im B ereich der S trom versorgung, des B renn­
stoffvertriebs, d er privaten R entenversicherung, der V ersicherung v o n
A rbeitsrisiken un d anderen Tätigkeitsfeldern bezeichnet m an in A rgenti­
nien als „business unions“ .
W orin b estanden die Z ugeständnisse der regierungsnahen G ew erk­
schaften? Sie stim m ten den a u f die Flexibilisierung des A rbeitsm arktes
abzielenden R efo rm en grundsätzlich zu: der E in fü h ru n g v o n neuen V er­
tragsm odalitäten u n d v o n A usnahm eregelungen für Klein- u n d M ittelun-
tem eh m en u n d d er R eduzierung der A rbeitskosten durch B egrenzung
der v o n den U n tern eh m en bei A rbeitsunfällen zu leistenden E n tsch äd i­
gungszahlungen. V o r allem aber akzeptierten sie die grundsätzliche L egi­
tim ität einer Regierung, deren W irtschaftspolitiken eine tie f greifende
N eu stru k tu rieru n g des A rbeitsm arktes verursachten.
264 H é c to r P alo m in o

Neue gewerkschaftliche Strömungen

W elche K o sten entstanden den regierungsnahen G ew erkschaften durch


diese Strategie? Sie b estan d en in der H erausbildung v o n alternativen O r­
ganisationen u n d Ström ungen, die unterschiedliche Strategien einschlu­
gen. D ie neu organisierten G ew erkschaftsgruppen vertraten zw ar keine
einheitlichen Z ielsetzungen, in ihrer O p p ositionsrolle gegenüber den R e­
gierungspolitiken w aren sie sich jedoch alle einig.
D ie „Bew egung A rgentinischer A rbeiter“ (Movimiento de Trabajadores
Argentinos; M TA) strebte die „R ückeroberung“ der C G T an, w eshalb sie
bei aller O p p o sitio n gegenüber deren am tierender F ührungsspitze einen
endgültigen B ruch verm ied u n d sich d äm m bem ühte, einen R ichtungs-
w echsel der C G T herbeizuführen. D ie M T A konstituierte sich 1994 als
G ew erk sch aftsströ m u n g m it U n terstü tzu n g v o n ungefáhr 30 O rganisati­
onen, die sich im V erlauf einer gem einsam en K am pfm aßnahm e m it der
dam aligen oppositionellen S tröm ung C TA v o n der C G T gelöst hatten.
In der M T A überw ogen die T ransportgew erkschaften. A ndere G ew erk­
schaften, die dieser R ichtung angehörten, w aren die der Papierindustrie,
der G erichtsangestellten u n d d er A potheken. G leichzeitig koordinierte
die M T A auch die Z usam m enarbeit zw ischen verschiedenen R egional­
v erb än d en der C G T aus dem L andesinneren, w o durch es ihr leichter fiel,
M obilisiem ngsStrategien zum P ro te st gegen die Sparpolitik in den P ro ­
vinzen u n d w egen der kritischen Lage d er regionalen W irtschaften zu
entw ickeln. D ies erm öglichte auch eine A n n äh erung an die C TA , w om it
sie die selbstgew ählte Rolle als „Scharnier“ bestärken wollte.
M it dem Ziel, zur V ereinheitlichung d er gew erkschaftlichen A ktio­
nen beizutragen, beteiligte sich die M T A sow ohl an P rotestm aß n ah m en
der C T A als auch an solchen der C G T . W äh rend die C T A als eiserner
G eg n er d er R egierungspolitiken auftrat, b em ü hte sich die C G T däm m ,
die R egiem ng M enem u n te r D m c k zu setzen, u m an den V erhandlungen
ü b er die R efo rm des A rbeitsrechts beteiligt zu w erden u n d u m die K o n ­
trolle ü b e r die Sozialwerke zu erhalten. D iese Strategie erm öglichte es
der M T A phasenw eise, in den F ü h ru n g sstru k tu ren der C G T eine gewisse
Rolle zu spielen (Juan Palacios w u rd e 1997 zum Stellvertretenden G e n e ­
ralsekretär d er C G T gewählt) u n d gleichzeitig einen R unden T isch m it
der C T A zu bilden. V o r d em H in terg ru n d des W ahlsieges der A lia n za
spielte sie eine Schlüsselrolle bei d er Suche nach einer Z usam m enfüh-
m n g u n d E inigung d er verschiedenen G ew erkschaftsström ungen.
D ie M T A zeichnete sich durch etatistische V orstellungen aus, ein ty­
pisches E lem en t des peronisrischen G ew erkschaftsw esens. Bei ihren Ak-
D ie B ezieh u n g en zw isch en G e w erk sch aften , U n te rn e h m e rn u n d S taat 265

tdonen o rd n ete sie sich jedoch n ich t der PJ unter, denn in ihr w aren G e­
w erkschaftsführer unterschiedlicher parteipolitischer P rovenienz u n d
auch Parteilose vertreten. Ihre E rw artungen richteten sich au f eine N e u ­
definition d er Rolle des Staates gem äß der peronistischen T radition, d.h.
a u f einen die W irtschaft lenkenden Staat, d er dazu in der Lage ist, zw i­
schen K apital u n d A rb eit zu verm itteln u n d der richtungsw eisend für
V erteilungspolitiken im Sinne einer V erbesserung der L öhne ist. D ie
G re n z e n dieser V orstellung lagen in d er Schwierigkeit, v o r dem H in ter­
gru n d d er v eränderten B eschäftigungs- u n d Sozialstrukturen w eiterhin
a u f traditionelle Strategien zu setzen.
D ie Corriente Clasista Combativa (CCC), eine linksorientierte G ew erk­
schaftsström ung, sorgte gegen M itte d er 90er Jahre u n ter F ü h rung von
Carlos Santillän, einem G ew erkschaftsführer aus dem L andesinneren, für
A ufm erksam keit, v o r allem durch P ro teste d er A rbeiter in verschiedenen
P rovinzen, die dam it a u f die A n p assungsm aßnahm en im Z uge der
T equila-K rise v o n 1995 reagierten. D ie A n fü h rer dieser S tröm ung sahen
sich als E rb e n der am K lassen k am p f orientierten G ew erkschaften, die
E n d e der 60er u n d in der ersten H älfte der 70er Jah re entstanden waren.
A u ch w enn sie nur in w enigen G ew erkschaften die M ehrheit stellte, w ar
die CC C d och gerade im L andesinneren stark vertreten. D a sie verschie­
dene linke G ru p p e n repräsentierte, stellte sie auch eine nicht zu u n te r­
schätzende M inderheit in m ehreren G ew erkschaften dar. D azu gehörten
u.a. die G ew erkschaften d er L ehrer, der N ahrungsm ittelindustrie, des
G esundheitsw esens, des V ersicherungsw esens u n d der Banken.
D ie T eilnahm e v o n C C C -F unktionären an sozialen M obilisierungs­
m aß n ah m en u n d in gew erkschaftlichen F o ren sowie der v o n einigen ih­
re r führenden K ö p fe erreichte B ekanntheitsgrad erm öglichten ihr eine
P räsenz in d er Ö ffentlichkeit, die g rö ß er als ihre tatsächliche soziale V er­
ankerung war. Sie erh o b zw ar den A n sp ru ch au f A utonom ie, ging aber
auch A llianzen m it linksgerichteten politischen P arteien ein. Ihre Spit­
zen fu n k tio n äre hielten die E tablierung enger B eziehungen zu ähnlichen
S tröm ungen in anderen lateinam erikanischen L ändern für wichtig. D ie
m arxistische Ideologie ih rer F unktionäre führte dazu, dass die A ktionen
der CCC durch politische Inhalte geprägt w aren. D ie T en denzen sozialer
A usgren zu n g u n d die M arginalisierung eines w achsenden Teils der Be­
v ölkerung innerhalb des A rbeitsm arktes veranlassten sie dazu, sich nicht
n u r als R epräsentanten der A rbeiterklasse zu verstehen, sondern sich ge­
nerell um eine E in b in d u n g aller unterprivilegierten G ru p p en der G esell­
schaft in ihre A ktionen zu bem ühen.
266 H é c to r P alo m in o

D ie w ohl w ichtigste V eränderung im argentinischen G ew erkschafts­


w esen in den 90er Jah ren w ar die E n tste h u n g d er C TA (Central de los Tra­
bajadores Argentinos-, D achv erb an d der A rgentinischen A rbeiter) als kon­
kurrierender D achv erb an d gegenüber der C G T im Ja h r 1997. Ih re Initia­
to ren w ollten ein neues „autonom es, v o m Staat, den politischen Parteien
u n d den U n tern eh m en unabhängiges“ G ew erkschaftsw esen entwickeln.
U m m öglichst viele A rbeiter zum B eitritt zu bew egen, erm öglichte die
CTA eine individuelle M itgliedschaft u n d sah die D irektw ahl d er F ü h ­
rungsgrem ien durch die M itglieder vor. D am it unterschied sich der neue
D ach v erb an d v o n der C G T , in der E inzelgew erkschaften u n d n ich t In­
dividuen vertreten w aren u n d w o d er V o rstan d mittels indirekter W ahlen
—d urch die D elegierten - bestim m t w urde.
E ine w eitere N eu eru n g der CTA bestand darin, dass in ihr nicht nur
G ew erkschaften vertreten w aren. Ih re ursprüngliche Basis w urde durch
die „V ereinigung der Staatsbediensteten“ (A soáaáón de Trabajadores del
Estado, A T E ) u n d den L ehrerverband Confederación de Trabajadores de la
Educación de la República Argentina (CTERA ) gebildet. D e r CTA schlossen
sich auch abtrünnige Sektionen der nationalen Industriegew erkschaften
an, einige Einzelgew erkschaften, beispielsweise aus der E lektrizitätsbran­
che, u n d auch die Journalistengew erkschaft v o n B uenos A ires (Unión de
Trabajadores de Prensa de Rueños A irer, U TPBA). D ie CTA n ah m auch
nichtgew erkschaftliche O rganisationen aus dem Bereich der Zivilgesell­
schaft auf, v o n den R entner- u n d A rbeitslosenorganisationen bis zu V er­
tretern v o n O rganisationen des „dritten Sektors“ u n d M enschenrechts­
gruppen. Einige davon sind auch im V o rstan d der C TA vertreten.
D iese O rganisationsform v erb an d die traditionelle V ertretung v o n
A rbeitern durch G ew erkschaften m it R epräsentationsform en, die aus
den sozialen B ew egungen hervorgegangen w aren. D ie besten Beispiele
d a fü r w aren die C T E R A u n d die U TPB A . Beide w urden in der zw eiten
H älfte d er 90er Jah re durch ihre führende Rolle bei großen sozialen M o­
bilisierungsm aßnahm en bekannt, die zentrale T h em en a u f die öffentliche
A genda brachten. G en au diese M obilisierungen verdeutlichten auch die
U nterschiede zu den traditionellen Strategien d er G ew erkschaften: N ich t
nur, dass in der CTA neb en G ew erkschaften auch andere soziale O rgani­
sationen u n d Bew egungen m itarbeiteten; die in der C TA vertretenen
G ew erkschaften selbst u n terstü tzten auch A ktionen m it B ew egungscha­
rakter, bei denen es u m die E in fo rd eru n g v o n R echten u n d die F ö rd e­
ru n g v o n A ktivitäten zur E rfüllung v o n sozialen A nsp rü ch en ging, die
ü b er die sektoralen Interessen der G ew erkschaften hinausreichten.
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sc h a fte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 267

E ine w eitere v o n d er C T A eingebrachte strategische N eu eru n g w ar


die E in b ezieh u n g v o n Intellektuellen, Sozialw issenschaftlem u n d profesio­
n a l in ihre A ktivitäten. Im U m feld der C TA entstanden Forschungs-,
B erufsausbildungs- u n d W eiterbildungszentren, G ru p p en zur Analyse
d er aktuellen Situation des L andes, etc. E b en so w urde a u f der G rundlage
v o n V ereinbarungen u n d ad-hoc A b k o m m en eine Z usam m enarbeit m it
den U niversitäten u n d anderen Institu tio n en des akadem ischen Lebens
m it dem Ziel begonnen, geeignete Inform ationsquellen u n d Qualiflkati-
onsm öglichkeiten zu erschließen. D ie in der CTA zusam m engeschlosse­
nen G ew erkschaften b etrach teten intellektuelle Beiträge als eine strategi­
sche R essource für ihre A ktivitäten. D ies stim ulierte ähnlich gelagerte
V ersuche v o n Seiten anderer G ew erkschaften. So bem ühte sich auch die
regierungsnahe C G T in den 90er Jah ren m it einem eigenen S tudienzent­
ru m um die U n terstü tzu n g d er Intellektuellen. D e r U nterschied bestand
darin, dass dies bei d er C T A B estandteil ihres ursprünglichen K onzepts
w ar, w äh ren d sich die C G T a u f V erbindungen m it anderen O rganisatio­
n en beschränkte, die jedoch kaum E influss au f den gew erkschaftlichen
A lltag ausübten. A u f jeden Fall bed eu tete das Z ugehen der C T A a u f die
A kadem iker u n d Intellektuellen eine grundlegende N eu o rientierung in
einem A m biente, das seit M itte des Jah rh u n d erts durch anti-intellektuelle
T raditionen geprägt war.
F orschungsaktivitäten u n d sozialw issenschaftliche Studien w urden
so zu einem festen B estandteil d er gew erkschaftlichen A rbeit. E in gutes
Beispiel dafür b ietet die M etallarbeitergew erkschaft v o n Villa C onstitu­
ción. Sie w ar v o n A nfang an M itglied der C TA u n d initiierte M itte der
80er Jah re m it der G rü n d u n g eines Z en tru m s für F orschung u n d ge­
w erkschaftliche W eiterbildung einen regen A ustausch m it Intellektuellen.
D ie beteiligten F o rsch er beschäftigten sich m it der Analyse der T ran s­
form ationsprozesse in der A rbeitsw elt u n d m it den durch die U n tern eh ­
m en d er In d ustrieländer an gestoßenen Flexibilisierungstendenzen. D ie ­
ser A ustausch schlug sich v o r allem in W eiterbildungskursen nieder, die
sich an die S pitzenfunktionäre der G ew erkschaft sowie an die D elegier­
ten d er w ichtigsten m etallverarbeitenden U n ternehm en der Region rich­
teten. D e r A ustausch v o n Ideen u n d E rfah rungen erlaubte es den G e­
w erkschaftsfunktionären, kreative A n tw o rten angesichts des großen
K onfliktes zu form ulieren, d er zw ischen 1990 un d 1991 in der N iederlas­
sung des w ichtigsten m etallverarbeitenden U n ternehm ens v o n Villa
268 H é c to r P alo m in o

C onstitu ció n ausbrach. D abei ging es um die Flexibilisierung der A rbeits­


verträge u n d u m die M obilität innerhalb des U nternehm ens.4
A T E grü n d ete bereits 1984 ein eigenes S tudienzentrum , das z u ­
näch st dem E insatz v o n Intellektuellen u n d professionals bei der gew erk­
schaftlichen F ortb ild u n g u n d später d er A usarbeitung v o n Studien zur
sozio-politischen Situation des L andes diente. D ieses In stitu t w ar ein
w ichtiger V orläufer des später v o n der C T A eingerichteten F o rschungs­
zentrum s. Einige der beteiligten Intellektuellen w urden später zu w ichti­
gen P rotag o n isten der argentinischen Politik.
D ie U T P B A sch u f in den 80er Jah ren ein gew erkschaftliches Fortbil-
dungs- u n d Q ualifizierungszentrum , das zu einem grundlegenden W erk­
zeug der A usrichtung d er G ew erkschaft a u f eine „O rganisation neuen
T yps“ w erden sollte. D ie A rbeit der Journalisten w urde als eine der ers­
ten v o n zwei d er durch die neoliberalen R eform en ausgelösten V erände­
rungen erfasst: v o n d er Flexibilisierung d er A rbeit m ittels neuer V er­
tragsform en u n d v o n d er G lobalisierung d er K om m unikation. D ah er
m ussten sie sch o n früh A ntw o rten au f entsprechende Fragen finden. D ie
Jou rn alisten verb reiterten ihre R ekrutierungsbasis ü b er das fest angestell-
te P ersonal der V erlagshäuser hinaus, um d er durch die Flexibilisierung
der A rbeitsverträge verursachten E ro sio n der M itgliedschaften entgegen­
zuw irken. E b e n so setzten sie sich schon früh m it ihnen nahestehenden
internationalen O rganisationen in V erbindung, u m A n tw o rten au f die
G lobalisierung zu finden. Z u d em vertraten sie P ositionen, die dem
„E in h eitsd en k en “ in F o rm des v o rh errsch en d en N eoliberalism us etwas
entgegensetzen sollten.

D ie Unternehm erverbände

D ie U ntern eh m erv erb än d e der einzelnen B ranchen sahen sich in den


90er Ja h re n mit sinkenden M öglichkeiten der Interessenaggregation un d
m it schlechter funktionierenden G esprächskanälen m it der Regierung
konfrontiert. E s ist paradox, dass sich dieses P hän o m en ausgerechnet in
einem Ja h rz e h n t entw ickelte, in d em die nationale R egierung sich stets
als dezidiert u n tem eh m erfreu n d lich ausgab u n d ganz entschieden für die

4 E in M erkm al des K onfliktes bestand darin, dass selbst die U nternehm er den V o r­
sprung der G ew erkschaft im H inblick a u f jene F ührungsinnovationen, die das U nter­
nehm en einführen wollte, anerkannten. L etztendlich gestand m an der G ew erkschaft
u n d dem B etriebsrat einen beachdichen G rad an A utonom ie und an Interven­
tionsspielräum en in Bezug a u f die A rbeitsorganisation des U nternehm ens zu.
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew e rk sch afte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 269

in der Privatw irtschaft v o rh errsch en d en doktrinären u n d ideologischen


P ostulate eintrat. D ie A u ß en ö ffn u n g der W irtschaft, die a u f eine Be­
schneidung d er G ew erkschaftsm acht abzielenden R eform en des A rbeits­
rechts, die Privatisierung der öffentlichen U nternehm en, die D eregulie­
ru n g zah llo ser M ärkte u n d andere v o n der R egierung a u f den W eg
gebrachte Politiken fanden die Z ustim m ung der wichtigsten U ntem ehm er-
verbände. T ro tzd em w ar die politische u n d soziale P räsenz dieser V er­
bände am E n d e der D ekade w esentlich schw ächer als in früheren P h a­
sen. D ieses P arad o x o n kann a u f eine R eihe v o n F ak to ren zurückgeführt
w erden, durch die sich die innere Z usam m ensetzung dieser V erbände
veränderte. Sie k o n n ten zw ar ihre K om m unikationslogik gegenüber der
Regierung aufrechterhalten, sich aber n ich t m it dem gleichen N achdruck
wie früher für ihre branchenspezifischen F orderungen einsetzen. Statt-
dessen rückten die korporativen P artikularinteressen der V erbandsspit­
zen in den V ordergrund.
E in w ichtiger G ru n d für die Schw ächung der U ntem eh m erv erb än d e
bestand in den traditionellen M erkm alen ih rer V erbindung m it der politi­
schen M acht. Sie bestan d in direkten G esprächen zw ischen den Spitzen­
funktionären d er V erbände u n d der nationalen Regierung. H a tte n die
V erbände in den 80er Jah ren n o ch die F o rderungen des E stablishm ents
gegenüber der R egierung kanalisiert, so b ü ß ten sie in den 90er Jah re n ei­
nen beträchtlichen Teil dieser V erm itdungskapazität ein. D e r B egriff E s ­
tablishm ent w ird hier zu r B ezeichnung der U nternehm er- u n d Finanzeli­
te verw endet, die in den Spitzengrem ien der V erbände angesiedelt ist
u n d deren Interessen quer zu denen d er einzelnen Sektoren verlaufen.
M ehrere in den 80er Jah ren en tstandene Studien h aben aufgezeigt, dass
die L eitung d er B ranchenverbände sich aus relativ stabilen G ru p p e n v o n
U n tern eh m ern zusam m ensetzt, die in verschiedenen W irtschaftsberei­
chen aktiv sind, w o d u rch ihre In teressen zugleich w eiter u n d differen­
zierter gefasst sind als ihre jeweilige sektorale V erankerung. D iese P ositi­
o n des E stablishm ents w ar v o n V orteil, u m die v o m Staat in den 90er
Jah ren geschaffenen neuen G eschäftsm öglichkeiten auszunutzen, die
sich u n te r anderem bei d er Privatisierung öffentlicher D ienstleistungsun-
tem eh m en u n d der R eform des R entenversicherungssystem s ergaben.
G leich zu B eginn der R egierung M enem w ar diese E ntw icklung
spürbar, als der Staatspräsident d em traditionsreichen K o n zern Bunge <&
Born —einem d er w ichtigsten globalplayer im G etreidehandel —die L eitung
des W irtschaftsm inisterium s übertrug. A u ch bei der Privatisierung der
staatlichen U n tern eh m en sowie bei d er V ergabe v o n K onzessionen für
D ienstleistungen spielte d er direkte K o n ta k t eine w ichtige Rolle. N atio-
270 H é c to r P alo m in o

nale K o n z e rn e wie B ulgheroni, T ech in t u n d M acri u n d nam hafte R eprä­


sen tan ten des E stablishm ents, beispielsw eise die M itglieder der Familie
Alsogaray, w aren an d er A usarbeitung der B edingungen für die Ü b ertra­
gung dieser U n tern eh m en an das private K apital —also zu m Teil an sich
selbst — beteiligt. In d er neu en M achdogik verw andelte sich der Staat
Schritt für Schritt in eine A rena zu r V erm itd u n g der unternehm erischen
Interessen, die sich u m Positionsgew inne in B ezug a u f die neuen, durch
den T ran sfer der öffentlichen D iensd eistu n g en an private T räger entste­
hen d en G eschäftsm öglichkeiten bem ü h ten . D a sich der Staat gleichzeitig
dem D ru c k der externen G läubiger ausgesetzt sah, verw andelte er sich in
einen V erbin d u n g sk n o ten zw ischen d er lokalen Finanzelite u n d diesen
G läubigern. D e n B ranchenverbänden fiel es schw er, sich an die neuen
Spielregeln anzupassen, d enn n u r ein kleiner Teil ihrer F ührungsspitzen
ko n n te d arau f hoffen, bei dem Spiel dabei zu sein. F ür das G ro s der M it­
glieder dieser V erbände k o n n te es um nichts anderes gehen als den V er­
such, u n te r den neuen, durch die A u ß en ö ffn u n g der W irtschaft un d die
ausländischen W ettb ew erb er entstan d en en B edingungen zu überleben.
D ie E rgebnisse dieser neuen Funktionsw eisen der W irtschaft v o r
dem H in terg ru n d d er A u ß en ö ffn u n g u n d der neuen Spielregel für die
K o n tak te m it d er politischen M acht w aren in gew issem Sinne paradox,
sogar für die M itglieder des E stablishm ents:
• E rsten s w urden verschiedene U n tern eh m en, deren B esitzer die A u ­
ß e n ö ffn u n g v orangetrieben u n d aktiv an der Privatisierung v o n
S taatsu n tem eh m en teilgenom m en hatten , am E n d e vo n ausländi­
schen K o n k u rren ten aufgekauft. Im N ah rungsm ittelsektor blieb der
S üßw arenhersteller A R C O R als einziger g rößerer nationaler K o n zern
übrig, die anderen G ro ß u n te rn e h m e n dieses Sektors w urden an m u l­
tinationale K o n zern e verkauft. D iese E ntw icklung w irkte sich au f
den Industried ach v erb an d Unión Industrial Argentina (UIA) aus. In n er­
halb des V erbandes kam es zu einer w achsenden F ragm entierung
zw ischen den w enigen n o ch verbliebenen nationalen G ro ß k o n z er­
nen (z.B. T ech in t u n d A R C O R ), den g ro ßen Industrieunternehm en
ausländischen K apitals u n d d er sch ru m p fenden M asse nationaler
K lein- u n d M ittelunternehm er, die im m er stärker v o n der A u ß en ö ff­
n u n g der W irtschaft u n d der d adurch verursachten K rise der regio­
nalen Ö k o n o m ien b etro ffen w aren.
E in ähnliches P h än o m en ergab sich bei den großen inländischen P ri­
v atbanken, die an ausländische B anken verkauft w urden. D e r A nteil
an B anken in ausländischer H a n d n ah m derart zu, dass die beiden
D ie B ezieh u n g en zw isch en G ew erk sch a fte n , U n te rn e h m e rn u n d Staat 271

w ichtigsten V erbände des Sektors — A D E B A (die Interessenvertre­


tu n g der g ro ß en inländischen Privatbanken) un d A BRA (die In teres­
senvertretung d er ausländischen Privatbanken) — 1998 fusionierten.
In d er B auindustrie fusionierten die w ichtigsten V erbände erneut zur
—in den 80er Jah ren auseinandergebrochenen — Cámara Argentina de
la Construcción. D iese Fusion w urde v o n den großen inländischen
B auk o n zem en vorangetrieben, die dam it ihre M arktanteile angesichts
der w achsenden K onkurrenz durch ausländische B auunternehm en
schützen w ollten. Stand im Fall d er B anken die Fusion der In teres­
senverbände in einem direkten Z u sam m enhang m it der zuneh m en ­
den Ü b ern ah m e inländischer B anken durch ausländisches K apital, so
spiegelte die Fusion im B augew erbe eher die D efensivstrategien der
verbliebenen inländischen G ro ß k o n zern e wieder.
Z w eitens neigten einige V erban d sfu n k tio näre dazu, sich eigene Ge­
schäftsm öglichkeiten zu schaffen. D as bem erkensw erteste Beispiel
dafür fand sich im traditionsreichsten argentinischen U n tem ehm er-
v erband, d er Sociedad Rural Argentina (SRA), in der die w ichtigsten
L andbesitzer der P am paregion, d.h. der reichsten Landw irtschafts­
zone des L andes, v ertreten sind. D ie F ü h rung der SRA erhielt vo n
P räsident M enem die M öglichkeit, das vo n dem V erband genutzte
u n d dem Staat gehörende G ru n d stü c k im Stadtteil Palerm o vo n
B uenos A ires zu einem äußerst günstigen Preis zu erw erben. D ie
neuen E ig en tü m er überließen das G ru n d stü ck einem ausländischen,
a u f die D u rch fü h ru n g v o n M essen u n d A usstellungen spezialisierten
U n tern eh m en zu r N utzung. D e r K o nzessionsvertrag sah einen Preis
vo r, der u m ein vielfaches ü b e r dem K aufpreis für das G ru n d stü ck
lag. M ehrere M itglieder der SRA w arfen der V erbandsspitze darauf­
hin vor, ihre R epräsentationsfunktion zur persönlichen B ereicherung
m issbraucht zu haben. D ieser B ruch innerhalb der SRA ereignete
sich zu r gleichen Zeit, als die W eltm arktpreise für A grarprodukte
(ab 1 997/98) stark zurückgingen. D ie A grarproduzenten reagierten
d arau f m it P rotestm aß n ah m en . Sie b ehinderten die Lieferung ihrer
P ro d u k te an die lokalen M ärkte u n d blockierten das Z en tru m von
B uenos A ires m it L K W s u n d T raktoren. D iese Situation sc h u f bei
d en V erb än d en des A grarsektors die B edingungen für eine „E inig­
keit im K a m p f ‘, was zu einem breiten B ündnis zw ischen der SRA,
C RA (Confederaciones Rurales Argentinas-, große u n d m ittlere P ro d u zen ­
ten), FA A (Federación Agraria Argentina-, kleine P roduzenten) u n d eini­
gen regionalen V erbänden führte.
272 H é c to r P alo m in o

• D ritten s bildeten sich einige neue bzw. erstarkten einige existierende


V erbände, die v o r allem die im Z uge des neuen M odells entstan d e­
n en G ro ß u n tern eh m en vertraten. D ie privatisierten D ienstleistungs-
u n tem eh m en w erden v o n einem eigenen V erband vertreten, ebenso
wie die im Z uge d er E in fü h ru n g des K apitaldeckungsverfahrens ge­
g ründeten p rivaten R entenversicherungsgesellschaften (AFJPs). E i­
n en starken Im puls erfuhr auch d er die großen Superm arktketten
vertreten d e V erband. D iese K etten k o n n ten ihre U m sätze beträcht­
lich steigern — m it verheerenden A usw irkungen für die M asse der
kleinen H ändler, die den Sektor bis in die 80er Jahre b eh errscht h at­
ten. In nerhalb der V erbände, die traditionell die Interessen des H a n ­
dels- u n d D ienstleistungssektors vertraten, entw ickelten sich K am ­
m ern m it einer g ro ß en eigenen M acht, w elche die P o sitio n en dieser
V erbände zu bestim m en begannen. D ies w ar insbesondere bei der
CAC (Cámara Argentina de Comerció) offenkundig, die aufgrund der
zu n eh m en d en B edeutung der ih r angeschlossenen Superm ärkte un d
privatisierten D ienstieistu n g su n tem eh m en nach u n d nach zu r Cáma­
ra de Comeráoy Servidos w urde. E ine ähnliche E ntw icklung ergab sich
beim V erb an d d er V ersicherungsuntem ehm en, der den V erband auf­
nah m , in dem sich die A FJPs zusam m engeschlossen hatten. A FJPs,
gro ß e S uperm ärkte u n d privatisierte D ienstieistungsuntem ehm en
sind sehr personalintensive U nternehm en. D ies führte dazu, dass die
In teressenverbände dieser U n tern eh m en sich erstm als aktiv an den
D iskussionen ü b e r die A rbeitsgesetzgebung beteiligten u n d V erh an d ­
lungen m it den G ew erkschaften zu führen hatten. Traditionell w aren
diese F u n k tio n en fast ausschließlich v o n der Unión Industrial Argentina
u n d den V erb än d en der Bauindustrie w ah rgenom m en w orden.
• V iertens zogen sich gegen E n d e der 90er Jah re ausgerechnet diejeni­
gen nationalen G ro ß k o n zern e, die sich früh an den Privatisierungen
im D ienstleistungssektor beteiligt hatten, v o n diesen G eschäften zu­
rück u n d ü berließen sie dem ausländischen K apital. D a fü r gab es
m eh rere U rsachen. D e r R ückzug v o n K o n zern en wie T ech in t un d
Pérez C om panc aus der T elekom m unikationsbranche w ar Teil einer
R estrukturierung d er jeweiligen H olding, die a u f eine K on zen tratio n
a u f K ernbereiche hinauslief. K o n zern e wie B ulgheroni ko n n ten ihre
E x p an sio n u n d D iversifizierung nicht aufrecht erhalten u n d m ussten
ihre zu B eginn des Privatisierungszyklus erreichten P ositionen au f­
geben. D e r V erk au f ih rer A ktien an ausländische K o n zern e diente
der Finanzierung v o n Z ahlungsverpflichtungen u n d entsprach zu ­
D ie B ezieh u n g en zw isch en ^3-ew erkschaften, U n te rn e h m e rn u n d Staat 273

gleich einer G ew in n m itn ah m e infolge der stark gestiegenen A ktien­


kurse. D iese Strategie w urde auch v o n den großen nationalen Privat­
banken u n d v o n m ehreren Industrieu n ternehm en verfolgt.

D ie Beispiele endiüllen einen strukturellen U m stand: D ie W irtschafts­


k raft d er nationalen G ro ß k o n zern e m ag zw ar für einen oligopolisierten
M arkt wie den argentinischen g roß erscheinen, sie erw eist sich jedoch im
V ergleich zu den im internationalen W ettbew erb stehenden m ultina­
tionalen K o n zern en als winzig. D eren finanzielle K apazitäten erm öglich­
ten es ih n en aufgrund d er Liberalisierung der Z ugangsbedingungen zum
argentinischen M arkt, die A ktiva der inländischen K o n zern e aufzukau­
fen.
Insgesam t erfuhren die E influssm öglichkeiten der U ntem ehm erver-
b än d e a u f politische E n tsch eid u n g sp ro zesse eine Schw ächung. D ie
U n tem ehm erelite, die sich v o n A nfang an für den v o n der R egierung ver­
folgten K urs ausgesprochen hatte, w ar gegen E nde der 90er Jahre radikalen
V erän d eru n g en u n terw o rfen . V o n den zu B eginn des Jah rz e h n ts exis­
tierenden G ro ß k o n z e m e n nationalen Kapitals blieben n u r w enige übrig.
Viele v o n ih n en w urden in den Spitzengrem ien der W irtschaft durch
F ü h rungskräfte ausländischer U n tern eh m en ersetzt. D em gegenüber ver­
ringerte sich das G ew icht der inländischen G ro ß u n tern eh m er aus dem
Bereich der P ro d u k tio n spürbar.
G leichzeitig w urde die große M asse der Klein- un d M itteluntem eh-
m en, die als M itgliederbasis der V erbände von grundlegender B edeutung
sind, durch eine W irtschaftspolitik, die die K apital- u n d E in k o m m en s­
kon zen tratio n förderte, dezim iert. D iese E ntw icklung schw ächte die
V erbände. D e r S chw erpunkt d er B eziehungen zw ischen Privatw irtschaft
u n d Regierung verlagerte sich stärker als je zu vor zugunsten des E sta b ­
lishm ents. D ieser P rozess spiegelte sich in d o ppelter W eise innerhalb der
V erbände wider. A u f d er einen Seite hing deren D ynam ik im m er m eh r
v o n den G ro ß k o n z e m e n ab, w od u rch die M öglichkeiten zu r A ggregation
unterschiedlicher In teressen sanken. A u f der anderen Seite tendierten
viele durch die K apitalkonzentrationsprozesse bed ro h te Klein- u n d Mit-
telu n tem eh m er zu direkten A ktionen, unabhängig v o n ihren V erbänden;
in einigen Fällen ergaben sich sogar B ündnisse m it gegen das W irt­
schaftsm odell pro testieren d en G ew erkschaften. A grarproduzenten, In ­
dustrielle, T ra n sp o rtu n te rn e h m er u n d andere, sie alle griffen zu eher ge­
w erkschaftstypischen M obilisierungsm aßnahm en, um ihren jeweiligen
F o rderungen — nach Beihilfen, nach einer Senkung der T arife u n d der
Steuern, etc. —N ach d ru ck zu verleihen.
274 H é c to r P alo m in o

A ufgrund der strategischen B edeutung der Industrie für die A rbeits­


beziehungen w ar die Unión IndustrialArgentina (UIA) traditionell derjenige
U ntem eh m erv erb an d , der a u f die B eziehungen m it den G ew erkschaften
„spezialisiert“ war. A us diesem G ru n d besetzte die U IA auch im R ah­
m en der verschiedenen Regierungsinitiativen zur tripartären K o n zertie­
ru n g ihrer Politik stets den „Sitz“ der U nternehm er, ebenso w ie der den
G ew erkschaften zustehende „Sitz“ stets für die regierungsfreundliche
C G T reserviert blieb. T ripartäre V erhandlungen m ü n d eten 1994 in den
A bschluss eines „R ahm enabkom m ens für Beschäftigung, P roduktivität
u n d soziale G leichheit“ zw ischen der Regierung, den G ew erkschaften
un d den in d er „ G ru p p e der 8“ zusam m engeschlossenen U n tern eh m er­
verbänden.5 A u f der einen Seite w urden dadurch w eitere tripartiäre V er­
handlungsinstanzen geschaffen: d er N ationale R at für Sozialversiche­
rungsfragen, d er N ationale R at für die B erufsausbildung u n d die B erater­
gruppe des N atio n alen B eschäftigungsfonds. A u f der anderen Seite trug
dieses A b k o m m en zur Legitim ierung der Regierung in einem A ugenblick
bei, in dem die B eratungen zur V erfassungsreform , die M enem die W ie­
derw ahl erm öglichen sollte, ihren H ö h e p u n k t erreicht hatten.
D ie U IA u n terstü tzte die a u f die Flexibilisierung des A rbeitsm arktes
ausgerichteten R egierungspolitiken, w ährend sie der A ußenöffnung un d
deren A usw irkungen a u f die K lein- u n d M ittelindustrie kritisch gegenü­
berstand. D e r A nteil der einheim ischen Industrie am B ruttoinlandspro­
dukt ging beträchtlich zurück. Einige Produktionszw eige w urden p rak ­
tisch dem ontiert. E s gab jedoch einige bem erkensw erte A usnahm en, wie
zu m Beispiel die A utom obilindustrie, w elche nach einem abrupten
R ückgang d er P ro d u k tio n , d er sich bis 1990 hinzog (in jenem Ja h r w ur­
den w eniger als 100.000 Fahrzeuge u n d dam it w eniger als 1974 herge­
stellt), zu einem p ositiven K onjunkturzyklus zurückfand. D ies verdankte
sich einem H andelsab k o m m en m it Brasilien, das die P ro d u k tio n in dieser
B ranche in beiden L ändern regelte. D ie Regulierung der P ro d u k tio n u n d
des H andels im A uto m o b ilsek to r unterschied sich grundlegend v o n der
anso n sten a u f Ö ffn u n g u n d „D eregulierung“ ausgerichteten Strategie,
die fast im gesam ten Industriesek to r überw og u n d insbesondere die
K lein- u n d M ittelindustrie stark in M itleidenschaft zog.

5 D ie „ G ru p p e der 8“ bestand aus: Sociedad R ural Argentina, Confederaciones Rurales


Argentinas, Unión Industrial Argentina, Cámara de Comerão, Asoáaáón de Bancos de la
República Argentina, Cámara de Construction, Unión de Empresas de la Construcción u n d Bolsa
de Comercio.
D ie B eziehun g en zw ischen G ew erkschaften,. U n te rn e h m e rn u n d Staat 275

D ie am bivalente P osition der U IA , die die v o n der Regierung M e­


nem in A n g riff gen o m m en en Politiken un terstützte, aber gleichzeitig von
den Folgen dieser Politiken in F o rm einer E ro sio n ihrer M itgliederbasis
betroffen war, spiegelte sich in v erb an d sin ternen A useinandersetzungen
zw ischen „G ew in n ern “ u n d „V erlierern“ des neuen sozioökonom ischen
M odells wider. In der V erban d sfü h ru n g w urden die V ertreter einer au­
thentischeren industriellen T radition (Israel M ahler) nach u n d nach
durch „F reu n d e“ der R egierung abgelöst, deren U nternehm en in den
Ja h rz e h n te n zu v o r im Z uge der In d u strieförderung entstanden w aren
(M anuel B lanco Villegas). D e r nächste V o rstandsvorsitzende nutzte sei­
ne P ositio n für eine politische K arriere in der R egierungspartei (Claudio
Sebastiani). Ih m folgte w iederum ein V ertreter der traditionellsten indus­
triellen S tröm ung (J. Rial). D ieses H in u n d H e r in der V erbands führung
spielte sich v o r dem H in terg ru n d der w ohl gravierendsten K rise ab, die
die argentinische Industrie jemals erlebt hatte.
G egen E n d e d er 90er Jah re führte die A bw ertung der brasilianischen
W ährung, des Real, zu einer heftigen D eb atte zw ischen der U IA un d der
Regierung. D ie ULA forderte protektionistische M aßnahm en für die In­
dustrie, v o r allem zugunsten d er am m eisten durch die Ö ffn u n g der
W irtschaft b etro ffen en Sektoren. Bis zu r A bw ertung der brasilianischen
W äh ru n g n u tzten verschiedene Industriezw eige den A ußenhandel m it
dem M ercosur —u n d v o r allem m it Brasilien —u m P ro dukte abzusetzen,
die n ich t a u f dem B inn en m ark t verkauft w erden konnten. D ie A n k u rb e­
lung d er brasilianischen W irtschaft k om pensierte tendenziell die E ro sio n
des eigenen M arktes, aber m it d er A b w ertu n g des Real sahen sich die ex­
porto rien tierten Industriezw eige in ihrer W ettbew erbsfähigkeit einge­
schränkt. G leichzeitig fürchtete m an eine Ü berschw em m ung des B in­
nenm arktes m it brasilianischen P rodukten. In Sektoren wie der Textil-,
der Schuh- u n d der B ekleidungsindustrie veranlasste diese Situation die
U n tern eh m er zu einer Allianz m it den G ew erkschaften. Bei gem einsa­
m en P rotestm ärsch en forderten sie u.a. eine A n hebung der Im portzölle
u n d E xportbeihilfen.
E s kam zu einer politischen K rise innerhalb des M ercosur. D ie
durch die R egierungen M enem u n d C ardoso beschlossene Politik eines
„forcierten M arsches“ in R ichtung Integration durch Stärkung der m ak­
ro ö k o n o m isch en K o o rd in atio n erlebte einen abrupten Rückschlag, was
nich t zu letzt dadurch veru rsach t w urde, dass die brasilianische A bw er­
tung den K ern dieser Politiken betraf. D a die D ynam ik des M ercosur
stark v o m politischen W illen d er beteiligten R egierungen abhängig un d
nich t durch ein solides institutionelles G eflecht abgesichert war, reichte
276 H é c to r P alom ino

die A bw ertu n g des Real aus, u m sektorale K onflikte auszulösen. D iese


verlagerten sich infolge der E igendynam ik des M ercosur unm ittelbar a u f
die R egierungen u n d ließen die w ettstreitenden H andelsinteressen ein­
zelner B ranchen zu „Staatsfragen“ w erden.

Schlussfolgerungen

A m E n d e der 90er Jah re lebte ein beträchtlicher Teil d er argentinischen


B evölkerung in A rm ut. D ie M ittelschichten w aren durch lang anhaltende
w irtschaftliche Stagnation, h o h e A rbeitslosigkeit u n d stark polarisierende
M uster d er E inkom m ensverteilung in M ideidenschaft gezogen. D ie G e ­
w erkschaften w aren geschw ächt u n d in verschiedene ideologische S trö­
m ungen u n d rivalisierende D ach v erb än d e gespalten. D ie A g rarp ro d u zen ­
ten, die kleinen u n d m itü eren In d u strieu n ternehm er u n d die H ändler
griffen häufig zu direkten A ktionsform en, u m ihren F orderungen an die
R egierung N ach d m ck zu verleihen. D ie U nternehm erverbände w aren
kaum dazu in d er Lage, E influss a u f das politische Spiel zu nehm en. Be­
vo rzu g ter G esp räch sp artn er des Staates w ar das Finanzestablishm ent.
N u r das F inanzestablishm ent u n d die g roßen ausländischen K o n z er­
ne schienen sich im R ahm en des neuen W irtschaftsm odells als G ew inner
durchzusetzen. Ihre R essourcen w uchsen, die B edeutung u n d Vielfalt ih­
rer G esch äfte n ah m zu — ebenso wie ihre M öglichkeiten zu r E influss­
nahm e bzw. D ru ck au sü b u n g a u f den Staat.
Im R ahm en des neuen Modells stießen die Gewerkschaften und U nter­
nehm erverbände m it der traditionellen Strategie der D ruckausübung auf den
Staat zur D urchsetzung sektoraler Vorteile schnell an ihre Grenzen. D afür
waren nicht zuletzt die auf eine Bedienung der umfangreichen und wach­
senden A ußenverschuldung drängenden ausländischen Investoren verant­
wortlich. Sie verleibten sich jene Überschüsse ein, die im alten W irtschafts­
modell je nach Ausgang der internen Verteilungskämpfe vergeben wurden.
D as alte Spiel sektoraler D ruckausübung, das den Staat zur bevorzug­
ten A rena der Schlichtung v o n G ruppeninteressen im R ahm en von A us­
einandersetzungen u n d V erhandlungen w erden keß, existierte nach wie
vor, aber seine D ynam ik keß aus zwei G rü n d en nach. E rstens agierten die
V erbände in einem U m feld, dessen bedeutendster A kteur — eine Alkanz
zw ischen ausländischen Investoren u nd lokalem Finanzestabkshm ent —
leicht au f andere A lternativen ausweichen konnte. Zweitens erschw erte die
Rezession die E rw irtschaftung v on Ü berschüssen, u n d die einheimischen
A kteure w aren im m er w eniger dazu in der Lage, sich die Ü berschüsse an­
zueignen.
D ie B eziehu n g en zw ischen G ew erk sch aften , U n te rn e h m e rn u n d Staat 277

D ie alten A kteure des aus der Z eit d er Im p o rtsu b stitu tio n stam m en­
den korporativ en M odells erfuhren som it eine deutliche Schwächung.
E rsten s b ü ß te der Staat im m er m e h r seine M öglichkeiten zur K ontrolle
u n d B eeinflussung der W irtschaft ein. Z w eitens k o n n ten sich die ein­
heim ischen A grar- u n d In d u strieu n tern eh m er kaum gegenüber der in ter­
nationalen K o n k u rren z beh au p ten , w o d u rch auch die v o n ihnen u n te r­
stützten V erb änd e an B ed eu tu n g verloren. D ritten s sank der O rganisati­
o n sg rad u n d d er gesellschaftliche R ück h alt der G ew erkschaften, was
d eren M öglichkeiten z u r A u frech terh altu n g v o n B eschäftigungs- u n d
G ehaltsniveaus beeinträchtigte.
Paradoxerw eise w u rd en die b eschriebenen E ntw icklungen in den
90er Ja h re n ausgerechnet v o n einer peronisrischen R egierung gefördert,
die sow ohl v o m E stab lish m en t als auch v o n den U n ternehm erverbänden
u n d den G ew erkschaften u n te rstü tz t w urde. D e r Preis, den letztere für
den B eitrag zur L egitim ation d er R egierung zahlten, b estand im B ruch
m it ihrer Basis u n d dem E n tste h e n v o n konkurrierenden O rganisatio­
nen, die m it H ilfe direkter A ktio n en u n d ideologischer D iskurse ihre U n ­
zu friedenheit ausdrückten u n d zum Teil versuchten, A lternativen zu dem
n euen M odell zu form ulieren.
D ie alten A kteure d er neokorp o rativ en D ynam ik A rgentiniens —der
Staat, die U n te rn e h m e r u n d die G ew erkschaften —w aren som it am E n d e
des 20. Ja h rh u n d erts geschw ächt. D as L an d zeichnete sich auch durch
eine geschw ächte u n d fragm entierte G esellschaft aus, deren E nergien
sich im m er m e h r in G ru p p e n kanalisierten, die au f eine V erteidigung vo n
Partikularinteressen ausgerichtet w aren u n d denen das politische System
n u r geringe A ggregations- u n d E influssm öglichkeiten bot. U ngeachtet
dieser allgem einen D iagnose w aren auch E ntw icklungen zu verzeichnen,
die C hancen zu r K o n stru k tio n zukunftsfähiger sozio-politischer A lterna­
tiven boten. D a z u g eh ö rte die E n tste h u n g einiger neuer O rganisationen
im gew erkschaftlichen u n d sozialen Bereich, der durch den M ercosur er-
öffnete H o riz o n t, das Scheitern der neoliberalen O p tio n hinsichtlich der
K onsolidierung eines stabilen sozio ö k o n o m ischen M odells sowie die
langsam e W iederaufw ertung d er Rolle des Staates.

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Frank Priess

M edien und Politik

N eidvoll m üssten deutsche u n d nordam erikanische Journalisten a u f Ar­


gentinien blicken, zu m in d est o d er vielleicht auch nur, was die öffentliche
W ertschätzung des B erufsstandes angeht. D ie M edien in A rgentinien
sind es, die neben d er K atholischen K irche die Rangliste der In stitutio­
nen anführen, in die die B evölkerung besonderes V ertrauen setzt. E rst
m it w eitem A b stan d folgen die Streitkräfte, das Parlam ent, die U n te r­
nehm er, ganz zu schw eigen v o n politischen Parteien, der Justiz oder den
G ew erkschaften (Tabelle 1). In K risenfällen, auch juristisch relevanten,
w en d et sich nach einer U m frage des Centro de Estudios Unión para la Nueva
Mayoría fast die H älfte der B ürger eher an einen Journalisten als an einen
Richter: M acht sich ein M edium das P ro b lem zu eigen, w ird eine D u rc h ­
setzungschance gesehen; für die Justiz gilt das G egenteil, insbesondere,
w enn m an n icht zum K reis derer gehört, die sich einen guten A nw alt
leisten k ö nnen o d er sonstige M öglichkeiten haben, dem „R echt“ zum
N ach d ru ck zu verhelfen (Barros 1996: 111). M anchen Journalisten aber
w ird diese Rolle m ittlerw eile unheim lich. Luis M ajul etwa gab in einem
Interview m it d er Z eitu n g Ua Nación am 18.1.1998 zu bedenken:
D a s is t g e fä h rlic h . A n g e s ic h ts d e r f e h le n d e n T r a n s p a r e n z im J u s tiz s e k to r
e r w a rte n d ie L e u te v o n d e n J o u r n a lis te n , d a ss sie Robocop sin d . D a s is t so , als
w e n n m a n o h n e F a lls c h irm aus d e m 23. S to c k sp rin g t.

E s fällt auf, dass die M edien auch so n st F u nktionen ü b ern o m m en haben,


die eher Polizisten, Staatsanw älten u n d R ichtern zukom m en, allerdings
n icht im m er ganz freiwillig. D e r ehem alige In n enm inister G ustavo Béliz
etwa n e n n t den argentinischen investigativen Journalism us den großarti­
gen A k teu r in d er argentinischen Justiz im vergangenen Jah rzeh n t, ohne
den viele dunkle Fragen d er M acht n ich t ans L icht der Ö ffentlichkeit ge­
ko m m en w ären. D ie M edien füllten geradezu ein „institutionelles V aku­
u m “ u n d seien effizienter als Staatsanw älte u n d Richter, die eher am
T isch d er H errsch en d en säßen (Beliz 1997: 41, 44). V o r der W ertung
dieser E insch ätzu n g lo h n t ein Blick in die H istorie, denn der W eg der
M edien a u f dieses A kzeptanzniveau w ar keineswegs vorgezeichnet.
280 F ra n k P riess

T a b e lle 1: D a s A n se h e n der In stitu tio n e n im L ich te der ö ffen tlic h e n M ein u n g

In stitu tio n en P o sitiv G em isch t N e g a tiv W eiß P o s ./ T o ta l


n ich t N eg.

K om m u n ik a­ 65,0 24,7 7,6 2,6 8,52 100,0


tio n sm e d ie n

K atholisch e 50,7 29,2 17,9 2,3 2,84 100,0


Kirche

Streitkräfte 27,2 37,6 28,2 7,0 0,96 100,0

P arlam ent 14,2 40,0 38,0 7,8 0,37 100,0

U n tern eh m er 11,6 39,2 33,7 15,4 0,34 100,0

P o litisch e Par­ 10,2 42,0 43,2 4,6 0,24 100,0


teien

Justiz 11,3 33,9 48,2 6,6 0,23 100,0

G ew erkschaften 6,0 27,9 59,8 6,3 0,10 100,0

Quelle: Centn de Estudios Unión para la Nuera Mayoría 1997

Staatseinfluss und A bhängigkeiten

D e r argentinische M edienanalytiker Silvio W aisbord stellt für die latein­


am erikanische Presse in ih rer G eschichte seit der spanisch-portugie­
sischen K olonialzeit einen traditionell starken Staatseinfluss fest: „P oliti­
sche Logik“ , so W aisbord, „d om inierte die w irtschaftliche L ogik“ (W ais­
b o rd 1996: 348). V ergünstigungen seitens des Staates wie zu m Beispiel
vereinfachter Im p o rt v o n M aschinen, R abatte un d Steuervergünstigun­
gen, subventionierte P ap ierp ro d u k tio n o d er staatliche W erbung w aren
für die E ig en tü m er lange Z eit attraktiver als durch U nabhängigkeit u n d
kritischen Journalism us zu erreichende h o h e A uflagen- u n d V erkaufs­
zahlen. E in investigativ zu n e n n e n d e r Journalism us ko n n te sich so nie
nennensw ert entw ickeln. H in zu kam en Z e n su r u n d Selbstzensur, für die
sich A rgentinien ebenfalls als gutes Beispiel anbietet. K arin Finkenzeller:
„D ie aufgrund der R egierungsverhältnisse au toritär geprägte P ressege­
schichte A rgentiniens lässt generell den nötigen A b stan d zur A dm inistra­
tion verm issen “ (Finkenzeller 1998: 54). F ü r die jüngere G eschichte und
insbesondere die Z eit nach dem M ilitärputsch v o n 1976 konstatiert sie
einen „S chm usekurs“ m it den M ilitärm achthabem , deren M achtüber­
nahm e v o n den M edien „u n iso n o “ beg rü ß t w o rd en sei (ebd.: 63). Selbst
d er K rieg um die F alk land-/M alvinen-Inseln, A nfang der achtziger Jah re
M ed ien u n d P olitik 281

v o n d en G enerälen zu r M obilisierung der öffentlichen M einung angezet­


telt, fand den p atriotischen Beifall auch v o n Journalisten, die sich heute
gar nicht gerne an diese A ufw allungen erinnern.
A llerdings gilt es zu differenzieren, in sbesondere zw ischen „den M e­
d ien“, repräsen tiert v o r allem d urch die n o ch zu schildernde E igentü­
m erstruktur, u n d den Journalisten. G erade u n ter ihnen forderte die Mili­
tärdiktatur einen h o h en Blutzoll. Z w ischen 1976 u n d 1978 sind lautM «?-
nesty International 40 Jo u rn alisten spurlos verschw unden, 29 w urden getö ­
tet u n d 70 verhaftet, zahlreiche w eitere gingen ins E xil (Finkenzeller
1998: 65). D iese Z eiten hab en sich nachhaltig geändert. „W ir erleben ei­
ne Periode v o n Pressefreiheit in A rgentinien, wie w ir sie seit vielen D e­
kaden unserer G eschichte n ich t gekannt h a b en “ , fasst der V orsitzende
d er K om m issio n für Pressefreiheit des argentinischen V erlegerverbandes
A D E P A , Luis H . T arsitan o (La Nación, 8. A pril 2000) die aktuelle Situa­
tion zusam m en, u n d sein P e n d a n t Santiago C antón vo n der O rganisation
A m erikanischer Staaten (OAS) ergänzt: „A rgentinien zeichnet sich durch
ein starkes E n g ag em en t d er G esellschaft für die Pressefreiheit, eine we­
niger restriktive G esetzg eb u n g u n d einen Journalism us aus, der sich der
Z e n su r w idersetzt.“ (La Nación, 21. M ärz 2000).
D e r H inw eis a u f die G esetzg eb u n g m uss dadurch ergänzt w erden,
dass A rgentinien n ich t ü b er ein eigentliches P resserecht verfügt, wie sich
dies in D eu tsch lan d zum Beispiel in den L andespressegesetzen m anifes­
tiert. V ielm ehr gelangte die P ressefreiheit rechtlich ü b er die Ratifizierung
internationaler A b k o m m en nach A rgentinien, insbesondere durch die
A m erikanische E rklärung der M enschenrechte, festgeschrieben im „Pakt
v o n San Jo s é “, als nationales argentinisches G esetz 23.054 im M ärz 1984
verabschiedet. In A rtikel 13.1 h eiß t es:
Jeder hat ein Recht auf die Freiheit der Gedanken und der Meinungsäuße­
rung. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, Informationen und Meinungen
jeder Art frei und ohne Einschränkung zu suchen, zu empfangen und zu
verbreiten, seien sie mündlicher, schriftlicher oder der Art künsderischen
Ausdrucks oder jeder anderen gewählten Form.

Z e n su r w ird ausdrücklich ausgeschlossen. A llerdings finden sich in A rti­


kel 14 durchaus E in sch rän k u n g en einer unb egrenzten Pressefreiheit, ins­
besondere m it Blick au f den Schutz d er Privatsphäre D ritter u n d deren
persönlicher E hre. A uch im argentinischen Strafrecht gibt es presserele­
van te A rtikel, zum Beispiel bezogen a u f G eheim nisverrat, die nationale
Sicherheit, V erleum dung o d er die V erbreitung „unzüchtiger“ Inhalte.
D ass diese rechtlichen V orschriften keineswegs abstrakt bleiben u n d
282 F ra n k Priess

auch gegen Journalisten u n d M edien gew endet w erden können, bew iesen
verschiedene P rozesse der jüngeren Zeit, etwa die Klage des ehem aligen
Präsidenten Carlos Saúl M enem gegen den Journalisten H oracio V erbits­
ky w egen V erleum dung u n d V erletzung seiner Privatsphäre. B isher hat
die keineswegs im m er als unabhängig zu bezeichnende argentinische J u s ­
tiz eher „ p ro P resse“ entschieden u n d die M einungsfreiheit w eit ausge­
legt. A b er droh en d e G eld- o d er Freiheitsstrafen w erden seitens der P re s­
severtreter zum indest als latente B edrohung eingestuft. Politiker stehen
bei ih n en — keineswegs im m er ganz unbeg rü n det — u n ter dem G eneral­
verdacht, „K nebelungsgesetze“ a u f den W eg zu bringen.
D ass die b este M edienpolitik im V erzicht a u f M edienpolitik besteht,
diese aus den U SA k o m m en d e H altung findet auch in A rgentinien viele
A nhänger, v o r allem u n te r den M edieneignem u n d ihren V erbänden.
R egelungsdefizite n im m t m an bew usst in K auf. E in solches stellt aus
d eutscher Sicht un d angesichts der inzw ischen erreichten M achtfülle der
M edien in sb eso n d ere das Fehlen eines w irksam en N utzersch u tzes dar.
A n ein leicht zugängliches R echt a u f G egendarstellung etwa ist in A rgen­
tinien n ich t zu denken, R ichtigstellungen o d er gar W iedergutm achung
sind die A usnahm e. D ie B eschreitung des Rechtsw eges ist langwierig,
unsich er u n d kostspielig. Z ahlreiche Fälle u n d ein w eit verbreiteter „G e­
rüchtejournalism us“ zeigen gleichw ohl, wie schnell auch der sprichw ört­
liche „M ann a u f d er Straße“ G egenstand u n d O p fer vo n M edienbericht­
erstattu n g w erden kann. Völlig üblich ist es etwa, die N am en v o n V er­
dächtigen bei S traftaten inklusive des jeweiligen W o hnortes b reit zu ver­
öffentlichen. D ie M öglichkeit, dazu erst einm al eine G erichtsentschei­
du n g abzuw arten u n d Q ualifizierungen m it dem B egriff „m u tm aßlich“
zu versehen, w ird v o n vielen Journalisten gar nicht erst in E rw ägung ge­
zogen. A uch V erursacher schw erer V erkehrsunfälle finden ihre N am en
u n d A dressen schnell in den Z eitungen wieder, geradezu eine A u ffo rd e­
ru n g zu Ü bergriffen u n d Stigm atisierung. E b en so w enig h at sich die
Idee, dass M inderjährige als G egenstand der B erichterstattung einer be­
sonders vorsichtigen B ehandlung b edürfen, bis in alle R edaktionsräum e
herum gesprochen. A ngesichts fehlender Sanktionen bei gravierenden
V erstößen ist dies, v o r allem, w en n es in sensationalistischer A bsicht der
A uflagen- u n d raft»¿-Steigerung dient, m indestens verständlich.
T ro tz solcher D efizite genießen die M edien ho h e A kzeptanz u n d ge­
rade der Zivilgesellschaft k o m m t als W ächter der Pressefreiheit b eso n d e­
re B ed eutung zu. D ass sie dieses A m t auch ausübt, zeigt der Fall der
E rm o rd u n g des Fotojournalisten Jo sé Luis Cabezas vom N ach rich ten ­
m agazin Noticias am 25. Ja n u a r 1997, ein D am m , das in der argentini-
M ed ien u n d P olitik 283

sehen P ressegeschichte v o n b eso n d erer B edeutung ist: Im G egensatz et­


w a zu K olum bien, w o Jo u m a liste n m o rd an d er T agesordnung u n d dam it
schnell vergessen ist, m obilisierte diese T at die argentinische Ö ffentlich­
keit in nicht g ekannter W eise: W ochenlang kam es zu M assendem onstra­
tionen, fanden sich überall P rotestplakate u n d -aufkleber, m ussten in der
Folge M inister ihren H u t n ehm en, gerieten Politik u n d Polizei ins Z w ie­
licht. Jetzt, nach m e h r als drei Jahren, w urden die m ateriellen T äte r ver­
u rte ilt D e r nach A nsicht des G erichts intellektuelle U rheber der T at, ein
b ed eu ten d er U ntern eh m er, hatte sich bereits v o r P rozeßbeginn das Le­
b en genom m en. E ine K ettenreaktion, die sicher oh n e die Solidarität der
B evölkerung m it den M edien u n d o hne deren m achtvolles A uftreten
n ich t m öglich gew esen wäre.
D ie V erteidigung d er Pressefreiheit ist allerdings auch in A rgentinien
ein p erm an en ter u n d keineswegs u n u m k eh rbarer Prozess. D ass W ach­
sam keit angebracht bleibt, zeigen die vielen n u r a u f den ersten Blick „u n ­
spektakulären“ Fälle, die die O rganisation Periodistas, ein Z usam m en ­
schluss n am h after argentinischer Journalisten, etw a für 1998 aufgelistet
hat. D a ist die R ede v o n 35 direkten A ggressionen gegen Journalisten, 55
Fällen v o n B edrohungen, 32 als Z en su r v erstandenen M aßnahm en der
B ehörden, 40 E in schüchterungsversuchen o der Fällen, in denen Jo u rn a ­
listen ihre A rb eit unm öglich gem acht w urde sowie 44 Fällen v o n juristi­
schen K lagen gegen J o u m a h sten u n d M edien, die v o n der O rganisation
als u n b eg rü n d et angesehen u n d als B edro hung em pfunden w urden.
A u ch spricht Periodistas v o n 14 aktenkundig gew ordenen V ersuchen der
Politik, p e r G esetzesinitiative o d er D ek ret E inschränkungen d er P resse­
freiheit v orzunehm en. A llerdings gingen im gleichen Z eitraum auch 24
R echtsstreite zugunsten der Journalisten o d er M edien aus u n d w urden
sieben G esetzesinitiativen angenom m en, die eine freie Presse u n d die
freie M einungsäußerung begünstigen (Periodistas 1999: 35-37).
G leichw ohl sagten bei einer B efragung im G ro ß ra u m B uenos Aires
im m erhin 32,5% der Journalisten, in A rgentinien existiere keine P resse­
freiheit, 67,5% sahen diese als gegeben an. D agegen sahen die M einungs­
fü h rer aus Politik, W irtschaft u n d Justiz die P ressefreiheit zu 90% als
gew ährleistet. D ie B evölkerung insgesam t w iederum hegt nahe bei den
Journalisten: 60% sahen Pressefreiheit als gegeben an, 27% nich t un d
13% h atten keine M einung (Fraga 1997: 98-99).
O ffen k u n d ig bezogen viele Jou rn alisten ihre negative E inschätzung
zu r G ew ährleistung d er Pressefreiheit a u f ihre ganz persönliche Situati­
on, d.h. a u f die Frage, ob sie sich in ihrem eigenen M edium uneinge­
schränkt u n d u n g eh in d ert journalistisch entfalten können. U n d dies ist
284 F ra n k Priess

augenscheinlich n u r seh r b egrenzt m öglich. Viel stärker als m an dies aus


deutschen R edaktionen kennt, bestim m en M einung u n d M aßgabe der
E ig en tü m er eines M edium s n ich t n u r die grundsätzliche T endenz, son­
dern o ft auch die T agesberichterstattung. So liegt vielfach fest, w elche
T h em en m it einem T ab u belegt u n d w elche P ersonen als m ögliche In ­
terview partner p ersona n o n grata sind. „Sage m ir für w en D u arbeitest,
u n d ich sage D ir, w o rü b er D u schreiben kan n st“ , dieses für K olum bien
zitierte Beispiel ist auch für A rgentinien keineswegs abwegig (W aisbord
1997: 128).

Journalism us: kein einfacher B eruf

D ie P ro b lem e beginnen bereits beim Berufszugang. Im m er m e h r Stu­


d en tin n en u n d Studenten verlassen inzw ischen die a u f m ehrere D u tz en d
angew achsenen Studiengänge für Comunicación Social (Soziale K o m m u n i­
kation), vielfach a u f die E rfo rd ern isse kon k reter R edaktionsarbeit unge­
n ü gend vorbereitet, aber m it dem festen Ziel, in einem der w ichtigen
M edien F uß zu fassen. D ie A usbildung erfo rd ert selten eine Spezialisie­
rung, K o m b in atio n en m it anderen Fächern wie in deutschen D ip lo m ­
o d er M agisterstudiengängen sind w eitgehend unbekannt. H in zu kom m t,
h ier ist sich der journalistische N achw uchs einig, dass B eziehungen auch
in A rgentinien w ichtiger sind als eine gute A usbildung. So beginnt die
„ O c h se n to u r“ m it u n bezahlten Praktika u n d freier M itarbeit. Im m er
häufiger besetzen selbst n am hafte M edien R edakteursarbeitsplätze m it
Praktikanten, die m it viel E nth u siasm u s aber w enig Praxiserfahrung pro
T ag zeh n Stunden u n d m eh r arbeiten, für G o tteslo h n un d in der H o ff­
nung, irgendw ie aufzufallen u n d einen der frei w erdenden Plätze zu er­
gattern. D a aber auch in A rgentinien R edaktionen eher verkleinert un d
journalistische L eistungen bei B ed arf zugekauft w erden, bleibt das V er­
hältnis v o n A n g eb o t u n d N achfrage a u f dem journalistischen A rbeits­
m arkt grotesk.
E b e n so wie in anderen L ändern Lateinam erikas m ehren sich F o rd e­
rungen, den bislang freien B erufszugang zu reglem entieren, u n d insbe­
sondere die H o ch schulabgänger versuchen, E xklusivrechte einzuklagen.
D ie sogenannte Colegiatura, die O rganisation v o n Journalisten in einem
K am m ersystem nach dem M uster d er A p o th ek er u n d A nw älte, m uss je­
doch inzw ischen auch d o rt als gescheitert angesehen w erden, w o sie lan­
ge existierte. In C osta Rica etwa erklärte das V erfassungsgericht eine sol­
che Z w angsm itgliedschaft als unverein b ar m it dem R echt a u f Presse-
u n d M einungsäußerungsfreiheit, auch in Chile u n d V enezuela, traditio­
M ed ien u n d P olitik 285

nellen H o ch b u rg en der colegios de periodistas, m ussten diese einen B edeu­


tungsverlust hinnehm en.
W er es zu einer Festanstellung bringt, aber nicht das G lück hat, bei
einem d er w ichtigen L eitm edien u n terzu k ö m m en, stellt fest, dass sich
v o m gezahlten G ehalt kaum leben lässt. E n tsp rec h en d häutig sind, b e­
sonders in den P rovinzen, D o p p el- u n d D reifachbeschäftigungen: M o r­
gens R adiosprecher, m ittags Pressesprecher, abends Schlussredakteur bei
der Zeitung! D ie dam it v erb u n d en en Loyalitätskonflikte sind offensicht­
lich. Im H ö rfu n k findet sich zu d em die B esonderheit, dass Journalisten
„ihre“ Sendestunde v o m Sender kaufen u n d sich ü b er den V erkauf v o n
W erbezeit refinanzieren. A u ch dies fü h rt zu V erhaltensw eisen, die m it
Professionalität u n d B erufsethik n u r begrenzt zu tu n haben, o ft aber den
Sachverhalt d er strukturellen K o rru p tio n durchaus erfüllen. B ezeichnen­
derw eise geben zw ar 78% der v o n Luis M ajul (1999) befragten Jo urnalis­
ten an, persönlich K orruptions fälle im Journalism us zu kennen, die M edien
berichten aber so gut wie nie ü b er K o rru p tio n im Journalism us.

A b b ild u n g 1: K o rru p tio n im Jo u rn a lism u s


F rag e: " K e n n e n Sie in n e r h a lb d e s J o u rn a lis m u s e in e n
K o rru p tio n s fa ll? "

W e iß N i c h t
C

Neir
17 ° /

Ja
78%

Quelle: Periodistas, Luis Majul, Buenos Aires 1999


286 F ra n k P riess

A u ch für A rgentinien gilt, gerade angesichts des eingangs erw ähnten


V ergleichs zum öffentlichen V ertrau en in In stitutionen, was H an s M a­
thias K epplinger n ich t n u r für D eu tsch lan d konstatiert:
Mit den Massenmedien ist zum ersten Mal eine Institution entstanden, die
erfolgreich ein moralisches Wächteramt über das Verhalten beansprucht
und zugleich selbst geringeren moralischen Anforderungen genügen muss.
(Kepplinger 1992: 167)

H in zu ko m m t, w ie auch andersw o, eine überaus gering ausgeprägte B e­


reitschaft, K ollegen öffentlich für F ehlverhalten zu kritisieren. O bw ohl
fast zwei D rittel d er Jo u rn alisten in d er U m frage vo n Luis M ajul angeben
K ollegenkritik zu bejahen, findet sich davon, v o n A u sn ah m en abgese­
hen, kaum etwas in den argentinischen M edien (A bbildung 2).

A bbildung 2: Kollegenkritik im Journalismus


Frage: "Finden Sie es richtig, einen Kollegen zu kritisieren?"

W e iß n i c h t

Quelle: Periodistas, Luis Majul, Buenos Aires 1999

N u r w enige M edien leisten sich einen „ O m b u d sm a n n “ als A nw alt des


Lesers, vergleichbare In stitu tio n en zum D eu tsch en P resserat gibt es
nicht. A u ch die berufsständischen O rgan isatio nen oder G ew erkschaften
ü b ern eh m en keine V eran tw o rtu n g bei der W ahrung ethischer Standards,
eben so w enig übrigens wie die O rgan isatio n en der M edieneigner. N u r
zögernd w ird M edienkritik zum T h em a, etw a in der Z eitschrift Un ojo
M ed ien u n d P olitik 287

avizor en los medios eines jungen Joum alisten team s u m H erausgeberin D a ­


niela B lanco, w o regelm äßig selbstkritische R eflexion ü b e r den Z u stan d
journalistischer B erufsausübung stattfin d et u n d sich das im m er verzw ick­
ter w erdende G estrü p p w irtschaftlicher u n d politischer V erflechtungen
in der M edienlandschaft ein w enig öffnet. V o r allem dem öffentlichen
Interesse ist es zu verdanken, w en n eine E th ikdebatte langsam in G ang
ko m m t, wie d er angesehene H ö rfu n k jo u m alist Santo Biasatti bestätigt:
D ie L e u te s in d ja n ic h t d u m m , sie e n ts c h e id e n se lb st, w e lc h e T h e m e n sie
in te re s s ie re n . B is v o r k u rz e r Z e it w a r ü b e r E th ik z u s p re c h e n , als w e n n m a n
c h in e s is c h g e s p r o c h e n h ä tte . H e u te in te re s s ie rt d ie se F ra g e se h r, sp e z ie ll d ie
ju n g e n L e u te . (N o tic ia s , 5. J u li 1997)

N ic h t zu letzt ein Blick a u f die M achtzusam m enballungen m ach t deutlich,


wie nötig Selbstreflektion u n d Selbstkritik innerhalb der M edien sind.

Trend zu m ultim edialen M edienstrukturen

A uch in A rgentinien g eht die E ntw icklung zu m ultim edialen Strukturen


im m er weiter. L ängst sind die m eisten bedeutenden M edien Teil eines
grö ß eren V erbundes, d er in d er Regel Tagespresse, W ochenpresse, H ö r­
funk, F ernsehen u n d »»//«^-Angebote u m fasst u n d sow ohl die H a u p t­
stadt als auch die P ro v in zen abzudecken versucht. E in gutes Beispiel da­
für ist die Clarín-G ru p p e, m it der gleichnam igen T ageszeitung M ark tfü h ­
rer, aber auch vielfältig in den anderen erw ähnten Bereichen präsent. M it
11.600 M itarbeitern setzt sie jährlich ru n d zwei M ilharden D o llar um.
R u n d eine halbe M illion E xem plare verkauft Clarín w erktäglich an
den K iosken, w obei anzum erken ist, dass Z eitungs- u n d Z eitschriften­
abon n em en ts in A rgentinien, wie in ganz L ateinam erika, w enig üblich
sind. A n Sonntagen, auch das ein allgem einer T re n d im K o n tinent, Hegt
die V erkaufsauflage n o c h erheblich h öher, n icht zuletzt w egen illustrier­
ter Beilagen u n d den nach wie v o r b estehenden L esegew ohnheiten der
Bürger. Bei allen g en annten Z ahlen gilt, dass auch die D ate n des Instituto
Verificador de Circulaciones (TVC) m it einer gewissen V orsicht zu genießen
sind: N ach wie v o r w erden A uflagenzahlen v o n vielen V erlagen wie
Staatsgeheim nisse behandelt. A uch lassen sie nicht unbedingt R ück­
schlüsse a u f die Z ahl d er verk au ften E xem plare zu. Seit 1946 arbeitet die
als private G esellschaft o h n e G ew inninteresse organisierte IV C a u f die­
sem Feld u n d bezieht derzeit 196 M edien alle sechs M onate in ihr D a ­
tensystem ein, häufig der K ritik derer ausgesetzt, die sich der O rganisa­
tion nicht angeschlossen haben. G etragen w ird IV C näm lich v o n den
288 F ran k Priess

H erausgebern v o n Z eitungen u n d Z eitschriften, die ihre A uflagenzahlen


p er notariell beglaubigter E rklärung angeben, u n d den W erbeagenturen,
die die M edien nutzen. In der H au p tstad t B uenos A ires etw a gehören
n u r Clarín, h a Nación u n d die gratis in den S- u n d U -B ahnen verteilte h a
Ra^ón en el Transporte dem System an. E s v erw undert, dass die w erbetrei­
ben d e W irtschaft n o ch nicht a u f einheitliche u n d transparentere V erfah­
ren gedrungen hat, u m die tatsächliche R eichw eite aller Z eitungen un d
dam it auch ih rer A nzeigen zu überprüfen. D ie Liste der IV C-A uflagen-
zahlen u n d ein Blick a u f die G rößenverhältnisse m ach t zum indest die
T en d en zen deutlich.

A b b ild u n g 3 : V e r k a u f te A u f la g e d e r z e h n g r ö ß te n T a g e s z e itu n g e n in
A rg e n tin ie n

«2
{ I 8 '« äj i I

Q u e lle : I n s titu to V e r if ic a d o r d e C irc u la c io n e s ( I V Q , D u r c h s c h n itt S e p te m b e r 1998 b is S e p te m b e r 1 999, m o n ta g s bis sa m sta g s.

U n b estritten ist der w eite A b stan d , m it dem Clarín v o r h a Nación u n d al­


len anderen M itbew erbern liegt, w obei m an beim B egriff „M itbew erber“
durchaus zögert. V erflechtungsverhältnisse zw ischen M edien sind so u n ­
durchsichtig, dass selbst d o rt, w o a u f d en ersten Blick K onkurrenz zu
herrsch en scheint, w irtschaftliche E in tra c h t dom iniert. H ier ist etwa die
K o o p eratio n v o n Clarín m it h a Nación zu nen nen, zu m Beispiel bei ge­
m einsam en Beteiligungen im L andesinneren. D o r t gehören den beiden
im P ressebereich v o r allem A nteile an den B lättern h a No% del Interior in
C o rd o b a u n d ho s A ndes in M endoza. Z u 36,9% ist m an am Papierver­
sorger Papel Prensa beteiligt, gem einsam m it h a Nación un d dem Staat.
M ed ien u n d P olitik 289

Z u sam m en k om m en d a rin u n d d z Nación a u f einen A nteil v o n 57% an


d er insgesam t in A rgentinien verkauften A uflage der Tageszeitungen.
M it dem F em sehkanal 13 verfügt d a rin ü b er einen der reichw eiten­
stärksten Sender u n d zusätzlich ü b er die K abel-K anäle Todo Noticias un d
Volver. Im R adiobereich gehören Radio M itre, F M 100 u n d Top 40 zur
G ru p p e, die v o m K o n k u rren ten Julio R am os in seiner W irtschaftszei­
tu n g M w tòo Financiero n u r als „das M o n o p o l“ bezeichnet wird. Z u 100%
g eh ö rt d a rin zudem auch der K ab elnetzbetreiber Multicanal., m it 33% ist
m an an Supercanal u n d zu 51% ü b er G alaxy Argentina an D irecT V beteiligt,
dem direkt abstrahlenden Satellitenfernsehsystem .
E in im m er w ichtigerer Teil des U nternehm ens ist der Internet-
Bereich: Ciudad Internet, so heißt die entsprechende T ochter, bietet dem
N u tzer Internet-Z ugang, p ro d u ziert digitale Inhalte un d stellt auch sonst
Serviceleistungen für die N e tz -N u tz u n g bereit. A u f 70.000 beläuft sich
zw ar erst die Z ahl der A b o n n en ten , a u f 18 M illionen D ollar der Jah re s­
um satz 1999, das W achstum aber ist exponentiell. Insgesam t sind derzeit
knapp drei P ro z e n t der A rgentinier online, allerdings steigt der A nteil
drastisch u n te r denen, die einen abgeschlossenen G ym nasialabschluss
haben, bei den Jüngeren, den W o hlhabenderen u n d den E in w o h n er städ­
tischer Z entren. So befinden sich nach einer Studie der Cámara Argentina
de Comercio Electrónico 87% der In ternet-A ngebote im G ro ß rau m B uenos
A ires, w äh ren d selbst bedeutende Provinzen wie Santa Fe au f w eniger als
vier P ro z e n t A nteil kom m en. A uch der sogenannte e-commerce ko m m t
langsam in Schwung: W aren nach A ngaben der Boston Consulting Group im
Juli 1999 erst 37 argentinische W eb-Sites m it entsprechenden A ngeboten
im N etz, hatte sich deren Z ahl schon ein halbes Ja h r später fast vervier­
facht. D ie h o h e Z ahl v o n ru n d fü n f Millionen K abelhaushalten stellt eine
gute V o raussetzung für w eiteres W achstum dar, tro tz nach wie v o r ho­
h e r K osten, die die surfer behindern.
A u ch w en n die Spaltung zw ischen Flauptstadt u n d P rovinz u n ü b er­
sehbar ist, g eh ö rt A rgentinien n eb en Brasilien u n d M exiko zu den für die
T eilnahm e an d er new economy am b esten p o sitionierten lateinam erikani­
schen L ändern. U m auch künftig in den W achstum sm ärkten F ernsehen,
In tern et u n d T elekom m unikation m ithalten zu können, h at sich Clarín
jetzt erstm als m it einem internationalen P artn er verbündet: F ür ru n d 500
M illionen D ollar erw arb die nordam erikanische In vestm entbank G o ld ­
m an Sachs 18% des A ktienkapitals des F am ilienuntem ehm ens, dessen
F ührungsfigur nach wie v o r die inzw ischen 70jährige E rnestina H errera
de N o b le ist, die nach dem T o d ihres M annes R oberto N oble, des
G rü n d ers v o n Clarin, 1969 das K o m m a n d o übernahm .
290 F ra n k Priess

A u f d er anderen Seite des Spielfeldes, allerdings m it deutlicher K o n ­


zen tratio n au f den audiovisuellen B ereich u n d ohne eine vergleichbare
Pressebasis wie Clarín, positioniert sich im m er m e h r d er argentinische
A bleger d er spanischen Telefónica. N ach heftigen internen P roblem en der
C E I CitiCorpHolding teilten deren bisherige A ktionäre, v o r allem der
nordam erikanische Investitionsfond H icks, Muse, Tate & Fürst u n d eben
Telefónica das Im p eriu m neu auf. Telefónica Spanien erw arb die alleinige
K on tro lle ü b er die argentinische T ochterfirm a zurück u n d ist jetzt A l­
leineigentüm er des starken Fem sehkanals Telefe, eines N etzw erkes v o n
acht reichw eitenstarken F ernsehsendern im L andesinnem un d der A M -
u n d FM -A ngebote v o n Radio Continental. E ine fünfzigprozentige Beteili­
gung am Fernsehkanal A% ul T V k o m m t hinzu. Insgesam t betrug das V o ­
lum en d er A ktion 500 M illionen D ollar. D a rü b er hinaus bedient Telefónica
A rgentinien 18 M illionen T elefon-F estnetzkunden u n d fü n f M illionen
M obilfunker. M it den F em sehbeteiligungen u n d den dazugehörigen P ro ­
duktionseinrichtungen v erfügt Telefónica ü b er eine Plattform , v o n der aus
auch eine E xpansion in andere lateinam erikanische F em sehm ärkte m ö g ­
lich ist. U n d hier liegt das erklärte Ziel v o n Ju a n Villalonga, P räsident der
Teleßnica-G m ppe. D ie spanische M utterfirm a beabsichtigt, die attraktiven
M edientöchter als Telefónica Media an die B örse zu bringen. D az u soll das
lateinam erikaw eite E ngagem ent durch Z ukäufe u n d B ündnisse n o ch er­
heblich ausgew eitet w erden. E rste erfolgversprechende K ontakte scheint
es insbesondere m it der m exikanischen T V A zteca zu geben.
D ie ehem aligen B ü ndnispartner des Investm entfonds H icks, Muse,
Tate & Fürst sowie M inderheitsgesellschafter C onstancio Vigil gelangten
nach d em deal zur alleinigen K on tro lle des K ab elfem sehanbieters Cablevi-
sión u n d der Z eitschriftenm acht d er E ditorial A tldntida. Lediglich Raúl
M oneta, lange Z eit P räsident u n d über eine v o n ihm kontrollierte H o l­
ding A nteilseigner v o n C E I, scheint w eitgehend leer auszugehen: N ac h ­
dem er ü b er Schulden- u n d S teuerproblem e gestolpert w ar u n d sich m o­
natelang v o r der Justiz v ersteckt hielt, sieht er jetzt zahlreichen V erfahren
entgegen. F ü r Telefónica indes scheint selbst der A bschied v o m K ab el­
fem seh en n u r ein vorläufiger zu sein: Jü n g sten G erü ch ten zufolge strebt
die Firm a einen E instieg bei M ulticanal an, bei dem K on k u rren t Clarín das
Sagen hat. E s zeigt sich einm al m ehr, dass K o n k u rren z in einem Seg­
m en t die K o o p eratio n in einem anderen keineswegs ausschließen m uss.
E in Blick a u f die durchschnittlichen Z uschauerzahlen der fü n f ter­
restrisch verbreiteten F ernsehsender m ach t aber die K on zen tratio n d e u t­
lich:
M ed ien u n d P olitik 291

A b b ild u n g 4 : F e r n s e h s e n d e r in G ra n B u e n o s A ire s

533.121

z
u
s
c
h
a
u
e
r
168.354

18.706

TELEFE Canal 13 Azul TV América 2 Canal 7 Sonstige

Quelle: IB O PE Argentina, S.A., Tagesdurchschnitt 01.03.-16.03.2000,12:00-23:59 Uhr, m ontags-sonntags.

D e r v o n Clarin beeinflusste Canal 13 u n d d er zu Telefónica gehörende K a­


nal Telefe liefern sich ein perm anentes K o p f-an -K o p f-R en n en u m die
grö ß te Reichweite, u m den dritten Platz balgen sich América T V , hinter
dem d er M edienm ogul E d u a rd o E u m ek ian steht, u n d der ebenfalls zum
E influssbereich v o n Telefónica zählende A ^ u l T V , der frühere K anal 9.
F ü r den Staatskanal A T C , v o n dem n o ch die Rede sein wird, bleiben da
n u r n o ch K rüm el des gewaltigen W erbekuchens übrig. 80% der F ern ­
sehw erbung in terrestrischen K anälen entfällt allein a u f Canal 13 u n d Te­
lefe. D ie A ttraktivität lässt sich daran m essen, dass der G esam tw erbeum -
satz 1999, einem R ezessionsjahr, m it 3,837 M ilharden D ollar angegeben
w urde. D av o n k o n n te sich das Fernsehen satte 35,73% abschneiden, ü-
b ertro ffen allerdings v o n einem 43,79% igen A nteil der graphischen M e­
dien. D abei ist es d ann nicht verw underlich, w enn die alles entscheiden­
den rating-TÀííe.va. h art u m k äm p ft u n d n ich t selten um stritten sind. N ach
diversen Z u sam m enschlüssen v erfugt die B ew ertungs-Firm a IB O P E
ü b er eine m ark tbeherrschende Stellung u n d n ährt den V erdacht, diese
M acht zugunsten der Telefónica-nah en Sender, insbesondere Telefe einzu­
292 F ra n k P riess

setzen. G enaues lässt sich v o n den P rotag o n isten selten in E rfah ru n g


bringen, die V erdach tsm o m en te aber b rachten im A pril 1999 die Z eit­
schrift N otidas dazu, zu titeln: „D ie L ügen d er ratings“ .
V o n finanziellen Sorgen h aben auch gute E in schaltquoten die ter­
restrischen T V -S ender nicht befreit. Selbst bei Telefe ist v o n deutlichen
V erlusten die Rede. Sogar die Z u g n u m m ern p o pulärer Show s wie Susana
G im énez m erkten dies bereits an ihren H o n o raren. D ie K onkurrenz der
K abelsen d er ist gew altig u n d die K o sten steigen, nich t zuletzt für die u n ­
entbehrliche P rogram m w are, zum Beispiel die Ü bertragungsrechte für
Sportsendungen. H ier etwa h at sich Carlos Avila positioniert u n d seiner
Firm a T jC die E xklusivität für den argentinischen P rofi-F ußball bis 2014
gesichert. Sein V erm ark tu n g sk o n zep t ist eindeutig: „D ie Z u k u n ft des
F ernsehfußballs liegt in der Show. M an m uss an das Spektakel u n d an die
K ü n stler denken.“ (Interview m it Lm N adón am 27.2.2000) A uch in Ar­
gentinien ist m an sich der M öglichkeit bew usst, den S port als T ü rö ffn er
für das B ezah lfem seh en einzusetzen u n d in seinem Sog zusätzliche P ro ­
gram m e an den K u n d e n zu bringen.
D ie M achtstellung w eniger A nbieter lässt sich durch die ratings der
pop u lärsten H ö rfu n k p ro g ram m e abrunden, w obei hier deutlich m eh r
K o n k u rren z b esteht, insbesondere durch die zahlreichen kleinen FM -
Stationen, die o ft n u r im U m kreis v o n w enigen K ilom etern zu em pfan­
gen sind, gleichw ohl aber ü b e r ein treues lokales Publikum verfügen.
E indeutig ist so das R adio auch in A rgentinien das dem okratischste
u n d v o r allem das partizipativste M edium . M it o ft geringen E tats u n d ei­
n er kleinen, m eist aber h ochm otivierten Schar v o n M itarbeitern w ird
versucht, die Sichtw eise d er Z eitu n g en zu ergänzen u n d zusätzliche A s­
pekte in die D e b a tte einzuführen. D ab ei ist es wichtig, eine B esonderheit
im täglichen M edienrhythm us h ervorzuheben: M eist sind es die T ages­
zeitungen, die m it ihren Schlagzeilen u n d B erichten die M arschzahl für
den T ag vorgeben. Viele H ö rfu n k sen d er beginnen ihre F rühprogram m e
m it einer erw eiterten P resseschau u n d inform ieren ihre H ö re r über die
P resseschw erpunkte, v ersuchen d ann allerdings, durch eigene Interview s
m it den P rotag o n isten oder den E insatz m obiler R eporterteam s an den
S chauplätzen d er N ach rich ten diese zu erw eitern. D as Fernsehen hinge­
gen visualisiert im L aufe des Tages ju st jene M eldungen u n d kann au f die
„V o rarb eiten “ v o n Presse u n d H ö rfu n k aufbauen. D ah er ist nicht u n b e­
dingt v o n der D o m in an z eines M edium s auszugehen, viel eher zeigt sich
ein verw obenes M iteinander, bei dem die E igentüm erstrukturen n a tü r­
lich ihrerseits eine Rolle spielen.
M edien u n d P olitik 293

A b b ild u n g 5: D ie z e h n m e is tg e h ö r te n R a d io s e n d e r

Quelle: IB O P E A rgentina S.A., Tagesdurchschnitt m ontags bis sonntags, 01.02.-29.02.2000, G ran Buenos Aires.

U m so nötiger w äre eine w irksam e K o n zen trationskontrolle, eine G e ­


setzgebung, die zum indest im A nsatz versucht, Ü berkreuzbeteiligungen
zu v erh in d ern u n d d er fo rtsch reiten d en „Fusionitis“ E inhalt zu gebieten.
Im m e r w ieder h ö rt m an auch v o n p ro m in en ten P olitikern die A bsicht,
die M edien in die A n ti-M onopolgesetzgebung einzubeziehen, passiert ist
allerdings b isher nichts. W ie in ganz L ateinam erika ist auch in A rgenti­
nien die G egen w eh r gegen entsp rech en d e V o rh ab en heftig. D e r V o rw u rf
d er M edieneigner, P olitiker v ersu ch ten nur, die Pressefreiheit einzu­
schränken, h at sich b isher stets als erfolgreiches T otschlagargum ent er­
wiesen. So argum entiert d er venezolanische M edienzar G u stav o Cisne-
ros, dessen H old in g auch in A rgentinien F u ß zu fassen versucht, folgen­
derm aßen:
Im heutigen wirtschaftlichen Umfeld überholen sich manche Projekte
schon, ehe sie Gesetzeskraft erlangen. Die Gesetzgeber unserer Region soll­
ten vielleicht mehr darüber nachdenken, wie der Wohlstand unserer Völker
durch Wirtschaftswachstum gesteigert werden kann, statt sich Sorgen dar­
über zu machen, wer das eine oder andere Feld beherrscht. Die Wirklichkeit
verändert sich so schnell, dass jemand, der heute eine marktbeherrschende
294 F ra n k P riess

Stellung hat, morgen durch eine neue Technologie vom Markt verschwun­
den sein kann.

Kabel und Direkt-TV auf dem Vormarsch

B eim F ernsehen k ö n n en es viele L änder Lateinam erikas längst m it der


industrialisierten W elt aufnehm en. So beträgt der F em sehversorgungs-
grad der B evölkerung in A rgentinien 97,8% , in M exiko 91% u n d in B ra­
silien 86,7% . G leiches gilt fü r den M arkt d er V ideorecorder oder das
Pay-TV , w o einige lateinam erikanische Staaten sogar V orreiterrollen
spielen: W ährend etwa in A rgentinien 54,7% der B evölkerung Pay-TV-
A n g eb o te n utzen, sind es in Spanien n u r 14,8%. Parallel dazu h aben sich
W erbem ärkte entwickelt, die M illiarden D ollar um setzen. So fließen in
Brasilien jährlich ru n d zwei M illiarden u n d in M exiko ru n d eine M ilharde
D ollar an W erbegeldem allein den freien F em sehkanälen zu, im w esent­
lich kleineren A rgentinien im m erhin n o ch 720 Millionen.
D ieser Z u stro m u n d die dam it v erbundene D o m in an z der ratings ha­
ben A usw irkungen a u f Firm en- u n d P ro gram m strukturen. E inerseits
nim m t die K o n zen tratio n a u f den M edienm ärkten zu, verbinden sich lo­
kale A nb ieter m it internationalen K onsortien, andererseits aber dom i­
niert stärker als je zu v o r die U nterhaltungsorientierung, vornehm lich m it
Spielshow s, billigen Serien u n d Sport. Im m erh in aber schafft das inzw i­
schen um fangreiche K abelangebot — in A rgentinien bieten die beiden
großen A nb ieter Cablevisión u n d M ulticanal dem N u tz e r Z u gang zu jeweils
65 K anälen — eine gewisse K o m pensation. H ier finden sich etwa die
A u slandssender C N N , R A I, tve u n d die Deutsche Welle, aber auch K ultur-,
K inder- u n d Reisekanäle. A uch N isch en sen d er für politische un d ö k o ­
nom ische A n gebote haben sich etabliert, m it Crónica u n d Todo Noticias
etw a existieren zwei rein nationale 24-S tunden-N achrichtenprogram m e.
D e r T re n d g eht in R ichtung Spartenkanal. M indestens 38 D ollar bezahlt
der D urchsch n ittsarg en tin ier für diese O fferte, die im Bedarfsfall no ch
u m sogenannte P rem ium -A ngebote angereichert wird: S port, E rotik,
Spielfilm. U n d die T en d en z ist steigend.
Z u den K abelangeboten gesellen sich im m er m ehr auch Satellitenan­
gebote. In A rgentinien versu ch t D irecTV , eine G em einschaftsfirm a des
g rö ß ten argentinischen M edienuntem ehm ens Clarín m it der spanischen
Telefónica, m it aggressivem M arketing die A ngriffe des N ew com ers Sky-
TatinAm erica abzuw ehren, bei d em sich die AfowCotp-Gruppe vo n R upert
M u rd o ch m it der m exikanischen Televisa, der O Globo-G ru p p e aus Brasi­
lien, A T & T u n d Telecom Argentina v e rb ü n d e t haben. Lateinam erikaw eit
M ed ien u n d P olitik 295

spielt auch die v o n Hughes Electronics, der venezolanischen C isneros- u n d


der brasilianischen M ¿n /-G ru p p e kontrollierte Galaxy H atin America eine
w ichtige Rolle, an d er w iederum Clarin beteiligt ist u n d deren argentini­
sche L izenz DirecTV' ausübt. Im m erh in geht es um ein Potenzial v o n 45
M illionen H aushalten, v o n denen b isher gerade einm al ein P ro ze n t er­
reicht wird. E n tsp re c h e n d h art ist auch der K a m p f u m attraktive P ro ­
gram m e. W aren etw a die Senderechte für A rgentinien an der Fußball­
w eltm eisterschaft 1994 in den USA n o ch für fü n f M illionen D ollar un d
für den W ettbew erb in Frankreich 1998 für 7,5 M illionen D ollar zu ha­
ben, stieg der Preis für die gem einsam v o n K orea u n d Jap an ausgerichte­
te W eltm eisterschaft 2002 a u f atem beraubende 90 Millionen. Selbst für
ein F reundschaftsspiel d er argentinischen N ationalm annschaft w erden
inzw ischen 800.000 D o llar bezahlt, eine V erzehnfachung seit 1985.
E in T rauerspiel b ietet in A rgentinien, aber nicht n u r dort, das A nge­
bot, das sich d er Staat m ittels eigener Sender im H ö rfu n k un d F em seh-
bereich u n d ü b er Beteiligungen an N achrich tenagenturen u n d Papierver-
sorgem gesichert hat. W eder entstehen hier konkurrenzfähige A ngebote
für den jeweiligen M arkt n o c h w ird dem P rogram m auftrag der P ro m o ti­
on d er eigenen K u ltu r erfolgreich R echnung getragen. V ielm ehr d o m i­
nieren M issm anagem ent, V etternw irtschaft, veraltete T echnik u n d ü b er­
b o rd en d e Schulden. G erade erst n im m t die neue argentinische Regierung
einen A nlauf, den Staatskanal A T C w ieder flott zu m achen, den eine
Schuldenlast v o n 107,6 M illionen D o llar drückt. A u f ein ratingvon 0,9%
k o m m t A T C zw ischen M ontag u n d Freitag, was bei 30.000 Z uschauern
p ro rating-Vxvnkt bedeutet, dass praktisch niem and anschaut, was die 730
Fest-A ngestellten des Senders m it einem Jahreshaushalt vo n 13 Millio­
nen D o llar produzieren. Z u r „staatlichen G ru p p e “ gehören ferner Radio
Nacional u n d die A g en tu r T E H A M , die jetzt v o n einem U nternehm er,
d er n ich t aus dem M ediengeschäft kom m t, au f K urs gebracht w erden
sollen: Ju an Carlos A barca. D ie g rößte H erau sforderung n eben der B e­
seitigung d er A ltlasten aber ist, aus dem staatsabhängigen V erlautba­
rungssystem eines zu m achen, das eine breite P artizipation der Bevölke­
rung zulässt u n d das als program m atisches G egengew icht zu den rein
v o n den W erbem ärkten abhängigen A nbietern w irken kann.
Viele F em seh- u n d H örfu n k k an äle allein u n d ihre K o n k u rren z ge­
w ährleisten, wie sich zeigt, w ed er Q ualitätsjournalism us no ch M einungs­
pluralism us. V ielm ehr zeichnet sich zw ischen den K anälen ein W ettlauf
zu im m er niedrigeren Standards ab. Im allgem einen R auschen der R eiz­
überflu tu n g bleibt die V erm ittlung v o n Sinn un d Inhalt a u f der Strecke.
D e n gezeigten K o n zen tratio n sten d en zen steht der Staat größtenteils hilf­
296 F ra n k P riess

los gegenüber: A nsätze einer A n tim o n o p o l-G esetzgebung sparen die


M edien ausdrücklich aus.

M edienpolitik unter M enem

Seit dem E n d e der letzten D ik tatu r w ar es nicht m öglich, ein T elekom ­


m unikationsgesetz zu verabschieden, das m o d ern en E rfo rdernissen ge­
nüg t u n d die gesellschaftlichen V eränderungen berücksichtigt. D as be­
stehende M ediengesetz stam m t aus dem Ja h r 1981, erlassen u n te r G en e­
ral V idela als D ek ret 286. G leichw ohl w ird es bei B ed arf angew endet
o d er n ich t berücksichtigt, wie die zeh n R egierungsjahre Carlos M enems
eindrucksvoll zeigten:
K raftvoll begann der P räsid en t 1989 seine A m tszeit m it d er Privati­
sierung der bis dahin staatlichen Fem sehkanäle 11 u n d 13: die Sum m e
v o n 10,5 M illiarden A ustrales, die W äh ru n g sreform m it d er Peso-D ollar-
P arität w ar n och nicht geboren, m usste das K o n so rtiu m Television Federal
S A . für ersteren aufw enden, 7,2 M ilharden A ustrales die m it Clarín ver­
bund en e A rtea r für den zw eiten. N ach W o rten des G eschäftsführers von
Canal 13, H u g o di G ilielm o, öffn ete dies den W eg zu m eh r K o n k u rre n z­
fähigkeit der argentinischen Sender, zu m e h r E ffizienz u n d auch zu einer
hö h eren E igenproduktionsquote. D ie dann folgenden V eränderungen, in
erster Linie A usdruck gesellschaftlicher V eränderungen sowie in ternatio­
naler R ahm enbedingungen u n d -trends u n d n icht staatlich-argentinischer
Politik, gingen vielen B eob ach tern zu weit. D ie K ulturkritikerin Beatriz
Sarlo etw a blickt wie folgt zurück:
In diesen zehn Jahren haben sich Marktkriterien eindeutig durchgesetzt,
sowohl in den privaten Kanälen als auch bei den Mafias von ATC. Deshalb
berücksichtigt die Qualitätskontrolle audiovisueller Produktionen auch aus­
schließlich noch die ratings. Eine Idee von public service gibt es nicht mehr.
(Interviewmit T a Nación vom 22.8.1999)

V o n w eitgehender Frivolisierung u n d einem sich ausbreitenden „V ersa-


ce-Stil“ ist die Rede, begleitet v o m exhibitionistischen V orgehen d er sich
inflationär ausbreitenden Talk-Show s.
W iedem m p er D ek ret w eitete M enem kurz v o r E n d e seiner A m tszeit
im Septem ber 1999 die M öglichkeiten v o n E inzelanbietern aus, statt bis­
her vier jetzt 24 L izenzen für den H ö rfu n k b etrieb in einer H an d zu ko n ­
zentrieren, v erb u n d en m it der O p tio n , diese auch an D ritte w eiter­
zugeben, o hne solche V erknüpfungen offen legen zu m üssen. D am it
w ird die v o rh e r ausgeschlossene Strategie, „N etzw erke“ zu bilden un d
M ed ien u n d P olitik 297

S ender im L andesinnern als reine A bspielstationen für hauptstädtische


Z entralp ro g ram m e zu b enutzen, ausdrücklich erm öglicht, ein Z uge­
ständnis v o r allem gegenüber den g ro ß en M edienim perien. Zusätzlich,
u n d auch das dient den letztg en an n ten ganz besonders, bleiben ausländi­
sche A nbieter u n d K o n so rtien ausgeschlossen. G leichzeitig w urden die
W erbezeitbeschränkungen, zu v o r zw ölf M inuten p ro Sendestunde, aus­
gehebelt: Statt a u f S tundenbasis w erd en die W erbem inuten jetzt für ei­
n en jeweils dreistündigen Z eittakt berechnet, was V erschiebungen zw i­
schen prime time u n d se h e r-/h ö re rarm e n Z eiten zulässt.
E in D ilem m a stellt seit eh u n d je die V ergabe u n d Freigabe n eu er L i­
zenzen für H ö rfu n k u n d F ernsehen dar, die v o n den R egierenden bisher
nach G efü h l u n d W ellenschlag, n ich t eben zum N achteil politisch be­
freundeter G ru p p e n u n d Firm en, geregelt w urde. D ie für den H ö rfu n k ,
für seine K ontrolle, die R egistrierung v o n Sendern u n d für die L izenzer­
teilung zuständige D irek tio n C O M F E R (Comité Federal de Radiodifusión) ist
direkt v o n d er R egierung abhängig. A rtikel 95 des R undfunkgesetzes re­
gelt die Z uständigkeit d er O rganisation, die Lizenzen norm alerw eise für
15 Jah re vergibt, w obei eine zehnjährige V erlängerung zugunsten gesi­
ch erter Investitionsgrundlagen als norm al angesehen wird. Lizenzinhaber
k ö n n en A rgentinier w erden, die eine en tsprechende „m oralische Q ualität
u n d kulturelle E ig n u n g besitzen “ m üssen (M einecke 1992: 51), eine zwei­
fellos interpretierbare K lausel.
A n C O M F E R u n d seiner A rb eit en tzü n d ete sich auch in den letzten
A m tstagen M enem s u n d nach Ü bernahm e durch die A dm inistration de
la Rúa heftiger Streit: G leich 438 L izenzen hatte M enem zw ischen A u ­
gu st u n d D ezem b er 1999 p e r D e k re t n o ch zugeteilt, einm al 230 an ei­
nem Tag! Insb eso n d ere die b egehrten FM -Frequenzen hatte d er C h ef
d er O rganisation, Jo sé Aiello, im R ahm en eines „Planes zur N orm alisie­
rung d er FM -R adios“ freigegeben, A nlass für vielfältige Spekulationen.
D e la R úa u n d die neue C O M F E R -F ü h ru n g u n ter G ustavo L ópez setz­
ten dieses D ek ret u m gehend außer K raft u n d ord n eten eine Ü b erp rü ­
fung aller besteh en d en H örfunklizenzen an.
L ópez sah sich nach eigenen A ngaben bei der A m tsübernahm e m it
einer Situation kon fro n tiert, die n u r K o p fschütteln auslösen konnte: So
b esteh t für A rgentinien kein brauchbares H ö rfunkregister, aus dem eine
Ü bersicht ü b er alle b esteh en d en H ö rfu n k sen d er gew onnen w erden
könnte. G eg en ü b er der T ageszeitung Página 12 erklärte der C O M F E R -
Chef, schätzungsw eise 80% der in A rgentinien operierenden 6000 Ra­
d io stationen funktionierten illegal. E s gehe jetzt zu n äch st darum , „das
S pektrum zu säu b ern “ (21.1.2000), v o r allem angesichts der E xistenz
298 F ra n k Priess

rechtsfreier Räum e. So h ätten F irm en ü b em ah m en, K äufe u n d V erkäufe


bisher stattgefunden, o hne bei C O M F E R u m entsprechende G en eh m i­
gungen n ach 2 usuchen. López: „D ie G eschäfte laufen eben schneller als
die B ürokratie.“ B esonders gem einnützigen, sogenannten „kom m unitä-
ren “ Radios w olle m an jetzt eine C hance der Legalisierung bieten. D eren
V erband A R C O ÇAsociación de Radios Comunitarias) vertritt nach eigenen
A ngaben ru n d 1000 Sender, v o n denen 25% im G ebiet der H auptstadt
B uenos A ires ansässig sind (M einecke 1992: 53).
G elegenheit dazu gibt es genug. A ngeblich schlum m ern ru n d 10.000
A nträge bei C O M F E R (La Nación, 22.1.2000), das sich bisher aus A b g a­
ben der terrestrischen (8% der E innahm en) u n d der K abel-Sender (6%
der E innahm en) sowie Strafgebühren etwa für W erbezeitverstöße finan­
ziert. D iese multas allerdings brau ch ten in der V ergangenheit ru n d zwei
Jahre, u m eingetrieben zu w erden, w enn sie n icht üb erh au p t gegen staat­
liche W erbezeit bei den Sendern v errech n et w urden, zu Lasten des
C O M F E R -H aushaltes. D ie letzte spektakuläre A ktion dieser A rt w ar die
Spot-R eihe Menem lo hisp, bei der der P räsident seine Leistungen vom
brasilianischen W erbefachm ann D u d a M endonça w ürdigen Heß. K o s­
ten p u n k t der A ktion: G eschätzte acht M ilkonen D ollar. D as generelle
V o rh ab en eines Schuldentauschs gegen W erbung, der sogenannte perdo­
nado, v o n M enem m it d em D ek ret 1520/99 n och vier Tage v o r E n d e der
A m tszeit herausgegeben, kassierte de la Rúa einstweilen, w obei zu be­
m erken ist, dass v o n einer solchen R egelung n icht zuletzt die staatkchen
M edien profitieren w ürden.

„K loaken-Journalism us“ auf dem Vormarsch?

M edienkritiker sehen tro tz der ausgew eiteten W ahlm ögHchkeiten für das
P u b k k u m eine galoppierende Program m verflachung, v o m „E rfolg des
K loaken-R atings“ spricht etwa die Z eitschrift Noticias. Parallel dazu sor­
gen schon seit vielen Jah ren die so g en annten Movileros für Schlagzeilen:
R eporter, die m it M ikrofon u n d K am era bew affnet an allen Schauplätzen
m eist in M assen auftreten u n d selten durch kluge Fragen auffallen. V om
W unsch getrieben, m ö g k ch st als erster zu Live-Statem ents vo n Zelebritä-
ten o d er O p fe rn zu gelangen oder d och zum indest nicht hinter der K o n ­
kurrenz herzuhinken, ist dabei scheinbar jedes M ittel recht. 1999 w aren
es in A rgentinien m ehrere Ereignisse, die hier besonders hervorstachen
u n d die E th ik -D eb atte neu entfachten:
Bei einer G eiselnahm e im Städtchen Ram allo, bei der sow ohl G ei­
seln als auch G eiselnehm er zu T o d e kam en, verfolgten die K am eras gie-
M ed ien u n d P olitik 299

rig auch das kleinste D etail m enschlichen Schm erzes. D e n K rankenw a­


gen gelang es kaum , m it V erletzten am P ulk der R ep o rter v o rbeizukom ­
m en. D ie A m bulanz m usste sogar einen anderen als den geplanten W eg
einschlagen, um die Ü berlebende Flora Lacave in die Poliklinik zu brin ­
gen. Selbstkritisch m einte O svaldo M enéndez, seit vierzehn Ja h re n als
R ep o rter v o n Radio M itre unterw egs: „H eu te verspüre ich wirkliche
Scham ü b er das eigene T un. W ir jo u m alisten haben uns wie V andalen
benom m en. W ir haben jegliche ethische V erantw ortung des Berufs außer
ach t gelassen.“ (X X II, 7.10.1999) Ä hnliches, w enn auch m it unblutigem
Verlauf, spielte sich ab, als ein o ffen b ar geistesverw irrter T äter fü n f
S tunden lang sechs G eiseln in den R äum en des W issenschaftsrates in
B uenos Aires festhielt. H ier versu ch ten Journalisten, ähnlich wie m an es
in D eu tsch lan d v o r einigen Ja h re n beim G eiseldram a in G ladbeck sehen
konnte, in eine V erm ittlerrolle zw ischen T äter u n d Polizei zu schlüpfen.
A u ch die B egründungen d er Jo u m alisten ähnelten sich: E ine beruhigen­
de Rolle habe m an spielen w ollen, zur E n tsch ärfu n g der Situation beitra­
gen. N o c h n ich t einm al diese flaue E n tschuldigung k o nnte gelten, als ein
P ulk v o n R ep o rtem a u f den gerade genesenen ehem aligen Staatspräsi­
den ten Raúl A lfonsin einstürm te, als dieser nach einem schw eren A u to ­
unfall das K rankenhaus verlassen konnte. B einahe w urde der alte M ann
um gew orfen, seine T o c h te r M ara u n d Sicherheitsbeam te w urden O p fe r
v o n Tätlichkeiten. D ie Z eitschrift X X I I titelte selbstkritisch: „La patria
m ovilera“, was frei ü b ersetzt etwa heißt: D as V aterland der rasenden Re­
porter. „R asend“ ist dabei n ich t u n bedingt n u r im Sinne E g o n E rw in
K ischs zu verstehen.
B etrachtet m an die Program m schem ata in jedem beliebigen latein­
am erikanischen Land, dom inieren B illigproduktionen aus den USA,
Talk- u n d Spielshow s sowie die nach wie v o r beliebten Telenovelas-. Sei-
fen o p ern in endloser F ortsetzung. M it B esorgnis sehen E lternorganisati­
onen, wie tro tz B estim m ungen für den Ju g endschutz w ährend des gan­
zen Tages P rogram m e ausgestrahlt w erden, die v o r allem für K inder
kaum geeignet sind. Bei einer E ltern u m frag e im A uftrag der P artei Nueva
Dirigencia bezeichneten 50% d er B efragten das T V -P rogram m für ihre
K in d er als „schlecht“ , den zu h o h e n G ew altanteil kritisierten sogar 90%.
G leichzeitig räu m ten 32% ein, dass das F ernsehen den g rößten Einfluss
a u f ihren N achw uchs ausübe, 46% n an n ten die E ltern , n u r 3% die Schu­
le u n d 6% Idole aus d er M usikszene. Z eichentrickfilm e m it brutalsten
Figuren u n d aggressiver D ram aturgie w irken nachhaltig au f die Psyche
M inderjähriger, auch w en n sich V erantw ortliche im m er w ieder m it zu
w enig eindeutig nachgew iesenen W irkungen herauszureden verstehen.
300 F ra n k P riess

A uch die enge V erb in d u n g v o n M edieninhalten u n d bew orbenen P ro ­


dukten, v o n Schleichw erbung zu sprechen w äre bereits ein E u p h e m is­
m us, ist kaum gesellschaftsverträglich: E ltern b erichte ü b er m arkenfixier­
te Youngster, entsp rech en d en G ru p p en d ru ck in Schule u n d K indergarten
u n d quengelnde K leinkinder im A ngesicht v o n T ele-T ubbie-P uppen, der
G lückschachteln v o n M cD onalds u n d Pokem on-V ideos füllen den alten
B egriff des K o n su m terro rs m it neuem Inhalt. W er da gerade in Z eiten
der R ezession n ich t m ithalten kann o d er m ithalten will, ist ganz schnell
ein A ußenseiter.

M edieneinfluss auf die Politik

Spätestens die P arlam entsw ahlen v o n 1997 u n d die P räsidentschaftsw ahl


v o n 1999 h ab en in A rgentinien deutlich gem acht, w elchen Stellenw ert
die M edien inzw ischen in der Politik einnehm en: O h n e einen detailliert
orchestrierten M edienw ahlkam pf, o hne V o rbereitung der Spitzenpoliti­
ker a u f ihre A u ftritte insbeso n d ere im F ernsehen, oh n e Fachleute, die
innerhalb w eniger S tunden a u f A ngriffs-Spots der G egenseite reagieren
könn en , k o m m t heu te kaum n o ch eine m o d ern e K am pagne aus. Bei al­
len nationalen U nterschieden u n d d er h o h e n B edeutung, die der jeweils
nationalen politischen K ultur, den gesellschaftlichen R ahm enbedingun­
gen u n d gesetzlichen Schranken zukom m t, h at sich in Lateinam erika ein
Stil etabliert, d er sich K am p ag n en in den U SA zum V orbild nim m t. D ass
zahlreiche nordam erikanische Spin-Doctors als W ahlhelfer in L ateinam eri­
ka im E insatz sind, verstärk t diesen T rend. H ier, im political marketing and
Consulting, zeichnet sich ein ech ter W ach stu m sm arkt ab. Fritz Plasser, P ro ­
fessor am Z e n tru m für A ngew andte Politikforschung in W ien u n d Be­
ob ach ter der Szene, schreibt in einer international vergleichenden Studie:
Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika sind inzwischen für die nordame­
rikanischen Consultants ein ebenso attraktives Geschäft wie Parlaments­
wahlen in Israel, Süd-Afrika oder den post-kommunistischen Staaten Ost­
europas oder Rußland selbst.

F ü r die M edien sind W ahlkäm pfe ebenfalls ein gutes G eschäft, bedenkt
m an, dass sich die W ahlkam pfkosten v o r allem aufgrund der steigenden
A usgaben für F ern seh w erb u n g v o n M al zu M al potenzieren. D ie W er­
bu n g h a t sich in erster Linie ins F ern seh en verlagert, Presse u n d H ö r­
funk sind dagegen w eit zurückgefallen. D ie v o n der N icht-
R egierungsorganisation Poder Ciudadano, dem argentinischen A bleger vo n
Transparency International a u f d er Basis eines M edien-M onitorings im
M ed ien u n d P olitik 301

W ahlkam pfjahr 1999 g en annten Z ahlen sind beeindruckend: So gaben


die argentinischen Präsidentschaftskandidaten allein zw ischen A ugust
u n d O k to b e r ru n d 80 M illionen D o llar für M edienw erbung aus. D e r
K an d id at d er P eronisten, E d u a rd o D uhalde, führte den A usgabenreigen
m it 40.398.147 D ollar an, gefolgt v o n F ern an d o de la R úa m it 33.727.944
D o llar u n d D o m in g o Cavallo m it 4.593.435 D ollar. H in zu kam en im
gleichen Z eitraum A usgaben d er P arteien v o n ru n d 30 M illionen D ollar.
A uch die R egierungen aller E b en en hielten sich im W ahljahr keineswegs
zurück: M it ru n d 19 M illionen D o llar w arb das Präsidialam t, m it 81 M il­
lionen die R egierung insgesam t. D ie Provinz des K andidaten D uhalde
betrieb m it ru n d 22 M illionen D ollar Im agew erbung u n d der v o m G e ­
genkandidaten D e la R úa geführte H au p tstad tb ezirk kaufte öffentliche
A ufm erksam keit für fast acht M illionen Dollar.
D ie Politik b em ü h t sich, w ichtige M edien in einem stark konzentrier­
ten M edienm arkt n ich t zu F einden zu haben. E n tsp rech en d stark ist de­
ren L obby, w enn es um E igeninteressen geht: E in gutes Beispiel dafür ist
der erfolgreiche K a m p f der M edien, Steuervorteile zu verteidigen, zum
Beispiel bei B efreiungen v o m kom pletten M ehrw ertsteuersatz. Politische
W erbung, v o r allem im F ernsehen, w ird großzügig eingesetzt u n d als
Staatsausgabe abgerechnet. H in zu k o m m en fragwürdige W erbegew ohn­
heiten: W erbespots finden sich etwa direkt im A nschluss an N achrich­
tensendungen, bedienen sich des gleichen F orm ats u n d verzichten au f
den H inw eis, dass es sich n ich t um einen redaktionellen Beitrag handelt.
D e r unbed arfte Z usch au er hält dann leicht die N achricht über den G o u ­
verneur, d er w ieder einm al ein neues H ospital, eine Straße oder eine
S portstätte einweiht, für einen Teil d er Sendung. W erbeagenturen u n d
ihre K lienten n u tzen diesen G laubw ürdigkeitsvorsprung u n d die Sender
b estehen angesichts der h o h en E in n ah m en nicht a u f einer eindeutigen
T rennung. E s fehlt eine G esetzgebung, die ein solches V erfahren im In­
teresse der B ürger w irksam unterbindet.
G anz generell stellt sich die Frage, w elche A usw irkungen E tats für
M edienw erbung h aben u n d wie diese eingesetzt w erden, eine D ebatte,
die aus D eu tsch lan d im U m feld der M aßnahm en des Presse- u n d In fo r­
m ationsam tes d er B undesregierung n ich t u n b ekannt ist. B edrohlich w ird
es, w enn m it solchen E tats F reunde b elo h n t u n d G egner bestraft w er­
den, wie es am deutlichsten in jüngster Z eit in P eru zu beobachten war.
H ier ist d er Staat mittlerw eile w ichtigster W erbetreibender, w eit v o r den
lange Z eit füh ren d en Brauereien, u n d seine M ittel halten nicht zuletzt
den Teil d er Sensationspresse am L eben, d er system atisch O p p o sitio n s­
politiker u n d kritische Jou rn alisten diffam iert. So augenfällig ist die Sache
302 F ra n k P riess

in A rgentinien nicht, sym biotische V erbindungen zw ischen M edien un d


politischen S tröm ungen sind allerdings auch n ich t gänzlich unbekannt.

D om inante Produktionslogik

D ie M edien u n d insbeso n d ere das F ern seh en zw ingen der politischen


A u seinandersetzung m e h r u n d m e h r ihre P roduktionslogik auf: P arteita­
ge w erd en auch in Lateinam erika v o r allem für das F ernsehen inszeniert,
der A n d ran g v o n P o lid k em in die Talk-Show s ist enorm u n d die A nw e­
senden d er üblichen W ahlveranstaltungen v o r O rt dienen in aller Regel
n u r n o ch als Staffage für die w eit größere F em sehöffentlichkeit. H inzu
kom m t, dass die Schw äche d er P arteien den M edien bei der Politikver-
m itd u n g zu einem klaren V o rsp ru n g verhilft, wie O scar L andi feststellt:
Die Medien haben bei bestimmten Gelegenheiten und Fragen die Parteien
substituiert, vielfach sind sie privilegierte Empfänger der Forderungen ge­
sellschaftlicher Bewegungen, seien sie nachbarschaftlicher, ökologischer,
feministischer oder kultureller Art. (Landi 1992: 42-43)

U n d er ergänzt:
Die Repräsentationskrise in weiten Teilen der lateinamerikanischen Parteien
im Umfeld der finanziellen Krise der Staaten und der Härte der Restriktio­
nen unserer Wirtschaften hat es dem Fernsehen erleichtert, sich als vorran­
giger Schauplatz und wesentlicher Akteur von Politik zu etablieren, (ebd.:
37)

E in m akabres Beispiel dafür findet sich sogar aus dem Bereich der K ri­
m inalität: „W ir sprechen n u r m it Jo u rn alisten “, ließ sich einer der G ei­
selnehm er in der N atio n alb an k des Städtchens Ram allo m itten im P räsi­
dentsch aftsw ah lk am p f 1999 v ern eh m en , als ein M o d erato r des H ö rfu n k ­
kanals Radio 10 ihn ü b er die bestehende T elefonverbindung m it dem
G eneralsekretär des Präsidialam tes in V erb in d u n g bringen w ollte, u m ei­
ne V erm itd u n g für eine friedliche L ö su n g zu eröffnen.
P olitiker ihrerseits versuchen, sich die P roduktionslogik der M edien
zunutze zu m achen. D abei k o m m t ih n en o ft die U n erfah ren h eit der Re­
p o rte r zu Hilfe, die d er S enator Jo rg e Y om a so charakterisiert:
Das sind nette Jungs, sympathisch ... Manchmal verstehen sie nicht, was sie
fragen sollen und wenn es nichts Greifbares zu berichten gibt sagen sie mir
schon mal: ,Na komm schon, Yoma ... denk Dir was aus, um Stimmung zu
machen.' Und natürlich tue ich ihnen den Gefallen ... . ( X X I I , 7.10.1999)
M ed ien u n d P olitik 303

A usgeprägt w ar diese Suche nach der T agesnachricht auch bei M enem s


langjährigem Inn en m in ister Carlos Corach: E r versam m elte jeden M or­
gen v o r seinem H aus die R ep o rter zu einer Statem ent- u n d Fragerunde.
A uch w en n sie für die Beteiligtet! n ich t im m er ergiebig w ar, hatte der
M inister m eist für den R est des Tages seine Ruhe. M it der Inszenierung
v o n M edienereignissen b em ü h t sich jetzt die M arketing-T ruppe F ernan­
d o de la Rúas, dem P räsidenten den R ücken freizuhalten. G leichzeitig
versuchen inzw ischen fast alle Parteien, ü b er das In te rn e t den D irek t­
k o n tak t zum W ähler zu finden u n d dam it die klassischen M edien zu u m ­
gehen. Bisher allerdings lassen sich diese ersten G ehversuche im neuen
M edium n ich t m it d em vergleichen, was etw a die nordam erikanische P o ­
litikszene im V orfeld der Präsidentschaftsw ahlen 2000 a u f die Beine
stellt: D o rt ist das In te rn e t für Politik längst nicht m ehr n u r ein Info rm a­
tionsm edium , son d ern zusätzlich ein w ichtiges In stru m en t des Fundrai-
sings u n d d er R ekrutierung v o n W ahlhelfern. E rfahrungsgem äß dürfte es
n ich t lange dauern, bis dieses Beispiel auch im C ono Sur Schule m acht.

D er hohe N achrichtenw ert von Um fragen

B ehebt ist a u f beiden Seiten des Spektrum s, bei M edien u n d Politik glei­
cherm aßen, d er E insatz v o n U m fragen. W ahlkäm pfe gleichen auch in
A rgentinien im m er m eh r P ferderennen, bei denen die täglichen D aten
ü b er sich v erändernde o d er auch gleichbleibende A bstände zw ischen den
K andidaten den R hythm us vorgeben. W issenschaftliche Präzision des
dem oskopischen Instrum entarium s bleibt da o ft a u f der Strecke. A uch
h ierfür lieferte das W ahljahr 1999 schlagende Beweise: Bei d er P rovinz­
w ahl in T u cu m än etw a ging der H erausforderer, der K andidat der Pero-
nisten, abends enttäu sch t ins B ett, als ih m die M einungsforscher a u f der
Basis ih rer „N ach frag e“ an den W ahlurnen die N iederlage bescheinigten.
A m nächsten M orgen w achte er als Sieger auf. D ie D em o sk o p en lagen
kräftig daneben. H aarsträu b en d e F ehler in M ethodik u n d D u rch fü h ru n g
kennzeichnen vielerorts die Realität: So w ird vo n m anchen Instituten so­
gar in R egionen m it einer T elefondichte v o n u n te r zehn P ro z en t au f T e­
lefoninterview s gesetzt. K lare K onsequenz: Fehlende R epräsentativität
d er B efragten, da v o r allem B ürger der oberen M ittel- u n d O berschicht
erreicht w erden. H in zu kom m t, dass zw ar M arktforscher Schichten ohne
adäquate K aufkraft ignorieren k ö n n en , W ah lforscher beim gleichen V er­
halten allerdings S chiffbruch erleiden.
D ie K o n sequ en zen ließen sich bei der G o uvem eursw ahl 1999 in der
Provinz B uenos A ires beo b ach ten , die am gleichen T ag wie die Präsi-
304 F ra n k Priess

dentschaftsw ahl stattfand. Bei d er seit 1987 üblichen W ähler-N achbefra-


gung, d er sogenannten boca de um a direkt nach deren Stim m abgabe, h a t­
ten die M einungsforscher d arau f verzichtet, die ru n d zwei M ilhonen
W ähler im U m land d er H a u p tsta d t zu berücksichtigen, die u n te r m ise­
rablen L ebensbedingungen in sogenannten villas leben. G erade bei ihnen
aber ist nach wie v o r eine b esondere Bindung an die peronisrische Be­
w egung vo rh an d en , die sie in b eso n d erer W eise zu m obilisieren versteht:
E n tsp re c h e n d galt die K andidatin der Allianz, G raciela Fernández Meiji-
de, fast bis M itternacht a u f d er Basis v o n U m fragedaten als klare W ahl­
siegerin, die A uszählung aber ergab einen V orsprung des peronisrischen
K an d id aten Carlos R uckauf v o n ru n d sieben Prozent! In der größten
S tadt dieser Provinz, La M atanza, feierte die A llianz-K andidatin Lidia
„Pinky“ Satragno bereits ihren Sieg, d en sie v o r jubelnden A nhängern ih ­
rer M u tter w idm ete, w ährend nach A uszählung der Stim m en der p e ro ­
nisrische K andidat A lberto B alestrini trium phierte, m it im m erhin fü n f
P ro z e n t V orsprung. W o A uftraggeber keine Q ualität verlangen un d v o r
allem a u f den Preis der U m frage schauen, bleibt selbst ein solches D esas­
ter ungeahndet. D eb atten am W ahltag u n d kurz danach sind schnell ver­
gessen. Im m erhin konfro n tierte n ich t n u r die W irtschaftszeitung A m bito
Financiero die U m frager m it ihren Irrtü m em : bei der P rognose des A u s­
gangs d er Präsidentschaftsw ahl irrten sich die Institute zw ischen vier u n d
sieben P u nkten, im m erhin aber sagten sie im G egensatz zu r Provinzw ahl
des gleichen A bends w enigstens alle den G ew inner richtig voraus. A ller­
dings b etru g d er A b stan d D e la R úas zu D uhalde schließlich 10,6% un d
nich t zw ischen 14 u n d 17% wie vorausgesagt. „Bei D u rch sich t aller U m ­
fragen“, so die Z eitung, „findet sich n ich t ein einziges Institut, das die
R esultate des Sonntags auch n u r an n äh ern d richtig vorausgesagt hat.“
D ie M edien w idm en U m frageergebnissen w eit größeren R aum als
früher u n d treten im m er häufiger als A uftraggeber eigener U m fragen in
Erscheinung. D ie g rößte Z eitung des L andes, Clarin, sicherte sich die ex­
klusiven D ien ste ihrer U m frage-T ochterfirm a C E O P , die K onkurrenz
v o n d er T ageszeitung F a Nación setzte a u f eine Z usam m enarbeit m it
dem argentinischen A bleger v o n Gallup. Viele kleinere Z eitungen aber
veröffentlichten das, was der M arkt hergab, m it allen D efiziten. A uch im
F ernsehen haben U m fragen K o n ju n k tu r, dagegen ist inhaltliche K o m ­
plexität a u f dem Rückzug. So resüm ierte der argentinische Politiker G u s­
tavo Béliz:
Die Form triumphiert über die Substanz, das Vorurteil über das Konzept,
die Unmittelbarkeit über die Tiefenschärfe, die unersättliche Suche nach
M ed ien u n d P olitik 305

dem Skandalösen über die seriöse Suche nach dem Inhalt von Vorschlägen
und Projekten. (Béliz 1997: 29)

D efizite finden sich w iederum auch bei den Journalisten: O ft sind sie
nich t hinreichend qualifiziert, die richtigen Fragen an eine U m frage zu
stellen u n d ihren W ert zu beurteilen. G erade v o n ihnen aber w äre im In ­
teresse der Ö ffentlichkeit eine sorgfältige P rü fu n g u n d V orsicht bei der
V eröffentlichung zu erw arten. Im m erh in gibt O scar O bregon, N achrich­
te n c h e f des Fernsehsenders Am érica T V m it Blick au f die V orkom m nisse
am W ahltag in der P rovinz B uenos A ires zu:
Mir scheinen Informationen auf der Basis der boca de uma gefährlich zu sein.
Ich stelle mir die Desillusionierung der Leute vor, die den Triumph von
Pinky schon feierten. Um allerdings auf dieses Instrument zu verzichten,
müsste wohl die offizielle Stimmenauszählung beschleunigt werden.

U n d sein K ollege Ricardo Cám ara, P ro d u zen t vo n A% ul T V differen­


ziert:
Das System der boca de uma ist ein wertvolles Informationsinstrument, trotz
der Fehler, die passieren können. Der Schlüssel liegt in der verantwortlichen
und vorsichtigen Handhabung. Wenn wir das bedenken, können wir es wei­
ter benutzen.

A ngesichts des Inform ations-W ettlaufs u n d der K onkurrenz u n te r den


M edien bleibt abzuw arten, ob sich diese K o nsequenzen auch einstellen.
Im m erhin k ö n n ten Fehler, die in ruhigen Z eiten, bei glaubw ürdigen
W ahlergebnissen u n d verantw ortungsvollen K andidaten „ n u r“ A rger
u n d E n ttäu sch u n g h ervorrufen, in anderen M om enten zu A ufruhr, O p ­
fern u n d m assiver Beschädigung der D em okratie führen. A uch dafür gibt
es w eltw eit Beispiele.
K o n seq u en zen h a t m itderw eile die Stadtverordnetenversam m lung
v o n B uenos Aires gezogen u n d für die B ürgerm eisterw ahl am 7. M ai
2000 die V eröffentlichung v o n U m fragen ab 48 S tunden v o r der W ahl
bis drei S tunden nach Schließung der W ahllokale verboten. „E s hat sich
gezeigt“ so d er U C R -A bgeordnete C hristian Caram , K o -A u to r des G e ­
setzesprojekts, „dass die V erbreitung der R esultate au f der Basis der boca
de um a zu K o n fu sio n fü h rt u n d die L eute irrtüm licherw eise zu m Feiern
a u f die Straße gehen. D ie M ethode h at in den vergangenen M onaten
m ehrfach versagt u n d das m üssen w ir begrenzen.“ D ass Regeln allein
n ich t genügen, zeigte d er W ahltag am 24. O k to b e r 1999: N ic h t einm al
die gesetzlich b esteh en d e 18-U hr-G renze zur V eröffentlichung der
W ahlnachfrage w urde v o n den M edien respektiert, auch nicht vom
306 F ra n k Priess

Staatskanal A T C . Im K a m p f u m die Z u schauergunst u n d m ögliche ra-


tikg-Gewinne ist m itderw eise eben jedes M ittel recht.
Wir sind stolz auf unseren Sieg: Schon um 17.12 Uhr haben wir De la Rúa
als Gewinner bekannt gegeben. Kein anderer Kanal hat sich entschlossen,
das so schnell zu vermelden,

b ek en n t Félix M olina, D ire k to r des N achrichtenkanals Crónica T V . D ie


Falschm eldung üb er den W ahlsieg F ernández Meijides in der Provinz
hingegen bringt ihn n icht u m den Schlaf. M olina zur T ageszeitung Ca
Nación:
Nach so vielen Übertragungsstunden kann das schon mal passieren. Das ist
allen Kanälen passiert. Das war ganz ähnlich wie bei der Wahl in Tucumán
vor einigen Monaten ....

A uch ein V erständnis v o n journalistischer Professionalität.

Vordergründige E ntpolitisierung der M edien

W ie die Beispiele deutlich m ach en sollten, liegt die eigentliche M acht bei
den M edien, nicht u n b ed in g t bei den Journalisten, die in ihnen beschäf­
tigt sind. N atürlich k en n t jedes L and seine Stars in diesem G enre, J o u r­
nalisten, deren T u n u n d L assen selbst G eg en stand journalistischer Be­
richterstattu n g gew orden ist. Sie, die für h ohe E inschaltquoten garantie­
ren, sind m eist im m er n och in d er Lage, w eitgehend ihre B edingungen
du rchzusetzen u n d sich einen h o h e n G ra d an U nabhängigkeit zu erhal­
ten: A u ch sie aber richten d en Blick ängstlich a u f ratings u n d die R eaktion
des Publikum s, sehen sich zu K o m p ro m issen zw ischen Q ualität und
M assengeschm ack gezw ungen.
Als Beispiel lassen sich in A rgentinien etwa die politischen M agazine
anführen, die inzw ischen h äutig einen „Journalism us light“ anbieten, der
A llerw eltsthem en aus dem U m feld d er Schönen, R eichen u n d B erühm ­
ten neb en harte politische Fakten u n d A nalysen stellt. N u r so halten sie
sich im Program m . M ariano G ro n d o n a etwa, d er m it seiner Sendung H o­
ra Clave jahrelang als V orbild für dieses G en re galt, gerät besonders dann
u n te r D ruck, w enn er seine S endung a u f prim är politische Inhalte aus-
richtet. Ratings v o n u n ter fü n f P ro z e n t sind dann keine Seltenheit. Im
G egensatz dazu erlebte er u n b ek an n te E insch altquoten, als er sich in sei­
nem P ro g ram m dem E h estreit d er F em sehdiva Susana G im énez w idm e­
te. Liier b etru g die E in sch altq u o te nie w ieder erreichte 25% . D ass N ac h ­
denklichkeit w enig gefragt ist —G ro n d o n a etwa ist gleichzeitig anerkann-
M ed ien u n d P olitik 307

ter A nalytiker u n d K o m m e n ta to r d er Z eitung I m Nación un d H o ch sch u l­


p rofesso r — bew eist das K o n k u rre n z p ro d u k t D ía D v o n Jo rg e Lanata,
gleichzeitig H erausgeber der Z eitsch rift X X II. L anata gelingt es m it ei­
nem Stil, der den deutschen Z usch au er an den frühen Friedrich K ü p ­
persbusch erinnern dürfte, fast d o p p elt so viele M enschen v o r den F ern ­
sehapparat zu locken wie G ro n d o n a. Analyse aber ist nicht unbedingt
sein M etier, eher der kurzfristige politische Skandal, die griffige F o rm u ­
lierung, auch sprachlich die bew usste V erletzung etablierter U m gangs­
form en. D ies trägt ihm dann K o m m en tare wie den des M edienkritikers
Pablo Sirven ein, d er schreibt: „M anche Skandaljoum alisten sind wie die
Schweine: w en n sie keinen M üll zum F ressen finden, spucken sie alles
M ögliche aus.“ (Noticias, 1.4.2000) D ies soll n ich t in A brede stellen, dass
es gerade L anata u n d seinem T eam gelingt, die politische T agesordnung
m itzubestim m en, zum Beispiel in F o rm v o n E nthüllungsgeschichten, die
v o n X X I I ausgehen u n d in D ia D ausgew eitet u n d visualisiert w erden.
Als politische B ühne hab en sich auch in A rgentinien im m er m eh r ei­
gentlich unpolitische Sendungen etabliert. Seit der saxophonspielende
Bill C linton außerhalb traditioneller V erm ittlungskanäle im F ernsehen
E rfo lg hatte, drängen auch lateinam erikanische Politiker in Form ate, die
eine deutliche U nterhaltungsorientierung aufweisen. Sich als „M ensch
wie D u u n d ich“ zu präsentieren h at einen C harm e, dem sich kaum ein
politischer A k teu r verschließen kann. D a fallen leicht die Schranken zum
P rivatleben, dessen Schutz w iederum reklam iert w ird, w enn es einm al die
S chattenseiten m enschlichen Z usam m enlebens zu berichten gilt. A uch
für diesen Z u sam m en h an g steh t d er frühere Staatspräsident Carlos Me­
n em nach w ie v o r synonym: die T ren n u n g v o n seiner F rau Zulem a, das
L eben seiner T o c h te r Z ulem ita, der T o d des Sohnes Carlitos, seine Be­
geisterung für G olf, den R en n sp o rt u n d die angenehm en Seiten des Le­
bens insgesam t w aren im m er für eine T itelgeschichte gut, n ich t im m er
allerdings z u r F reu d e des B etroffenen. D ie A useinandersetzungen m it
bestim m ten M edien, vorrangig m it d er Z eitschrift Noticias, sind in A rgen­
tinien unvergessen. N ic h t v o n u n g efäh r sahen sich viele Journalisten un d
n icht zu letzt die K arikaturisten nach dem E n d e der R egierung M enem
einer N achrichtenquelle b eraubt, w ar d o ch F ern an d o de la Rúa ein P rä­
sident, der im W ah lk am p f erfolgreich den F em sehspot: „M an sagt, ich
sei langweilig ...“ einsetzte u n d dam it versuchte, ihm zugeschriebene
C harakterzüge offensiv au fzunehm en u n d selbstironisch zu verm arkten.
308 F ran k P riess

Politische Präferenzen der Journalisten

D e r bereits erw ähnte Jo rg e L anata ist ebenfalls ein gutes Beispiel dafür,
dass auch in A rgentinien das H erz vieler Jou rn alisten nach wie v o r links
schlägt. So stuften sich in d er U m frage v o n R o sendo Fraga (1997: 126)
66,6% d er befragten Jou rn alisten als „links“ o d er „m itte-links“ ein, w äh­
ren d n u r 15% sich als „rech ts“ o d er „m itte-rechts“ bezeichneten. D ies
schlägt sich auch in P arteipräferenzen nieder, wie ein Blick au f das J o u r­
nalistenvotum bei den Präsidentschaftsw ahlen 1995 zeigt. D iese w urden
bekanntlich v o n M enem m it absoluter M ehrheit gew onnen. Bei den
Jo u rn alisten kam er nach deren B ekunden aber n u r au f einen S tim m en­
anteil v o n 9,2% , w äh ren d 62,5% für den K andidaten der Linkspartei
F R E P A S O g estim m t hab en w ollten. K ein W u n d er also, dass M enem
nach dieser W ahl stolz d a ra u f w ar, sie v o r allem gegen „die M edien“ ge­
w o n n en zu haben. Spätere U m fragen, zum Beispiel v o n Luis M ajul u n d
E n riq u e Z uleta P uceiro, bestätigten Fragas D aten.
E in durchaus gespanntes V erhältnis zw ischen E xekutive u n d „vier­
ter“ G ew alt begleitete folgerichtig M enem s zweite A m tszeit, auch w enn
V erallgem einerungen im m er m it V o rsich t zu genießen sind. E inen H ö ­
h ep u n k t erreichte es v o r der Parlam entsw ahl 1997 u n d angesichts einer
sich ab zeichnenden N iederlage der Peronisten: W irtschaftsm inister R o ­
que Fernández sah hier einen d ro h en d en golpe de estado mediático, einen
M edienstaatsstreich k o m m en , ein B egriff, den er allerdings auch auf­
gru n d v o n In terv en tio n en M enem s zu rü ck n eh m en m usste. D ieser selbst
w iederum zog sich den Z o rn der M edien zu, als er im gleichen M onat
u n te r V erw en d u n g eines Z itats v o n B enjam in Franklin den E in d ru ck er­
w eckte, d en Jo u rn alisten die Prügelstrafe an g ed ro h t zu haben. Sogar die
N ew York Times n ah m sich in einem überaus kritischen editorial der Sache
an u n d titelte: „K rieg gegen A rgentiniens M edien“ . M ariano G ro n d o n a
qualifizierte die B eziehung R egierung-M edien in der M enem -Z eit wie
folgt: „D ie R egierung n im m t alle Journalisten, m it denen sie nicht be­
freu n d et ist, autom atisch als Feinde w ah r.“ (Noticias, 5. Juli 1997)
A uch im W ah lk am p f 1999 w ar es der K an d id at der P eronisten, E d u ­
ardo D uh ald e, d er sich k o n fro n tativ der M edien annahm . W ieder w ar die
Z eitsch rift Noticias einer der H auptgegner. U n ter der Ü berschrift „D ie
K o rru p tio n D u h ald es“ hatte sich Noticias u n ter anderem der Situation
der Polizei u n d d er Sozialausgaben in D u haldes P rovinz B uenos Aires
gew idm et, was ih r seitens des K andidaten den V o rw u rf eintrug, v o n de la
Rúa gekauft w o rd en zu sein. „Ich habe keine Zw eifel daran, dass es M e­
dien gibt, die ihre T itelseiten verkaufen u n d andere, die das dan n in guter
M ed ien u n d P olitik 309

A b sich t n ach d ru ck en “, ließ sich D uh ald e laut "Página 12 (27.9.1999) ver­


neh m en , ein V orw urf, den sow ohl Noticias als auch de la Rúas ,^Allianz“
v eh em en t zurückw iesen. A uch w enn m an die Situation des W ahlkam pfes
m it dem üblichen T h eaterd o n n er ebenso in R echnung stellt wie die ver­
gleichsw eise h o ffnungslose Situation des K andidaten D uhalde, versinn­
bildlicht d er V organg doch, wie g estö rt das V erhältnis v o n M edien u n d
Politik vielfach ist. B estätigungen findet m an in G esprächen m it Politi­
kern v o r allem dann, w enn diese keine V eröffentlichung des G esagten
fürchten m üssen.
M it A usnahm e d er W irtschaftszeitung A m bito Financiero m achte zw ar
kein M edium eine ausgeprägte Parteilichkeit in der B erichterstattung
w äh ren d des W ahlkam pfes aus u n d kein Politiker reduzierte den W ahl­
ausgang a u f b estim m te M edienpräferenzen, zu denken aber gibt es doch,
w en n A m bito schreibt:
Die Vorwahl-Presse reflektierte nichts anderes als das wiederholte und ab­
solute Fehlen von Objektivität im nationalen Journalismus, bedroht durch
permanente Zweifel und befruchtet durch finanzielle Pakte und die Suche
nach Beteiligung an der Macht und einer künftigen finanziellen Bonanza, sei
es mit der augenblicklichen oder einer zukünftigen Regierung. Natürlich
führt diese Partei-Politisierung der argentinischen Presse, abgesehen vom
damit einhergehenden Niveauverlust, zu einer Belastung der öffentlichen
Haushalte. (A m bito Financiero, 26.10.1999)

U n terstellt w ird n ich t die p erm an en te B egünstigung einer Partei, so n d em


der T ausch positiver N ach rich ten gegen en tsprechende w irtschaftliche
V orteile für das M edium , unabhängig davon, w er gerade regiert.
M enem s N achfolger D e la Rúa k o n n te zum indest in den ersten M o­
naten seiner A m tszeit a u f ein en tspann teres V erhältnis zu w ichtigen
L eitm edien u n d v o r allem a u f eine freundlichere Presse blicken. 80% der
Ü b erschriften in Clarín, die sich m it der R egierungsarbeit beschäftigten,
w aren nach einer Studie d er C onsulting Germano&Giacobbe zw ischen dem
10. D ez e m b e r 1999, dem T ag des A m tsan tritts D e la Rúas, u n d dem 23.
F eb ru ar 2000 positiv, bei F a Nación w aren es im m erhin noch 73 Prozent.
V o m Präsidenten geschickt inszenierte M edienereignisse, zum Beispiel
seine politischen Fem reisen in L inienm aschinen statt im v o n M enem viel
gen u tzten P räsidentenjet „T ango 0 1 “ u n d seine auch so nst bew usst zur
Schau gestellte B escheidenheit fanden freundliche A ufnahm e u n d w ur­
den nicht hinterfragt. K ein W under, w en n ein A nhänger des früheren
Präsidenten schäum te: „D iese Regierung b rau ch t (den Staatssender, F. P.)
A T C n ich t für eine K am pagne, sie h a t schließlich Clarín u n d F a Nación.
310 F ra n k P riess

Fraglich ist allerdings, o b dieser honeymoon andauert u n d auch stürm ische


P hasen ü b erstehen kann. F ür zahlreiche B eo b achter erklärt sich die ein­
gangs erw ähnte Sym pathie vieler Journ alisten für F R E P A S O nicht z u ­
letzt aus deren O ppositionsrolle gegen das E tablierte, v o r allem gegen­
ü b er einem lange als sehr m edienkritisch geltenden Peronism us. „Journa­
lism us ist O p p o sitio n “, fasst Carlos B en diese H altung zusam m en. A uch
die R egierung D e la Rúa k o n n te som it leicht in den Sog einer allgemei­
nen P olitikverdrossenheit geraten, die die M edien m e h r denn je kultivier­
ten.

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Rut Diamint

Streitkräfte und Demokratie

E inleitung

M itte d er 1980er Jah re fanden in A rgentinien drei E rh eb u n g en der Streit­


kräfte statt, die trotz ihres beschränkten E rfolges Zw eifel hinsichtlich der
K onsolidierung der D em o k ratie u n d der M öglichkeit eines erneuten
Staatsstreiches aufkom m en ließen. D e r v o rerst letzte A u fstan d fand 1990
statt, w urde rasch gew altsam u n terd rü ck t u n d hinterließ ein Saldo v o n
m ehreren T o ten . Seitdem n ah m die Ü berzeu g ung zu, dass die N atio n da­
m it den Zyklus v o n Staatsstreichen ü b erw unden habe. D ie Spielräum e
d er Streitkräfte w u rd en eingeschränkt, sie sind nicht dazu in der Lage, die
allgem eine politische T ag eso rd n u n g gem äß ihren Interessen zu gestalten
u n d k ö n n en auch in sicherheitspolitischen Fragen keinen dom inierenden
E influss ausüben. T ro tz d e m b ed eu tet dies w eder, dass autoritäre K o n ­
zep tio n en vollständig aus den m ilitärischen In stitutionen verschw unden
w ären, n o ch dass die Streitkräfte sich durch tiefe Ü berzeugungen im
Sinne einer V erteidigung der D em o k ratie auszeichnen w ürden.
Bei den folgenden B etrachtungen w ird sich zeigen, dass sich die
S treitkräfte nach wie v o r in die nationale Politik einm ischen. Z w ar haben
die Streitkräfte die Spielregeln der D em okratie akzeptiert, sie halten sich
selbst als politischen A kteur jedoch n ich t für völlig unentbehrlich. D iese
H altu n g ist inso fern beunruhigend, als sie an die in autoritären Phasen
kultivierten Praktiken a n k n ü p ft u n d d er U ngew issheit ü b e r die dem okra­
tischen Ü berzeugungen der M ilitärs neue N a h ru n g gibt. E in Staatsstreich
ist allerdings desw egen n ich t am H o riz o n t auszum achen. D ies hängt
auch m it den globalen D em okratisierungstendenzen, m it den durchge­
fü h rten S taatsreform en im Sinne v o n M odernisierung u n d M arktöffnung
sowie m it den A usw irkungen beständigen D rucks v o n Seiten der Zivilge­
sellschaft zusam m en. Zw eifellos w u rd en bei der D em ilitarisierung der
argentinischen G esellschaft F ortsch ritte gem acht, auch w enn ein V er­
gleich der Realität m it theoretischen K o n zep ten v o n A u to ren wie H u n ­
tin g to n u n d Stepan bedeutende Schw ächen im H inblick a u f das Idealm o­
dell ziviler Suprem atie belegt.
D ie T ran sfo rm atio n der R olle der Streitkräfte ist auch im Z usam ­
m en h an g m it deren Scheitern bei der F ü h ru n g des Staates sowie a u f mili-
314 R u t D ia m in t

tärischer E b e n e zu sehen. H inzu ko m m en externe Faktoren wie die U n­


sicherheiten nach dem E n d e des K alten K rieges u n d interne A spekte wie
die A usw irkungen der K ü rzu n g en im M ilitärhaushalt. Z u r M ission der
Streitkräfte g eh ö rt es n ich t m ehr, W ächter d er N ation gegenüber einem
hypothetischen V ordringen des K o m m u n ism us im Inneren zu sein.
A u ch im H inblick a u f die L andesverteidigung gegenüber externen Be­
d ro h u n g en h at sich die Situation grundlegend verändert, denn die G eg­
ner v o n einst sind heute P arm er im R ahm en eines integrierten M arktes.
A llerdings bleiben einige Fragen offen, beispielsweise: W elche A u s­
w irkungen hab en die n icht elim inierten V o rrechte der Militärs au f die
dem okratischen Institutionen? W elcher Strategien bedienen sich die
Streitkräfte, um zum indest einen Teil ih rer M acht zu bew ahren? W elche
H altu n g w ü rd en die O ffiziere im Falle einer K rise der D em okratie ein­
nehm en? B eeinträchtigt die Identitätskrise d er Streitkräfte die Stabilität
der D em okratie? Vielleicht m üssen w ir erkennen, dass die dem okrati­
schen G esellschaften trotz des F o rtb esteh en s einer w enig liberalen und
toleran ten politischen K u ltu r in vielen L ändern Lateinam erikas selbst
dann F ortsch ritte verzeichnen können, w en n w eiterhin Praktiken existie­
ren, die gegen das Regim e gew andt sind.
Selbst in L ändern, in denen die M ilitärs n och ü b er beachtliche V o r­
rech te verfügen, ist es d er D em o k ratie gelungen, F ortschritte au f G eb ie­
ten zu erzielen, die v o n den Streitkräften m it b esonderer A ufm erksam ­
keit b eo b ach tet w erden; dies b etrifft u.a. die A nklagen w egen M enschen­
rechtsverletzungen, K ürzungen in den M ilitärhaushalten, die P artizipati­
on d er P arlam ente bei Fragen der V erteidigungspolitik u n d die A bset­
zung v o n führenden m ilitärischen A m tsträgem (D iam int 1999). Solche
E ntsch eid u n g en w u rd en v o n den argentinischen Zivilregierungen g etro f­
fen u n d sprechen für einen Strategiew echsel d er herrschenden Eliten, die
nicht länger als V erb ü n d ete d er Streitkräfte angesehen w erden können.
Im V erlau f des vergangenen Jah rzeh n ts h at sich in A rgentinien eine neue
politische M atrix herausgebildet, eine neue F o rm der w echselseitigen B e­
ziehungen zw ischen A kteuren u n d In stitu tio n en (Acuña 1995). Z u r Bei­
legung v o n Interessenkonflikten zw ischen den verschiedenen A kteuren
gelten heutzutage die Spielregeln d er D em o k ratie u n d nicht G arantien
v o n Seiten d er Militärs. A ngesichts dieser neuen K onstellation m ussten
auch die Streitkräfte nach neu en F o rm en suchen, um sich einen gewissen
G ra d d er E influssnahm e a u f das politische u n d soziale G eschehen zu
bew ahren. Ih re erste P rio rität gilt dabei der V erteidigung der eigenen In­
stitu tio n (Zagorski 1992).
S treitkräfte u n d D em o k ratie 315

Im folgenden A b sch n itt w ird geschildert, wie m an in A rgentinien


w äh ren d des Ü bergangs zur D em okratie m it dem T hem a Streitkräfte
um gegangen ist. A nschließend w ird die Strategie der R egierung M enem
gegenüber den Streitkräften untersucht. Im dritten A b sch n itt erfolgt eine
Analyse der m ilitärpolitischen E ntscheidungsprozesse. D e r vierte A b ­
sch n itt b ezieh t sich a u f die zivil-m ilitärischen B eziehungen. Als fünfter
A spekt w ird die V erteidigungspolitik analysiert.

Der U m g a n g m it den Streitkräften unter Alfonsin

D ie letzte M ilitärdiktatur (1976-1983) hatte sich selbst als „P rozess der


nationalen R eorganisation“ bezeichnet u n d w ar m it dem A nspruch ange­
treten, die „ O rd n u n g w iederherzustellen“, d och als sich die M ilitärs 1983
in die K asern en zurückziehen m ussten, w aren sie sow ohl politisch als
auch m ilitärisch a u f d er ganzen Linie gescheitert. D e r A nfang v o m E n d e
d er D ik tatu r begann m it dem verhängnisvollen Fehler, sich au f eine krie­
gerische A useinandersetzung m it der w ichtigsten M ilitärm acht W esteu­
ropas einzulassen u n d m achte deutlich, wie sehr sich die Militärs h in ­
sichtlich der intern en u n d externen politischen Situation geirrt hatten.
D ie Bilanz d er D ik tatu r w ar aber auch so n st in jeder H insicht katastro­
phal. E ine zerrüttete V erw altung, das m oralische V ersagen, die E rh ö ­
h u n g d er A uslandsschulden v o n 7 M illiarden US$ (1976) a u f 44 Milliar­
den US$ (1984), die V erstöße gegen die M enschenrechte, die heftigen
A ngriffe gegen die R echtsordnung, dies sind einige Beispiele für das E r­
be d er D iktatur, die erklären können, w arum die Rolle der Streitkräfte
v o n d er argentinischen G esellschaft grundlegend in Frage gestellt w urde.
D ie M ilitärs sahen sich m it einer ganzen Palette vo n V orw ürfen k o n fro n ­
tiert: K o rru p tio n , B ürokratisierung, Ineffizienz un d D isziplinlosigkeit.
N ach d er N iederlage gegen G ro ß b ritan n ien blieb den Streitkräften ein
Jah r, um ihren R ückzug in die K asernen zu organisieren. D ie Streitkräfte
w aren besiegt w orden, aber nicht vernichtet, w eshalb es ihnen auch w äh­
ren d der R egierungszeit v o n Raúl A lfonsin w iederholt gelang, ihren kor­
porativen Interessen G e h ö r zu verschaffen.
Sieben Ja h re M ilitärdiktatur h atten in vielerlei H insicht ihre Spuren
hinterlassen, v o n den politischen Parteien, den G ew erkschaften u n d Be­
ru fsverbänden bis hin zu den U niversitäten u n d den Praktiken des tägli­
chen Z usam m enlebens (R ouquié 1988). D ie neue zivile R egierung m u ss­
te n ich t n u r ein zerrüttetes L an d verw alten, so n d em gleichzeitig die Re­
kon stru k tio n eines sozialen G eflechts un terstützen, dessen Institutionen
stark in M itleidenschaft gezogen w aren. D ie R egierung A lfonsin (1983-
316 R u t D ia m in t

1989) tat sich schw er dam it, eine koh ären te u n d entschiedene Politik in
M ilitärfragen zu verfolgen. D ie Zivilgesellschaft verfügte ihrerseits nicht
üb er die notw endigen K räfte u n d R essourcen, um sich an der L ösung
der en tsprechenden P ro b lem e zu beteiligen. D ie R egierung w ar nicht da­
zu in d er Lage, den K o n flik t m it d en Streitkräften zu lösen un d no ch
w eniger, eine zw ischen M ilitärs u n d Zivilisten abgestim m te V erteidi­
gungspolitik a u f den W eg zu bringen.
A lfonsin begann sein M andat m it zwei D ekreten, die bereits w ährend
des P räsidentschaftsw ahlkam pfes angekündigt w o rd en waren: A m 12.
D ez e m b e r 1983 w u rd en gerichtliche U n tersuchungen gegen die fü hren­
den K ö p fe d er in d en 1970er Ja h re n aktiven G uerillaorganisationen an­
geord n et (D ekret N o . 157), einen T ag später U ntersuchungen gegen die
M itglieder der drei M ilitärjuntas, die seit 1976 an der M acht gew esen w a­
ren (D ekret N o . 158). G leichzeitig legte der P räsident dem P arlam ent ei­
nen G esetzen tw u rf vo r, d er die A u ßerkraftsetzung u n d A nnullierung der
v o n den M ilitärs im S eptem ber 1983 verk ü n deten Selbstam nestie v o r­
sah.1
Im Z e n tru m der M ilitärpolitik der U C R -R egierung stand die Stär­
kung des V erteidigungsm inisterium s u n d die V erabschiedung eines n e u ­
en V erteidigungsgesetzes. D as M inisterium sollte eine effektive K o n tro l­
le sow ohl ü b er die F ü h ru n g der Streitkräfte als auch hinsichtlich des Mili­
tärhaushaltes, der G eh älter u n d d er P ro d u k tio n v o n R üstungsgütem aus­
üben. E in anderes E lem ent, m it dessen H ilfe die L egitim ität der Streit­
kräfte erneuert w erd en sollte, w ar die M ilitärreform . „D ie M ilitärreform
[...] m uss einen neu en m oralischen T o n im R ahm en des vollständigen
R espekts gegenüber d er verfassungsm äßigen O rd n u n g gew ährleisten“ ,
sagte P räsid en t A lfonsin in einer R ede v o r der K am eradschaft der Streit­
kräfte aus A nlass der Feierlichkeiten zu m U nabhängigkeitstag am 9. Juli
1985. E r fügte hinzu:
Statt Verteidiger der nationalen Gemeinschaft zu sein, haben sich die Streit­
kräfte in deren Führer und Verwalter verwandelt, was einer Negation des
entscheidenden Kerns der Rolle der Streitkräfte in einer zivilisierten, mo­
dernen und komplexen Nation entspricht [...]. (zitiert nach Clarín , 6. Juli
1985: 3)

1 D as als „G esetz zur nationalen B efriedung“ bekannte D ekret 22.924 v o m 22. Sep­
tem ber 1983 stellte d e n letzten V ersuch der Streitkräfte dar, die zukünftige verfas­
sungsm äßige Regierung a u f eine ihren Interessen gem äße Politik festzulegen.
S treitkräfte u n d D em o k ratie 317

D e r G ru n d te n o r dieser K ritik verdeutlicht den konfliktiven Stil, durch


den sich die B eziehungen zw ischen S treitkräften u n d R egierung nach
dem Ü bergang zu r D em o k ratie auszeichneten. U m diese B eziehungen
a u f den rech ten W eg zu bringen, setzte die R egierung au f folgende M aß­
nahm en:
1.) A bschaffung der P o sten der O b erk o m m andierenden der drei Teil­
streitkräfte, w od u rch d er G en eralstab sch ef zum höchstrangigen O f­
fizier aufgew ertet w urde;
2.) E tab lieru n g des V erteidigungsm inisterium s als politische F ü h ru n g s­
instanz der Streitkräfte;
3.) U m w andlung des G em einsam en G eneralstabs in ein O rgan zu r In te­
gration u n d Z entralisierung d er Teilstreitkräfte;
4.) R efo rm d er M ilitärrechtsordnung u n d des zivilen Strafprozessrech­
tes, die v.a. B erufungen gegen v o n M ilitärtribunalen ausgesprochene
U rteile v o r den Zivilgerichten erm öglichen sollte. M it dem im F eb­
ruar 1984 v erabschiedeten G esetz 23.049 w urde der T ätigkeitsbe­
reich d er zivilen B undesgerichte als A p pellationskam m er ausgewei­
tet. In erster Instanz behielt jedoch die M ilitärjustiz ihre Z uständig­
keit. D ie R egierung verfolgte die Idee eines Selbstreinigungsprozes­
ses innerhalb der Streitkräfte. D ies setzte aber voraus, dass diese die
Illegitim ität d er im K a m p f gegen die Subversion angew andten M ittel
anerkennen w ürden. D ie R eaktion d er M ilitärgerichte entsprach die­
sen E rw artungen ganz u n d gar nicht.
5.) E in rich tu n g gem einsam er R egionalkom m andos, u m die Z usam m en ­
arbeit zw ischen den W affengattungen zu verbessern.

D ie R eform vorschläge trafen a u f diverse Schwierigkeiten. D a zu gehörten


die w irtschaftlichen P roblem e, das Fehlen v o n H u m anressourcen zur
V erw irklichung des W andels, v o r allem aber der W iderstand v o n Seiten
d er Streitkräfte, die nicht dazu bereit w aren, die L egitim ität der zivilen
K o ntrolle anzuerkennen.
M it d em Präsidialdekret 1 8 7 /8 3 w u rd e die C O N A D E P geschaffen,
eine K om m issio n zu r U ntersu ch u n g des V erschw indens v o n P ersonen
w ährend der D iktatur. Ih r g eh ö rten anerkannte Persönlichkeiten des öf­
fentlichen L ebens sowie aus unterschiedlichen parteipolitischen R ichtun­
gen an.2 D ie E xekutive v ertrat die A nsicht, dass „die M enschenrechtsfra-

2 Es handelt sich um Ricardo C olom bres, René Favaloro, I lilario Fernández Long,
Carlos G . G attinoni, G regorio Klimovsky, Marshall M eyer, Jaim e F. de N evares,
E duardo Rabossi, M agdalena Ruiz G uiñazú u n d E rn esto Sábato.
318 R u t D ia m in t

ge n ich t n u r die öffentlichen Institu tio n en angeht, sondern die Zivilge­


sellschaft u n d die internationale G em einschaft betrifft“, w eshalb sie
nicht dazu bereit war, d er F o rd eru n g nach E inrichtung einer parlam enta­
rischen U ntersuchungskom m ission zu entsprechen. In der T a t fürchtete
die R egierung die parteipolitische Instrum entalisierung einer derartigen
K om m ission.
D ie Streitkräfte zeigten ein korporatives V erhalten u n d sahen sich
durch die R egierung herausgefordert, die sie global als F eind qualifizier­
ten. D as G efühl, v o n der G esellschaft angegriffen zu w erden, verstärkte
sich, als im A pril 1985 der öffentliche P rozess gegen die ehem aligen
K o m m an d an ten der M ilitärregierung begann. D ie K luft zw ischen Zivilis­
ten u n d M ilitärs vertiefte sich, w ährend die R egierungspartei die V erab ­
schiedung eines V erteidigungsgesetzes verzögerte, das als R ahm en für
die zivil-m ilitärischen B eziehungen dienen sollte. U nerklärlicherw eise
w urde n ich t versucht, sich a u f eine gem einsam e Strategie m it der O p p o ­
sition zu einigen. D ie Regierungspolitiken, w elche die V erantw ortlichen
der M ilitärdiktatur zur R echenschaft ziehen sollten, führten zu r Schw ä­
chung d er Institu tio n M ilitär als solche u n d provozierten unerw ünschte
E ffekte. D ie M ilitärs k o n n te n — u n d w ollten — nicht die V orzüge einer
konstitutionellen D em okratie erkennen sowie der M öglichkeit, sich ohne
politische V erpflichtungen zu professionalisieren, auch w enn sie d u rch ­
aus ihre D efizite im H inblick a u f die V erteidigungsaufgabe anerkannten.
D ie übereilte A n tw o rt d er Regierung a u f die S pannungen bestand
darin, „eine Situation d er R echtsunsicherheit zu beenden, was zu r Be­
friedung der G e m ü te r u n d zu r Sicherung des Z usam m enlebens zw ischen
allen A rgentiniern beitragen“ w erde; p er G esetz schränkte sie den Z e it­
rau m für die A u fnahm e n eu er P rozesse w egen M enschenrechtsverlet­
zungen w äh ren d der D ik tatu r stark ein ÇLey de Punto Final', „Schluss­
p un k tg esetz“).3 E s blieben lediglich zwei M onate Zeit, u m alle A nklagen
w egen D elikten im Z usam m en h an g m it d em K a m p f gegen die Subversi­
on zu erheben. N ach A nsicht der V erfechter des G esetzes w ürden sich
dadurch die G e m ü te r d er Streitkräfte beruhigen lassen. G leichzeitig
verbliebe der B evölkerung n o ch eine gewisse Zeit, u m A nzeigen gegen
die M ilitärs einzureichen. In einer verantw ortlichen u n d für die Streit­
kräfte überrasch en d en A rt u n d W eise b em ü h ten sich die B undesgerichte
jedoch darum , innerhalb des durch das G esetz konzedierten Z eitraum es

3 D ieses G esetz (23.492) verfügte die Einstellung der Strafverfolgung gegen jede P e r­
son, die nicht innerhalb von 60 T agen nach Inkrafttreten des G esetzes durch ein z u ­
ständiges G ericht zur V ernehm ung vorgeladen w urde.
S treitk räfte u n d D e m o k ra tie 319

alle M ilitärs, gegen die V erd ach tsm o m en te Vorlagen, gerichtlich vorzula­
den. D am it w ar die H o ffn u n g d er R egierung hinfällig, m it dem Schluss­
punktgesetz könne m an die R uhe innerhalb der Streitkräfte w iederher­
stellen. D ie Flut v o n innerhalb k ürzester Z eit a u f den W eg gebrachten
S trafverfahren führte eher n och zu einer V erstärkung der U nruhe.
D ieses K lim a gab den R ahm en ab für ein anderes P hänom en, das
d er ersten post-diktatorialen R egierung großes K o p fzerbrechen bereitete:
die m ilitärischen E rhebungen. D e r erste A u fstan d fand in der O sterw o ­
che 1987 durch eine G ru p p e v o n O ffizieren u n te r F ü h rung v o n O b e rst­
leutnant A ldo Rico statt. E r begann m it d er W eigerung des M ajors E r­
nesto Barreiro, der V orladung durch das B undesgericht m it Sitz in C o r­
d oba Folge zu leisten. D ie A ufständischen selbst bezeichneten ihr H a n ­
deln als „O p eratio n W ü rd e“ u n d b etrach teten es als ihre M ission, die
E h re w iederzuerlangen u n d die D isziplin w iederherzustellen. Sie sahen
sich als H eld en des M alvinas-K rieges u n d als M ärtyrer des K am pfes ge­
gen die Subversion. Sie bildeten eine G ru p p e, die gegen das System, d.h.
gegen das republikanische u n d dem okratische Regim e agierte u n d sich
durch stark nationalistische u n d fundam entalistische T endenzen aus­
zeichnete.
Im Mai 1987 w urde ein zw eites a u f Initiative der R egierung erarbei­
tetes G esetz m it K o n seq u en zen für die juristische A ufarbeitung der
M enschenrechtsverletzungen w äh ren d der D ik tatu r verabschiedet, das
sogenannte „G esetz ü b er die G eh o rsam sp flich t“ (Ley de Obediencia Debi­
da; G esetz 23.521).4 D am it sank die A nzahl der P rozesse w egen M en­
schenrechtsverletzungen, die sich infolge des Schlusspunktgesetzes be­
reits a u f 450 reduziert hatte, w eiter, u n d zw ar a u f etwa 100 Fälle. Im V er­
lau f d er V erh ö re ging die Z ahl a u f 20 Fälle zu rü ck u n d zuletzt blieben
n u r n o ch 18 übrig.
Im A pril 1988 w urde nach langen V erhandlungen u n d D eb atten m it
den Militärs u n d ihren zivilen V erb ü n d eten das V erteidigungsgesetz (G e­
setz 23.554) verabschiedet. D am it w urden die A ufgaben der Streitkräfte
bei der L andesverteidigung definiert u n d ihre Partizipation bei Fragen

4 In Artikel 1 des G esetzes heißt es: „[...] können nicht strafrechtlich verfolgt w erden
w egen D elikten, a u f die sich Art. 10, A bsatz 1 des G esetzes 23.049 bezieht, weil sie
in A usübung der G ehorsam spflicht gehandelt haben. [...] In solchen Fällen wird es
als vollständig m it dem R echt übereinstim m end betrachtet, dass die genannten P er­
sonen in einer Z w angssituation bei U n terordnung u nter eine übergeordnete A utorität
und in E rfüllung v o n Befehlen operierten, ohne die Fähigkeit o der die M öglichkeit
zur U ntersuchung, der O ppo sitio n oder des W iderstandes gegen diese, hinsichtlich
ihrer A ngem essenheit o der Legitim ität.“
320 R u t D ia m in t

der in n eren Sicherheit eingeschränkt. E in N adonaler V erteidigungsrat


(Consejo de Defensa Nacional, C O D E N A ) u n te r V orsitz des Staatspräsiden­
ten w urde eingerichtet. D ie A ufgaben des G em einsam en G eneralstabs
w u rd en neu definiert. E s w urde festgelegt, dass binnengerichtete nach­
richtendienstliche Tätigkeiten keine A ufgabe d er m ilitärischen E inrich­
tungen sein durften.
Paradoxerw eise w urden trotz d er K o n fro n tatio n zw ischen Regierung
u n d Streitkräften in dieser Phase Pläne für eine strategische B ew affnung
entwickelt. A m Beispiel des R aketenprojekts Condor II, w elches m it ge­
heim en F onds, deutscher T echnologie u n d finanziert durch arabische
L än d er vorangetrieben w urde, zeigt sich, dass es konkrete P lanungen für
die Streitkräfte gab. D ie R egierung b etrachtete es als notw endig, m it ir­
gendeinem Sektor d er Streitkräfte ein B ündnis einzugehen. D e r Luftw af­
fe fiel dabei eine privilegierte Rolle zu. Sie w ar v o n allen W affengattun­
gen im besten Z u stan d u n d sah sich den geringsten A nschuldigungen
ausgesetzt. W eniger in Frage gestellt hinsichtlich des K am pfes gegen die
Subversion u n d erfolgreicher im M alvinen-K neg, k o n n te sich die L uft­
waffe v o m negativen Im age der anderen Teilstreitkräfte abgrenzen und
es gelang ihr, ihre B edeutung innerhalb der M ilitärstruktur zu erhöhen.
B em ü h t m an sich um eine Bilanz der V erteidigungspolitik der U CR-
Regierung, so sind a u f d er H abenseite zu verbuchen: die A ufw ertung des
G em einsam en G eneralstabs, die Ü bertragung des m ilitärisch-industriel­
len K om plexes an das V erteidigungsm inisterium , die einheitliche G estal­
tung des M ilitärhaushaltes, die Ü bertragung der F unktion des O b e r­
ko m m andierenden a u f den Staatspräsidenten. D azu kam en weitere M aß­
nahm en, die n ich t vollständig um gesetzt w erden konnten, beispielsweise
die U m strukturierung v o n G ren z- u n d W asserschutzpolizei sowie deren
B eziehungen zu den drei T eilstreitkräften. A u ch im Bereich der militäri­
schen A usbildung w urden einige V eränderungen im Sinne einer Ö ffn u n g
gegenüber den zivilen Institu tio n en angestoßen. A u f der Sollseite kom m t
m an jedoch n ich t u m hin zu beto n en , dass eine transparente V erhand­
lungspolitik fehlte, die zu r Ü berw indung d er w echselseitigen Feindselig­
keiten beigetragen u n d zu einer D eb atte u n te r E inschluss der gesam ten
G esellschaft g efüh rt hätte.
D ie v o n A lain R ouquié 1988 gezogene Bilanz richtet den Blick au f
eine w eitere K onsequenz d er Ü bergangsphase:
I c h h a b e d e n E in d r u c k , d a ss d ie M ilitä rs a u fg ru n d d e s s e n , w a s sie in d e r
O s te r w o c h e , i n M o n te C a s e ro s , e tc. e rle b t h a b e n u n d a u c h w e n n N o s ta lg ie n
h in s ic h tlic h e in e r s ta rk e n M a c h t f o r tb e s te h e n (u n d d a s is t in a lle n G e s e ll­
S treitk räfte u n d D e m o k ra tie 321

schäften so, egal wie stabil und demokratisch sie auch sein mögen), keine
Anziehungskraft mehr auf bedeutende zivile Sektoren ausüben, wie dies vor
1976 der Fall war, und man spürt mehr Bewusstsein dafür, dass die Institu­
tionen verteidigt werden müssen, denn alle, aus allen politischen Parteien,
aus allen Sektoren, aus allen Ideologien sind sich darüber klar geworden,
dass es keine guten Diktaturen gibt. Ich glaube, dass dies ein kultureller
Wandel ist. (zitiert nach Pagina 12, 16. 11.1988: 10)

Als Carlos M enem 1989 die R egierungsgeschäfte übernahm , w aren die


später erfolgten V eränderungen im Bereich der zivil-m ilitärischen Bezie­
hungen in keiner W eise absehbar. A usgehend v o n einer K ontinuitätslinie
zw ischen dem historischen P eronism us, d er aus den R eihen der Streit­
kräfte hervorgegangen w ar, u n d den V o rw ürfen eines Paktes zw ischen
G ew erkschaften u n d Streitkräften, die der spätere P räsident A lfonsin im
W ah lk am p f 1983 gegen den P eronism us erh o b en hatte, k o n n te m an da­
m it rechnen, dass die Militärs in d er neuen peronistischen Regierung
ü b er einen V erb ü n d eten für die V erw irklichung ihrer V orstellungen ver­
fügen w ürden. D o c h obw ohl eine der ersten M aßnahm en von Präsident
M enem in der B egnadigung zahlreicher w egen M enschenrechtsverlet­
zungen verurteilter Militärs bestand, verän d erten sich die B eziehungen
zw ischen Zivilgesellschaft u n d Streitkräften beträchtlich. M it der N ie ­
derw erfung des letzten Carapintada-AuístíLnà&s ergab sich eine W ende,
die zum Teil a u f interne F ak to ren zurück zu führen w ar, wie A c u ñ a /S m u -
lovitz (1995: 103-107) betonen:
Der wiederholte Bruch der Befehlskette sowie die Tatsache, dass die Unter­
stützung für die Anführer der Carapintadas zum größten Teil aus unterge­
ordneten Rängen kam, verdeutlichten der Heeresführung die Gefahren, die
ein Erfolg der Rebellen für das Überleben der Institution mit sich gebracht
hätte.

Beide dem okratischen R egierungen sahen sich m it Streitkräften k o n fro n ­


tiert, die zw ar fragm entiert, aber nicht o h n e w eiteres dazu bereit waren,
au f ihre traditionellen M achtbereiche zu verzichten. D ie vier bew affneten
A ufstände w aren ein Reflex des B em ühens um eine stärkere Legitim ation
durch eine Infragestellung der politischen M acht. Sie spiegelten auch die
vielfältigen in tern en B rüche innerhalb d er Streitkräfte wider. D ie E rh e ­
bungen w urden v o n O b ersten angeführt, die größtenteils dem H eer an­
geh ö rten u n d erkennbar regional v ero rtet w aren. E inerseits m ag die T a t­
sache, dass es sich bei denjenigen, die die k orporativen F orderungen au f
gew altsam e A rt u n d W eise vo rb rach ten , um O b erste handelte, eine ge­
wisse beruhigende W irkung haben, d en n es ist schw er vorstellbar, dass
322 R u t D ia m in t

ein v o n d er m ittleren H ierarchie getragener Staatsstreich E rfolg haben


könnte; andererseits sorgt die O ffensichtlichkeit des fehlenden instituti­
onellen G eh o rsam s für U ngew issheit hinsichtlich der langfristigen V er­
pflichtung der Streitkräfte gegenüber den dem okratischen N o rm e n un d
Institutionen. D e r neue G ru n d to n , m it dem die Regierung M enem die
A ußenbeziehungen des Landes v ersehen sollte,5 entsprach auch einem
veränderten internationalen K o n te x t u n d einer dringenden N otw en d ig ­
keit, sich in die globale G em ein sch aft einzugliedem . D ie R egierung Al­
fonsin hatte dies n ich t als prioritäre A ufgabe angesehen.

D ie Strategie der R egierung M enem gegenü b er den Streitkräften

D ie R egierung M enem h o ffte einerseits, dass die Streitkräfte zu einem


P rozess der Selbstreinigung finden w ürden, indem sie diejenigen aus­
grenzten, die die B efehlsstruktur m issachtet h atten, u n d diejenigen b e­
straften, die einen A n g riff a u f die B ürgerrechte u n tern o m m en hatten.
D ie E rgebnisse des Selbstreinigungsprozesses w aren m inim al, aber sie
führten ern eu t zu in tern en A useinandersetzungen, denn die jungen O ffi­
ziere w ollten nicht m it den K o sten v o n O p erationen belastet w erden,
m it d enen sie selbst nichts zu tun g eh ab t hatten.6 A ber v o r die A lternati­
ve gestellt, die ehem aligen V o rgesetzten zu kritisieren u n d dam it die in­
tern en D ivergenzen in die Ö ffentlichkeit zu tragen oder das Im age einer
hierarchischen u n d strukturierten O rganisation aufrechtzuerhalten, ent­
schieden sie sich für die V erteidigung d er K o rp o ratio n .7
Z u m anderen w ar die R egierung der A nsicht, dass die Streitkräfte
sich m odernisieren u n d reform ieren m üssten, um die politische Stabilität
zu gew ährleisten. D e r neue politische A nsatz der Regierung M enem u n d
die K u rsänderungen im B ereich d er A ußenpolitik zw angen die Streitkräf­

5 Z u r A ußenpolitik siehe den Beitrag v o n B odem er in diesem Band.


6 D ies w urde beispielsweise deutlich, als m an Adm iral M assera den E in tritt zum Círculo
del M ar verweigerte, einer O rganisation, der aktive u n d im R uhestand befindliche
O ffiziere angehören {(Clarín, 31.3.1998).
7 D iese korporative L ogik erklärt die gem einsam e Reaktion der Streitkräfte angesichts
der W eigerung des K ongresses, den M arineoffizieren R olón u n d Pernia die anstehen­
de B eförderung zu gew ähren. G leiches gilt für die V ertuschung der inneren A usein­
andersetzungen innerhalb des H eeres, als m an verhindern wollte, dass die öffentliche
M einung von den V orbehalten vieler O ffiziere angesichts der R eden v o n G eneral
Balza erführe, in denen dieser die V erantw ortlichkeiten des H eeres im R ahm en des
Schm utzigen Krieges anerkannt hatte.
S treitkräfte u n d D em o k ratie 323

te dazu, sich G ed an k en ü b e r ihre zukünftigen A ufgaben zu m achen


(D iam int 1995).
O b w o h l sie explizit die d em okratischen Regeln anerkannten, zeigten
die A usd ru ck sfo rm en der Streitkräfte, dass sie nicht im m er dazu bereit
w aren, sich d er Regierung sowie den dem okratischen In stitu tio n en un d
N o rm e n u n terzu o rd n en . D ies w u rd e anlässlich der V orstellung der
„Strategischen K o n zep tio n der M arine“ deutlich. D ie entsprechende D i­
rektive n ü tzte eine v o m V erteidigungsm inisterium nicht bedachte G eset­
zeslücke u n d interp retierte diese im Sinne au tonom er Spielräum e ohne
politische K ontrollen. D ie M arine arbeitete einen strategischen Plan aus,
in dem sie selbst ihre A ufgaben u n d die diesen zugrundeliegenden K rite­
rien definierte. M an hatte ein T reffen vorbereitet, an dem R egierungs­
funktionäre, P arlam entarier u n d M edienvertreter teilnahm en u n d bei
dem eine P ublikation vorgestellt w erden sollte, die diese P lanungen ö f­
fentlich m achte. D as T reffen w urde zwei Tage v o r dem vorgesehenen
T erm in aufgrund einer In terv en tio n durch M itglieder der V erteidigungs­
kom m ission des K ongresses abgesagt. Interessanterw eise w urde der für
die vorzeitige V eröffentlichung verantw ortliche K onteradm iral Jo sé Ro­
b erto Fernández, d em m an eine glänzende K arriere vorausgesagt hatte,
in den vorzeitigen R u h estan d versetzt. D iese E ntsch eid u n g führte erneut
zu einem Z erw ürfnis innerhalb der M arine (Clarín, 30.10. 1993; Página 12,
31.10.1993).
D ieses E reignis verdeutlichte die fehlende K o m m unikation zw ischen
den K o m m an d an tu ren d er T eilstreitkräfte sowie zw ischen diesen u n d
dem zuständigen M inisterium . A uch das Fehlen einer parlam entarischen
K on tro lle w urde sichtbar. E in A usw eg aus der verfahrenen Situation
w urde durch eine Stärkung d er institutionellen S truktur u n d H ierarchie
gesucht. D ab ei spielten sow ohl M arinechef K o m m an d an t M olina Pico
als auch die E n tsch eid u n g en v o n P räsid en t M enem eine w ichtige Rolle.8
E in g rö ß erer K onflikt k o n n te verm ieden w erden, aber diese M ini-K rise
b rachte w enig transparente V erhaltens form en u n d überkreuzte Loyalitä­
ten ans Licht. Z u d e m zeigte sich, dass das V erteidigungsm inisterium

8 Molina Pico beto n te, dass Fernández ohne seine E rlaubnis zu einer Pressekonferenz
in das M arinegebäude eingeladen habe. A ngesichts der A rt und W eise, wie innerhalb
des Militärs m it H ierarchien um gegangen wird, ist dies jedoch unw ahrscheinlich.
Fernández b a t um ein E hrengericht, welches letztendlich zu der A nsicht kam , dass
M olina Pico nichts vorzuw erfen sei; es verhängte eine leichte Sanktion gegen
K onteradm iral Fernández u n d zeigte dam it, dass die Institution über allen anderen
Ü berlegungen steht (La Nación, 28.10. 1993; E l Cronista Comeräal, 2.11. 1993; E l
Cronista Comercial, 8.12.1993; E l Litoral, 12.12.1993).
324 R u t D iam in t

nicht d er w ichtigste A n sp rech p artn er der Streitkräfte war. D ie m ilitäri­


schen F ührungsstäbe verließen sich n ich t a u f den form alen D ienstw eg,
so n d em suchten den direkten K o n ta k t zum Präsidenten.
W äh ren d der A m tszeit v o n P räsident M enem fühlten sich die Streit­
kräfte dazu veranlasst, im R ahm en d er v o n der E xekutive festgelegten
B edingungen zu verhandeln. M an erkannte, dass direkte K ontakte m it
dem P räsidenten, E influssversuche bei w ichtigen außenpolitischen T h e ­
m en o d er die N äh e zu r „U m gebung“ des P räsidenten bessere E rgebnisse
v ersp rach en als die E in h altu n g des D ienstw eges u n d der offizielle D ialog
m it d er Regierung. Beispielsweise w ar die U C R -O p p o sitio n im K ongress
nich t dazu bereit, die E n tse n d u n g v o n K riegsschiffen in den persischen
G o lf zu u n terstü tzen , da m an die dortigen A useinandersetzungen als Teil
der nordam erikanischen Ö linteressen u n d nicht als eine B edrohung für
den W eltfrieden betrachtete. Z u d em fand die E n tse n d u n g der Schiffe an
den G re n z e n d er V erfassungsm äßigkeit statt, insofern jede K riegserklä­
rung v o m K ongress autorisiert w erden m uss. F ü r die A rm ee dagegen b o t
sich eine M öglichkeit, die V erb in d u n g en zur R egierung zu verbessern
u n d ihre Rolle als P rofession zu stärken. D ie V erantw ortlichen zeigten
keine Skrupel angesichts d er N ich tb each tu n g der verfassungsm äßigen
N o rm e n (.Pagina 12, 22.8.1990 u. 24.8.1990; Clarín, 19.9.1990).
M enem w andte eine Strategie v o n Z u ck erb ro t u n d Peitsche an. E r
w ar sich bew usst, dass die R egierbarkeit v o n seinem G eschick abhing,
sich die traditionellen K o rp o ra tio n e n der argentinischen G esellschaft -
die Streitkräfte, die K irche u n d die G ew erkschaften — nicht offen zu
F einden zu m achen. D ie Militärs ihrerseits n u tzten die w enigen M öglich­
keiten, in d enen sie die privilegierten A kteure einer staatlichen Politik
w aren. So ü b ten sie D ru c k a u f den V erteidigungsm inister aus, um diesen
v o n d er U nm öglichkeit der E in fü h ru n g eines freiwilligen M ilitärdienstes
zu überzeugen, w en n die H aushaltszuw eisungen nicht erh ö h t w ürden.
E b e n so erklärten sie, dass die m enschlichen u n d m ateriellen R essourcen
für eine T eilnahm e an internationalen Friedensm issionen nicht zur V er­
fügung stünden, w ohlw issend, dass dies eine außenpolitische P riorität
w ar.9 E in O ffizier d er L uftw affe äußerte die A nsicht, dass der Regie­

9 „W ir w erden ein Bataillon m it 300 M ännern [nach Haiti] entsenden, wie dies auch
m it Z ypern geschehen ist, w enn die finanziellen V oraussetzungen für eine solche
A ufgabe gegeben sind.“ Letztlich w urden 350 M ann entsandt, die m it M itteln außer­
halb des norm alen H aushaltes finanziert w urden. D ie Streitkräfte w ussten sehr ge­
nau, dass für prioritäre Ziele im m er die erforderlichen M ittel gefunden w erden und
dass dafür n icht a u f die form ale Struktur des Staatshaushaltes zurückgegriffen wird
(Las A ndes, 22.10.1994).
S treitk räfte u n d D em o k ratie 325

rungsstil v o n P räsident M enem — das häufige R ekurrieren a u f D ekrete


u n d das caudillistische G eh ab e — für die Streitkräfte ein A nreiz gew esen
sei, ihre eigenen M achtsphären entgegen den vorgesehenen Regeln neu
zu o rd n en (Interview am 20.8.1998).
D ie Strategie der L uftw affe blieb stärker den B edingungen des ü b e r­
k om m enen Staatsm odells verhaftet, w eshalb sie u n ter M enem die am
w enigsten erfolgreiche d er drei Teilstreitkräfte bei dem B em ühen war, ih ­
re institutioneilen Spielräum e zu verteidigen. H insichtlich des R aketen­
p rogram m s Condor I I n u tzten die V erantw ortlichen alle ihnen zu r V erfü ­
gung stehenden R essourcen, v o n der bürokratischen Legalität bis zum
Lobbyism us u n d der A nm aßung. Ä hnliche V erhaltensw eisen zeigten sie,
als es u m den K a u f v o n Flugzeugen des Typs A 4M ging. Z w ischen dem
C h e f d er Luftw affe, B rigadegeneral Paulik, d er v o n R echts w egen dazu
befugt ist, ü b er die A usrü stu n g seiner Streitkraft zu entscheiden, u n d den
V erantw ortlichen im V erteidigungs- sowie im W irtschaftsm inisterium
entw ickelte sich ein K o m petenzkonflikt. Paulik w ar V erpflichtungen ge­
g enüber der U S-Luftw affe eingegangen, w äh rend die M inisterien sich für
ein A n g eb o t des U n ternehm ens L ockheed entschieden. A uch in dieser
S ituation w andte sich der L uftw affen ch ef u n te r U m gehung des V erteidi­
gungsm inisterium s direkt an den Staatspräsidenten. E rn e u t w urde der
K onflikt im Sinne d er L uftw affe u n d u n te r N ich tbeachtung der m iniste­
riellen K ritiken gelöst.10
D ie H aushalts- u n d A usrüstungsfragen führten zu angespannten u n d
schw ierigen V erhandlungen. Z u r gleichen Zeit, als die Sparm aßnahm en
im R ahm en der Steuerreform beschlossen w urden, Heß m an es zu, dass
die Streitkräfte ü b er R essourcen außerhalb der parlam entarischen K o n ­
trolle verfügten u n d so ihre eigene B eschaffungspolitik betreiben k o n n ­
ten. Beispielsweise kam aufgrund des G erichts falles Y abrán die Bezie­
h u n g zw ischen der L uftw affe u n d den U n ternehm en Interbaires, In te r­
cargo u n d E dcadassa ans lu ch t, die im Bereich Lagerhaltung, L asten-

10 U m den K a u f der Flugzeuge des Typs Skyw aks 4 A M zu finanzieren, w urde ein
zusätzlicher H aushaltsposten in H ö h e von 315 M illionen D ollar nachträglich in das
Budget für 1995 aufgenom m en. G leichzeitig w urde die L uftw affenfabrik A rea M ateri­
a l Córdoba an die nordam erikanische Firm a L ockheed verkauft (L a N uera Provinda,
17.2.1994). A ngeblich bew ahrte n u r Präsident M enem L uftw affenchef Paulik vor der
V ersetzung in den R uhestand, die bereits durch V erteidigungsm inister O scar
C am ilión ausgefertigt w orden w ar (<Clarín, 20.2.1994).
326 R u t D iam in t

tran sp o rt u n d D uty Free Shops an Flughäfen tätig w aren.11 D iese G e ­


schäftsverbindung basierte a u f R essourcen, deren V erw endung w eder
durch die Legislative n o ch durch die K ontrollorgane der Exekutive
überw acht w urde u n d die verschiedene F o rm en illegaler T ransaktionen
erm öglichten. Einige dieser G elder stam m ten aus illegalen W affenver­
käufen: W ährend die R egierung im „V erzeichnis K onventioneller W a f­
fen“ (Registro de A rm as Convencionales) den A n k au f v o n A usrüstungsgütem
nicht angab, w urden U S-am erikanische U nterlagen bekannt, aus denen
der U m fang der durch A rgentinien getätigten K äufe hervorging.12 D a n e­
ben gab es andere F o rm en der R essourcenbeschaffung, die zw ar nicht il­
legal w aren, aber ebenfalls nicht aus norm alen H aushaltsm itteln h errü h r­
ten. D ies galt beispielsweise für den V erk au f v o n R eparatur- u n d Be­
standserhaltungsdienstleistungen, w o d u rch K apitaleinkünfte m ittels des
privaten V erkaufs von D ienstleistungen erzielt w u rden.13
D iese E ntscheidungen der Streitkräfte w aren w eder transparent,
n o ch w urden sie im K ongress debattiert o d er basierten a u f form ellen
Ü b ereinkünften m it den verantw ortlichen M inisterien. D ie M öglichkeit
zu entsp rech en d en G eschäften ergab sich n ich t aufgrund vo n korporati­
vem D ru ck , sond ern als E rgebnis eines w echselseitigen E ntgegenkom ­
m ens zw ischen Regierung u n d Militärs. A u f nicht-institutionelle W ege
griffen som it sow ohl die Streitkräfte als auch die politischen E n tsch ei­
dungsträger zurück. D iese Strategien zeigen eine Präferenz zu r U m ge­
hung v o n R egulierungsm aßnahm en u n d institutionellen V erfahrensw ei­
sen. D as H an d eln sow ohl ziviler als auch m ilitärischer F unktionsträger

11 D e r U nternehm er Y abrán, w elcher schließlich Selbstm ord beging, w ar ein Parade­


beispiel für die K orru p tio n u n ter Beteiligung v o n Regierungen, K o rp o ra tio n e n und
illegitimen W irtschaftsinteressen: D rogenhandel, W affenschieberei, B estechung und
V eruntreuung (Clarín, 16.6.1998; Da Nación, 3.7.1998). A uch die Beziehungen zw i­
schen dem B ruder des L uftw affenchefs Juliá und einem W affenschieber standen
dam it in V erbindung (Clarín, 3.7.1998).
12 D ie T ageszeitung L a Nación veröffentlichte am 4. Ju n i 1998 folgende M eldung: „D er
T ageszeitung L a Nación Hegen Inform ationen einer hochrangigen gerichthchen Q uel­
le vor, aus denen hervorgeht, dass die Situation des H eeres hinsichtlich der illegalen
V ersendung von K anonen und M unition nach K roatien sehr kom prom ittierend ist.“
Siehe auch L a Nación, 6. u. 23.6.1998. D ie E xplosion der M üitärfabrik in Río T ercero
w ar absichtlich herbeigeführt w orden, um die illegale V erschickung v o n R üstungsgü­
tern zu vertuschen (La Nación, 3.11.1997). Siehe auch den B ericht v o n D ouglas Fa-
rah, „A T u to r to Every Arm y in Latin A m érica“ , in: The Washington Post, 13.7.1998.
13 D ie M arine führt beispielsweise die W artung der T urbinen für die brasilianischen
Streitkräfte durch. D urch ein günstiges A ngebot konnte sie G ro ßbritannien, das diese
A ufgabe zuvor w ahrnahm , aus dem G eschäft drängen. A uch die A usbildung von
O ffizieren w ird als D ienstleistung angeboten.
S treitk räfte u n d D e m o k ra tie 327

zeichnet sich d urch fehlende accountability u n d Praktiken am R ande der


L egalität aus. W ir haben es hier auch m it einem E rb e des A utoritarism us
zu tun, der parteilichen u n d v erdeckten H andlungsw eisen a u f K o sten der
K o n tro llrech te zivilgesellschaftlicher R ep räsentanten Schutz gewährte.
In den vergangen Jah ren h aben sich die Militärs zudem in gew andte
u n d flexible F unktionäre verw andelt, die es verstehen, sich an sich än­
dernde in tern e u n d externe R ahm enbedingungen anzupassen. Sie kön­
n en genauso als internationale F ö rd erer des Friedens auftreten w ie als
K atastrophenhelfer. G leichzeitig en tstan d ein neues Risiko für die K o n ­
solidierung der D em okratie: zu den m ilitärischen M issionen kam en p o li­
zeiliche A ufgaben hinzu, die die traditionellen M issionen der L andesver­
teidigung überlagerten, u n d dies in einer G esellschaft, in der das B edürf­
nis nach g rößeren S icherheitsm aßnahm en stieg, weil die alltägliche G e ­
w alt zu n ah m .14 F ü r die M ilitärs b o t sich dam it die M öglichkeit, neue
F u n k tio n en zu bekleiden, eine Q uelle für A rbeitsplätze zu erschließen
u n d ihre Rolle zu legitim ieren. D ie D ringlichkeit v o n L ösungen für die
G ew ährleistung d er öffentlichen O rd n u n g verschaffte den Militärs grö­
ßere V erhandlungsspielräum e m it den zivilen E ntscheidungsträgern.

M ilitärpolitische E ntscheidungsprozesse

E ines der zentralen T h em en , das w iederholt A nlass zu K onflikten zw i­


schen Militärs u n d R egierung gab, w ar d er E ntscheidungsprozess in ver­
teidigungspolitischen Fragen u n d hinsichtlich der U m strukturierung des
M ilitärhaushaltes. D ie N e u o rd n u n g der öffentlichen Finanzen w ar der
A usgangspunkt für eine K ü rzu n g der V erteidigungsausgaben u n d dam it
auch für die D efinition des neuen Stellenw ertes der Streitkräfte innerhalb
d er staatlichen Institutionen. A us einer institutionellen Perspektive b e­
trachtet, m usste sich die Ü berw indung d er autoritären M ilitärtradition in
einer eindeutigen U n tero rd n u n g d er Streitkräfte u n ter das für die V ertei­
digungspolitik verantw ortliche M inisterium niederschlagen. Seit der
R ückkehr zu r D em okratie w u rd e das V erteidigungsm inisterium v o n Zi­
vilisten geleitet, aber in den F ührungsetagen fanden sich in der Regel
zahlreiche O ffiziere im R uhestand. D ie Loyalität dieser F unktionäre galt
in erster Linie ih rer jeweiligen W affengattung, in zw eiter Linie den Streit­

14 Im Ja h r 1996 gab es 171.000 Polizisten und 32.000 Sicherheitskräfte der Präfekturen


und G endarm erien, die dem Innenm inisterium unterstehen; dem standen 76.000
M ilitärangehörige gegenüber, die dem V erteidigungsm inisterium unterstellt sind (E l
Porteño 1, Septem ber 1996: 11).
328 R u t D iam in t

kräften insgesam t u n d erst an d ritter Stelle der zivilen R egierung.15 D ie


V eran tw o rtu n g dafür, dass sich das M inisterium nicht an die N o tw e n ­
digkeiten der D em okratie anpasste u n d den Militärs w eiterhin große
Spielräum e b o t, lag allerdings bei den zivilen E n tscheidungsträgem . Ä h n ­
lich sah es m it den Z uw endungen im R ahm en des V erteidigungshaushal­
tes aus. D as Finanzverw altungsgesetz sieht vo r, dass die R essourcen au f
A n fo rd eru n g des V erteidigungsm inisters d urch den Finanzm inister zu ­
gew iesen w erden, w obei die Z u stim m u n g des B undesparlam entes n o t­
w endig ist. In d er Realität erfolgen die Z u w endungen au f der G rundlage
ü b erk o m m en er K riterien u n d v o n den K o m m an d an ten der T eilstreit­
kräfte vorgelegter A nträge. D ie tatsächlichen M öglichkeiten des V er­
teidigungsm inisters, ü b er die V erw endung der G elder zu verfügen, sind
m inimal. W enn es h o ch kom m t, kann er die v o n den T eilstreitkräften
präsentierten A nforderungskataloge an der einen oder anderen Stelle
kürzen, je nachdem , wie h och die Z uw endungen durch das F inanzm inis­
terium sind (D iam int 1994). Infolgedessen bestim m t nicht der zuständige
M inister in erster Linie ü b er die A usgaben d er T eilstreitkräfte un d die
dam it zu finanzierenden A ktivitäten, sondern das Militär selbst.
D o c h auch w enn es den Streitkräften nach der R ückkehr zur D e m o ­
kratie gelungen ist, w eitgehend selbst ü b er die V erw endung ihrer R es­
sourcen zu entscheiden, so sahen sie sich d och m it rigiden P ositionen
hinsichtlich des Anteils des V erteidigungshaushaltes an den G esam taus­
gaben des Staates konfrontiert. D ie Streitkräfte treten m it anderen staat­
lichen Institutionen, die sich in d er gleichen Situation befinden, in einen
W ettbew erb u m die V erteilung des H aushalts. A uch zw ischen den W af­
fengattungen g ib t es ein T auziehen um die finanziellen Z uw endungen.
Jede Streitkraft m uss sich Strategien überlegen, um ihre eigenen finan­
ziellen B edürfnisse so effizient wie m öglich darzustellen. H ochrangige
O ffiziere (insbesondere d er M arine) belegten sogar K urse an prestige­

15 N o c h 1996 erh o b en einige der teilnehm enden D elegationen aus Anlass der zw eiten
K o n feren z der V erteidigungsm inister Am erikas E inw ände dagegen, dass eine der
A rbeitsgruppen „D ie Rolle der Streitkräfte in der D em okratie“ betitelt w erden sollte.
Sie forderten, dies durch „D ie Rolle D e r Streitkräfte im 21. Ja h rh u n d ert“ zu ersetzen
(Inform ation des Ministerio de Relaciones Exteriores, Comerão Intem aáonaly Culto, 12. Juni
1996). E in anderer Fall w ar der eines ehem aligen G enerals, der die A bteilung Militär-
politik des V erteidigungsm inisterium s leitete. Anlässlich eines bilateralen T reffens m it
Brasilien legte er ein inform elles Papier (non-paper) vor, in dem ein Schem a für ge­
m einsam e M ilitärinterventionen in Fragen des D rogenhandels vorgeschlagen wurde.
D ies w idersprach den rechtlichen B estim m ungen und führte zum erzw ungenen
R ücktritt des Abteilungsleiters.
S treitkräfte u n d D e m o k ra tie 329

trächtigen B ildungseinrichtungen wie dem Massachussets Institute o f Techno­


logy o d er d er N aval Postgraduate School in M onterrey, um sich selbst in die
Lage zu versetzen, ihre H au shaltsentw ürfe gem äß den kom plizierten
M echanism en des n euen H aushaltsrechts ausarbeiten zu können.
Parallel zu dieser zurückhaltenden A kzeptanz der Spielregeln b e m ü h ­
ten sich die Streitkräfte däm m , jede V eran tw ortung für eine defizitäre
V erw endung d er erhaltenen R essourcen v o n sich zu weisen. In einem
S chreiben des H eeres an das V erteidigungsm inisterium s w ar zu lesen:
„D as F unktionieren des H eeres d a rf n ich t durch Sparzw änge u n d sin­
kende M ittelzuw eisungen, die oftm als o hne v orhergehende K onsultation
stattfinden u n d zu schw ierigen Situationen führen, in M ideidenschaft ge­
zogen w erd en .“ (La Nación, 24.11.1994) In diesem Schreiben wies das
H e e r jede V eran tw o rtu n g für eine N ichterfüllung seiner öffentlichen
A ufgaben in dem M aße zurück, wie ih m n ich t die notw endigen R essour­
cen für die R ealisierung seiner in d er V erfassung festgelegten F unktionen
zugebilligt w ürden. D e m en tsp rech en d k ö n n e die G esellschaft dem H eer
w eder N achlässigkeit vorw erfen, n o c h es für die fehlende Sorgfalt bei
d er Instan d h altu n g seiner A usrü stu n g verantw ortlich m achen. D ie Spar­
politik w ird als d en nationalen In teressen w idersprechend dargestellt,
o bw ohl es v o r allem die In teressen der Streitkräfte als eines privilegierten
A kteurs sind, die dadurch E inschränkungen erfahren.

D ie zivil-m ilitärischen B eziehu n gen

D ie m eisten Studien ü b er die M ilitärkultur verw eisen nachdrücklich au f


die Prägung der Streitkräfte durch die v erschiedenen A usbildungsein­
richtungen im V erlau f der O ffiziersausbildung. Infolgedessen legte m an
w äh ren d d er A m tszeit v o n P räsid en t A lfonsin besonderen W ert au f die
V erm itd u n g u n d Internalisierung dem okratischer W erte u n d h o ffte dar­
auf, dass d adurch die autoritären T e n d en zen aus dem kulturellen H o ri­
z o n t des Militärs verschw inden w ürden. D as V erteidigungsm inisterium
b em ü h te sich insbesondere um die E rarb eitu n g neuer A usbildungspro­
gram m e, deren Inhalte dem okratischen Regeln u n d K o n zep tio n en ent­
sprechen u n d R espekt gegenüber den B ürgern verm itteln sollten. A ber
die M ilitärinstitutionen leh n ten eine E inm ischung v o n außen ab u n d
neutralisierten die neuen Inhalte dadurch, dass sie an ihren Schulen wei­
terhin die alten P rofesso ren beschäftigten. D em en tsp rech en d w aren die
E rfolge in diesem Bereich n u r begrenzt.
Ä hnliche V ersuche w urden, allerdings w eniger system atisch, w äh­
ren d der P räsidentschaft v o n Carlos M enem initiiert. V erteidigungs-
330 R u t D iam in t

m inister Cam ilión w ollte die N ationale V erteidigungsakadem ie (Escuela


Nacional de Defensa-, E N D ) „zivilisieren“ u n d g riff dazu au f ähnlich gearte­
te A n sätze zurück wie die U CR -R egierung. Z u m D ire k to r der E N D er­
nan n te er einen D iplo m aten aus seinem persönlichen Freundeskreis, der
die n ich t gerade als H o rt der D em okratie bekannte E inrichtung zur
K eim zelle einer neuen G en eratio n v o n F u nktionären m achen sollte, die
eine zentrale Rolle im R ahm en der zukünftigen V erteidigungspolitik
spielen w ürden. Als M odell diente die V erteidigungsuniversität der V er­
einigten Staaten v o n A m erika, aber das V o rh ab en scheiterte an der W ei­
gerung des H eeres, d er zivilen V erw altung eine Institution zu „überge­
b e n “, die als die eigene betrach tet w urde.16
A u f der Suche nach m e h r gesellschaftlicher A nerkennung präsentier­
ten die Streitkräfte ihrerseits m ehrere V orschläge, die zu einer A nnähe­
ru n g zw ischen Zivilisten u n d M ilitärs führen sollten. D as H ee r organi­
sierte K u rse für Jo u rn alisten ,17 b o t Film vorführungen zu m ilitärischen
T h em en an, bereitete eine M odenschau im traditionsreichen Regim ent
v o n Patricios v o r u n d lud Fam ilien m it K in d ern zu einem Freizeitver­
gnügen ein, bei dem im R egim ent v o n P alerm o K riegsspiele sim uliert
w urden. Z u d em w urden zw ischen dem Sekretariat für M enschenrechte
u n d der N ationalen G endarm erie A b k o m m en ü b er E rziehungsm aßnah­
m en im Bereich M enschenrechte unterzeichnet (La Nación, 19.4.1998).
D ie M arine schickte einen F lo tten v erb an d in den H afen v o n B uenos Ai­
res u n d regte K in d er dazu an, S oldaten zu spielen.
D ie entscheidende Frage für die B eziehungen zw ischen M ilitärs und
G esellschaft bleibt jedoch die B ehandlung des T hem as M enschenrechte.
D ie R eden, in denen G eneral Balza die institutionelle V erantw ortung des
H eeres für F o lter u n d R epression w äh ren d der M ilitärdiktatur anerkann­
te, b ed eu teten einen spektakulären W andel im V ergleich zu den traditio­
nellen P o sitio n en der Streitkräfte. U b er die G ehorsam spflicht der Solda­
ten äußerte er sich in einer R ede anlässlich d er A bschlusszerem onie des
Jahrgangs 1998 in der nationalen K adetten an stalt folgenderm aßen:

16 D ie D N G ist funktional und haushaltsm äßig dem V erteidigungsm inisterium u n ter­


stellt, ab er die A bschlüsse w erden durch die Provinzuniversität des H eeres (Universi­
dad Provincial del Ejéràtó) vergeben.
17 Im R ahm en seines A bschlussvortrages sagte G eneral Balza: „D ie alte Vorstellung,
nach der die Militärs eingeschlossen in ihrer Festung lebten, hat an G ültigkeit verlo­
ren, d en n jetzt stehen die K asernentore für jedw ede journalistische R echerche of­
fen.“ (L a Nación, 3.12.1994).
S treitkräfte u n d D em o k ratie 331

Gehorsam schuldet man nur legitimen Befehlen, die von legitimen


Autoritäten gegeben werden. Erinnern Sie sich daran, dass man Ihnen das
Recht gibt, Waffen zu tragen [...], aber dieses Recht gründet auf der
Verfassungsnorm, welche die Rolle der Streitkräfte als Zwangsinstrument
legitimiert. Nur wer an die Verfassung und an die Gesetze glaubt, kann
verstehen, dass die legitime Regierung aus dem souveränen Willen des
Volkes entspringt, welches seinen Repräsentanten sein eigenes Recht
überträgt. Denken Sie deshalb daran, dass diese Waffen nur dann benutzt
werden dürfen, wenn die verfassungsmäßige Macht es so verfügt, (zitiert
nach Lm Prensa, 13.12.1994).

D ie E rklärungen des H eeresk o m m an d an ten stießen a u f die Z ustim m ung


d er Zivilgesellschaft u n d a u f deutliche A b leh nung bei den O ffizieren im
R uhestand. G eneral Balza ging es um eine V ersö h n u n g zw ischen dem
H e e r u n d der G esellschaft. G leichzeitig sollte die E inheit des H eeres
w iederhergestellt w erden, aber es gelang ihm nicht, die B rüche zw ischen
den O ffizieren u n d ihren V orgesetzten zu überw inden {Clarín, 5.5.1995).
Sow ohl P räsident M enem als auch G eneral Balza bem ü h ten sich um
eine E rn eu eru n g d er B eziehungen zw ischen Streitkräften u n d G esell­
schaft. A b er dem H eeresk o m m an d an ten ging es auch darum , das U n b e­
hagen einiger seiner U nterg eb en en u n d vieler O ffiziere im R uhestand zu
m inim ieren, denn sein vorrangigstes Interesse galt der E rn euerung u n d
dem E rh alt der E in h eit seiner Teilstreitkraft. G egenüber seinen G egnern
innerhalb des H eeres reagierte er m it g ro ß er E ntschiedenheit. E r zeigte
sich davon überzeugt, dass die öffentliche R eue das H ee r erneuern un d
stärken u n d zu r N eudefin itio n seiner Rolle im politischen L eben beitra­
gen w erde. D iese A nstren g u n g en w urden jedoch durch zwei andere E r­
eignisse in M itleidenschaft gezogen, durch die die guten A bsichten u n d
die G laubw ürdigkeit des H eeres in Frage gestellt w urden. E s handelte
sich um den T o d eines Soldaten in Folge v o n M isshandlungen durch
seine V orgesetzten sowie um den V erk au f v o n W affen nach K roatien
u n d E cuador. Beide Fälle ließen Zw eifel hinsichtlich der m oralischen In ­
tegrität des H eeresk o m m an d an ten aufkom m en.
W äh ren d Balza öffentlich R eue zeigte, suchte die M arine die Schuld
bei anderen u n d räum te der V erteidigung ihrer M itglieder P riorität ein.
D ies w ar sch o n im Fall d er O ffiziere R olön un d Pernia so gew esen, als
deren B eförderung v o n M enschenrechtsorganisationen u n d A b g eordne­
ten d er R adikalen P artei in Frage gestellt w o rd en war. D e r O b e rk o m ­
m andierende der M arine, A dm iral M olina Pico, stellte sich hin ter die
Forderu n g en seiner Streitkraft u n d brachte die A ngelegenheit an h ö c h s­
ter Stelle vor. A uch w enn er dam it keinen E rfolg hatte, so sorgte sein
332 R u t D ia m in t

V erhalten d och dafür, dass er v o n K ritik aus den eigenen R eihen ver­
sch o n t blieb. D ie Selbstkritik v o n M olina Pico, die dieser im N am en des
A dm iralsrats v o rtru g u n d nicht in p ersönlicher F o rm wie im Falle vo n
G eneral Balza, zeichnete sich durch einen stärker rechtfertigenden C ha­
rakter aus. V o n ih m w aren Sätze zu h ö re n wie: „D as V orgehen der
Streitkräfte d a rf nicht so analysiert w erden, als ob sie die einzigen B etei­
ligten an d er A ngelegenheit gew esen w ären.“ (Clarín, 4.5.1995) o d er „D ie
N atio n w urde angegriffen u n d h a t sich verteidigt.“ (La Nueva Provincia,
4.5.1995). D ie halbherzige Selbstkritik d er M arine stand in beso n d erem
K o n tra st zu der T atsache, dass die V orw ürfe des K apitäns Scilingo, der
die K rise ins Rollen gebracht hatte, insbeso n d ere die M arine k o m p ro m it­
tierten. D ie m it dieser Streitkraft in V erb in d u ng stehenden Fälle hatten
den stärksten N achhall in der Ö ffentlichkeit gefunden.
W as die L uftw affe angeht, so v erb an d G en eral Paulik die A useinan­
dersetzung m it den V erb rech en w ährend des „Schm utzigen K rieges“ m it
Forderu n g en an die Regierung, für ein akzeptables F unktions- u n d A u s­
rüstungsniveau seiner S treitkraft zu sorgen. Seine Selbstkritik ging nicht
au f eine interne, v o n den W affenkam eraden geteilte R evision zurück,
so n d em a u f eine A u ffo rd eru n g durch die Regierung.
K u rze Z eit nach diesen R eden n ah m die G esellschaft m it Ü berra­
schung die E rklärungen des ehem aligen K apitäns A lfredo A stiz zur
K enntnis, der ausführlich die w äh ren d d er D ik tatu r begangenen G räuel­
taten schilderte u n d diese als Teil einer institutionellen Politik der M arine
bezeichnete (Cerruti 1998; Clarín, 16.4.1998). D iese T atsache, genauso
wie die spätere A nklage gegen G en eral V idela w egen K indesraubes, legt
die nach wie v o r tiefgreifenden B rüche innerhalb der G esellschaft offen.
G eneral Balza selbst erkannte dies in einer R ede an:
Das Heer ist sich seiner institutionellen Verantwortung bewusst, es bemüht
sich darum, einen schmerzhaften, nicht geführten Dialog in Gang zu brin­
gen über eine Vergangenheit, die nach wie vor eine offene Wunde im kol­
lektiven Bewusstsein der Argentinier darstellt (12.2.1998).

D ie B egrenztheit der R euegefühlte u n d die F ortexistenz autoritärer K o n ­


zeptionen zeigte sich im Fall Carrasco. D e r S oldat C arrasco, ein R ekrut,
der einer Familie aus dem Süden des L andes entstam m te, starb infolge
brutaler M isshandlungen, denen er w egen seiner religiösen Ü berzeugun­
gen ausgesetzt war. D e r L eichnam w urde erst T age nach einer durch sei­
ne Familie aufgegebenen V erm isstenanzeige gefunden. E s kam zu einem
P rozess, in dessen V erlau f eine ganze K ette v o n V orgängen aufgedeckt
w urde, durch die die E hrenhaftigkeit u n d die ethischen Ü berzeugungen
S treitk räfte u n d D em o k ra tie 333

d er H eeresangehörigen ern eu t in Zw eifel gezogen w urden. G eneral Balza


antw ortete a u f den V orfall im N am en des H eeres: „E s handelt sich um
ein abscheuliches V erb rech en [...] Ich em pfinde große Scham u n d ich
w erde sie n o c h viel stärker em pfinden, w enn sich Beweise dafür finden —
was ich glaube — dass A ngehörige der Streitkräfte in den Fall C arrasco
verw ickelt sind.“ (Clarín, 19.9.1995). T ro tz d e m hatte die G esellschaft das
G efühl, dass W illkürakte u n d V erb rech en v ertu sch t w erden sollten, zu­
m al sich schnell zeigte, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte.
D ie A usw irkungen w aren derart negativ, dass P räsident M enem darauf­
hin beschloss, p e r D ek ret die W ehrdienstpflicht abzuschaffen. D ies en t­
sprach einer F ord eru n g der B evölkerung, deren U m setzung ü b er die in­
stitutionellen K anäle n ich t m öglich gew esen war. Sow ohl die Parteilich­
keit, die im V erlau f der V erfah ren v o r der lokalen u n d der M ilitärjustiz
deutlich w urde, als auch die A rt u n d W eise, wie ü b e r die Schaffung eines
Freiwilligen M ilitärdienstes entschieden w urde, verw eisen a u f die starke
Personalisierung d er argentinischen Politik.
F ehlende T ransparenz u n d zw eifelhafte E th ik kom prom ittierten das
H e e r auch im Falle der W affenverkäufe nach K roatien u n d E cuador,
w ährend beide L änder sich im K rieg befanden. D ie juristische A ufarbei­
tung dieser A ngelegenheit ist n o ch nicht abgeschlossen, aber zweifellos
handelt es sich um Beispiele für ungesetzliche P raktiken der Streitkräfte,
für K o rru p tio n u n d für K lientelism us. Sow ohl der T o d des Soldaten
C arrasco als auch die W affenverkäufe sind Belege für autoritäre V erhal­
tensw eisen der Streitkräfte, die a u f P raktiken zurückgehen, wie sie w äh­
ren d der M ilitärdiktatur üblich w aren. W ie in den Jah re n der D iktatur
spüren die M ilitärs auch angesichts ziviler R egierungen keine V erpflich­
tung, der G esellschaft R echenschaft ü b er ihre H andlungen abzulegen.
V erschlim m ert w ird das G an ze n o ch dadurch, dass die K orruptionsfälle
v o n den zivilen R egenten toleriert w erden, die sich dam it dem H o ch m u t
der M acht anschließen.

D ie V erteidigungspolitik

Als E rgebnis der D em okratisierungsw elle u n d des E n d es der S p an n u n ­


gen im R ahm en des K alten K rieges verflüchtigten sich die w ichtigsten
K o nflikthypothesen, a u f denen die argentinischen Streitkräfte ihr Selbst­
verständnis aufgebaut hatten. E ine R eihe v o n K onflikten, die in früheren
Z eiten fast zum A u sb m c h kriegerischer A useinandersetzungen geführt
hätten, k o n n ten a u f friedliche A rt u n d W eise beigelegt w erden. D azu ge­
h ö rte n die A b k o m m en ü b er die Beilegung der G ren z Streitigkeiten zwi-
334 R u t D iam in t

sehen Chile u n d A rgentinien u n d das gem einsam e argentinisch-brasiliani­


sche N uklearprogram m .
G leichzeitig kam es zu einer A usw eitung gem einsam er m ilitärischer
U nternehm ungen. D ies gilt beispielsweise für die E insätze im R ahm en
v o n U N IT A S , an d er auch M ilitärs aus den USA, Brasilien u n d U ruguay
beteiligt w aren u n d die zu einer Stärkung des gegenseitigen V ertrauens
innerhalb d er R egion beitrugen. D ie gem einsam en F lo ttenm anöver A r­
gentiniens u n d Chiles im Südatlantik, die zunächst a u f beiden Seiten au f
W iderstand g estoßen w aren, entw ickelten sich zu einem historischen
Schritt für die bilateralen M ilitärbeziehungen. A uch das gem einsam e
A u ftreten argentinischer u n d chilenischer Militärs au f Z ypern ist in die­
sem R ahm en zu sehen. Zw eifellos reduzieren diese neuen B eziehungs­
m u ster zw ischen den Streitkräften d er Region die G efah r bew affneter
A useinandersetzungen. A uch die Schaffung des M ercosur m it den M it­
gliedern A rgentinien, Brasilien, U ruguay u n d Paraguay sow ie Chile u n d
Bolivien als assoziierten M itgliedern trug dazu bei, aus alten Feinden
P a rtn e r zu m achen.
D ad u rch k o n n te n die B eziehungen zu den V ereinigten Staaten ge­
stärkt u n d die E in b in d u n g des L andes in den internationalen K o n tex t
verb essert w erden. Viele E x p erten gehen auch davon aus, dass die
D u rc h fü h ru n g b egrenzter m ilitärischer E insätze im A usland zu einer
Stärkung der zivilen K on tro lle ü b er die Streitkräfte beiträgt (Pion-
B erlin /A rcen eau x 2000). Sie w eisen aber auch d a ra u fh in , dass dies nicht
autom atisch geschieht. D am it derartige E rfolge tatsächlich erzielt w er­
den, m üssen die entsp rech en d en E ntscheidungen durch die zivilen
A m tsträger getroffen u n d v o n den Streitkräften akzeptiert w erden.
D ie u n te r M enem erfolgten Beteiligungen an internationalen F rie­
densm issionen w aren derjenige Bereich, in dem die stärkste K ontrolle
ü b er die Streitkräfte ausgeübt w erden k onnte u n d die besten E rfa h ru n ­
gen hinsichtlich der Z usam m enarbeit zw ischen verschiedenen V erw al­
tun g sb eh ö rd en g em acht w urden. D ie E n tscheidungen ü b er die Beteili­
gung an A uslandseinsätzen w u rd en a u f m inisterieller E b e n e getroffen
u n d m it den S treitkräften abgestim m t. Allerdings w ar das A ußenm iniste­
rium m it den en tsp rech en d en V erhandlungen beauftragt, was dam it zu­
sam m enhängt, dass dieses M inisterium auch für die B eziehungen m it den
V ereinten N atio n en zuständig ist. E s deutet aber auch darau f hin, dass
das A ußenm inisterium es besser als das V erteidigungsressort verstand,
m it den M ilitärs um zugehen.
Seit 1990 verlagerte sich das G ravitatio n szentrum d er E n tsc h eid u n ­
gen ü b er die Sicherheitspolitik ins A ußenm inisterium , dessen zentrale
S treitkräfte u n d D e m o k ra tie 335

Z ielsetzungen im m ilitärischen Bereich lauteten: N ichtverbreitung vo n


K ernw affen, friedliche L ö su n g v o n K onflikten un d K oo p eratio n im Be­
reich der globalen Sicherheit. Z u r V erw irklichung dieser Ziele diente
sow ohl die Beteiligung an den Friedensm issionen der V ereinten N a tio ­
n en als auch die M itarbeit im R ahm en der R üstungskontrolle. D iese P oli­
tik w ar erfolgreich u n d führte zu einer A n n äherung A rgentiniens an die
w estlichen L änder, sie stieß aber auch a u f n icht zu übersehende interne
W iderstände.
D as V erteidigungsm inisterium ergänzte die A ufgaben des A ußenm i­
nisterium s, es ließ dabei allerdings klar durchblicken, dass n ich t die Be­
völkerung, son d ern das M ilitär seine w ichtigste K lientel sei. O b w o h l es
die D irektiven der E xekutive un terstü tzte, w ar es w esentlich w eniger ef­
fektiv bei d er D efin itio n seiner Politik u n d bei der V erdeutlichung seiner
Ziele. D ie m angelhafte K o o rd in atio n zw ischen den F unktionären des
M inisterium s u n d den Streitkräften lähm te m anche Initiative u n d führte
zu S pannungen innerhalb des K abinetts. D as M inisterium bem ü h te sich
kaum däm m , eine G m p p e v o n Fachleuten auszubilden u n d dadurch eine
A ufw ertung der V erteidigungsaufgabe im R ahm en der allgem einen poli­
tischen R ichtlinien der Regierung durchzusetzen. Im neuen G esetz zur
N e u o rd n u n g d er Streitkräfte w urde das T hem a nicht einm al erwähnt.
Z w ar schreibt das G esetz vo r, dass das V erteidigungsm inisterium über
A u frü stu n g u n d Logistik bestim m en soll, entsprechende M aßnahm en
w urden jedoch nicht getroffen.
A m 27. Ju n i 1995 w u rd e das Centro Argentino de Entrenamiento Conjunto
para Operaciones de Pap (C A E C O Paz) geschaffen, in dem die argentini­
schen Militärs a u f ihren E insatz im R ahm en vo n Friedensm issionen der
U N O v o rb ereitet w erden. A u ch Soldaten aus anderen lateinam erikani­
schen L ändern kom m en hierher, w eshalb das Z en tru m auch als In stru ­
m e n t zu r V erbesserung d er B eziehungen m it den Streitkräften der
N ach b arlän d er dient.

A bschließende Ü berlegungen

D ie U m gehung vorgeschriebener rechtlicher K anäle durch die Streitkräf­


te, E influssversuche m ittels direkter K o n tak te zum Präsidenten u n d der
E insatz halb-legaler R essourcen zu r D u rch setzu n g m ilitärischer Interes­
sen — derartige R estbestände m ilitärischer Selbstherrlichkeit untergraben
die dem okratischen Institutionen. E ine solche V orgehensw eise u n ter­
scheidet sich allerdings n ich t allzu sehr v o n der Logik der M achtakkum u­
lation, w ie sie die zivilen politischen K räfte betreiben. Im E rgebnis n eh ­
336 R u t D ia m in t

m en die A useinandersetzungen zw ischen verschiedenen F raktionen in ­


nerhalb des Staates zu, w obei es n ich t in erster Linie u m institutionelle
E rrungenschaften, so n d em um persönliche V orteile geht. N im m t m an
zu diesem P anoram a G efah ren bzw. H erausforderungen wie den D ro ­
genhandel, die U m w eltverschm utzung, den T errorism us u n d die organi­
sierte K rim inalität u n d eine zukünftige Beteiligung der M ilitärs an A u f­
gaben im B ereich d er inneren Sicherheit hinzu, so ist unbedingt eine
Stärkung d er parlam entarischen K ontrollm echanism en notw endig, w enn
es n ich t zu einer w eiteren V erschlechterung der B eziehungen zw ischen
Zivilgesellschaft u n d Streitkräften kom m en soll.
D ie bislang a u f diese H erausfo rd eru n g en gegebene A ntw ort, näm lich
der V ersuch einer stärkeren (staatsbürgerlichen) E rziehung der Militärs,
ist in diesem Z u sam m en h an g zw ar ein wichtiger, aber lediglich ein se­
kundärer A spekt, d er die zentrale Problem atik ausblendet. D ies zeigt sich
auch an den bislang nicht besonders erfolgreichen B em ühungen des Co­
mando Sur, zu r staatsbürgerlichen E rziehung der lateinam erikanischen
M ilitärs u n d dam it zur D em okratisierung der Streitkräfte innerhalb der
Region beizutragen. D ie M ilitärs b eten die L ektionen ü b er M enschen­
rechte nach, aber w enn sie dann n icht m eh r im K lassenraum sitzen, son­
dern k onkrete A ufgaben realisieren, greifen sie erneut a u f die traditionel­
len R epressions- u n d Z w angsm aßnahm en zurück. D e r W andel d a rf sich
daher n ich t a u f erzieherische M aßnahm en beschränken, so n d e m v o r al­
lem m üssen M achtressourcen entw ickelt w erden, u m die zivile Suprem a­
tie ü b er die Streitkräfte effektiv zu r G eltung zu bringen.
N u n w äre es ebenfalls falsch zu glauben, dass die Streitkräfte nach
wie v o r voll u n d ganz ihren überk o m m en en K onzep tio n en treu geblie­
ben sind. Ihre w ichtigste F o rd eru n g lautet heute, als legitime A kteure im
R ahm en der E n tscheidungsprozesse ü b er Sicherheitsfragen anerkannt zu
w erden. D ie Militärs h ab en die E rfah ru n g gem acht, dass die einzige
M öglichkeit zu r B ew ahrung ih rer In stitu tio n in einer W elt, in der der m i­
litärische F aktor an G ew icht verliert u n d die politische u n d ökonom ische
E ffizienz des Staates die w ichtigste M achtquelle ist, darin besteht, über
einen m o d ern en Staat zu verfügen, der ausreichende R essourcen für die
U nterh altu n g der Streitkräfte bereitstellt. Carlos A cuña u n d Catalina
Sm ulovitz (1996: 192) b eto n en , dass „die U n tero rd n u n g der Streitkräfte
u n ter die konstitutionelle M acht nicht aufgrund vo n entstehenden de­
m okratischen W erten geschieht, so n d em durch die E rkenntnis, dass bei
Ü b erschreitung gew isser G ren zen das Ü berleben des A kteurs an sich in
G efah r gerät.“ D ie durch die A npassungspolitiken, die Ö ffn u n g der
M ärkte u n d die politische Stabilität etablierten R ahm enbedingungen las-
S treitk räfte u n d D e m o k ra tie 337

sen den Streitkräften keinen Spielraum , u m ihre F orderungen losgelöst


v o n dem neuen Staatsm odell zu entwickeln.
E s existiert ein S pannungsverhältnis zw ischen der R echtfertigung ei­
n er Zw angsgew alt, die den Streitkräften v o n der G esellschaft zu ihrem
eigenen Schutz zu erk an n t w ird, einerseits, u n d dem W iderstreben der
M ilitärs zu g ehorchen, das a u f d er gleichen G ew altbefugnis basiert, ande­
rerseits (Zagorski 1992; Feaver 1996). A u ch w enn die Streitkräfte nicht
daran denken, einen Staatsstreich d u rchzufuhren, k ö nnen ihre politische
A u to n o m ie u n d das Fehlen gesetzlicher K o n tro llen zu einer system ati­
schen E in sch rän k u n g d er zivilen K o n tro lle führen. N otw en d ig ist die
vollständige E tablierung ziviler Suprem atie, d.h. die Fähigkeit der dem o­
kratisch gew ählten Regierung, ü b er die nationale V erteidigung zu bestim ­
m en u n d die D u rch fü h ru n g d er v o n ih r angeordneten M aßnahm en zu
überw achen (A güero 1995: 41-52). N u r so kann die U nsicherheit h in ­
sichtlich d er langfristigen T reu e der Streitkräfte gegenüber den zivilen
H errschaftsträgern beseitigt w erden.
In d en gegenw ärtigen m arktw irtschaftlich orientierten D em okratien
ist es w enig w ahrscheinlich, dass die Ziele der R egierung m it den In teres­
sen der Streitkräfte übereinstim m en. Beispielsweise n im m t ein Teil der
Militärs das V oranschreiten d er regionalen Integrations- u n d K ooperati­
on sprozesse als G e fa h r für die nationalen Interessen w ahr. A uch in Ar­
gentinien h a t ein Sektor der Streitkräfte sich u m eine A n näherung an P o ­
litiker bem ü h t, die sich für eine R ückkehr zu einer stärker nationalistisch
orientierten Politik aussprechen (Rico 1997). Solange die M ilitärs die
V erteidigung der eigenen K o rp o ra tio n als ih r w ichtigstes Ziel betrachten,
w ird es schwierig sein, zu einem dauerhaften K onsens hinsichtlich gesell­
schaftlicher N o rm e n u n d In stitu tio n en zu gelangen. M ehr noch, solange
die S ubordination d er Streitkräfte u n te r die zivilen M achthaber nicht au f
d er G rundlage legal-rationaler K riterien geschieht, so ndern inform ell, in
F u n k tio n v o n M achtpfründen, b ü ß en die M ilitärs Spielräum e für institu­
tionalisierte V erhandlungen ein u n d verfügen ü b er w eniger M ittel, um ih ­
re gem einsam en o d er je nach W affengattung spezifischen Interessen
durchzusetzen. A b er auch w en n die institutionellen Forderungen ge­
schw ächt w erden, erlauben es ihnen die persönlich geführten V erhand­
lungen ü b e r den A ustausch v o n G efälligkeiten, ihre korporativen V o r­
rechte innerhalb des dem okratischen R ahm ens zu bew ahren.
D ie T heorie g eh t davon aus, dass ein durch Z u sam m enbruch der
M ilitärherrschaft erfolgter Ü bergang zu r D em okratie die Streitkräfte als
politischen A kteur eliminiert. A b er wie w ir gesehen haben, verschw an­
d en die Streitkräfte in A rgentinien w eder v o n der politischen Bühne,
338 R u t D iam in t

n o ch fand ein grundlegender W andel ih rer k o rporativen K u ltu r statt. E s


stellt sich die Frage, inw iefern die F ortexistenz autoritärer L egate eine
B ed ro h u n g für die Stabilität der dem okratischen In stitutionen darstellt.
W o rin b esteh t das Risiko? D ie Militärs passten sich an die S trukturre­
form en u n d die A npassungspolitiken a u f patrim oniale A rt u n d W eise an
u n d k o n n ten ihre M achtquellen erhalten. A n die D em okratie passten sie
sich in korporativer M anier an u n d b em ü h ten sich däm m , ihre Privile­
gien zu bew ahren. Sie verfügen h eute ü b e r w eniger R essourcen als in
früheren Z eiten, u m die zivile M acht in Frage zu stellen, aber es ist nicht
gelungen, genügend gesellschaftliche K apazitäten zu entw ickeln, die zu
einer institutionellen Stärkung d er D em okratie u n d zu m A b b au spezifi­
scher V orrechte der Streitkräfte beitragen könnten.
D ie neoliberalen A npassungspolitiken u n d S taatsreform en hab en zu
einer stärkeren politischen K on tro lle d er Streitkräfte beigetragen. D ie
neue S taatsstruktur sorgt dafür, dass die Militärs n u r no ch eine R an d p o ­
sition innerhalb des H errschaftsm odells einnehm en. Infolge der Sparpo­
litik sehen sich die S treitkräfte z u n eh m en d in einer V erhandlungspositi­
on, die sich n ich t sonderlich v o n d er an derer gesellschaftlicher A kteure
unterscheidet. A b er auch w en n in A rgentinien die M acht der Streitkräfte
zur D u rch fü h ru n g eines Staatsstreiches gebro chen w erden k o nnte, so gilt
dies n ich t für autoritäre V erhaltensw eisen u n d Legate, die das politische
Regim e abqualifizieren u n d D efizite im H inblick a u f das F unktionieren
der D em okratie nach sich ziehen. L etzten E n d es hat sich die D em okratie
konsolidiert, o h n e eine zufriedenstellende L ö sung für die Frage der zivil­
m ilitärischen B eziehungen zu finden.

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Peter Thiery

D emokratie und Rechtsstaatlichkeit - auf dem Weg


zur Konsolidierung?*

D e r Sieg v o n F ern an d o de la Rúa bei den Präsidentschaftsw ahlen im O k ­


to b e r 1999 w urde als Z eichen d afür gew ertet, dass die argentinische
D em okratie sich gefestigt habe und autoritäre R ückschläge w eit jenseits
des V orstellbaren lägen. N o c h nie w ar es in der G eschichte des Landes
vorgekom m en, dass vier Mal in Folge d er P räsident in freien u n d fairen
W ahlen b estim m t w urde. A uch w echselte dabei zum zw eiten Mal rei­
bungslos die politische C ouleur, nach d em 1989 die P eronisten die R adi­
kalen aus d er M acht v erdrängt hatten. Z u m ersten Mal in der G eschichte
des L andes w urden die P eronisten aus dem P räsidentenam t gewählt,
selbst w enn dem n ich t m eh r die gleiche sensationelle B edeutung beige­
m essen w urde wie d en W ahlen 1983, die gezeigt hatten, dass die P ero n is­
ten durchaus an der W ahlurne besiegt w erden konnten.
A uch die B egleitum stände der P räsidentschaftsw ahlen 1999 sprachen
für eine Festigung d er D em okratie: A nders als bei den vorhergehenden
Präsidentschaftsw ahlen blieben populistische u n d m essianische A uftritte
im Stile M enem s aus. D ies m ag auch daran gelegen haben, dass die Ar­
gentinier dieses Politikertypus m itderw eile überdrüssig gew orden sind.
Jedenfalls p räsentierten sich die W ahlen als geradezu „langweilig“, ein
w eiteres Indiz dafür, dass sie auch in A rgentinien längst zur R outine ge­
w o rd en sind. D am it u nterscheidet sich A rgentiniens neue D em okratie
nich t n u r v o n einigen gegenläufigen E ntw icklungen a u f dem S ubkonti­
n en t (Peru, Paraguay, V enezuela, K olum bien), sondern v o r allem vo n
den T u rbulenzen d er eigenen G eschichte.
D iese positiven Schlaglichter stehen in deutlichem K o n tra st zu der
skeptischen u n d bisw eilen pessim istischen H altung, die sich v o r allem in
der ersten H älfte d er neunziger Jah re breitgem acht hatte. Paradigm atisch

* D ieser Beitrag entstand im R ahm en eines von der V olksw agen-Stiftung finanzierten
Forschungsprojektes „D em okratische K onsolidierung und ,defekte D em okratien’:
E in interregionaler Vergleich ausgew ählter L änder in O steuropa, Lateinam erika und
O stasien“, H eid elb erg /F ran k fu rt a.M. Ich danke m einen K ollegen Claudia E icher
und Aurel C roissant sowie insbesondere den beiden Projektleitern, W olfgang Merkel
(Heidelberg) u n d H ans-Jürgen Puhle (Frankfurt/M ain) für ihren Rat u n d kritische
K om m entare. Selbstverständlich bin ich alleine für den Inhalt verantw ortlich.
342 P e te r T h iery

hierfür w ar G uillerm o O ’D onnells T h ese einer delegativen D em okratie,


die er beispielhaft an Brasilien, P eru u n d eben A rgentinien darlegte
(O ’D o n n ell 1994). D em n ach setzten sich zw ar W ahlen als alleiniger M o­
dus zu r B esetzung d er zentralen H errschaftspositionen in Exekutive u n d
Legislative durch, d och w ürde die so generierte politische M acht danach
in plebiszitären u n d populistischen Politikstilen genutzt. N e b e n einer ge­
zielten A bkoppelung v o n rechtsstaatlichen K ontrollm echanism en u n d
einer generellen Schw äche d er politischen Institutionen sei deshalb m it
erratischen Politiken, w achsenden R egierbarkeitsproblem en un d w eiteren
Krisenzyklen zu rechnen.
So um stritten diese T hese hinsichtlich ihrer T reffsicherheit v o r allem
in Lateinam erika w ar, so fand sie im L aufe der 90er Jah re doch viele Be­
fü rw o rter — u n d sie ließ sich im übrigen auch a u f andere L än d er u n d
R egionen anw enden. A ndere B eobachter schlossen sich m it ähnlichen A r­
gum en ten an (de Riz 1996; L in z /S te p a n 1996: 190-204; Ferreira R u b io /
G o re tti 1998a; kritisch dazu: P a le rm o /N o v a ro 1996: 475-524). D en n
w ährend sich u n te r A lfonsin die P roblem e der dem okratischen K o n so li­
dierung zu v erdichten begannen u n d in den letzten M onaten seiner
A m tszeit zu einer Staatskrise zuspitzten, k o n nte M enem zw ar die Re-
gierbarkeit w iederherstellen, d och löste er dies mittels delegativ-illiberaler
Regierungspraktiken, exekutiver M achtkonzentration u n d plebiszitärer
Legitim ierung. V ereinzelt sprachen B eobachter gar vo n einer „M exikani-
sierung“ insofern, als die G efah r einer H egem oniestellung der P eronisten
um M enem im Stile d er m exikanischen P R I gew ittert wurde.
Viele dieser B efürchtungen erschienen durch die politische E ntw ick­
lung zu E n d e der neunziger Jah re ü b erh o lt o d er w enigstens ü b erakzentu­
iert. D e n n kaum w ar M enem nicht m eh r im A m t sondern durch einen
nü chternen, traditionsverhafteten B erufspolitiker ersetzt, der sich in un­
spektakulären u n d ern eu t freien u n d fairen W ahlen durchgesetzt hatte —
so galt A rgentiniens D em okratie als konsolidiert (Levitsky 2000: 66) bzw.
„erw achsen“ (B öhler 1999). D ieser neuerliche Pendelausschlag in der
B ew ertung scheint jedoch voreilig, wie die folgende Analyse zeigen soll.
Ih r T e n o r lautet, dass die argentinische D em okratie gewiss in sofern ge­
stärkt aus der Ä ra M enem hervorgegangen ist, als sich nicht m eh r die
Frage eines Rückfalls in ein autoritäres Regim e stellt —sei es offen wie in
K u b a o d er verdeckt wie in P em . W esentliche Funktionselem ente einer
D em okratie hab en sich gefestigt u n d w erden nicht m e h r in Frage ge­
stellt, was zw eifelsohne eine E rru n g en sch aft darstellt. D ies ist das
freundliche G esich t d er argentinischen D em okratie. Ih re Schattenseiten
hab en sich aber u n te r M enem ebenso ausgebreitet u n d derart verfestigt,
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 343

dass — w en n ü b erh au p t — n u r m ittel- bis langfristig m it ihrem Z urück­


drängen zu rech n en ist. Ih r Signum ist die Schw äche rechtsstaatlicher
Strukturen, die die E inh eg u n g politischer u n d gesellschaftlicher M acht­
quellen zu n eh m en d prekärer w erden Heß. D ie m angelnde K ontrolle und
K ontrolherbarkeit d er E xekutive sowie ein hybrides R echts- u n d Ju stiz ­
system begünstigten die H erausbildung u ndurchsichtiger M achtgeflechte,
die paraHel zum dem okratischen In stitutionensystem operierten u n d es
teilweise auch unterHefen. A llerdings hab en starke dem okratische G e ­
genkräfte u n d die beso n d ere poHtische D ynam ik der neunziger Jahre ein
U b erh an d n eh m en dieser Schattenseiten eingedäm m t.

D ie politische D ynam ik der D em okratieentw icklung

D ie zehnjährige A m tszeit M enem s lässt sich gro b in zwei P hasen u n te r­


teilen, denen auch eine unterschiedhche B edeutung für die D em o k ratie­
entw icklung zukom m t. D ie erste P hase bis zur V erfassungsreform 1994
w ar geprägt v o n außerordentiich zugespitzten w irtschaftlichen, gesell­
schaftlichen u n d pohtisch en Problem lagen, die auch jede andere D e m o ­
kratie u n te r eno rm en L eistungsdruck gesetzt hätten. In dieser Phase ge­
lang es M enem u n d seiner E qu ip e, ein relativ erfolgreiches K risenm ana­
g em en t zu b etreiben u n d die d ro h en d e System krise abzuw enden. D iese
E rfolge trugen w esentlich zur L egitim ierung des „M enem ism us“ (mene-
mismd) bei u n d führten zu seiner K on so h d ierung sow ohl a u f nationaler
B ü h n e wie innerhalb d er eigenen Partei. M it dem Pakt v o n OHvos u n d
schheßHch m it d er V erfassungsreform v o n 1994 k o m m t diese Phase zum
A bschluss. E s gilt als u n u m stritten , dass die W iederw ahl M enem s u n d
die form ale Festigung d er präsidentieüen P rärogativen das zentrale M otiv
d er neu en V erfassung darstellten.
Z u diesem Z eitpunkt, als M enem sich a u f dem H ö h ep u n k t seiner
M acht b efan d u n d 1995 seine W iederw ahl erreichte, begann die zweite
Phase, die v o n einer schleichenden E ro sio n des menemismo gekennzeich­
n e t war. Z u r anfängkchen Stärke trug n och bei, dass sich die O p p o sitio n
im P rozess d er N eu fo rm ieru n g befand. Bei den Präsidentschaftsw ahlen
erreichten die K and id aten v o n U C R u n d F R E P A S O zusam m en zw ar
ü b er 40% der Stim m en, d och verfehlte der zw eitplazierte F R E P A S O -
K an d id at die Stichw ahl deutlich. D ieses Szenario änderte sich allerdings
infolge der V erschleißerscheinungen d er Regierung, der A nzeichen einer
eher stagnierenden so zioökonom ischen E ntw icklung sowie v o r allem der
erfolgreichen N eu fo rm ieru n g d er O pposition.
344 P e te r T hiery

M it Blick a u f die D em okratieentw icklung b estand das Signum der


ersten P hase in der H erausbildung der u n ten n äher analysierten delegati-
ven Z üge, die die K risenpolitik M enem s prägten. In der Stabilitätskrise
am E n d e d er A m tszeit A lfonsins flössen zw ar verschiedene E lem ente
zusam m en, d och w ar sie im w esentlichen eine K rise des erschöpften
W irtschaftsm odells, das angesichts des starken gesellschaftlichen u n d p o ­
litischen D ru ck s n u r schw ierig zu reform ieren war. D ie w irtschaftspoliti­
sche A ltem ativlosigkeit, u.a. bedingt durch den D ru ck internationaler
G eldgeber, erklärt die B ereitschaft zu den radikalen R eform en, die w ie­
d e ru m — n ach E in sc h ä tz u n g fast aller A k teu re — für eine effektive
U m setzung um fangreiche und gezielt koordinierte M aßnahm ebündel erfor­
derten. A u fg ru n d des E rfolgs dieser M aßnahm en w urden die dam it ver­
b u n d e n e n D efek te zunächst toleriert.
D ie B eibehaltung u n d A usw eitung der delegativen R egierungsprakti­
ken im R est der ersten sowie in der zw eiten P hase sind hingegen au f die
dad u rch geschaffenen O p p o rtu n itätsstru k tu ren sowie die politischen
M achtverhältnisse zurückzuführen. Z u m einen w ar M enem s F ü h ru n g s­
po sitio n in der eigenen Partei lange Z eit u nanfechtbar, w eshalb K ritik
daran einer Selbstm ordstrategie gleichgekom m en wäre. Z u m ändern h a t­
te sich die O p p o sitio n n o ch nicht w ieder erholt u n d b o t der B evölkerung
keine glaubhafte A lternative zu den E rfolgen M enem s. Schließlich hatten
M en em u n d sein Clan gew isserm aßen das leichte Regieren p e r D ek ret
u n d die U m g eh u n g d er R echtsstaatlichkeit gelernt, was nicht zuletzt auch
den M achtam bitionen M enem s entgegenkam . Sein W ahlsieg 1995 schien
ihm darin R ech t zu geben, d och w eisen die U m stände d arau f hin, dass er
eher tro tz u n d nich t w egen seines Führungsstils w iedergew ählt w urde.
Ih m selbst gab dies allerdings A nreize, m it Blick au f eine erneute W ie­
derw ahl 1999 die B andbreite seines delegativen Stils no ch auszuw eiten
(u.a. E ingriffe in die P ressefreiheit m ittels strafrechtlicher V erfolgung).
N ic h t zu letzt die R ivalitäten in d er eigenen P artei bereiteten diesen A m ­
bitionen den n o ch ein E nde.
Z u m V erlust an politischem R ückhalt trug zum einen die w achsende
G laubw ürdigkeit d er O p p o sitio n sp arteien bei, zu m anderen w aren es die
aus d en delegativen P raktiken resultierenden Fehlentw icklungen in P o li­
tik, W irtschaft u n d G esellschaft. In sb eso n d ere die K onsequenzen der
zu n e h m e n d kritischeren w irtschaftlichen Lage für weite Teile der B evöl­
kerung (A rm ut, K rim inalität), die V ernachlässigung eines effektiveren
Staatsapparates (Polizei, Justiz) sowie das A ntreiben der K o rru p tio n s spi­
rale sind w esentliche F ak to ren dafür, dass sich einige der dem okratischen
D efizite nicht abgeschw ächt u n d andere tendenziell verstärkt haben. P a ­
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 345

radoxerw eise k ö n n en auch die w ichtigen (Teil-)Erfolge der Politik Me-


nem s für diesen politischen K lim aum schw ung verantw ortlich gem acht
w erden. D e n n m it dem A bklingen d er K rise ließen sich auch die dam it
v erb u n d en en A m bitionen u n d Politikstile n ich t m e h r hinreichend legiti­
m ieren. A ndere T h em en wie Bildung, A rm ut, K o rru p tio n u n d Justiz be­
gannen, für die A rgentinier w ieder eine zentralere Rolle zu spielen, u n d
sie k o n n ten v o n d er O p p o sitio n erfolgreich in eine politische A lternative
um g em ü n zt w erden. Ihre zu n eh m en d en W ahlerfolge a u f nationaler u n d
regionaler E b en e spielten dabei zusam m en m it Friktionen innerhalb der
peronisrischen Partei, wie sie n ich t zu letzt in der Polem ik über eine er­
n eute W iederw ahl M enem s zutage traten. M it dem Sieg D e la Rúas trat
die argentinische D em okratie zw eifelsohne in eine neue Phase. E ine
zentrale Frage w ar dabei, o b die positiven u n d negativen T endenzen der
Ä ra M enem struktureller N a tu r o d er eher als p ersonengebunden anzuse­
h en waren.

W ahlen, politische Freiheiten und effektive R egierungsgew alt

Z u den K ernelem enten einer D em okratie zählen jene institutionellen


M inim a, wie sie d er am erikanische Politologe R o b ert D a h l (1971; 1989)
in seinem K o n z e p t d er Polyarchie form uliert h at u n d die in der D e m o ­
k ratieforschung w eithin A n w en d u n g finden. Sie b eto n en die vertikale
L egitim ationsdim ension einer D em o k ratie u n d sind auch für jene unver­
zichtbar, die eine E rg änzung des D em okratiekonzeptes u m rechtsstaatli­
che E lem en te für unabdin g b ar halten. G eb ü n d elt um fassen diese M inim a
ein funktionsfähiges W ahlregim e (universelles aktives u n d passives W ahl­
recht, gew ählte M andatsträger, freie u n d faire W ahlen) sowie die G ru n d ­
bausteine einer öffentlichen A rena (M einungs-, Presse-, O rganisations­
u n d V ersam m lungsfreiheit). Z u ergänzen ist —wie gerade in der L atein­
am erikaforschung w iederholt b e to n t w urde — dass auch eine effektive
R egierungsgew alt gew ährleistet sein m uss, also insbesondere die A bw e­
senheit spezieller V o rrech te etw a für das Militär. D iese vertikale D im e n ­
sion der D em okratie geht aus d er A ra M enem nicht n u r ungeschw ächt,
so n d ern vielm ehr gestärkt hervor. D ies gilt sow ohl im V ergleich zu r vo­
rangeh en d en R egierung u n te r A lfonsin als auch im lateinam erikanischen
V ergleich, wie dies etwa die D aten v o n Freedom House andeuten (Free­
d o m H o u se 2000a).
346 P e te r T h iery

W ahlen

D as W ahlregim e in A rgentinien ist uneingeschränkt gültig u n d überdies


als stabil anzusehen. A u f G rundlage eines universellen W ahlrechts gehen
gew ählte M andatsträger aus freien u n d fairen W ahlen hervor. M ittlerwei-
le vier Präsidentschaftsw ahlen seit d er R ückkehr zu r D em okratie, etwa
do p p elt so viele W ahlen zu m A bgeord n eten h aus sowie eine Fülle vo n
Provinz- u n d K o m m unalw ahlen sind o hne n ennensw erte B eeinträchti­
gungen verlaufen. Fälle p o litischer G ew alt im U m feld v o n W ahlen stel­
len ebenso isolierte E in zelp h än o m en e dar wie gelegentliche V orw ürfe
des W ahlbetrugs. D ies w ird auch n ich t d urch die allseits gängige Praxis
beeinträchtigt, v o r allem die ärm eren Sektoren der G esellschaft m it G e­
schenken zur S tim m abgabe zu ködern. D ie Stabilität des W ahlregim es ist
u m so bem erkensw erter, als W ahlen seit 1930 u n d insbesondere seit dem
E in tritt des P ero n ism u s in die politische A rena nie als alleingültige Spiel­
regel zur B estim m ung der H errsch aftsträg er anerkannt w aren. D ie dam it
v erk n ü p ften Zyklen v o n tem p o rären dem okratischen bzw. autoritären
Regim en scheinen in d er gegenw ärtigen Phase aber durchbrochen. So
hab en die W ahlen 1983 bzw . 1999 den M ythos w iderlegt, w onach die
P ero n isten nicht an den W ahlurnen besiegt bzw. aus der R egierung w ie­
d er v ertrieben w erden könnten. U m gekehrt hat die Ä ra M enem trotz der
u n te n analysierten D efek te gezeigt, dass eine peronistische Regierung
n ich t zw angsläufig zu r „T yrannei d er M ehrheit“ u m g em ünzt wird.
W ahlen sind als M odus zur B estim m ung der zentralen politischen
Ä m ter in E xekutive (Präsident) u n d Legislative unum stritten. M it der
V erfassung v o n 1994 w urde d arü b er hinaus das W ahlrecht w eiter d em o ­
kratisiert. So entfiel die B estim m ung, dass d er P räsident katholischen
G laubens sein m üsse (die M enem d urch Ü b ertritt zum K atholizism us
no ch um gehen m usste). Z usätzlich entfiel fortan die W ahlm ännerpraxis,
d.h. es entscheidet unm ittelb ar das V o tu m d er W ählerschaft. Seit 2001
w erden auch die S enatoren direkt v o n der B evölkerung gew ählt und
nicht m e h r v o n den Parlam enten der 24 Provinzen bestim m t.

Ö ffentliche Arena

E ine ähnlich progressive E ntw icklung ist in der E n tfaltu n g der w eiteren
politischen Freiheitsrechte zu erkennen. V öllig uneingeschränkt gilt dies
für die R echte p olitischer O rganisation, also A ssoziations-, V ersam m -
lungs- u n d D em onstrationsfreiheit. Politische wie gesellschaftliche O r­
ganisationen sind in ihrer B ildung u n d E n tfaltu n g nicht beh in d ert und
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 347

ergeben eine aktive politische u n d zivile G esellschaft. H erv o rzu h eb en ist


in sbesondere die explizite A ufw ertung d er Parteien durch A ufnahm e ei­
nes entsp rech en d en Artikels in die neue V erfassung. D ies spiegelt auch —
trotz Personalism us, K lientelism us u n d Partizipationsdefiziten — die ge­
sellschaftliche V erankerung der Parteien w ider, ein E lem ent, das dem
„rein en “ Typus d er delegativen D em okratie im Sinne O ’D onnells klar
w iderspricht.
E in getrübteres Bild ergibt hingegen die Analyse der M einungs- un d
Pressefreiheit. H ier sind nach 1983 zwei E ta p p e n zu erkennen: U n ter A l­
fonsin, der dezidiert m it dem A n sp ru ch der D em okratiefestigung antrat,
entw ickelte sich rasch eine vielfältige, professionelle u n d kritische Me-
dienlandschaft. Sie operierte unabhängig u n d ohne E inschränkungen
u n d bildete so die G rundlage einer lebhaften Ö ffentlichkeit, die für
T ran sp aren z u n d h o h e M einungsvielfalt sorgte. D ieses Szenario v erän ­
derte sich seit dem A m tsan tritt M enem s, dessen politische A m bitionen
(größtm ögliche H an d lu n g sk ap azität, Im agepflege, W iederw ahl) sich
w enig vertrugen m it der o ft radikalen K ritik u n d der Schaffung vo n T ran s­
parenz durch die M edien. D u rch M enem s Ü bergriffe gegenüber der J u s ­
tiz u n d die d adurch bew irkte geringere Funktionsfähigkeit k o n stitutionel­
ler K o ntrolle in sbesondere d er E xekutive w uchsen die M edien in eine
Rolle als vierte G ew alt hinein. N euralgische P unkte stellten stets die K ri­
tik an der A m tsfü h ru n g des P räsid en ten sowie v o r allem die bis heute
n u r in U m rissen zu erahnenden, direkt ins engere U m feld M enem s rei­
chenden T entakel der H y p erk o rru p tio n dar. W ährend der argentinische
Journalism us u n b eirrt die A u fdeckung v o n m indesten zwei D u tz en d
Skandalen v orantrieb, sind bis heu te n u r wenige (kleinere) Fälle v o n
K o rru p tio n u n d dam it v erb u n d en er V erbrechen v o n der Justiz aufgegrif­
fen bzw. gar sanktioniert w orden. E n tsp re c h en d fällt das U rteil der ar­
gentinischen B evölkerung ü b er diese beiden Institutionen aus: W ährend
die Justiz — nach den G ew erkschaften — die geringste Z u stim m u n g er­
hält, w ird u m gekehrt die Presse nach w ie v o r am höch sten geachtet.
In der ersten A m tsperiode M enem s k onzentrierten sich die E in ­
griffsv ersu ch e in die P ressefreih eit v o r allem a u f — sp äter allesam t
gescheiterte —G esetzesprojekte die die journalistische A rbeit drastisch er­
schw eren sollten (A ndrohung unverhältnism äßig h o h e r G eldstrafen für
„V erleum dungen“ etc.). Begleitet w u rd e dies vo n einem T rom m elfeuer
verbaler A ggressionen, um die Presse in d er öffentlichen M einung zu
diskreditieren — eb enso erfolglos. V ielm ehr h at sich die Presse in diesen
sechs Jah ren w eiter stabilisiert u n d profiliert. A ufgrund ihrer verstärkten
G eg en m ach t ist die öffentliche A rena in dieser Ä ra als nicht bis w enig
348 P e te r T h iery

eingeschränkt zu bezeichnen. In der zw eiten A m tszeit M enem s — nach­


dem er „die O p p o sitio n u n d die K om m unikationsm edien besiegt“ hatte
u n d n o c h im m er v o n einer erneuten W iederw ahl 1999 träum te — zeich­
nete sich ein Strategiew echsel ab: Z u der w eiterhin perm anenten A b q u a­
lifizierung trat n u n der V ersuch, die w enigstens in Teilen abhängige u n d
diskreditierte Justiz gegen Journalisten u n d M edienunternehm en einzu­
setzen. T ro tz einiger bedenklicher U rteile schien diese Strategie jedoch
nich t zu verfangen, eher w urde in zahlreichen Fällen die G eltu n g positi­
ver in ternationaler Standards d er Pressefreiheit bekräftigt. 1998 hingegen
verkündete d er O b erste G e ric h tsh o f elf restriktive Urteile, deren Begleit­
um stän d e bezeichnend waren: Sie w u rd en ausnahm slos v o n den R ich­
tern d er M enem -M ehrheit gezeichnet, sieben A ngelegenheiten betrafen
M enem , seine Familie, sein K ab in ett o d er den O b ersten G erichtshof.
A b er auch nachgeordnete G erichte o hne diese politische M otivation
zeigten in ihren U rteilen eine geringere N eigung, die P ressefreiheit zu
schützen.
Z w ar gab es auch 1998 u n d 1999 G eg en tendenzen zu diesen N eg a ­
tiventw icklungen. D o c h insgesam t scheint im Z uge dieser p erm anenten,
zu n eh m en d v o n Teilen d er Justiz gedeckten A ngriffe aus dem U m feld
v o r allem d er E xekutive die B ereitschaft auch bei anderen A kteuren (P o­
lizei, Mafia, vereinzelt auch Parteipolitiker u n d U nternehm er) gew achsen
zu sein, kritische Jou rn alisten u n te r D ru ck zu setzen bzw. gelegentlich
auch zu gew altförm igen M itteln zu greifen. D ass A rgentiniens Presse
v o n Freedom House erneut als n u r „teilweise frei“ eingestuft w ird (Free­
d o m H o u se 2000b), w eist d a ra u f hin, dass sich diese B eschränkungen zu
einem Syndrom verfestigen k ö n n ten — v.a. dann, w en n sich die neue
richterliche Praxis fortsetzt u n d auch bei „N icht-M enem isten“ Schule
m acht; w o fü r einige Indizien aus den P ro v in zen sprechen. Bis dato sind
die skizzierten negativen T en d en zen jedoch (noch) nicht als grundsätzli­
che B eeinträchtigung für den K ern der Pressefreiheit anzusehen; sie
dürften zudem nach d er Ä ra M enem — eine Z eidang evd. m it der A u s­
nahm e des K o rruptionskom plexes — w eitgehend der V ergangenheit an ­
gehören.

Effektive R egierungsgew alt und V etom ächte

D ie positive E ntw icklung d er argentinischen D em okratie zeigt sich auch


darin, dass das klassische P ro b lem der effektiven R egierungsgew alt w eit­
g eh en d gelöst ist. G em ein t sind dam it die in Lateinam erika w oh lb ek an n ­
ten M achtgruppen, die dem okratischer K on tro lle nicht unterw orfen sind
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 349

bzw. sich gar als T u telarm ach t v o n V erfassung un d D em okratie verste­


hen wie das M ilitär in Chile. D a d u rc h ist n icht gew ährleistet, dass die
dem okratisch legitim ierten A m tsträger auch tatsächlich die V erfügungs­
gewalt ü b er alle politischen M aterien besitzen (S ch m itter/K arl 1991: 81;
C o llier/L evitsky 1997: 442).
Z u den herausragenden L eistungen M enem s zählt neben der B ändi­
gung der H yperinflation zw eifelsohne, dass er die G e fa h r einer E nkla­
vendem okratie beseitigt u n d dam it auch eines der K onsolidierungsprob­
lem e aus dem W eg g eräum t hat. D ie M ilitärs spielen in der argentini­
schen Politik so g u t wie keine n ennensw erte Rolle m ehr. D ies gilt jedoch
n ich t für den gesam ten U ntersuchungszeitraum . D e n n obw ohl die Mili­
tärs 1982 jegliches A nseh en u n d auch einen G roßteil ihrer M achtposition
verspielt h atten, besaßen sie n o c h im m er genügend M achtressourcen, um
im Zweifelsfall ihre ureigensten institutionellen Interessen zu schützen.
W äh ren d ersteres dazu führte, dass die dem okratische R egierung —einzig
in Lateinam erika —M ilitärangehörige rechtlich zur V erantw ortung ziehen
k onnte, erklärt letzteres, w aru m das M ilitär in diesem P u n k t als V eto ak ­
teur agieren konnte. D araus resultierten Spannungen, die sich in der
zw eiten H älfte d er A m tszeit A lfonsins zuzuspitzen d ro h ten un d m it zum
generellen K risenszenario 198 8 /8 9 beitrugen. M enem beseitigte dieses
P ro b lem durch eine w eitreichende A m nestie, die auch die R evolten ge­
gen A lfonsin einschloss, u n d sicherte sich so die Loyalität der M ilitärfüh-
rung. D ies w ar m it entscheidend, u m dem erneuten A ufbegehren der ca-
rapintadas, die sich z u n eh m en d v o n den institutionellen Interessen der
M ilitärhierarchie en tfern t h atten, bedingungslos ein E n d e setzen zu kö n ­
nen. D ie so erreichte U b ero rd n u n g der zivilen ü b er die m ilitärische
M acht h a t sich bis heute w eiter stabilisiert. D ie K ehrseite dieser Medaille
bildet allerdings die E rblast, die sich aus d er legalisierten Straflosigkeit
für die zahlreichen M enschenrechtsverletzungen ergibt un d keineswegs
aus der öffentlichen A genda v erb a n n t ist.
N e b e n U ruguay dürfte A rgentinien das einzige L and Südam erikas
sein, das dieses klassische P ro b lem d er effektiven R egierungsgew alt ge­
lö st hat. W eniger eindeutig m üssen die A ussagen allerdings zu jenen Re­
striktionen bleiben, die sich aus der externen A bhängigkeit des Landes
ergeben. V o r allem IW F u n d W eltbank h aben sich in der Ara M enem zu
d erart d o m in an ten A kteu ren für die argentinische Politik entwickelt, dass
sie n u r bei Strafe des (w irtschaftlichen) U ntergangs um gangen w erden
können. G ew iss ist d a ra u f hinzuw eisen, dass A rgentinien wie andere
L änder auch sich diese P roblem atik durch früheres M issm anagem ent
selbst eingehandelt hat. A llerdings ist die Frage zu stellen, w o die G renze
350 P e te r T h iery

liegt zw ischen selbstverschuldeter A bhängigkeit u n d einer externen D o­


m inanz, die einen ähnlichen V erlust der effektiven R egierungsgew alt be­
deutet wie beim V orhandensein u n kontrollierbarer M achtgruppen au f
nationaler Bühne. So forderte der IW F in der H ochphase des P räsident­
schaftsw ahlkam pfes 1999 w eitere harte A npassungsm aßnahm en, die
auch die Provinzen einschließen m üssten. D u rch die A bhängigkeit vo n
neuen K rediten u n d v o r allem v o m V ertrauen der internationalen W irt­
schaftsakteure besaß die R egierung n u r geringe E ntscheidungsspielräum e
im B ereich der W irtschafts-, Sozial- u n d H aushaltspolitik.

D ie E ntw icklung des R echtsstaates

D as A bdriften in eine D em okratie m it delegativen u n d illiberalen Z ügen


stellt die m arkanteste regressive T en d en z d er Regim eentw icklung u n ter
M enem dar. D ie größ ten P roblem e b estehen hinsichtlich der F unktions­
weise des R echtsstaates (Cheresky 1999; S ab say/O naindia 1998; G arga-
rella 1996). T ro tz strukturell günstigerer V oraussetzungen bildet A rgen­
tinien hier keine A usnahm e im lateinam erikanischen K o n tex t (G arzón
Valdés 1999; O ’D o n n ell 1998). G ew iss unterscheidet sich das L and von
deutlich autoritären E ntw icklungen wie in P eru u n d V enezuela oder ei­
ner Belanglosigkeit des Rechtsstaates wie in K olum bien. D e n n o c h ist die
Logik, die eine A ushebelung rechtsstaatlicher K ontrollen u n d G arantien
m it sich bringt, in allen Fällen eine ähnliche. Sofern die Schw ächen im
Bereich d er G ew altenteilung u n d -kontrolle hegen, fördert dies die V er­
selbständigung einer d er G ew alten —in d er Regel ist es die E xekutive —
u n d fü h rt zur G efah r eines A m tsm issbrauchs. Liegen die D efizite in
m angelnder G ew ährleistung der individuellen Schutz- u n d Freiheitsrech­
te, so stellt dies den R echtsstatus u n d dam it die A u tonom ie der einzelnen
B ürger in Frage. Selbst w en n W ahlen u n d politische F reiheitsrechte ge­
w ährleistet sind, beschädigen diese D efek te den K ern einer D em okratie,
weil sie die V olkssouveränität gew isserm aßen „halbieren“ : Z w ar geht die
Staatsgew alt v o m V olke aus, in d em sie v o n ihm ü b er konstitutionell ver­
ankerte V erfahren legitim iert w ird, doch findet ihre A usübung, also die
H errsch aft ü b er das V olk, n ich t die notw endigen Schranken vor. D araus
resultieren Spielarten einer „illiberalen“ D em okratie (Zakaria 1997), da
die v o m Liberalism us „erfu n d en en “ K on tro llinstanzen eines gezügelten
H errschaftsgebrauchs unterlaufen w erden.
Im A rgentinien der Ä ra M enem traten solche illiberalen T endenzen
v o r allem in F o rm des H yperpräsidentialism us sowie der D om estizierung
der Justiz auf. D eren m angelnde E igenständigkeit strahlte auch a u f die
D e m o k ra tie u n d R echtsstaatlichkeit 351

Problem bereiche K o rru p tio n u n d Straflosigkeit aus u n d akzentuierte


überdies die traditionellen F unktionsm ängel zu einem verbreiteten Klim a
der R echtsunsicherheit. G leichw ohl existierten auch Faktoren, die diese
Logik konterkarierten, näm lich der föderale A ufbau des politischen Sys­
tem s, d er eine zusätzliche u n d w irksam e E b e n e politischer A useinander­
setzung einzieht; die relative Stärke v o n politischer u n d ziviler G esell­
schaft im V erb u n d m it einer agilen M edienlandschaft, die teilweise die
rechtsstaatlichen K ontrollschw ächen kom pensieren konnten; sowie nicht
zuletzt die k onkurrierenden Politikverständnisse vo n P eronism us einer­
seits u n d Liberalism us —v.a. U C R —andererseits, was a u f tieferreichende
historische M uster u n d die politische K u ltu r verweist. D ies lässt bereits
erahnen, dass die zukünftige E ntw icklung des argentinischen R echtsstaa­
tes u n d dam it der D em okratie v o n der W irksam keit dieses F ak to ren b ü n ­
dels abhängen.

„H yperpräsidentialism us“ und D ecretazo

D ie gravierendsten Fehlentw icklungen im Bereich der G ew altenteilung


b etreffen die form al u n d inform ell gestärkte Rolle des Präsidenten (ins­
b esondere seine D ekret- u n d V etom acht) u n d die E ingriffe in die Ju d ik a­
tive, insbesondere den O b ersten G e ric h tsh o f (Corte Suprema). D ie häufige
N u tz u n g der D ek ret- u n d V eto m ach t b ed eu tet nichts anderes als die ef­
fektive U m gehung des Parlam entes, sprich die A neignung legislativer
K o m p eten zen durch die Exekutive. D abei unterscheidet das argentini­
sche V erfassungsrecht zw ischen unterschiedlichen D ekretarten. Bis zur
V erfassungsreform 1994 w aren lediglich „gew öhnliche“ D ekrete v o rge­
sehen, wie sie auch in anderen Präsidialsystem en üblich sind (V erord­
n u n g en z u r Im p le m e n tie ru n g v o n G esetzen sowie z u r A u sfü h ru n g
präsidentieller A m tspflichten). D an eb en existierte inform ell, aber w eitge­
h e n d akzeptiert, die delegierte D ekretm acht, w odurch das Parlam ent per
G esetz d er E xekutive für bestim m te D au er u n d für bestim m te M aterien
das R echt zum Regieren p er D ek ret überträgt. D ie beiden w ichtigsten
R eform en d er A nfangsphase, das G esetz zu r Staatsreform u n d das W irt­
schaftsnotstandsgesetz, zählten hierzu. Sie w urden v o n M enem dazu ge­
nutzt, w esentliche Teile des w irtschaftlichen L iberalisierungsprogram m es
a u f den W eg zu bringen. D elegierte D ek retm acht kann zw ar pro b lem a­
tisch w erden, w en n ihre Praxis n ich t kontrolliert wird, do ch ist sie letzt­
lich parlam entarischen U rsprungs. Sie rechtfertigt sich u.U. aus Sach-
g ründen, w enn etw a dringliche w irtschaftspolitische M aßnahm en kont-
352 P e te r T h iery

raproduktive E ffek te erzeugen, sobald sie einen parlam entarischen —un d


dam it langw ierigen u n d öffentlichen —B eratungsw eg durchlaufen.
Z u m fragw ürdigsten In stru m e n t legislativer U surpation w urde h in ­
gegen M enem s R ekurs a u f N o tstan d s- u n d D ringlichkeitsdekrete. Wie
die delegierte D ek retm ach t besaßen sie bis zu r R eform keine V erfas­
sungsgrundlage, w u rd en faktisch allerdings auch schon v o r M enem ein­
gesetzt. W äh ren d dies zw ischen 1853 u n d 1983 lediglich ca. fünfzehn
Mal d er Fall war, g riff A lfonsin bereits acht Mal darau f zurück, so u.a. für
den Plan A ustral. M enem Keß v o n A nfang an keinen Zw eifel daran, dass
er dieses In stru m e n t b evorzugt zu r Sicherung seiner Regierungsgewalt
einzusetzen gewillt war. D ie beso n d ere Situation des K nsenjahres 1989
verschaffte ihm sow ohl u n te r den p ohtischen Parteien wie v o r allem in
den A ugen d er B evölkerung, die v o n der neuen R egierung entschlosse­
nes H an d eln erw artete, die nötige Legitim ation für eine solche Regie­
rungspraxis. In den fü n f Jah ren bis zu r V erfassungsreform (JuK 1989-
A u g u st 1994) w u rd en 336 solcher D ek rete erlassen, gegenüber einer
A nzahl an regulären G esetzen v o n ca. 800 im gleichen Zeitraum . G eregelt
w urden dam it so unterschiecUiche M aterien wie Steuerw esen, L öhne un d
P ensionen, T ransp o rtw esen , S taatsverschuldung bis hin zu r Privatisie­
ru n g u n d D ereguherung der W irtschaft. N ach A nsicht des dam ahgen
W irtschaftsm inisters Cavallo h ätten insbeso n d ere die notw endigen W irt­
schaftsreform en n u r zu einem F ünftel im plem entiert w erden können,
w en n sie den vorgesehenen parlam entarischen W eg durchlaufen hätten
(Ferreira R u b io /G o re tti 1998a: 36).
D ie v o n Beginn an um stritten e D ekretpraxis w urde dadurch begüns­
tigt, dass M enem in beiden K am m ern des Parlam ents wie auch in den
P rov in zen a u f M ehrheiten zählen konnte. D e r rechtsfreie Raum , in dem
sich die R egierung anfangs dam it bew egte, w urde durch ein U rteil des
O b ersten G erich tsh o fes im Ja h r 1990 beendet, das die D ek retm ach t in
den R ang einer para-konstitutionellen K o m p etenz des P räsidenten er­
hob. Z u m Z eitp u n k t d er V erfassungsreform k o nnte sie so bereits als ha-
bituahsierte Regierungs praxis gelten. D ab ei w u rden nicht alle N o tsta n d s­
dekrete, die letztlich G esetzescharakter trugen, v o n der E xekutive als
solche anerk an n t (Ferreira R u b io /G o re tti 1998b: 6-8). Ü berdies w ar oft
auch der N o tstan d sch arak ter selbst m e h r als fraghch, wie etwa die 1991
verfügte A sphaltheferung an BoHvien o d er 1993 ein D ek ret zu den Fern-
sehübertagungsrechten für Spiele der Fußballnationalm annschaft.
D u rc h die V erfassungsreform w urden die N o tstands- u n d D ring-
hchkeitsdekrete m it V erfassungsrang ausgestattet, indem sie ausdrückKch
als K o m p eten z des P räsidenten aufgeführt w erden (Art. 99.3). Ih re For-
D em o k ratie u n d R ech tsstaatlich k eit 353

m alisierung w urde jedoch an strenge A uflagen gebunden. So ist explizit


die B estim m ung vorgeschaltet: „D ie E xekutivgew alt kann in keinem Fall,
bei Strafe absoluter u n d unw iderruflicher N ichtigkeit, A n o rd n u n g en m it
legislativem C harakter treffen .“ D ies v erstärkt den dezidierten A u sn ah ­
m echarakter, d er solchen D ekreten zukom m en soll. W eiterhin w erden
sensible M aterien wie Strafrecht, Steuern, W ahlangelegenheiten u n d P a r­
teiengesetz ausdrücklich ausgenom m en. Schließlich verfügt derselbe Ar­
tikel, dass N o tstan d sd ek rete innerhalb v o n zehn Tagen einer ständigen
P arlam entskom m ission vorzulegen sind, um ü b er die w eitere V erfah­
rensw eise zu entscheiden.

T a b e lle 1: N o ts ta n d s d e k re te u n d V eto p ra x is 1989-1998

1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998

N o tstan d s­ 30 63 85 69 62 35 37 36 37 18
dekrete
davon 18 32 59 36 15 7 7 11 26 13
anerkannt
Teil- und 4 14 21 26 11 12 20+ 21 19 k. A.
T otalvetos 15
verabschie­ 114 160 139 122 119 147 164 153 161 k.A.
dete G esetze
1989: Juli-Dezember; 1998: Januar-August. (Quelle: Ferreira R ubio/G oretti 1998b: 6; Molinelli et
al. 1999: 415, 480-481, 626)

D ie A bsicht, die K o m p eten zen in ein strikteres K ontrollnetz einzubin­


den u n d d adurch zu begrenzen, m uss zu m in d est für die w eitere A m tszeit
M enem s als gescheitert angesehen w erden. Z w ar ging die A nzahl der
D ek rete m it G esetzescharakter zurück, doch w urden no ch im m er — je
nach Zählw eise — im Schnitt jährlich ca. 20-40 solcher D ekrete verab­
schiedet (bei einem D u rch sch n itt v o n ca. 140 regulär verabschiedeten
G esetzen jährlich). B erücksichtigt m an, dass insbesondere in den Jah ren
der S trukturreform en der W irtschaft —um 1991 —M enem hiervon gera­
dezu exzessiven G eb rau ch m achte, so fällt d er R ückgang no ch w eniger
ins G ew icht. N eb en d er A nzahl sprechen auch die geregelten M aterien
für eine w eitere H abitualisierung des D ekretgebrauchs durch M enem ,
d en n auch nach d er R efo rm w u rd en sie häufig nicht in tatsächlichen
N o tsitu atio n en eingesetzt. Z u d em existierte die nach der neuen V erfas­
sung vorgesehene K ongresskom m ission zu r P rü fu n g der D ekrete bis
zum E n d e der A m tszeit M enem s nicht; erst D e la Rúa ließ einen E n t-
354 P e te r T h iery

w u rf für das dazu nötige G esetz ausarbeiten. D ie Frage, ob sich M enem


som it n ich t neuerlich a u f zw eifelhaftem V erfassungsgrund bew egte, en t­
schied unterd essen d er O b erste G e ric h tsh o f im Sinne der Exekutive: So
dürften d er E xekutive p e r V erfassung zugestandene K o m p eten zen nicht
aufg ru n d legislativer V ersäum nisse v erw eh rt w erden. A ndererseits dürfe
sich die Justiz n ich t in die A ngelegenheiten der „politischen“ G ew alten
E xekutive u n d Legislative einm ischen, da dies die G ew altenteilung gra­
vierend beeinträchtigen w ürde (S absay/O naindia 1998: 338-339).
D ie legislativen K o m p eten zen des argentinischen Präsidenten er­
sch ö p fen sich jedoch n ich t in dieser fragw ürdigen D ekretm acht. D e n n
zusätzlich besitzt er die K o m p eten z, G esetzesvorlagen m it einem v o ll­
ständigen o d er partiellen V eto zu belegen (letztere w aren v o r der V erfas­
sungsreform de facto akzeptiert). D iese V etos k ö nnen v o m K ongress
n u r m it einer Z w eidrittel-M ehrheit in beiden K am m ern überstim m t w er­
den. T abelle 1 zeigt, dass M enem ü b er beide A m tszeiten hinw eg auch
hierv o n system atisch G eb rau ch m achte (zw ischen 10% u n d 15% der
G esetzesvorlagen). F ü r sich nichts U ngew öhnliches in Präsidialsystem en,
stellen sie in K o m b in atio n m it d er D ek retm ach t eine kom plem entäre, re­
aktive M öglichkeit zur G estaltu n g des G esetzgebungsprozesses dar. V ie­
les sprich t som it dafür, dass M enem sow ohl D ekret- als auch V etom acht
eh er zu r „E rleich teru n g “ des Regierens u n d für einen autokratischen R e­
gierungsstil g en u tzt h a t (M ustapic 1998: 14-19). E ine Rolle spielte dabei
auch die n ich t im m er gesicherte D isziplin d er eigenen P artei im P arla­
m ent. In sb eso n d ere in der A nfangsphase tra f gerade die neoliberale Re­
form politik n ich t a u f ungeteilte Z u stim m u n g innerhalb d er PJ.
D ieses Szenario m ach t deutlich, dass die A usübung der D ek retm ach t
u n d dam it die A neignung legislativer K o m p eten zen zu m einen m it den
A m b itio n en u n d dem R egierungsstil des M achthabers variieren, zum an­
d e m m it den k o n k reten politischen K o n ju n k turen (Parlam entsm ehrhei­
ten, Fraktionsdisziplin, Problem lösungskapazität). Z ug ru n d e liegt jedoch
eine O p p o rtu n itätsstru k tu r, die sich aus den form ellen B estim m ungen
der V erfassung u n d den etablierten Praktiken u n d R outinen ergibt. F ür
eine B eurteilung d er L angzeitfolgen für die argentinische D em okratie ist
som it das Z usam m enspiel dieser F aktoren zu berücksichtigen.

D ie E igen ständ igk eit der Justiz und die Rolle des O bersten
G erichtshofes

D ie U nabhängigkeit d er Justiz, die auch nach der neuen V erfassung for­


m al gew ährleistet ist, w ar in d er Praxis seit jeher beeinträchtigt durch
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 355

E inm ischungen seitens der beiden anderen G ew alten, insbesondere der


E xekutive (Carrió 1997; G argarelia 1996: 228-236). D eren B estrebungen
zu r inform ellen M acht- bzw. K om p eten zau sw eitung u n d som it des K on-
trollentzugs trafen dabei n ich t selten a u f entsprechende D ispositionen
innerhalb d er Justiz selbst, sich in ih rer D o k trin daran anzupassen. D iese
generell problem atische A bhängigkeitssituation h at sich seit 1983 nicht
verb essert u n d seit 1989 graduell verschlechtert (N ino 1992). Sie betrifft
sow ohl das A gieren des O b ersten G erich tsh ofes als auch nachgeordnete
Instanzen, insbeso n d ere V erw altungskontrollorgane u n d die Strafjustiz.
D ie v o r allem in d er A nfangsphase der ersten R egierung M enem erfolg­
ten Struktureingriffe schufen eine Situation, in der gerichtliche H in d er­
nisse für die E xekutive bzw. m it ih r v erb u n d en e A kteure w eitgehend
ausgeräum t w aren u n d so auch dubioseste P raktiken erm öglicht w urden.
D as V ertrau en in Justiz u n d R echtsstaatlichkeit w urde dadurch insgesam t
w eiter geschädigt.
D eutlichstes Beispiel hierfür ist die Rolle des O b ersten G erichtsho­
fes (Corte Suprema), der Spitze des argentinischen Rechtssystem s. Bereits
w enige M onate nach seinem A m tsan tritt hatte M enem es durchgesetzt,
die Z ahl d er R ichter v o n fü n f a u f neun zu erhöhen. D as v o n ih m einge-
brachte G esetz w urde in der entscheidenden Sitzung des A b g eordneten­
h auses n ach exakt 41 S ek u n d en b esch lo ssen , an d er A b stim m u n g
n ahm en laut V o rw u rf der O pposition auch diputados truchos teil —S trohm än­
ner, die gar nicht dem P arlam ent angehörten. A uch das V erfahren zu r
E rn e n n u n g d er n euen R ichter im Senat verlief u n te r zw eifelhaften U m ­
ständen (V erbitsky 1993: 52). E ingriffe dieser N a tu r scheinen dabei n o c h
am ehesten in d er argentinischen R echtstradition zu stehen: F ü r gew öhn­
lich w urde d er O G H zu B eginn jeder neuen R egierung neu besetzt; dies
fiel u n te r A lfonsin w eniger auf, da er nach dem E n d e der D ik tatu r das
u n b estritten e Privileg der N eu b esetzu n g hatte. D ie A ufstockung des
O G H n u tzte M enem , u m ih m getreue R ichter zu berufen. Innerhalb
k urzer Z eit hatte er es so geschafft, die M ehrheitsverhältnisse in diesem
G rem iu m deutlich zu seinen G u n sten um zukehren.
M enem s G espür, auch in den krisengeschüttelten A nfangsm onaten
ü b e r die konjunkturellen P ro b lem e hinauszublicken u n d a u f die ih n u m ­
g ebenden M achtstrukturen einzuw irken, beschränkte sich nich t a u f die
Spitze des R echtssystem s. V ielm ehr bezog er in seine Strategie der
M achtarrondierung auch w eitere Institu tio n en der G ew altenkontrolle
ein, u m für seine R egierung m öglichst w enig R estriktionen erdulden zu
m üssen (V erbitsky 1993: 77-131; G argarelia 1998; R odríguez 1998):
356 P e te r T h iery

D e r oberste V erw altungsrichter (Fiscal N ational de Investigaciones A d m i­


nistrativas), Ricardo M olinas, w urde A nfang 1991 durch einen regierungs­
treu en V e rtreter ersetzt. D e r Fiscalía oblag die A ufgabe, v erm u tete n
Unregelmäßigkeiten staatlicher Am tsträger u nd Einrichtungen nachzugehen
u n d gegebenenfalls Anklage zu erheben. M olinas erm ittelte gegen einige
H aup tfu n k tio n äre der Regierung, w ar aber auch selbst in ein anderes
V erfahren verwickelt. M enem n utzte die G elegenheit, M olinas p er D e k ­
re t abzusetzen, also o h n e das vorgesehene V erfahren u n d u n te r U m ge­
hun g des K ongresses. D e r v o n M olinas p räsentierten K lage gegen seine
A bsetzu n g (U m gehung des V erfahrens, V erstoß gegen die U nschulds­
verm utung) w urde in erster Instanz sowie v o r der B erufungskam m er
stattgegeben u n d seine W iedereinsetzung verfugt. D ie R egierung igno­
rierte dies u n d w urde darin v o m O G H bestätigt (s.u.). D ie Fiscalia verlor
nachfolgend ihre W irksam keit fast vollständig, wie ein A u to r lakonisch
bem erkt: „W enn in ihren R eihen w irklich ernsthafte E rm ittlungen exis­
tierten — etwa im H inblick a u f die zahlreichen K o rru p tio n s fälle, die die
Z eitungen in den letzten Jah ren beschäftigen - dann hat die B evölkerung
n ich t davon erfahren.“ (Carrió 1996: 168).
D e r G eneralstaatsanw alt (Procurador General de la Nación) w urde zum
R ücktritt gedrängt u n d sein N achfolger p e r D e k ret eingesetzt. Z u seinen
F u n k tio n en zählten u.a. die B eratung des O G H in w eitreichenden Fällen
sowie die F ü h ru n g d er n achgeordneten Staatsanw älte, a u f die er ü b er In ­
struktionen g roßen Einfluss nehm en k o n n te — auch in Fällen, in die
A m tsträger involviert w aren. W enngleich n ich t in der V erfassung v era n ­
kert, w urde der G eneralstaatsanw alt traditionellerw eise als Teil der Ju d i­
kative v erstanden u n d unterlag deshalb denselben B estim m ungen der
E rn en n u n g (im Senat) u n d A bsetzung (politisches V erfahren). D ie neue
Regierung hingegen b etrachtete ihn als V ertreter der E xekutive in der
Judikative u n d nahm das E rn en n u n g srech t für sich in A nspruch. E n t­
sprechend w urde der N achfolger o h n e Z u stim m ung des Senates b e­
stim m t u n d nicht v o r dem O G H , so n d em v o r der E xekutive vereidigt.
V ier d er fü n f M itglieder des O b ersten R echnungshofes —zuständig
u.a. für die K ontrolle der öffentlichen A usgaben — w urden bis E n d e
1990 o h n e das vorgesehene politische V erfahren abberufen. D e r R ech­
n u n g sh o f hatte in einem der ersten schw eren K o rru p tio n s fälle der A m ts­
zeit M enem ein S trafverfahren eingeleitet. E rse tz t w u rd en sie durch
regierungstreue V ertreter, w obei eines der neuen M itglieder zu den v o m
R ech n u n g sh o f B eschuldigten zählte (Gargarella 1998: 440). Bereits im
A ugust 1989 w ar das a u f die U n tersu ch u n g v o n F inanzbetrügereien spe­
zialisierte Centro de Fstudios Penales d er Z entralbank aufgelöst w orden.
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 357

A u ch d er G eneralinspekteur der Justiz' w urde 1990 im Z uge v o n U n re­


gelm äßigkeiten beim u n g eo rd n eten Privatisierungsprozess zu m R ücktritt
gedrängt.
A b g eru n d et w urde diese P ersonalpolitik durch die kontinuierliche
Praxis, R ichter u n d Staatsanw älte ü b er „B eförderungen“ oder V erset­
zungen aus ihren jeweiligen Ä m tern zu entfernen, w enn sie der Regie­
rung zu u n b eq uem w u rd en —eingeschlossen Fälle, in denen gegen Fam i­
lienangehörige o d er F re u n d e M enem s erm ittelt w urde. D ab ei w urde
zum eist auch d er Senat um gangen, ein V orgehen, das der O G H als verfas­
sungsgem äß deklarierte. D ad u rch lag es faktisch in der H an d der E x e k u ­
tive, die Justiz Struktur nach eigenem G u td ü n k e n zu gestalten. Jenseits
der T atsache, dass alle g en an n ten P ositionen durchw eg m it linientreuen
P ersönlichkeiten besetzt w urden, b rachten diese Schachzüge auch eine
grundlegende V erän d eru n g d er Spielregeln im H inblick a u f die U n ab ­
hängigkeit der Justiz m it sich: D ie A m tsgarantie w urde u n term iniert bzw.
aufgehoben u n d zentrale Instan zen gerieten in eine direkte A bhängigkeit
v o n d er E xekutive, die sie eigentlich kontrollieren sollten. D iese U n si­
cherheit beeinflusste nicht zuletzt auch die R echtsprechung des O G H
(H elm ke 1998).
D as in der T endenz o h n eh in eher regierungsfreundliche A gieren des
O b ersten G erichtshofes h a t sich nach 1990 zu einer regierungskonfor­
m en Linie entw ickelt, wie die Fälle zeigen, in denen der argentinische
Staat involviert war. Z w ar b ed eu tet dies nicht, dass der O G H in jedem
Falle zugunsten d er R egierung entschieden h a t (Molinelli et al. 1999:
716). E s trifft jedoch für die zentralen Streitfälle zu, die F orm , Stil un d
grundlegende M aßnahm en der Politik M enem s betrafen. So legitim ierte
der O G H die fragw ürdigen personellen E ingriffe a u f allen E b e n en der
Justiz m ittels d er n ich t w eniger fragw ürdigen D o k trin , dass die Judikative
sich n ich t in die K o m p eten zen der anderen G ew alten — also E xekutive
u n d Legislative —einzum ischen habe. D iese Selbstdegradierung zu einer
eher dienenden F un k tio n der Justiz blieb bis heute einer der G rundzüge
d er R echtsprechung des O G H .
In ähnlicher M anier w urde 1990 die konstitutionell bis dahin frag­
w ürdige D ek retm ach t höchstrichterlich abgesegnet. Streitfall w ar das
D ekret, m it dem die R egierung im Z uge ih rer W irtschaftsreform politik
kurzfristige B ankeinlagen faktisch konfiszierte u n d in langfristige Staats­
anleihen in D o llar um w andelte. D as U rteil zu diesem Plan Bonex gilt als
ausschw eifend u n d teilweise konfus (Carriö 1996: 176-178), bestätigt
aber letztlich deutlich die R echtm äßigkeit des D ekretgebrauchs in n atio ­
nalen N otsituationen. Im Z uge der R echtfertigung w urde hervorgeho-
358 P e te r T h iery

ben, das P rinzip d er G ew altenteilung sei „flexibel“ zu interpretieren u n d


jedenfalls n ich t dahingehend, dass es einem A useinanderfallen des Staa­
tes gleichkäm e. Ü berdies h ätte d er K ongress seine stillschw eigende Z u­
stim m ung erklärt, in d em er keine zurückw eisenden E n tscheidungen dazu
gefällt habe.
A nlässlich der in den ersten Jahren m ehrheitlich durch delegierte
D ek retm ach t vollzogenen Privatisierungspolitik um ging der O G H gar
die Prozessregularien, indem er das en tsprechende V erfahren v o r einer
unteren Instanz a u f B etreiben d er E xekutive' an sich zog u n d in deren
Sinne beschied. D ies w urde explizit dam it begründet, dass es nicht d e­
m okratischen G ru n d sätzen entspreche, w en n ein (klagender) A b g eo rd ­
neter den W illen v o n R egierung u n d Parlam entsm ehrheit u n d dam it den
V olksw illen aufhalten k ö n n e (G argarelia 1996: 245-246). A uch die fort­
gesetzte D ekretpraxis nach d er V erfassungsreform fand schließlich ihre
Bestätigung d urch den O G H . E inw endungen, w onach ohne E xistenz
der Z w eikam m erkom m ission zur P rü fu n g der D ekrete diese keine
G rundlage h ätten u n d som it verfassungsw idrig w ären, w urden abgew ie­
sen. D em n ach dürfe d er P räsid en t n ich t deshalb seiner verfassungsge­
m äßen K o m p eten z (zum Erlass v o n D ekreten) berau b t w erden, weil der
G esetzgeber seinen legislativen Pflichten n icht nachkom m e u n d das
notw endige G esetz n ich t verabschiede.
E inige dieser zentralen U rteile w urden einstim m ig gefällt, was darau f
hin deutet, dass n ich t n u r die personellen E ingriffe in den O G H für die­
se T en d en zen verantw ortlich w aren. Z u m einen bildete sich im O G H
durchaus eine eigene D o k trin heraus, freilich o h n e A usw irkungen für die
R egierung (Gargarelia 1998). Z u m änd ern gibt es A nzeichen dafür, dass
sich die R ichter am O G H a u f die jeweiligen politischen V erhältnisse ein­
stellen, sprich: eher affirm ativ im Sinne einer am tierenden R egierung u r­
teilen, eher abw eichend, w en n sich ein W andel abzeichnet. Z usam m en
m it d er geschilderten E in- u n d V ersetzungspraxis sp rich t dies für eine
eher schw ache U nabhängigkeit der argentinischen Justiz. D e n n o c h wäre
es gew iss überzeichnet, das strukturell sehr differenzierte argentinische
R echtssystem in to to der H ö rigkeit gegenüber den beiden anderen
Staatsgew alten zu bezichtigen. V ielm ehr existierten auch in der A ra Me­
nem dezidiert liberale T en d en zen fort. G estärkt w erden die positiven
T en d en zen durch die reform ierten V erfahren der E rn en n u n g bzw. V er­
setzung v o n R ichtern. D iese F u n k tio n w urde m it der n euen V erfassung
einer eigenen K ö rp ersch aft übertragen, dem Consejo de la Magistratura.
A uch hier ist bezeichnend, dass d er Consejo faktisch erst 1998 eingesetzt
w urde u n d so erst im letzen R egierungs jahr M enem s seine A rbeit wirk-
D e m o k ra tie u n d R echts Staatlichkeit 359

lieh aufnehm en konnte. E in e gewisse A gilität zeigte er dadurch, dass er


sich sch arf gegen die v o n M enem u n b eirrt fortgeführten V ersetzungen
p e r D ek ret w andte u n d die K o m p eten z hierfür alleine für sich in A n­
spruch n ah m (Clarín 5.3.1999). A llerdings d ro h t auch der Consejo in die
M ühlen argentinischer Parteipolitik zu geraten, u n d m eh r als ein Ja h r
nach seiner E inrich tu n g w uchs das U nbehagen ü b er sein schleppendes
F unktionieren, da inzw ischen ca. 10% d er Richters teilen unb esetzt w aren
(La N ació n 4.6.2000).

Straflosigkeit und Korruption

„E l p o d e r es ten er im p u n id ad “ („M acht bedeutet Straflosigkeit.“) —K ein


Satz bündelt w ohl präg n an ter die K o n seq uenzen einer m angelnden
R echtsstaatlichkeit für die Funktionsw eise einer D em okratie. Z uge­
schrieben w ird er d em U n tern eh m er u n d verm utlichen M afiachef A lfre­
do Y abrán (Salinas 1997: 6), dessen um fangreiche M achenschaften bis in
die Spitzen d er M enem -A dm inistration reichten u n d d er sich 1998 das
L eben nahm . In der T at m uss m an kein R echtsphilosoph sein, u m den
Z u sam m enhang zw ischen einer w irksam en R echtsstaatlichkeit u n d der
K o ntrolle v o n M achtm issbrauch zu erkennen (G arzón Valdés 1999:
119): So h atten E n d e d er 90er Jah re 57% der argentinischen Bevölke­
rung ein negatives Bild v o m O b ersten G e ric h tsh o f un d n u r 6% ein p o si­
tives; 53% gaben an, dass d er O G H seit seiner E rw eiterung lediglich der
Stützung des P räsidenten u n d d er R egierung diente (A drogue/G argarelia
1999). D e r Justiz insgesam t m isstrauten vier F ünftel der A rgentinier
(M O R I 1998).
D as w enig beispielhafte A gieren des O G H als K ontrollorgan setzte
sich auch in nachgeordneten E b en en der R echtsprechung fort. Wie
schon zu den jüngeren E ntw icklungen im Bereich der Pressefreiheit an­
gedeutet, existiert in der argentinischen Justiz gerade in den „h arten “
T estfällen für ihre E igenständigkeit die N eigung, sich —bereitwillig bzw.
offenkundig au f In stru k tio n en hin — d er „S taatsraison“ unterzuordnen.
D iese F unktionsm ängel w u rd en v o n R epräsentanten der argentinischen
Zivilgesellschaft w iederholt u n d seit M itte der 90er Jah re zu nehm end u n ­
ter dem E tik ett d er Straflosigkeit (impunidad) staatlicher F unktionsträger
angeprangert (CELS 1998). W ährend in anderen L ändern Lateinam erikas
dam it ausschließlich die Relikte d er au toritären V ergangenheit angegan­
gen w erden, bezieht sich dies in A rgentinien zu einem h o h em M aß auch
a u f die F u nktionsträger des dem okratischen Regim es —in erster Linie au f
die E xekutiven in N a tio n u n d P rovinzen, jedoch auch a u f A ngehörige
360 P e te r T h iery

v o n Legislative, Militär, Polizei u n d n ich t zuletzt der Justiz selbst. E x em ­


plarisch hierfür ist v o r allem die Fülle illegaler M achenschaften im U m ­
feld d er M enem -A dm inistration (Verbitsky 1996). T ro tz einer m ittlerw ei-
le um fangreichen B ibliothek gut recherchierter u n d dokum entierter A na­
lysen — teils v o n p ro m in en ten E x-M itgliedern d er R egierung selbst ver­
fasst (Cavallo 1997; Béliz 1997) — w urde bis zu m E n d e der A m tszeit
M enem s kein einziger F u n k d o n ä r v o n n ennensw ertem R ang juristisch
belangt.
D as geringe V ertrauen d er B evölkerung in die Justiz ist aber auch ein
Indiz dafür, dass sich diese P roblem atik n ich t a u f die politischen M acht­
kreisläufe im engeren Sinne beschränkt, sondern sich zu einem gesell­
schaftsw eiten P h än o m en ausgew eitet hat. D ies gilt nicht zuletzt auch für
das P ro b lem der K o rru p tio n . W ar sie sch o n zuvor ein gängiges inform el­
les Regelw erk innerhalb d er argentinischen Politik, so h at sich seit 1989
ein P h än o m en herausgebildet, das als H yp erk o rruption bezeichnet w ird,
d.h. deren geradezu inflationäre Steigerung an Q uan tität u n d Q ualität.
N ach der E in stu fu n g v o n Transparency International., die a u f U m fragedaten
ü b er die P erzep tio n v o n K o rru p tio n basiert, g ehört A rgentinien zu dem
D rittel der L änder m it d er h ö ch sten K o rru p tio n (Transparency In tern a­
tional 2000). A m E n d e der Ä ra M enem w urde sogar die gem einhin etwas
träge W eltbank a u f diese P roblem atik aufm erksam . N ach G allup-U m fra-
gen rangiert dieses T hem a in den A ugen d er argentinischen B evölkerung
seit 1991 im m er u n te r den drei w ichtigsten politischen Problem en. D ie
Fülle der V erdachtsm om ente in p u n cto K o rru p tio n im engsten U m kreis
M enem s (Regierung u n d Familie) stellt som it n u r die Spitze des E isb er­
ges dar, die aufgrund des agilen Jo urnalism us auch gut sichtbar ist.
D ie in den letzten Jah ren zu n eh m en d en P ro teste gegen die Straflo­
sigkeit w urden u n d w erden v o n zivilgesellschaftlichen O rganisationen
konsequenterw eise als K a m p f für eine funktionierende R echtsstaatlich­
keit v erstanden (CELS 1998: 17). N ic h t zu letzt die w achsende Sensibili­
sierung d er argentinischen B evölkerung führte dazu, dass dieses T h em a
im m er p ro m in en ter in der politischen A genda u n d schließlich auch zu
einem b eh errschenden (W ahlkam pf-)T hem a des O ppositionsbündnisses
A lia n za (U C R u n d F R E P A S O ) w urde. D ies tru g auch z u m W ahl­
sieg de la Rúas bei, dessen „C h arism a“ im G egensatz zu M enem ge­
rade in der Seriosität u n d N ü c h te rn h e it des verantw ortungsbew ussten
Juristen bestand. E rw artet w urde, dass die A lia n za zum indest in diesem
Bereich eine energische Politik voran treib en w ürde, oh n e dabei M itglie­
d er d er alten R egierung zu sch o n en . Als F azit b e d e u te t dies, dass in
A rgentinien —im G egensatz etwa zu P eru —m it der Z un ah m e v o n D efek-
D e m o k ra tie u n d R ech ts Staatlichkeit 361

ten gleicherm aßen auch die w irkungsvollen G egenkräfte w achsen, wie


dies etwa im B ereich d er P ressefreiheit zu k o nstatieren ist.
G leichw ohl dürfte es n u r m ittel- o d er gar langfristig m öglich sein,
diese Parallelstrukturen auszuschalten, zum al heftige politische W ider­
stände zu erw arten sind. So geriet etwa die A n ti-K orruptionspolitik de la
Rúas ins Stocken, weil das v o n ih m eingerichtete A ntikorruptionsbüro
(Oficina Anticorrupción) durch politische u n d juristische A useinanderset­
zungen gelähm t w urde. Sym bolischerw eise am T ag seines A m tsantritts
p er G esetz verfügt, um K o rru p tio n s fälle d er M enem -A dm inistration agi­
ler zu u ntersuchen, w urden die K o m p eten zen des B üros v o n O pposi-
tionsp o litik em wie v o n Ju risten angezw eifelt (Clarín 22.5.2000).

Individuelle Schutz- und Freiheitsrechte

D ie bürgerlichen F reiheitsrechte sind v o n der V erfassung her im Sinne


einer liberalen D em okratie um fangreich gew ährt. W urden sie in den ers­
ten Ja h re n u n te r A lfonsin —gerade nach den E rfah ru n g en der M ilitärdik­
tatu r —dezidiert aufgew ertet, so h a t ihre Praxis in den letzten Jah ren eine
schleichende A u sh ö h lu n g erfahren. D ies ist au f die bereits ausgeführten
institutioneilen Schw ächen der R echtsstaatlichkeit zurückzuführen, es
h andelt sich n icht u m system atische, politisch m otivierte M enschen­
rechtsverletzungen seitens d er gew ählten politischen H errschaftsträger.
V ielm ehr sind es deren im g ro ß en u n d ganzen passive H altung u n d die
D u ld u n g d er F ehlentw icklungen, die m it zum A bbau individuellen
R echtsschutzes beiträgt. V o n einigen B eobachtern w ird dies allerdings
dahingehend gew ertet, dass seitens d er nationalen wie regionalen A u to ri­
täten durchaus ein Interesse daran besteht, angesichts w achsender sozia­
ler K o nflikte repressiv-sicherheitsstaatliche M aßnahm en (Polizei, Justiz)
einem gesellschaftlichen D ialog vorzuziehen. D o c h auch unabhängig
v o n dieser B ew ertung besteh en generelle D efizite im Bereich der Sicher­
heitskräfte, d er geringen L eistungsfähigkeit d er Justiz sowie hinsichtlich
d er sozial bedingten, in den letzten Jah ren zunehm enden Barrieren des
Z ugangs zu r Justiz. H in zu kom m en gravierende Einzelfälle, in denen p o ­
litische A u to ritäten bzw. staatliche F unktionäre dezidiert in E rm ittlungs­
u n d G erichtsverfahren eingreifen.
Im Z e n tru m d er E insch rän k u n g individueller R echte steht zu neh­
m e n d die Rolle der Sicherheitskräfte. P aradigm atisch hierfür sind die
m ittlerw eile als habitualisiert geltenden Praktiken der Polizei v o n G ran
B uenos Aires: Sie erstrecken sich zum einen au f übereilte bis willkürliche
V erhaftungen, m e h r als leichtfertigen Schussw affengebrauch auch ge­
362 P e te r T h iery

gen ü b er U nschuldigen bis hin zu r ü berlangen F estsetzung u n d Folter


v o n V erhafteten. Z u m anderen existieren m afiose S trukturen innerhalb
der Polizei, die n ich t n u r zur D eck u n g solcher W illkürm aßnahm en bei­
tragen, sond ern selbst m it krim inellen M achenschaften in V erbindung
gebracht w erden (so m it dem M o rd an einem Journalisten u n d dem A t­
ten tat a u f das G ebäude der jüdischen G em einde). G leichzeitig ist die E f­
fektivität d er Polizei angesichts w achsender K rim inalität drastisch zu ­
rückgegangen, d.h. d er Staat ist z u n eh m en d w eniger willens bzw . in der
Lage, die Schutzrechte d er B ürger gegen private, aber auch gegen staatli­
che A kteure (wie gerade die Polizei selbst) zu gew ährleisten (C E L S /H u -
m an R ights W atch 1998).
D ie zw eite negative T endenz ist w iederum m it der bereits ob en skiz­
zierten Rolle der Justiz verk n ü p ft, deren m angelnde U nabhängigkeit u n d
F unktionsfähigkeit sich auch a u f die Sicherung der individuellen Bürger­
rechte auswirkt. H ierbei fließen die B eeinflussung durch staatliche u n d
private A kteure (sofern involviert), m angelnde A usstattung, P rofessiona­
lität u n d C ourage, die w achsenden sozialen D isparitäten (verm inderter
R echtszugang) sowie die H y p erk o rru p tio n zusam m en. Insgesam t hat
sich d adurch in A rgentinien ein K lim a der R echtsunsicherheit ausgebrei­
tet, dessen V erfestigung sich im stetig schw indenden A nsehen der Justiz
widerspiegelt. D iese U nsicherheit w ird v o n der K o rru p tio n m it verur­
sacht, die jene dann w iederum nährt. Subjektive „R echtssicherheit“ en t­
steht in einem solchen K o n te x t durch die (vorsorgliche) B ereitschaft,
sich sein „R ech t“ zu erkaufen. H ierv o n sind naturgem äß die sozial
schw achen Schichten ausgeschlossen, für die insbesondere in den ärm e­
ren V ierteln v o n B uenos A ires o ft n ich t einm al ein Pflichtverteidiger be­
stellt w erden kann (CELS 1998: 386-389). A uch im Terrain der bürgerlichen
Freiheitsrechte operieren allerdings G egenkräfte, die diese P roblem atik
sukzessive aus der Zivilgesellschaft w ieder in die politische A genda
transportiert haben.

D em okratische Stabilität und politische Kultur

A rgentiniens D em o k ratie ist zw ar n ich t „erw achsen“ , doch im m erhin er­


lebt das L an d die längste dem okratische P hase seiner G eschichte. E in
Rückfall in ein autoritäres R egim e sch ein t so gut wie ausgeschlossen.
D ies alleine spricht sch o n für eine gewisse Stabilität der D em okratie, da
es sich auch n ich t u m eine „D em o k ratie aus M angel an A lternativen“
handelt, wie sich nachfolgend an einigen Indikatoren verdeutlichen lässt.
Z u v o r ist allerdings nochm als an die eingangs v ertreten e A n sich t zu er-
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 363

in n em , dass A rgentiniens D em o k ratie vielleicht stabil, aber nicht k o n so ­


lidiert ist. Ist dies m e h r als n u r eine Spitzfindigkeit oder ein W ortspiel?
W esentliche B edingung u n d gew isserm aßen A usgangspunkt für die
K onsolidierung einer D em o k ratie ist deren Institutionalisierung, d.h. das
kom p lette M inim alset an dem okratischen Spielregeln m uss etabliert sein.
D ie dargestellten T e n d en zen d er D em okratiequalität zeigten, dass in A r­
gentinien jene K em elem en te stark ausgeprägt sind, die D ah l als Polyar-
chie zusam m engefasst hat. D eutlich anders sieht es hingegen m it den
rechtsstaatlichen E lem en ten aus. D a in sbesondere die G ew altenkontrolle
kaum funktioniert h at —m it all den g en an n ten K o n sequenzen legislativer
A nm aßung, v o n K o rru p tio n u n d Straflosigkeit —kann hier kaum v o n ei­
n er gelungenen Institutionalisierung gesprochen w erden. Ü berspitzt
form uliert gew ähren solche „D em o k ratien “ ihren B ürgern lediglich eine
„halbierte V olkssouveränität“ , da die Politiker die M acht, die sie sich vo n
den B ürgern p er W ahl leihen, quasi als persönlichen Besitz betrachten,
m it dem sie nach G u td ü n k en verfah ren k ö n n en — u n d in A rgentinien
eben auch v erfahren sind. A kzeptiert m an dies, so m uss die argentinische
D em o k ratie als eine unvollständig institutionalisierte D em okratie b e­
zeichnet w erden, was bedeutet, dass sie gew isserm aßen p er definitionem
n ich t konsolidiert ist. D a rü b e r hinaus ist aber auch an den politischen
A useinandersetzungen u n d v o r allem an den G rabenkäm pfen erkennbar,
dass in A rgentinien teilweise n o ch u m die endgültige G estalt der d em o ­
kratischen Spielregeln gerungen wird. Selbst w enn m an also als externer
B eobachter keinem rechtsstaatlich angereicherten D em okratiebegriff fol­
gen m ag — ein G ro ß te il d er A rg en tin ier jedenfalls h at aus leidvoller
E rfahrung dagegen w enig einzuw enden, wie der W unsch nach einer funkti­
o nsfähigen Justiz zeigt.
D an eb en m uss sich auch erst n o c h zeigen, inw iefern die k o nstitutio­
nelle K onsolidierung gegriffen hat. D ies setzt natürlich voraus, dass eine
V erfassung als solche ü b erh au p t anerk an n t w ird, was n ich t w enige A u to ­
ren (m it guten G rü n d en ) bezw eifeln (G arzón Valdés 1999). H ier ließe
sich positiv verm erken, dass der P rozess d er V erfassungsgebung nicht
n u r v o n intensiven öffentlichen D eb atten begleitet w^ar, sondern auch in
eine v o n allen relevanten politischen K räften getragene F orm el m ündete.
D e n n o c h w ar lange Z eit Skepsis angebracht, denn in zentralen P unkten
(beispielsweise hinsichtlich der M öglichkeit einer W iederw ahl des P räsi­
d en ten o d er bezüglich der D ekretm acht) w ar sie a u f M enem u n d seine
A m bitionen zugeschnitten. D am it m uss die V erfassung ihre Z w eckm ä­
ßigkeit für die neuen Spieler erst n o ch u n te r Beweis stellen (bzw. um ge­
364 P e te r T h iery

kehrt). A uch sind bis heu te nicht alle zentralen V orgaben der V erfassung
erfüllt, wie eben die K o ngresskom m ission zu r K ontrolle der D ekrete.
D iese grundlegenden institutionellen M ängel sprechen gleichw ohl
nicht gegen eine w eitere T en d en z zu r Stabilisierung der übrigen dem o­
kratischen Sphären. Einige d er w ichtigsten F o rtschritte w urden bereits
erw ähnt. So existieren nach der - zw ar m it ethisch fragw ürdigen M itteln
erreichten, politisch jedoch erfolgreichen - U n tero rd n u n g d er Militärs
u n te r die zivile G ew alt keine V etoakteure m ehr, die die dem okratischen
Spielregeln grundlegend in Frage stellen kö n n ten. Ä hnlich positiv gestal­
tete sich auch die E n tfaltu n g der repräsentativen E b en e, d.h. die H erau s­
bildung eines stabilen u n d funktionsfähigen Parteiensystem s sowie eines
Systems d er Interessenverbände. D ie R oller stabiler Parteiensystem e ist
in d er K o n solidierungsforschung w enig u m stritten u n d zeigt sich etwa
im V ergleich A rgentiniens o d er Chiles zu den instabilen E ntw icklungen
in and eren L ändern Lateinam erikas (Peru, V enezuela). D as argentinische
Parteiensystem , das nach d er D ik tatu r in ü b erraschender Stärke w ieder
auferstand, h at seine K apazität zu r Strukturierung des politischen P ro ­
zesses u n d zu r K analisierung gesellschaftlicher In teressen w ieder erlangt
u n d bew ahrt. D ies ist u m so bedeutsam er, als sow ohl die Radikalen als
auch die P ero n isten je eigene Identitäts- u n d P artizipationskrisen zu be­
w ältigen hatten.
A usschlaggebend für die Langlebigkeit einer D em okratie u n d dam it
für ihre K o n solidierungschancen ist letztlich die zivilkulturelle E b ene,
d.h. die E instellungen d er B ürgerinnen u n d Bürger zum politischen Sys­
tem u n d zu r D em okratie einerseits sowie ih r V erhalten u n d H andeln in
der D em okratie andererseits. In A rgentinien existiert eine lebhafte un d
differenzierte Zivilgesellschaft, die sow ohl „alte“ A kteure wie die G e ­
w erkschaften, v o r allem aber eine V ielzahl n eu er A kteure um fasst, die al­
le T h e m e n des gesellschaftlichen u n d politischen Lebens abdecken
(Um welt, M enschenrechte, A rm ut, G erechtigkeit etc.). Schließlich bele­
gen auch U m fragen, dass die D em o k ratie in A rgentinien verw urzelter ist
als in d en m eisten anderen lateinam erikanischen Ländern. So liegt die
Z u stim m u n g zu r D em okratie als Regierungs form ko n stan t h o c h bei ca.
drei V ierteln der B evölkerung, also ein W ert, der so n st lediglich no ch in
U ruguay u n d C osta Rica erreicht wird.
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 365

T a b e lle 2: E in s te llu n g e n z u r D e m o k ra tie in L a te in a m e rik a

U n ter stü tzu n g 2 Z u fried en h eitb


1996 1997 1998 1996 1997 1998
A rgen tin ien 71 75 73 34 42 49
B oliv ien 64 66 55 25 34 34
B rasilien 50 50 48 20 23 27
C hile 54 61 53 27 37 32
C osta R ica 80 83 69 51 68 54
E cu ad or 52 41 57 34 31 33
E l Salvador 56 66 79 26 48 48
G uatem ala 16 40 54 41 34 57
H on d u ras 42 63 57 20 50 37
K olu m b ien 60 69 55 16 40 24
M exik o 53 52 51 11 45 21
N ica ra g u a 59 68 72 23 50 27
P anam a 75 71 71 28 39 34
P araguay 59 51 51 44 48 24
Peru 63 60 63 28 21 17
U rugu ay 80 86 80 52 64 68
V en ezu ela 62 64 60 30 35 45
Quelle: Latinobarómetro 1996-1998
a Zustim m ung zu „Demokratie ist anderen Regierungsformen vorzuziehen“
b „Sehr“ bzw. „eher zufrieden mit der Demokratie in (■■■)“

D ie Z ufriedenheit m it der gelebten D em okratie ist naturgem äß geringer,


doch bleibt A rgentinien hier deutlich h in ter U ruguay u n d C osta Rica zu­
rück. G e stü tz t w ird diese eher niedrige B ew ertung der tatsächlichen Per-
form anz v o n U m fragedaten des Latinobarómetro ü b er das V ertrauen in die
drei politischen G ew alten: V o n 1996 bis 1998 lagen die Z u stim m u n g s­
w erte hier bei ca. 20% -25% u n d g eh ö rten dam it zu den niedrigsten in
Lateinam erika. D iese K lu ft zw ischen N o rm u n d W irklichkeit kann einer­
seits in A path ie o d er A b leh n u n g Umschlägen un d so die relative Stabilität
d er D em okratie gefährden. A ndererseits k ö nnen diese D aten aber auch
als eine realistische E in sch ätzu n g d er gezeigten defizitären F unktionsw ei­
sen in terp retiert w erden, die h in ter das norm ative G egenbild einer funk­
tio n ieren d en D e m o k ra tie zurückfallen. D ies spräche m e h r für das
V orhandensein eines kritischen Potentials, das gegebenenfalls a u f die K o r­
rek tu r dieser D efizite hinw irken kann. E in Beispiel hierfür w äre das Phä-
366 P e te r T h iery

no m en der H y perkorruption, das zum einen die B ew ertung der dem o­


kratischen Perform anz u n te r M enem beeinflusst hat, zum anderen aber
auch die F o rd eru n g nach seiner B ekäm pfung im m er lauter w erden ließ.

A usblick

N ach dem E n d e der Ä ra M enem ergaben sich für A rgentiniens D e m o ­


kratie eher positive E ntw icklungsbedingungen. Z w ar dürfte es n u r m it­
telfristig getingen, d er Justiz eine unabhängige Rolle zu erm öglichen un d
die K o rru p tio n zu eliminieren. D ie G ru n d stim m u n g in der G esellschaft
sowie die politischen A m bitionen d er neuen R egierung schienen hier je­
doch a u f zum indest schrittw eise V eränderungen hinzuw eisen. Allerdings
stand P räsid en t D e la R úa aufgrund d er politischen M achtverhältnisse
v o r schw ierigen R egierungsbedingungen. M it einer n u r relativen M ehr­
heit d er A lia n za im A bgeordnetenhaus, einer peronistischen M ehrheit
gegen sich im Senat, einer K oalitionsregierung m it einem seit den W ah­
len eher geschw ächten, aber d en n o ch profitierungsgeneigten kleineren
P arm er, m it den w ichtigsten P ro v in zen in d er H an d der P eronisten, un d
den - sch o n im W ah lk am p f — klaren Forderu ngen v o n IW F u n d W elt­
bank nach einer neuerlichen S trukturanpassung w ar der H andlungsspiel­
rau m deutlich eingeengt. D am it w aren auch u n te r D e la R úa A nreize
gegeben, zum indest partiell a u f ein Regieren p er D ekret zurückzugreifen.
N o c h unklar schien, wie sich das E rb e der M enem -A dm inistration
a u f die w eitere E ntw icklung d er D em o k ratie selbst ausw irken w ürde.
D e n n P roblem e der Regierbarkeit d ro h ten auch dem neuen Präsidenten,
allerdings in einem anderen K o n te x t als damals M enem . So m achte sich
nach d er S chonfrist des ersten halben Jahres zun eh m en d die soziale D e ­
pression spürbar, die v o r allem die P rovinzen im L andesinneren erfasst
hatte. D iese D ep ressio n w ar n ich t zuletzt a u f die eigentüm liche K o m b i­
natio n aus E rfo lg en u n d V ersäum nissen der Ä ra M enem zurückzufüh­
ren. D e n n die K o p p elu n g des P eso an den D ollar führte letztlich dazu,
dass die w ährungspotitischen In stru m en te der W ettbew erbspotitik —
auch u n d gerade gegenüber den „P artn ern “ im M ercosur — nicht ange­
w en d et w erden konnten. D a der P eso nach A nsicht v o n W irtschaftsex­
p erten zudem deutlich überb ew ertet war, verschlechterte sich die W ett­
b ew erbsposition der argentinischen W irtschaft zusätzlich. A uch die
H aushaltsdisziptin ließ in sbesondere in d er zw eiten A m tszeit M enem s
sehr zu w ü n sch en übrig. Z w ar w urde das D efizit der B undesregierung
relativ k o n sta n t gehalten (ca. 4% des BIP), d och lavierten einige P ro v in ­
D e m o k ra tie u n d R ech tsstaatlich k eit 367

zen an d er G ren ze der Z ahlungsunfähigkeit, w aren ho ch verschuldet u n d


k o n n ten die L ö h n e für die öffentlichen B ediensteten nicht zahlen.
A rgentinien hatte som it nach d em E n d e der R egierung M enem einen
steinigen W eg v o r sich, da die so zioökonom ische Basis einer stabilen p o ­
litischen E ntw icklung u n te r M enem eher erodierte den n sich festigte.
A nhänger M enem s w erteten dies zw ar als U bergangsphänom en, doch
m eh rten sich zu Beginn des neuen Ja h rh u n d e rts die A nzeichen, dass
hierfür strukturelle D efizite verantw ortlich w aren, die sich nicht zuletzt
aufgrund des delegativen Politikstils akkum uliert hatten. A nders als Chile
stand A rgentinien deshalb v o r erneuten tiefgreifenden S trukturreform en,
für die allerdings der übergreifende „negative“ K on sen s wie zu Z eiten
d er H yperinflation fehlte. D ie argentinische D em okratie stand dam it v o r
einer neuerlichen harten B ew ährungsprobe.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Peter Birle, D r. phil., Politik- u n d K om m unikationsw issenschaftler, Lei­


ter d er A bteilung N achlässe, F o rsch u n g u n d Projekte am Ibero-A m eri-
kanischen Institut, Berlin.

Klaus Bodem er, Prof. D r., Politikw issenschafder, D irek to r des Instituts
für Iberoam erika-K unde, H am burg.

Cecilia Braslavsky, D r. phil., E rziehungsw issenschafderin, D irektorin


des In ternational B ureau o f E du catio n der U N E S C O , G enf.

Sandra Carreras, D r. phil., H istorikerin u n d Politologin, W issenschaft­


liche A ngestellte am Ib ero-A m erikanischen Institut, Berlin.

Rut Diam int, M .A., Soziologin, U niversidad T o rcu ato di Telia, B uenos
Aires.

Katja H ujo, D iplom -V olksw irtin, M itarbeiterin am Lateinam erika-


In stitu t d er Freien U niversität Berlin.

Mariana Llanos, P hd., Politikw issenschafderin, Projektm itarbeiterin am


In stitu t für Iberoam erika-K unde, H am burg.

H éctor Palom ino, Lic., Soziologe, D ep artam en to de Sociología, U ni­


versidad de B uenos Aires.

Frank Priess, D r. phil., Politik- u n d K om m unikationsw issenschafder,


L andesbeauftragter der K onrad-A denauer-S üftung für A rgentinien,
B uenos Aires.

Susana Sottoli, D r. phil., Politikw issenschafderin, A sunción.

Peter Thiery, D r. phil., Politikw issenschaftler, M itarbeiter im R ahm en


des F orschungsprojektes „D em okratische K onsolidierung u n d defekte
D em o k ratien “, U niversität H eidelberg.
Abkürzungsverzeichnis

ABA Asoáaáón de Báñeos de la Argentina


ABRA Asoáadón de Bancos de la República Argentina
ADEBA Asoáaáón de Bancos Argentinos
ADEPA Asoáaáón de Entidades Periodísticas de la Argentina
A FJP Administradoras de Fondos de Jubilaáonesy
Pensiones
A LC A A rea de Fibre Comeráo de las Americas
A /ianpa A lia n za para el Trabajo, la Ju stiá a y la Educaáón
A N SSA L Adm inistraáón N aáonal del Seguro de Salud
AR A cáón por la República
ARCO Asoáaáón de Radios Comunitarias
ATE Asoáaáón de Trabajadores del Estado
BOCON Bonos de Consolidaáón
CAC Cámara Argentina de Comeráo
CCC Corriente Clasista Combativa
CO M FER Comité Federal de Radiodifusión
CGE Confederaáón General Económica
CGT Conferderación General del Trabajo
CODENA Consejo de Defensa N aáonal
CONADEP Comisión N aáonal sobre la Desapariáón de
Personas
CRA Confederaáones Rurales Argentinas
C TA Central de los Trabajadores Argentinos
CTERA Confederaáón de Trabajadores de la Educaáón de la República
Argentina
EFE Extended Fund Facility
END Escuela N aáonal de Defensa
ENTEL Empresa N aáonal de Telecomunicaáón
FA A Federación A graria Argentina
FG F rente Grande
FL A C SO Facultad Latinoamericana de Ciencias Soáales
FO PA R Fondo Participativo de Inversión Social
F R E D E JU S O Frente para la Democracia y la justicia Social
FREPASO Frente País Solidario
GOU Grupo de Oficiales Unidos
IN D E C Instituto Nacional de E stadísticay Censos
IV C Instituto Verificador de Circulaciones
LCT Ley del Contrato de Trabajo
M O D IN Movimiento por la Dignidad y la Independencia Nacional
M TA Movimiento de Trabajadores Argentinos
M erco su r Mercado Común del Sur
M O D E JU S O Movimiento por la Democraciay la justicia Social
NAFTA N orth American Free Trade Agreement
PA IS Política A bierta para la Integridad Social
PA IS Programa Alim entario Integraly Solidario
PAN Programa Alim entario Nacional
PJ Partido ] usticialista
PJS Plan de justicia Social
PRO DESO Programa Participativo de Desarrollo Social
SIJP Sistema Integrado de jubilacionesy Pensiones
SM A TA Sindicato de Mecánicosy A fines al Transporte
Autom otor
SN PS Sistema Nacional de Previsión Soáal
SRA Sociedad R ural Argentina
U C eD é Unión del Centro Democrático
UCR Unión Cívica Radica
U IA Unión Industrial Argentina
UOM Unión Obrera Metalúrgica
UTPBA Unión de Trabajadores de Prensa de Rueños A ires
W TO W orld Trade Organisation
Während der gut zehnjährigen Am tszeit von Präsident
Carlos Saúl M enem (1989-1999) erlebte Argentinien
eine grundlegende wirtschaftliche, politische und
g e s e lls c h a ftlic h e U m g estaltu ng In d e r vorlieg en de n
Publikation ziehen argentinische und deutsche Experten
eine Bilanz der M enem schen Reformpolitik: Welche
Auswirkungen hatte die radikale Hinwendung zur
Marktwirtschaft auf die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung des Landes? In welcher Situation befinden
sich Parteien, Verbände und M assenm edien nach zehn
Jahren peronistischer Regierung? Inwiefern hat die
Politik der Regierung M enem zu einer Stärkung oder
Schwächung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
einer staatsbürgerlichen politischen Kultur beigetragen?

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