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SE: Neuer oder spekulativer Realismus | Prof. Dr.

Christoph Asmuth

KONTINGENZ, ANZESTRALITÄT, ERKENNTNIS


HINFÜHRUNG Metaphysik behandelt im Gegensatz zur Erkenntnistheorie nicht unsere

Erkenntnis und unser Wissen von der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst [vgl. RAPP, 2016, 9-16].
Der Metaphysiker fragt danach, aus welchen letzten Bestandteilen die Wirklichkeit zusammengesetzt ist.
Metaphysische Aussagen betreffen die Wirklichkeit als Ganze und ihre allgemeinen Züge. Fundamental ist
für die Metaphysik der Gedanke oberster Seinsklassen oder allgemeiner Einteilungen des Seienden.
Demnach ist sich die Gesamtheit der Wirklichkeit als eine Art oberster und allgemeinster Klasse vorzustellen,
die alles umfasst, was im weitesten Sinne des Wortes existiert. Die Kategorien der Metaphysik lassen sich
dann als „diejenigen Klassen verstehen, die der Allgemeinheit nach entweder gleich an zweiter Stelle nach
der obersten Klasse von allem Seienden kommen oder Unterklassen dieser obersten Kategorien darstellen“
[ebd., 14]. Metaphysische Aussagen, die die Wirklichkeit ihren allgemeinen Zügen nach betreffen, zielen
demnach darauf ab, die Wirklichkeit mit Hilfe solcher allgemeinen Kategorien zu untergliedern und zu
strukturieren. Jene Aussagen bieten also „begriffliche Modelle an, die verschiedene Weisen, zu existieren und
Teil der Wirklichkeit zu sein, unterscheiden“ [ebd., 15]. Metaphysischer Theoriebildung geht es darum,
geeignete Kategorien zu finden und diese zueinander in Beziehung zu setzen. Eine mögliche Unterteilung
und Strukturierung der Wirklichkeit hängt also von der Relationierung der verschiedenen Kategorien ab.
So lässt sich zusammenfassen, dass sich metaphysische Aussagen „auf die Wirklichkeit als Ganze beziehen –
und zwar im Hinblick auf ihre allgemeinsten Kategorien und ihre grundlegenden Strukturen“ [ebd., 16].

Die wichtigste Kategorie in Meillassoux‘ Metaphysik [MEILLASSOUX, 2014] ist die der Modalität [vgl.
KOONS / PICKAVANCE, 2015, 154-181]. Meillassoux vertritt eine modale Ontologie, die die Frage, welche
Dinge existieren und was es überhaupt heißt zu existieren, unter Zuhilfenahme der Kategorie der Modalität
zu beantworten sucht. Modalität zielt auf die Seinsweise eines Sachverhalts ab. Sie lässt sich unterteilen in
Wirklichkeit, Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit sowie Kontingenz.

Die Metaphysik Meillassoux‘ gründet auf der Behauptung, dass das Sein kontingent sei. Jene Behauptung
steht in Zusammenhang mit einer Zurückweisung des Satzes vom zureichenden Grunde. So kommt
Meillassoux am Ende seiner Beweisführung zu dem Urteil, dass der Satz vom Grund nicht auf sich selbst
anwendbar sei – der Satz vom Grund lasse sich selbst nicht begründen. Dies wiederum ist in ontologischer
Hinsicht sehr folgenreich: „[Without] the principle of sufficient reason, not just everything is contingent,
but so is every law.“ [GRATTON, 2014, 61]

Kontingent bezeichnet den Status von Tatsachen, deren Bestehen gegeben und weder notwendig noch
unmöglich ist. Durch den Wegfall des Satzes vom Grund bleibt in Meillassoux‘ Welt nur noch der Satz vom

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Widerspruch als einziges notwendiges logisches Gesetz übrig. Daran anknüpfend bezieht sich Meillassoux‘
Rede von der Kontingenz des Seins auf eine Abhängigkeit von Vorursachen dafür, dass dieses überhaupt ist
und so ist, wie dieses ist. Die Sprache der Modallogik erlaubt es, formal über Möglichkeit und
Notwendigkeit zu sprechen. Kontingenz kann demnach als eine besonders offene Form der Möglichkeit
angesehen werden. heißt kontingent, wenn sowohl möglich ist als auch ℎ − möglich ist: ∶
=◊ ^◊¬ .

Meillassoux setzt vermittels seiner Kategorie der Faktualität die beiden modalen Kategorien Notwendigkeit
und Kontingenz in Beziehung zueinander. Faktualität heißt hier Notwendigkeit der absoluten Kontingenz des
Seins. Daraus ergibt sich die Unterscheidung zweier Seinskategorien: zum einen eine ontologische Sphäre
der Aktualität und zum anderen eine der Virtualität. Beide Sphären stehen in einer funktionalen Beziehung
zueinander. Unter die Kategorie des aktualen Seins fällt das Sein, in dem wir gegenwärtig existieren, das
heißt unsere Welt; die Kategorie des virtualen Seins hingegen erfasst diejenige Seinssphäre, deren
kontingentes Resultat das unsrige aktuale Sein ist. Das aktuale Sein existiert demzufolge vermöge der
virtualen Seinssphäre; letztere besitzt das Vermögen, aktuale Welten hervorzubringen.

Von der Kontingenz des Seins zu sprechen hat deshalb eine zweifache Bedeutung: einerseits bedeutet es die
Existenz einer ontologischeren Sphäre der Virtualität anzunehmen, die für die Kontingenz als solche
reserviert ist; dies nötigt wiederrum zu der Annahme, dass es eine weitere ontologische Sphäre gibt, die die
aktualen Manifestationen der Kontingenz umfasst. Es lässt sich auch von einer Sphäre des Gebens und einer
Sphäre des Empfangens sprechen: das aktuale Sein existiert als das kontingente Geschick des virtualen Seins.
Meillassoux begreift das Sein demzufolge als die Identität von gebender und empfangender Seinssphäre. Die
metaphysische Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, lässt sich mit Rückgriff auf die Kontingenz
des Seins für Meillassoux wie folgt beantworten:

Die metaphysischen Probleme sind im Gegenteil immer wahre Probleme gewesen, da sie eine Lösung
zulassen. Aber sie sind dies nur unter einer genauen und äußerst zwingenden Voraussetzung: Wir müssen
begreifen, dass auf die metaphysische Frage, warum es so ist und nicht anders, die Antwort 'wegen nichts'
eine echte Antwort ist. Nicht mehr über Fragen lachen oder sie belächeln: 'Woher kommen wir?', 'Warum
existieren wir?', sondern über die bemerkenswerte Tatsache brüten, dass die Antworten 'Aus nichts', 'Wegen
nichts' tatsächlich Antworten sind. [MEILLASSOUX, 2014, 148]

Für Meillassoux folgt aus der Kontingenz des Seins, dass die virtuale Sphäre des Seins jederzeit Einfluss auf
die aktuale Sphäre des Seins nehmen kann:

Meillassoux is ultimately saying not just that our universe provides us with a number of possible conditions,
but that the universe itself can change at any time: it is not [...] a set of possibilities, but a hyper chaos which
virtually anything is always possible. [GRATTON, 2014, 59]

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Diese Behauptung hat gravierende Folgen für unser gegenwärtiges Weltbild. Die wissenschaftlich
akzeptierten physikalischen Gesetze bestimmen das derzeit vorherrschende materielle Weltbild. Die
Ordnung des aktualen Sein scheint durch die Naturgesetze bestimmt, die an jeder Raum-Zeit-Stelle unseres
Universums gelten. Die vermeintliche Absolutheit der Naturgesetze verleitet zu der Annahme, das aktuale
Sein als geschlossene und beständige Ganzheit zu betrachten, deren Ordnung einzig und allein den
physikalischen Gesetzen unterliegt. Meillassoux aber hält der vermeintlichen Absolutheit der Naturgesetze
die Kontingenz ihrer Faktizität entgegen: die Tatsache, dass die physikalischen Gesetze existieren, ist
kontingent:

Anstatt uns zu fragen, wie man die mutmaßliche wahrheitsgemäße Notwendigkeit der physikalischen Gesetze
beweist, müssen wir uns fragen, wie man die offensichtliche Stabilität der physikalischen Gesetze, wenn diese
als kontingent angenommen sind, erklären kann. Wenn die Gesetze mutmaßlich kontingent und nicht
notwendig sind, wie kommt es dann, dass sie ihre Kontingenz nicht durch radikale und ständige Veränderung
zeigen? Wie kann eine stabile Welt aus Gesetzen hervorgehen, die kein Grund verewigt? [MEILLASSOUX,
2014, 125]

Die Welt, in der wir leben, mag durch die geltenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten geordnet sein, doch
es besteht aufgrund der Kontingenz des Seins jederzeit die Möglichkeit, dass die virtuale Seinssphäre in die
aktuale Seinssphäre hinübergreift und deren Ordnung außer Kraft setzt.

Die Behauptung einer Kontingenz der Naturgesetze findet sich im Übrigen bereits 1874 in Boutroux‘
Dissertation De la contingence des lois de la nature [BOUTROX, 1911]; Tritten gibt in seinem aktuellen Buch
The Contingency of Necessity: Reason and God as Matters of Fact eine philosophiegeschichtliche Übersicht
über das Denken der absoluten Kontingenz [TRITTEN, 2017]. Lewis vertritt eine Metaphysik möglicher
Welten [LEWIS, 1986], um die Bedeutung von modalen Aussagen zu erklären; Meixner führt Modalität und
Philosophie zu einer Metaphysik der Modalitäten zusammen [MEIXNER, 2008].

Die notwendige Kontingenz des Seins nimmt bei Meillassoux die Stellung eines Absoluten ein [vgl.
GRATTON, 2014, 59 ff.]. Wenn das Sein notwendig kontingent ist, so ist es auch der Planet Erde sowie die
Menschheit. Ihr Erscheinen in der Zeit hätte genauso gut ausbleiben können; es lässt sich durchaus ein
Universum ohne Erde und Mensch vorstellen. Dies führt uns zu Meillassoux‘ erkenntnistheoretische Kritik
am Korrelationismus.

Der Korrelationismus, Meillassoux‘ Begriff für alle erkenntnistheoretischen Positionen im Geiste Kants,
behauptet, dass das menschliche Erkennen keinen unmittelbaren Zugang zur Welt hab; vielmehr finde
Erkenntnis stets im Rahmen einer Korrelation von Subjekt und Objekt statt. Unsere Objekterkenntnis sei
demzufolge immer durchs Subjekt mediatisiert; das Ding an sich lasse sich nicht erkennen, da Erkenntnis
immer nur das Resultat unseres subjektiv vermittelten Erkennens sei. Der Korrelationismus mache die

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Objekterkenntnis demnach abhängig von der Existenz und dem subjektiven Wirken eines
Erkenntnissubjekts.

Meillassoux fragt nach den Geltungsbedingungen der Korrelation: Gilt der Korrelationismus auch in einer
menschenleeren Welt? Bekanntlich geht das Universum dem Auftauchen der Menschheit zeitlich voraus;
außerdem spricht viel dafür, dass der Mensch irgendwann ausstirbt und das Universum ohne ihn
weiterexistiert. Meillassoux wirft die Frage auf, ob bzw. wie sich vom gegenwärtigen Zustand des
Universums Aussagen über einen menschenleeren Zustand des Universums machen lassen. Dies ist
wiederrum verbunden mit der Frage nach der Geltung der Korrelation: Gilt die Korrelation absolut, also
auch in einem menschenleeren Universum – oder ist die Geltung der Korrelation an die Existenz eines
menschlichen Erkenntnissubjekts gebunden? Meillassoux‘ nutzt die Kontingenz des Seins und des
Menschen als Argument gegen die absolute Geltung der Korrelation; gleichzeitig solle uns jene Kontingenz
einen Ausweg aus der Korrelation ermöglichen:

Meillassoux concludes that one can escape the correlation if we absolutize the necessary contingency of
subjects and objects alike (the correlation) rather than hypostatize either pole necessarily [...]. This is to say
that, whatever constituting correlation is present, thought itself is able to attain an absolute outside by
attaining the facticity of a necessarily contingent basis of correlation. [NIEMOCZYNSKI, 2017, 85]

M E T HO D I S C H E S Meillassoux verwendet den Begriff der Anzestralität zur Bezeichnung des


Zeitraums in unserem Universum, noch bevor der Mensch darin aufgetaucht ist. Diese essayistisch angelegte
Hausarbeit hat die bedingte Rekonstruktion des ersten Kapitels, das mit Die Anzestralität betitelt ist, in
Meillassoux‘ Buch Nach der Endlichkeit. Über die Notwendigkeit der Kontingenz [MEILLASSOUX, 2014, 13-
46] zur Grundlage. Im Ausgang davon wird sich Fragen nach der Verständigkeit von Philosoph und
Wissenschaftler und einer möglichen Vermittlung beider Positionen, der Notwendigkeit von Vorannahmen
jedes Erkennens, dem Erfahrungsbegriff und der Veränderung des menschlichen Erfahrungsvermögens
durch die Technik, sowie der Subjekt-Objekt-Trennung im Angesicht des Enaktivismus und der
erkennenden Medialität des Menschseins gewidmet.

Das Ausscheren des Gedankens ist nicht etwa auf das Fehlen einer klaren Fragestellung zurückzuführen,
sondern es resultiert aus der Bezugnahme auf jene Fragen, die die Sache von sich selbst aus an einen stellt,
während man sich mit ihr schreibend auseinandersetzt und dabei auf seine bereits erworbenen
Wissensbestände zurückgreift, um sich letztlich neues Wissen zu erschließen. Dieser Essay praktiziert die
Vernetzung von Begriffen und Ideen, die durch ihre gegenseitige Bezugnahme in der Gegenwärtigkeit des
essayistischen Konstruktionsversuchs erst zur Lebendigkeit finden. Dieser Essay ist nicht nur eine
Momentaufnahme des eigenen Arbeitsstands im Studium, das sich vor allem in Form der außeruniversitären

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Privatlektüre abspielt, sondern die erste Kartierung eines für mich interessant und relevant erscheinenden
Gegenstandes und ein Vorausblick in das, was noch zu sein hat und detailliert ausgearbeitet werden will.
Die zitierten, überwiegend auch selbst gelesenen Autoren dienen mir als Ideengeber; ich leite ihre Ideen
nicht vollständig ab, führe sie nicht umfassend ein und belasse sie nicht zwingend in ihrem ursprünglichen
Kontext, sondern integriere sie auf eine Weise, dass sie den Fluss des Textes und die Entfaltung des
Gedankengangs unterstützen – man könnte hier auch von einer Art begrifflicher Collage, einer
fragmentarischen Theorie-Arbeit oder auch von der Schaffung eines genuinen begrifflichen Steinbruchs
sprechen, der sein Material aus anderen als theoretische Steinbrüche behandelten Theorien zusammensucht.
Ich betreibe in Anlehnung an die musikalische Technik des Samplings Theorie-Sampling und nehme mir
dabei vor, aus dem Gegebenen Neues zu erschaffen; die Eigenleistung besteht in der Relationierung zum
Zwecke einer möglichen Bearbeitung von Problemstellungen, die sich erst durch eine Aneignung
verschiedener Ideen formulieren lassen. Was ich jedenfalls nicht beansprucht habe war das Schreiben eines
strengen Traktats. Mein Ziel bestand vielmehr darin, die Fragen, die sich angesichts des Meillassoux’schen
Begriffs der Anzestralität stellen, in einen umfassenderen Fragekontext einmünden zu lassen – und das
bewusst auf Kosten argumentativer Subtilität und handwerklicher Sauberkeit, da sich beides im Nachhinein,
das heißt falls ich das Geschriebene für mich irgendwann wieder aufgreifen und ausarbeiten sollte, noch
einholen lässt. Dieser Essay bleibt Fragment und Skizze zu einer bereits aufgestellten Idee.

Eigentlich wollte ich den letzten Teil der Arbeit, der mit Mediatisierung betitelt ist, aus zeitlich-finanziellen
Gründen gar nicht erst aufnehmen, doch das hätte den Zweck dieser auf einem Referat zum Anzestralität-
Kapitel bei Meillassoux basierenden Hausarbeit ad absurdum geführt: in irgendeiner Weise über das bereits
Referierte hinauszugehen. Da mir die Benotung der Arbeit nicht so wichtig ist, habe ich mir die Freiheit
genommen, etwas experimenteller zu schreiben; rentiert hat sich diese Hausarbeit bereits dadurch für mich,
dass ich neue Autoren und Themen kennenlernen durfte, also für mich selbst gesehen ein großes Stück
weitergekommen bin. Ferner bin ich von Adornos Gedanken zur Form des Essays beeinflusst gewesen, vor
allem dann, wenn ich mich gefragt habe, ob ich nicht zu weit aushole:

Der Gedanke hat seine Tiefe danach, wie tief er in die Sache eindringt, nicht danach, wie tief er sie auf ein
anderes zurückführt. Das wendet der Essay polemisch, indem er behandelt, was nach den Spielregeln für
abgeleitet gilt, ohne dessen endgültige Ableitung selber zu verfolgen. In Freiheit denkt er zusammen, was sich
zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand. [ADORNO, 1994, 18 f.]

KORRELATIONISMUS Meillassoux setzt bei der Locke‘schen Theorie der primären und

sekundären Qualitäten an, um nach dem „Verhältnis des Denkens zum Absoluten“ [MEILLASSOUX, 2014,
13] zu fragen. Als sekundäre Qualitäten gelten bei Locke die „sinnlichen Qualitäten, die nicht in den Dingen

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selbst liegen, sondern in meinem subjektiven Verhältnis zu ihnen“ [ebd.], während die primären Qualitäten
die objektinhärenten, subjektunabhängigen Eigenschaften ausmachen [vgl. ebd.].

Durch die Begrenzung der sekundären Qualitäten auf die „sinnlichen Bestimmungen“ [ebd., 15] eines
Gegenstandes sei jene Unterscheidung in der Philosophiegeschichte diskreditiert worden, obwohl ein
Gegenstand nicht nur Träger sinnlich affizierbarer Eigenschaften ist, wie Meillassoux einwendet. Dabei
bezieht er sich auf Descartes, wenn er in den primären Qualitäten die raumzeitlichen, mathematisierbaren
Eigenschaften enthalten sieht. Laut Meillassoux seien jene mathematisierbaren Eigenschaften vom „Zwang
der Beziehung ausgenommen“ [ebd., 16], die zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt besteht;
vielmehr seien sie als „Eigenschaften des Gegenstandes an sich zu denken“ [ebd., 15]. Auf diese Weise
möchte Meillassoux akzentuieren, dass ein Gegenstand eben nicht nur Träger sinnlich affizierbarer
Eigenschaften ist.

In Kant hätte Meillassoux eigentlich einen Verbündeten gefunden. Kant geht von einem ontologischen
Substrat aus, das für ihn die Realursache der Erscheinung ist; denn eine Erscheinung erscheint nicht nur
ganz subjektiv dem Subjekt, sondern sie ist kausal in der Realität verankert, indem sie das Ding, wie es an
sich ist, zur Erscheinung bringt:

Kant war der felsenfesten Überzeugung, dass es keinen Sinn ergibt, etwas eine ‚Erscheinung‘ zu nennen, ohne
ein Etwas anzunehmen, das darin zur Erscheinung kommt. Es ist der untilgbar empirische Bodensatz, die
kausale Herkunft aus der Wirklichkeit, welche ‚Erscheinung‘ zu einem Zwitterbegriff macht. [FRANK, 2007,
170]

Empirische Erkenntnisse besitzen bei Kant demnach „eine die Formen des auffassenden Subjekts
übersteigende Mitgift vom Ding an sich“ [ebd., 171 f.]; Erscheinungen verweisen auf ein „sie tragendes
substinentes Sein“ [ebd., 171], das durch sie repräsentiert wird. Denn „[wäre] die Erscheinung nicht die
Repräsentation eines Seienden, das an sich nicht Erscheinung ist, so wäre sie Erscheinung von nichts
Wirklichem, also von Nichts (bloßer Schein)“. Zwischen ontologischem und erscheinendem Ding besteht
also eine notwendige Verbindung. Das zum Ding an sich gehörige epistemologische Potenzial wird erst
durch die menschliche Erkenntnisleistung realisiert.

Kant hat „unser Wissen über die Welt zum Teil abhängig [...] von apriorischen Strukturen der Subjektivität“
[ebd., 175] gemacht, doch letztere korrelieren bei ihm mit der ontologischen Welt, welche durch die
subjektive Mediatisierung in Erkenntnis überführt wird, so dass keine verlässliche Angabe darüber gemacht
werden kann, inwieweit Ding an sich und Erscheinung einander entsprechen, inwieweit also unsere
Anschauung die uns umgebende Welt getreu abbildet. Haag unternimmt in Erfahrung und Gegenstand
[HAAG, 2007] eine systematische Untersuchung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand bei Kant.

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In Harmans Studie The Quadruple Object [HARMAN, 2011] findet sich eine Analyse des gegenständlichen
Verhältnisses von sinnlich affizierbaren Eigenschaften und der Erscheinbarkeit als solcher, die von ihm als
inhärente Objektqualität ausgewiesen wird, während Bryant in The Democracy of Objects [BRYANT, 2011]
das materiale Substrat eines Dings systemtheoretisch zu bestimmen sucht. Beide Versuche eint, dass es als
ein Vermögen des Dings an sich begriffen wird, sich zur Erscheinung zu bringen; jenes Potenzial der
Erscheinbarkeit wird aus dieser Perspektive als eine inhärente und invariante Ding-Eigenschaft begriffen.

Dass Meillassoux seine Epistemologie als „entschieden vorkritisch“ [MEILLASSOUX, 2014, 15.] bezeichnet,
ohne sich jedoch auf eine Diskussion des ontologischen Realismus bei Kant einzulassen, mutet auf den ersten
Blick fragwürdig an. Meillassoux vorkritische Haltung lässt sich nur verstehen, wenn man sie in Bezug zu
den erkenntnistheoretischen Tendenzen in der Philosophiegeschichte seit Kant setzt. So stehe für
Meillassoux seit Kant fest, dass „Denken nicht aus sich heraustreten kann“ [ebd.], was zur Folge habe, dass
die Welt in eine an sich seiende und eine für uns seiende auseinanderfalle. Meillassoux glaubt mit Hinblick
auf die transzendentale Revolution Kants nicht nur die Paradigmatisierung der sinnlichen Erfahrungen als
notwendige Bedingung für die Erkenntnis zu erkennen; ferner macht Meillassoux geltend, dass in der
Erkenntnistheorie seit Kant das Subjekt stärker akzentuiert werde als das Objekt. Zum einen werde durch
Kants Disqualifizierung des „naiven Realismus der dogmatischen Metaphysik“ [ebd., 17] die Möglichkeit
einer Erkenntnis des Dings an sich kassiert, zum anderen finde eine Neufassung der „Objektivität außerhalb
des dogmatischen Kontextes“ [ebd.] statt, durch die die Universalisierbarkeit subjektiver Vorstellungen zum
Kriterium ihrer Objektivität und Wissenschaftlichkeit werde. Jene Neufassung der Objektivität wirke sich
auch auf das Wahrheitsverständnis in der Philosophie aus, so dass nicht mehr die scholastische „Adäquation
der Vorstellung […] mit der Sache selbst“ [ebd., 18] Bedingung von Wahrheit sei, sondern die
intersubjektive Geltung der Vorstellung.

Die „Korrelation“ [ebd.] von Subjekt und Objekt wurde paradigmatisch für die moderne Philosophie, so
Meillassoux. Mit diesem Begriff wird auf die Einsicht Kants verwiesen, dass das menschliche Erkennen
keinen unmittelbaren Zugang zur Welt habe; vielmehr finde Erkenntnis stets im Rahmen einer Korrelation
von Subjekt und Objekt statt. Unsere Objekterkenntnis sei demzufolge immer durchs Subjekt mediatisiert;
das Ding an sich lasse sich nicht erkennen, da Erkenntnis immer das nur Resultat unseres subjektiv
vermittelten Erkennens sei. Der Korrelationismus mache die Objekterkenntnis demnach abhängig von der
Existenz eines Erkenntnissubjekts.

Meillassoux‘ Verwendung des Begriffs Korrelationismus scheint Aufschluss darüber zu geben, was für einen
hohen philosophiegeschichtlichen Stellenwert er dem korrelativen Denken zuspricht. So habe sich das
paradigmatisch gewordene, aus Subjekt und Objekt bestehende Korrelat im Laufe der Philosophiegeschichte

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in Form des Korrelationismus institutionalisiert, so dass Meillassoux in bezug auf jene


erkenntnistheoretische Tendenz in der Philosophie von einer Philosophie des Für-uns spricht. Es sei jene
Vorrangstellung der „Beziehung gegenüber den miteinander verknüpften Begriffen“ [ebd., 19], die nach
Meillassoux den Glauben der Moderne ausmache; so sei das Denken der Substanz vom Denken der
Korrelation abgelöst worden und es werde nun mehr nicht gefragt: „Was ist die richtige Substanz?, sondern:
Was ist das richtige Korrelat?“ [ebd.]. Im 20. Jahrhundert gelten das Bewusstsein und die Sprache als
weltbildende Instanzen; durch sie erfolge eine Überführung des weltlichen Substrats in
Erkenntnisgegenstände.

Meillassoux Verhältnis zum Korrelationismus ist ambivalent: auf der einen Seite spricht er jener
Beschränkung der subjektiven Erkenntnisansprüche eine kritische Funktion zu, da sie für ihn als
Zurückweisung subjektiver und objektiver Totalisierungsversuche des Denkens gilt; auf der anderen Seite
ist es gerade die Verabsolutierung des Korrelation, das bedeutet der absoluten Geltung der sich aus dem
Korrelat von Denken und Welt resultierenden Erkenntnisansprüche des Subjekts, die ihm problematisch
erscheint. Meillassoux fragt deshalb: Darf das Korrelat, das sich ja modellhaft aus der anthropologischen
Beschaffenheit des subjektiven Erkenntnisapparats ergibt, absolute Geltung beanspruchen, obwohl das Sein
und die Menschheit kontingent seien? Lässt sich das transzendentale Subjekt Kants auch ohne Anbindung
an das reale menschliche Individuum und sein biologisches Erkenntnisvermögen denken?

Der paradoxe Charakter der „korrelationellen Exteriotität“ [ebd., 20] besteht für Meillassoux darin, dass der
Korrelationist zwar auf den ursprünglichen Bezug von Bewusstsein und Sprache „zu einem radikalen Außen“
[ebd.] insistiere, doch gleichzeitig jene „Eingeschlossenheit“ [ebd.] und „Einsperrung in ein solches Außen“
[ebd.] ausblende. So werde im Korrelationismus vergessen, dass das Subjekt letztlich auch nur ein Objekt
unter anderen Objekten sei; dass nicht alles Sein Bewusstsein sei, sei allerdings denknotwendig zur
Etablierung des Korrelats. Meillassoux kritisiert am Korrelationismus, dass diesem die Welt lediglich als ein
„Vis-à-vis unserer eigenen Existenz“ [ebd.] erscheine; der Korrelationismus denkt die Welt also nur aus der
Korrelation heraus, während der Umstand in Vergessenheit gerät, dass das Korrelat letztlich ein in der Welt
existierendes Seiendes ist.

Meillassoux kommt hier nicht über Kant hinaus, was Aussagbarkeit der ontologischen Realität betrifft.
Letztlich geht es doch aber, so sage ich, um das Wie des Erkennens, um die spezifische Beschaffenheit der
Korrelation, um die Art und Weise der Vermittlung von Bewusstsein und Welt und um die spezifische Form
der Mediatisierung der Welt durchs in der Welt stehende Subjekt: Es gilt demnach, jene „Dialektik konkret
auszutragen.“ [ADORNO, 1990, 32], statt bei einem formalen Relativismus in bezug auf die Erkennbarkeit
der sogenannten Außenwelt stehenzubleiben, so wie es jene Philosophie des Für-uns tut, gegen die sich

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Meillassoux wendet. Mit letzterer spielt er auf einen vulgären Skeptizismus an, der seine Vorbehalte nicht
aus der Auseinandersetzung mit der Sache gewinnt, sondern apriorisch an sie heranträgt oder sie
aposteriorisch abstempelt: a ist b – aber nur für uns. Aber auch ein vermeintlicher Nachweis, dass es eine
subjektunabhängige ontologische Wirklichkeit gibt, verbleibt im Trivialen. So revolutionär, wie sich
Meillassoux gibt und von den meisten Autoren aus dem Umfeld des Speculative Realism und der Object-
oriented Ontology rezipiert wird [für eine Übersicht WOLFENDALE, 2014; NIEMOCZYNSKI, 2017; HARMAN,
2015; AVANESSIAN / MALIK, 2016; GRATTON, 2015], ist seine Idee nun auch wieder nicht; überhaupt
scheint dieses wiedergeborene populäre Interesse fürs Ontologische mit seiner Festigkeit und Materialität,
eine zeitgenössische, auf den interdisziplinären Schock des Konstruktivismus [SCHMIDT, 1987] und die die
Subjektivität betreffenden sozialpsychologischen Entwurzelungs-, Beschleunigungs- und
Zerfallserscheinungen durch die Globalisierung und Digitalisierung [FLORIDI, 2014] reagierende
Aktualisierung dessen zu sein, was Adorno angesichts der damaligen Faszination, die von der
Heideggerschen Fundamentalontologie auf die deutsche Philosophie der 1920- und 1930er-Jahre ausging,
das ontologische Bedürfnis [ADORNO, 2008, 139-152; ADORNO, 2015, 69-103] genannt hat:

Das Bedürfnis nach Halt, nach dem vermeintlich Substantiellen ist nicht derart substantiell, wie seine
Selbstgerechtigkeit es möchte; vielmehr Signatur der Schwäche des Ichs, der Psychologie bekannt als
gegenwärtig typische Beschädigung der Menschen. Wer von außen und in sich nicht mehr unterdrückt wäre,
suchte keinen Halt, vielleicht nicht einmal sich selbst. Subjekte, die etwas an Freiheit auch unter den
heteronomen Bedingungen sich retten durften, leiden weniger unter dem Mangel an Halt als die Unfreien,
die ihn gar zu gern der Freiheit als deren Schuld vorrechnen. Müßten die Menschen nicht mehr den Dingen
sich gleichmachen, so bedürften sie weder eines dinghaften Überbaus, noch müßten sie sich, nach dem Muster
von Dinglichkeit, als invariant entwerfen. [ADORNO, 2015, 102 f.]

Auf Basis von Meillassoux‘ Ausführungen zum Korrelationismus lassen sich folgende erkenntnistheoretische
Perspektiven typisieren [vgl. HARMAN, 2015, 23; vgl. GRATTON, 2014, 15]:

1. Dogmatischer / naiver Realismus: die Dinge, wie sie an sich sind, existieren und lassen sich erkennen;
2. schwacher Korrelationismus: die Dinge, wie sie an sich sind, existieren und lassen sich denken, aber
nicht erkennen;
3. starker Korrelationismus: Annahme der Existenz der Dinge, wie sie an sich sind, doch Ablehnung
ihrer Erkennbarkeit und Denkbarkeit;
4. absoluter Idealismus: Verneinung der Existenz, Erkennbarkeit und Denkbarkeit der Dinge, wie sie
an sich sind; da sie weder intelligibel noch zu erkennen seien, muss ihre Existenz unmöglich sein.

Heidegger fasst unter den Begriff des Realitätsproblems folgende Fragen: „1. ob das vermeintlich
‚bewußtseinstranszendente‘ Seiende überhaupt sei; 2. ob diese Realität der ‚Außenwelt‘ zureichend bewiesen

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werden könne; 3. inwieweit dieses Seiende, wenn es real ist, in einem An-sich-sein zu erkennen sei; 4. was
der Sinn dieses Seienden, Realität, überhaupt bedeute“ [HEIDEGGER, 2006, 201].

Meillassoux sieht die moderne, nachkritische Philosophie nicht nur an das Korrelat gebunden, sondern auch
an eine spezifisch sinnliche Form der Vermittlung im Rahmen des Korrelats. Er zielt also darauf ab, eine
Alternative zur unmittelbar sinnlich-wahrnehmungsbasierten Vermittlungsform zu finden, ohne die
Korrelation an sich zu verwerfen – nicht die Korrelation als solche ist Ziel seiner Kritik, sondern die damit
einhergehende sinnlich-repräsentionale Mediatisierung von Erkenntnis.

Meillassoux‘ unterbreitet uns den Vorschlag einer nicht primär sinnlichen, sondern mathematischen
Mediatisierung zwischen Subjekt und Objekt. Dafür insistiert er auf die „Existenz der primären Qualitäten“
[MEILLASSOUX, 2014, 22], ohne jedoch in einen vorkritischen Dogmatismus zurückfallen zu wollen.
Vielmehr vertrete er einen Realismus, welcher

rejects thinking the real through it representations found in linguistic and epistemological correlationisms,
while also not grounding reality in an a priori relation of access described under the phenomenological being-
in-the world. [GRATTON, 2014, 37].

Meillassoux hält an der Subjekt-Objekt-Beziehung fest, doch wendet sich gegen die Art und Weise, wie
diese Verbindung bislang gedacht wurde. Nicht die Vermitteltheit von Subjekt und Objekt steht in Frage,
sondern die bis dato gedachten Formen der Vermittlung. Für Meillassoux ist es die mathematische
Mediatisierung, die uns einen Zugang zu den Dingen, wie sie an sich sind, erlaubt. Zur Stützung seiner
Einschätzung bezieht er sich auf die Fähigkeit mathematisch-technischer Methoden, Erfahrung zu
produzieren, die das Spektrum der unmittelbaren sinnlich-leiblichen Wahrnehmung übersteigen. Durch die
Mathematik können wir Dinge erfahren, ohne dabei selbst anwesend sein zu müssen; die Mathematik
erweitert unser Erfahrungsspektrum in bezug auf die Erkenntnis der Welt.

Möglicherweise muss das Transzendentalsubjekt Kants, das ja auf den aktualen sinnlich-leiblichen
Wahrnehmungskapazitäten des realen Menschen gründet, revidiert werden. Angesichts der technologischen
Entwicklung wird es immer schwieriger, zwischen Leib und Technik zu unterscheiden; unsere leibliche
Erfahrung ist in zunehmendem Maße technikvermittelt. Vielleicht muss das Modell des Kant’schen
Transzendentalsubjekts um jene neuen Erfahrungskapazitäten und Erfahrungspotenziale erweitert werden;
eventuell wird die Subjekt-Objekt-Trennung hinfällig und das zu Gunsten eines medialen Denkens wie
man es im Enaktivismus findet, einem theoretischen Ansatz innerhalb der Kognitionswissenschaften,
demzufolge das Subjekt als ein schon immer in den Dingen stehendes Medium fungiert und die Dinge
durch sich selbst hindurch zum Sprechen bringt [GALLAGHER, 2006; ZAHAVI / GALLAGHER, 2012;
FINGERHUT / HUFENDIEK / WILD, 2013].

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A N Z E S T R A L I T Ä T Meillassoux setzt für seine Kritik am Korrelationismus bei den Aussagen


der experimentellen Wissenschaft über die Ereignisse vor der Entstehung von Leben und Bewusstsein an.
Dafür nimmt er die wissenschaftlichen Bestimmungsmethoden von Ereignissen „vor dem Auftauchen der
ersten Hominiden und lebenden Fossilien“ [MEILLASSOUX, 2014, 24] in den Blick; in diesem Fall geht es
um die Bestimmung von radioaktiven Zerfallszeiten, von denen aus auf das Alter eines Objekts geschossen
werden kann. Als anzestral gilt Meillassoux „jede Wirklichkeit, die dem Aufkommen der menschlichen
Gattung vorausgeht“ [ebd.]; als archifossil gelten für ihn die „Stoffe, die die Existenz einer anzestralen Realität
oder eines anzestralen Ereignisses anzeigen“ [ebd.]. Ob sich ein Objekt als archifossil qualifiziert, hängt von
der gemessenen radioaktiven Zerfallsrate ab, mit der sich Aussagen über das Alter des Objekts machen lassen.

Meillassoux‘ Arbeitsfrage lautet: „Zu was für einer Interpretation der anzestralen Aussagen ist der
Korrelationismus fähig?“ [ebd., 25]. Es geht Meillassoux also um die Frage, inwieweit sich eine Welt ohne
den Menschen, das heißt ohne ein in der Welt situiertes Erkenntnissubjekt denken lässt – dies aber vom
Standpunkt des gegenwärtigen, in der Welt situierten Erkenntnissubjekts aus.

Die starke Version des Korrelationismus, nach der sich „nichts anderes auffassen [lässt] als Korrelationen“
[ebd.], schränke „jede Hypostasierung ein, jede Substantialisierung eines Erkenntnisgegenstandes, der als
Seiendes durch sich selbst existiert“ [ebd.]. Dem starken Korrelationismus nach sei die „Korrelation durch
sich selbst ewig“ [ebd.].

Die Pointe von Meillassoux‘ Argumentation besteht darin, den Korrelationisten mit einem Archifossil zu
konfrontieren, dessen wissenschaftlich bestimmte radioaktive Zerfallsrate auf einen Zeitraum im Universum
verweist, in dem es noch keine Menschen gegeben hat. Dies nimmt Meillassoux zum Anlass, um einerseits
die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Korrelats aufzuwerfen, und um andererseits nach den
Geltungsbedingungen der Korrelation zu fragen – beides hängt für Meillassoux miteinander zusammen.

Es gehört strenggenommen nicht mehr zum Interpretationsbereich des korrelativen Erkenntnismodus, auf
Basis einer Existenzaussage hinsichtlich eines dem Subjekt gegenwärtigen Objekts Existenzaussagen über
andere Objekte zu treffen, die dem Erkenntnissubjekt gegenüber nicht gegenwärtig, das heißt nicht anwesend
sind, ist dadurch die Bedingung notwendiger sinnlicher Erfahrung für die Möglichkeit von Erkenntnis nicht
erfüllt. Es muss sich stets vor Augen gehalten werden, dass die Korrelation lediglich ein epistemologisches
Modell für spezifische Anwendungsfälle ist. Letzteres versucht Meillassoux dafür auszunutzen, um die
Geltung der Korrelation zu schwächen und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit aufzuzeigen. Meillassoux
beabsichtigt die Erzeugung eines Widerspruchs, sofern der Korrelationist seine Denkweise konsequent
durchhält und mit den Ergebnissen der Wissenschaft konfrontiert wird; jener Widerspruch soll dem

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Korrelationisten vor Augen halten, dass die Verabsolutierung der Korrelation zu Inkohärenzen führt, wenn
man korrelationistisch durchgehaltene Aussagen über das Archifossile den Aussagen der Wissenschaft über
die Anzestralität gegenüberstellt: Wenn das Archifossil für den Korrelationisten nur für uns sei, dann müsse,
so Meillassoux‘ Unterstellung, das Anzestrale – welches ja bereits vor uns existiert habe – aus
korrelationistischer Sicht ebenfalls nur für uns sein. Wie aber kann das Archifossile als Anzeige des
Anzestralen lediglich für uns sein, wenn das Anzestrale doch zu einer Zeit existent gewesen ist, in der es jenes
uns noch gar nicht gegeben hat?

Zur Aufrechterhaltung der absoluten Geltung der Korrelation ließe sich die „Existenz eines ‚anzestralen
Zeugen‘“ [ebd.] vorstellen, der das anzestral nicht gegenwärtige Individuum vertritt, das für Meillassoux als
Träger der Subjektfunktion fungiert. Die Vorstellung eines anzestralen Zeugen sei nach Meillassoux jedoch
illegitim, da die Korrelation stets durch den lebenden Menschen instanziiert werde; denn es handle sich bei
der Korrelation um eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die sich von den biologisch gegebenen
Erkenntnismodalitäten des Menschen ableite.

„Wie eine anzestrale Aussage interpretieren, wenn wir uns inmitten eines Korrelats situieren und uns ganz
seiner Hypostasierung widersetzen?“ [ebd., 26], fragt Meillassoux. Die mathematisierbaren, anzestralen
Aussagen, „die sich auf die Akkreszenz beziehen“ [ebd.], bezeichnen „wirkliche Eigenschaften des in Frage
stehenden Ereignisses“ [ebd.], auch ohne Beobachter, so Meillassoux‘ These. Jene Aussagen seien in ihrer
bedeutungstragenden Funktion zwar ideell, doch sie referieren auf eine subjektunabhängige Wirklichkeit.

Es handle sich um eine sinnvolle wissenschaftlich falsifizierbare Annahme, „dass sich die Dinge genauso wie
er [der Wissenschaftler] sie beschreibt, ereigneten“ [ebd., 27]; ferner sei eine Zurückweisung des anzestralen
Ereignisses nur durch eine andere anzestrale Theorie möglich. Meillassoux konstatiert, dass die primären,
mathematisierbaren Qualitäten integral für die Wissenschaftler seien – denn ohne diese wäre Wissenschaft
ein sinnloses, im wahrsten Sinne des Wortes realitätsfernes Unterfangen.

Meillassoux unvermittelte Gegenüberstellung von Philosophie und Wissenschaft führt im Laufe seines
konstruierten Streitgesprächs dazu, dem Korrelationisten die Absicht zu unterstellen, die vermeintlich
spontan-realistische Einstellung des Wissenschaftlers erkenntniskritisch korrigieren zu müssen. Nur eine
durch den Korrelationismus bereinigte wissenschaftliche Aussage über die Anzestralität ermögliche „Zugang
zum letztmöglichen Sinn der anzestralen Aussage“ [ebd., 29], so der Meillassoux’sche Korrelationist.

Jener Korrekturversuch habe jedoch destruktive Konsequenzen; die kritische Funktion des Korrelationismus
schlägt in ihr Gegenteil um:

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Wird der Sinn aufgespalten, wird ein tieferer Sinn gemäß der Korrelation hinzu erfunden, im Wider-Sinn
zum realistischen, dann zerstört man den Sinn und ist weit davon entfernt, ihn zu vertiefen. [...] Diese Aussage
hat einen realistischen Sinn, und nur einen realistischen Sinn, oder sie hat überhaupt keinen. [ebd.]

Die korrelationistische Korrektur führe demnach zur Zerstörung des Sinngehalts der
naturwissenschaftlichen Aussage über die Anzestralität.

Für Meillassoux folgt aus der Überführung des naturwissenschaftlichen Aussagegehalts in den Modus des
erkenntniskritischer Korrelationismus eine „Retrojektion der Vergangenheit von der Gegenwart aus“ [ebd.,
31]. Meillassoux glaubt nämlich, dass für den Korrelationisten auf Basis einer erkenntniskritischen
Relativierung des ihm gegenwärtig anwesenden archifossilen Artefakts auch eine Relativierung der gesamten
Anzestralität folge. So gehe ein vermeintlich „tieferer Sinn der Anzestralität“ mittels einer logischen
Retrojektion zulasten des unmittelbaren chronologischen Sinns der Anzestralität verloren: So sei es für den
Korrelationisten „nicht die Anzestralität, die der Gebung vorausgeht, sondern das gegenwärtig Gegebene,
das eine, wie es scheint, anzestrale Vergangenheit zurückwirft.“ [ebd., 31 f.].

Jene Sinndestruktion der naturwissenschaftlichen Aussage durch den Korrelationismus führt Meillassoux
auf einen subjektiven Vorrang der „korrelationellen Gegenwart“ [ebd.] oder genereller: des Präsenten
gegenüber der anzestralen Vergangenheit oder auch: dem Nicht-Präsenten zurück. Dadurch ergeben sich
jene Inkohärenzen:

Die anzestrale Aussage ist, insofern sie objektiv ist, eine wahre Aussage, deren Referent aber unmöglich so existiert
haben kann, wie diese Wahrheit ihn beschreibt. Es ist eine wahre Aussage, die jedoch ein unmögliches Ereignis
als wirklich beschreibt, eine ‚objektive‘ Aussage ohne denkbaren Gegenstand [ebd., 31].

Als absurd erscheinen Meillassoux die Folgerungen, die sich vom Standpunkt des Korrelationisten ergeben:
„Das Sein ist nicht der Gebung vorausgehend, es gibt sich als der Gebung vorausgehend.“ [ebd., 30]

Deshalb verneint Meillassoux die Möglichkeit eines Kompromisses „zwischen dem Korrelat und dem
Archifossilen“ [ebd.]. Meillassoux spitzt seine Kritik zu:

Anders gesagt, ein kohärenter Korrelationist müsste seine Bescheidenheit ablegen und wagen, laut zu sagen,
dass er imstande ist, dem Wissenschaftler a priori beizubringen, dass seine anzestralen Aussagen illusorisch
sind. [ebd.]

So verwandeln sich alle Korrelationismen in „extreme Idealismen“ [ebd.] im Angesicht des Archifossilen, die
„gleichermaßen fabelhaft“ [ebd.] seien. Meillassoux spitzt das Problem dahingehend zu, dass es, wie er
unterstellt, an dem subjektiven Widerstand des Korrelationisten liegt, den korrelationistischen Modus zu
verlassen und zuzugeben, dass „diese Ereignisse einer Materie ohne Menschen, von der die Wissenschaft
spricht, tatsächlich so geschehen konnten, wie die Wissenschaft davon spricht“ [ebd., 34].

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Die Frage lautet also, woher der Korrelationist das Recht nimmt, den Wissenschaftler auf jene Weise zu
kritisieren, die Meillassoux in seiner Argumentation gegen den Korrelationismus skizziert. Jenes Recht
scheint für Meillassoux sogleich verwirkt, da der Korrelationist durch seine Kritik nur
Widersprüchlichkeiten und Inkohärenzen zu produzieren vermag; denn eine Gegenposition vermeintlich
zu widerlegen bedeutet nicht automatisch die Legitimität der eigenen Position – denn letztere wäre noch
einmal für sich zu beweisen.

Meillassoux schlägt sich auf die Seite der Wissenschaft und hält an der Datierbarkeit des anzestralen
Ereignisses fest. Er hält also fest an der Existenz und Denkbarkeit eines „Sein[s] und eine[r] Zeit, die der
Manifestation vorausgehen“ [ebd.]; im Archifossilen manifestiert sich für ihn die „gegenwärtige Gebung
eines der Gebung vorausgehenden Seins“ [ebd.]. Es ist für Meillassoux eben jene zeitlose Zeit, mit der sich die
Korrelation unterminieren lässt:

Meillassoux believes that he has found a way to the absolute because if one can think of the absolute
destruction of subjectivity then one can think of something which is utterly independent of it: the very fact
of subjectivity’s destruction and ist non-being. [NIEMOCZYNSKI, 2017, 87]

Meillassoux believes that by seeing as fact that the correlation does not necessarily have to exist (it is necessarily
contingent) – and this is possible to attain in the thought of one’s own death or annihilation – then one is
able to have a concept that is of the real ‚outside‘ – a kind of being which is absolutely independent of thought
because thought does not exist. [ebd.]

Meillassoux‘ Begriff einer Philosophie des Für-uns ruft allerdings methodische Kritik hervor. Es wäre besser
gewesen, wenn sich Meillassoux auf bestimmte epistemologische Positionen bezogen hätte, statt sie unter
einem unklaren Begriff zu subsumieren. Von der Möglichkeit, am erkenntnistheoretischen Diskurs in der
gegenwärtigen Philosophie teilzunehmen, macht Meillassoux leider keinen Gebrauch. Der Bezug auf
spezifische erkenntnistheoretische Positionen bestimmte einschlägiger Autoren hätte sich nicht nur positiv
auf die Subtilität und Differenziertheit seiner Argumentation ausgewirkt; auch wäre damit sichergestellt
gewesen, dass nicht gegen Strohmänner argumentiert wird, also gegen erkenntnistheoretische Positionen,
die es in der von Meillassoux dargestellten Form vielleicht gar nicht gibt. Und hätte sich Meillassoux mit
spezifischen Positionen des wissenschaftlichen Realismus auseinandergesetzt, müsste er dem Wissenschaftler
keine spontane realistische Einstellung unterstellen; denn auch die Wissenschaft besitzt ein
erkenntnistheoretisches Fundament und Objektvitätsbedingungen hinsichtlich ihrer Theorien. Es hätte sich
möglicherweise als ertragreicher erwiesen, auf dieser fundamentalen epistemologischen Ebene in
systematischer Weise anzusetzen und den Streit zwischen Philosophie und Wissenschaft dort auszutragen.

Es stellt sich vor allem die Frage, ob es überhaupt noch in den Interpretationsbereich des Korrelationisten
fällt, auf Basis einer Aussage über ein ihm gegenwärtigen Objekt – das Archifossil als gegenwärtiges Objekt

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– Aussagen über andere Objekte – die Anzestralität – zu treffen, die dem ihm gegenüber nicht gegenwärtig,
das heißt nicht anwesend sind. Denn das Alter eines Gegenstandes ist für einen erkenntnistheoretischen
Korrelationisten strenggenommen gar nicht von Belang, da sich jene Eigenschaft ja gar nicht sinnlich
erfassen oder besser: erschauen lässt.

Außerdem stelle ich die Behauptung auf, dass auch der Wissenschaftler eine Form des Korrelationismus
vertritt. Ich komme im letzten Teil dieser Arbeit darauf zurück. Ich versuche es, beide Positionen
miteinander zu vermitteln.

V O R W E G N A H M E N Als erste korrelationistische Entgegnung nimmt Meillassoux den Einwand


der Zeugenlosigkeit vorweg: Doch „wo das zeitlich oder räumlich ‚Nahe‘ aufhört, und wo das räumlich oder
zeitlich ‚Ferne‘, das ‚Anzestrale‘ anfängt“ [MEILLASSOUX, 2014, 35] lasse sich, so entgegnet Meillassoux,
nicht klären. Jene „trügerischen Identifizierung zweier Begriffe [...]“ [ebd.] beruhe auf der fälschlichen
Identifizierung des Anzestralen mit dem „räumlich oder zeitlich Fernen“ [ebd.]; das Anzestrale bezeichne
vielmehr ein Ereignis, „das dem irdischen Leben und folglich der Gebung selbst vorhergeht“ [ebd., 37]. Das
Anzestrale verweise auf das der Zeit und dem Raum ontologisch vorgängige; es „bezieht sich nicht auf
Ereignisse, die ein lückenhaft Gegebenes nicht zu fassen vermag, sondern auf Ereignisse, die zu keiner
Gebung, lückenhaft oder nicht, zeitgleich sind.“ [ebd.]. Das Anzestrale sei „keine Lücke im Gegebenen und
für eine Gebung“ [ebd.], sondern eine „Lücke der Gebung selbst“ [ebd.]. Die Anzestralität verkörpere einen
„[bestimmten] Typ der zeitlichen Realität“ [ebd.], der „mit dem, was der Gebung in ihrer Totalität
vorausliegt“ [ebd.] zusammenfalle. Es lässt sich zusammenfassen, dass das Anzestrale zusammen mit einer
Welt stattfinde, „wie sie sich entfaltet, solange es überhaupt kein Gegebenes gibt“ [ebd.]. Meillassoux
Ausführungen laufen darauf hinaus

to point out that the material reality of the ancestral is temporally prior to any such ‚transcendental‘ structures.
We must be embodied beings prior to thinking any such concepts as Kant would have them, and prior to our
embodiment is a set of real, even ancestral realities that are absolute and unquestionable. This temporality is
the ‚condition of possibility‘, he argues, for ancestrality itself, and thus anteriority marks an absolute that is
prior to any Kantion ‚conditions of possibility‘ of knowledge [...]. [GRATTON, 2014, 51]

Das Anzestrale stellt nach Meillassoux eine ontologisch-chronologische Herausforderung an das Denken, da
es uns mit der Frage konfrontiert, wie „eine Zeit zu denken ist, in der das Gegebene als solches vom Nicht-Sein
zum Sein übergeht“ [MEILLASSOUX, 2014, 38]. Die hier zu denkende Zeit referiert einen Punkt, an dem
„Bewusstsein“, also der Mensch als bewusst wahrnehmendes Wesen, wie auch die „Zeit des Bewusstseins“
[ebd.] „in der Zeit“ [ebd.] emergiert sind. Das Denken steht also vor folgender Aufgabe: „Zu verstehen, wie
die Wissenschaft es zustande bringt, eine Welt zu denken, in der sich die räumlich-zeitliche Gebung selbst in einer
Zeit ereignet hat – und ebenso in einem Raum –, die jeder Gebung vorausliegt.“ [ebd., 39]

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Die Aktualität als solche lässt sich nicht aus sich selbst heraus denken, sondern es bedarf eines Denkens, das
die Aktualität als nur einen kontingenten Fall unter unendlichen vielen möglichen Fällen begreift; es geht
Meillassoux letztlich darum, jene unbedingte unendliche Potenzialität zu denken, aus der unsere aktuale
Welt kontingenterweise gefolgt ist. Im Grunde genommen läuft Meillassoux‘ Vorhaben darauf hinaus, das
Absolute zu denken: Es sind die Denkvoraussetzungen der „Zeit der Wissenschaft“ [ebd.] zu klären, das
heißt einer Zeit, „die sich per definitionem nicht reduzieren lässt auf eine Gebung, welcher sie vorausgeht und
deren Emergenz sie daher ermöglicht hat“ [ebd.] und die „Mächtigkeit enthält, nicht nur physische Dinge
hervorzubringen, sondern Korrelationen von gegebenen Dingen und Gebungen der Dinge“ [ebd.].

Die zweite korrelationistische Entgegnung, die Meillassoux aus Sicht des Korrelationisten vorträgt, besteht in
der Unterstellung, die „empirische mit der transzendentalen Ebene des behandelten Problems [zu]
verwechseln“ [ebd., 39]. Die empirische Frage ziele auf die Erklärung der Emergenz von „organische[n] und
in der Folge offenbar bewusste[n] Körper[n] in einer Umgebung [...] [ab], die ihrerseits physisch ist“ [ebd.,
40]; die transzendentale Frage bestehe, so der entgegnende Korrelationist, in der Bestimmung der
wissenschaftlichen Erkenntnissituation, einschließlich ihrer Möglichkeitsbedingungen, hinsichtlich des
„physischen Auftauchen[s] des Lebens und des Bewusstsein[s]“ [ebd.]. Der Wissenschaftler setze das
transzendentale Subjekt, welches im Grunde genommen das „Subjekt der Wissenschaft ist“ [ebd.] mit dem
„physischen Organ[], das es trägt“ [ebd.] auf naturalistische Weise in eins. Jenes transzendentale Subjekt
existiere im materialistisch-ontologischen Sinn „ganz einfach nicht“ [ebd.], vielmehr sei es die „Gesamtheit
der Bedingungen, welche die objektive wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht“ [ebd.].

Der Einwand, dass das transzendentale Subjekt nicht existiere, ist lediglich formaler Natur. Beim
transzendentalen Subjekt handelt es sich zwar um eine Abstraktion, doch ist diese wiederrum mit subjektiven
Erfahrungsgehalten vermittelt, die im Begriff des transzendentalen Subjekts lediglich ihre
Verallgemeinerung erfahren. Das Transzendentalsubjekt erfährt und erkennt selbst nichts, da es nur eine
Abstraktion ist – nur das lebendige Individuum ist zu Erfahrung und Erkenntnis fähig. Das
Transzendentalsubjekt ist demnach als ein Model für die subjektive Erkenntnissituation des Menschen zu
begreifen; es leitet sich von der menschlichen Anthropologie ab, das heißt von denjenigen
verallgemeinerbaren leiblich-kognitiven Kapazitäten und Vermögen, die den Prozess des Erkennens bei
einem menschlichen Individuum ermöglichen.

Das Problem liegt für Meillassoux in der Verwechslung des objektiven Seins der aktualen, in der Zeit
emergierenden und vergehenden Körper mit den zeitlosen „Bedingungen des Wissens von diesem objektiven
Sein der Körper“ [ebd.]. Werde diese illegitime „Verknüpfung der beiden Reflexionsebenen“ [ebd.] aber
aufgegeben, führe das zur Auflösung des Paradoxons das darin gründe, dass beide Aspekte „einfach nicht zur

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gleichen Ebene der Reflexion gehören“ [ebd., 41]. An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem
erkenntnistheoretischen Fundament der wissenschaftlichen Praxis auf.

Die Wissenschaftstheorie formuliert die Bedingungen wahren wissenschaftlichen Wissens; da Wissenschaft


eine subjektive Praxis ist, die zwischen Mensch und Welt vermittelt, ist sie notwendigerweise auch
erkenntnistheoretisch fundiert. Jene Fundierung mag vielleicht zur im wissenschaftlichen Forschungsalltag
nicht mehr weiter reflektierten Selbstverständlichkeit geworden sein, doch das bedeutet nicht, dass die
Wissenschaft als Ganze eine naiv-realistische Auffassung der Welt habe. Meillassoux hätte sich hier auf die
verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen beziehen müssen, die im Rahmen der
Wissenschaftstheorie diskutiert werden. Meillassoux‘ Korrelationist hätte auf der Ebene der
Wissenschaftstheorie ansetzen und die Wissenschaft auf ihre erkenntnistheoretische Fundierung hin
befragen müssen.

Für Meillassoux handelt es sich bei dieser Entgegnung um eine „klassische Verteidigung des kantischen
Idealismus“ [ebd.], die auf die Immunisierung der Erkenntnisbedingungen durch De-Ontologisierung der
transzendentalen Bedingungen hinauslaufe, so dass sich über sie keinerlei Existenzaussagen mehr
formulieren lassen, demnach auch im Rahmen „jeder Reflexion, der es um das Sein geht“ [ebd.] und des
„gegenständlich-wissenschaftlichen Diskurs[es]“ [ebd.]. Das aktuale Stattfinden des transzendentalen
Subjekts in der Instanz eines Menschen gehöre jedoch, so Meillassoux, zu den existenziellen
Voraussetzungen, dass es überhaupt ein transzendentales Subjekt geben könne. Dies versucht Meillassoux
durch den „Begriff des Gesichtspunktes“ [ebd., 42] zu begründen: ein transzendentales Subjekt „ohne
jeglichen Gesichtspunkt“ [ebd.] hätte „Zugang zur Totalität der Welt“ [ebd.], so dass die Mannigfaltigkeit
der „objektiven Realität“ seinem Blick nicht entgehen, sondern von diesem gänzlich eingefangen würde.
Jenes auf diese Weise vorgestellte Transzendentalsubjekt breche mit der „wesentlichen Endlichkeit des
transzendentalen Subjekts“ [ebd.], seine Welt höre auf, „regulative Idee des Wissens zu sein“ [ebd.] und
wäre für jenes unendliche Subjekt komplett durchdringbar, so dass die Möglichkeit einer „unmittelbar
vollendeten Erkenntnis“ [ebd.] gegeben wäre. Ferner sei die „sinnliche Rezeptivität und ihre räumlich-
zeitliche Form“ [ebd.] unvereinbar mit jenem totalen Erkenntnissubjekt, da jenes die „reale Unendlichkeit“
[ebd.] an Abschattungen in der Wahrnehmung einfangen könnte bzw. einzufangen hätte. Deshalb resümiert
Meillassoux: „Das Subjekt ist nur transzendental als ein in der Welt positioniertes, von welcher es nur einen
endlichen Aspekt enthüllen und niemals die Totalität versammeln kann“ [ebd.]; es sei somit „von der
Inkarnation in einem Körper nicht zu trennen“ [ebd.] und äquivalenterweise auch „von einem bestimmten
Objekt der Welt“ [ebd.] nicht einfach abtrennbar. Der menschliche Körper sei demnach die „Bedingung
für das Stattfinden des Transzendentalen“ [ebd., 43], er sei die „‘retrotranszendentale‘ Bedingung des
Erkenntnissubjektes“ [ebd.]: Leiblichkeit als „nicht-empirische Bedingung seines Statt-Findens“ [ebd.].

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Zur Stützung seines Arguments der leiblichen Bedingtheit des Transzendentalsubjekts unterscheidet
Meillassoux zwischen Instanziierung und Exemplifizierung: Eine „bestimmte Entität [(transzendentales
Subjekt)] werde von einem Individuum instanziiert [...], wenn diese Entität nicht außerhalb seiner
Individuation existiert“ [ebd.], und nur exemplifiziert, „wenn man annimmt, dass diese Entität auch
außerhalb seiner Individuation existiert“ [ebd.]. Daraus folge die zu stellende „Frage nach der Zeitlichkeit
der Bedingungen der Instanziierung und folglich nach dem Stattfinden des Transzendentalen selbst“ [ebd.],
womit das „Auftauchen der Bedingungen für das Statt-Finden des Transzendentalen“ [ebd.] gemeint sei.

„Mit den lebendigen Körpern sind tatsächlich die Instanziierung des Subjekts und sein Charakter eines
Gesichtspunktes-auf-die-Welt erschienen.“ [ebd.]. Die Anzestralität könne deshalb nicht transzendental
gedacht werden, da sie eine raumzeitliche Stelle referiere, an der sich der Übergang des bis dahin nicht
seienden transzendentalen Subjekts „vom Nicht-Statt-Finden zum Statt-Finden“ in körperlicher Aktualität
vollziehe. Diese zu denkende ontologische Verortung sei Teil einer, „den räumlich-zeitlichen Formen der
Repräsentationen vorgängige[n] Raum-Zeit“ [ebd., 44] und demnach ebenfalls dem anzestralen Diskurs
zugehörig. Es bleibt für Meillassoux noch zu beantworten, wie sich das Anzestrale denken lässt und wie sich
die Wissenschaft Zugriff auf das Anzestrale verschafft.

Im Folgenden skizziere ich in aller Kürze, weshalb ich die Auflassung vertrete, dass auch die Mathematik
nur aus der Korrelation heraus agiert. Meillassoux Identifizierung der mathematisierbaren Qualitäten mit
den primären, objektinhärenten Qualitäten beruht auf der wackligen Prämisse, dass die Mathematik einen
neutralen Zugang oder eine neutrale Sprache dafür böte, mit der sich die Welt so erkennen lasse, wie sie an
sich sei – und dies soll, so Meillassoux, deshalb so sein, weil sich durch die Mathematik eine Art Zugriff auf
die Anzestralität verschaffen lasse, also einer Zeit noch vor dem Auftauchen von Mensch und Korrelation.
Die Verwendung der Mathematik aber beruht selbst auf einer spezifischen, von Meillassoux nicht weiter
reflektierten Korrelation und Mediatisierung von Welt, wie ich unter Bezugnahme auf Husserls Begriff der
Lebenswelt anreißen werde. Bei der Mathematik handelt es sich nicht um eine neutrale Sprache zur
Beschreibung von objektinhärenten, das heißt subjektunabhängig vorgestellten Eigenschaften, da die
Mathematik selbst eine bestimmte Vermittlungsweise von Welt und Subjekt ist. Dass es eine
subjektunabhängige ontologische Welt gibt, steht außer Frage – viel wichtiger scheint mir die Frage nach
der empirischen Adäquatheit möglicher Mediatisierungsweisen zwischen Welt und Subjekt.

Jenes Problem fand in ähnlicher Weise bereits unter dem Begriff der Protokollsatzdebatte [vgl. STEGMÜLLER,
1978, 445-486; vgl. SCHURZ, 2008, 79-83] Eingang in die Wissenschaftstheorie; darin geht es um das
Verhältnis zwischen theoretischer Sprache und Beobachtungssprache. Meillassoux hingegen nähert sich auf
eigene Weise der Frage nach der Möglichkeit einer neutralen Wissenschaftssprache und eines Sign devoid of

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meaning [MEILLASSOUX, 2016, 117-198]. Im Hinblick auf unser Problem ist Meillassoux‘ Gedanke einer
neutralen mathematischen Sprache zur Beschreibung der an sich seienden Welt die Theoriegeladenheit aller
Beobachtungen entgegenzuhalten. Meillassoux‘ Gedanke eines neutralen mathematischen Zugangs ist
meines Erachtens zu Gunsten der Frage nach den spezifischen subjektiven Modi der Mediatisierung von
Welt und deren empirischer Adäquatheit aufzugeben [VAN FRAASSEN, 1980].

M E D I A T I S I E R U N G Eine Lösung des Problems der Anzestralität wird von Meillassoux nicht
beansprucht, er beabsichtigt lediglich dessen Formulierung in „einer strengen Form“ [MEILLASSOUX, 2014,
44]. Es bleibt letztlich folgende Frage bestehen: „Wie lässt sich die Fähigkeit der experimentellen
Wissenschaft, eine Erkenntnis des Anzestralen zu erzeugen, denken?“ [ebd.]. Es ist eine Frage nach den
Möglichkeitsbedingungen, mathematisch „eine menschenleere Welt zu beschreiben, das heißt eine Welt,
geformt von Dingen und Ereignissen, die keiner Manifestation korrelieren“ [ebd.]. Für das Vorhaben, „das
Große Außen“ [ebd.] wiederherzustellen und so zum „Gegenstand eines Diskurses“ [ebd.] zu machen, setzt
Meillassoux auf die Mathematik. Meillassoux scheint der Mathematik das Vermögen zuzuschreiben, einen
unvermittelten Zugang zu den Dingen zu besitzen; sein fehlender Bezug auf die verschiedenen Arten des
wissenschaftlichen Realismus [PSILLOS, 1999; DICKEN, 2016] stellt in dem Zusammenhang eine vertane
Chance dar.

Das Denken des Anzestralen „stellt uns vor das beunruhigende Problem, das darin besteht, sich entschlossen
inmitten dieses Widerspruchs aufzuhalten, um zu gegebener Zeit seinen illusorischen Charakter zu
entblößen.“ [MEILLASSOUX, 2014, 45]. Das Transzendentalsubjekt Kants wird vom Anzestralen
herausgefordert; gleichzeitig sollen wir darüber staunen, wie es die Mathematik vermag, jenes vor-menschliche
Ereignis zu denken, das „scheinbar undenkbar und dennoch wahr – und in diesem Sinne außerordentlich
problematisch“ [ebd.] ist. Hieran lässt sich erkennen, dass die Philosophie als ein ewiges Neuanfangen des
Denkens zu verstehen ist, das vom Affekt des Staunens vitalisiert wird, der beim Hinterfragen von
Selbstverständlichkeiten auftritt und die Möglichkeit, neue, unberücksichtigte Wahrheiten zu finden,
beherbergt. So entbirgt sich jenes ontologisch-epistemologisches Problem des Anzestralen nicht nur als
erkenntnistheoretische, sondern gar als existenzielle Frage danach, „was ist – ob wir selbst sind oder nicht“
[ebd.].

Die Frage danach, ob sich die Mathematik zur objektiven Beschreibung der Welt nutzbar machen lässt und
ob oder inwiefern der mathematische Formalismus dabei die Funktion einer reinen, neutralen Sprache
übernehmen kann, gehört zum Desiderat von Nach der Endlichkeit.

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Stellt man Korrelationismus und Wissenschaft unvermittelt gegenüber, so wie es Meillassoux tut, muss es
natürlich so erscheinen, als handle es sich um zwei unterschiedliche Diskurse, die zu widersprüchlichen
Resultaten führen, wenn man ihre Interpretation der Anzestralität miteinander vergleicht. Ich möchte im
Folgenden kurz umreißen, wie sich der von Meillassoux konstruierte Widerspruch zwischen
philosophischen und wissenschaftlichen Weltzugang möglicherweise auflösen lässt.

Der Diskurs des Korrelationismus scheint auf einer anderen Eben angesiedelt zu sein als der Diskurs der
experimentellen Wissenschaft, sofern man beide Seiten unvermittelt gegenübergestellt lässt. Dies ist nur
scheinhaft so. Vielmehr stellt es sich so dar: Beide Seiten gehören dem korrelativen Denken an, doch sie
unterscheiden sich hinsichtlich der Modalitäten ihrer innerkorrelativen Mediatisierung zwischen der Subjekt-
und Objekt-Seite. Auch der Wissenschaftler befindet sich schon immer in der Welt und nimmt denkend
Bezug auf sie: Die Welt „steht nicht mit einer Fülle von Objekten um den Menschen herum, ist so
verständlich, sondern das menschliche Dasein ist in sich ein eigentümliches Versetztsein in den
Umringungszusammenhang des Lebendigen.“ [HEIDEGGER, 2010, 403]

Er befindet sich de facto schon immer in einer Subjekt-Objekt-Korrelation: und zwar der von Mensch und
Welt. Jene Korrelation zeichnet sich durch ihre Medialität aus, so dass es vielleicht eher geboten wäre, vom
erkennenden Menschen als Erkenntnismedium zu sprechen und Erkennen, in Absetzung zur Vorstellung
einer Spiegelung von Welt, als einen Mediatisierungsprozess zwischen Welt und Mensch aufzufassen:

Erkennen ist [...] ein fundierter Modus des Zugangs zum Realen. Dieses ist wesenhaft nur als innerweltliches
Seiendes zugänglich. Aller Zugang zu solchem Seienden ist ontologisch fundiert in der Grundverfassung des
Daseins, dem In-der-Welt-sein. Dieses hat die ursprünglichere Seinsverfassung der Sorge (Sich vorweg –
schon sein in einer Welt – als Sein bei innerweltlich Seienden). [HEIDEGGER, 2006, 202]

Der Mensch ist ein Erkenntnismedium, Erkennen bedeutet Mediatisierung von Welt; die epistemologische
Medialität des Menschen besteht darin, dass er schon immer in den lebendigen wie leblosen Dingen steht
und letztere aus der Dingwelt heraus erkennt: „Der Mensch existiert in eigentümlicher Weise inmitten des
Seienden.“ [HEIDEGGER, 2010, 403]. Umfassende Erkenntnis hat zum einen die Gewinnung eines
Bewusstseins für die weltliche Situiertheit des Menschen zur Voraussetzung, zum anderen wird es getragen
von der Forderung nach einer Vergewisserung der weltlichen Zugänglichkeit, der verschiedenen
Weltzugänge und den ihnen entsprechenden Mediatisierungsmodalitäten:

Welt als Ganzheit ‚ist‘ kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem
Seienden und wie es sich dazu verhalten kann. Dasein gibt ‚sich‘ aus ‚seiner‘ Welt her zu bedeuten, heißt
dann: in diesem Auf-es-zukommen aus der Welt zeitigt sich das Dasein als ein Selbst, d. h. als ein Seiendes,
das zu sein ihm anheimgegeben ist. Im Sein dieses Seienden geht es um dessen Seinskönnen. [HEIDEGGER,
2013, 157]

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Philosoph und Wissenschaftler befinden sich demnach in der ontologisch gleichen existenziellen
Erkenntnisposition, wobei es durchaus Unterschiede in Bezug auf die spezifischen
Repräsentationsmöglichkeiten von Welt geben mag; das primordiale mapping von Welt ist vor allem bedingt
durch die menschliche Anthropologie, das heißt durch die natürlich vorgegebenen leiblichen Kapazitäten
hinsichtlich des Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens des homo sapiens. Die
Korrelation gilt insofern immer, nur gibt es Unterschiede im Hinblick auf die Möglichkeiten der
Vermittlung von Mensch und Welt:

Das Dasein kommt mit dergleichen Voraussetzungen immer schon ‚zu spät‘, weil es, sofern es als Seiendes
diese Voraussetzungen vollzieht – und anders ist sie nicht möglich –, als Seiendes je schon in einer Welt ist.
‚Früher‘ als jede daseinsmäßige Voraussetzung und Verhaltung ist das ‚Apriori‘ der Seinsverfassung in der
Seinsart der Sorge. [ebd., 206]

Eine adäquate Bearbeitung der menschlichen Epistemologie kann nur aus der Position des schon immer in
der Welt situierten Menschen erfolgen:

Glauben an die Realität der ‚Außenwelt‘, ob mit Recht oder Unrecht, beweisen dieser Realität, ob genügend
oder ungenügend, sie voraussetzen, ob ausdrücklich oder nicht, dergleichen Versuche setzen, ihres eigenen
Bodens nicht in voller Durchsichtigkeit mächtig, ein zunächst weltloses bzw. seiner Welt nicht sicheres Subjekt
voraus, das sich im Grunde erst einer Welt versichern muß. Das In-einer-Welt-sein wird dabei von Anfang
an auf ein Auffassen, Vermeinen, Gewißsein und Glauben gestellt, eine Verhaltung, die selbst immer schon
ein fundierter Modus des In-der-Welt-seins ist. [ebd.]

Die an Meillassoux‘ Überlegungen anschließende eigentlich relevante Fragestellung müsste eine Antwort
darauf finden, wie sich die spezifischen Modi der Mediatisierung von Welt konstituieren, wie also jene
verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen überhaupt zustande kommen und was diese voneinander
unterscheidet. Brandner greift in seiner Phänomenologie des Menschseins [BRANDNER, 2014] die phänomenale
Weltoffenheit des Menschen unter bezug auf das erkennende Weltverhältnis auf, um es im Zuge eines Rückgangs
in das Ursprungsgeschehen des Menschseins zu explizieren; Gander entwickelt dagegen die Grundzüge einer
phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger [GANDER, 2006], eine kritisch-
analytische Aufarbeitung von Heideggers Frühwerk in der Absicht, es für eine Grundlegung der
hermeneutischen Gegenwartsphilosophie fruchtbar zu machen; bei Gabriel findet sich eine Erweiterung des
Erkenntnisbegriffs über den Wissensbegriff hinaus und eine Entfaltung eines Pluralismus von
Darstellungsformen als Erkenntnisformen im Ausgang von einer Explikation wissenschaftlicher
Geltungsansprüche [GABRIEL, 2015].

Eine unmittelbare Gegenüberstellung des Philosophen und des Wissenschaftlers bringt im Hinblick auf die
beiden Mediatisierungsweisen keinen hohen Erkenntnisertrag ein, wie Meillassoux am Ende des Kapitels ja
auch implizit eingesteht. Die Dialektik der beiden Positionen ist bei Meillassoux eigentlich noch gar nicht

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richtig in Gang gekommen; da er auf der Stufe des Widerspruchs verbleibt, kann seine Untersuchung auch
nur Widersprüchlichkeiten zu Tage fördern, durch die eigentlich noch nichts gewonnen ist, außer dem
Antrieb, der Sache auf den Grund zu gehen.

Hält man an Meillassoux‘ Distinktion zwischen Philosoph und Wissenschaftler fest, so scheint es
angebracht, den Korrelationismus in einen erkenntniskritischen und einen naturwissenschaftlichen zu
unterscheiden. Ich unterstelle dem Wissenschaftler also, einen naturwissenschaftlichen Korrelationismus zu
vertreten; letzterer zeichnet sich durch seine naturwissenschaftliche Mediatisierung der Welt aus, was den
Einsatz von Technik und Mathematik im Rahmen des Erkenntnisprozesses einschließt.

Beide Formen des Korrelationismus sind erfahrungsgebunden, doch sie unterscheiden sich darin, was genau
und in welcher Weise als Erfahrung Eingang in die Korrelation findet: Während der erkenntniskritische
Korrelationismus (EKK) auf einem sinnlich-leiblich, also unmittelbar wahrnehmungsvermittelten Zugang
zur Welt basiert, bezieht der naturwissenschaftliche Korrelationismus (NWK) seinen Erfahrungsgehalt
außerdem noch auf technisch-mathematische Weise. Im Vergleich zum EKK verschafft sich der NWK durch
die Applikation von Technik und Mathematik einen erweiterten Zugang zur erfahrbaren Wirklichkeit.
Während der EKK seinen Erfahrungsgehalt nur unter Zuhilfenahme der leiblichen Sinneswahrnehmung
bezieht, bezieht der NWK einen zusätzlichen Erfahrungsgehalt durch den Einsatz technisch-mathematischer
Methoden – in diesem Fall zur Bestimmung der radioaktiven Zerfallszeiten von Fossilien. Die
Verwendbarkeit von Sinnesdaten als Erfahrungsgehalt hängt demnach von der Auflösungshöhe unseres
Erfahrungsvermögens ab.

Der NWK verfügt über ein erweitertes Erfahrungsvermögen als der EKK, der lediglich auf den leiblich-
geistigen Kapazitäten und Vermögen des menschlichen Individuums basiert, das keinerlei Technik benutzt;
der NWK hingegen gewinnt – in meiner Überlegung – seinen Erfahrungsbegriff am anthropologischen
Modell eines technisierten Menschen. Mit Hinblick auf Kant ist nach den spezifischen anthropologischen
Vorannahmen zu fragen, die in die Konstitution des Transzendentalsubjekts einfließen da letzteres ja eine
zum allgemeinen Modell gewordene Verallgemeinerung der menschlichen Erkenntnissituation ist. Es hängt
für eine adäquate Konzeptualisierung der heutigen Erkenntnissituation des Menschen viel davon ab, ob sich
das Transzendentalsubjekt angesichts der gewandelten, vor allem technisierten Welterfahrung entsprechend
remodellieren und aktualisieren lasse; letztlich geht es darum, das Spektrum möglicher menschlicher
Erfahrung auszuweiten und das transzendentale Subjekt auf diese Weise auszudifferenzieren, das bedeutet
die zur jeweiligen Erkenntnissituation und Mediatisierungsweise äquivalenten Erfahrungsmodelle zu
rekonstruieren. Es müsste sich aus der wissenschaftlichen Alltagspraxis heraus zeigen lassen, durch welche
möglicherweise bewußtlosen erkenntnistheoretischen Vorannahmen sich diese konstituiert; es geht also um

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Präsuppositionen, die zwar grundlegend für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und die
wissenschaftliche Objektivität sind, doch für den Wissenschaftler in seiner Alltagspraxis unthematisch
bleiben.

Die Möglichkeit einer Vermittlung beider Weltzugänge hängt unter anderem davon ab, inwiefern sich die
mathematisch-technische Mediatisierung als eine Spezifizierung oder Erweiterung der leiblich-sinnlichen
Mediatisierung denken lässt. Das in die mathematisch-technische Mediatisierung eingehende technische
und mathematische Wissen, sei es in Form technischer Artefakte oder in Form von modular bereitstehender
mathematischer Wissensbestände im Sinne von applizierbaren mathematischen Methoden, ließe sich
nämlich durchaus als eine Technik zum Zwecke der Erweiterung der sinnlich-leiblichen Kapazitäten und
Vermögen auffassen. Vor dem Hintergrund einer durchaus vorstellbaren Erweiterbarkeit unseres
Erfahrungs- und damit auch Erkenntnisvermögens bietet es sich an, Mathematik und Technik als eine Form
der Organerweiterung im Sinne Gehlens zu begreifen [vgl. GEHLEN, 2007, 6-10]. Der Sinn der Technik
besteht für Gehlen im Organersatz, der Organentlastung und der Organüberbietung; er sieht einen
wesentlichen Zusammenhang „von Mensch und Technik, also zwischen der erfinderischen Intelligenz des
Menschen, seiner Organausstattung und der Expansionsfähigkeit seiner Bedürfnisse“ [GEHLEN, 2002, 117]:

Ohne eine artspezifische Umwelt, in die er eingepaßt wäre, ohne angeboren zweckmäßige Bewegungs- und
Verhaltensmuster (und das bedeutet bei Tieren ‚Instinkt‘), aus Mangel also an spezifischen Organen und
Instinkten, sinnesarm, waffenlos, nackt, embryonisch in seinem Habitus, instinktunsicher schon wegen der
Innenmeldung seiner Antriebe, ist er auf die Handlung gestellt, auf die intelligente Veränderung der
beliebigen vorgefundenen Naturumstände [...]. [...] Das Kunststück eines so riskierten Wesens, sich am Leben
zu erhalten, kann in der elementaren Schicht nur in einer Überbietung und Kompensation seiner
Mängelausstattung bestehen [...] [ebd., 118]

Diese Auffassung würde also die technische Betätigung geradezu zu den menschlichen
Konstitutionsmerkmalen rechnen [...]. [ebd.]

Setzt man die Haltbarkeit des Gehlen’schen Gedankens von der Technik als einer Organerweiterung voraus,
lassen sich mathematisch-technische und sinnlich-leibliche Mediatisierung in bezug auf ihre Verwertung
von Erfahrung als zwei miteinander vergleichbare Weltzugänge verstehen. Die mathematisch-technische
Mediatisierung wäre dann als eine Erweiterung des sinnlich-leiblichen Erfahrungsvermögens denkbar, da
sich durch ihre Methoden die Vielfalt und die Auflösung von möglicher Erfahrung vergrößert.

Stellen wir uns die anthropologische Konstitution des Subjekts so vor, dass es über einen dermaßen
hochauflösenden Wahrnehmungsapparat verfügt, der es ermöglicht, die sich im Zerfall befindenden
radioaktiven Elemente eines Objekts mit einem Blick wahrzunehmen. Verfügten wir über so eine immense
Wahrnehmungskapazität, dann würde die radioaktive Zerfallsrate eines Gegenstandes zu einer sinnlich
affizierbaren Eigenschaft neben anderen sinnlich affizierbaren Eigenschaften werden, wie es beispielsweise

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Größe, Form, Farbe und Geruch sind. Anhand dieses Gedankenspiels lässt sich erkennen, welche Funktion
Mathematik und Technik für unser Erfahrungsvermögen einnimmt. Letzteres wird erweitert, da
Messinstrumente uns einen Zugriff auf die Eigenschaften eines Objekts ermöglichen, die sich mit bloßem
Auge nicht erkennen lassen; Technik erweitert demnach nicht nur ganz allgemein den Zugriff auf die Natur,
sondern sie erweitert unser Erfahrungsvermögen durch einen spezifischeren Zugriff auf das Objekt im Lichte
seiner sinnlich-rezeptiven Erfahrbarkeit.

Beide Korrelationismen sind aus Husserlscher Perspektive subjektive Modi der Weltauslegung zum Zwecke
der induktiven Voraussicht in bezug auf das Leben:

Diese wirklich anschauliche, wirklich erfahrene und erfahrbare Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch
abspielt, bleibt, als die sie ist, in ihrer eigenen Wesensstruktur, in ihrem eigenen konkreten Kausalstil
ungeändert, was immer wir kunstlos oder als Kunst tun. Sie wird also auch nicht dadurch geändert, daß wir
eine besondere Kunst, die geometrische und Galileische Kunst erfinden, die da Physik heißt. Was leisten wir
durch sie wirklich? Eben eine ins Unendliche erweiterte Voraussicht. Auf Voraussicht, wir können dafür
sagen, auf Induktion beruht alles Leben. In primitivster Weise induziert schon die Seinsgewißheit einer jeden
schlichten Erfahrung. [...] Sehen, Wahrnehmen ist wesensmäßig ein Selbsthaben ineins mit Vorhaben, Vor-
meinen. [HUSSERL, 2012, 54 f.]

Doch vollzieht sich diese Interpretation von Welt in unterschiedlicher Form, was wiederum mit der
unterschiedlichen lebensweltlichen Funktion und damit einhergehend Akzentuierung der Subjekt- und
Objektseite des jeweiligen Weltzugangs zusammenhängt.

Der EKK ist gewissermaßen subjektorientiert, weil er die kritische Funktion besitzt, die subjektiven
Erkenntnisansprüche im Kant’schen Sinne zu begrenzen. Die Objektorientierung des NWK hingegen ergibt
sich aus einer vorgängigen, als selbstverständlich angenommenen und deshalb im wissenschaftlichem
Forschungsalltag nicht weiter reflektierten Mathematisierung der Welt, die sich im historischen Verlauf
unseres Denkens vollzogen hat. Jene Mathematisierung bedeutet für Husserl eine Reduktion des
phänomenalen Gehalts der Lebenswelt zum Zwecke ihrer besseren Beherrschbarkeit durch den Menschen:

In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt – der in
unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt – in der offenen Unendlichkeit
möglicher Erfahrungen ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektivwissenschaftlichen
Wahrheiten, d. i. wir konstruieren in einer (wie wir hoffen) wirklich und bis ins einzelne durchzuführenden
und sich ständig bewährenden Methode zunächst bestimmte Zahlen-Indizierungen für die wirklichen und
möglichen sinnlichen Füllen der konkret-anschaulichen Gestalten der Lebenswelt, und eben damit gewinnen
wir Möglichkeiten

Das Ideenkleid „Mathematisierung und mathematische Naturwissenschaft“, oder dafür das Kleid der
Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befaßt alles, was wie den Wissenschaftlern, so den
Gebildeten als die „objektiv wirkliche und wahre“ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid
macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist – dazu das, um die innerhalb des

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lebensweltlich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten
durch „wissenschaftliche“ im Progressus in infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, daß der
eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der „Theorien“ unverständlich blieb und bei der naiven
Entstehung der Methode niemals verstanden wurde. [HUSSERL, 2012, 55]

Die mathematische Naturwissenschaft „zielt mit ihren Experimenten nicht darauf ab, die Universalität ihrer
Experimente zu ermitteln; sie zielt durch wiederholbare Experimente auf den außerhalb liegenden
Referenten ab, der den Experimenten ihren Sinn gibt“ [MEILLASSOUX, 2014, 33]. Hier entgeht Meillassoux
allerdings, dass die Wissenschaft ihr Erkenntnisobjekt – die Welt – bereits in grundlegender Weise
mathematisiert und dadurch normalisiert hat, noch bevor Teile der Welt von ihr zum Gegenstand
spezifischer Experimente gemacht werden können. Die Universalität ihrer Experimente ist grundsätzlich
gesichert, weil diese sich in mathematisierter Form vollziehen und kompatibel zu einer mathematisierten
Welt sind [vgl. HUSSERL, 2012, 21-63]. Die „Gesamtheit der Bedingungen, welche die objektive
wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht“ [MEILLASSOUX, 2014, 40] konstituiert sich auf Grundlage der
totalen Mathematisierung der Welt hin zu einer mathematisch normalisierten Objektwelt, die für die
mathematisch-experimentellen Zugriffsweisen der Naturwissenschaften bereitsteht.

Der Widerspruch, den Meillassoux zwischen erkenntniskritischen und naturwissenschaftlichen


Korrelationismus zu glauben sieht und in seiner Kritik zur Retrojektionsparadox führt, lässt sich auflösen,
indem die spezifischen Verfahrensweisen der Mathematik als Technik begriffen und in Bezug zum
menschlichen Erkenntnisvermögen gesetzt werden. Der vermeintliche Widerspruch zwischen sinnlich-
leiblicher und mathematischer Mediatisierung von Welt löst sich auf, wenn wir die mathematisch-
technische Zugangsform als eine Erweiterung der sinnlich-leiblichen Zugangsform begreifen, die
Mathematik also als eine Technik zur Erweiterung des leiblichen Wahrnehmungsvermögens betrachten.

Dieser Gedanke lässt sich weitertreiben, indem man den EKK und NWK auf ihre spezifische lebensweltliche
Fundierung hin befragt. Worin liegt die spezifische Bedeutung für den Menschen, einen spezifischen
Zugang zu Welt zu haben? Was wird damit spezifisch bezweckt? Zur Klärung dieser Fragen könnte sich ein
phänomenologischer Ansatz als hilfreich erweisen.

Husserl ging es darum, das verschüttete lebensweltliche Fundament der mathematischen Naturwissenschaft
auszugraben. So stellt die „schon bei Galilei sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch
substruierten Welt der Idealitäten“ [HUSSERL, 2012, 52] eine Zuschneidung der Erfahrbarkeit der
Lebenswelt, womit die „wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt“
[ebd.] gemeint ist, und eine Zurichtung unseres Erfahrungsvermögens dar.

Für die ererbte geometrische Methode waren ja diese Leistungen nicht mehr lebendig betätigte, geschweige
denn reflektiv als innerlich den der Exaktheit zustandebringende Methoden in das theoretische Bewußtsein

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erhoben. So konnte es scheinen, daß die Geometrie in einem eigenen unmittelbar evidenten apriorischen
Anschauen und damit hantieren den Denken eine eigenständige absolute Wahrheit schaffe, die als solche –
selbstverständlich – ohne weiteres anwendbar sei. Daß diese Selbstverständlichkeit ein Schein war [...], daß
auch der Sinn der Anwendung der Geometrie seine komplizierten Sinnquellen hat, blieb für Galilei und die
Folgezeit verdeckt. Gleich mit Galilei beginnt also die Unterschiebung der idealisierten Natur für die
vorwissenschaftliche anschauliche Natur. [ebd., 53]

Husserl fordert ein radikales Zurückfragen „bis zu dem letztlichen Zweck, dem die neue Naturwissenschaft
mit der von ihr unabtrennbaren Geometrie, aus dem vorwissenschaftlichen Leben und seiner Umwelt
hervorwachsend, von Anfang an diesen sollte, einem Zwecke, der doch in diesem Leben selbst liegen und
auf seine Lebenswelt bezogen sein mußte“ [ebd.]:

Alle Gesetzeserkenntnis konnte nur Erkenntnis von gesetzlich zu fassenden Voraussichten der Verläufe
wirklicher und möglicher Erfahrungsphänomene sein, welche sich ihm mit der Erweiterung der Erfahrung
durch systematisch in die unbekannten Horizonte eindringende Beobachtungen und Experimente
vorzeichnen und sich in der Weise von Induktionen bewähren. Aus der alltäglichen Induktion wurde so
freilich die Induktion nach wissenschaftlicher Methode, aber das ändert nichts an dem wesentlichen Sinn der
vorgegebenen Welt als Horizont aller sinnvollen Induktionen. [ebd., 54]

Husserls Idee einer phänomenologischen Bergung verschüttet gebliebener, doch für die Naturwissenschaften
konstitutiver lebensweltlicher Präsuppositionen [vgl. auch BLUMENBERG, 2015, 163-202; vgl. ROLF,
2006], scheint mir ein vielversprechendes Modell dafür abzugeben, um die lebensweltlichen
Fundierungsweisen der begrifflich-aisthetischen Mediatisierungsformen von Welt zu exponieren; Gabriels
Erweiterung des Erkenntnisbegriffs, mit dem über die Erhebung von Erkenntnisansprüchen hinauszugehen
versucht wird, die ausschließlich in Aussagen, Urteilen oder Behauptungen gefasst und damit an einen
propositionalen Wissensbegriff gebunden sind, eröffnet dabei die Möglichkeit eines subtileren Fragens nach
Erkenntnis und Weltzugang.

Gleichzeitig kann diese veränderte Sichtweise auf die naturwissenschaftliche Forschungstätigkeit zu einem
neuen Ausgangspunkt für Meillassoux‘ Frage nach der naturwissenschaftlichen Zugangsweise zum
Anzestralen werden, da es aus dieser Fragerichtung möglich wird, die naturwissenschaftliche Praxis in einen
weiteren Kontext zu stellen und damit ein differenzierteres Anknüpfen an sie zu ermöglichen, was die Frage
nach dem Wie und Warum von Erkenntnis betrifft.

Für die Ermöglichung einer interdisziplinären Verständigkeit zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und
Kunst im Hinblick auf die jeweils eingesetzte Methodik bei der Gewinnung eines spezifischen Weltzugangs
im Rahmen der verschiedenen Mediatisierungsformen von Welt scheint mir die wissenschaftstheoretische
Methode der verfremdeten Interdisziplinarität [WALLNER, 1992; GREINER, 2005] eine vielversprechende
Anschlußmöglichkeit zu bieten.

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