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MATTHIAS
GRÜNEWALD ß.
VERLAG V°/
> ÜBER JO H A N N BAPTIST METZ
Vorwort__8
Diskrete Religion__19
Thom as Assheuer
Untröstlichkeit_23
Werner Post
Schwacher Trost_44
Christoph Türcke
Tröstliche Philosophie?__85
Ludwig Siep
Bei Trost?__93
Jürgen Werbick
Lebenstrost__136
Katrin Göring-Eckhardt
»Sorget nicht!«__141
Wolfgang Thierse
Anmerkungen__194
ieses Buch Über den Trost ist ein Geschenk für Johann Baptist
D Metz, den Achtzigjährigen. Eines, von dem wir hoffen können,
dass es ihn erfreut - weil er es sich selbst gewünscht hatte, damals, in ei
nem Bändchen für den Verleger Heinrich Wild (Notwendige Bücher,
München 1974) des Kösel-Verlages. Notwendig fand er es dort, Über
den Trost zu schreiben und erläuterte seinen Gedanken in einem be
merkenswerten Text, der nun auch wieder diesen Band eröffnet und der
zuvor allen an ihm beteiligten Autoren zugegangen war - weniger als
Einladung zur Interpretation, denn als Bitte, die Passage in ihrer su
chenden Tendenz oder im Widerspruch zu ihr weiterzudenken und
zwar nicht nur im Blick auf den religiösen Trost, sondern den ganzen,
den »Trost der Welt«.
Unter den »Dialogfetzen«, die Johann Baptist Metz 1969 aus seinen Ge
sprächen mit Ernst Bloch in einem kleinen theologisch-politischen Ta
gebuch festgehalten hatte (Unterbrechungen, Gütersloh 1981, 62), fin
det sich dieser Einwand Blochs an die Adresse der Theologen: »Wenn
ihr schon trösten wollt, dürft ihr nicht spitzfindig werden«. Der Trost,
der trösten können soll, muss evident sein, er entzieht sich der um
ständlichen Begründung ebenso, wie der wortreichen Apologetik, nicht
zuletzt darum, »weil Trost Suchen heißt« (Kafka, Tagebücher) und ein
altes biblisches Versprechen enthält: »Wer sucht, der findet«.
Dieses Buch weigert sich, eine Festschrift der üblichen Art zu sein.
Keine Huldigungen, keine Werkinterpretationen, keine Sammlung
fachspezifischer Beiträge. Insider-Reflexionen und einen allzu selbst
verständlichen Umgang mit den Begriffen der Metzschen Theologie
sollte es nicht geben. Gefragt worden sind deshalb keine Schüler. Wir
bitten um Verständnis! Auch Kollegen der theologischen Zunft sind die
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Minderheit in diesem Band, der liraktathaftes und Monografisches über
den Ttost gerne anderen Büchern überlassen möchte. In dem hier vor
liegenden wird der Trost nahegebracht oder infrage gestellt, einge
grenzt oder ausgeschlossen, nirgendwo jedoch definiert, schon gar
nicht als vorrätig und verfügbar betrachtet. Aber gerade dort, wo die
Texte ihn nicht beschwören, sondern nur umkreisen und eher aus der
Ferne wahrnehmen - skeptisch oder aus Scheu - , ist offenkundig, dass
sie ihn schützen, und sich den Trost auf keinen Fall zerreden oder aus-
reden lassen wollen.
vimwnirr
> Ü BER DEN TROST
Jo h a n n Baptist M etz
otwendig erscheint mir ein Buch über den Trost, über die Trös
N tungskraft der Religion. In ihm dürften freilich nicht einfach die
von der Gesellschaft verweigerten oder auch bereitwillig angebotenen
Tröstungsmuster und Tröstungsfunktionen der Religion bestätigt oder
reproduziert werden. Es müßte deshalb von einem Lebenstrost spre
chen, der weder von vornherein als »Opium« marxistisch-ideologiekri
tisch entlarvt noch als »Enttäuschungsabsorption« systemtheoretisch
oder auch psychoanalytisch konzediert bzw. gar gesucht wird. In die
sem Buch müßte z. B. von der tröstenden Kraft der Religion die Rede
sein angesichts jener großen Verletzungen und Demütigungen des
Menschen und seines Selbstbewußtseins, die ihm (z. B. nach Freud)
neuzeitlich zugefügt worden sind: durch die kopernikanische Entthro
nung der menschlichen Welt als des Mittelpunkts des Alls, durch Dar
wins Rückkoppelung der Menschengeschichte an die Naturgeschichte
und die Auslieferung des menschlichen Subjekts an die anonymen Wo
gen einer Evolution, die es gewissermaßen vom Rücken her ständig
überrollen, und schließlich durch die freudianische Relativierung
menschlichen Bewußtseins, seiner Ideen, Utopien und Hoffnungen auf
die dunklen Tiefen und Untiefen des Unbewußten hin. Ein solches
Buch über den Trost der Religion, das sich den Herausforderungen des
neuzeitlichen Schicksals des Menschen redlich zu stellen sucht, müßte
seinerseits freilich wie ein Angriff auf vieles sein, das uns neuzeitlich
teuer geworden ist, vor allem auf die einseitig vorherrschende Bestim
mung des Menschen als eines Herrschaftssubjekts gegenüber Natur.
Ein solches Buch müßte die Diagnose Mitscherlichs über »Die Unfä
higkeit zu trauern« weit über die jüngere deutsche Geschichte hinaus
0 li I! It I) l: N l ltosr | ii |
> TROST VERSUS TRÖSTUNG
H artm ut von H entig
as Wort Trost kann nur der verstehen und wird nur der überzeu
D gend verwenden, der Trost erfahren hat. Ja, es spricht viel dafür,
dass nur der sich nach Trost sehnt, dem er zuteilgeworden ist. Es kann
einer dringend Trost benötigen und nicht wissen, was er da entbehrt, -
es hat ihn in den Augenblicken, in denen er ihn brauchte, niemand in
die Arme genommen, niemand hat ihm gesagt »Ich verstehe dich und
deinen Kummer«, niemand hat ihm ungefragt einen Tee bereitet, das
hier fällige Schubert-Lied aufgelegt, das heimholende, klärende, Wun
der wirkende Gedicht vorgelesen. Dieser Mensch wird klagen: Keiner
versteht mich, keiner trägt mit, keiner steht mir bei. Er wird fragen: Wa
rum trifft es mich? Warum ist die Welt so unmenschlich? Was hat das al
les für einen Sinn? Er könnte sogar fragen: Warum ist das Leben so
»trostlos« - und damit anderen ein Wort nachreden, mit dem diese of
fenbar die äußerste Ödnis bezeichnen wollen, ohne zu verraten, was
der Trost ist, der hier fehlt.
Dass es viele Menschen gibt, die Trost nicht kennen, ist unwahrschein
lich, wem er nicht zuteilgeworden ist, der hat ihn vielleicht selbst erteilt.
Wir kommen nicht umhin, Menschen zu begegnen, deren großes oder
kleines Leid uns anrührt. Wir haben Mitleid, wollen das Leid mindern
oder den von ihm Gebeugten aufrichten. Wir werden das nicht immer
können und werden dann etwas tun, was dem anderen immerhin un
sere Bereitschaft zeigt: Wir »trösten« - was auf vielfältige Weise gesche
hen kann. Meistens freilich ver-trösten wir nur. Ich zweifle, ob es mir
selbst je gelungen ist, einem Menschen tatsächlich »Trost« zu geben.
»Hilfe« ist bescheidener und manchmal auch mehr.I
I u I THUS T V I: II S II S T II ("> s t II N (.
Man sieht: Trost kann zugleich eines der großen Wunder und ein schwa
cher Vorgang, eine hilflose Ersatzhandlung sein - eben eine Vertrös
tung. Wir bezeugen dem Adressaten unseren guten Willen, weil wir sei
nen Verlust nicht ungeschehen machen, seinen Schmerz nicht
beseitigen, seine Verfehlung nicht aufheben können.
Trotz dieser Widersprüchlichkeit, trotz seiner heiklen, schwer fassbaren
Bedeutung wird das Wort Trost viel und herzhaft gebraucht-vornehm
lich, wo das Bedürfnis nach ihm ausgesprochen wird. Auch auf die Ver
heißung von Trost kommt ein großer Anteil seiner Verwendung. Im an
spruchsvollen, gewichtigen Sinn - also nicht als Umschreibung von
Beschwichtigung oder Ablenkung, von Fürsorge oder Abhilfe - dürfte es
so selten sein wie das gemeinte Erlebnis selbst.
Auch ich habe das Wort sicher oft gebraucht. »Sicher« verrät, dass ich
nicht sicher bin, ob immer ernsthaft und genau. Der Leser kann unbe
sorgt sein: Ich werde nun nicht etwa meine eigenen Äußerungen prü
fen und das Ergebnis hier vorlegen. Ich versuche, mich der Bedingung
des richtigen, nicht oberflächlichen, nicht gefühligen Gebrauchs zu
versichern. Wann habe ich Trost erfahren, so dass ich darüber schreiben
und reden kann? Wofür verwende ich das Wort Trost, wenn ich für das
Gemeinte einstehen soll? Was habe ich für Zeugen?
Plötzlich werden die Anlässe rar. Gewiss hat der vierjährige Hartmut in
den Armen von Salme, der estnischen Kinderfrau, die in meiner Kind
heit die Mutter vertrat, Trost gefunden. Ich trug ihr meine Not zu; ich
weinte mich aus; sie verstand, auch ohne dass ich etwas sagte, was mich
bedrückte - ein verloren- oder kaputtgegangenes Spielzeug, eine Zu
rücksetzung, eine eigene Schuld, an der ich hilfloser litt als an einem
Schmerz. Hatte ich mir wehgetan, wandte sie die Zaubersprüche der
Erwachsenen an; diese nahmen den Schmerz nicht, aber »Heile heile
Segen« verbunden mit Streicheln tat wohl; jemand nahm mich wahr;
Ich war nicht allein. Entscheidend war, dass Salme nicht aufhörte, be
vor ich nicht selbst aus dem Leid ausstieg. Nun war ich geheilt - der
'IVost war mehr als nur das bezeugte Mitleid, das Gebaren von Salme ge
wesen, mehr als ein bewährtes Beruhigungsmittel. Ihre bereitgehaltene
Liebe war der benötigte Trost.
Ich habe dies von Menschen nur noch ganz selten in meinem Leben
wiedererlebt. Überraschenderweise einmal vom Vater, von dem Stär
kung und ermutigendes Einverständnis sonst nur in der Form von
T II O S T V I! II S II S T II 0 S T II N 0 |U |
Forderung, Vertrauen und Verlässlichkeit ausgingen. Als ich zwölf Jahre
alt war, überfiel mich eines Nachts, etwa um drei Uhr, ein furchtbarer
Schmerz in der Brust. Ich wimmerte erbärmlich; der Vater hörte es im
Nebenzimmer und er holte mich in sein Bett, legte seine Arme um mich
und redete in seinem bestimmten, nun aber auch mitfühlenden Ton:
Das sei wahrscheinlich eine Lungenentzündung, eine schwere Erkran
kung; ein Arzt könne in den nächsten Stunden jedoch auch nichts ge
gen die Schmerzen tun; gleichmäßige körperliche Wärme sei für mich
im Augenblick das Beste. Der Schmerz blieb, die Beruhigung trat ein,
und um acht Uhr - in zumutbarer Morgenstunde - wurde der Arzt an
gerufen, der eine Rippenfellentzündung feststellte. Der Trost bestand in
des Vaters ungewohnter, ausdauernder, physischer Gegenwart und da
rin, dass er nichts verharmloste, nichts vergessen machen wollte, viel
mehr vom ersten Augenblick an die Gewissheit gab: Ich werde ernst ge
nommen - und nicht alleingelassen. Mit anderen Worten. Der Trost war,
wie bei Salme, eins mit der einfachen, unbedingten Liebe; diese wog
alle Pein auf; mitten im Leid war die Welt doch gut. Und in beiden Fäl
len war es die Liebe einzig dieser Person, die das vermochte. Ich komme
darauf zurück.
Suche ich weiter in d er Erinnerung, finde ich ganz wenige Lagen, in denen
mir solcher Trost zuteil wurde, hingegen viele, in denen ich mich selbst
getröstet habe, und eben sie lehrten mich, den Tröstungen zu misstrauen.
Fast immer bewirkten sie, dass ich mich mit meinem Unglück abfand -
aus Einsicht in seine Unaufhebbarkeit. Ich lernte, einen Ausgleich zu su
chen, und wenn das nicht gelang, mich abzulenken, mich gar zu berau
schen: mit Arbeit, mit langen Wanderungen, mit Wein - mit Berserke-
reien. Sie verwandelten das Selbstmitleid in Trotz oder in Euphorie. Ging
deren Wirkung vorüber, nahmen sie einen guten Teil der Kränkung mit.
Ich war das Schlimmste los: die Trostbedürftigkeit. Diese lässt uns im
Elend hocken, statt Auswege zu suchen. Trost-erhoffen wie Trost-spen-
den-Wollen wurden mit dem Erwachsenwerden immer seltener.
Dass ich eine hohe, ganz und gar persönliche und innerweltliche Er
wartung an das Ereignis Trost habe, ihn jedenfalls im Rückblick aus ho
hem Alter (vorher habe ich das Phänomen Trost nicht bedacht) nur mit
wenigen Instanzen verbinde, hängt mit deren Stärke zusammen: Den
von mir gemeinten Trost haben mir jeweils eine bestimmte Liebe, eine
mir schon vertraute Musik und ausgewählte, kostbare Dichtungen ge-
TU O S T V URS US TRÖSTUNG [ 15 ]
Vollends ist der Tod eine von Gottes klügsten Erfindungen. Unvorstell
bar, was das Leben ohne ihn wäre! Und so ist denn »stirb und werde«
zwar kein Trost im einzelnen Fall, bestreitet aber die Berechtigung des
Verzagens, die allgemeine Trostseligkeit angesichts des Todes.
Nein, für die von Metz aufgezählten Unbilden muss nicht Trost gesucht
werden, schon gar nicht in der »Rede von Gott und von der verheißenen
Unsterblichkeit«. Ich erkenne heute auch kein »Trauerverbot«, kein
»Melancholieverbot«, dem die »Unfähigkeit«, sich trösten zu lassen, im
Argument des Textes unheimlich vorausgeht; ich weiß nicht, was mit
dem »heimlichen Unschuldswahn« gemeint ist. Gewiss sehe ich eine
»Flucht vor dem eigenen und fremden Leiden«, aber die sehe ich zu al
len Zeiten. Ich ärgere mich wie Johann Baptist Metz über den »forschen
Optimismus des Fortschritts«, und in der Tat wird Banales oft auf tö
richte Weise gefeiert, aber dass dem - und einem gemutmaßten Aus
laufen des Lebenssinns - ausgerechnet mit Trost, statt mit Besinnung,
Ernüchterung, Gedankenstrenge und asketischer Lebensweise zu be
gegnen wäre, ist mir unverständlich. Wer meint, dass der Glaube an
Gott uns stärker sein und klüger handeln lässt, soll diesen Glauben vor
uns aufrichten und mit seiner Person bezeugen - als Ansporn, nicht als
Trost.
Suche ich im Arsenal der Texte, in denen mir das Wort »Trost« aufgefallen
ist, kommen mir nur solche in den Sinn, die meinen strengen Anspruch
an seine Bedeutung bestätigen: Herr, lehre doch mich, dass ein Ende m it
m ir h aben muss [.. .]Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, d ie doch so si
ch er leben [...] Sie sam m eln und wissen nicht, wer es kriegen wird. Nun
Herr, wes soll ich m ich trösten? [...] »Sehet m ich an: Ich h a b e eine kleine
Zeit M ühe und Arbeit geh abt und h ab e großen Trost gefunden. [...] »Ich
will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Diese Zeilen aus dem 39.
Psalm, aus den Büchern Sirach und Jesaja kommen mir als erste in den
Sinn. Brahms hat sie in seinem Requiem - einem der größten Trostlieder,
die es gibt - gleichsam als Auslegung des neutestamentlichen Selig sind,
die d a Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden (Mt 5,1) versammelt.
Sie wollen alle eines: Uns mit dem unverstandenen, scheinbar sinnlo
sen, entbehrungsreichen Dasein versöhnen, - keine Kompensation,
keine Erklärung, keine Rechtfertigung! Die finde ich auch im »Trost der
Philosophie« des Boethius nicht. Er will zunächst den sorgfältig darge
stellten Widersinn auflösen: Der gute Schöpfer lässt zu, dass sein wich-I
I 16 | TU O S T V I ! HS I I S T HO S T U N O
tigstes Geschöpf das große Werk verdirbt um dessen Freiheit willen, die
jedoch angesichts seiner Allwissenheit und Allmacht zur Farce wird. Er
endet damit, dass er aus Gottes praevidentiaIVorauswissen Gottes pro-
videntialVorsehung macht, also den Widersinn zu einer uns unzugäng
lichen Weisheit erklärt. Wieder keine Tröstung über unser Geschick, son
dern Hinnahme unserer begrenzten Erkenntnis und Preisgabe unseres
falschen Anspruchs! In der griechischen Tragödie »tröstet« der Chor den
leidenden Helden, indem er ihn an das Leid anderer erinnert: Auch
N iobe verlor sieben Töchter und sieben S ö h n e ... Aus dem bekundeten,
aber unergiebigen Mitleid macht er die lebenskluge Zumutung: Face the
facts. Die Trostaria des Johann Christian Günther kehrt die Botschaft
um: Trost ist allein in der Hoffnung auf ein Ende.
Joseph von Eichendorff hat den »Trost der Welt«, von dem das Einla
dungsschreiben zu diesem Buch spricht, der Nacht anvertraut: Sie
bringt alles zur Ruhe, die Lust und die Not; sie lässt Einsamkeit, Grübe
lei, die Rastlosigkeit des Tages in Stille und Ermüdung ihren natürlichen
Ausklang finden - für eine Weile, bis der Morgen uns dies alles wieder
bringt, wie es immer war.
Weil wir zu viel von den kleinen Hilfen erwarten, die wir geben und er
langen können, wird uns der Trost, der uns mit der schwierigen Existenz
versöhnt, nicht zuteil. Unter den drei Bedeutungen, die sich mit dem
Wort verbinden
- eine Gewissheit: »Alles liegt in Gottes Hand«,
- ein Ersatz: »Nimm es nicht so schwer - wir helfen dir, so gut wir kön
nen«,
- ein Versagen: »Wirklich helfen kann dir keiner, darum vernichte lie
ber seinen Anlass«,
wird jeder seine Wahl treffen müssen. Ich neige zur letzten Möglichkeit,
kann sie aber nicht so unerbittlich klar ausdrücken wie Hilde Domin:
T KOS T V I - U S US TRÖSTUNG [ 17 J
Haus ohne Fenster
i
vollkommen demokratischen Gesellschaft würde es kein unnötiges Lei
den geben: Alles Leiden wäre nur noch eine unausweichliche Folge un
serer Sterblichkeit.« Unter den utopischen Bedingungen von Freiheit
und Gerechtigkeit, so könnte man Rorty verstehen, wenn uns die Ge
sellschaft keine unnötigen Versagungen mehr auferlegt, haben wir Zeit,
uns der Zeit zu stellen, dem Leiden an Sterblichkeit und Frist, unseren
existenziellen Sorgen und namenlosen Ängsten. Entlastet vom Lebens
und Freiheitskampf wären wir dann, mit einem schönen alten Wort,
endlich frei, uns selbst »inne zu werden«. Wir könnten uns jenen ersten
und letzen Fragen stellen, die eine nachmetaphysisch ernüchterte Phi
losophie zwar nicht abweist, aber auf die sie mit guten Gründen eine
Antwort verweigert.
Rortys Gedanke ist ebenso schlicht wie bestechend, und auch Johann
Baptist Metz würde ihm seine Zustimmung gewiss nicht versagen. Und
doch hat es den Anschein, als würde Rorty von den Wogen der Zuver
sicht davongetragen. Offensichtlich rechnet er nicht mit dem trostlosen
TYost der Tröstungsindustrie, mit ihren symbolischen Anästhesien, die
die letzten und vorletzten Fragen immer schon zum Schweigen ge
bracht haben, noch ehe sie den Menschen überhaupt ins Bewusstsein
gedrungen sind. Ebenso wenig rechnet Rorty mit einer Dynamik, die
man - mit einer riskanten Prätention - durchaus als eine tragische be
schreiben könnte: Auf der einen Seite erweitert die Moderne die Spiel
räume individueller Freiheit bis ins Unermessliche; auf der anderen
Seite plündert, entleert und entschärft sie die Bilder und Metaphern, in
deren Licht die Einzelnen das »Leiden an der Endlichkeit« überhaupt
erst zu deuten vermöchten. Die vollkommen demokratische Gesell
schaft wäre demnach zwar frei und gerecht, doch unter dem Einfluss
der Tröstungsindustrie besäßen ihre Bürger keinen Sinn mehr für das
Sinnlose, für die Schrecken von Krankheit und Tod, für den absoluten
Schmerz und das schlechthin Entsetzliche - eben für all das Unsagbare,
Unwiederbringliche und Niewiedergutzumachende, für das es in die
sem Leben keinen Trost gibt.
Mit einem Wort: Der Normalisierungsmoderne fehlt es nicht an Trös
tungen, sondern an Trostverweigerung. Es fehlt ihr an gnädigen Bil
dern, deren Schweigen erkennen lässt, dass nach dem geschehenen
Unglück, im Angesicht der Verzweifelten, der Trost der Welt versagt und
juder Zuspruch zur Lüge wird. Diskret könnte eine Religion genannt
»ISKHfiTH R K L I (i I O N [ 21 ]
werden, die einen Trost gewährt, der nicht tröstet. Demütig be
schränkte sie sich auf die Anerkennung des Schmerzes und die Macht
des Negativen. Diskrete Religion ist stumme Compassion mit jenen Un
tröstlichen, denen auf Erden nicht zu helfen ist, und vielleicht auch nir
gendwo sonst.I
I 22 | I) I S K K K T li K li I. I C. I () N
UNTRÖSTLICHKEIT
Werner Post
I.
II.
[ 24 ] II N T R O S T I, I C II K 1; I T
gisch und philosophisch - durchaus erhalten. Die wohl treffendste For
mulierung stammt von Walter Benjamin: Acedia versteht er als »nega
tive Utopie der Erlösung«.
III.
Acedia erscheint aber auch wie ein Palimpsest. Legt man die älteren
Schichten des Bildes frei, stößt man auf einen komplexen Untergrund:
War es wirklich nur Schwäche, wenn die Anachoreten in der Wüste den
Einflüsterungen der Dämonen nachgaben? Oder hatten sie nicht auch
wenigstens ein bisschen Recht, wenn sie sich den neuplatonisch-orige-
nistischen, spirituellen Idealen verweigerten? Wenn sie ihre kreatürli-
che Existenz nicht bloß asketisch abtöten wollten?
Ihre Verweigerung erwiese sich dann als unzeitige Antizipation künfti
ger Subjektfreiheit. Für die gab es unter den zeitgenössischen Bedin
gungen noch keine Kategorien, und so bot sich kaum eine andere Al
ternative als die Gestalt des unglücklichen Bewusstseins. Aber auch
das, was Thomas als den Kern der Acedia und vitium capitale bezeich
net, die Abweisung des göttlichen Liebesangebots, lässt sich gegenle
sen: als Abweisung einer theologisch rationalisierten Liebespflicht in
einem religiös geschlossenen Weltbild.
Hs gibt kaum Selbstzeugnisse dieser Gleichgültigkeitsverzweiflung (mit
Ausnahmen bei Dante und Petrarca) und wir können nur aus der Häu
figkeit der einschlägigen Traktate erschließen, dass es sich um ein so
wohl unter Mönchen und Klerikern als auch später bei Laien weitver
breitetes Verhalten handelte: dumpfe Indolenz, Handlungshemmung,
ich itente Verweigerung ebenso wie planlos manische Unrast bestim
men das Bild, mit selbstzerstörerischem Rückzug und nicht selten sui
zidalem Finale.
IV.
Il N T K O S T I. ] C II K li I T [ 25 ]
auch die rem edia, die seit den Anfängen immer wieder angeboten wur
den: der Verweis auf komplementäre Tugenden (fortitudo; auch spes
oder caritas), natürlich Ratschläge erfahrener geistlicher Lehrer, asketi
sche Übungen, Mahnungen zur Ausdauer, Warnung vor den immer
zahlreicher aufgelisteten »Tochtersünden« der Acedia, aber auch der
Appell, sich die schließlich trostvolle Seligkeit am Ende aller spirituel
len Mühen unablässig vor Augen zu führen.
Darauf spielt wohl auch eine religiöse Schwermut ä la Kierkegaard an,
die sich nicht einfach aus Trägheit verweigert, sondern vor der uner
reichbaren Höhe des Ideals kapituliert, zugleich aber alles Geringere als
jenes Ideal für wertlos hält. Da droht sich falsche Demut mit hybridem
Hochmut zu einem Amalgam trostloser Trauer zu verfestigen; sie zieht
sich auf eine objektlose Innerlichkeit des Selbst zurück. Bei dieser Art
Schwermut, die noch ein Aspekt von Acedia sein kann, lassen sich frei
lich auch Übergänge zur »dunklen Nacht« der Mystiker erahnen; als sol
che spirituelle Krise wird sie auch respektiert und eher als Versuchung
denn als Sünde angesehen.
So segensreich der Aufklärungsgewinn war und ist, der viele Patholo
gien vom vormodernen Odium göttlicher Züchtigung oder Strafe be
freit und wissenschaftlicher Therapeutik zugänglich gemacht hat, so
wenig vermag Medizin oder Psychologie auszurichten, wenn wie bei
Acedia der Defekt nicht in psychophysischen Ursachen verortet wird,
sondern - letztlich - im gestörten Gottesverhältnis. Wie metaphorisch
auch immer das heute zu lesen wäre: das Problem wird noch schwieri
ger, weil man den säkularisierenden Religionstransfer samt Modemi-
sierungsgewinn nicht künstlich vergessen kann; aber möglicherweise
stößt man hier auf Spuren imerledigter Motive aus der religiösen Tradi
tion.
V.
Noch ein anderes, trivialer erscheinendes rem edium für Acedia spielt
schon bei den Wüstenvätem eine so elementare wie wirksame Rolle: Ar
beit, körperliche, handwerkliche Tätigkeit. Mochten Korbflechten,
Feldarbeit oder das Abschreiben von Texten im Kontext von ora et la-
bora auch der bloßen Subsistenz dienen, so behielten sie ihre primäreI
I 26 ] 1I N T R Ö S T L I C H K F . 1 T
Bedeutung doch als asketische Praktiken. Sie nötigten zu einem Mini
mum an Objektbeziehungen überhaupt, denen der Acediöse sich ge
rade verweigern möchte.
In bestimmten Epochen, etwa in den karolingischen Reformen, im
Frühkapitalismus oder in der Pädagogik der Popularaufldärung gelten
Melancholiker und von Acedia Befallene als dumpfe Modernisierungs
verweigerer; Müßiggang ist da aller Laster Anfang. Selbst die Tiere sind
ja tätig, otium hingegen kennzeichnet parasitäre Mönche und Kleriker
oder dekadent-feudalen Adel. Straftäter sollen auch nicht mehr gleich
hingerichtet, sondern in neu errichteten »Zuchthäusern« durch Arbeit
resozialisiert werden.
Kurzum: Trost, Heil und Glück erschienen dem frühen bürgerlichen
Zeitalter, besonders in den reformatorischen und calvinistischen Re
gionen, als Segen emsiger Arbeit, trotz Verpönung der Werkgerechtig
keit. Tatsächlich nicht ganz erfolglos: So schienen ja im Elisabethani-
schen Zeitalter und in der barocken Fürstenmelancholie Acedia und
Schwermut fast nur noch im anachronistisch gewordenen Adel zu gras
sieren.
Aber je rascher sich das neuzeitliche Wirtschaftshandeln von seinen re
ligiösen Ursprungsmotiven abkoppelte, desto mehr verlor auch die ste
tig weiter formalisierte Arbeit nicht nur ihr Erlösungsversprechen samt
therapeutischem Effekt, sondern wurde schließlich unter industriell
kapitalistischen Bedingungen als entfremdete Lohnarbeit noch selbst
zu einer neuen Quelle acediöser Verelendung. Doch schon jene vorhe
rige religiös gestimmte Seligpreisung der Arbeit hatte sowohl deren
Mühsal und Zwang als auch ihren instrumentellen Charakter idealisie
rend geschönt.
Nun setzte sich das ökonomische Produktionsparadigma als Leitmotiv
soweit durch, dass es in erheblichem Maß sogar noch seine sozia
listisch-radikalen Kritiker imprägnierte. Romantik und Lebensphilo
sophie, Fin-de-siècle-Stimmung und décadence, Irrationalismus und
Nihilismus, Avantgarden und Ästhetizismus, auch religiöser Antimo
dernismus und Renouveau catholique - um nur einige Tendenzen zu
erwähnen - suchten sich auf je verschiedene Weise der Dominanz jenes
Paradigmas zu erwehren, mit mäßigem, bisweilen verschlimmbessern
dem Erfolg.Il
Il N T R 0 S T 1. I C M K li I T [ 27 ]
VI.
VII.
| 2» | ii N t K O s t i . i c: n K i; l T
berg) erzeugt, dessen depressive Symptomatik sich wieder der trostlo
sen Acedia anähnelt.
Wie frei aber ist diese Freiheit, wie sinnvoll jener Sinn? In dieser Form
pervertieren sie das klassische Ideal, um dessen ökonomistische Zu
richtung zu kaschieren und ihr illusionär gewordenes Glücksverspre
chen ideologisch zu rationalisieren, als neues Opium des Volkes. Sie
bieten so die Gewissheit, dass man einen wahren »Trost- und Rechtfer
tigungsgrund« jedenfalls an anderer Stelle suchen muss.I
II N T l< O st I. I C II K I! I T 1*>]
> ENTM ÄCHTIGUNGEN DER REALITÄT
A x el H onneth
| 30 | 1; n t m Ä <: i r r u ; 11 n <; 1; n d e k R e a l i t ä t
sind den kausalen Kräften der Natur ausgesetzt, ohne dass irgendeine
Aussicht auf jenseitige Entschädigung oder Erlösung bestehen würde.
Angesichts dieses beinahe selbstverständlich gewordenen Naturalis
mus ist es umso erstaunlicher, dass wir gemeinsam eine Vielzahl von
Praktiken und Einstellungen zu dulden, ja zu begrüßen scheinen, die
mit der Annahme eines natürlichen Kausalzusammenhangs so gar
nicht in Einklang stehen: Keiner von uns ist irritiert, wenn sich eine Per
son am Grabmal mit dem jüngst verstorbenen Toten zu unterhalten be
ginnt; wir alle nehmen mit gerührtem Einverständnis zur Kenntnis,
dass das befreundete Ehepaar im verwaisten Kinderzimmer Vorkeh
rungen trifft, um dem tödlich verunglückten Kind eine Heimstätte zu
bewahren; und uns stürzt nicht in Verwunderung, uns mit Ergriffenheit
an Begräbnissen teilnehmen zu sehen, deren ritueller Ablauf von der
mehr oder weniger stillschweigenden Voraussetzung einer unsterbli
chen Seele lebt. Naturalisten, die wir sind, üben wir uns in Praktiken,
die spiritualistische Züge besitzen, nehmen Einstellungen ein, die alles
andere als naturalistisch sind. Ob wir weiterhin am christlichen Glau
ben festhalten oder überzeugte Atheisten sind: gemeinsam scheinen
wir in bestimmten Augenblicken unseres Lebens wie selbstverständlich
alle naturalistischen Gewissheiten beiseitezuschieben, um mit verstor
benen Personen in Kontakt bleiben zu können, ja sie unter uns weilend
zu wissen. Das Seltsamste an diesen spiritualistischen Einsprengseln in
unseren profanen Alltag ist die Tatsache, dass sie nicht nur von den Be
troffenen, sondern auch von den unbeteiligten Beobachtern für ganz
und gar normal gehalten werden: Keiner weist angesichts solcher Prak
tiken der Kommunikation mit Toten auf einen Widerspruch hin, keiner
macht uns auf das Missverhältnis zu unseren sonstigen Alltagsüber
zeugungen aufmerksam, alle scheinen vielmehr bereitwillig zu unter
stellen, dass das Eine mit dem Anderen vereinbar ist. Es ist ein wenig
wie mit den fürsorglichen Eltern, die ihre Kinder dabei unterstützen,
den Bauklotz wie ein lebendiges, beseeltes Wesen zu behandeln, ob
wohl sie natürlich um dessen pure Materialität wissen.
Der Umstand, dass die Toten trotz aller wissenschaftlichen Entzaube
rung eine eigentümliche Präsenz unter uns Lebenden bewahrt haben,
ist schon seit längerem ein Thema der Literatur. So hat James Joyce in
seiner wunderbaren Erzählung »Die Toten« geschildert, wie der früh
verstorbene Geliebte einer Frau in deren gegenwärtigem Alltag die
i; N I M A C M T I (i II N (i l: N I) II K K I I A U T Ä T [33]
stand der Verliebtheit etwa, so schreibt er, »droht die Grenze zwischen
Ich und Objekt zu verschwimmen«,7 die verliebte Person fühlt sich mit
ihrem Partner vereint, sie benimmt sich, als handle sie mit ihm aus ei
nem einzigen Aktionszentrum heraus. Sind aber derartige Entgrenzun
gen möglich, kennt also auch das psychisch gesunde Subjekt Momente
der Selbsttranszendenz, so muss der Schlüssel dafür nach Freud in der
Wiederkehr ursprünglicher, noch primitiver Seelenzustände gesucht
werden; denn im Frühstadium seiner Entwicklung hat das Kind eine
Phase der erlebten Verschmelzung mit den realen Objekten durchlau
fen, deren Überwindung zur Errichtung eben jener Grenzen zur Au
ßenwelt geführt hat, die jetzt auf der Stufe des Erwachsenseins in den
besagten Zuständen wieder eingerissen scheinen. Daher lässt sich das
Vorkommnis einer Entgrenzung im reifen Ich nicht anders erklären als
durch die Annahme eines Rückfalls auf eine vorgängige Stufe der geis
tigen Entwicklung. Es ist den Ausführungen Freuds auf den folgenden
Seiten förmlich anzumerken, wie schwer er es sich mit der Vermutung
macht, dass eine solche Regression nun zur Normalbefähigung des er
wachsenen, rationalen Subjekts gehören soll: Zunächst spricht er in Be
zug auf diese Zustände noch von »Störungen« des Ichgefühls8, dann
versucht er vergeblich, die Möglichkeit einer Erhaltung des Vergängli
chen im Psychischen räumlich zu veranschaulichen, um schließlich
beinah resigniert festzustellen, dass derartige Rückfälle im Seelenleben
doch eher die »Regel als (die) befremdliche Ausnahme«9 bilden. So ganz
will Freud nicht wahrhaben, dass der aufgeklärte Mensch des 20. Jahr
hunderts sich kognitive Zustände erlauben soll, welche die erfolgreich
errichtete Schwelle eines Konzepts der unabhängigen Außenwelt nach
träglich wieder unterschreiten; selbst bei der Behandlung der Trauer
bleibt bei ihm stets eine leise Verwunderung darüber zurück, warum
uns die mit ihr einhergehende Halluzination eines Fortlebens des Lie-
besobjekts so »selbstverständlich erscheint«.10
Freud ist sich in seinem Unbehagen in der Kultur zwar der anthropolo
gischen Notwendigkeit bewusst, dass wir »Linderungsmittel«11 gegen
unser Leiden an der Übermacht der Natur aufbieten müssen, aber den
Schritt zu einer Akzeptanz kognitiver Regressionen will er dann doch
nicht machen. Seine Orientierung an der wissenschaftlichen Aufklä
rung hindert ihn daran, in der vorübergehenden Einklammerung un
serer ontologischen Präsuppositionen eine Chance zu sehen, zu einer
( VI | li N T M Ä C I I T U i II N (i II N I) li H K HA I. I T Ä T
kontrollierten, reflexiv verantworteten Entlastung zu gelangen. Dass
wir selbst in einer aufgeklärten Einstellung noch wollen können, uns in
die Illusion einer beseelten Natur und einer Fortexistenz der Toten hi
neingleiten zu lassen, wollte er nicht zur Kenntnis nehmen. Rationale
Aufklärung sollte für ihn bedeuten, sich nach Möglichkeit aller kogniti
ven Regressionen zu entledigen, nicht aber, sie in den Dienst einer Ent
krampfung unserer Rationalität zu stellen. Innerhalb der Psychoana
lyse durchbricht diese weltanschauliche Blockierung Freuds erst
Donald Winnicott; mit seinem Begriff des »Übergangsobjekts« ist uns
ein konzeptuelles Mittel an die Hand gegeben, das jene spiritualisti-
schen Einsprengsel in unserem Alltag zu verstehen erlaubt, die wir so
selbstverständlich neben unseren naturalistischen Grundüberzeugun
gen stehen lassen.
Für Winnicott stellt das »Übergangsobjekt« nicht nur ein »ontologi
sches« Hilfsmittel dar, mit dem das Kleinkind experimentell versucht,
seine Frustration über die erst kurz zuvor realisierte Unabhängigkeit
der Außenwelt zu verarbeiten; vielmehr bildet es ihm zufolge auch für
den Erwachsenen noch ein Instrument, um sich des übergroßen
Drucks der Realität durch gelegentliches Einreißen ontologischer Gren
zen zu erwehren.12 Das Kleinkind kann nach Winnicott verschiedenste
Materialien seiner Umwelt, also den Kissenzipfel, den Teddybären oder
auch eine bestimmte Melodie, als Phänomene benutzen, um sich eine
»Zwischenwelt« zwischen inneren Erlebnissen und objektiver Realität
zu errichten. In diesem »intermediären« Erfahrungsbereich ist die all
mählich keimende Gewissheit einer imabhängigen, unverfügbaren Au
ßenwelt zeitweilig wie eingeklammert. Spielerisch versetzt das Klein
kind sich mit Hilfe des affektiv besetzten Gegenstandes in einen
mentalen Zustand, in dem die ontologischen Grenzen zwischen inne
rer und äußerer Realität in der Schwebe gehalten werden. Schon der
Umstand, dass die beteiligten Erwachsenen dieses Spiel mit fürsorgli
cher Aufmerksamkeit und entsprechenden Vorkehrungen unterstüt
zen, ist wohl ein Hinweis darauf, dass sie selbst die Fähigkeit zu solchen
Grenzüberschreitungen nicht ganz verloren haben. Winnicott ist der
fIberzeugung, »daß die Akzeptierung der Realität als Aufgabe nie ganz
abgeschlossen wird, daß kein Mensch frei von dem Druck ist, innere
und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen zu müssen«;13 da
her wird auch die erwachsene Person sich gelegentlich auf einen men-
i.
an stelle sich die Situation vor: Ein Mann sitzt im Kerker und war
M tet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Es wird ein grausa
mer Tod sein. Der Mann ist unschuldig. Er hat seinem König gedient,
hat hohe Ämter bekleidet, er ist einer der großen Denker seiner Zeit.
Über Gott, die Vorsehung und die menschliche Freiheit, über Zeit und
Ewigkeit, über das Böse und die Verantwortung des Menschen hat er
philosophiert, die Frage nach der Theodizee hat er gestellt. Jetzt stellt er
sie erneut - und er stellt sie als einer, der »seiner selbst vergessen« hat,
der den eigenen Einsichten nicht mehr traut: »Gibt es einen Gott, wo
her das Übel? Gib es keinen, woher das Gute?«
Was gibt einem solchen Mann noch Halt; was kann ihn trösten? Wird er
jetzt schweigen? Verbleibt er in der »Lethargie, der gewöhnlichen
Krankheit verblendeter Geister«? Wird er verzweifeln? Was bewährt sich
noch von dem, was er gedacht, geschrieben und gelehrt hat, und was
muss verworfen werden?
Das Schicksal des Boethius hat von jeher die Phantasie beflügelt. Die
Consolatio philosophiae, sein im Gefängnis entstandenes Werk, hat die
Philosophie des Mittelalters stark geprägt. Seither wurde es viel zitiert
und öfter noch als Steinbruch lebenshelfender Sentenzen verbraucht-
und manchmal scheint es, nicht die Stringenz des Denkens sei es, die
seinen Sätzen Gültigkeit verleiht, sondern das pure Schicksal des Man
nes, der sie formuliert: die Nähe eines ungerechten und brutalen Tods.
Damit wird aber die Situation, in der einer »auf Leben oder Tod« denkt,
in ihr absurdes Gegenteil verkehrt: als tröste ein Todgeweihter sich -
I | A I. I. i: S A li s WO l(T li N
wider besseren Wissens - mit dem, was er einmal wusste und für rich
tig hielt, als täusche er den bitteren Ernst nur vor, mit dem er jede sei
ner Gewissheiten auf den Prüfstand stellt. Ein erbauliches Trostbuch
aber kann und will die Consolatio p h ilosop h iae nicht sein. Alles, was in
ihr gilt, ist aus Trümmern hervorgeholt und auf Gedeih oder Verderb auf
seine Gültigkeit hin untersucht. Hier tröstet nichts außer dem Denken;
ein Denken, das kritisch betrachtet und reinigt und verwirft und weni
ges festhält; ein Denken, das nur einer Sprache traut, die mächtig genug
ist, der Übermacht des Faktischen die Möglichkeit einer anderen Reali
tät entgegenzusetzen. Diese Welt ist aus Sprache gebaut - ein Stoff, der
im Kerker nicht besonders gut gedeiht, besonders verderblich unter
den Bedingungen der Angst, des Zweifels, der Verlassenheit. Trost ist
hier eine Welt aus Worten, die nur entsteht, nur Bestand hat, wenn sie
der Realität des Negativen abgerungen ist.
II.
Eine Welt aus Worten. Eine Welt aus »nichts als Worten« - wir neigen
dazu, ihr nicht zu trauen: als fehlten ihr Verbindlichkeit, Verlässlichkeit,
die Entschiedenheit, den Worten Taten folgen zu lassen. Trost spricht
aber oft genug in Situationen hinein, in denen nichts mehr getan wer
den kann, jedenfalls nicht in Bezug auf das, was geschehen ist. Trost
bringt das nicht zurück, was wir verloren haben. Trost spricht etwas zu:
Es ist - noch - nicht alles ungültig geworden, was du für gültig hieltest.
Oder: Ich bin bei dir, ich fühle mit dir; ich kann nicht wegnehmen, was
dich weinen lässt, aber ich bin da. Dieses Zugesagte, dieses aus Worten
Gebaute ruft eine eigene Welt herauf - eine Gegenwelt, in der anderes
bestand hat als das, was uns jetzt leiden lässt.
Otherland. Tintenwelt. Es ist ein starkes Motiv der gegenwärtigen Fan
tasy-Literatur, dem real life in seiner Schönheit, seiner Banalität und
Grausamkeit Gegenwelten zu entwerfen; »Gateways« zu öffnen in Ge
genwelten, die keine Fluchtwelten sind, keine Wolkenkuckucksheime,
als die Ernst Bloch gern die Negativfolie zu seiner konkreten Utopie be-
zeichnete. Es sind, das wohl, virtuelle Welten, entstanden aus digitalen
I )atenmengen oder Tinte und Papier, aber mit einer Kraft, die Realität
bestimmt, prägt, verändert. Es sind virtuelle Welten nicht der Science-
A I. I. I! S AUS WO KT R N | 39 ]
fiction-Zukunft, sondern Gegenwelten der Gegenwart, manche schö
ner und besser, manche auch grausamer als unsere Wirklichkeit. Ob
das, was wir aus Worten schaffen, zum Besseren oder zum Schlechteren
führt, ob es als positive oder negative Utopie endet, als Eschaton der Er
füllung oder des Scheiterns, das ist nicht ausgemacht. Aber diesen Preis
sind die Menschen, die sich nach Otherland, in die Tintenwelt begeben,
bereit zu zahlen. Unverzichtbar ist ihnen - und deshalb gehören auch
diese Gegenwelten der Populärkultur in Gedanken über den Trost -
dass Worte, »nichts als Worte« Wirklichkeit setzen, sei es als Schrift, sei
es als digitaler Code. Nicht Fiktion, sondern Wirklichkeit - eine Wirk
lichkeit, in der Gedachtes, Gesprochenes und eine zugesagte solidari
sche Präsenz der Realität, die uns leiden lässt, standhalten. Vielleicht
sind ja nicht nur die Philosophie, die Religion, die Literatur, »vielleicht
ist ja«, wie es in Cornelia Funkes Tintenblut ein aus Tausendundeiner
Nacht heraus- und in eine andere Geschichte hineingefallener Junge
mutmaßt, »alles aus Worten« gemacht. Aus solchen Worten, die Über
gänge ermöglichen oder sie zumindest ahnen lassen.
Vor diesem Hintergrund mag der Satz, es sei Denken, das tröstet, sich
differenzieren, um eine Dimension erweitern lassen. Denken, das der
Faktizität standhält, ihr widersteht, legt die Basis dafür, dass jemand -
oder etwas - trösten kann und dass ein Mensch sich trösten lassen
kann. Diese Basis muss derjenige, der sich trösten lässt, nicht notwen
digerweise reflektieren, auf ihre intellektuelle Gültigkeit hin prüfen; er
muss sich aber einlassen auf die Verlässlichkeit dessen, der tröstet. Wer
tröstet, der schafft denkend - und in einer Sprache, die dessen mächtig
ist, sei sie worthaft oder nicht - den Raum, den es braucht, um eine Ge
genwelt erahnen, bejahen und erfahren zu können; eine Gegenwelt zu
dem, was uns kränkt und ängstigt, was uns zweifeln, verzweifeln lässt.
Eine Gegenwelt, die noch nicht fertig ist, die gelingen, aber auch schei
tern kann, die aber eben nicht allein von dem abhängt, dem ausgelie
fert ist, woran wir leiden, sondern abhängt auch vom Engagement, von
der emotionalen wie der intellektuellen Kraft dessen, der tröstet, und
vom Vertrauen, der Bereitschaft und dem Willen dessen, der sich trös
ten lässt. Ohne eine solche Basis ist der billige Satz, den Worten müss
ten Taten folgen, unsinnig - weil auch Handeln nur dann tröstet, wenn
es etwas schafft oder in Aussicht stellt, das über die erlebte Situation
hinausweist. Sonst wäre es ein blindes Tun, das den HandelndenI
I yfO | A 1. 1. i: S A U S W O K T I-: N
trösten mag, ohne dem Leidenden zu helfen. Im Trost verändert sich
der Leidende selbst.
Die Bandbreite dessen, was tröstet, ist groß: von dort, wo es um Leben
oder Tod geht, um Hoffnung im Angesicht der Vergänglichkeit - Celan
spricht hier vom erschwiegenen Wort, »dem das Blut nicht gerann, als
der Giftzahn /die Silben durchstieß« - über Thomas’ sieben Tröstungen
der Seele (das Beten, das Weinen, das Erkennen, das Gespräch, das
Schlafen, das Baden und die Freude) bis zu den Situationen des Alltags,
wo schon ein einzelnes Wort, ein Gegenstand, ein Blick trösten können,
der Blick eines Menschen, aber auch der Blick eines Tiers. Auch wo der
Trost selbst nicht worthaft ist, schafft er oder berührt er im Getrösteten
eine Welt aus Worten, in der dieser leben kann, eine Welt, die nicht in
nerlich bleibt, sondern die gelebte Realität verändert.
III.
Alles aus Worten. Aber es müssen schon die »richtigen« Worte sein: ver
lässlich, realitätshaltig: mit intellektuellem Ernst gedachte, mit emotio
naler Kraft ausgestattete Worte, gesichert durch Engagement und Red
lichkeit. Es gibt Kriterien für die richtigen und für die falschen Worte.
»Alles wird gut.« Der »Kult« gewordene Erkennungssatz einer Modera
torin machte einen Sommer lang die Talkshow zur Heilsveranstaltung.
Der Auftritt von Helfern und Heilem, von Experten für das Glück und
die Liebe, für die Spiritualität und die Macht der Sterne sollte Betroffe
nen wie Zuschauern ein »entspanntes und reiches Leben« versprechen
- und am Ende stellte die Meisterin alle miteinander in eine scheinbar
echatologisch rettende, in Wahrheit aber streng innerweltlich gemeinte
Perspektive: »Alles wird gut.«
I )ie Kehrverse des herrschenden Narzissmus endarven sich selbst, so
bald man beansprucht, sie wörtlich zu nehmen. Sowenig »alles in Ord
nung« sein kann, sowenig wird jemals alles gut werden. Nicht hier und
nicht jetzt. Es gibt Vertrauen, das verspielt, Liebe, die getäuscht bleibt.
Hs gibt biografische Brüche, die bleiben, auch wenn das Leben weiter
gellt. Es gibt Lücken, die nichts schließt, Wunden, die nichts heilt, Ka-
lastrophen, die jede Kontinuität beenden.
A u . i; s a u s w o kt i; n | 41 ]
Aber so will »Alles wird gut« auch nicht verstanden sein. Trösten kann
und trösten soll hier nicht ernsthaft die Aussicht, einst würden alle Trä
nen abgewischt und der Tod besiegt (Apk 21,4), und auch eine verläss
liche, auf Taten basierende Solidarität ist nicht angekündigt. Vielmehr
wird - so Theodor W. Adorno in »Herr Doktor, das ist schön von Euch«,
einem Text aus den M inim a Moralin, der wie kaum ein anderer Trost
verweigert und Drost gewährt - mit dem Gestus der »Angleichung«, der
Herablassung, hinweggetäuscht über eine »erkaltete Welt« und ihre
Plausibilitäten, die zu ändern mim weder fähig noch bereit ist.
Trost aber, verantworteter Trost, ist wörtlich zu nehmen. Er muss ge
deckt sein: emotional und intellektuell gedeckt. Durch Pusten und ein
bisschen Spucke lässt ein Kind, das weint, sich über die Schramme am
Bein trösten - weil es weiß, dass es anderes, Tragendes gibt; neben dem,
was es weinen lässt. Sich trösten zu lassen, das hat die Bindungsfor
schung bei Kindern erwiesen, ist ein Zeichen für die gefestigte, verläss
liche Bindung eines Kinds an einen Erwachsenen. Trost stellt ein Kind
zurück aus dem Schmerz, aus dem Erschrecken in eine ihm vertraute,
durch Liebe abgesicherte Welt. Auch bei Kindern ist Trost kein Kinder
spiel, keine Ablenkung vom Jammer, ohne dass der Grund des Jammers
ernst genommen würde. Was Trost dem Jammer entgegenstellt, was er
dem Weinenden in Aussicht stellt, das ist - bei einer kleinen Verletzung,
einem »kleinen« kindlichen Schmerz ebenso wie bei einem großen Ver
lust - nicht weniger als die »Möglichkeit des Besseren«, an der der Trös
tende festhält, weil er sie an sich selbst, an das eigene emotionale En
gagement bindet. Die Basis dafür wird zwischen Erwachsenen und
Kindern durch Liebe gelegt. Wo es aber um die großen biografischen
Brüche, wo es um die Katastrophen der Geschichte geht, da ist Trost nur
dadurch möglich, dass einer gegen die Erfahrung der Negativität - in
tellektuell verantwortet - »andenkt«. Vor diesem Hintergrund verliert
Adornos Diktum, » ...e s ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer
in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungeminder-
ten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält«,
seine kompromisslose, kaum lebbare Härte - es ist durch existenzielle
Erfahrung gedeckt.
Wenn es gelingt. Es gibt Grauen, vor dem der Tröstende scheitert. Es
gibt Negativität, der der Blick nicht standhält. Es gibt die Erfahrung,
dass Trost versagt, dass er misslingt, misslingen muss, weil das Elend zu
[ 42 1 A I. I. l; S AUS W O K T I- N
groß ist, als dass sich ihm - schon - etwas entgegensetzen, an die Seite
setzen ließe. Damit es Trost gibt, braucht es auch das Wissen um das,
worüber nicht getröstet werden kann. Überhaupt richtet Trost sich
nicht auf das, was geschehen ist, sondern auf den, der weinend zurück
bleibt. Zwischen dem Weinenden und dem, worüber er weint, steht der,
der trösten will. Er hält mit seiner Person, durch seinen Einsatz, einen
Raum offen - einen Raum, den Trost füllen kann, vielleicht aber auch ei
nen Raum, der - noch - leer bleiben muss. In Chor d er Tröster spricht
Nelly Sachs vom Cherub »in der Tiefe des Hohlwegs /zwischen Gestern
und Morgen«:
Dieses Bild vom Cherub ist ein erschreckendes und zugleich tröstendes
Bild. Cherubischer Kräfte bedarf es also, der Versuchung vorschnellen
Tröstens zu widerstehen. »... Die Blüten des Trostes sind zu kurz ent
sprossen«, sie brauchen Zeit. Nicht weil Zeit selbst es wäre, die heilt
durch ihr pures Vergehen, sondern weil vieles geschehen muss, vieles
getan werden muss zwischen Tröster und Getröstetem. Es ist unserer
Schwäche geschuldet, dass dies nicht immer gelingt: weil dem Trost die
Basis fehlt oder weil seine Zeit noch nicht da ist. Wer tröstet, ist beim
beiden des anderen mit dabei, er qualifiziert, er verändert, er füllt die
Zeit des Leidens, aber er verkürzt sie nicht.
Verbunden sind Tröster und Getrösteter durch eine gemeinsame Hoff
nung: die Hoffnung, dass der Jammer nicht das letzte bleibt, die Hoff
nung, dass weiter gedacht werden kann, dass weiter sagbar bleibt: Am
Ende sind doch alle Tränen abgewischt, weil kein Tod mehr ist, kein
Schmerz und keine Lüge.
Wenn tatsächlich »nichts nachher« kommt, dann auch keine ewige Ver
dammnis. Ein schwacher Trost? Gewiss. Aber man muss sich daran ge
wöhnen, dass jeder Trost, der diesen Namen verdient, schwach ist.
Nicht nur, dass wir Trost stets dort brauchen, wo wir schwach sind. Ein
Trost, der darauf aus ist, die Schwäche einfach zu beseitigen, Trauer und
Angst wie eine Wölke wegzublasen, ein Trost, der Töne anschlägt wie
»Es wird alles wieder gut; den verlorenen Menschen ersetzen dir an
dere; fürs irdische Leben bekommst du das himmlische«: das ist billiger
Trost. Er kommt lärmend daher, wie »klingendes Erz und tönende
Schelle« - respektlos gegenüber dem, worüber wir trauern, worum wir
SC I I W A C H EK TROST | 45 ]
bangen. Es ist ihm damit nicht ernst. Er gibt es preis und schielt nach
Wiedererstattung, Wiedergutmachung durch anderes. Trauernde und
Bangende zeigen Würde, wenn sie solchen Trost verschmähen. Billiger
Trost ist keiner. Er übertönt und übertüncht, aber er tröstet nicht.
Ernster Trost hat teil an der Betrübnis. Er verscheucht sie nicht. Er tritt
leise hinzu und legt sich ihr wie Balsam auf: lindernd. Trost kann Leid
nicht beseitigen, nur lindern. Das ist stets zu wenig - und doch etwas
vom Schönsten, was Menschen einander tun können. Wenn wir Sterb
lichen anderen nicht bloß den Schmerz betäuben, sondern das Leid lin
dern, dann umgeben wir sie mit einer Aufmerksamkeit und Fürsorge,
die erahnen lassen, was Seligkeit wäre. Wahrer Trost ist diese schwache
Ahnung: ein glimmender Docht. Mehr ist uns hienieden nicht beschie-
den. Doch wenn etwa einem Sterbenden ein behutsames Wort, ein lan
ger Blick, eine aufgelegte Hand zuteil wird, so kann das etwas tief Be
glückendes sein - ein Trost, der auf den, der ihn spendet, übergeht. Wo
dies aber geschieht: Ist da wirklich noch wichtig, ob »etwas nachher
kommt« oder eben - nichts?
| 46 | s c: 11 w a c 11 R T RO ST
> VON DEN ZW ILLINGEN :
TOD UND TROST
Q ünther B ern d G inzel
orin findet man Trost? Warum benötigen wir Trost? Wer tröstet?
Der Allmächtige? Ist die Vorstellung des tröstenden Gottes, die
wir ja in allen Religionen kennen, nicht Voraussetzung für eine unsag
bare Verdummung? Eine Konstruktion, die es den Geplagten und Ge
schundenen ermöglicht, ihren Hass nicht auf die Urheber ihres Elends
zu konzentrieren - sondern auf einen jenseitigen Trost zu hoffen, bei
dem die Letzten die Ersten sein werden? Prediger - und ich bin ein lei
denschaftlicher Hörer von Übertragungen sonntäglicher Kirchengot
tesdienste - scheinen das immer genau zu wissen. Da ist dem Lieben
Gott jede Autonomie genommen, er hat mild, lieb und vor allem trös
tend zu sein. Die Frage eines Emst Simon, ob Gott entweder die Welt zu
schlecht oder den Menschen zu schwach gemacht habe, wird nicht ge
stellt. Warum müssen wir auf den Trost des Himmels bis ins Jenseitige
warten, wo doch die Übel recht irdisch sind? Warum ertönt keine
Stimme vom Himmel und beseitigt die Ursachen, deren Vorhandensein
uns erst trostbedürftig werden lassen?
Oder ist die Frage falsch gestellt? Ist denn Trost nur ein Geschenk, das
einem ohne eigenes Zutun zuteil wird? Hat Trost nicht auch etwas mit
Hewährung zu tun? Ist es nicht eine intellektuelle Leistung, die uns, si
cher auch Dank der religiösen Chiffren, in die Lage versetzt, auf eine Si-
luation angemessen zu reagieren und Trost zu spenden? Andererseits
stoßen wir dabei an die Grenzen des uns Machbaren, des unmittelbar
durch einen selbst zu Verändernden. Es ist die wohl bitterste Situation,
in die man hineingeraten kann. Einem Janusz Korczak blieb nur ein
Trost: Er hat das ihm mögliche in der gegebenen Situation getan. Auf
Eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich gut an das Sterben von Hel
mut Eschwege in Dresden. Wir kannten uns aus der gemeinsamen Ar
beit über die Zeit des Dritten Reiches. Er ein Überlebender, der vor den
Nazis nach Palästina flüchtete und nach dem Krieg die erste Möglich
keit nutzte, in die gerade gegründete DDR »zurückzukehren«. Ein ver
träumter Sozialist, dessen Hoffnungen auf dem Aufbau einer glaub
würdigen antifaschistischen Ordnung auf deutschem Boden ruhten.
Immer wieder fiel er dank seines Idealismus und der daraus resultie
renden Bereitschaft zur Kritik in Ungnade, wurde aus der SED ausge
schlossen, und wurde letztlich einer der Väter des christlich-jüdischen
Dialogs in der DDR. Nicht als religiöser Mensch, sondern als ein atheis
tischer Zeitzeuge, der jüdischen Optimismus und sozialistische Utopie
verband. Und ich, der Nachgeborene aus Westdeutschland, den die
Warum-Fragen nicht loslassen, uns hat ein Ereignis zusammenge
schweißt: Wir waren beide zum Evangelischen Kirchentag nach Rostock
eingeladen, lange vor dem Fall der Mauer. Dem Regime war diese Ein
ladung erkennbar nicht recht, der ganze Kirchentag war ihnen ein nicht
zu kontrollierendes Ärgernis. Und so saßen wir also in Rostock auf ei
nem Podium - und wir waren die einzigen Referenten, denen die Na
men von der Zensur genommen worden waren. Anonymisiert stellte
uns das Programmheft vor: »Ein Jude aus der DDR« und »Ein Jude aus
der BRD«. Das Stehlen, Rauben des Namens erschien uns wie ein intel-
ch erzähle von einer Zeit meines Lebens, die trostlos war und in der
I ich am meisten Trost erfahren habe. Ich erzähle von der Zeit nach
dem Tod meiner Frau. Nicht getröstet hat mich, wenn jemand ver
suchte, meinen Schmerz zu mindern. »Das Leben geht weiter«, haben
mir wohlmeinende Leute gesagt und: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Es
gibt abstrakte Richtigkeiten, die zugleich konkrete Falschheiten sind.
Das Leben ging eben nicht weiter. Nie mehr habe ich ihre Hand gehal
ten, nicht mehr mit ihr geredet und gestritten, nie mehr mit ihr Wein ge
trunken. Das Leben ging nicht weiter und den Schmerz darüber konnte
mir niemand ausreden, auch nicht mit einem religiösen Satz. Die Sätze
des Glaubens haben nichts vom Schmerz genommen - Gott sei Dank.
Sonst wären sie nichts als Vertröstungen. Aber es gab viele Arten des
Trostes, die den Schmerz ernst genommen und ihn nicht gemindert ha
ben.
Den tiefsten Trost aus jener Zeit will ich nennen, es waren Freunde und
Freundinnen, die mich oft besuchten und die den Schmerz ehrten. Sie
haben keine tröstenden Worte gefunden, sie waren da und sie haben
sich von meinem Unglück nicht vertreiben lassen. Das Unglück ver
treibt ja oft die Freunde und trostlos macht einen nicht nur, was man
erlitten hat. Trostlos macht uns die Einsamkeit, weil Menschen in der
eigenen Selbstverständlichkeit des Lebens so wenig die Weltuntergänge
der anderen ertragen. Meine Freunde sind geblieben, sie haben mir den
Schmerz gelassen. Wir haben über die Tote gesprochen, die Lieder ge
sungen, die sie mochte, und ihre Texte gelesen. Die Trauer wurde nicht
gemildert, aber geteilt. Der Trost der Freunde war ihre Anwesenheit,
T KOST DAS 11
M ( I T T li H I I C II S T I! A . . V
.R W Ö R T H R [53]
Es gibt nicht nur die persönlichen Weltuntergänge. Es gibt auch die gro
ßen Niederlagen und die trostlosen Zustände, die den Lebensmut auf
fressen. Jetzt arbeiten Menschen schon so lange an der Möglichkeit des
Friedens, und die Waffenarsenale sind voller denn je. Gruppen arbeiten
an der Rettung der Schöpfung, und das Wasser, die Erde und die Atem
luft unserer Kinder sind bedrohter denn je. Sie arbeiten schon so lange
an der gerechten Verteilung der Güter, und die Brutalität der ökonomi
schen Systeme wächst. Wer an der Gerechtigkeit arbeitet, hat eine fast
unendliche Idee: dass das Recht wie Wasser fließen soll; dass niemand
Beute eines anderen werde. Aber er ist ein endlicher Mensch. Wie kön
nen diese Menschen in kleinen Schritten gehen und den großen Ge
danken nicht verlieren oder nicht zugunsten des großen Gedankens in
Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere verfallen? Wie behalten sie
die Distanz zu sich selbst und lernen den Satz zu sprechen: Geschlagen
ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechterfs besser aus!
Um nicht in trostloser Lähmung zu versinken, müsste man die große
Kunst lernen, sich selbst als endliches Wesen zu begreifen. Was ich da
mit meine, sage ich in Erinnerung an Daniel Berrigan, den mutigen
amerikanischen Friedensaktivisten, der wegen seiner Friedensarbeit in
den USA lange im Gefängnis war. Einmal hat er uns besucht nach einer
solchen Gefängniszeit. Er war müde und abgespannt und wollte bei uns
lesen, Musik hören, beten und mit uns ins Theater gehen. Es kam ein
Anruf aus einem Friedenscamp, wo viele junge Leute zusammen wa
ren. »Daniel muss sofort kommen!«, sagte der Leiter des Camps. »Hier
hat er sein Publikum und hier ist er unentbehrlich!« Berrigan verwei
gerte sich und sagte: »Jetzt will ich Wein trinken und beten. Ich wül ins
Konzert gehen und ausruhen. Wenn es an mir allein liegt, ist die Sache
sowieso verloren.« Mir hat die Ruhe dieses unruhigen Herzens impo
niert. Er konnte ohneVerzweiflung arbeiten, und er kannte seine eigene
Endlichkeit. Man kann wohl nur dann langfristig arbeiten und den Ge
danken des Rechts behalten, wenn man weiß, dass man nicht Erster
und nicht Letzter und nicht Gott sein muss. Wir sind Teil eines Ganzen.
Wir haben Väter und Mütter, die vor uns gelacht und geweint haben, ge
arbeitet und geträumt. Wir haben Kinder und Enkel, die weiter an dem
Karren der Freiheit ziehen, den wir selbst ein Stück weiter gebracht ha
ben. Vielleicht muss man wirklich an Gott glauben, um dem größen
wahnsinnigen Gefühl zu entkommen, dass wir die Garanten der Welt
I R O S I DA s M 0 I I i; R 1.1 < ll S T i; A I w O rt i; R [ 55 ]
> W ID ER DIE STILLE
C a rl W ilhelm M acke
I y> I WI I) li K I) 1l; ST I I, I, I!
Die Geschichtenschreiber schenken den sogenannten lauten Momen
ten zu viel Aufmerksamkeit, während sie Perioden der Stille vernach
lässigen. Die Stille ist ein Vorbote des Unheils, oft sogar des Verbre
chens. Sie ist ebenso ein politisches Instrument wie das Klirren der
Waffen oder die Rhetorik auf einer Versammlung. Tyrannen und Okku
panten, die darauf bedacht sind, dass Schweigen ihr Werk umhüllt,
brauchen diese Stille ... Welche Stille alle Länder mit überfüllten Ge
fängnissen atmen! Die Stille hat ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse.
Es ist ein Gebot der Stille, Konzentrationslager in menschenleeren Ge
genden zu errichten. Die Stille verlangt einen großen Polizeiapparat. Sie
verlangt ein Heer von Spitzeln. Die Stille fordert, dass Feinde der Stille
plötzlich und spurlos verschwinden.« Stille, klärt uns der weit gereiste
Kapuscinski weiter auf, sei überall auf der Welt am häufigsten verbun
den mit Worten wie Friedhof, Schlachtfeld, Verlies. Wo gefoltert wird,
achten die Schergen zuerst immer auf schalldichte Räume. »Die Stille
hätte es gerne, dass ihre Ruhe durch keine Stimme - der Klage des Pro
tests, der Empörung - gestört wird. Wo eine solche Stimme erklingt,
schlägt die Stille erbarmungslos zu und stellt die ursprüngliche Ord
nung wieder her - das heißt den Zustand der Stille.«1
Klagen über mangelnde Stille und eine unsere Wahrnehmungsmög
lichkeiten überflutende Fülle an Informationen sind weit verbreitet.
Aber warum hören und lesen wir von den alltäglichen Belanglosigkei
ten in unseren medialen Überflussgesellschaften immer so viel und von
den Überlebenskämpfen in anderen Ländern und Regionen der Welt
immer so wenig? Für die mediale Aufmerksamkeit sind diese Länder
einfach uninteressant, weil dort zu viel Ruhe herrscht. >Blood sells< -
und wo kein Blut in Strömen fließt oder keine Naturkatastrophe Touris
ten aus den reichen Ländern der Welt in den Tod reißt, herrscht Stille
und Frieden. Aber diese Stille kann trügen. Man nehme sich nur einmal
bei einem Tee auf dem Sofa die Zeit, die laufende Chronik von am nesty
inlernational, den Reportern ohn e Grenzen, von Human Rights Watch
oder auch den täglich online publizierten Newsletter von Radio Vatikan
zu lesen. Nichts als von »Kreuz, Sorg und Kummer« wird man dort er
fahren, vom Trost im Himmel jedoch nur wenig. Nehmen wir als Bei
spiel dieser sedativen Weltwahrnehmung mal einen Berufsstand, der
uns professionell mit aktuellem Wissen über den Zustand der Welt ver
sorgen soll.
[ 58 | W I 1) I! K I) I H S T I 1. I. I:
gessenen, den verdrängten, den gedemütigten Opfern von Gewalt und
Terror ohnehin nicht mehr zu helfen. »Trost wohnt im Himmel« ...
Warum engagieren sich dann aber trotzdem viele Menschen - und es
sind vor allem viele Jugendliche und auffallend viele Frauen darunter -
in Projekten und Netzwerken, die in einem vielleicht naiven Sinne und
»wider alle Vernunft« an eine Verbesserung der Welt glauben? Seit Jah
ren existiert ein ermutigend dichtes internationales Solidarnetz zwi
schen Organisationen wie Reporter oh n e Grenzen, am nesty internatio
nal, PEN und diversen kleineren Initiativen für den Erhalt der Presse-
und Meinungsfreiheit. Journalistinnen und Journalisten aus fast allen
klassischen und neueren Ressorts der Medien unterrichten sich dort
gegenseitig über Notfälle unterdrückter oder bedrohter Kollegen, sie
sammeln Geld oder technisches Equipment für Medienprojekte auf
dem Balkan, in Afrika oder Lateinamerika. Sie unterstützen auf jede er
denkliche Art - und das fast immer jenseits öffentlicher Aufmerksam
keit - Publizisten und Schriftsteller, die beispielsweise aus ihren dikta
torisch geführten Heimaüändern nach Deutschland geflohen sind.
Vielleicht findet man in diesen, durch das Internet auch eng miteinan
der verknüpften Initiativen für eine Civil G lobalisation genau das, was
Johann Baptist Metz in einem anderen Zusammenhang als Compas-
sion definiert, als die »teilnehmende, als verpflichtende Wahrnehmung
fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der Anderen.«2 Und ist
es nicht auch ein Zeichen des Trostes, dass in diesem Netzwerk der be
kennenden Weltverbesserer und der globalen Ruhestörer viele christ
lich inspirierte Initiativen3 unverzichtbar sind? Aber eines Trostes, den
man auf Erden und nicht erst im Himmel finden will. Ein Trost, der im
Sinne des Hebräerbriefes auf die Bruderliebe und Gastfreundschaft ver
traut, mit denen man, wie es dort heißt, vielleicht einen Engel trifft und
beherbergt.
[ 60 ] TROST DUR I C H H R I! 11 N 1) I. I O 11 K li I T
FUTURISMUS, DADA UND WAS FOLGTE
Buchstabensalat, absurde Sätze, das Spiel mit Worten und Wörtern war
immer schon eine strategische Methode von Künstlern, das Wort als
Bild zu begreifen. Aus der anfänglichen Anarchie der Futuristen - allen
voran Filippo Tomasso Marinetti mit seinem Buch »Zang tumb tumb«
im Jahre 1914, dann nach 1916, mittels der Performances der Dadais
ten um Hans Arp, Hugo Ball und Tristan Tzara im Cabaret Voltaire in Zü
rich - wurde im Verlauf der Moderne eine »Konkrete Poesie«, die zu ih
rer Blüte in den sechziger Jahren kam. Aus dieser Konzeption heraus,
aus Worten Bilder, im doppelten Sinn, typografische Schriftbilder und
innere Gedankenbilder zu schaffen, entwickelt sich mit der »Konzept-
Kunst« das Prinzip, den geschriebenen Satz an sich als bildnerische
Botschaft zu begreifen. So bei Lawrence Weiner oder Jenny Holzer. Das
Werk dieser amerikanischen Künstlerin steht im besonderen Maße
auch für einen moralisch-ethischen Anspruch von Kunst. Holzer be
zeichnet ihre Sätze als »Truisms«, also »Binsenweisheiten«. Es handelt
sich inhaltlich und ihrem Anspruch nach um absolut gesetzte (Bin-
sen-)Wahrheiten und Botschaften, die im Sprachduktus dem Aufbau
der Zehn Gebote durchaus vergleichbar sind. - Setzt also Kunst heute
die Werte, die uns einst die biblischen Überlieferungen vorgaben? Nicht
allein die Werte, auch die Worte dafür - in diesem Fall ein vorsätzliches
Wortspiel.
Der britische Künstler MarkWallinger edierte 2006 für seinen Film »The
End« alle Namen, die im Alten Testament Vorkommen in alphabeti
scher Folge, und er wählte dafür die Form des Filmabspanns. 17 Minu
ten lang erscheinen ausschließlich Namen auf der Leinwand, so als ob
es sich um die Nennung der Darsteller eines epochalen Filmepos han
deln würde. Im dunklen Ausstellungsraum sieht man sich diesen end
los vielen Namen gegenüber, die man noch nie gelesen zu haben
glaubt. Zunächst meint man zu spät gekommen zu sein, das große Kino
soeben verpasst zu haben. Die Dramaturgie der Szenen ist abgelaufen,
die historischen Bilder sind vorbei, bis man begreift, dass diese Namen
[ 62 | T R O S T 1) 1: R [ (. II H R I: II N [) I. 1< II K I: IT
is the message«, das Bild ist die Botschaft. Aber die Wirklichkeit hat
diese Warnung eingeholt. Fotografische Bilder sind heute unbezweifel-
bar zur ersten Botschaft im Staate geworden, vor allem die Bilder, die
uns die Medien transportieren. Die Manifeste des Paradigmenwechsels
haben Namen, ich nenne sie kurz: »September 1Ith«, oder noch kürzer
»9/11«, »Abu Ghraib« oder »Guantanamo«, »Hurrican Kathrina«, um die
aufregendsten der letzten Jahre zu erwähnen. - Wenn man bedenkt,
dass nach Erkenntnis neurologischer Forschung und Wissenschaft 80%
unserer unmittelbaren Wahrnehmung zunächst durch das Auge aufge
nommen wird, dann liegt darin auch die Begründung, weshalb sich das
Bild als das erste Medium unserer Wahrnehmung durchgesetzt hat.
Diesem Primat des Auges folgen alle anderen Sinneseindrücke, auch
und vor allem auf Kosten und zu Lasten der Reflexion darüber, die im
mer sehr viel später einsetzt. Die obigen Stichworte dieses Paradig
menwechsels haben weltweit Emotionen ausgelöst, so schnell wie nie
zuvor in der Geschichte von Bildern und ihrer Vermittlung via Internet,
so global wie niemals zuvor. Immer aber sind es politische Bilder, Do
kumente von Gewalt und Schrecken - gar der neuen Dimension des
Schreckens -, die Vertrauen und Trost zu zerstören suchen und dadurch
als Abbilder unserer Wirklichkeit zu erkennen sind.
Ich kehre zurückzur Botschaft der Kunst. Kunst will mehr, sie sucht eine
andere Wirklichkeit darzustellen und sichtbar zu machen. Derjenige
Künstler, der seit der Erfindung der Perspektive und ihrer Bildfunktion
in der Renaissance am stärksten das Bild und die Methoden der Bild
komposition infrage gestellt hat, indem er sie total, das meint, gänzlich
und vollständig, zerstört hat, war der russische Maler Kasimir Male
witsch, als er um 1914 sein »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund«
schuf, damit seinen Suprematismus postuliert und den Weg der Abs
traktion einer ganz eigenen Bildsprache eröffnete. An die Stelle des
Baumes tritt die Fläche, abgeleitet aus der Bildtradition der Ikone und
deshalb ebenso religiös aufgeladen gedacht wie diese. Das zurücklie
gende 20. Jahrhundert ist seither in der Kunst und der von ihr beein
flussten Kultur in Architektur, Design, Tanz und Musik das Jahrhundert
TROST l)i:i< I ( I I I K I I I N I) I. I C II K i: I T | 63 |
der Abstraktion gewesen. Das 19. Jahrhundert hatte den Begriff des Ge
samtkunstwerks gedacht, Kunst aber noch aus der Beobachtung der
Natur abgeleitet. Nun erlaubt die Reduktion auf geometrisch-rationale
Figuren und die damit einhergehende Komposition der Ordnung die
ser Formen als ein eigenständiger Ausdruck intellektueller Ideen,
künstlerische Gestaltung auf alle Lebensbereiche zu übertragen. Die
Vielfalt des Bauhauses mag dafür ein Beispiel sein. Umso mehr ver
blüffte Malewitsch nach der Epoche seiner eigenen gegenstandslosen
Gemälde mit einem Spätwerk um 1930, in dem er sich und wenige an
dere Personen in scheinbar folkloristischem Kostüm vorstellt. Hatte er
alle Errungenschaften des Abstrakten aufgegeben? Die Antwort ist nein,
er wollte es - Konsequenz aus seinem Denken - noch unmittelbarer
realisieren: Die Abstraktion sollte nicht nur als Gegenüber im Bild oder
als Plastik dargestellt sein, er wollte sie am eigenen Körper tragen als
Gewandung, ganz in der Tradition einer Farbikonologie, wie sie schon
das Mittelalter kanonisch entwickelt hatte für die Darstellung von Hei
ligen, denen bestimmte Farben Vorbehalten waren. Im Selbstbildnis
des Künstlers erscheint Malewitsch uns hier formal als Prophet und er
wirkt damit ebenso entrückt mit seiner Idee, wie einst die Heiligen in ih
rer Darstellungswelt uns als entrückt vorgestellt worden sind. In einer
solchen Tradition von Künstlerselbstbildnissen geht Douglas Gordon
nun einen entscheidenden Schritt weiter, indem er den Künstlerkittel
auszieht und sich das Credo des eigenen Tims in die Haut tätowiert:
trust me. Ein ungewöhnliches Selbstporträt, das nun eine weitere Per
spektive erschließt.
Im großen Verbund der Kunstgeschichte, die uns unendlich viele Bilder
und Motive zur Verfügung stellt, um sie in komplexen Zusammenhän
gen immer neu und anders lesen zu lassen, ist es jetzt nur ein kleiner
Schritt zu dem Vergleich, dass dieses Armporträt von Douglas Gordon
mit seinem »TRUST ME«-Tattoo als eine zeitgenössische Interpretation
dessen zu lesen ist, was uns die christliche Ikonologie in Darstellungen
des »Ungläubigen Thomas« vor Augen geführt hatte: Der Apostel kann
und will es nicht glauben, er muss es selbst sehen. So öffnet Jesus auf
dem Altarbild G. B. Cima da Coneglianos von 1504 zum Beispiel zur
Seite hin sein Gewand und zeigt dem Ungläubigen die Wunde, um ihm
dadurch die Identität des Getöteten mit dem vom Tode Auferstandenen
SEHBEDÜRFNISSE HEUTE
Sowohl die Entwicklung der Geschichte von Kunst und ihrer vielfältigen
Ausdrucksformen einerseits, als auch die umfassende Entdeckung der
Welt durch denVerstand seit Renaissance und Aufklärung andererseits,
haben dazu beigetragen, dass immer neue Bilder gefunden werden
mussten, denn der zweifelnde Thomas sind wir selbst. Allen Deutungs
und Erklärungsmodellen zum Trotz - und gar nicht zum Trost - ist die
Wunde geblieben, dieses Zeichen für Verletzung und Tod. Es bleibt da
mit notwendig, immer wieder einen sichtbaren Beweis zu suchen, der
uns tröstet; es kann von existenzieller Bedeutung sein, das Bild zu fin
den, dem wir vertrauen. Über Jahrhunderte hinweg war dies selbstver
ständlich in religiösen Andachtsbildern der Fall, aber die allgemeine
Verbindlichkeit dafür ist aufgehoben, auch deshalb, weil sich Bilder ver
selbstständigt haben. Sie illustrieren nicht mehr etwas außerhalb von
ihnen. Die Bildentwicklung hat eine Kongruenz zwischen Form und In
halt geschaffen. Alles ist deckungsgleich oder, mit Frank Stella gespro
chen, »man sieht was man sieht«. Das kann wenig sein, nichts oder al
les. Auf jeden Fall haben die Künstler der Moderne die Entdeckung und
Deutbarkeit ihrer Bilder delegiert an uns Betrachter. Es bleibt nicht die
Zeit zu fragen, ob das gut oder schlecht ist, richtig oder falsch, weil der
ie Aufklärung wird nicht vollendet, so lange sie nicht das Kind ent
D deckt. Sich selbstständig ihres Verstandes zu bedienen, ist Aufgabe
der Erwachsenen. Wie aber gewinnt der Mensch solche Fähigkeit?
Der Glaube, den Menschen in ein unmittelbares Verhältnis zur Welt set
zen zu können, war zugleich Stärke und Schwäche der Aufklärung. Viele
Worte, die der unmittelbaren Lebenserfahrung der Menschen Aus
druck geben, wurden im Gefolge von Aufklärung und Modernisierung
verallgemeinert, in den Himmel der Begriffe gehoben. Dazu gehört
auch das kleine Wort »Trost«. Vom »Trost der Welt« träumen kann jedoch
nur, wer den Trost der Mutter oder des Vaters erfahren hat. Was Trost
heißt, haben wir erfahren, bevor wir das Wort kannten.
Der aus dem Mutterleib ausgestoßene Säugling ist nicht lebensfähig, es
sei denn, er erfährt unmittelbare Zuwendung, vor allem in Form von
Körperkontakt, Wärme und Nahrung. Das verbindet den Menschen mit
den meisten höherentwickelten Tieren. Beim Menschen kommt aber
Weiteres hinzu: Er wird mit einem noch wenig entwickelten Gehirn ge
boren. Wie uns die neuere Hirnforschung belehrt, unterliegen die Ner-
venzellkörper mit ihren zur wechselseitigen Vernetzung bestimmten
Fortsätzen in den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt einer er
heblichen Plastizität. Deshalb ist ihre strukturelle Ausformung, wie der
Himforscher Bernhard Bogerts formuliert, »der neuronale Stoffwech
sel, der Aufbau und Abbau der Botenstoffe und damit die gesamte Him-
funktion durch frühe postnatale sensorische und emotionale Einflüsse
nachhaltig prägbar.« Wachstum und Vernetzung der Neuronen erschei
nen dabei in erheblichem Maße von der Erfahrung emotionaler Zu
wendung abhängig. Zuwendung stimuliert Neugierde und Lernbereit-
[ 6H ) D i l i T K O ST 1.0 S I (I K li I T 1) li l< K I N D 1! K
Schaft, und sie fördert Vertrauen - zunächst zur dem Kind zugewandten
Person und sodann generalisierend zur Umwelt. Das »Urvertrauen« ist
die beste Voraussetzung für ein späteres »Weltvertrauen«.
Schon vor Jahrzehnten beschrieben die Psychologen René A. Spitz und
John Bowlby das Phänomen der Mutterentbehrung: Die Kleinkinder
von Müttern in Gefängnissen entwickelten sich wesentlich besser als
solche mit wechselnder Betreuung in Heimen. Heute lassen sich diese
Zusammenhänge genauer rekonstruieren: Kleinkinder, die frühzeitig
unter fortgesetzten Stress geraten, sei es aufgrund physischen Schmer
zes oder deprivierender Umstände, aktivieren Nervenbahnen stärker,
die dem Abbau von Stress dienen, und lernen gleichzeitig, die Welt als
bedrohlich zu erwarten, häufig mit entsprechenden Langfristfolgen.
Und was noch bedenklicher ist: Die Aktivierung der Ressourcen zur
Stressbewältigung behindert im Gehirn die Aktivierung der Wohlbefin
den vermittelnden Nervenbahnen. Fortgesetzte »negative« Erfahrun
gen prägen die Erwartungsstruktur des Kindes und in der Folge ein
misstrauisches, zur Aggressivität neigendes Verhalten.
Aber längst nicht alle Kinder, die unter äußerlich ungünstigen Umstän
den leiden, entwickeln sich ungünstig. Was solch »resiliente« (zu
deutsch: »spannkräftige«) Kinder typischerweise unterscheidet, ist die
Bindung an wenigstens eine vertraute erwachsene Person. Solch ver
traute Menschen können somit als Mediatoren wirken, welche die ob
jektiven Belastungen vielleicht schon durch ihr bloßes Dasein, sicher
aber durch ihre sich wiederholende Zuwendung erträglich machen.
Wir wissen wissenschaftlich kaum, was an solcher »schützender« Be
ziehung entscheidend ist, außer dass die Beziehung verlässlich sein
muss. Aber wir haben einen alltäglichen Namen für das, was hier ge
schieht, nämlich Trösten und Trost. Wer zu trösten vermag, greift hei
lend in den Gefühlshaushalt eines anderen Menschen ein. Er reduziert
das Leid, die Entbehrung; all das, was die Psychologie unter dem nivel
lierenden Wort »Stress« fasst. Trösten - sei es in Worten oder körperli
chen Gesten - ist ein zentraler menschlicher Vollzug, der nur aus dem
Kern der eigenen Persönlichkeit heraus geleistet werden kann. Trost
setzt Sympathie, Mitleiden voraus. Trösten ist ein dialogischer Vollzug
im Sinne von Martin Bubers Ich-Du-Beziehung.
> Mi T I U I S T U I S U i K H I T O li K K I N I) li R | 6t; ]
Wenn Kinder dauerhaft des Trostes entbehren müssen, wenden sich
ihre Energien gegen sie selbst: Incurvatio hom inis in seipsum (Augusti
nus).
Tröstet »Religion«? Religion - ohnehin ein neuzeitlicher Begriff - ist zu
einem »Wieselwort« geworden, mit dem jedermann für nahezu jedes
Thema um Plausibilität buhlen kann. Karlfried Gründer fragt zu Recht,
»ob nicht etwas falsch wird, wenn man in Bezug auf das Christentum
oder, eineinhalb Jahrtausende weitergreifend, die ganze jüdisch-christ
liche Tradition, mit den jungen Begriffen von Religion und Religiosität
agiert.« »Religion« ist trostlos. Man darf einem katholischen Theologen
zumuten, dass er Ross und Reiter nennt: Tröstet das Christentum? Oder
die katholische Kirche? Und inwiefern?
Man hat den »Parakletos« mit »Tröster« oder »Beistand« übersetzt. Hilfe
kann trösten, das erfährt schon das Kind. Wer sich Gott als seinem »Va
ter« zuwendet, mag Trost erfahren. Das setzt Gottesglauben voraus.
Dass das Gebet zu trösten vermag, ist eine vielfach bezeugte Erfahrung.
Allerdings ist zu vermuten, dass diese religiöse Trosterfahrung nur dort
gelingt, wo nicht nur Glaubensvermittlung, sondern auch die Erfah
rung mitmenschlichen und insbesondere väterlichen Trostes bereits
gelungen ist. Für die, welche ohne Vater aufwachsen müssen, wäre die
Mütterlichkeit Gottes erst noch theologisch zu entwickeln ...
Johann Baptist Metz hat allerdings eine andere Art von Trostlosigkeit
und Trost im Visier: Er spricht von »der tröstenden Kraft der Religion
[...] angesichts jener großen Verletzungen und Demütigungen des
Menschen und seines Selbstbewusstseins, die ihm [...] neuzeitlich zu
gefügt worden sind.« Er nennt die Kränkungen durch Kopernikus, Dar
win und Freud; Kränkungen somit, die das Selbstverständnis des Men
schen als Zentrum der Welt, als Geistwesen und als Herrn seiner Motive
infrage stellen. Hier handelt es sich offensichtlich um Probleme von In
tellektuellen, die die Welt begreifen wollen; die meisten Menschen wä
ren froh, wenn sie nur solche Probleme hätten!
Brauchen Intellektuelle Trost? Und welcher Art könnte hier der Trost der
»frohen Botschaft« sein? Gegen die konkurrierenden korinthischen
Besserwisser hat Paulus sein »Hohelied der Liebe« geschrieben. »Stück
werk ist unser Erkennen« - das kann jeder Wissenschaftler bestätigen.
Dass es aber auf die Liebe ankommt, müssten Intellektuelle erst noch
lernen. Das lehrt uns heute wissenschaftlich die Hirnforschung, und
[ 70 ] 1)1 H T R () S T I . O S K 1 K li 1T I) HR K I N D II R
Liebe als menschliche Zuwendung wird noch keineswegs in ihren viel
fältigen Implikationen ernst genommen.
Das Zitat von Metz bezieht sich nicht auf die, welche die Kränkungen
der Erkenntniskritik durchleiden, sondern auf die, welche sie verdrän
gen, die sich noch immer als Maître et possesseur d e la nature (Rous
seau) verstehen. Eben deshalb sind sie unfähig, zu trauern und sich
trösten zu lassen. Hier treffen wir auf eine andere Form der Trostlosig
keit. Im Gegensatz zum Kind will sich der »Meister und Eigentümer der
Natur« gar nicht trösten lassen. Das mag dem Beobachter, zumal dem
theologischen, als eine »trostlose« Situation erscheinen, von der aber
der Trostlose nichts weiß. Trost ist keine Kategorie für ihn. Wer von
Macht und Herrschaft lebt, findet gute Gründe, Anlässe für Mitleiden zu
verdrängen. Diese Gründe rubrizieren heute unter der Dimension der
»emotionslosen Sachlichkeit«. Das Abstraktum »Emotion« ist wie das
Abstraktum »Religion« geeignet, das menschlich Belangvolle aus dem
öffentlichen Diskurs auszublenden.
Naturwissenschaftlich gesehen mag es ja sein, dass das organische Kor
relat von Gefühlen weitgehend unabhängig von ihrem bewussten
Inhalt ist. Dass also die Deutung der Wahrnehmung deren Art und Cha
rakter bestimmt. Aber der Mensch lebt kulturell, lebt von und in Deu
tungen. Unter »Emotionen« rubrizieren Liebe und Hass, Freude und
Trauer, Angst und Hoffnung, Zorn und Gelassenheit. Trost ist geeignet,
die Deutung der Situation zu verändern, und zwar stets zu dem Pol »po
sitiver«, also mitmenschlich gedeihlicher Gefühle hin (was man von
»Religion« nicht behaupten kann, wie der häufige religiöse Hass zeigt).
Trost hat seinen Wirkungsraum im Bereich menschlicher Gefühle, nicht
im Raum der Erkenntnis noch demjenigen des Handelns. Wer Gefühle
auf Emotionen nivelliert, schließt schon den Deutungsraum von Trös
ten und Trost aus der Wirklichkeit aus.
Emotionslose Sachlichkeit ist ein spezifisch moderner Habitus, eine Zi
vilisationsleistung, welche den mühseligen Prozess einer »Zivilisierung
der Affekte« (Norbert Elias) historisch wie sozialisatorisch voraussetzt.
Zivilisierung meint aber nicht Verdrängung der Affekte, sondern ihre
Kultivierung - die Aufklärung erfand dafür das Programm der »Emp
li ndsamkeit«. Mit der wachsenden Distanz zwischen Öffentlichkeit und
l’rivatheit wurde allerdings die Empfindsamkeit in den Raum des Pri
vaten verbannt. Die Öffentlichkeit unterstellte sich zwar nicht unter-
K O I . I. H K T I V I ! I! N T S c II II 1. 1) I (I II N (i t [73]
xuelle Dienstleistungen empfingen. Bis zu 200.000 Frauen sollen für
diese Sorte Trost unter Beteiligung und Ägide der japanischen Heeres
führung zwangsrekrutiert worden sein. Auch wenn die genaue Zahl und
die Art der Beteiligung der Armee an diesem Kriegsverbrechen unter
Historikern umstritten sind, ist der Tatbestand dank massiver historio-
grafischer Evidenz kaum zu leugnen. Quellen dokumentieren auch das
Argument, mit dem die Zwangsprostitution offiziell legitimiert wurde,
nämlich zur Vermeidung von Vergewaltigungsverbrechen durch japa
nisches Militärpersonal und der daraus resultierenden Feindseligkeit in
den besetzten Gesellschaften, denen sich Japan durchaus als Befreier
aus kolonialer Abhängigkeit vom Westen empfahl. Ein anderer Grund
war, dass armeegeführte Bordelle gesundheitlich besser zu kontrollie
ren waren, nachdem japanische Soldaten zuvor massenhaft unter Ge
schlechtskrankheiten gelitten hatten.
Nicht im mindesten kann davon die Rede sein, die Frauen hätten sich
freiwillig zu sexuellen Dienstleistungen bereitgefunden; üblicherweise
wurden sie dafür mittels massiver Täuschung, Kidnapping und auch
brutaler Vergewaltigung rekrutiert, die Lebensbedingungen in den
»Troststationen« waren katastrophal, sodass der heute übliche Begriff
»sexuelle Versklavung« durchaus angebracht ist. Es hat sehr lange ge
dauert, bis dieses kapitale Verbrechen in der japanischen Gesellschaft
bekannt und diskutiert wurde. Frühe, in Massenblättern kolportierte
Selbstbezichtigungen waren fragwürdig, erst in den 1990er Jahren, als
vor allem koreanische Frauen ihre tiefe Scham und ihr langes Schwei
gen überwanden, wurde das Thema seriös und verantwortungsbewusst
diskutiert. Auch bequemte sich die japanische Regierung zu einer aller
dings immer bloß verhaltenen und halbherzigen Schuldanerkennung.
Das von Frauen-Gruppen organisierte »Aktive Frauen-Friedens-Mu-
seum«, das seit Mitte der 1990er Jahre Aufklärungsarbeit betreibt, führt
eine Schattenexistenz in einem Nebengebäude der Waseda-Universi-
tät, wo es nicht von Lautsprecherwagen der Ultranationalisten mit to
sendem Dauerlärm belästigt werden kann. Ihnen erweisen japanische
Regierungschefs immer wieder Reverenz, indem sie den ebenso pro
blematischen Yasukuni-Schrein besuchen, wo die Hauptkriegsverbre
cher Japans geehrt werden.
In den letzten Jahren, unter Premier Koizumi, einem eifrigen Wallfahrer
zum Schrein, und seinem Nachfolger Abe haben sich revisionistische
st Trost ein Thema des historischen Denkens? Auf den ersten Blick
I ganz und gar nicht. Trost ist eine Reaktion auf eine Leidenserfahrung,
und die Historie handelt nicht vom Leiden der Menschen, sondern von
Geschehnissen der Vergangenheit, von den >res gestae<, die auf mensch
lichem Handeln beruhen, von ihm bedingt oder für es relevant sind. In
der großen hochkulturellen Tradition der Geschichtsschreibung, die
durch die Logik der exemplarischen Sinnbildung geprägt ist - historia
vitae magistra - »lehrt« die Geschichte Einsichten in die moralischen
und praktischen Regeln des menschlichen Handelns. Sie mobilisiert
den Erfahrungsschatz der Vergangenheit, um gegenwärtiges Handeln
regelkompetent zu machen. Sie tröstet nicht - worüber auch, wenn es
darum geht, aktuelle Handlungssituationen dadurch zu bewältigen,
daß sie auf Regeln hin bezogen werden, die sich aus vergleichbaren Si
tuationen der Vergangenheit generieren lassen. Die Vergangenheit be
lehrt die Gegenwart, da es in ihr klar vor Augen liegt, was sich aus wel
chem Handeln unter welchen Bedingungen ergeben hat.
Auch das moderne Geschichtsdenken gibt Orientierungen, indem es
gegenwärtige Handlungssituationen und Lebenslagen auf die Vergan
genheit bezieht. Das geschieht freilich nicht mehr am Leitfaden einer
Urteilskraft, die aus geschehenen Ereignissen der Vergangenheit
Schlüsse zieht, die sich auf aktuelle Ereignisse handlungsorientierend
anwenden lassen. Modernes Geschichtsdenken macht Gegenwart ver
ständlich und Zukunft erwartbar, indem es die drei Zeitdimensionen
durch eine Zeitverlaufsvorstellung zusammenschließt, durch die die
[ 76 ] I. F. I I) F. N S V H R 1) R Ä N Ci II N G U N D T R O S T B E D A R F
Veränderung der menschlichen Lebensumstände eine Richtungsbe
stimmung erhält, mit der sich aktuelle Handlungsabsichten erfah
rungskonform formieren und begründen lassen. Von trostbedürftiger
Erfahrung keine Spur.
Auch dann, wenn sich der Blick von der äußeren Orientierungsfunktion
des historischen Denkens, menschliches Handeln erfahrungs- und zeit
konform auszurichten, auf seine innere Funktion richtet, die die Pro
zesse der menschlichen Identitätsbildung betrifft, bleibt der Hand
lungsbezug der historischen Sinnbildung dominant. Es geht darum,
Individuen und Gemeinschaften ein Bewusstsein ihrer Eigenart und Be
sonderheit zu vermitteln, mit dem sie handlungsstark ihr Verhältnis zu
den anderen regeln können, von denen sie sich unterscheiden und mit
denen sie Zusammenleben müssen. Auch hier geht es um Handeln, frei
lich nicht direkt, sondern indirekt, es geht um ein >inneres< Handeln, um
die Subjektivität der Menschen, um ihr Selbstbewusstsein im Umgang
mit sich selbst und mit den Anderen. Die Aufgabe der Historie besteht
hier darin, diese Subjektivität handlungsstark zu machen, ihr ein nor
mativhoch aufgeladenes Selbstbewusstsein zu vermitteln, das die Gren
zen der eigenen Lebensspanne überschreitet und sie mit bedeutungs
vollen und erfahrungsschweren Bezügen zur Vergangenheit versieht.
Und doch kommt dieser grundsätzliche Handlungsbezug des histori
schen Denkens an der schlichten Erfahrung nicht vorbei, dass sich kein
menschliches Handeln denken lässt, das nicht in inneren Zusammen
hängen mit Leiden steht. Ja, wenn man sich den anthropologischen Lu
xus leistet, einmal nach der Rolle des Leidens im menschlichen Leben
zu fragen, dann dürfte sich die Einsicht aufdrängen, dass Handeln ohne
Leiden weder verstanden noch absichtsvoll vollzogen werden kann.
Für den historischen Blick auf die menschliche Vergangenheit ist diese
Einsicht geradezu unvermeidlich: Denn es gibt keine Handlungsregel,
von der nicht abgewichen wurde, und jede sinnträchtige Veränderung
menschlicher Lebensumstände hat nicht nur ihre Gewinner, sondern
unvermeidlich auch ihre Verlierer. Da es aber, wie gesagt, um Handeln
und seine zeitliche Orientierung geht, kommt der anthropologischen
Fundamentaltatsache des menschlichen Leidens eine grundsätzliche
Störfunktion im historischen Denken zu.
Wie geht die Historie mit dem Leiden um? Damit stellt sich zugleich die
Frage, wie es um den Trost bestellt ist, nach dem jeder Mensch verlangt,
I, I! I I) li N S V li K 1) K Ä N (i II N 11 U N D T K O S T li I! D A R F [ 79 ]
spricht, kann nicht verleugnen, dass diese innere Werthaftigkeit in der
historischen Entwicklung einer dunklen Seite der historischen Erfah
rung abgerungen werden musste. Das kommt weniger in seinen Wer
ken, als vielmehr dort zur Sprache, wo er seinen Studenten in einlei
tenden Bemerkungen in seinen Vorlesungen nahebringen will, worauf
es der historischen Deutung der Vergangenheit ankommt. Leitmoti
visch steht dann am Anfang ein Hinweis darauf, dass die realen Ge
schehnisse der Vergangenheit im Kontext konkreter menschlicher
Handlungen leidvoll sind. So sagt er in seinen Vorlesungen über Neu
este Geschichte im Wintersemester 1835/36: »Wenn wir die Geschichte
betrachten in ihrem äußeren Verlauf, wie stets ein Volk das andere ver
nichtet und hinstürzt, dann selbst sich erhebt und untergeht, so sehen
wir die Geschichte und in ihr die Menschheit von ihrer traurigen Seite,
in ihrer Hinfälligkeit.«4 Und in der Einleitung zu seinen Vorlesungen
über Neuere Geschichte seit dem Westfälischen Frieden vom 27. April
1847 heißt es entsprechend: »Die Masse der Tatsachen unübersehbar;
der Eindruck unendlich trostlos. Man sieht nur immer, wie der Stärkere
den Schwächeren überwindet, bis wieder ein Stärkerer über ihn kommt
und ihn vernichtet; bis dann zuletzt die Gewalten unserer Zeit gekom
men, denen es ebenso ergehen wird.«5
Angesichts dieses Eindrucks stellt sich das »Gefühl der Nichtigkeit aller
Dinge und ein Widerwillen gegen die mancherlei Frevel, mit denen sich
die Menschen befleckt haben. Man sieht nicht, wozu alle diese Dinge
geschahen, alle diese Männer waren und lebten; selbst der innere Zu
sammenhang wird verdeckt.«6
Ranke muss den Blick der historischen Betrachtung weg von dieser Tat
sächlichkeit des Leidens richten, um ihr den historischen Sinn zu ver
leihen, mit dem tatsächliches (und eben leidvolles) Handeln der Ver
gangenheit im Zeitzusammenhang mit der Gegenwart Bedeutung für
deren Selbstverständnis und Zukunftsperspektive gewinnt. Es ist eben
der »innere Zusammenhang«, den die äußere Erscheinung der Ge
schehnisse der Vergangenheit eher verbirgt als aufscheinen lässt, der
diese Qualität der historischen Erfahrung völlig verändert: vom hand
lungslähmenden und identitätsverstörenden Eindruck menschlicher
Unmenschlichkeit zur stimulierenden und identitätsstärkenden Ein
sicht in die gestaltende Kraft des menschlichen Geistes. Es geht also
in der Geschichte nach Ranke darum,»... ein höheres zu erreichen undI
I 82 I I. H I 1) li N S V 1: R I) R Ä N Ci II N Ci U N I ) T R O S T H R I) A R F
tigen Haushalt der Historie anrichtet, dann doch heraus: Er konstatiert
in ästhetischer Form den höheren Sinn des historischen Weltgesche
hens im Ganzen - freilich unter dem Zugeständnis, gegenüber dem
»Jammer« nicht gleichgültig zu sein, wie es unter der Maske fachlicher
Objektivität geschehen kann. Die Geschichte wird zum »wunderbaren
Schauspiel« des »Geist(es) der Menschheit, der über all diesen Erschei
nungen schwebend und doch mit allem verflochten, sich eine neue
Wohnung baut.«13
Ich halte diesen - wie immer im Einzelnen auch gebrochenen - Per
spektivenwechsel von einer elementaren Leidenserfahrung zu einer
sinnträchtigen Qualität des Geschichtsdenkens für typisch - nicht nur
im modernen Geschichtsdenken. Es scheint, als sei Geschichte als
sinnhaftes und bedeutungsträchtiges Zeitgebilde nur um den Preis zu
haben, Leiden zu verdrängen und vergessen zu machen. Historisches
Denken tilgt die Leidensspur aus der Kette der Begebenheiten, mit der
die Gegenwart und ihre Zukunftsperspektiven an die Vergangenheit ge
schmiedet ist. Ein solches Denken ist aber nicht mehr zukunftsfahig.
Der Preis der Leidensvergessenheit ist zu hoch. Dazu ist der traumati
sche Charakter der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stark, und
die Einsicht lässt sich schwerlich umgehen, dass Leidensverdrängung
ein geistiger Modus ist, Leiden historisch ungestört geschehen sein zu
lassen. Dabei liegt nichts näher und ist nichts natürlicher, als dem Lei
den auch in der historischen Erfahrung mit dem Willen zu begegnen,
dass es überwunden werden, verwandelt werden, aufhören soll. Wenn
dieser elementare, menschliches Leben stets dominierende Wille zum
Impuls des historischen Denkens würde, dann würde auch Trost zum
Thema der Geschichte. Genau in dem Maße, in dem sich die Historie
ihrer Tradition der Leidensvergessenheit verweigert, wird sie trostbe
dürftig.
Die Öffnung des historischen Blicks für historisches Leiden muss not
wendig zu einer Verstörung des Denkens führen, zur Irritation der
Handlungsorientierung und Identitätsbildung. Der Schmerz über ver
lorene Humanität wächst dann in die Deutungsarbeit am Humanum in
seiner zeitlichen Perspektive hinein und lädt das historische Denken
mit der quälenden Frage auf: »Who am I that that could happen?«14 Es
gibt auf diese Frage zwei mögliche Antworten: Die eine übersetzt den
Willen, Leiden zu überwinden, in die anthropologische Vorstellung, ei
[ 84 ] I. li I I) 1; N S V I! R 1) R Ä N 1; II N G UND TROSTBEDARF
> TRÖSTLICHE PHILOSOPHIE?
Ludw ig Step
er Trost, den die Philosophie seit den Zeiten des Sokrates und des
D Boethius zu spenden versucht hat, beruhte über Jahrtausende vor
allem auf zwei Überlegungen: Zum einen, dass die volle Erkenntnis des
Wahren erst nach dem Tod erreichbar sein wird. Der philosophisch Le
bende ist also durch keine Katastrophe des irdischen Lebens ernsthaft
betroffen. Zum anderen, dass die Welt, so wie sie dem die Oberfläche
durchdringenden Denker schon erkennbar ist, notwendig und im Letz
ten »gut« ist. Das Leid und die Bosheit gehören zu den Mitteln einer Per
fektion des Ganzen, die von einem allmächtigen vernünftigen Willen zu
gelassen sind. Diese Vollkommenheit wird durch die Freiheit des
menschlichen Willens gesteigert, zwischen gut und böse zu wählen. In
dieser Freiheit und in den Mängeln einer unfertigen (religiös gespro
chen: unerlösten) Natur liegen für den menschlichen Willen selbst Mit
tel zur Vervollkommnung, sei es der moralischen, sei es der technischen.
In der neuzeitlichen Philosophie treten die technische Naturbeherr
schung und der »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« an die Stelle
der göttlichen Vorsehung. Dass sich in den natürlichen und histori
schen Prozessen eine vernünftige Notwendigkeit zeigt, teilen die natu
ralistischen Determinismen seit Spinoza mit den Philosophen der Wil
lensfreiheit. Von diesen hat am deutlichsten Hegel der Philosophie das
Potenzial zugesprochen, das menschliche Denken und Wollen mit der
»Vernunft in der Geschichte« zu »versöhnen«. Zwar gesteht Hegel der
Trauer, sei es über den Zerfall großer Kulturen, sei es über die »Schlacht
bank« der großen Kriege, eine vernünftige Rolle zu. Aber die Trauer
muss und kann eine ruhige sein, weil diese Opfer notwendig sind für
den Fortschritt der Vernunft zu mehr Freiheit, mehr Erkenntnis und
•[' H 0 S T I . 1 C I I K P H I L O S O P H I E [ 85 ]
mehr Unabhängigkeit von Naturprozessen. Ist man sich der Geschichte
als der Heimat der Vernunft gewiss, dann braucht man auch nicht mehr
auf ein Jenseits zu hoffen. Die vernünftige Gestalt von Staat und Gesell
schaft ist ein ausreichender Rahmen erfüllten Lebens.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Philosophie diesen An
spruch, den Menschen mit dem Lauf der Dinge im Großen »versöhnen«
und ihn daher über die Leiden im »Kleinen« der Alltagsgeschichte und
der oberflächlichen Weitsicht hinwegtrösten zu können, zunehmend
aufgegeben. Die Kritik der Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise der ra
tionalen Metaphysik ist dafür die eine Quelle, die anderen sind die Er
fahrungen von Katastrophen und Zufällen in Natur und Geschichte. Al
lerdings hat eine aus trüben Quellen der Natur- und Sozialwissenschaft
schöpfende »philosophische« Ideologie noch bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts an »Großprojekten« teilgenommen, die Geschichte zu ei
nem vernünftigen Abschluss in Gestalt des neuen Menschen und der
neuen Gesellschaft zu bringen. Selbst 1989 haben Philosophen der He-
gelschen Tradition (Fukuyama) noch verkündet, mit Demokratie und
freiem Markt sei die Geschichte an ein im Großen und Ganzen ver
nünftiges Ende gekommen - eine Deutung, die schon die Jahrtausend
wende nicht mehr überstanden hat.
Heute wird ehrliche Philosophie eingestehen müssen, dass es für die
These eines vernünftigen Gesamtverlaufs der Geschichte, für den klei
nere Übel ruhig in Kauf genommen werden können, keine hinreichen
den Anhaltspunkte mehr gibt. Weder für eine durchgängige Zweckmä
ßigkeit der Natur noch für eine vernunftgesteuerte Entwicklung der
Geschichte gibt es empirische oder apriorische Evidenz. Das schließt
»vernünftige« Lernprozesse in bestimmten Bereichen nicht aus, vor al
lem in der Formulierung und annähernden Institutionalisierung von
Menschenrechten und sozialer Demokratie. Aber reicht das, um die
Trauer über die entsetzlichen Unvollkommenheiten und Leiden unter
der Unfähigkeit zu Frieden, gerechter Verteilung der Ressourcen und
schonendem Umgang mit der Natur zu beruhigen?
Eine Philosophie, die in der Tradition ihres griechischen Ursprungs auf
Erfahrung und vernünftiges Überlegen beschränkt ist, also auf das Re
servoir übernatürlicher Offenbarungen nicht zurückgreifen kann, muss
heute zugestehen, dass Evolution und Geschichte ständig von Zufällen
und Katastrophen bedroht sind, die eine umfassende Versöhnung mit
T K ft S T I. I C II li l> H I l . d S O P H I Fi [ 89 ]
die Voraussetzungen für wechselseitiges Verständnis und Gleichbe
handlung nicht mehr gegeben wären. Eines der positiven Resultate un
seres kulturellen Lernprozesses, die Einsicht in die Irrelevanz der Un
terschiede von Rassen und Geschlechtern in Bezug auf soziale Normen
und Positionen, könnte wieder umgekehrt werden.
Wenn also die technische Verbesserung des Menschen kein gangbarer
Weg ist, die Quellen unserer Trauer zu beseitigen, wie kann eine Philo
sophie ohne Hoffnung auf eine allmächtige Vernunft und jenseitige
Tröstungen mit dieser Trauer umgehen?
(2) Der zweite Weg besteht darin, die Aufgabe der Tröstung der Religion
zu überlassen und in dieser die Erfüllung und Vollendung der Philoso
phie zu sehen. Wenn es keine philosophischen Beweise für die Vernunft
in Natur und Geschichte, für die Unsterblichkeit der Seele und einen
gerechten Ausgleich aller Leiden am Ende der Tage mehr gibt, warum
dann nicht die Grenzen der Philosophie eingestehen und sich über sie
von religiösen Offenbarungen, Hoffnungen und Gewissheiten hinweg
führen lassen?
Eine solche Lösung ist vor allen Dingen in Situationen nahe liegend, wo
es menschlich geboten scheint, andere über ein aussichtsloses Leben
oder einen nicht zu verkraftenden Verlust hinwegzutrösten. Was soll
man Menschen in aussichtslosen Ghetto-Situationen armer Länder
oder den Angehörigen von Opfern staatlichen oder nicht-staatlichen
Terrors anderes sagen, als dass es eine Zukunft jenseits dieser Welt gibt?
Und fordert nicht auch die moralische Vernunft, dass die Opfer der Ge
schichte nicht vergessen werden und die Täter ihren Richter auch nach
dem Tode noch finden werden?
Menschlich scheint dieser Weg oft der einzig gangbare, aber dem Philo
sophen, der sich an die notwendigen skeptischen Elemente seiner Me
thode hält, sind sie gleichwohl kaum gestattet. Denn dass wir eine aus
gleichende Gerechtigkeit fordern, ist keineswegs ein durchschlagendes
Argument dafür, dass es sie auch gibt. Und dass die Vernunft einen
Abschluss, eine Vollkommenheit und Endgültigkeit zumindest »postu
lieren« muss, wie noch Kant meinte, beruht schon auf einem über
menschlichen Vernunftbegriff, der heute nicht mehr durch Erfahrung
und möglichst sparsame Begründung gestützt wird.
Trost mit Blick auf ein Jenseits des irdischen Lebens zu spenden, muss
der Philosoph also den auf Offenbarung beruhenden Lehren überlas-
| <;o | T K 0 S T I. I C H I! P H I I. O S O P H I li
sen. Er kann ihnen nur folgen, wenn ihn selbst diese Offenbarungen auf
außerwissenschaftliche Weise überzeugen.
(3) Was bleibt dann innerhalb einer Philosophie, die weder auf Recht
fertigung, noch auf diesseitige Abschaffung der Übel und auch nicht auf
jenseitige Kompensation vertraut?
Zuerst einmal das Eingeständnis, dass vieles an Schmerz, Leid und Un
gerechtigkeit trostlos bitter ist und wir zwar auf emotionale Zuwen
dung, aber nicht auf rationale Argumente der Beseitigung bauen kön
nen. Selbst die stoischen Ratschläge, alles als unwichtig abzutun, was
nicht mit der Erlangung von Erkenntnis und der Erfüllung von völlig
selbstkontrollierbaren Wünschen zu tun hat, können heute nicht mehr
überzeugen. Sie erscheinen zu »rationalistisch«, zu unsensibel und un
beteiligt, als eine Flucht eben aus der Komplexität, Fragilität und Sozia
lität der menschlichen Verfassung.
Ferner die Einsicht, dass trostlose Trauer über viele Ereignisse und Zu
stände nichts daran ändert, dass in dieser Welt Güte und Verbesserung
möglich ist. Ereignisse und Zustände sind prinzipiell erreichbar, die
von allen bejaht und zum Ziel des Handelns gemacht werden können.
Und das nach meiner Auffassung nicht nur im Einzelnen, sondern
umrissweise auch im Ganzen. Die Welt ist nicht perfekt und nicht ver
worfen, sie hat viele Möglichkeiten zum Guten. Zumindest als Auf
gabe kann sich der Mensch die Verfassung einer Welt vornehmen, in
der sich mannigfaltige Formen, Arten, Kulturen und Individuen ge
genseitig tolerieren, anerkennen und wechselseitig fördern. Was Men
schen untereinander fördern sollen, ist Gedeihen und Wohlergehen,
Anteilnahme und Mitleiden, Kooperation und wechselseitige Berei
cherung von Individuen und Gruppen. Dazu sind sie aufgrund ihrer
Konstitution in der Lage, auch wenn sie es immer wieder verfehlen
und verderben.
Die Welt ist nicht notwendig gut, aber sie kann gut sein, im Einzelnen,
ausschnittweise, aber auch hinsichtlich einer erstrebenswerten Ge
samtverfassung. Eine »konkrete Ethik« kann solche Ziele und die anzu
strebende Güte dieser Welt genauer differenzieren, im Austausch mit
den Erfahrungen und Hoffnungen vieler Kulturen und Religionen.1Die
Arbeit daran, so viel wie möglich davon zu realisieren, muss sich nicht
von der Tatsache entmutigen lassen, dass ein Endzustand vielleicht nie
mals erreicht wird, ja dass wir vielleicht - was die Häufigkeit von Leiden
T K ö S T I. I (. II I! P II I 1 . 0 S O P II I E [91]
und Schmerz im universalen Maßstab angeht - nicht einmal entschei
dende Fortschritte machen.
Es kann sein, dass wir die Religionen für einen Trost brauchen, den die
Philosophie nicht mehr spenden kann. Dass wir etwas brauchen, ist al
lerdings philosophisch kein Grund für die Wahrheit oder Realität des
Gebrauchten. Andererseits ist die Sorge vor einem Wunschdenken kein
Grund für selbstgewissen Atheismus. Ob ein allmächtiger Tröster exis
tiert, muss die Philosophie offenlassen. Fähig erscheint sie mir aber zur
Ermutigung, auch ohne letzten Trost an der Bekämpfung von Leid,
Elend und Ungerechtigkeit mitzuwirken.
SICHTRÖSTEN
H HI TR O S T? [ 93 ]
auf immer wieder neue Festplatten übertragen oder perfekte Klone her-
stellen können! Aber damit potenziert sich die Trostlosigkeit der Dauer
nur noch. Was kann überhaupt noch geschehen, außer dass es dauert?
»Die Dauer, mit einem >Umsonst<, ohne Ziel und Zweck, ist der lä h
m endste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man ge
foppt wird und doch ohne Macht (ist), sich nicht foppen zu lassen.«1
Der nihilistischen Lähmung durch die Dauer will Friedrich Nietzsche
entgehen; anders als die nihilistischen Religionen mit ihrem Angebot
eines jenseitigen Zwecks, die über das Umsonst hier und jetzt hinweg
trösten, aber die Frage unausweichlich machen, warum Menschen
überhaupt mit dem Diesseits »gefoppt« sind. So führt Nietzsche in den
Nihilismus hinein, um ihn zu überwinden: »Denken wir diesen Gedan
ken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn
und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins
Nichts: >die ewige Wiederkehr<.«2
Den Prozess des Daseins bejahen nicht wegen eines Zwecks, der an sei
nem Ende erreicht wäre, sondern weil »Etwas innerhalb jenes Prozesses
in jedem Momente desselben erreicht würde- und immer das Glei
che«3, das wäre der Trostlosigkeit der bedeutungslosen Dauer gewach
sen. Die Übermenschen, die den furchtbarsten Gedanken der »ewigen
Wiederkehr des Gleichen« aushalten und in sich überwinden, weil sie
nur noch Bejahende sind, wären dazu herangewachsen, »triumphirend
jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen.«4 So dürfte
man sich trösten angesichts der Dauer, in der alles verblüht. Sich »als
Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen,
wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Ge
fühl über alle Gefühle.« Wer aber - so fragt Nietzsche schon in Mensch
liches, A llzu m enschliches-ist »desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter:
und Dichter wissen sich immer zu trösten.«5
Im Zarathustra, in dem Nietzsche den Gedanken von der ewigen Wie
derkehr des Gleichen zum Evangelium stilisiert, wird er selbst zu einem
Dichter, der aber nur in der Trostlosigkeit Trost finden kann: darin, dass
er die Macht des Übermenschen besingt, das Trostlose als das bedeu-
I 94 | II li I T I U I S T !
tungslose, entgöttlichte Fatum zu lieben.6 Nietzsche sieht sich selbst
nicht als den »übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten
Menschen«, »der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden
und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es w ar und ist, wieder ha
ben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend«7. Am
Ende quälender- in der Qual seiner Krankheit zu Ende gebrachter-
Selbstprüfung muss er von sich sagen: »Ich will das Leben nicht wieder.
Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Blick aushal-
ten? Der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe
versucht es selber zu bejahen - Ach!«8
Dem Künder und Platzhalter des Übermenschen bleibt nur eine nega
tive Hyper-Anthropologie - und die Selbststilisierung eines Propheten,
der an seiner Botschaft zugrundegehen muss. Kann man sich nach-
nietzscheanisch noch trösten mit dem, was der Mensch einmal sein
wird? Oder wird das Hyper-Menschliche, wenn es uns denn bevorsteht,
das endgültig Trostlose sein; nicht mehr unmenschlich vielleicht, aber
trostlos unsterblich, wie von Houellebecq imaginiert?
WERVERGISST...
HK I T R O S T ? [ 95 ]
sich als Werkzeuge eines waltenden Schicksals darstellen und wir mit
hin das eingetretene Übel als durch den Konflikt innerer und äußerer
Umstände unausweichbar herbeigezogen erkennen, also der Fatalis
mus.«9
Der Trost der Unausweichlichkeit: das Unausweichliche vergessen oder
heldenhaft ertragen oder sich zur Weisheit aufschwingen, dass es ins
Leben hineingehört, oder sich gar quasi-religiös der avay>cTi anver
trauen? Was wäre da tröstlich? Das Sich-Zufriedengeben damit, dass al
les andere ja doch nichts nützt, garniert vielleicht mit etwas Ehrfurcht
vor dem Leben, das sich erneuert, wenn es uns den unwiederbringli
chen Verzicht abverlangt; Versöhnung mit dem Elend des Menschseins
und menschlicher Gesellschaften. Kein billiger Trost fürwahr; vielleicht
überhaupt kein Trost, eher tröstlich sein sollende Mythen mit und ohne
Götter.
Dagegen steht die Erinnerung an Israels Erwählung zur Trostlosigkeit,
an seine Trost-Armut bis auf den heutigen Tag. Israels Armut im Geiste,
das ist für Johann Baptist Metz seine »Unfähigkeit, sich durch Mythen
und Ideen trösten zu lassen.«10 Trostlosigkeit war es indes doch nicht,
jedenfalls nicht durchweg. »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott
[...] Seht, Gott, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem
Arm«, kündet Deuterojesaja (Jes 40,1.10a). Sein Volk hat der Herr »ge
tröstet und seiner Armen sich erbarmt« (Jes 49,13b). Und schließlich bei
Tritojesaja dieses bewegende Gotteswort: »Wie eine Mutter ihr Kind
tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost. Wenn ihr das
seht, wird euer Herz sich freuen, und ihr werdet aufblühen wie frisches
Gras« (Jes 66,13). Kein mythischer Trost. JHWH tröstet sein Volk, da er
ihm Zukunft gibt. Aber was war mit diesem Trost in den Trostlosigkei
ten, die Israel in den Jahrtausenden seither heim suchten-wie das Gras
abgeschnitten vom Leben und ins Feuer geworfen? Lag noch Drost da
rin, sich der Jesaja-Worte zu erinnern und sich an sie zu klammern?
WELCHER TROST?
I l/j j H I! I T R O S T '
geht, ihm standhält und in ungemildertem Bewusstsein der Negativität
die Möglichkeit des Besseren festhält.«11 Kein lähmender Trost, der das
Fatum in seiner Fatalität wenn schon nicht lieben, so doch hinnehmen
lehrt; ein Dost vielmehr, der vor lähmender Trostlosigkeit rettet. Aber
w as-w er - könnte so trösten? Was könnte die Möglichkeit des Besseren
aufscheinen lassen im »ungemilderten Bewusstsein der Negativität«?
Kirnst käme für die Negative Dialektik gerade noch infrage; hier ist sie
Nietzsche gar nicht so fern. Kunst müsste die Möglichkeit des Besseren
nicht vorzeigen und abbilden. Sie kann darauf anspielen, indem sie den
Blick vom Grauenhaften nicht abwendet, ihm einen Ausdruck gibt, der
doch gehört und gesehen werden muss; der Anspruch darauf erhebt,
dass er gehört und gesehen w ird- und dass es einen Unterschied
macht, ob er gehört und gesehen oder in der Gleichgültigkeit erstickt
wird.
Wo sind die Ohren für das zum Himmel Schreiende; die Augen, die se
hen, was man nicht mehr mit ansehen kann? Gott kam da schnell ins
Spiel. Und er ist schnell aus dem Spiel, wenn man eine Antwort auf die
Frage fordert, warum er nicht »kommt mit Macht« und »herrscht mit
starkem Arm«. Fast schon ein Reflex, gegen den man kaum etwas m a
chen kann: Wenn diese Trost-Figur im Spiel bleibt, ist es ein falsches
Spiel, das trostlos durchschaute Spiel der Vertröstung. So lässt man sie
politisch und ideologiekritisch korrekt verschwinden. Ich will schon
souverän selbst darüber entscheiden, von wem ich mich trösten lasse.
Bestimmte Trost-Figuren sind da deutlich unter meinem Problem-Ni
veau! - Wie aber an der tröstenden »Möglichkeit des Besseren« festhal-
ten? Und an der Möglichkeit festhalten, dass solches Festhalten nicht
nur die leere Geste des Sich-nicht-Abfindens bleibt? Wer den Gottes-
Dost intellektuell unmöglich macht, sollte sich nicht mit großer rheto
rischer Geste vor der intellektuellen Verantwortung davonstehlen, die
Möglichkeit eines Besseren gegenüber der lähmenden Trosflosigkeit in
Erwägung zu ziehen.
GETRÖSTET WERDEN
Mli I T R O S T ' [ 97 |
tröstet wurden. Das bezeugen sie alle: Wer sich selbst trösten will, ist
verloren. So viel Tröstliches kann die Vernunft gar nicht aufbieten, als
der Blick auf das Geschehen von Welt, Gesellschaft, Kirche wegnimmt.
Aber damit ist die Vernunft nicht aus dem Spiel. Wer bei Trost ist, müht
sich zu unterscheiden, bei welchem Trost er Halt suchen kann und wel
chen er zurückweisen muss. D octa spes: sie allein könnte tröstlich sein,
wenn sie in uns wachgerufen wird, wenn sie uns verbürgt wird. Kein
Trost ohne Weisheit. Weisheit ist das Gegengewicht gegen das unge-
tröstete »Wie lange noch!« Kann sie so viel Gewicht haben, kann sie uns
so zuverlässig verbürgt sein, dass der Ausruf nicht ganz ohne apokalyp
tische Hoffnung auf das gute Ende bleiben muss?
Weisheit erinnert an das so leicht Vergessene und von dem, was uns
jetzt überrollt, bedeutungslos Gemachte. Sie weist hin und lässt sich
hinweisen auf das - bei allem, was geschieht - den noch Geltende. Sie
»weist hin«: das klingt noch zu affirmativ und triumphalistisch. Wie
könnte sie sich sicher sein, nach all dem, was geschehen ist. Sie ver
sucht sich im Dennoch festzumachen, an ihm festzuhalten. Noch wenn
sie die Schönheit der Schöpfung preist, singt sie gegen das Chaos an. So
redet und schweigt der Trost gegen die Trosdosigkeit an, so macht er
sich in Trostgründen fest, die er selbst nicht hieb- und stichfest verge
wissern kann; in diesem einen vor allem: Unser Gott ist nicht aufseiten
der Ungerechten und des Todes. Er ist ein Liebhaber des Lebens (Weish
11,27) und der Gerechtigkeit. Und seine Liebe wird mächtiger sein als
die zynische Entschlossenheit derer, die auf Ungerechtigkeit und Tod
setzen.
Was spricht nicht alles dagegen! Die Trostlosigkeit findet genug Gründe,
sich nicht trösten zu lassen. Wer wird es den Ungetrösteten verdenken,
wenn ihnen die Kraft abhanden gekommen ist, ihr Herz an das Den
noch zu hängen. Zu viel Enttäuschung, als dass man noch darauf hof
fen könnte, sich je tz t- und im Entscheidenden - nicht zu täuschen.
Man ist gewarnt. Aber man sollte auch gewarnt sein vor den Lehrern der
Enttäuschung, die mit ihrer Enttäuschung unbedingt Recht behalten
wollen und jeden Trost als intellektuell unter Niveau denunzieren.
Sollte man die Weisheits-Lehrer »vom Zwecke des Dasein« nicht höher
schätzen als Nietzsche und die Nietzscheaner? Die Weisheits-Lehrer
wollen den »Glauben an das Leben« fördern, wollen lehren, das Leben
zu lieben, denn ...1ZDie »ältesten Trostmittel«13 und Trostgründe, wo-
I 9« | Iti: I T R O S T '
nach das Leiden verschuldet, Erlösung aber erreichbar ist - durch das
Leiden hindurch-, werden nicht die besten sein. Und die Lehrer wer
den ihrer selbst und ihrer Lehre nicht mehr so sicher sein. Aber was ist
dagegen einzuwenden, dass sie uns ihre Gründe nennen für das Den
noch. Dass sie uns ermutigen, auf Menschen zu schauen, die das Den
noch gelebt haben, ohne Triumphalismus, aber auch ohne sich klein zu
machen: auf Zeugen und Zeuginnen und ihre Hoffnung zu schauen,
wenn die eigenen Hoffnungen nicht mehr weit genug reichen?
Das wäre ein Trost, den man nicht verstecken müsste: wenn unser Blick
auf Menschen fallt, die das Dennoch lebten oder leben. Wie tröstlich,
mit ansehen zu dürfen, was die Hoffnung aus den Zeugen gemacht hat,
was - so sagen sie es hie und da selbst- der Paraklet aus ihrem Leben
gemacht hat: dass sie Grund finden zu danken. Sie können sich täu
schen. Wir können uns täuschen, wenn wir uns von ihnen trösten las
sen. Aber wir wären nicht bei Trost, wenn wir ihre Hoffnung nicht prüf
ten: wenn wir ihr Dennoch nicht in Betracht zögen.
Wir können uns täuschen; sie können sich täuschen. Lehrer und Weis
heiten verdienen keinen Kredit mehr, wenn sie uns das verheimlichen.
Aber der Zweifel muss nicht trostlos bleiben. Seine Gründe sind auch
nicht so gut, dass man an ihnen nicht zweifeln könnte. Wie und wozu
die Hoffnung einen Menschen verwandelt hat, wie sie ihn das Dennoch
hat leben lassen, das is t- wie gesagt- kein hieb- und stichfestes Argu
ment. Aber es macht vielleicht Mut dazu, sich trösten zu lassen darüber,
dass so vieles gegen den Mut zu hoffen spricht und im Letzten vielleicht
nur dies eine dafür spricht: dass der Getröstete nicht abgeschlossen hat
mit dem, was war; dass er ein Mensch des Anfangs sein kann. Die Men
schen, die Mächte des Todes und der Ungerechtigkeit, sie dürfen nicht
die Macht haben, die guten Anfänge restlos wegzunehmen. Im Getrös
tetwerden liegt der Anfang, der Anfang des Dennoch. Dass dieser An
fang kein Anfang vom Ende ist, das kann nur der erweisen, der, wenn er
ist und wenn er der ist, nach dem Juden und Christen sich ausstrecken,
die Tränen abwischt von jedem Gesicht (Jes 25,8).
H I! I T R O S T ? [ 99 ]
> »KOMM TROST DER WELT
UNTRÖSTLICHKEITEN UND TROST IN
DER LITERATUR
W olfgang Frü h w a ld
J ben, die den Titel trägt: »Anfechtung und Trost im deutschen Ge
dicht«. In den Jahren der Nachkriegsdepression hatte dieses (rund 250
Seiten umfassende) Buch einen ungeahnten Erfolg und wurde bis ins
Jahr 1960 hinein immer wieder aufgelegt. Mein Münchner Lehrer Her
mann Kunisch wurde nicht müde, uns Studenten der Germanistik in
den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Buch ans Herz zu
legen. Aus der Literatur, meinte er, sei tatsächlich Trost zu gewinnen,
Trost und Zuversicht in vielen Anfechtungen und Wechselfällen des Le
bens. Doch fügte er sogleich differenzierend hinzu, er habe am 1. Sep
tember 1939, beim Beginn des Zweiten Weltkrieges, Trost in den von
Glück und Trauer zugleich getragenen Judith-Szenen in Gottfried Kel
lers autobiografischem Roman »Der grüne Heinrich« gesucht, jedoch
sogleich bemerkt, dass bei einem Ereignis wie dem Beginn des Welten
brandes in diesem Text keine Zuflucht, kein Trost, keine innere Festig
keit zu gewinnen war. Es gebe Situationen im Leben, meinte er, in de
nen »schöne Literatur« allen Trost verweigere. Damals fand er Zuflucht
in Texten der Bibel, die vermutlich mehr vom Menschen, seinen Zu
ständen und Sehnsüchten, seinem Zorn und seiner Freundlichkeit, sei
nem Schmerz und seiner Lust wissen als viele belletristische Texte zu
sammen. So ist es nicht verwunderlich, dass - zumindest seit Martin
Luthers folgenreicher Bibelübersetzung und bis in die jüngste Zeit hi
nein - die deutsche Literatur von der Sprache der Bibel getragen ist,
dass »schöne Literatur« (europäischer Herkunft) dort, wo sie Trost
Die Glocke der kleinen Kapelle am Waldrand bei Falkenhagen ist für
den Erzähler in Schneiders Novelle vergleichbar der Stimme des Poeten
Friedrich Spee, der allen Nachtigallen zum Trotz (freilich auch gegen die
Wittenbergische Nachtigall), das heißt mit der wundersamsten Natur
melodie, die einem Vogel geschenkt ist, und mit Martin Luther um die
Wette gesungen hat. »[...] du hast ein Besseres, Pater Spee; du bedarfst
keiner Glocke, die Mordbrenner wieder umgießen zu Waffen, und kei
ner Äcker, die ihre Rosse zerstampfen: du zauberst mit dem Liede, das
dir kein Feind entreißen kann, die Seelen in ihre Heimat hinüber«.
Im Bild des mörderischen Wütens, das Europa im Dreißigjährigen Krieg
verheerte, hat Reinhold Schneider die Schrecken des Zweiten Weltkrie
ges vorweggenommen. Er hat die Nachrichten aus den Zwangslagern
des Regimes und die mit Wucht beginnende Verfolgung der europäi
schen Juden verglichen mit jenem Verbrechen gegen Rang und Würde
des Menschseins, das zuerst in der Hexenverfolgung gipfelte (in der
meist Frauen als Frauen, das heißt als Geschlechtswesen angeklagt und
verurteilt wurden), ehe es, mit nochmals gesteigerter Obsession und
mit den Mitteln der modernen Technik ausgeführt, einen neuen Höhe
punkt in der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegen die euro
päischen Juden erreichte. Zwar haben sich, angefangen von Paul Celan
und Peter Weiss bis zu Primo Levi, Joseph H. H. Weiler und Amir Gut
freund, viele neuere Autoren an der literarischen Darstellung dieses
Menschheitsverbrechens versucht, doch ist es nicht gelungen, Leiden
I.
ohann Baptist Metz’ mehr als dreißig Jahre alter Entwurf zu einem
J Buch über den Trost ist in vieler Hinsicht aktuell. Das betrifft auch
seine Diagnose der »Pathologie des neuzeitlichen Menschen« mit der
»Unfähigkeit zu trauern« als deren Kern, wobei sich jene »Pathologie«
gerade in derVerdrängung des pathein und der com passion erweist. Die
alte griechische Wendung »m athein - pathein « hält den Zusammen
hang von Lernen und Leiden fest und ist - jedenfalls au ch - lesbar als
Plädoyer für ein Lernen, welches sich nicht gegen das Leiden immuni
siert. Das gilt für ein »Lemfeld: Trost« allemal. Von Dag Hammarskjöld
wird der Satz überliefert: »Wer nie gelitten hat, weiß auch nicht, wie
man tröstet.« Trost, der (mit Metz) weder als »Opium« ideologiekritisch
zu entlarven noch als »Enttäuschungsabsorption« affirmativ zu instru
mentalisieren wäre, müsste darum sympath(et)isch, com passioned
sein.
Auf ihre Weise hält die Sprache der hebräischen Bibel den Zusammen
hang zwischen Lernen, Leiden(schaft), Reue und Trost fest, indem sie
jene auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ausdrucksweisen in ein
einziges Wortfeld fasst. Mein Beitrag zu dem einst von Johann Baptist
Metz imaginierten und hier nun als dankbare Gabe für diesen im Wort
sinn passionierten Theologen verwirklichten Buch über den Trost hat
darum die vielschichtige, Trost und Reue umgreifende hebräische Wur
II.
III.
| 110 | i; Kl n n i! r ii n i; i; n c; i; i ; i; n d a s - s c: h i c: k s a i . •
inneren Zusammenhang von Trost und Reue, an dem die hebräische
Sprache festhält, auf die Spitze treiben darf, könnte man sagen, Gott
lasse sich an den Stellen zur Reue bewegen, an denen Gott selbst nicht
bei Trost ist.6 In dem Betracht, in dem Gott zur Reue fähig ist - ein gro
ßer biblischer Gedanke, der in der gegenwärtigen systematischen
Theologie mehr als unterbelichtet ist -, ist Gott auch des Trostes (wie
des Segens) bedürftig. Allemal kann es sich bei solchen Formulierungs
versuchen in biblischer Erinnerung nur um Grenzaussagen handeln
und nicht um »Definitionen« in Paragrafen einer Gotteslehre.
IV.
Es wird nicht immer so weitergehen - das ist der Trost, den die biblische
Überlieferung, vor allem in ihren apokalyptischen und eschatologi-
schen Linien, bereithält. »Daß es >so weiten geht, ist die Katastrophe.«7
In diesem Diktum Walter Benjamins bündelt sich die Unbedingt
heit des Festhaltens an apokalyptisch-messianischer Erwartung gegen
jede Perennierung gegenwärtiger Verhältnisse wie gegen jeden Fort
schrittsmythos. Benjamin setzt den Satz fort: »die Rettung hält sich an
den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe«.8Johann Bap
tist Metz hat diese Benjaminische Linie in seinen Unzeitgemäße(n) The
sen zur A pokalyptik noch einmal verdichtet in seine schon genannte
»Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.« Die Haltung, wel
che der eschatologischen Spannung der »Schrift« entspricht, ist nicht
die der Hoffnung, sondern die der Erwartung. Denn, noch einmal mit
Benyoetz: »Die Erwartung gilt dem Kommenden, die Hoffnung dem
Ausbleibenden.«9
Die kleine und doch entscheidende Differenz zwischen dem, das so ist,
und dem, das nun einmal so ist, die Differenz zwischen Fatalismus und
Glaube, lässt den Blick auf die Realität zu, ohne ihr als Totalität zu ver
fallen. »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles«,
formuliert Theodor W. Adorno.10Theologie, welche ihrer Sache >gewiss<,
doch niemals >sicher< sein darf, darf ihr Vertrauen getrost auf eine (zwei
fache) Modifikation dieses Satzes stellen: »Weil das, was ist, nicht alles
ist, lässt das, was ist, sich ändern.« Diese Gewissheit erlaubt der fatalis
tischen Maxime Schopenhauers zu widerstehen, nach dem der einzige
V.
• N I C H T S K A N N UNS T R ft S T I! N ! ■ ( ? ) [ 115 ]
betrachten und vor allem leben, an dem unsere Vernunft immer wieder
scheitert, dann taugt sie durchaus als Trost, den wir uns immer wieder
selbst erarbeiten, erwirken müssen. Ein objektiv verfügbarer Trost
grund wäre eine zu einfache Lösung. Auch in Bezug auf Tirost haben wir
es mit einer Kommunikationskonstellation zu tun, in der die Glaub
würdigkeit, die Anteilnahme und die Verlässlichkeit des Trösters über
die Wirkung des Trostes entscheiden - wenn wir uns denn im Stande se
hen, den Tfost anzunehmen.
Angesichts der Unvermeidlichkeit des Todes bilden wir alle eine Ge
meinschaft der Betroffenen, der Trostbedürftigen, denen der Glaube an
ein Jenseits eine weitreichende Hilfe für die Gestaltung der Verhältnisse
im Diesseits anbietet, die über die Einzelegoismen hinausreicht. Schon
das pure Angebot einer Alternative erweitert unseren Handlungsspiel
raum in unerhörterWeise. Für die Nutzung dieser Alternative sind wir
selbst verantwortlich, weil wir nun wissen können, dass sie zur Verfü
gung steht, wenn wir uns dazu durchringen können, uns mit Blick auf
die anderen wie mit Blick auf unsere Fähigkeiten nicht so wichtig zu
nehmen. Ertragene Kontingenz tröstet.
Pascals Antwort an die Vernunftgläubigen lautete: »Der letzte Schritt
der Vernunft ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit von Dingen
gibt, die sie übersteigen. Sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu die
ser Erkenntnis vordringt.«6Vielleicht spricht dies auch für die Vernünf
tigkeit der Gläubigkeit, die uns an Trost glauben lässt.
T II C. II N I K . T K O S T U N 1) S C H I. A II li P I I. 1. li N [ IU; ]
Fundamentaler noch: Wie kann er Einsicht in die Trostbedürftigkeit
provozieren?
Metz benennt anno 1974 die Hindernisse, die es aus dem Weg zu räu
men gilt, bevor die »tröstende Kraft der Rede von Gott« wieder vernom
men, geschweige denn verstanden werden kann. Der Katalog der Ta
bus, die »gerade unsere kritisch aufgeklärte Gesellschaft nachhaltig
bestimmen«, ist lang und nicht vollständig. Mit einem »usw.« endet der
Aufsatz. Heute ließe sich der Katalog fortsetzen ad infmitum. Der Zu
sammenhang von Aufklärung und Tabuierung leuchtet nunmehr un
mittelbar ein, hat er sich doch in einer Gegenwart, die auf ihre bloße Ge
genwärtigkeit stolzer ist als vordem die Alten auf die Ahnen, deren
Schultern sie okkupierten, emporgewandelt zur Geschäftsgrundlage
beinahe aller sozialen Beziehungen. Je stärker das Intime öffentlich und
das Private politisch wird, desto gebieterischer umzirkelt der intime,
also öffentliche Diskurs eine No go area. Bereden, anbieten und kaufen
lässt sich fast alles coram publico, doch im >Fast< lauert die Verdrängung
des wesentlich Menschlichen, die ihrerseits zurückschlägt ins Private,
zuvorderst und laut Metz: »Trauerverbot, Melancholieverbot, Bann ei
nes heimlichen Unschuldswahns.«
Wesentlich menschlich sind Trauer, Melancholie, Schuld, und die ein
zig menschlich angemessene Reaktion darauf ist der Trost. Wenn der
Mensch indes keine Trauer, keine Melancholie, keine Schuld mehr
meint eingestehen zu dürfen, versickern im gleichen Maße die Trost
potenziale und die Tröstungsbereitschaft. Diese Entwicklung ist weit
fortgeschritten, mit all ihren destruktiven Folgen. Eine utilitaristisch
zugespitzte Philosophie arbeitet ihr zu. So lesen wir in einem 2007 er
schienenen Buch über die freudig begrüßte »Perfektionierung des Men
schen«, verfasst von einem 1968 geborenen Professor der Philosophie:
»Die Zahl der unglücklichen, antriebslosen und frustrierten Menschen
auf der Welt dürfte schon dann ab nehmen, wenn Mittel wie Prozac ver
stärkt eingesetzt werden. [...) Das könnte das Klima in der Gesellschaft
viel freundlicher, offener und humaner machen. Viele verzweifelte,
chancenlose Existenzen könnten plötzlich Hoffnung auf eine Zukunft
erhalten.«
Der Nachwuchsprofessor setzt, mit einem abgewandelten Zitat Bacons
gesprochen, alles auf den Sieg der Technik im Wettlauf mit der Natur.
Das Enhancem ent, die pharmakologische wie gentechnische »Verbes
T l i CI I N I K , T R O S T UNI) S C H I . A I I B P I 1. 1. li N [ 121 ]
Gelassenheit und ein minimales Schlafbedürfnis werden zum imver
zichtbaren Accessoire der Weltelite. Trauer, Melancholie und Schuld
werden abgelebte Erfahrungen einiger Unverbesserlicher sein - die
Schuld kommt allein schon deshalb aus der Mode, weil die Neurophi-
losophie sich vom freien Willen längst verabschiedet hat. Keine indivi
duelle Verantwortung sei mehr möglich, da jeder nur handelnd nach
vollziehe, was im Hirn schon beschlossen liege. Wie soll man da traurig
oder melancholisch oder auch nur moralisch werden?
Bleiben wird indes die Ahnung, dass Glück als Kategorie gelingenden
Lebens nicht ausreicht. Bleiben wird die Erfahrung von Unglück und
Niederlage, Untergang und Tod trotz aller Besänftigungsindustrie. Das
eigene wie das fremde Leid lassen sich nicht an die Technik delegieren.
Da ist keine Stellvertretung möglich. Wahrer Trost und dauerhafte Ge
lassenheit sind die ursprünglichen Gaben des Glaubens. Religiös mag
auch der »verbesserte Mensch« sein, gläubig ist er nicht. Zu mir selbst
kann ich ein religiöses Verhältnis gewinnen, das Ich kann ein Götze
sein, die Schönheit, die Gegenwart, die Lust nicht minder. Glauben
aber, eine unwandelbare Treue, die diesseits nicht endet, haben die Ba
sare nicht im Angebot. Glauben ist, im Gegensatz zum industriellen
Scheinglück, nicht anstrengungslos zu haben.
Insofern wäre neu zu erlernen: ein aus der Demut gewachsener Mut,
sich als fehlbar anzunehmen; ein Realismus, der an den Pforten des
Scheiterns nicht Halt macht; die Zuversicht, trotz allen Ungenügens nie
unrettbar verloren zu sein. Eine Theologie des Trostes könnte die Ant
wort sein auf die Egolatrie der Epoche. Trost ist immer dialogisch und
schon deshalb ein Gegenmittel gegen die Verpanzerungen der »Ich-
linge« (Christian Schüle). Trost kann Selbstgenügsamkeit und Selbstde
struktion verhindern, wenn, ja wenn beide Seiten rückhaltlos ehrlich
und im Geist verzeihender Liebe einander begegnen. Dann weitet sich
der Raum für die »tröstende Kraft der Rede von Gott«, der Metz vor 34
Jahren ein notwendiges Buch zu widmen empfahl.
Eine solche Rede wäre, weil sie der Verfügbarkeit von Ich und Du letzt
lich entzogen bleibt, zugleich die beste Gewähr, dass der Trost zu keiner
billigen Vertröstung und zu keinem falschen Trostversprechen aus
schlägt. Die je neu zu erlernende Ausrichtung auf den gekreuzigten und
auferstandenen Gott könnte die heilende Wirkung von Trauer, Melan
cholie und Schuld, dem Augenschein und dem Leistungskatalog der
T I! C II N I K , T R O S T UNI) S C H I. A II I! P I 1. 1. 1! N | I2J j
> ENGLISCHER TROST/
CONSOLATIO ANGELICA
Thom as Rüster
[ u 6 ] K N Ci L I S C H F R T R O S T / C O N S O L A T IO ANGELICA
Rücken wir nun diese biblischen Bezeugungen in den weiteren Hori
zont der Angelologie, also in den Horizont einer Lehre vom Himmel, die
sowohl die seligen Engel wie auch die satanischen Mächte und Gewal
ten umfasst, so kann deutlich werden, dass von dieser her ein Ansatz
punkt zur Ausführung des Metz’schen (Buch-)Projektes gegeben ist.
Der Trost der Engel fügt sich nicht den »bereitwillig angebotenen Trös
tungsmustern und Tröstungsfunktionen der Religion«, dies wurde ge
zeigt. Es war nicht »Opium«, das Elia gereicht wurde, sondern Mittel zur
Fortsetzung des Kampfes, der dann beim Einsatz für den ermordeten
Nabot seine nächste Eskalation erreichte. Was dann die von Metz ge
nannte »tröstende Kraft der Religion angesichts jener großen Verlet
zungen und Demütigungen des Menschen« (Kopernikus, Darwin,
Freud) betrifft, so wird diese von den Engeln her zugleich überflüssig
wie auch reichlich gespendet. Überflüssig, weil den Menschen immer
schon zu wissen gegeben war, dass da Wesen in der Schöpfung sind, die
sie an Erkenntniskraft und Willensstärke unendlich überragen. Die
»Verletzungen und Demütigungen des Menschen« beruhten deshalb
lediglich auf falscher Selbsteinschätzung, die nur zu ihrem Besten kor
rigiert wurden. Es war vermessen und wirklichkeitsfremd, sich als Mit
telpunkt der Schöpfung, als Herr und Besitzer der Natur, ja als Herr sei
ner selbst vorzukommen. Ein Blick in die Engelwelt, wie ihn jede
Religion gewährt, kann hier Aufklärung schaffen. Zum anderen ist von
einer glaubensgestützen, biblischen Engellehre her aber auch klar, dass
jene Mächte und Gewalten, die tatsächlich den Menschen demütigen
und verletzen - die verselbstständigten sozialen und technischen Sys
teme, die die Bedürfnisse des Menschen in ihre Dienste nehmen, um
letztendlich nur ihre Selbsterhaltung zu betreiben, auch gegen die vita
len Interessen der Menschen -, seit Jesu Vision vom gestürzten Satan
(Lk 10,18) als entmachtet gelten können, dass jedermann in der Nach
folge Jesu ihren Versuchungen zu Reichtum, Sicherheit und Macht mit
Berufung auf Gottes Wort erfolgreich entgegentreten und schließlich in
der Liturgie zusammen mit allen Engeln und Heiligen siegestrunken
das »Dreimal Heilig Herr aller Mächte und Gewalten« anstimmen kann.
I)ies spendet Trost und gibt, wie bei Elia und Jesus, neue Kraft im Kampf
gegen »die Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der
Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter
d em Himmel« (Eph 6,12). Die Demütigung, die der Mensch dann noch
i; n i; i i s (. ii i: u t h o s t / c o n s o i . a t i o a n u h ü c a [ 127 ]
über sich bringen muss, ist diejenige gegenüber Gott; diese aber ver
letzt nicht, sondern schafft erst Würde und Herrlichkeit.
Zu Recht sieht Metz, dass eine Gesellschaft, die den Menschen als
»Herrschaftssubjekt« einsetzt, zur »Unfähigkeit, sich trösten zu lassen«
verurteilt ist und folglich zu einer »völlig apathischen, fühllosen Ratio
nalität« gelangt. Die Engel stellen hier eine andere Sprache und eine an
dere Rationalität zur Verfügung. Ihnen, die nach jüdischer Überliefe
rung in jedem Augenblick zu Myriaden aus Gottes Mund hervorgehen
und gleich wieder vergehen, sind die Versteifungen der Selbstbehaup
tung fremd. Die reiche, zarte Engelspoesie der christlichen Jahrhun
derte, das spielerische, verspielte Auftreten der Engel zum Beispiel im
Barock, die enge und einsichtige Verbindung der Engel mit der Musik,
das alles verweist auf Ausdrucksmöglichkeiten und Selbsterfahrungen
jenseits lächerlicher Herrscherposen. Wenn man doch schon um den
Schutzengel wüsste, wie viel an sprachloser Einsamkeit wäre überwun
den! »Gesellschaftskritisch« ist es in der Tat, den »längst Besiegten« die
symbolische Sprachwelt zu eröffnen, mit der himmlische Wirklichkei
ten sachgemäß einzig zu beschreiben sind. Da können Tränen fließen,
da kann - viel öfter - in die Freudenchöre der Engel eingestimmt wer
den. Mit Apathie und Fühllosigkeit ist es da vorbei. Jesus selbst ließ den
Tränen in Gegenwart des Engels freien Lauf.
Von Adorno übernimmt Metz den Begriff der »Verblendungszusam
menhänge, die gerade unsere kritische aufgeklärte Gesellschaft nach
haltig bestimmen«, und er zählt sie in schöner Vollständigkeit auf. In
der Tat, wie sollte man nicht verblendet sein, wenn man den Himmel
aus der Wirklichkeitswahmehmung systematisch ausblendet, gegen
Gen 1,1 und den ersten Satz des Großen Glaubensbekenntnisses.
Dieser ganze, so eindrucksvolle Text von Metz ist doch nichts als ein
einziges Ankämpfen gegen ein verkürztes, um die wesentliche, die
himmlische Dimension, auf das bloß Irdische reduzierte Wirklichkeits
verständnis. Selbstverständlich fallen da die Toten und ihr Schicksal aus
der Weltwahrnehmung heraus, denn sie sind ja nicht mehr auf der Erde
(sondern, wie noch die Scholastik wusste, im caelum empyreum, einem
raumzeitlichen aber unzugänglichen Ort dieser Welt). Selbstverständ
lich muss man den Verdacht, dass die Sinnreserven zur Neige gehen,
unterschlagen, nachdem man zuvor die umfassende Sinnressource des
Himmels, aus der alle Religionen schöpfen, abgeklemmt hat. Selbstver-
ls die Krankenschwester zugab, dass die Pille, die gegen das Ste
A chen in der Herzgegend helfen s°Hfe> nichts weiter enthielt, als
Kreide mit Traubenzucker, war ihm geholfen-
Wenn der Doktor seine Schmerzen nicht ernst nahm, musste auch er
sie nicht ernst nehmen. Er hatte selbst schon in Erwägung gezogen,
dass die Herzschmerzen vielleicht bloß psychisch bedingt wären. Aber
es waren immerhin Schmerzen. Nun äher dokumentierte das Placebo
die Gedanken des Doktors. Sein Meta"Placeh ° : Er hat meine Herz
schmerzen nicht ernst genommen. P er Doktor hatte gedacht: Dem
fehlt nichts, das ist nur psychisch. WeH aber der Doktor das dachte,
dachte auch er, was der Doktor dachte und wurde beschwerdefrei.
Sie tröstete sich mit einem Jüngeren. P er Marm war weg. Mit einer An
deren. Immer sind sie mit der immer Anderen dann mal weg und weg
für immer. Eigentlich sehr wenig origiheU- Dass ein intelligenter Mann
sich nicht zu schade war, der ChoreograPlde des Seitensprungs zu fol
gen wie ein triebgesteuerter Lemming und die Frau wie ein Ersatzteil
durch die Jüngere ersetzte ... Das hatte gut die Hälfte seiner Altersko-
I 130 I T R O S T . V ON A II S S li K II A I. H Ml®
horte und drei Viertel seiner Vorstandskollegen ihm vorgemacht. Treue
wäre originell gewesen. Sie wäre erwidert worden und hätte auch Gott
gefreut. Treue ist bipolar. Und der Trost?
Das geht. Aber wie man so sagt: Nicht wirklich. Nicht wirksam jeden
falls. Ich meine Streicheleinheiten. Ihr Mann war Behaviorist. Er ver
passte ihr Streicheleinheiten. Als sie das merkte, gab sie ihm eins auf die
Finger, denn sie wollte ohne Anführungszeichen gestreichelt werden.
Also wirklich!
Streicheln oder Kitzeln. Es muss ein anderer machen. Und so kann kein
Mensch sich selbst trösten.
Sein Zustand war schrecklich. Der Wahnsinn hatte sich mit ihm be
kannt gemacht. Er räumte das Messer aus seinem Gesichtsfeld, weil es
ihn ständig aufforderte, seinen Sohn zu schlachten. Das Böse zu tun,
wäre etwas ganz Großes. Erst als der Hausarzt, dem er sein Leiden
klagte, ihm berichtete, dass er so einen Fall schon einmal erlebt habe,
dass die Sache zwei Jahre brauche, bis sie überstanden sei, war er beru
higt. Zwar blieb er derselbe, aber die Auskunft änderte seinen Zustand
augenblicklich, und nach zwei Jahren war er wieder wie alle.
Wenn die göttliche Perspektive die des Abstands ist, dann wäre die Zeit
etwas Göttliches. Die Gnade, dass alles vorbeigeht, wäre ein Modus von
Offenbarung: Pesach?
Falsch!
Offenbarung muss doch das Nunc stans sein. Nähe, nicht Abstand.
T KOS T VON A II S S I! R H A I. H M I R [ I 35 ]
> LEBENSTROST
K atrin G öring-Eckardt
[ 136 | I. H H i; N S T R O S T
Seinen Trost bezog Bonhoeffer aus dem protestantischen Christentum.
Er stellte sich in der Gewissheit des ewigen Lebens und der Gegenwart
Gottes der Herausforderung, den Verfolgten, unter denen auch viele
seiner Glaubensschwestern und -brüder waren, eine Stimme der Hoff
nung zu geben. Auch wenn das sicher nicht in seiner Absicht lag, so ha
ben diese Worte des Trostes vielen anderen Menschen in den letzten
Kriegsmonaten und in der Zeit danach Mut und Kraft gegeben.
Eine etwaige unmittelbare Hoffnung, bezogen auf die konkrete Situation,
in der sich Bonhoeffer und seine Lieben befanden, wird in seinen Zeilen
nicht thematisiert. Damit meine ich die Aussicht auf einen Weg aus dem
Gefängnis, Wiederkehr des Verlobten, Sohnes, Bruders und Freundes. Sie
wird natürlich auch nicht ausgeschlossen, doch eine Flucht oder eine Be
gnadigung müssen so unwahrscheinlich gewesen sein, dass er seine Zu
versicht und Zukunft allein in Gottes Hände befahl und sich kämpfend
und helfend im Gestapogefängnis diesem Vertrauen hingab. Er glaubte
ganz fest daran, dass nach diesem Martyrium ein ewiges Leben auf ihn
warten würde. Er bezog Trost aber nicht nur aus der eigenen verheißenen
Zukunft, sondern auch aus dem tiefen Dank für das Erlebte. Und sogar in
den Tagen als er diese Zeilen schrieb, schöpfte er Hoffnung und sprach
nicht vom Ertragen, nein, vom »Leben dieser Tage«. Als dem Glauben
fernstehender Mensch mag man nun denken: Was für ein phantastischer
Optimist und viele Christinnen und Christen werden meinen, dass solch
ein vollkommener Glaube unerreichbar scheint. Doch Bonhoeffer hatte
diesen Glauben und hegte und mehrte sein Vertrauen in Gotjt sogar so
weit, dass er in dieser für ihn so leidvollen Zeit anderen davon abgeben
konnte, so sie bereit waren, diesen Trost anzunehmen.
Doch was ist, wenn Menschen, auch gläubige Menschen nicht bereit
oder in der Lage sind Trost anzunehmen? Mangelt es ihnen am Glau
ben? Mangelt es ihnen an Vertrauen?
Vertrauen und Glauben sind hier sowohl im religiösen als auch weltli
chen Bereich die beiden zentralen Begriffe, wenn man sich dem »un
annehmbaren Trost« begrifflich nähern will. Dies impliziert sowohl das
Vertrauen in und den Glauben an Gott, und/oder die Menschen.I.
I. R H K N S T R O S T [ 137 ]
Nur allzu oft werden das Annehmen von Tfost und die damit verbun
dene Verarbeitung von Leid und Kummer als menschliche Schwäche
abgetan. Die Herrschaft einer apathischen, gefühllosen Rationalität ist
kaum trag- und ertragbar für den Trostbedürftigen. Doch dieses Phä
nomen bedrückt nicht nur Atheistinnen und Atheisten, sondern plagt
auch Gläubige. Man könnte diese Erscheinung, wie es Johann Baptist
Metz getan hat, als eine »anhaltende Flucht vor dem eigenen und frem
den Leiden« beschreiben.
Das Gottvertrauen welches Bonhoeffer ausstrahlte, haben nur wenige,
und nur einige wünschen es sich. Denn Leid und Trauer, Angst und
Sorgen sind auch da zum Durch- und Ertragen. Der aus dem Vertrauen
auf Gott gespendete Trost fängt in seiner Intensität, wie wir sie von
Bonhoeffer kennen, oft auch erst dort zu wirken an, wo der weltliche
Trost keine Hoffnung mehr geben kann. In einer solchen Situation gibt
es, so könnte man aus unserer heutigen Sicht meinen, gar keine andere
Möglichkeit als - auf Gott - zu hoffen. Doch kann dieses Vertrauen auch
aus sich heraus, aus dem Glauben entstehen? Als Christin sollte die Ant
wort darauf leichtfallen. Denn dieses Vertrauen erwerben Christinnen
und Christen in ihrem täglichen Gebet zu Gott. Es drückt sich aus in der
Bereitschaft, sein Leben in Christi Hände zu legen. Wer diesen Schritt
getan hat und immer wieder tut, lebt in einem Vertrauensverhältnis mit
Gott und kann dadurch auch ein innigeres Vertrauen zu Gottes Kin
dern - den Menschen - aufbauen.
Doch auch Menschen, die nicht an Gott glauben, können natürlich ein
Vertrauensverhältnis zu den sie umgebenden Menschen aufbauen. Sie
können angesichts des Leidens einen weltlichen Trost annehmen und
sich im Vertrauen auf die Zukunft oder mit sehnsuchtsvollem Blick auf
das Vergangene trösten und trösten lassen. Und auch dieses Vertrauen
und der in leidvollen Situationen daraus erwachsene Trost können von
enormer Bedeutung für die Einzelne und den Einzelnen sein. Ob nun
religiös oder atheistisch motiviert, ohne den vertrauensabhängigen
Trost verkümmert der Mensch und fällt über kurz oder lang möglicher
weise in die schwarzen Löcher der Hoffnungslosigkeit.
Er verkümmert, weil er immer unfähiger wird zum Vertrauen und auch
zum Trauern. Denn auch den Verlust eines geliebten Menschen zu ver
arbeiten, ist eng verknüpft mit der Fähigkeit, Trost anzunehmen und
Hoffnung zu schöpfen.
[ 138 ] I. K B E N S T R O S T
TROST IM TRAUERN FINDEN
Seit vielen Jahren kann man eine zunehmende Berührungsangst mit dem
Tod in unserer Gesellschaft feststellen. Im Umgang mit dem Sterben
macht sich Unsicherheit breit. Anonyme Bestattungsformen nehmen zu.
Der Verstorbene wird, oft seinem eigenen Willen entsprechend, unter den
Grünen Rasen »verdrängt«, damit er, zum Beispiel durch eine anfallende
Grabpflege, »niemandem mehr zur Last falle«. Den Hinterbliebenen wird
so ein fester Ort verwehrt, an dem sie trauern können. Viele Verstorbene
nehmen ihren Angehörigen so unbewusst etwas Wichtiges, denn sie be
denken nicht, dass Trauer und Erinnerung eines festen Ortes bedürfen.
Aber auch wenn auf einem weltlichen Grabstein ein »Unvergessen«
prangt und tatsächlich eine Ruhestätte angelegt wurde, ist das Trauern
nicht vorüber. Schon die Frage, ob Kinder zur Beerdigung mitgehen, ob
sie auf den Friedhof sollen, hat das selbstverständliche »Ja« in der Ant
wort verloren.
Wer die Endlichkeit des Lebens verdrängt und die Toten vergisst, den
wird die Vergänglichkeit, der Verlust eines Tages völlig unvorbereitet
treffen. Wer diese Erfahrungen, auch die Nöte, nicht an die nächste Ge
neration weitergibt, verkennt, wie sehr Tod und Sterben zum Leben ge
hören, auch gehören sollten. Dies schafft nicht nur Kraftreserven für ex
treme emotionale Situationen, sondern sorgt auch für Gelassenheit im
Umgang mit den kleineren Problemen im Alltag.
Aus der aufVerarbeitung angelegten Trauer kann ein Trost erwachsen und
somit auch eine Chance, den Verlust zu bewältigen. Wenn Trauernde am
Grabe stehen und meist erst in den Wochen danach den Verlust vollkom
men ermessen können, entsteht oft das Gefühl der Ohnmacht, das durch
eben jene Hoffnung nicht völlig behoben werden kann. Es gibt eben nicht
nur die Sorge um dasWöhldesNächsten,sondemauchdenlegitimenego-
istischen Wunsch nach seiner Gegenwart. Gerade wenn jüngere Men
schen sterben, werden die Fragen nach dem Sinn und der Notwendigkeit
diesesTodes jenseits des irdischen Deutungshorizontes gestellt. Die Frage
nach dem >Warum hat Gott dies zugelassen< stellen hier nicht nur Gläu
bige, sondern auch den Religionsgemeinschaften Fernstehende. Durch
den unbändigen Drang, darauf eine Antwort zu bekommen, besinnen
sich Menschen darauf, dass es möglicherweise außerhalb der materialis
tischen Erklärung der Welt noch eine andere Kraft gibt. Eine, die unserem
I. R H E N S T R O S T [ X39 ]
Wissen und Wollen nicht verfügbar ist. Wie viel Trost daraus erwachsen
kann, wird unterschiedlich sein. Vielleicht liegt es auch schon im Prozess
des Sterbens. Immer wieder hören wir von Hospizhelferinnen und -hel-
fem, die Sterbenden und Angehörigen helfen konnten, eine letzte wirkli
che Lebensphase aus dem Sterben zu machen. Eine fröhliche Rückschau
auf gute Zeiten, ein Trauern um zu Ende gehende Gemeinsamkeit, ein
Blick in die Zukunft des Zurückbleibenden. Trost also im Sterben selbst, so
wie es Bonhoeffer vielleicht auch verstanden wissen wollte.
DER LEBENSTROST
Johann Baptist Metz fordert einen »Lebenstrost, der weder von vornhe
rein als >Opium< marxistisch-ideologiekritisch entlarvt noch als >Ent-
täuschungsabsorption< systemtheoretisch oder auch psychoanalytisch
konzediert bzw. gar gesucht wird«. Meiner Ansicht nach ist der Lebens
trost individuell und entspringt einer persönlichen Beziehung zu Gott.
Der eigene Lebenstrost kann an die Nächste und den Nächsten weiter
gegeben werden und ist dadurch ein Grundpfeiler des menschlichen
Zusammenlebens.
Ich glaube nicht, dass es dabei entscheidend ist, dass dieser Lebenstrost
abstrakten Kategorien des Diskurses standhält, sondern dass er sich
vielmehr in der Praxis beweist. Durch das Vertrauen auf und das Ge
spräch mit Gott und den Menschen entsteht für jede Gläubige und je
den Gläubigen ein individuelles Lebensvertrauen, welches ihr und ihm
gerade in leidvollen Lebenssituationen die Kraft und die Zuversicht
gibt, dass wir uns auf Gott verlassen können.
Der Lebenstrost ist das Vertrauen in Gott und die Menschen. Nur ein
Mensch, der diesen Lebenstrost erfahren und gelebt hat, kann im größ
ten Leid schreiben:
»Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet
wunderbar, so will ich diese Tage mit Euch leben und mit Euch gehen in
ein neues Jahr.« Der Lebenstrost ist schwer in abstrakte Begriffe zu fas
sen. Er basiert auf der Erfahrung jedes Einzelnen mit seiner Umwelt.
Wenn dieses Umfeld durch den Glauben an den dreieinigen Gott er
weitert wird, so meine ich, dass dieser Lebenstrost beständiger ist als ei
ner, der nur auf die Menschen baut.
[ 140 ] L l i B B N S T R O S T
> SORGET NICHT!«
W olfga n g Thierse
ass wir Menschen des Trostes bedürfen, ist ja gewiss: Wir bedürfen
D der Hilfe, die uns aufrichtet, weil wir es selbst nicht vermögen,
wenn eigene Schuld, eigenes Versagen uns beugt oder das Elend der
Welt, die Aussichtlosigkeit uns schmerzt und niederdrückt. Das ist eine
unabweisbare, elementare Lebenserfahrung. Dass aber Trost nicht
leicht zu haben ist, es sei denn, es wäre der billige Trost der Verharmlo
sung, der Verkitschung, des Vertröstens - das ist mir an einem Bibeltext
deutlich geworden, den ich besonders liebe. Es ist Matthäus 6,24-34.
Die Jesus-Worte »von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf dem
Felde« haben mich immer wieder beschäftigt und fasziniert, sie haben
mich geärgert und irritiert und getröstet und ermutigt. Ich habe diesen
Text - von Kindesbeinen an im Gottesdienst Jahr für Jahr mindestens
einmal gehört - wechselnd empfunden als Provokation, als Zumutung
oder als befreiendes Versprechen, als Entlastung, gar als Verführung zu
einer Art christlichem Fatalismus’ oder auch als Angebot einer glückli
chen christlichen Faulheit.
Und ich habe ihm früher auch zu widersprechen versucht: Das ist doch
gänzlich weltfremd. Wir müssen uns doch sorgen! Ohne unser aktives
Tun, unseren Fleiß, unser Engagement geschieht doch nichts. Es fliegen
uns doch keine gebratenen Tauben in den Mund. - So dachte ich als
junger Mensch und immer wieder. - Den Hunger zu stillen, den eigenen
und, vor allem, den Hunger anderer - das geht doch nicht von allein!
Die riesigen Probleme, die deutschen, die europäischen, die globalen
Probleme, - sie lösen sich wirklich nicht von selbst. Da ist heftigste An
strengung, Sorge also gefordert. Gewiss, gewiss. Aber von einem Schla
raffenland ist in den Jesus-Worten ja auch keine Rede. Ein Schlaraffen-
■S O R U H T N I c: H T ! • [ 141 ]
land wird nicht verheißen. Nett nämlich ist das Neue Testament hier
nicht und auch sonst nicht. Gottlob.
Nein, keine falschen Versprechungen machen mir diesen Text wichtig.
Heute, nach soviel Veränderung in meinem Leben, heute, wo ich ein
vergleichsweise hektisches und angestrengtes Leben führe, heute sind
mir diese Jesus-Worte von den Vögeln unter dem Himmel und den Li
lien auf dem Felde vor allem eine Einladung zur Gelassenheit gewor
den: Sich weniger wichtig nehmen können - welch schöne Möglichkeit
gerade für Politiker (für andere Berufe, für andere Menschen aber
auch), deren Berufskrankheit doch die Wichtigtuerei ist. Eine Einla
dung, sich zu befreien von der Selbstüberschätzung - also von der
Überzeugung, alles selbst leisten zu können. Eine Einladung, sich aber
auch zu befreien von der Selbstüberforderung - also vom Anspruch, al
les selbst leisten, lösen, machen zu müssen.
Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung haben gerade in der Po
litik, bei Politikern fatale Konsequenzen: Verzweiflung oder Zynismus
oder beides, verzweifelter Zynismus, der zu Trunksucht, dem falschen
Trost, führt oder zur Kälte der Untröstlichkeit, der Resignation, der Rou
tine, der Verhärtung.
Es ist gewiss wichtig, was wir tun und worum wir uns kümmern, ja, ja. -
Aber Jesus lädt uns ein, nicht zu glauben, wir allein seien verantwortlich
und wir hätten für alles Verantwortung: »Werfet eure Sorgen auf Gott,
denn er sorgt für euch!« Eine trostreiche Verheißung.
Und trotzdem, dieser Text nimmt den Pflichten, die wir haben, nicht ih
ren Ernst, aber er erlaubt, denke ich, Emst von Fanatismus zu unter
scheiden.
Eine wahrlich wichtige Unterscheidung. Die eigenen Sorgen, Interes
sen, Ziele, Überzeugungen absolut setzen und darin sich selbst absolut
setzen - das führt zu Fanatismus - eine politische und moralische Ge
fahr - nicht nur weit weg von uns, sondern ganz nah; denken wir nur an
den jugendlichen Rechtsextremismus und seine entsetzlichen Gewalt
ausbrüche. Oder an religiösen, weltanschaulichen Fundamentalismus
ganz individueller Art.
Neben dem Zuspruch »Sorget nicht!«, jener Einladung zu einer befrei
enden Sorglosigkeit des Gottvertrauens und zugleich aktivem Tun des
sen, was heute anliegt (»Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene
Plage hat«), kommt man an dem zentralen Einspruch des Textes nicht
( 142 ] ■ S O R Ci I: T N I C H T ! -
vorbei: Das Gleichnis von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf
dem Felde ist eine unmissverständliche Absage an eine Kultur des Ha
bens, des materiellen Reichtums und Besitzes, an eine Kultur, in der
sich der Wert des Menschen danach bemisst, was er hat - und weniger,
was er ist. Wo Eigentum der wichtigste Wert ist, beherrscht es auch das
Denken. Ökonomische Ziele, Interessen, Spielregeln bestimmen, was
vernünftig ist. Wirtschaftliche Sachzwänge verbieten offensichtlich je
den Gedanken daran, dass es auch um anderes geht. Freiheit, verstan
den als Konsum, als Bereicherung, wird irgendwann zur Ausweglosig
keit, führt in die Abhängigkeit des »Terrors der Ökonomie«.
»Ist das Leben nicht mehr als die Speise und der Leib mehr als die Klei
dung?« Dahinter las ich immer die fröhliche Aufforderung zu einer Kul
tur der materiellen Bescheidenheit, zu einer Lebensweise, die das Le
ben selbst heiter beim Wort nimmt und loslassen kann, wenn es zu
Ende geht. Der Satz verweist uns allerdings auf ein »Mehr«, auf etwas,
was wichtiger ist, wertvoller, was unser Leben eigentlich ausmacht.
Welches Menschenbild tritt uns hier gegenüber? In welche Vorstellung
vom Menschen passt dieses Bild?
Im Gleichnis von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln im Himmel
begegnen wir einem Menschenbild, das den Menschen zunächst auf
eine Stufe mit den anderen Geschöpfen stellt. Ohne jede Geringschät
zung der natürlichen Bedürfnisse (»Denn euer himmlischer Vater weiß,
dass ihr all dessen bedürft«) sind wir Teilhaber an einer Schöpfung, de
ren Schöpfer es sich angelegen sein ließ, darin nicht nur das Nötige,
sondern auch das Schöne gedeihen zu lassen; ja sie beschämt uns so
gar, wenn wir uns schöner und reicher machen wollen - wie »Salomo in
seiner Herrlichkeit«, der an die Schönheit der Lilien auf dem Felde nicht
heranreichen kann. Das Gleichnis, das uns Genügsamkeit und Be
scheidenheit lehren will (»Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen
nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer
himmlischer Vater ernährt sie doch«), zielt aber dann auf eine ent
scheidende Wende, seine eigentliche Pointe: »Seid ihr nicht viel mehr
als sie?«
Was ist es, was uns Menschen von den anderen Geschöpfen unter
scheidet? Davon ist von Anfang an die Rede: die Sorge, das Streben nach
mehr, schließlich die Angst vor dem Tod. »Wer ist unter euch, der seines
I ,ebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch da-
■ S D K Ci li T N I C. II T ! ■ [ M3 ]
rum sorgt?« Das Gleichnis zeichnet uns ein Bild vom Menschen, in dem
die Suche nach Sinn und Sicherheit, das Streben nach Wahrheit und
ewigem Leben das Eigentümliche des menschlichen Wesens ist. Die
christliche Wendung dieses Strebens heißt: »Trachtet nach dem Reich
Gottes und seiner Gerechtigkeit.« Das Eigentliche und Unterschei
dende des Menschseins, so lehrt uns das Gleichnis und die ganze Bibel,
sein Streben nach Teilhabe am ewigen Leben, erhält durch den Ruf in
die Gotteskindschaft seine hervorgehobene Würde.
Es gehört doch wohl zu unseren allgemeinen Überzeugungen und Wer
ten, wenn wir behaupten: Alle Menschen haben die gleiche Würde. Das
heißt nämlich: Ohne unser eigenes Zutun, vor aller Vorsorge und Mühe
sind wir Menschen schon ausgestattet mit dem, was unseren Anspruch
auf Achtung durch den anderen begründet, auch den Anspruch auf das
tägliche Brot. Dass diese Haltung - imabhängig von Glauben oder Be
kenntnis - im Grundsatz anerkannt wird, ist gewiss edles andere als
selbstverständlich, weder historisch noch in der gegenwärtigen Reali
tät. Und die daraus folgenden Übereinkünfte, wie etwa die Sicherung
des sozialen Existenzrechtes, stehen immer wieder zur Diskussion.
Dennoch gilt dieser Grundsatz als grundlegender Wert unserer politi
schen Ordnung, steht er in unserer Verfassung allem voran. Der erste
Satz im ersten Artikel des Grundgesetzes lautet: »Die Würde des Men
schen ist unantastbar.«
Das heißt: Wir sind überzeugt, dass die Würde etwas ist, was dem Men
schen nicht genommen werden darf, unabhängig von seinem Tun und
Lassen, von seiner Herkunft, seinem Aussehen oder Glauben. Positiv
ausgedrückt: Es ist die menschliche Würde, aus der bei aller individuel
len Verschiedenheit die grundlegende Gleichheit aller Menschen folgt.
Die Menschenrechte, politische und soziale Grundrechte, deuten auf
die überall gleichen natürlichen Grundbedürfnisse hin - zuerst und vor
allem sind sie jedoch der Anerkennung der Menschenwürde geschul
det.
Wenn ich unter diesem Blickwinkel das Gleichnis von den Vögeln im
Himmel und den Lilien auf dem Felde wieder lese, bin ich überrascht,
dass sein Menschenbild keineswegs so weltfremd ist, wie es dem be
rühmten »Realpolitiker« erscheint, der behauptet, dass man mit der
Bergpredigt keine Politik machen kann. Es gehört zu unseren grundle
genden Werten, dass jeder Mensch immer als Zweck an sich und nie
mals nur als Mittel zu betrachten ist. Das gilt für Männer wie Frauen
und fragt nicht nach Rasse und Hautfarbe. Ein Ausdruck des Glaubens
an eine vorgegebene unverfügbare menschliche Würde ist die Über
zeugung, dass wir im Respekt vor anderen Menschen und Sichtweisen
der Offenheit, des gerechten Umgangs miteinander und der rationalen
Auseinandersetzung bedürfen. Wenn wir also glauben, dass die Freiheit
allen Menschen zugesagt ist, sind Menschenrechte und Demokratie
überall in der Welt möglich - und vor allem der Menschen würdig!
Erst also in der Verbindung von Entlastung und Verpflichtung, von Ein
ladung zu fröhlicher Gelassenheit und Aufforderung zu menschenge
mäßem Tun - so gelesen wird mir dieses wunderbare Gleichnis zum
Trost, begreife ich. Das allerdings ist dann nicht der billige Trost des »Es
wird schon werden«. Das ist kein Vertrösten, das die Leiden und Nöte
und Ausweglosigkeiten nicht ernst nimmt, ist keine Jenseitsvertrös
tung. Es ist, so buchstabiere ich den Text, ein Trost, der standzuhalten
ermöglicht!
- S O R G I! T NICHT!- [ 145 ]
GOTT W IRD ABW ISCHEN ALLE
TRANEN VON IHREN AUGEN
K laus Berger
enn uns jemand die Tranen abwischt, dann ist das große, behüt-
W same Zärtlichkeit.
Eine Mutter wischt dem Kind die Tränen ab, wenn das Schlimmste
überstanden ist, wenn wie ein Silberstreifen am Horizont das Ende des
Unglücks in Sicht ist.
Wer die Tränen abwischt, hatte nicht selbst zu leiden, konnte aber auch
das Leiden nicht verhindern. Tränen abzuwischen ist ein ganz beschei
dener Dienst. Eigentlich wird nichts bewirkt, nichts medizinisch oder
physikalisch Erhebliches.
Aber wie, wenn das Kind großen Kummer in der Schule oder auf dem
Spielplatz hatte und es kommt nach Hause und die Mutter weiß schon,
sie muss nicht erst fragen. Es ist wie ein geheimes Einverständnis. Das
Kind braucht jetzt nicht die Frage nach dem Warum und wer es heute
wieder war. Es muss nur in die Arme geschlossen werden, und die Trä
nen werden abgewischt.
Die Mutter mischt sich nicht ein in das Leiden, in den Kummer. Sie
schimpft auch nicht und verweist auch nicht darauf, das Kind sei wohl
auch nicht unschuldig gewesen. Sie weiß schon, dass es immer ähnlich
verläuft auf dem Spielplatz. Immer das Gleiche. Und gerade dass sie
nicht fragt, ist das größte Stück Trost. Sie weiß schon.
Tränen abwischen geschieht ganz sanft, nicht gewaltsam. Allerdings
muss man etwas Stillstehen dabei und sie sich abwischen lassen. Sonst
geht es nicht. Schreien und zappeln darf man nicht. Aber oft schluch
zen wir noch, wenn unsere Tränen getrocknet werden.
[ 146 ] «O TT WIRD A B W I S C I I K N A I. I. H T R Ä N E N
Tränen der ganzen Menschheit, von unermesslichem Leid. Es ist ganz
unvorstellbar, wie alle Kreatur leidet. Nichts davon wird in der Bibel be
schönigt. Und Gott ist nicht derjenige, der mit dem Zauberstab alles
Leiden wegpustet. Keine falschen Hoffnungen wecken! Der Inhalt ge
rade des letzten Buches der Bibel ist: Wir müssen da durch. Wir müssen
durch alles hindurch, wie durch eine Hölle.
Wir müssen da hindurch, durch die Folgen unseres Tuns und durch das,
was offensichtlich unvermeidlich ist. Ich weiß auch, dass all unser gu
tes und notwendiges Bestreben darauf gerichtet ist, Leiden zu verhin
dern und abzukürzen.
Aber aufs Ganze gesehen gelingt uns das kaum. So wie es uns nicht ge
lingen will, die Nacht zum Tage zu machen. Selbst wenn wir nachts etwa
von einem Hügel aus über eine Großstadt blicken, so sind es doch im
mer nur helle Punkte, die wir sehen können. Und wie die Medizinmän
ner der Steinzeit stehen wir noch immer vor der Frage, wie man Regen
machen kann, etwa um die schrecklichen Dürrekatastrophen in Afrika
zu verhindern. Noch nicht einmal das Einfachste vermögen wir allzu
oft, ganz abgesehen davon, dass wir kein einziges grünes Blatt herstel-
len können. Und so viele Leiden hat unsere Leiden verkürzende Wis
senschaft hervorgebracht. Und so ist auch die Ethik, die die Offenba
rung des Sehers Johannes verkündet, leicht auf den einen Punkt zu
bringen: Hier eine halbwegs saubere Weste zu behalten - , weil wir so
wenig machen können.
All unsere Bemühungen in Ehren, aber wir müssen hindurch, und auch
unser Sterben nimmt uns niemand ab. Auch Gott befreit nicht einfach
von alledem. Kein Wunder jetzt und auch kein Schlaraffenland am Ende
verspricht unser Text. Das letzte Buch der Bibel ist ganz realistisch.
Keine Träne wird geleugnet. Nur dies: Wenn wir durch den dunklen
Tunnel hindurch sind, dann wird Gott wie einer sein, der uns die Ttä-
nen abwischt. Der um unser Leiden weiß und nicht fragen muss.
Neuer Himmel und neue Erde, das ist die neue Schöpfung, von der
schon der Apostel Paulus so bewegt gesprochen hat. Sie ist das Grund
muster seiner Theologie. Nach Paulus beginnt sie schon jetzt, wo im
mer der heilige Geist die Zertrennungen und Spaltungen überwindet,
die zwischen Gott und Mensch, im Menschen mit sich selbst und zwi
schen Mensch und Mensch bestehen. Nach dem Seher Johannes gibt es
in der Gegenwart schon die Anwärter auf die neue Schöpfung, nämlich
liOTT WIRD A It W [ S C II I! N A I. I. li T R Ä N E N [ M9 ]
ten. Freiheit ist das heimliche Thema dieses Textes, aber nicht Freiheit
von der Leistung, sondern die Kraft, frei zu sein zum Opfer. Alles tun zu
können im Angesicht der Verheißung der zukünftigen Stadt.
Denn mit dieser Stadt ist eben überhaupt ein Ziel gesetzt, allem Nihi
lismus zum Trotz. Darüber kann man staunen, und dieses Staunen
kann uns formen. Nicht um Machbares geht es, aber um die Kraft, die
aus dem Staunen und aus ein paar Gramm Hoffnung kommt. Und
wenn Gott alle Tränen von den Augen abwischen wird, dann geht es
nicht um Prinzipien, sondern um den menschlichen Gott, den Jesus, so
wie er war, verkündet hat. Denn wo die Alternative Haltlosigkeit oder
Nihilismus ist, darf man nicht mit unverbindlichen Weltanschauungen
spielen. Jesus spricht in die Richtung des Lebens aller. Daher das Bild
von der zukünftigen Stadt.
Die >Himmelskinder< dieser Stadt sind unter uns Liebe und Kreativität.
In diesem Sinne spricht der Apostel Paulus von der neuen Schöpfung
durch den Heiligen Geist und von den Gaben und Wirkungen eben die
ses Heiligen Geistes in Gestalt von Liebe und »lügenden der Zurück
nahme der Macht«. Man muss zugeben: Diese Gaben haben oft etwas
von unwirklicher Herrlichkeit und werden gerade deshalb geneidet und
unterdrückt. Oft sind sie ohnmächtig ausgeliefert wie kesse, mutige
Frühlingsblumen dem Frost preisgegeben sind, der unerwartet zurück
kommt. Man kann dagegen protestieren, dass es immer wieder ge
schieht, wie in fast allen Fällen, da man vom politischen Frühling
sprach. Ändern kann das nur die Macht und die schiere Wirklichkeit
dieser >Himmelskinder< selbst. Also die bewahrte und gehütete Un
schuld reiner Liebe und großer Kreativität. Oft sind diese >Himmelskin-
der< wie Findelkinder, herumgestoßen und abgelehnt auf der Suche
nach Eltern, die sie wollen und die ihrem Temperament gewachsen
sind. Denn nicht um etwas Abgehoben-Religiöses geht es bei der
himmlischen Stadt, sondern um ein gerechtes und glückliches Mitei
nander, bei dem Gott für immer alle Tränen trocknen wird.
Kommt nicht alle Haltlosigkeit daher, dass wir die Perspektive der zu
künftigen, der himmlischen Stadt verloren haben? Apokalyptische
Schrecken drohen uns doch nur, wenn wir aus dieser Perspektive aus
brechen, von dieser Straße abkommen, die auf sie hinführt. Aber die
Einheit ist früher als der Zweifel, die Liebe ist die Grundlage aller Wahr
heit, das Dienen der Maßstab alles Wissens. Das will sagen: Wir müssen
G O T T W I R D AH W I S C H E N A 1. 1. I! T R Ä N E N [ 151 ]
> »MITTEN W IR IM LEBEN SIND MIT
DEM TOD UMFANGEN«
W olfgang H uber
I.
»Wir sind allesamt zum Tode gefordert, und da wird keiner für den an
deren sterben, sondern ein jeder in eigener Person für sich mit dem Tod
kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss
für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht
bei dir sein noch du bei mir.«1
Der das sagte, war kein moderner Individualist, auch wenn es danach
klingen könnte. Der das sagte, war ein Theologe im 16. Jahrhundert.
Martin Luther formuliert so, am 9. März 1522, in der ersten seiner be
rühmten Invokavit-Predigten.
Der Hintergrund ist schnell erläutert: Während Luther sich auf der
Wartburg versteckt hält, brechen in Wittenberg Unruhen aus, die zum
größten Teil mit der für viele Menschen unklaren Situation des neuen
religiösen Aufbruchs Zusammenhängen. Gegen den ausdrücklichen
Rat seines Kurfürsten verlässt Luther die Wartburg und steigt in Witten
berg auf die Kanzel, erstmals am Sonntag Invokavit. Sieben weitere Pre-
»Mitten in uns wagt er zu weinen.« - »Mitten wir im Leben sind mit dem
Tod umfangen.« Da ist kaum ein Unterschied zwischen der Lyrik des
20., des 16. wie des 11. Jahrhunderts. Große Dichtung hat sich nicht ge
scheut, dies als eine Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, die die Zeiten
überdauert.
■ M I T T I! N W I K IM I. li It li N S I N D Ml T 1) I! M T O l ) 1 I M F A N G I! N > [ I 53 ]
II.
Christliche Theologie hat die Mächtigkeit des Todes immer wieder um
kreist. Der Tod sei der Sünde Sold, erklärt der Apostel Paulus (Röm 6,21).
Nicht die Endlichkeit des menschlichen Lebens als solche, sagt er da
mit, sondern die Bedrohlichkeit dieses Endes hängt mit der Selbstver
krümmung des Menschen zusammen, die er Sünde nennt, jener Ab
kehr von Glaube, Liebe und Hoffnung, die allein dem menschlichen
Leben eine klare Orientierung und eine Verheißung verleihen können,
die am Tod nicht zerbricht. Diese Vorstellung vom Tod als Macht be
gleitet - bei allen Variationen und Verschiebungen, die hier nicht zu
erörtern sind - den menschlichen Umgang mit dem Tod. Der mittelal
terliche Totentanz zeigt den Tod als unheimlichen Herrscher, der nach
dem Leben des Menschen greift, ohne dass es ein Entrinnen gibt. Diese
Vorstellung vom Tod als Macht erschließt eine besondere Wahrheit über
den Menschen. Vor dem Tod sind alle Menschen gleich. Ob Kaiser oder
Krüppel, ob Papst oder Jude: vom Tod wird jeder gleichermaßen ergrif
fen. Diese Gleichheit der Verschiedenen vor einer letzten Instanz hat
Rückwirkungen auf den Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden.
Sie enthält einen untergründigen Zug zu demokratischer Egalität, zu
der Vorstellung, dass »ein Mensch eine Stimme« haben müsse.4 Und es
gehört nicht viel Phantasie dazu, sich umgekehrt deutlich zu machen,
dass der Gedanke, Einzelne könnten sich Unsterblichkeit kaufen, wäh
rend die anderen der Sterblichkeit unterworfen blieben, auch mit der
Erwartung entsprechender Vorrechte verbunden ist, wie weit hergeholt
dieser Gedanke auch immer sein mag.
Doch kehren wir zurück zu dem Lied »Mitten wir im Leben sind mit
dem Tod umfangen.« Martin Luther hat dem Vorgefundenen Hymnus
zwei Strophen hinzugefügt. In einer dieser Strophen fragt er: »Wo solln
wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?« Das Gefühl der Bedroht-
heit kommt zur Sprache. »Wo bleiben?«, ist noch existenznäher gefragt
als »Was bleibt?«. Der Tod ist hier die härteste Probe. Wer auf die eine
Frage antwortet »Nichts bleibt«, und erst recht, wer auf die andere Frage
antwortet: »Nirgendwo«, spielt mit unabsehbaren Konsequenzen, ko
kettiert am Rande des Abgrunds mit eben diesem Abgrund. Aber hart
am Abgrund gefragt werden muss schon, wenn tragender Grund ge
funden werden soll, auf dem der Macht des Todes Paroli geboten wer
III.
»Durch seinen Tod wird der Tod getötet«, sagt Luther wiederholt vom
Tod Jesu von Nazareth. Der Tod Christi wird als »Tod des Todes« ver
standen. Das nötigt dazu, theologisch nicht allgemein, sondern kon
kret, nicht abstrakt, sondern in einer unüberbietbaren Bestimmtheit
vom Tod zu reden. Unüberbietbar ist diese Bestimmtheit deshalb, weil
am Tod eines Menschen abgelesen wird, was vom Tod überhaupt zu sa
gen ist, und weil am Tod dieses einen Menschen darüber hinaus abge
lesen werden soll, wie Gott zum Tod des Menschen steht. Das erklärt,
warum die frühen christlichen Glaubensbekenntnisse diesem Zusam
menhang so breiten Raum einräumen, einen im Verhältnis zur Kärg
lichkeit ihrer Aussagen über das Leben Jesu geradezu üppigen Raum:
Von Jesus Christus sagen sie - beispielsweise in den Worten des Apos
tolischen Glaubensbekenntnisses - , er sei »gekreuzigt, gestorben und
begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auf
erstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.« Der Karfrei
tagstod ist auf der einen Seite ein Tod wie jeder andere; das Todesge
schehen selbst ins Unermessliche zu steigern - wie Mel Gibsons Film
»Die Passion Christi« das tut -, führt von daher eher in die Irre. Aber ge
rade in seiner Verwechselbarkeit - zur gleichen Zeit starben auch zwei
andere am Kreuz, rechts und links von Jesus - gewinnt dieser Tod etwas
Einmaliges, weil Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert. An diesem
einen Menschen nimmt er dem Tod die Macht; an diesem einen Men
schen durchbricht er den Zusammenhang von Sünde und Tod, von
Selbstverkrümmung des Menschen und Todverfallenheit. Und dies ge
schieht, so bekennt es die Christenheit seitdem, allen Menschen zu
Gute. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort; darum kreist das christli
che Bekenntnis zur Auferstehung Christi wie die Hoffnung auf eine all
gemeine Auferstehung.
Würdigen kann man diese Wendung nur, wenn man sie nicht als selbst
verständlich nimmt. Im Alten Testament ist die Vorstellung einer Aufer-
IV.
Der christliche Glaube findet darin Trost, dass er den Tod als Inbegriff
menschlicher Zeitlichkeit ins Verhältnis setzt zur Ewigkeit Gottes. Er
rückt die Endlichkeit des menschlichen Lebens ins Licht der Unend
lichkeit Gottes. Er kann dies, weil er sich auf die Leidempfindlichkeit
Gottes, auf seine Compassion verlassen kann.6 In ihr gründet das Ver-
[158] -M I T T RN WI R IM L E B E N S I N D MI T D R M T O D U M F A N G RN-
> TROST AUS DER ZUVERSICHT
DES GLAUBENS
K a rl K a rd in a l Lehm ann
TH O S T AUS l)lil< Z II V I! K S I C II T I) II S (i I. A II H li N S [ l 6l ]
Skandal, auf den es keine Antwort gibt. Ja, Ijob schleudert sogar Gott
selbst harte Fragen und Anklagen entgegen: »Hast du die Augen eines
Sterblichen, siehst du, wie Menschen sehen?« (10,4). Oder mit Ps 77:
»Hat seine Huld für immer ein Ende, ist seine Verheißung aufgehoben
für alle Zeiten? Hat Gott seine Gnade vergessen, im Zorn sein Erbarmen
verschlossen?« (77,9f.). Schließlich wird die Klage um den Verlust ge
rade zur Anklage Gottes selbst. Der Fromme, der sich auf Gott verlässt
und ihm vertraut, rechtet mit ihm. Die Literatur und die ganze Kunst
haben sich dies über Jahrhunderte zu eigen gemacht, besonders wenn
es um das Leid und Leiden von unschuldigen Kindern geht. Viele sind
gewiss bis zum heutigen Tag darum am Glauben gescheitert. Jedenfalls
liegt hier eine tiefgreifende Anfechtung und Gefährdung des Glaubens.
Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Übel in der
Welt erscheint in der Tat wie ein »Fels des Atheismus« (G. Büchner, Dan -
tons Tod, 3. Akt). Und überall tauchen die Fragen auf, ob bei F. M. Dos-
tojewskij, A. Camus oder W. Borchert: Wo warst du, lieber G ott... in Sta
lingrad, in Auschwitz und in Khao Lak? Sogar Papst Benedikt XVI.
spricht diese Fragen an, als er bei seinem Besuch in Auschwitz sagt: »An
diesem Ort kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen -
Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du ge
schwiegen? Warum konntest du dies alles dulden? In solchem Schwei
gen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die
hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind; dieses Schwei
gen wird dann doch zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung, zu
einem Ruf an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder gesche
hen lasse.«1
Der christliche Glaube weicht diesem Rätsel des Übels nicht aus.
Schließlich finden wir im Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz einen Höhe
punkt der Unfasslichkeit: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?« (Mt 27,46, Zitat von Ps 22,2, vgl. auch das Gebet im Garten
Getsemani: Mt 26,36-46, bes. 39ff.). Der Karfreitag zeigt uns nun, dass
Gott selbst das Leid nicht einfach ignoriert und abgeschieden von allem
Schmerz über uns tfiront, sondern dass Gott in Jesus Christus mitten im
Leiden ist. In seiner Sendung liegt es zweifellos auch, Leid und Leiden
unter den Menschen zu verhindern. Dies gilt auch für den leiblichen
Bereich. Darum heilt er Kranke edler Arten. Er stillt den Hunger und hält
die Menschen an, durch Umkehr zu einem anderen Leben grundsätz-
[ 164 ] T R O ST A 11 S 1) 1: R Z U V E R S IC H T DES G I. A U H E N S
> DIE »SIEBEN WORTE JESU
AM KREUZ«
Norbert A rntz
VATER, VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN
Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung geführt.
Sie kamen zur Schädelhöhe: dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den
d m : . s i k ii i; n « u i i t i ; j i : s 11 a m k k i: uz- [ 165 ]
einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,32-34)
Aber wenn sie mit Gott ihr Geschäft machen, rechnen sie nicht mit
dem Gott Jesu.
Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht
der Messias? Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zu
recht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Ur
teil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten;
dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Dann sagte er: Jesus, denk an mich,
wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Heute noch wirst du
mit mir im Paradies sein. (Lk 23,39-43)
[ 168 ] I) I K ■ S I H H H N W O R T H J H S U AM K R 1! II Z ■
Güte wird durch Gutsein nicht erfüllt, sondern vertieft.
Dies ist die Religion Jesu.
Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu sei
ner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine
Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (Joh 19, 26-27)
Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 27,46)
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem
Schreien, den Worten meiner Klage? (Ps 22,2)
MICH DÜRSTET
Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die
Schrift erfüllte: Mich dürstet. (Joh 19,28)
Und lesus rief laut: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. (Lk 23,46a)
ES IST VOLLBRACHT
Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er
neigte das Haupt und gab seinen Geist auf. (Joh 19,30)
I II n S I! I I ) A I . I . / . I I MA I . I. I-: 1 I) I (i II T R Ö S T E R ! | 177 |
ten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allem versündigte sich
Hiob nicht mit seinen Lippen.« (2,5) So weit, so gut - so konventionell,
um nicht zu sagen: geradezu heiligmäßig langweilig.
Selbst der Auftritt der drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar folgt
zunächst noch dem konventionellen Muster: »Denn sie waren eins ge
worden hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten.« Ihr seelsor
gerischer Einstieg folgt ebenfalls dem vorgegebenen pastoraltheologi-
schen Formular: Sie »erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder
zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und
saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten
nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.« Ein
Teil dessen kennen wir sogar aus Fernsehbildern, wenn wieder einmal
im Nahen Osten die Opfer von Attentätern und Kriegshandlungen be
klagt werden.
Die Freunde machen also zunächst nichts falsch. Sie reden auch nichts
Verkehrtes, haben auch keine faulen Trost- und Verharmlosungsfor
meln zur Hand, sondern schweigen erst einmal aus Solidarität. Schwei
gende Präsenz als Trosthandlung, immer noch besser als Formelklap
pern.
In dieses Klappern aber verfallen sie alsbald, und nicht nur das. Dem
geht voraus, dass Hiob sich einfach nicht trösten lässt, obwohl doch re
ligiös-rituell korrekt getröstet wurde. Und nun fängt die Geschichte an,
spannend zu werden. Den Freunden geht Hiob, der Gerechte, aus ihrer
Sicht: der Selbstgerechte, auf die Nerven. Auch das kennen wir aus ei
gener Erfahrung. Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich mich von einem
jungen Mann in der Nachbarschaft zurückzog, der mir auf die Nerven
ging, weil er mir überWochen Tag um Tag, und das fast in ritualisierter
Regelmäßigkeit, sein Leid klagte: Seine Frau hatte ihn für einen ande
ren verlassen - schnöde gewiss, aber eben nicht selten. Und ich hielt es
einfach nicht mehr aus, weder die variationslos vorgetragene Dauer-
Klage noch die Fruchtlosigkeit alles Redens und Schweigens. Geht es
uns nicht öfter so, dass wir uns von Menschen zurückziehen, deren Leid
und Leiden sie so besetzt, dass sie nichts anderes mehr sehen und sa
gen können? Und dabei brauchten sie doch gerade darin Beistand ...
Hiobs Freunde sind gute, wenn auch konventionelle Theologen - und
Hiob wird ihnen zum gefährlichen Gottesverflucher, bis dahin (aber
dies ist nur eine der vielen Zuspitzungen!), dass er Psalm 8,5-7 auf den
I II H S I! I I ) AI . I. 7, II M A I. I. II I I) I (I II T K 0 S T II R ! [ 181 ]
> BIBLISCHE MINIATUREN ÜBER
TRÖSTEN UND TROST
Erich Zenger
Das Thema »Trost« begegnet in der Bibel (wie im Leben) im Kontext von
Trauer, Schmerz, Wut und Verzweiflung, insbesondere angesichts von
Verlust- und Leiderfahrungen. Wenn und wo der Tod anderer Men
schen das eigene Leben so sehr verwundet, dass das Weiterleben
schwerfällt, ja unmöglich erscheint, wo katastrophische Erfahrungen
die Sinnhaftigkeit von Geschichte und Welt so sehr verdunkeln, dass
nur noch Klage als »Lebensatem« bleibt, und wenn Gott nicht mehr als
der nahe und gute, sondern als der zornige und vernichtende Gott »er
scheint« und erfahren wird, da taucht biblisch das Thema »Trost« auf,
allerdings auf sehr unterschiedliche Weise.
Eine erste Weise ist die explizite Weigerung, sich trösten zu lassen. Die
Bibel verteidigt an herausragenden Gestalten und in subtiler theologi
scher Reflexion das Recht auf Untröstlichkeit und den Widerstand ge
gen oberflächliche, unwürdige Vertröstungen. Sie tut dies, um den wah
ren Trost zu schützen und vor falschen Tröstern zu warnen.
Als man Jakob, dem Stamm-Vater Israels, die (falsche) Nachricht bringt,
sein Lieblingssohn Josef sei von wilden Tieren zerrissen und aufgefres
sen worden, vollzieht er zwar zu Ehren seines Sohnes die traditionellen
Trauerriten (Gen 37,34: Zerreißen seines Gewandes, Anlegen des grob
gewebten »Sacks«), aber »er weigert sich, sich trösten zu lassen« (Gen
37,35). Er weigert sich, diesen Tod seines Sohnes, der Teil seines Lebens
war und bleibt, einfach hinzunehmen und zum alltäglichen Leben zu
rückzukehren. Der einzige Trost wäre für Jakob, so sagt er in Gen 37,35,
zu seinem toten Sohn in die Scheol hinabsteigen zu können. Für die Le
ser der Geschichte ist es ohnedies paradox, dass ausgerechnet die Brü
der Josefs, die ihrem Vater diesen Verlust verursacht haben, ihn nun
trösten wollen. Dazu sind sie unfähig, weil sie die Wunde nicht verste
hen können, die dieser Verlust ihrem Vater geschlagen hat. Sie können
das deshalb nicht, weil sie die besondere Liebe des Vaters zu Josef nicht
respektiert und akzeptiert haben (vgl. Gen 37,4). Wer trösten will, muss
wahrhaft und vorbehaltlos den Schmerz und die Trauer des zu Trösten
den teilen.
Auch von der im Grab liegenden Stamm-Mutter Rahel heißt es in Jer
31,15: »Rahel weint über ihre Kinder und weigert sich, sich trösten zu
lassen über ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.« Rahel weint und
Man kann das Buch Ijob in mehrfacher Hinsicht als Buch über den Trost
lesen. Es setzt sich kritisch mit Tröstungsstrategien auseinander, die das
Leid und den Leidenden nicht ernst nehmen, sondern ihm als Tröstung
eine theologische Lehre vorlegen, der er sich unterwerfen soll, um so
das von ihm als irrational empfundene Leid, sowohl sein eigenes als
Diese letzten Worte, die das Ijobbuch den Ijob reden lässt, formulieren
eine Antithetik von Gotteswissen aus tradierter Lehre (»Hörensagen«),
repräsentiert durch die Freunde Ijobs, und innerer Gotteserfahrung
(»Gottesschau«), die dem mit Gott gegen Gott kämpfenden Ijob zuteil
geworden ist - als Trost und als Geschenk Gottes. Zum einen hat die
»Gottesschau« Ijob zu einer neuen Gottesbeziehung geführt, die ihn
dazu bewegt, die Beschuldigung Gottes als »Verbrecher« und »Versager«
aufzugeben. Dass Gott sich ihm und nicht seinen »gelehrten« Freunden
zugewandt hat, zeigt ihm, dass er von seinem Gott in seinem Schmerz
und in seiner Klage ernst- und wahrgenommen wurde. Zum anderen ist
er zu dieser Einsicht nur gelangt, weil er vor Gott sein Herz ausgeschüt
tet hat. Dabei hat er »Aufatmen« und Trost gefunden - »mitten in Staub
und Asche«: wenn dieser Gott mit ihm ist, kann er in das Leben »ge
tröstet« zurückkehren, wie der (keineswegs idyllisch gemeinte) Schluss
des Buches dann zeigt.
II I II I I S ( II I M I N I A T II K i: N (t II I; K T R f t S T K N UNO TR O ST [187]
> JERUSALEMS ZW EIFEL AM TROST
E d n a Brocke
[ 188 ] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
innert. Der Schabbat nach diesem Gedenk- und Fasttag gehört zu den
»ausgezeichneten Schabbat-Tagen«, denn nach der Trauer um den
zerstörten Tempel folgt der Trost: Schabbat nachamu. Er hat diesen
Namen bekommen, da die zweite Lesung an diesem Schabbat mit
»’OS? ram i n m - nachamu nachamu a m i...« tröstet, tröstet m ein V olk...
(Jesaja 40,1) beginnt.
Und wie vertröstet ihr mich eitel, und eure Antwort bleibt Betrug (Ijob 21,34)
Es sagte Rabbi Abba bar Kahana: Eure Worte bedürfen der Polierung, und un
sere Lehrer sagen: Eure Worte sind widersprüchlich. Der Heilige, gepriesen sei
er, sagte zu den Propheten: Geht und tröstet Jerusalem.
Es ging Hosea. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: Sein will ich wie d e r Tau f ü r Israel (Hosea 14,6). Sie sagte:
Gestern sagtest du: Geschlagen ist Efrajim, verdorrt ihre Wurzel, F ru ch t tragen
sie nicht (Hosea 9,16) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben?
Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Toel. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: u n d es wird sein a n je n e m Tag d a triefen d ie Gebirge Most,
die H öhen strömen Milch (Joel 4,18). Sie sagte: Gestern sagtest du: Erwachet,
Trunkene, u n d weint; heult, all ih r W eineszecher; des Mostes wegen, dass e r eu ch
getilgt vom M u n d (Joel 1,4) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Arnos, um Jerusalem zu trösten und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: An je n e m Tag werde ich aufrichten d ie stürzende H ütte D a
vids (Arnos 9,11). Sie sagte: Gestern sagtest du: Gefallen ist, steht nicht m eh r
auf, die Jungfrau Israel (Arnos 5,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich
glauben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Micha, um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: Wer ist wie du, ein Gott, d er Schuld vergibt (Micha 7,18). Sie
sagte: Gestern sagtest du: Ob Jaakows Frevel all dies, u n d ob d e r Schuld des
Hauses Jissrael (Micha 1,5) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
| 1! IU I S A I. li M S Z W F. 11 -1; I. a m i ko st [ 1891
Es ging Nachum. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: D enn nicht m eh r zieht d er ruchlose durch dich, ganz ist
e r vernichtet (Nachum 2,1). Sie sagte: Gestern sagtest du: Von d ir g in g aus, d er
gegen ihn, den Ewigen, Böses sann, Ruchloses plante (Nachum 1,11) und heute
sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten oder der zweiten Aus
sage?
Es ging Chawakuk. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, geprie
sen sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst
du mit dir? Er sagte zu ihr: Zogst aus zu deines Volkes Hilfe, zu Hilfe deinem
Gesalbten (Chawakuk 3,13). Sie sagte: Gestern sagtest du: Wie lange schrei ich
auf, o Ewiger, u n d hörst d u ’s nicht, r u f zu d ir >Raub<, u n d hilfst d u nicht (Cha
wakuk 1,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten
oder der zweiten Aussage?
Es ging Zefanjah. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: Und es wird sein zu je n e r Zeit, da such ich a b Jeruscha-
lajim m it Lichtern (Zefanjah 1,12). Sie sagte: Gestern sagtest du: Ein Tagdes
Grimms ist je n e r Tag, ein Tag von Engnis u n d Bedrängnis, ein Tag von Graun
u n d Grausen (Zefanjah 1,15) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Chagaj. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: Ist noch d ie Saat im Speicher, u n d hat noch d ie Rebe, die
Feige, die Granate u n d d e r Ölbaum nicht getragen? (Chagaj 2,19). Sie sagte:
Gestern sagtest du: Gesät habt ihr viel, u n d einzubringen gibt es w enig (Chagaj
1,6) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten oder der
zweiten Aussage?
Es ging Secharjah. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, geprie
sen sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst
du mit dir? Er sagte zu ihr: U nd großen Zorn zü rn e ich ü b er d ie sorglosen Völker
(Secharjah 1,15). Sie sagte: Gestern sagtest du: Gezürnt hat d e r Ewige ü b er eure
Väter (Secharjah 1,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der
ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Malachi. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: D a n n werden eu ch alle Völker glücklich preisen, d en n
[190] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
(Midiichl 11,12). SU» sagte: (leslem siigli'Nl du:
ihr werdet nl/i Lund der Lust sein
(Midiichl 1,10) und
Ich habe keine Lust zu euch, spricht d er Hielte d e r S ch ä m t
heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Her ersten oder der /.weiten
Aussage?
So gingen die Propheten zum Heiligen, gesegnet sei er, und sagten ihm: Herr
der Welt, Jerusalem hat den Trost nicht angenommen. So antwortete der Hei
lige, gesegnet sei er, ich und ihr werden gemeinsam gehen und sie trösten.
Tröstet, tröstet m ein Volk (Jesajah 40,1). Tröstet, tröstet sie, die Oberen und die
Niederen, tröstet sie, die Lebenden und die Toten, tröstet sie in dieser Welt
und tröstet sie in der zukünftigen Welt, tröstet ihre zehn Stämme und tröstet
den Stamm Jehudah und den Stamm Benjamin, Oh tröstet tröstet m ein Volk,
Tröstet mich, tröstet mich mit mir.
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[192] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
ein Vergleich zwischen Gewesenem und Zukünftigem nlclil misrclchcn
konnle. Er wurde mit einem Trost verglichen, der einer Irisch-verwit
weten jungen Frau gegeben wird, indem ihr die Aussicht vermittelt
wird, dass ihre zweite Ehe eine weit glücklichere sein könnte als die
erste. Während bei ihr das Gefühl vorherrscht: Nichts wird mehr so sein,
wie es einst war.
Ob der Midrasch uns nahebringen möchte, dass die Funktion des Tros
tes darin begründet liegt, eine solche Diskrepanz zu überbrücken und
sich bemüht, eine andere Qualität einzuführen? So ist mehr als die fak
tisch-praktische Ebene angesagt. Der Tröster - als unabhängige Größe
von Intimität - muss dem Traurigen/Trauernden jenen Ruheort ver
mitteln, der, wenn man so will, das Zeitlose, die Ewigkeit als den >Ort des
Trostes< nahebringen will.
Das Dilemma der Propheten liegt also nicht in einer fehlenden Zuver
lässigkeit der Personen, sondern in der Auffassung, dass nicht ein
Mensch, auch nicht ein Bote, den Trost überbringen kann. So sieht der
Midrasch es vor, dass die Boten ihre Aufgabe an Gott zurückgeben.
1 J. B. Metz, Ober den Trost, in: Notwendige Bücher. Heinrich Wild zum 65. Geburtstag,
München 1974,125f.
1 5. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders., G esam m elte Werke, Frankfurt/M.
1991, Bd. XIV, 419-506; 444.
2 J. Joyce, Die Toten, in: Ders., Dubliner, Frankfurt/M. 1967,179-229; 228.
3 J. Didion, Das Jahr magischen Denkens, Berlin 2008.
4 S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Gesammelte Werke (vgl. Anm. 1), Bd. XIV
323-380; 332.
5 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (vgl. Anm. 1), bes. 421-431.
6 S. Freud, ebd., 423.
7 S. Freud, ebd.
8 S. Freud, ebd., 424.
9 S. Freud, ebd., 430.
10 S. Freud, Trauer und Melancholie, in: Ders., Gesammelte Werke (vgl. Anm. 1), Bd. X,
427-446; 430.
11 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (vgl. Anm. 1), 432.
12 D. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1974.
13 D. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: Ders., Vom Spiel zur
Kreativität (vgl. Anm. 12), 10-36; 23.
14 D. Winnicott, ebd.
15 D. Winnicott, Die Lokalisierung des kulturellen Erlebens, in; Ders., Vom Spiel zur Krea
tivität (vgl. Anm. 12), 111-120.
16 Vgl. etwa: Vicki Hearne, Adam’s Task: Calling Animais by Name, New York 1986.
17 Vgl. zu derartigen Beispielen die großartige Studie von Tilmann H aberm as, Geliebte
Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt/M. 1999.
[194] ANMERKUNGEN
WIDHH Dili STILLE
Carl Wilhelm M acke
KOLLEKTIVE ENTSCHULDIGUNG -
»TROSTFRAUEN« IM ZWEITEN WELTKRIEG
Claus Leggewie
1 Literatur: Y. Tanaka, Japan’s Comfort Women: Sexual Slavery and Prostitution During
World War II and the US Occupation, London 2002; Y. Yoshimi, Comfort Women: Se
xual Slavery in the Japanese Military During World War II, New York 2000.
1 /. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von M. B oila
cher, Frankfurt/M. 1989 (Werke Bd. 6), 343.
2 Diesesund die folgenden Zitate: G.F.W. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. von
J. Hoffmeister, Hamburg 51955,79-81.
3 »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben;...« [G.F.W. Hegel, Phäno
menologie des Geistes [Werke in 20 Bänden, Bd. 3], Frankfurt/M. 1973,492).
4 L. von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hg. von V. Dotterweich u .W .R Fuchs (Aus Werk
und Nachlaß, Bd. IV), München 1975,124-126; 124.
5 L. von Ranke, ebd., 185.
6 L. von Ranke, ebd.
7 L. von Ranke, ebd., 124f.
8 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Gesamtaus
gabe, hg. von R. Stadelmann, Pfullingen 1949, 26 [/. Burckhardt, Werke: Kritische Ge
samtausgabe in 27 Bänden: Bd. 10: Ästhetik der Bildenden Kunst - Über das Studium
TRÖSTLICHE PHILOSOPHIE?
Ludwig Siep
BEI TROST?
Jürgen Werbick
( 196 ] ANMERKUNGEN
2 Dazu die Artikel in: THATII, 59-66 (H .J. Stoebe); ThWATV, 366-384 (H. Simian-Yofre),
die betreffenden Passagen in: J. Jerem ias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn?21997,
ferner die wichtige Erörterung zur Wurzel n-ch-m bei: 1. Willi-Plein, Hiobs Widerruf?,
FS I. L. Seeligmann, III, Jerusalem 1983, 273-289, sowie jetzt v.a. die noch unveröf
fentlichte Dissertation von/. -D. Döbling, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des
Motivs der Reue in der Endgestalt der Hebräischen Bibel, Marburg 2007.
3 Die Frage spitzt sich zu, wenn sie mit dem biblischen Schnittpunkt von Theologie und
Anthropologie zu tun bekommt, nämlich der grundlegenden und Grund legenden
Rede von der Gottesbildlichkeit des Menschen in Gen 1. Zugespitzt formuliert: Wenn
Gott nicht affizierbar ist, möchte ich nicht »Bild Gottes« sein.
4 E. Benyoetz, Allerwegsdahin, Zürich/Hamburg 2001,199.
5 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, Bd. 3,1514.
6 Hier verdienen gerade die Stellen der Bibel und ihrer Lektüregeschichte Aufmerksam
keit, an denen sich Gott von Menschen bewegen lässt, um zur eigenen Identität zu
rückfinden. Man denke an Noahs Opfer (Gen 8,20f.), nach welchem Gott der sozusa
gen »zweitbesten aller möglichen Welten« Bestand garantiert, obwohl der Mensch
fürderhin kaum anders ist als im vorhergehenden Urteil Gottes (Gen 6,5ff.), das ihn zur
Reue darüber brachte, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Man denke weiter an den
Einsatz des Mose für das von Gott zur Vernichtung bestimmte Volk (Ex 32,11) - eine
Stelle, die noch dramatischer wird, wenn man die Wendung wajechal moschä (mit ei
ner rabbinischen Lesart) von ch-1-1 ableitet, wonach Mose Gott von dem schreckli
chen Dilemma »entbindet«, entweder sein Wort nicht wahr zu machen oder dessen
Bewahrheitung auf Leichenbergen zu errichten (zu dieser Lesart J. Taubes, Die politi
sche Theologie des Paulus, München 1993, bes. 45). Dazu gehört auch die aufregende
Stelle im Traktat Berachot des Babylonischen Talmud (Blatt 7a), nach welcher Gott des
Segens durch einen Menschen bedürfen will, damit Gottes Eigenschaft der Barmher
zigkeit über die Eigenschaft des Gerichts - man kann auch sagen: damit Adonaj über
Elohim - obsiegen möge (dazuAf. L. Frettlöh, Theologie des Segens, Gütersloh 52005,
393-399).
7 W. Benjamin, GS 1/2, Frankfurt/M. 1974,683.
8 W. Benjamin, ebd.
9 E. Benyoetz, Treffpunkt Scheideweg, München/Wien 1990,60.
10 T. W. Adorno, Negative Dialektik, GS 6,391.
11 T. W. Adorno, Minima Moralia, GS 4,26.
12 Die Bemerkung findet sich in W. Benjam ins Kafka-Essay, GS II/2,432, sowie in: Ders.,
»Denkbilder«, GS IV/1,419.
13 Einige Hinweise auf weitere Arbeiten des Verf.s im Umfeld des Themas, in denen an
etlichen Stellen explizit und an sehr viel mehr Stellen implizit deutlich wird, wie viel
sie ). B. Metz verdanken: Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals, Frank
furt/M. 1987; Vergangene Zeit und Jetztzeit. Walter Benjamins Reflexionen als Anfra
gen an biblische Exegese und Hermeneutik, EvTheol 52 (1992) 288-309; Apokalypse
und Apokalyptik, in: H. Schmidinger (Hg.), Zeichen der Zeit. Erkennen und Handeln,
Innsbruck 1998,213-273; Weil das, was ist, nicht alles ist. Theologische Reden 4, Frank
furt/M. 1998; Messianismus und Utopie, Kirche und Israel 15 (2000) 68-85; Zeit als
Frist. Zur Lektüre der Apokalypse-Abschnitte in der Abendländischen Eschatologie,
in; R. Faber u. a. (Hgg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg
2001, 75-91; Art.: Eschatologie/Apokalypse, in: NHThG 1, 2005, 260-272; Ders.IM.L.
Frettlöh!H. Gutmann/M. Weinrich (Hgg.), »Dies ist mein Leib«. Leibliches, Leibeige
nes und leibhaftiges bei Gott und den Menschen, Jabboq 6, Gütersloh 2006.
ANMIUIKHN1.ÜN | 11) / |
»NICHTS KANN UNS TRÖSTEN!« (?)
Siegfried J. Schm idt
1 »Ein schrecklicher Unfall hat uns unsere (...1 genommen. Nichts kann uns trösten!«,
Todesanzeige in den Westfäl. Nachrichten vom 22.11.2007.
2 Vgl. J. Mitterer, Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprin
zip, Wien 1992. - S. J. Schmidt, Geschichten & Diskurse, Reinbek bei Hamburg 2003.
3 »... dass uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jah
ren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht
oder unglücklich zu sein. [.. .1 Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber
was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann.«
(3. Pascal, Pensées, Kap. I, Abt. 1; zitiert nach der Ausgabe der Gedanken in der Die-
trich’schen Verlagsbuchhandlung Leipzig o. J.)
4 »... dass es nur zwei Arten von Menschen gibt, die man vernünftig nennen kann; jene,
die Gott von ganzem Herzen dienen, weil sie ihn erkennen, oder jene, die ihn von gan
zem Herzen suchen, weil sie ihn nicht erkennen.« (B. Pascal, Pensées, Kap. I, Abt. 1, vgl.
Anm. 3)
5 N. Bolz, Mensch-Maschine-Synergetik unter neuen Medienbedingungen. In: Symp
tome 11/93,34-37; 37.
6 B. Pascal, Pensées, Kap. I., Abt. 55 (vgl. Anm 3).
1 Vgl. B enedikt XVI., Wo war Gott? Die Rede von Auschwitz. Mit Beiträgen von E. Wieset
W. Bartoszewski, J. B. Metz, Freiburg i. Br. 2006,9.
[ 198] ANMERKUNGEN
JERUSALEMS ZWEIFEL AM TROST
E dna Brocke
1 Midrasch (EH1D) kommt von der hebräischen Wurzel (O, “I, ”1) d,r,sch, = fordern. Der
Text wird ss. Midrasch bezeichnet eine der Weisen, in denen die Rabbinen die Jüdische
Bibel auslegten. Sie suchten nach den wörtlichen Bedeutungen des Textes, ebenso
fragten sie aber auch nach den grundsätzlichen Aussagen.
Es ist eine Auslegungsmethode, die vornehmlich rechtliche Themen erklärt und
Schlüsse zieht. Um dem Leser die juristischen Schlüsse näherzubringen, verwendet
der Midrasch unterschiedliche literarische Formen wie Erzählungen, Gleichnisse, Le
genden u. a.
2 Diese Ausgabe ist im Internet unter folgender Adresse:
http://www.daat.ac.il/daat/vl/tohen.asp?id=166 zu finden.
3 Die biblischen Verse sind der Übersetzung von EI. Torczyner, Jerusalem 1954 entnom
men. Die Midrasch-Hommlilie selbst habe ich übersetzt.
A N M M H K U N (■ I! N [ U)i) |