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TIEMO RAINER PETERS/

CLAUS URBAN (HG.)


ÜBER DEN TROST
F ü r Jo h a n n Baptist M etz

MATTHIAS
GRÜNEWALD ß.
VERLAG V°/
> ÜBER JO H A N N BAPTIST METZ

Johann Baptist Metz, geboren am 5. August 1928 im heutigen Auerbach


(Oberpfalz), lehrte von 1963-1993 Fundamentaltheologie an der Ka­
tholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universi­
tät Münster. 1966 war er Mitglied des Gründungsausschusses der
Reformuniversität Bielefeld und Gründungsbeauftragter für ein bikon-
fessionelles, interdisziplinäres Theologisches Institut ebendort, 1971-
1975 Berater bei der Synode der Deutschen Bistümer. Seit 1982 ist er
Mitglied im Beirat des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen
(Wien). In den Jahren 1993-1998 war er Gastprofessor für Religionsphi­
losophie und Weltanschauungslehre an der Universität Wien, 1994 er­
hielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Wien, 2002 die Buber-Ro-
senzweig-Medaille und 2007 den Theologischen Preis der Salzburger
Hochschulwochen. Metz ist Autor und Herausgeber zahlreicher, für die
intellektuelle und theologische Diskussion maßgeblicher Veröffentli­
chungen und Begründer der neuen Politischen Theologie.
INHALT

Vorwort__8

Über den Trost__10


Joh an n Baptist Metz

Trost versus Tröstung__12


H artm ut von Heutig

Diskrete Religion__19
Thom as Assheuer

Untröstlichkeit_23
Werner Post

Entmächtigungen der Realität_30


Axel Honneth

Alles aus Worten__38


Hans-Gerd Schwandt

Schwacher Trost_44
Christoph Türcke

Von den Zwillingen: Tod und Trost_47


Günther Bernd Ginzel
Trost - das mütterlichste aller Wörter__52
Fulbert Steffensky

Wider die Stille__56


Carl Wilhelm M acke

Trost der Ichfreundlichkeit__60


Friedrich M eschede

Die Trostlosigkeit der Kinder_68


Franz-Xaver K aufm ann

Kollektive Entschuldigung? - »Trostfrauen« im Zweiten Weltkrieg__73


Claus Leggewie

Leidensverdrängung und Trostbedarf im historischen Denken__76


Jörn Rüsen

Tröstliche Philosophie?__85
Ludwig Siep

Bei Trost?__93
Jürgen Werbick

»Komm Trost der W elt...« - __100


Untröstlichkeiten und Trost in der Literatur
Wolfgang Früh w ald

Erinnerungen gegen das »Schicksal«__107


Jürgen Ebach

»Nichts kann uns trösten!« (?)__113


Siegfried J. Schm idt

Technik, Trost und schlaue Pillen__117


Alexander Kissler
Englischer Trost/Consolatio angelica__124
Thom as Rüster

Trost, von außerhalb m ir...__130


Eckhard N ordhofen

Lebenstrost__136
Katrin Göring-Eckhardt

»Sorget nicht!«__141
Wolfgang Thierse

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen__146


Klaus Berger

»Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«__152


Wolfgang Huber

Trost aus der Zuversicht des Glaubens__159


Karl K ardinal Lehm ann

Die »sieben Worte Jesu am Kreuz«__165


N orbert Arntz

Ihr seid allzumal leidige Tröster!__176


Robert Leicht

Biblische Miniaturen über Trösten und Trost__182


Erich Zenger

Jerusalems Zweifel am Trost__188


Edna Brocke

Anmerkungen__194

Autorinnen und Autoren__200


> VORWORT

ieses Buch Über den Trost ist ein Geschenk für Johann Baptist
D Metz, den Achtzigjährigen. Eines, von dem wir hoffen können,
dass es ihn erfreut - weil er es sich selbst gewünscht hatte, damals, in ei­
nem Bändchen für den Verleger Heinrich Wild (Notwendige Bücher,
München 1974) des Kösel-Verlages. Notwendig fand er es dort, Über
den Trost zu schreiben und erläuterte seinen Gedanken in einem be­
merkenswerten Text, der nun auch wieder diesen Band eröffnet und der
zuvor allen an ihm beteiligten Autoren zugegangen war - weniger als
Einladung zur Interpretation, denn als Bitte, die Passage in ihrer su­
chenden Tendenz oder im Widerspruch zu ihr weiterzudenken und
zwar nicht nur im Blick auf den religiösen Trost, sondern den ganzen,
den »Trost der Welt«.
Unter den »Dialogfetzen«, die Johann Baptist Metz 1969 aus seinen Ge­
sprächen mit Ernst Bloch in einem kleinen theologisch-politischen Ta­
gebuch festgehalten hatte (Unterbrechungen, Gütersloh 1981, 62), fin­
det sich dieser Einwand Blochs an die Adresse der Theologen: »Wenn
ihr schon trösten wollt, dürft ihr nicht spitzfindig werden«. Der Trost,
der trösten können soll, muss evident sein, er entzieht sich der um­
ständlichen Begründung ebenso, wie der wortreichen Apologetik, nicht
zuletzt darum, »weil Trost Suchen heißt« (Kafka, Tagebücher) und ein
altes biblisches Versprechen enthält: »Wer sucht, der findet«.
Dieses Buch weigert sich, eine Festschrift der üblichen Art zu sein.
Keine Huldigungen, keine Werkinterpretationen, keine Sammlung
fachspezifischer Beiträge. Insider-Reflexionen und einen allzu selbst­
verständlichen Umgang mit den Begriffen der Metzschen Theologie
sollte es nicht geben. Gefragt worden sind deshalb keine Schüler. Wir
bitten um Verständnis! Auch Kollegen der theologischen Zunft sind die

|H| V (I l( VC () II I
Minderheit in diesem Band, der liraktathaftes und Monografisches über
den Ttost gerne anderen Büchern überlassen möchte. In dem hier vor­
liegenden wird der Trost nahegebracht oder infrage gestellt, einge­
grenzt oder ausgeschlossen, nirgendwo jedoch definiert, schon gar
nicht als vorrätig und verfügbar betrachtet. Aber gerade dort, wo die
Texte ihn nicht beschwören, sondern nur umkreisen und eher aus der
Ferne wahrnehmen - skeptisch oder aus Scheu - , ist offenkundig, dass
sie ihn schützen, und sich den Trost auf keinen Fall zerreden oder aus-
reden lassen wollen.

Münster und Ahaus a m 5. August 2008


Tiemo R ainer Peters und Claus Urban

vimwnirr
> Ü BER DEN TROST
Jo h a n n Baptist M etz

otwendig erscheint mir ein Buch über den Trost, über die Trös­
N tungskraft der Religion. In ihm dürften freilich nicht einfach die
von der Gesellschaft verweigerten oder auch bereitwillig angebotenen
Tröstungsmuster und Tröstungsfunktionen der Religion bestätigt oder
reproduziert werden. Es müßte deshalb von einem Lebenstrost spre­
chen, der weder von vornherein als »Opium« marxistisch-ideologiekri­
tisch entlarvt noch als »Enttäuschungsabsorption« systemtheoretisch
oder auch psychoanalytisch konzediert bzw. gar gesucht wird. In die­
sem Buch müßte z. B. von der tröstenden Kraft der Religion die Rede
sein angesichts jener großen Verletzungen und Demütigungen des
Menschen und seines Selbstbewußtseins, die ihm (z. B. nach Freud)
neuzeitlich zugefügt worden sind: durch die kopernikanische Entthro­
nung der menschlichen Welt als des Mittelpunkts des Alls, durch Dar­
wins Rückkoppelung der Menschengeschichte an die Naturgeschichte
und die Auslieferung des menschlichen Subjekts an die anonymen Wo­
gen einer Evolution, die es gewissermaßen vom Rücken her ständig
überrollen, und schließlich durch die freudianische Relativierung
menschlichen Bewußtseins, seiner Ideen, Utopien und Hoffnungen auf
die dunklen Tiefen und Untiefen des Unbewußten hin. Ein solches
Buch über den Trost der Religion, das sich den Herausforderungen des
neuzeitlichen Schicksals des Menschen redlich zu stellen sucht, müßte
seinerseits freilich wie ein Angriff auf vieles sein, das uns neuzeitlich
teuer geworden ist, vor allem auf die einseitig vorherrschende Bestim­
mung des Menschen als eines Herrschaftssubjekts gegenüber Natur.
Ein solches Buch müßte die Diagnose Mitscherlichs über »Die Unfä­
higkeit zu trauern« weit über die jüngere deutsche Geschichte hinaus

|in | 0 II I' H I) I' N I l<UM


zu einer Pathologie des neuzeitlichen Menschen überhaupt erweitern
und sichtbar machen, wie diese »epochale« Unfähigkeit Hand in Hand
geht mit der Unfähigkeit, sich trösten zu lassen. Dieses Buch müßte die
tröstende Kraft der Rede von Gott und von der verheißenen Unsterb­
lichkeit (für die anderen, die »Geringsten unter den Brüdern«, die längst
Besiegten und darin auch für uns selbst) gerade an den Widersprüchen
unserer geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung zum Leuchten
bringen (und es wäre so durchaus auch ein »gesellschaftskritisches«
Buch). Es müßte jenen (öffentlichen) Denk- und Erzählverboten, jener
(öffentlichen) Tabuierung von Fragen und Empfindungen, jenen »Ver­
blendungszusammenhängen« nachspüren, die gerade unsere kritisch
aufgeklärte Gesellschaft nachhaltig bestimmen: Trauerverbot, Melan­
cholieverbot; Bann eines heimlichen Unschuldswahns; Herrschaft ei­
ner völlig apathischen, fühllosen Rationalität, anhaltende Flucht vor
dem eigenen und fremden Leiden, Berührungsangst vor den Toten und
Tabuierung der Frage nach ihrem Schicksal und nach der anhaltenden
Sinn-Solidarität mit ihnen; Unterschlagung des Verdachts, daß auch
Reserven an Sinn und Lebensdeutung zur Neige gehen können und daß
auch ein forscher Optimismus des Fortschritts über die wachsende In­
haltslosigkeit menschlicher Zukunft, über eine drohende Apotheose
der Banalität nicht hinwegtäuschen kann, sondern gedankenlos den
Tod des Menschen (als Subjekt und Freiheit) beschleunigt usw.1

0 li I! It I) l: N l ltosr | ii |
> TROST VERSUS TRÖSTUNG
H artm ut von H entig

as Wort Trost kann nur der verstehen und wird nur der überzeu­
D gend verwenden, der Trost erfahren hat. Ja, es spricht viel dafür,
dass nur der sich nach Trost sehnt, dem er zuteilgeworden ist. Es kann
einer dringend Trost benötigen und nicht wissen, was er da entbehrt, -
es hat ihn in den Augenblicken, in denen er ihn brauchte, niemand in
die Arme genommen, niemand hat ihm gesagt »Ich verstehe dich und
deinen Kummer«, niemand hat ihm ungefragt einen Tee bereitet, das
hier fällige Schubert-Lied aufgelegt, das heimholende, klärende, Wun­
der wirkende Gedicht vorgelesen. Dieser Mensch wird klagen: Keiner
versteht mich, keiner trägt mit, keiner steht mir bei. Er wird fragen: Wa­
rum trifft es mich? Warum ist die Welt so unmenschlich? Was hat das al­
les für einen Sinn? Er könnte sogar fragen: Warum ist das Leben so
»trostlos« - und damit anderen ein Wort nachreden, mit dem diese of­
fenbar die äußerste Ödnis bezeichnen wollen, ohne zu verraten, was
der Trost ist, der hier fehlt.
Dass es viele Menschen gibt, die Trost nicht kennen, ist unwahrschein­
lich, wem er nicht zuteilgeworden ist, der hat ihn vielleicht selbst erteilt.
Wir kommen nicht umhin, Menschen zu begegnen, deren großes oder
kleines Leid uns anrührt. Wir haben Mitleid, wollen das Leid mindern
oder den von ihm Gebeugten aufrichten. Wir werden das nicht immer
können und werden dann etwas tun, was dem anderen immerhin un­
sere Bereitschaft zeigt: Wir »trösten« - was auf vielfältige Weise gesche­
hen kann. Meistens freilich ver-trösten wir nur. Ich zweifle, ob es mir
selbst je gelungen ist, einem Menschen tatsächlich »Trost« zu geben.
»Hilfe« ist bescheidener und manchmal auch mehr.I

I u I THUS T V I: II S II S T II ("> s t II N (.
Man sieht: Trost kann zugleich eines der großen Wunder und ein schwa­
cher Vorgang, eine hilflose Ersatzhandlung sein - eben eine Vertrös­
tung. Wir bezeugen dem Adressaten unseren guten Willen, weil wir sei­
nen Verlust nicht ungeschehen machen, seinen Schmerz nicht
beseitigen, seine Verfehlung nicht aufheben können.
Trotz dieser Widersprüchlichkeit, trotz seiner heiklen, schwer fassbaren
Bedeutung wird das Wort Trost viel und herzhaft gebraucht-vornehm ­
lich, wo das Bedürfnis nach ihm ausgesprochen wird. Auch auf die Ver­
heißung von Trost kommt ein großer Anteil seiner Verwendung. Im an­
spruchsvollen, gewichtigen Sinn - also nicht als Umschreibung von
Beschwichtigung oder Ablenkung, von Fürsorge oder Abhilfe - dürfte es
so selten sein wie das gemeinte Erlebnis selbst.
Auch ich habe das Wort sicher oft gebraucht. »Sicher« verrät, dass ich
nicht sicher bin, ob immer ernsthaft und genau. Der Leser kann unbe­
sorgt sein: Ich werde nun nicht etwa meine eigenen Äußerungen prü­
fen und das Ergebnis hier vorlegen. Ich versuche, mich der Bedingung
des richtigen, nicht oberflächlichen, nicht gefühligen Gebrauchs zu
versichern. Wann habe ich Trost erfahren, so dass ich darüber schreiben
und reden kann? Wofür verwende ich das Wort Trost, wenn ich für das
Gemeinte einstehen soll? Was habe ich für Zeugen?
Plötzlich werden die Anlässe rar. Gewiss hat der vierjährige Hartmut in
den Armen von Salme, der estnischen Kinderfrau, die in meiner Kind­
heit die Mutter vertrat, Trost gefunden. Ich trug ihr meine Not zu; ich
weinte mich aus; sie verstand, auch ohne dass ich etwas sagte, was mich
bedrückte - ein verloren- oder kaputtgegangenes Spielzeug, eine Zu­
rücksetzung, eine eigene Schuld, an der ich hilfloser litt als an einem
Schmerz. Hatte ich mir wehgetan, wandte sie die Zaubersprüche der
Erwachsenen an; diese nahmen den Schmerz nicht, aber »Heile heile
Segen« verbunden mit Streicheln tat wohl; jemand nahm mich wahr;
Ich war nicht allein. Entscheidend war, dass Salme nicht aufhörte, be­
vor ich nicht selbst aus dem Leid ausstieg. Nun war ich geheilt - der
'IVost war mehr als nur das bezeugte Mitleid, das Gebaren von Salme ge­
wesen, mehr als ein bewährtes Beruhigungsmittel. Ihre bereitgehaltene
Liebe war der benötigte Trost.
Ich habe dies von Menschen nur noch ganz selten in meinem Leben
wiedererlebt. Überraschenderweise einmal vom Vater, von dem Stär­
kung und ermutigendes Einverständnis sonst nur in der Form von

T II O S T V I! II S II S T II 0 S T II N 0 |U |
Forderung, Vertrauen und Verlässlichkeit ausgingen. Als ich zwölf Jahre
alt war, überfiel mich eines Nachts, etwa um drei Uhr, ein furchtbarer
Schmerz in der Brust. Ich wimmerte erbärmlich; der Vater hörte es im
Nebenzimmer und er holte mich in sein Bett, legte seine Arme um mich
und redete in seinem bestimmten, nun aber auch mitfühlenden Ton:
Das sei wahrscheinlich eine Lungenentzündung, eine schwere Erkran­
kung; ein Arzt könne in den nächsten Stunden jedoch auch nichts ge­
gen die Schmerzen tun; gleichmäßige körperliche Wärme sei für mich
im Augenblick das Beste. Der Schmerz blieb, die Beruhigung trat ein,
und um acht Uhr - in zumutbarer Morgenstunde - wurde der Arzt an­
gerufen, der eine Rippenfellentzündung feststellte. Der Trost bestand in
des Vaters ungewohnter, ausdauernder, physischer Gegenwart und da­
rin, dass er nichts verharmloste, nichts vergessen machen wollte, viel­
mehr vom ersten Augenblick an die Gewissheit gab: Ich werde ernst ge­
nommen - und nicht alleingelassen. Mit anderen Worten. Der Trost war,
wie bei Salme, eins mit der einfachen, unbedingten Liebe; diese wog
alle Pein auf; mitten im Leid war die Welt doch gut. Und in beiden Fäl­
len war es die Liebe einzig dieser Person, die das vermochte. Ich komme
darauf zurück.
Suche ich weiter in d er Erinnerung, finde ich ganz wenige Lagen, in denen
mir solcher Trost zuteil wurde, hingegen viele, in denen ich mich selbst
getröstet habe, und eben sie lehrten mich, den Tröstungen zu misstrauen.
Fast immer bewirkten sie, dass ich mich mit meinem Unglück abfand -
aus Einsicht in seine Unaufhebbarkeit. Ich lernte, einen Ausgleich zu su­
chen, und wenn das nicht gelang, mich abzulenken, mich gar zu berau­
schen: mit Arbeit, mit langen Wanderungen, mit Wein - mit Berserke-
reien. Sie verwandelten das Selbstmitleid in Trotz oder in Euphorie. Ging
deren Wirkung vorüber, nahmen sie einen guten Teil der Kränkung mit.
Ich war das Schlimmste los: die Trostbedürftigkeit. Diese lässt uns im
Elend hocken, statt Auswege zu suchen. Trost-erhoffen wie Trost-spen-
den-Wollen wurden mit dem Erwachsenwerden immer seltener.
Dass ich eine hohe, ganz und gar persönliche und innerweltliche Er­
wartung an das Ereignis Trost habe, ihn jedenfalls im Rückblick aus ho­
hem Alter (vorher habe ich das Phänomen Trost nicht bedacht) nur mit
wenigen Instanzen verbinde, hängt mit deren Stärke zusammen: Den
von mir gemeinten Trost haben mir jeweils eine bestimmte Liebe, eine
mir schon vertraute Musik und ausgewählte, kostbare Dichtungen ge-

| !,( | T UOST V i: H S II S T l< 0 S T II N (i


geben - von Shakespeares Sonnets über Füllest w ieder Busch und Tal,
Morgens und aben ds zu lesen und H abe Menschen getroffen bis zu Das
Spiel ist aus, aber auch von den Leiden des jungen W ertherü ber Lord Jim
und den Radetzkym arsch bis zur Brücke von San Luis Rey (die Ilias nicht
zu vergessen!). Diese waren meine Tröster, auch oder gerade weil das
nicht ihr Zweck ist. Sie stellen ein Einvernehmen mit der Welt her, wie
sie ist; sie sagen alle »Vergiss über deinem Schmerz nicht, dass es uns
gibt«; an ihnen bestätigt sich, dass Trösten-Wollen eine löbliche Ab­
sicht, aber eine wenig aussichtsreiche Bemühung ist. Wenn der Lie­
bende nicht der Richtige ist, die Musik nicht in meiner Seele widerhallt,
die Dichtung nicht »von mir handelt«, kann das alles noch so groß sein,
noch so viel geben oder bedeuten - zu Trost wird es nicht. Trost ist wie
die Schönheit eine Gnade.
Warum habe ich bisher Gott und die (christliche) Religion nicht
erwähnt, von deren »Tröstungskraft« das von Johann Baptist Metz
entworfene Buch doch handeln soll? Als Kind habe ich mich Gott rück­
haltlos anvertraut. Aber ich habe ihn nie wahrgenommen, weder leib­
haftig noch metaphorisch; ich habe ihn vorausgesetzt und war nach­
sichtig mit ihm, wenn er mir nicht antwortete, mir nie die Hand reichte
oder auf die Finger klopfte, es mir überließ, ob eine glückliche Wendung
in meinem Leben ihm zu verdanken war. Gott hat keine Arme, in die er,
wie Salme und der Vater, mich schließen konnte. Ich habe bis zu mei­
nem 25. Lebensjahr regelmäßig gebetet - immer förmlicher, immer nä­
her am »Vater unser«, immer weniger von diesem erwartend. Es ist mir
nie in den Sinn gekommen, bei ihm Trost zu suchen wie auch ihm Vor­
würfe zu machen - wir, die Menschen sind es doch, die das Unheil in
dieser Welt anrichten. Die vorfindliche Schöpfung bestaune ich als ein
unfassbar herrliches Werk, ob nun in sechs Tagen oder sechs Milliarden
Jahren entstanden. Erdbeben, Fluten, Seuchen sind Teil dieser Schöp­
fung - dass sich die Natur verhalte wie ein Philanthrop oder ein Uhr­
werk, durfte sich ein sorgfältig denkender Mensch eigentlich nie vorge­
stellt haben. Mögen die Menschen im ausgehenden Mittelalter an der
Kopernikanischen Wende und die Humanisten an den Folgen ihrer Auf­
klärung - an den Erkenntnissen von Freud, Einstein, der Gen- und
Hirnforscher - leiden, demütigen kann das doch nur den, der sich der
Besserwisserei, einem religiösen oder wissenschaftlichen Wahn ver­
schrieben hat.

TU O S T V URS US TRÖSTUNG [ 15 ]
Vollends ist der Tod eine von Gottes klügsten Erfindungen. Unvorstell­
bar, was das Leben ohne ihn wäre! Und so ist denn »stirb und werde«
zwar kein Trost im einzelnen Fall, bestreitet aber die Berechtigung des
Verzagens, die allgemeine Trostseligkeit angesichts des Todes.
Nein, für die von Metz aufgezählten Unbilden muss nicht Trost gesucht
werden, schon gar nicht in der »Rede von Gott und von der verheißenen
Unsterblichkeit«. Ich erkenne heute auch kein »Trauerverbot«, kein
»Melancholieverbot«, dem die »Unfähigkeit«, sich trösten zu lassen, im
Argument des Textes unheimlich vorausgeht; ich weiß nicht, was mit
dem »heimlichen Unschuldswahn« gemeint ist. Gewiss sehe ich eine
»Flucht vor dem eigenen und fremden Leiden«, aber die sehe ich zu al­
len Zeiten. Ich ärgere mich wie Johann Baptist Metz über den »forschen
Optimismus des Fortschritts«, und in der Tat wird Banales oft auf tö­
richte Weise gefeiert, aber dass dem - und einem gemutmaßten Aus­
laufen des Lebenssinns - ausgerechnet mit Trost, statt mit Besinnung,
Ernüchterung, Gedankenstrenge und asketischer Lebensweise zu be­
gegnen wäre, ist mir unverständlich. Wer meint, dass der Glaube an
Gott uns stärker sein und klüger handeln lässt, soll diesen Glauben vor
uns aufrichten und mit seiner Person bezeugen - als Ansporn, nicht als
Trost.
Suche ich im Arsenal der Texte, in denen mir das Wort »Trost« aufgefallen
ist, kommen mir nur solche in den Sinn, die meinen strengen Anspruch
an seine Bedeutung bestätigen: Herr, lehre doch mich, dass ein Ende m it
m ir h aben muss [.. .]Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, d ie doch so si­
ch er leben [...] Sie sam m eln und wissen nicht, wer es kriegen wird. Nun
Herr, wes soll ich m ich trösten? [...] »Sehet m ich an: Ich h a b e eine kleine
Zeit M ühe und Arbeit geh abt und h ab e großen Trost gefunden. [...] »Ich
will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Diese Zeilen aus dem 39.
Psalm, aus den Büchern Sirach und Jesaja kommen mir als erste in den
Sinn. Brahms hat sie in seinem Requiem - einem der größten Trostlieder,
die es gibt - gleichsam als Auslegung des neutestamentlichen Selig sind,
die d a Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden (Mt 5,1) versammelt.
Sie wollen alle eines: Uns mit dem unverstandenen, scheinbar sinnlo­
sen, entbehrungsreichen Dasein versöhnen, - keine Kompensation,
keine Erklärung, keine Rechtfertigung! Die finde ich auch im »Trost der
Philosophie« des Boethius nicht. Er will zunächst den sorgfältig darge­
stellten Widersinn auflösen: Der gute Schöpfer lässt zu, dass sein wich-I

I 16 | TU O S T V I ! HS I I S T HO S T U N O
tigstes Geschöpf das große Werk verdirbt um dessen Freiheit willen, die
jedoch angesichts seiner Allwissenheit und Allmacht zur Farce wird. Er
endet damit, dass er aus Gottes praevidentiaIVorauswissen Gottes pro-
videntialVorsehung macht, also den Widersinn zu einer uns unzugäng­
lichen Weisheit erklärt. Wieder keine Tröstung über unser Geschick, son­
dern Hinnahme unserer begrenzten Erkenntnis und Preisgabe unseres
falschen Anspruchs! In der griechischen Tragödie »tröstet« der Chor den
leidenden Helden, indem er ihn an das Leid anderer erinnert: Auch
N iobe verlor sieben Töchter und sieben S ö h n e ... Aus dem bekundeten,
aber unergiebigen Mitleid macht er die lebenskluge Zumutung: Face the
facts. Die Trostaria des Johann Christian Günther kehrt die Botschaft
um: Trost ist allein in der Hoffnung auf ein Ende.

Endlich bleibt nicht ewig aus,


Endlich wird der Trost erscheinen,
Endlich grünt der Hoffnungsstrauß,
Endlich hört man auf zu weinen,
Endlich bricht der Tränenkrug,
Endlich spricht der Tod: Genug ...

Joseph von Eichendorff hat den »Trost der Welt«, von dem das Einla­
dungsschreiben zu diesem Buch spricht, der Nacht anvertraut: Sie
bringt alles zur Ruhe, die Lust und die Not; sie lässt Einsamkeit, Grübe­
lei, die Rastlosigkeit des Tages in Stille und Ermüdung ihren natürlichen
Ausklang finden - für eine Weile, bis der Morgen uns dies alles wieder­
bringt, wie es immer war.
Weil wir zu viel von den kleinen Hilfen erwarten, die wir geben und er­
langen können, wird uns der Trost, der uns mit der schwierigen Existenz
versöhnt, nicht zuteil. Unter den drei Bedeutungen, die sich mit dem
Wort verbinden
- eine Gewissheit: »Alles liegt in Gottes Hand«,
- ein Ersatz: »Nimm es nicht so schwer - wir helfen dir, so gut wir kön­
nen«,
- ein Versagen: »Wirklich helfen kann dir keiner, darum vernichte lie­
ber seinen Anlass«,
wird jeder seine Wahl treffen müssen. Ich neige zur letzten Möglichkeit,
kann sie aber nicht so unerbittlich klar ausdrücken wie Hilde Domin:

T KOS T V I - U S US TRÖSTUNG [ 17 J
Haus ohne Fenster

Der Schmerz sargt uns ein


in einem Haus ohne Fenster.
Die Sonne, die die Blumen öffnet,
zeigt seine Kanten
nur deutlicher.
Es ist ein Würfel aus Schweigen
in der Nacht.
Der Trost,
der keine Fenster findet und keine Türen
und hinein will,
trägt erbittert das Reisig zusammen.
Er will ein Wunder erzwingen
und zündet es an,
das Haus aus Schmerz.

I IH| T KOST V I! I< X II S r K ö S I 11 N (.


> DISKRETE RELIGION
Thomas Assheuer

ei Katastrophen, Großunglücken und anderen Heimsuchungen der


B technischen Zivilisation eilen Rettungskräfte heutzutage nur noch
in therapeutischer Begleitung an den Unfallort. Eine große Schar Not­
fallpsychologen eskortiert Polizei und Feuerwehr, um den Überleben­
den und Hinterbliebenen, die womöglich ihre Kinder, ihre Eltern und
Geschwister, ihre Geliebten und Freunde verloren haben, beizustehen
und den Entsetzten Trost zu spenden. Eine psychologische Nachbe­
treuung (»Debriefing«) ergänzt die erste seelische Hilfe. Das Unfassbare
soll erfasst und das Unbegreifliche begriffen werden. Entscheidend da­
bei ist, dass die »Betroffenen« ihr unsagbares Unglück in allen Details
nacherzählen, um es dann mit anderen »Fällen« zu vergleichen: Hätte
es mich nicht viel schlimmer treffen können? Hatte ich nicht Glück im
Unglück?
Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die seelische Erstversor­
gung Traumatisierungen nicht verhindert und sogar neue Wunden
schlägt. Die Tröster trösten nicht, und viele der von ihnen Behandelten
zeigen erst recht posttraumatische Störungen. Besonders fragwürdig
scheint das Verfahren zu sein, individuelles Leiden in allgemeine Raster
einzupassen, um den absoluten Schmerz relational abzumildem. Diese
Therapie hilft nicht und macht vielleicht alles nur noch schlimmer. Für
das Unausdenkbare, so scheint es, existiert keine denkbare Technik und
keine Sprache. Der Beistand der Seelsorger und die Soforttherapie der
guten Hirten versagt; die Tröstungsindustrie gerät an ihre Grenze. Ist
das ein TYost?
I)en modernen Verhältnissen Kälte und Trostlosigkeit vorzuwerfen, ge­
hört /.um Liehlingsrefrain der Kulturkritik. Tatsächlich aber fehlt es der

l> I S K. H K T I! K I' I H . I (I N | |l) |


Gesellschaft keineswegs an Tröstungen, an Narrativen der Linderung
und organisierter Herzenswärme. Im Gegenteil, Tröstungen gibt es wie
Sand am Meer, und niemand kann sich ihrer erwehren. Das Netz der
Beschwichtigung ist nahezu lückenlos und liefert für jedes Unglück das
reißfeste Muster. Naturgemäß bilden Talkshows den telematischen Au­
ßenposten der Tröstungsindustrie, gleichsam die Seufzerbrücke in den
trostlosen Alltag. Ihre Moderatoren erobern noch den entlegensten Ar­
chipel des Schmerzes, und jedes glücklich entdeckte Herzeleid halten
sie dem Publikum wie eine Trophäe unter die Nase. Besonders beliebt
ist ein Schlachtfeld, auf dem die Waffen niemals schweigen, der Kampf­
platz von Liebe und Leidenschaft. Kaum aufgestöbert, werden die Ver­
lierer der Rosenkriege, die Unglücklichen und Verlassenen, dem TV-
Seelsorger anheimgegeben, damit er ihren singulären Schmerz medial
formatiert und solange auf diesen einredet, bis er keinen Laut mehr von
sich gibt. »Lebbe geht weiter.«
In der Tröstungsindustrie fehlt es an nichts, sogar das Leben nach dem
Tod ist gegen bare Münze zu erwerben. Der käufliche Engel heißt Gün­
ther von Hägens und ist ein Leichenpräparator. In seiner ostdeutschen
Fabrik recycelt er menschliche Überreste, macht sie haltbar und stellt
sie mit viel Tamtam öffentlich zur Schau. Von Hägens organisiert die
Auferstehung des Fleisches im Himmel auf Erden. Tausende, so heißt
es, stünden Schlange und träumten davon, nach ihrem Ableben von
ihm präpariert und in einer »Körperschau« den bewundernden Blicken
der Nachwelt ausgesetzt zu werden.
Günther von Hägens hat einen guten Riecher für die Befindlichkeit des
Weltgeistes. Er weiß, dass die Normalisierungsmoderne nicht mehr an
der Sterblichkeit der Seele verzweifelt, sondern am menschlichen Ma­
kel, an der Sterblichkeit des Körpers. Seine Ausstellungen verwandeln
die stumme Panik vor der Vergänglichkeit in das imaginierte Glück des
unvergänglichen Plastinats. In seinem Werk kommt auch der Kapitalis­
mus materiell und symbolisch zu sich selbst. Nachdem er den Markt
des konsumierenden Lebens gesättigt hat, bewirtschaftet er das Tote
und zieht daraus einen tröstenden Profit. Es müsste mit dem Teufel zu­
gehen, wenn dem göttlichen Tröstungsunternehmen nicht ein ewiges
Leben beschieden wäre.
Vielleicht ist es hilfreich, der Realität der Tröstungsindustrie eine Spe­
kulation des Philosophen Richard Rorty gegenüberzustellen. »In einer

| 20 | I) I S K l< I: T li K li I I <; I <) N

i
vollkommen demokratischen Gesellschaft würde es kein unnötiges Lei­
den geben: Alles Leiden wäre nur noch eine unausweichliche Folge un­
serer Sterblichkeit.« Unter den utopischen Bedingungen von Freiheit
und Gerechtigkeit, so könnte man Rorty verstehen, wenn uns die Ge­
sellschaft keine unnötigen Versagungen mehr auferlegt, haben wir Zeit,
uns der Zeit zu stellen, dem Leiden an Sterblichkeit und Frist, unseren
existenziellen Sorgen und namenlosen Ängsten. Entlastet vom Lebens­
und Freiheitskampf wären wir dann, mit einem schönen alten Wort,
endlich frei, uns selbst »inne zu werden«. Wir könnten uns jenen ersten
und letzen Fragen stellen, die eine nachmetaphysisch ernüchterte Phi­
losophie zwar nicht abweist, aber auf die sie mit guten Gründen eine
Antwort verweigert.
Rortys Gedanke ist ebenso schlicht wie bestechend, und auch Johann
Baptist Metz würde ihm seine Zustimmung gewiss nicht versagen. Und
doch hat es den Anschein, als würde Rorty von den Wogen der Zuver­
sicht davongetragen. Offensichtlich rechnet er nicht mit dem trostlosen
TYost der Tröstungsindustrie, mit ihren symbolischen Anästhesien, die
die letzten und vorletzten Fragen immer schon zum Schweigen ge­
bracht haben, noch ehe sie den Menschen überhaupt ins Bewusstsein
gedrungen sind. Ebenso wenig rechnet Rorty mit einer Dynamik, die
man - mit einer riskanten Prätention - durchaus als eine tragische be­
schreiben könnte: Auf der einen Seite erweitert die Moderne die Spiel­
räume individueller Freiheit bis ins Unermessliche; auf der anderen
Seite plündert, entleert und entschärft sie die Bilder und Metaphern, in
deren Licht die Einzelnen das »Leiden an der Endlichkeit« überhaupt
erst zu deuten vermöchten. Die vollkommen demokratische Gesell­
schaft wäre demnach zwar frei und gerecht, doch unter dem Einfluss
der Tröstungsindustrie besäßen ihre Bürger keinen Sinn mehr für das
Sinnlose, für die Schrecken von Krankheit und Tod, für den absoluten
Schmerz und das schlechthin Entsetzliche - eben für all das Unsagbare,
Unwiederbringliche und Niewiedergutzumachende, für das es in die­
sem Leben keinen Trost gibt.
Mit einem Wort: Der Normalisierungsmoderne fehlt es nicht an Trös­
tungen, sondern an Trostverweigerung. Es fehlt ihr an gnädigen Bil­
dern, deren Schweigen erkennen lässt, dass nach dem geschehenen
Unglück, im Angesicht der Verzweifelten, der Trost der Welt versagt und
juder Zuspruch zur Lüge wird. Diskret könnte eine Religion genannt

»ISKHfiTH R K L I (i I O N [ 21 ]
werden, die einen Trost gewährt, der nicht tröstet. Demütig be­
schränkte sie sich auf die Anerkennung des Schmerzes und die Macht
des Negativen. Diskrete Religion ist stumme Compassion mit jenen Un­
tröstlichen, denen auf Erden nicht zu helfen ist, und vielleicht auch nir­
gendwo sonst.I

I 22 | I) I S K K K T li K li I. I C. I () N
UNTRÖSTLICHKEIT
Werner Post

I.

ie aktuelle Konjunktur der Ratgeber-Literatur figuriert - jedenfalls


D dort, wo es nicht bloß um handfeste Tipps zu Geld, Gesundheit,
Kochen oder Garten geht - unter Titeln wie Lebenskunst, Existenzästhe­
tik oder Technologien des Selbst. Man darf wohl annehmen, dass sie
auch aus einem Bedürfnis nach Trost gelesen werden.
Aber welchen Trost vermögen sie zu spenden? Die anspruchsvolleren
unter diesen Schriften sind meist von Michel Foucault inspiriert und
mit ihm von der spätantiken Stoa. Deren Selbsttechnologien und Klug­
heitsregeln versteht Foucault als emanzipatorische Selbstenthüllung
durch Selbstprüfung; in harter Opposition dazu die gleichzeitigen
christlichen Formen der enthüllenden Selbstprüfung, etwa in früh­
christlicher Askese und gewissen Bußpraktiken, die der Abkehr vom
Ich, letztlich seiner Auslöschung dienen sollen.
Foucault, der einst gewettet hatte, dass der Mensch »verschwindet wie
am Meeresufer ein Gesicht im Sand«, verspricht sich offenkundig eine
Rehabilitierung dieses Subjekts durch jene Selbsttechnologien, eine
spätantike Existenzästhetik mit Anklängen an die Artistenmetaphysik
Nietzsches.
lassen wir die bekannten Einwände (dass er historisch überpointiert,
dass diese Existenzästhetik quasi-aristokratische Bedingungen voraus-
setzt, usw.) einmal beiseite, und fragen, wie diese Lebenskunst sich zu
der lYostlosigkeit einfacher Kontingenzrisiken und großer Katastro­
phen verhält. Man wird antworten: stoisch. Es ist so, wie es ist; man soll

iin tr Os t u c h k f .it [23]


nicht mehr erwarten als real möglich ist, und sich darauf weise be­
schränken; das raten auch die einschlägigen Klugheitsregeln.

II.

Gleichfalls in der Spätantike, im ausgehenden 4. Jahrhundert, plagte die


christlichen Anachoreten in der ägyptischen Wüste ein eigentümliches
Problem: Sie ermüdeten in ihrem frommen Eifer, wurden lusdos-träge
und zugleich hektisch-unruhig. Evagrius Ponticus nannte diese Leib
und Seele zugleich umfassende Verstörung erstmals »Acedia«. Sie galt
als die ärgste Versuchung im spirituellen Curriculum, ausgelöst vor­
zugsweise vom Mittagsdämon. Der flüsterte dem von seiner virtuosen
Askese erschöpften Anachoreten Verlockungen eines weniger strapa­
ziösen Lebens ein.
Acedia wird meist mit »geistliche Trägheit« übersetzt; das verharmlost
die Sache aber eher. Sie hat vielmehr gewisse Symptom-Ähnlichkeiten
mit Melancholie oder Depression und eine verwickelte Bedeutungsge­
schichte in den Lasterkatalogen. Thomas von Aquin hält ihre maßlos
gesteigerte Trauer dann für eine Todsünde, wenn der Acediöse mit Wil­
len und Bewusstsein das bonum divinum, die Liebe Gottes, abweist und
sich in träge-renitentem Eigensinn einigelt; wenn er also eine trostlose
Welt will.
Im weiteren Verlauf wechseln die Akzente zwischen diesem strikt spiri­
tuellen Sinn und einer handfesteren Auffassung als Trägheit oder
schlaffe Faulheit. Im Spätmittelalter kann man beobachten, wie der
Kampf gegen diese träge Verweigerung sich mit der Formierung des
bürgerlichen Arbeitscharakters verbindet: Arbeiten und nicht Verzwei­
feln. Die spirituelle Bedeutung von Acedia hingegen gerät in der Re­
naissance unter den weiten Mantel der Melancholie und immer mehr
in die psychologischen Gefilde depressiver Störungen.
Das aber geht schon deshalb nicht glatt auf, weil Melancholie bereits
seit der Antike als psychophysische Krankheit gilt, während Acedia mo­
ralisch qualifiziert blieb: als Versuchung, Laster oder Sünde. In den
auch nach Ende des Mittelalters keineswegs seltenen Erwähnungen
von Acedia hat sich diese Bedeutung einer verzweifelten, ins Bösartige
reichenden Schwermut auch außertheologisch - literarisch, soziolo-

[ 24 ] II N T R O S T I, I C II K 1; I T
gisch und philosophisch - durchaus erhalten. Die wohl treffendste For­
mulierung stammt von Walter Benjamin: Acedia versteht er als »nega­
tive Utopie der Erlösung«.

III.

Acedia erscheint aber auch wie ein Palimpsest. Legt man die älteren
Schichten des Bildes frei, stößt man auf einen komplexen Untergrund:
War es wirklich nur Schwäche, wenn die Anachoreten in der Wüste den
Einflüsterungen der Dämonen nachgaben? Oder hatten sie nicht auch
wenigstens ein bisschen Recht, wenn sie sich den neuplatonisch-orige-
nistischen, spirituellen Idealen verweigerten? Wenn sie ihre kreatürli-
che Existenz nicht bloß asketisch abtöten wollten?
Ihre Verweigerung erwiese sich dann als unzeitige Antizipation künfti­
ger Subjektfreiheit. Für die gab es unter den zeitgenössischen Bedin­
gungen noch keine Kategorien, und so bot sich kaum eine andere Al­
ternative als die Gestalt des unglücklichen Bewusstseins. Aber auch
das, was Thomas als den Kern der Acedia und vitium capitale bezeich­
net, die Abweisung des göttlichen Liebesangebots, lässt sich gegenle­
sen: als Abweisung einer theologisch rationalisierten Liebespflicht in
einem religiös geschlossenen Weltbild.
Hs gibt kaum Selbstzeugnisse dieser Gleichgültigkeitsverzweiflung (mit
Ausnahmen bei Dante und Petrarca) und wir können nur aus der Häu­
figkeit der einschlägigen Traktate erschließen, dass es sich um ein so­
wohl unter Mönchen und Klerikern als auch später bei Laien weitver­
breitetes Verhalten handelte: dumpfe Indolenz, Handlungshemmung,
ich itente Verweigerung ebenso wie planlos manische Unrast bestim­
men das Bild, mit selbstzerstörerischem Rückzug und nicht selten sui­
zidalem Finale.

IV.

holz der melancholischen oder depressiven Attitüden ähnlichen


Symptomatik hat man Acedia nie als Pathologie, sondern stets als Ver­
suchung oder Laster angesehen. Entsprechend unterscheiden sichIl

Il N T K O S T I. ] C II K li I T [ 25 ]
auch die rem edia, die seit den Anfängen immer wieder angeboten wur­
den: der Verweis auf komplementäre Tugenden (fortitudo; auch spes
oder caritas), natürlich Ratschläge erfahrener geistlicher Lehrer, asketi­
sche Übungen, Mahnungen zur Ausdauer, Warnung vor den immer
zahlreicher aufgelisteten »Tochtersünden« der Acedia, aber auch der
Appell, sich die schließlich trostvolle Seligkeit am Ende aller spirituel­
len Mühen unablässig vor Augen zu führen.
Darauf spielt wohl auch eine religiöse Schwermut ä la Kierkegaard an,
die sich nicht einfach aus Trägheit verweigert, sondern vor der uner­
reichbaren Höhe des Ideals kapituliert, zugleich aber alles Geringere als
jenes Ideal für wertlos hält. Da droht sich falsche Demut mit hybridem
Hochmut zu einem Amalgam trostloser Trauer zu verfestigen; sie zieht
sich auf eine objektlose Innerlichkeit des Selbst zurück. Bei dieser Art
Schwermut, die noch ein Aspekt von Acedia sein kann, lassen sich frei­
lich auch Übergänge zur »dunklen Nacht« der Mystiker erahnen; als sol­
che spirituelle Krise wird sie auch respektiert und eher als Versuchung
denn als Sünde angesehen.
So segensreich der Aufklärungsgewinn war und ist, der viele Patholo­
gien vom vormodernen Odium göttlicher Züchtigung oder Strafe be­
freit und wissenschaftlicher Therapeutik zugänglich gemacht hat, so
wenig vermag Medizin oder Psychologie auszurichten, wenn wie bei
Acedia der Defekt nicht in psychophysischen Ursachen verortet wird,
sondern - letztlich - im gestörten Gottesverhältnis. Wie metaphorisch
auch immer das heute zu lesen wäre: das Problem wird noch schwieri­
ger, weil man den säkularisierenden Religionstransfer samt Modemi-
sierungsgewinn nicht künstlich vergessen kann; aber möglicherweise
stößt man hier auf Spuren imerledigter Motive aus der religiösen Tradi­
tion.

V.

Noch ein anderes, trivialer erscheinendes rem edium für Acedia spielt
schon bei den Wüstenvätem eine so elementare wie wirksame Rolle: Ar­
beit, körperliche, handwerkliche Tätigkeit. Mochten Korbflechten,
Feldarbeit oder das Abschreiben von Texten im Kontext von ora et la-
bora auch der bloßen Subsistenz dienen, so behielten sie ihre primäreI

I 26 ] 1I N T R Ö S T L I C H K F . 1 T
Bedeutung doch als asketische Praktiken. Sie nötigten zu einem Mini­
mum an Objektbeziehungen überhaupt, denen der Acediöse sich ge­
rade verweigern möchte.
In bestimmten Epochen, etwa in den karolingischen Reformen, im
Frühkapitalismus oder in der Pädagogik der Popularaufldärung gelten
Melancholiker und von Acedia Befallene als dumpfe Modernisierungs­
verweigerer; Müßiggang ist da aller Laster Anfang. Selbst die Tiere sind
ja tätig, otium hingegen kennzeichnet parasitäre Mönche und Kleriker
oder dekadent-feudalen Adel. Straftäter sollen auch nicht mehr gleich
hingerichtet, sondern in neu errichteten »Zuchthäusern« durch Arbeit
resozialisiert werden.
Kurzum: Trost, Heil und Glück erschienen dem frühen bürgerlichen
Zeitalter, besonders in den reformatorischen und calvinistischen Re­
gionen, als Segen emsiger Arbeit, trotz Verpönung der Werkgerechtig­
keit. Tatsächlich nicht ganz erfolglos: So schienen ja im Elisabethani-
schen Zeitalter und in der barocken Fürstenmelancholie Acedia und
Schwermut fast nur noch im anachronistisch gewordenen Adel zu gras­
sieren.
Aber je rascher sich das neuzeitliche Wirtschaftshandeln von seinen re­
ligiösen Ursprungsmotiven abkoppelte, desto mehr verlor auch die ste­
tig weiter formalisierte Arbeit nicht nur ihr Erlösungsversprechen samt
therapeutischem Effekt, sondern wurde schließlich unter industriell­
kapitalistischen Bedingungen als entfremdete Lohnarbeit noch selbst
zu einer neuen Quelle acediöser Verelendung. Doch schon jene vorhe­
rige religiös gestimmte Seligpreisung der Arbeit hatte sowohl deren
Mühsal und Zwang als auch ihren instrumentellen Charakter idealisie­
rend geschönt.
Nun setzte sich das ökonomische Produktionsparadigma als Leitmotiv
soweit durch, dass es in erheblichem Maß sogar noch seine sozia­
listisch-radikalen Kritiker imprägnierte. Romantik und Lebensphilo­
sophie, Fin-de-siècle-Stimmung und décadence, Irrationalismus und
Nihilismus, Avantgarden und Ästhetizismus, auch religiöser Antimo­
dernismus und Renouveau catholique - um nur einige Tendenzen zu
erwähnen - suchten sich auf je verschiedene Weise der Dominanz jenes
Paradigmas zu erwehren, mit mäßigem, bisweilen verschlimmbessern­
dem Erfolg.Il

Il N T R 0 S T 1. I C M K li I T [ 27 ]
VI.

Man darf nämlich nicht unterschlagen, dass die ökonomische Moder­


nisierung ja auch Liberalität wie Internationalisierung gefördert und
mit ihren imposanten Wohlstandsgewinnen trotz allem neue Freiheit­
schancen eröffnet hat. Diese Produktivität bezieht sich nun aber nicht
nur auf Konsumgüter undWaren, sondern ebenso auch auf »Sinn«. Was
mit der Erfindung des Buchdrucks bereits begonnen hatte, setzt sich
heute in Kommunikationsmedien aller Art fort: es kann mehr mögli­
cher Sinn produziert werden als die Gesellschaft überhaupt zu gebrau­
chen vermag. Kultur (und Lebenskunst) besteht dann gerade darin, sol­
ches Sinn-Überangebot zu bearbeiten. Das mag man höheren Orts
vielleicht als »modernen Relativismus« oder »postmoderne Beliebig­
keit« verwerfen, doch entgeht man damit noch nicht den bekannten ei­
genen traditional-dogmatischen Aporien.
Dieses mögliche Zuviel an Sinn führt nun wieder auf das anfangs er­
wähnte Thema von Lebenskunst und Existenzästhetik zurück. Deren
aktualisierte stoische Klugheitsregeln fungieren offenkundig als eine
Form entsprechender Komplexitätsreduktion. Der Sinn-Begriff löst
sich dabei von seinen klassisch-metaphysischen Konnotationen zu­
gunsten einer funktionalen Bedeutung, er bezeichnet dann summa­
risch Technologien sozialer oder individueller Lebensbewältigung. Sie
unterscheiden sich von traditionalem Sinn besonders darin, dass sie
keine weltbildlich stabile Konstanz ausbilden, sondern hoch flexibel
auf situativ wechselnde Anforderungen reagieren.V I.

VII.

Diesem Kontext verdankt sich auch eine spezifische Terminologie,


wenn etwa von »Selbstmanagement« die Rede ist, in dem der Einzelne
sich als Ich-AG unternehmerisch zu sich selbst verhalten soll, dabei
dem stillschweigenden Imperativ: »Sei frei!« gehorchend. Was wie ein
Beispiel für Autonomie aussieht, erweist sich jedoch als eine Paradoxie
von Mündigkeit (Axel Honneth). Das Überangebot an Freiheit und Sinn
erscheint inzwischen als Bedrohung: zur Freiheit verdammt. Die indi­
viduale Dauermobilisierung hat ein »erschöpftes Selbst« (Alain Ehren-

| 2» | ii N t K O s t i . i c: n K i; l T
berg) erzeugt, dessen depressive Symptomatik sich wieder der trostlo­
sen Acedia anähnelt.
Wie frei aber ist diese Freiheit, wie sinnvoll jener Sinn? In dieser Form
pervertieren sie das klassische Ideal, um dessen ökonomistische Zu­
richtung zu kaschieren und ihr illusionär gewordenes Glücksverspre­
chen ideologisch zu rationalisieren, als neues Opium des Volkes. Sie
bieten so die Gewissheit, dass man einen wahren »Trost- und Rechtfer­
tigungsgrund« jedenfalls an anderer Stelle suchen muss.I

II N T l< O st I. I C II K I! I T 1*>]
> ENTM ÄCHTIGUNGEN DER REALITÄT
A x el H onneth

ls Mitglieder des westlichen Kulturkreises sind wir angesichts der


A schwersten Schicksalsschläge unseres Lebens inzwischen alle zu
puren Naturalisten geworden. Im Tod sehen selbst die gläubigen Chris­
ten heute wohl kaum mehr die Chance einer Erlösung, sondern nur den
definitiven Endpunkt des natürlichen Verfallsprozesses alles Organi­
schen. Keiner von uns wird in der schweren Erkrankung noch den Wink
eines überirdischen Wesens vermuten, das uns für weltliche Verfehlun­
gen zu bestrafen gedenkt; und bei Naturkatastrophen, die unzählige
Menschenleben kosten, besitzen wir alle schon nach wenigen Stunden
die relevanten Kenntnisse über die maßgeblichen Kausalzusammen­
hänge. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir gläubig sind oder überzeugte
Atheisten: Zu einer naturalistischen Erklärung der Ursachen unseres
Leidens auf Erden scheint es eine Alternative nicht mehr zu geben; uns
droht dasselbe Schicksal, das allen natürlichen Wesen beschieden ist,
wir werden mit der Geburt einem riskanten Leben ausgesetzt, sind
ständig von organischen Krankheiten bedroht und sehen im Tod dem
Untergang alles Lebendigen entgegen. An diesem Gefühl des natürli­
chen Ausgeliefertseins scheint auch all der Fortschritt unseres techni­
schen Könnens und medizinischen Wissens nicht das Geringste ändern
zu können: Mit jedem therapeutischen Sieg über eine Krankheitsursa­
che wachsen nur unsere Kenntnisse über weitere organische Gefähr­
dungen, jeder technisch erfolgreichen Bekämpfung einer Naturkata­
strophe folgt die nächste, noch gefährlichere Bedrohung schon auf dem
Fuß. An der Prognose Freuds, dass uns die wissenschaftliche Aufklä­
rung den Trost des religiösen Glaubens nehmen und zur »Ergebung ins
Unvermeidliche«1 zwingen wird, ist heute nicht mehr zu rütteln: Wir

| 30 | 1; n t m Ä <: i r r u ; 11 n <; 1; n d e k R e a l i t ä t
sind den kausalen Kräften der Natur ausgesetzt, ohne dass irgendeine
Aussicht auf jenseitige Entschädigung oder Erlösung bestehen würde.
Angesichts dieses beinahe selbstverständlich gewordenen Naturalis­
mus ist es umso erstaunlicher, dass wir gemeinsam eine Vielzahl von
Praktiken und Einstellungen zu dulden, ja zu begrüßen scheinen, die
mit der Annahme eines natürlichen Kausalzusammenhangs so gar
nicht in Einklang stehen: Keiner von uns ist irritiert, wenn sich eine Per­
son am Grabmal mit dem jüngst verstorbenen Toten zu unterhalten be­
ginnt; wir alle nehmen mit gerührtem Einverständnis zur Kenntnis,
dass das befreundete Ehepaar im verwaisten Kinderzimmer Vorkeh­
rungen trifft, um dem tödlich verunglückten Kind eine Heimstätte zu
bewahren; und uns stürzt nicht in Verwunderung, uns mit Ergriffenheit
an Begräbnissen teilnehmen zu sehen, deren ritueller Ablauf von der
mehr oder weniger stillschweigenden Voraussetzung einer unsterbli­
chen Seele lebt. Naturalisten, die wir sind, üben wir uns in Praktiken,
die spiritualistische Züge besitzen, nehmen Einstellungen ein, die alles
andere als naturalistisch sind. Ob wir weiterhin am christlichen Glau­
ben festhalten oder überzeugte Atheisten sind: gemeinsam scheinen
wir in bestimmten Augenblicken unseres Lebens wie selbstverständlich
alle naturalistischen Gewissheiten beiseitezuschieben, um mit verstor­
benen Personen in Kontakt bleiben zu können, ja sie unter uns weilend
zu wissen. Das Seltsamste an diesen spiritualistischen Einsprengseln in
unseren profanen Alltag ist die Tatsache, dass sie nicht nur von den Be­
troffenen, sondern auch von den unbeteiligten Beobachtern für ganz
und gar normal gehalten werden: Keiner weist angesichts solcher Prak­
tiken der Kommunikation mit Toten auf einen Widerspruch hin, keiner
macht uns auf das Missverhältnis zu unseren sonstigen Alltagsüber­
zeugungen aufmerksam, alle scheinen vielmehr bereitwillig zu unter­
stellen, dass das Eine mit dem Anderen vereinbar ist. Es ist ein wenig
wie mit den fürsorglichen Eltern, die ihre Kinder dabei unterstützen,
den Bauklotz wie ein lebendiges, beseeltes Wesen zu behandeln, ob­
wohl sie natürlich um dessen pure Materialität wissen.
Der Umstand, dass die Toten trotz aller wissenschaftlichen Entzaube­
rung eine eigentümliche Präsenz unter uns Lebenden bewahrt haben,
ist schon seit längerem ein Thema der Literatur. So hat James Joyce in
seiner wunderbaren Erzählung »Die Toten« geschildert, wie der früh
verstorbene Geliebte einer Frau in deren gegenwärtigem Alltag die

liNTMÄCIITKi UNliKN DER K I - A I. I T Ä T [ 31 ]


Rolle eines kommunikativen Gegenüber beibehält, die selbst ihren
Ehemann bald von seiner »unsteten und flackernden Existenz«2 über­
zeugt sein lässt; je weiter das Geschehen voranschreitet, desto stärker
scheinen sich für die Beteiligten die ansonsten klar gezogenen Grenzen
zwischen dem Reich der Toten und der Lebendigen zu verwischen. Am
ergreifendsten hat sicherlich Joan Didion in den letzten Jahren berich­
tet, wie sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes unmerklich dazu
überging, geradezu »magische« Praktiken anzuwenden, um sein Fortle­
ben sicherzustellen. Auch hier resultiert die Sogwirkung der Erzählung
daraus, dass die Autorin den Leser sich dabei beobachten lässt, wie er
einer Reihe von absonderlichen, mit seinen üblichen Einstellungen
vollkommen unvereinbaren Vorkehrungen mit wachsender Sympathie
zustimmt.3 Die Frage stellt sich also umso dringlicher, wie wir unsere
offensichtliche Bereitwilligkeit erklären, angesichts des Todes gelegent­
lich unsere wissenschaftliche Weltauffassung fallen zu lassen und eine
Entgrenzung unserer Welt vorzunehmen. Was wir in solchen Zuständen
erleben, um es zu wiederholen, hat kaum etwas mit der schlagartigen
Wiederkehr eines religiösen Grundvertrauens zu tun: Nur die wenigs­
ten wissen uns oder andere dann mit einem Mal der schützenden Hand
Gottes anvertraut, wir rechnen im allgemeinen nicht mit einer Fort­
existenz der Verstorbenen in einem jenseitigen Reich; alles, was wir er­
fahren, ist nur die plötzliche Chance eines kommunikativen Umgangs
mit Wesen, die wir nach Maßgabe unserer naturalistischen Präsupposi-
tionen für Bestandteile der leblosen Welt halten müssten. Wie also sol­
len wir verstehen, dass wir uns mentale Zustände erlauben, in denen
die verlässlichen Unterteilungen unserer Weitsicht mit einem Mal ein­
geklammert oder aufgehoben sind?
Gewiss scheint zunächst, dass die Bereitschaft zu derartigen Einstel­
lungen mit dem Bedürfnis zusammenhängt, Trost für den Verlust nahe­
stehender oder geliebter Personen zu finden. Wir können den Ge­
danken schwer ertragen, dass die Verstorbenen für immer von uns
gegangen sind, wir nehmen die entsprechenden Verzweiflungszu­
stände an uns selbst wahr, wir unterstellen sie auch allen anderen in
vergleichbaren Situationen. Daraus mag ein geheimes Band der Solida­
rität resultieren, welches es den Überlebenden erlaubt, wechselseitig
auf die Anwendung der herkömmlichen Rationalitätsstandards zu ver­
zichten und sich wie gegenüber Kindern ontologische Primitivierungen

|u| i: n t m ä <. iit i (; ii n i; ii n i> i; r r h a l i t Xt


zu erlauben. Aber ist es tatsächlich so, dass wir diese sonderlichen Ein­
stellungen und Praktiken mit einem therapeutischen Blick betrachten,
so als ob wir darin den Leidenden ihre notwendige Dosis an Trost ge­
währen wollen? Dulden wir die Interaktion mit den Toten als einen Ka­
tegorienfehler, weil wir wissen, dass anders die Hinterbliebenen ihre
Trauer psychisch nicht bewältigen könnten? Oder ist es nicht vielmehr
so, dass unsere Beobachtungen nur selten von einer solch distanzierten
Art sind, sondern wir uns im Gegenteil häufig dabei sogar eingeladen
fühlen, wenigstens für einen kurzen Zeitraum die kommunikative Per­
spektive zu teilen? Gewiss wird es dabei Grade der Abstufung geben,
aber bei Begräbnisritualen oder im Umgang mit nahestehenden Perso­
nen werden wir uns doch häufig genug auch als Nichtbetroffene dabei
erleben, wie wir spontan den Blickwinkel des Verstorbenen einnehmen
und uns an einer Verständigung versuchen. Sind nun auch wir erkrankt,
bedürfen auch wir der ontologischen Täuschung, oder gehört es nicht
vielmehr zur Reife des erwachsenen Menschen, die Differenzierungen
seiner aufgeklärten Weitsicht stets auch wieder einklammern zu kön­
nen?
Freud war, was alle diese Fragen anbelangt, nur auf den ersten Blick von
stringenter Entschiedenheit. In der Schrift Die Zukunft einer Illusion
wird zwar der Weg des »seelischen Fortschritts«4 ohne jede Ambivalenz
darin gesehen, sich allmählich aller Fiktionen eines Entgegenkommens
der Naturkräfte zu entledigen und sich nüchtern unser leidvolles
Ausgeliefertsein einzugestehen. Der moderne, aufgeklärte Mensch, so
heißt es hier, akzeptiert die lebensweltlichen Implikationen des wis­
senschaftlichen Weltbildes, ohne es je noch einmal in seinem Verhalten
durch kognitive Entgrenzungen zu durchkreuzen. Anders klingt es al­
lerdings schon in dem nur drei Jahre später erschienenen Text über Das
l Inbehagen in d er Kultur, in dem Freud sich über weite Strecken mit der
Hedeutung jener Bewusstseinsphänomene abmüht, die er im An­
schluss an Romain Rolland »ozeanische Gefühle« nennt.5 Nicht ganz
geheuer ist ihm die Annahme einer weiten Verbreitung solcher Ge-
Kihlszustände zwar auch jetzt noch, aber immerhin will er sich hier nun
darauf einlassen, ihren Platz im individuellen Seelenleben zu erkun­
den. Bald schon ist er an der Stelle, an der er sich klarmachen muss, dass
das Ich der gesunden Persönlichkeit ebenso wenig wie nach Innen auch
zur Außenwelt hin »klare und scharfe Grenzlinien«6 aufweist: Im Zu-

i; N I M A C M T I (i II N (i l: N I) II K K I I A U T Ä T [33]
stand der Verliebtheit etwa, so schreibt er, »droht die Grenze zwischen
Ich und Objekt zu verschwimmen«,7 die verliebte Person fühlt sich mit
ihrem Partner vereint, sie benimmt sich, als handle sie mit ihm aus ei­
nem einzigen Aktionszentrum heraus. Sind aber derartige Entgrenzun­
gen möglich, kennt also auch das psychisch gesunde Subjekt Momente
der Selbsttranszendenz, so muss der Schlüssel dafür nach Freud in der
Wiederkehr ursprünglicher, noch primitiver Seelenzustände gesucht
werden; denn im Frühstadium seiner Entwicklung hat das Kind eine
Phase der erlebten Verschmelzung mit den realen Objekten durchlau­
fen, deren Überwindung zur Errichtung eben jener Grenzen zur Au­
ßenwelt geführt hat, die jetzt auf der Stufe des Erwachsenseins in den
besagten Zuständen wieder eingerissen scheinen. Daher lässt sich das
Vorkommnis einer Entgrenzung im reifen Ich nicht anders erklären als
durch die Annahme eines Rückfalls auf eine vorgängige Stufe der geis­
tigen Entwicklung. Es ist den Ausführungen Freuds auf den folgenden
Seiten förmlich anzumerken, wie schwer er es sich mit der Vermutung
macht, dass eine solche Regression nun zur Normalbefähigung des er­
wachsenen, rationalen Subjekts gehören soll: Zunächst spricht er in Be­
zug auf diese Zustände noch von »Störungen« des Ichgefühls8, dann
versucht er vergeblich, die Möglichkeit einer Erhaltung des Vergängli­
chen im Psychischen räumlich zu veranschaulichen, um schließlich
beinah resigniert festzustellen, dass derartige Rückfälle im Seelenleben
doch eher die »Regel als (die) befremdliche Ausnahme«9 bilden. So ganz
will Freud nicht wahrhaben, dass der aufgeklärte Mensch des 20. Jahr­
hunderts sich kognitive Zustände erlauben soll, welche die erfolgreich
errichtete Schwelle eines Konzepts der unabhängigen Außenwelt nach­
träglich wieder unterschreiten; selbst bei der Behandlung der Trauer
bleibt bei ihm stets eine leise Verwunderung darüber zurück, warum
uns die mit ihr einhergehende Halluzination eines Fortlebens des Lie-
besobjekts so »selbstverständlich erscheint«.10
Freud ist sich in seinem Unbehagen in der Kultur zwar der anthropolo­
gischen Notwendigkeit bewusst, dass wir »Linderungsmittel«11 gegen
unser Leiden an der Übermacht der Natur aufbieten müssen, aber den
Schritt zu einer Akzeptanz kognitiver Regressionen will er dann doch
nicht machen. Seine Orientierung an der wissenschaftlichen Aufklä­
rung hindert ihn daran, in der vorübergehenden Einklammerung un­
serer ontologischen Präsuppositionen eine Chance zu sehen, zu einer

( VI | li N T M Ä C I I T U i II N (i II N I) li H K HA I. I T Ä T
kontrollierten, reflexiv verantworteten Entlastung zu gelangen. Dass
wir selbst in einer aufgeklärten Einstellung noch wollen können, uns in
die Illusion einer beseelten Natur und einer Fortexistenz der Toten hi­
neingleiten zu lassen, wollte er nicht zur Kenntnis nehmen. Rationale
Aufklärung sollte für ihn bedeuten, sich nach Möglichkeit aller kogniti­
ven Regressionen zu entledigen, nicht aber, sie in den Dienst einer Ent­
krampfung unserer Rationalität zu stellen. Innerhalb der Psychoana­
lyse durchbricht diese weltanschauliche Blockierung Freuds erst
Donald Winnicott; mit seinem Begriff des »Übergangsobjekts« ist uns
ein konzeptuelles Mittel an die Hand gegeben, das jene spiritualisti-
schen Einsprengsel in unserem Alltag zu verstehen erlaubt, die wir so
selbstverständlich neben unseren naturalistischen Grundüberzeugun­
gen stehen lassen.
Für Winnicott stellt das »Übergangsobjekt« nicht nur ein »ontologi­
sches« Hilfsmittel dar, mit dem das Kleinkind experimentell versucht,
seine Frustration über die erst kurz zuvor realisierte Unabhängigkeit
der Außenwelt zu verarbeiten; vielmehr bildet es ihm zufolge auch für
den Erwachsenen noch ein Instrument, um sich des übergroßen
Drucks der Realität durch gelegentliches Einreißen ontologischer Gren­
zen zu erwehren.12 Das Kleinkind kann nach Winnicott verschiedenste
Materialien seiner Umwelt, also den Kissenzipfel, den Teddybären oder
auch eine bestimmte Melodie, als Phänomene benutzen, um sich eine
»Zwischenwelt« zwischen inneren Erlebnissen und objektiver Realität
zu errichten. In diesem »intermediären« Erfahrungsbereich ist die all­
mählich keimende Gewissheit einer imabhängigen, unverfügbaren Au­
ßenwelt zeitweilig wie eingeklammert. Spielerisch versetzt das Klein­
kind sich mit Hilfe des affektiv besetzten Gegenstandes in einen
mentalen Zustand, in dem die ontologischen Grenzen zwischen inne­
rer und äußerer Realität in der Schwebe gehalten werden. Schon der
Umstand, dass die beteiligten Erwachsenen dieses Spiel mit fürsorgli­
cher Aufmerksamkeit und entsprechenden Vorkehrungen unterstüt­
zen, ist wohl ein Hinweis darauf, dass sie selbst die Fähigkeit zu solchen
Grenzüberschreitungen nicht ganz verloren haben. Winnicott ist der
fIberzeugung, »daß die Akzeptierung der Realität als Aufgabe nie ganz
abgeschlossen wird, daß kein Mensch frei von dem Druck ist, innere
und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen zu müssen«;13 da­
her wird auch die erwachsene Person sich gelegentlich auf einen men-

i: n t m A<: i r r i c ii n <; i-: n i > i; k k i; a i. i t ä t [35]


talen Zustand zurückfallen lassen, in dem die Grenzen zur Außenwelt
wie aufgehoben scheinen und eine Art von ontologischem Übergangs­
bereich entsteht, der weder den bloß inneren Erlebnissen noch der
Sphäre objektiver Tatsachen angehört. Entdecken wir untereinander
»Überschneidungen«14 in diesen intermediären Sphären, so bildet sich
nach Winnicott eine gemeinsame Welt des Übergangs heraus, der ge­
genüber keiner von uns weitere Fragen aufwirft. Wir haben uns mitei­
nander in einen Zustand hineinversetzt, in dem wir uns des unerträg­
lich gewordenen Drucks der äußeren Realität dadurch erwehren, dass
wir Kindern gleich mit der Möglichkeit einer uns verfügbaren, einer un­
seren Wünschen gehorchenden Welt spielen.
Diese intermediäre Welt kann nun als ein Schlüssel dienen, um sich
viele Phänomene unseres profanen Alltags verständlich zu machen, die
unter der Prämisse eines rationalen, ausdifferenziertenWeltverhältnis­
ses nicht erklärbar wären. Winnicott will mit seinem Konzept vor allem
Zugang zum Gebiet kultureller Erfahrungen gewinnen, dessen Entste­
hung sich nach seiner Auffassung im wesentlichen einer solchen Ein­
klammerung der äußeren Realität verdankt;15 aber es hieße, das Anre­
gungspotenzial seiner Idee nicht zu nutzen, wenn man es nicht auf eine
Reihe weiterer Grenzbereiche unserer Erfahrungswelt anwenden
würde. Schon der Umstand, dass wir ohne jegliche Irritation Personen
dabei beobachten können, wie sie alte, vergilbte Fotos befingern und
betasten, um Kontakt mit den abgebildeten Menschen zu erlangen,
mag in diesen Zwischenbereich fallen; auch, dass wir es wie selbstver­
ständlich hinnehmen, wenn Personen aufs lebhafteste mit ihren Haus­
tieren kommunizieren, stellt ein Beispiel solcher Art dar.16 Jedes Mal
scheint es uns nicht weiter auffällig, dass hier menschliche Subjekte
leblose Dinge oder sprachlose Wesen in einerWeise behandeln, als ob
sie mit ihnen wie mit anderen Menschen eine vitale Kommunikation
unterhielten: Eine korrigierende Intervention schiene uns in solchen
Situationen unangebracht, weil wir entgegen unseren empirisch be­
währten Überzeugungen die Existenz einer Zwischenwelt unterstellen,
die weder dem Bereich bloß innerer Erlebnisse noch der Sphäre objek-
tiverTatsachen angehört.17 Gemeinsam setzen wir voraus, dass uns der­
artige Grenzüberschreitungen nicht unvertraut sind, in denen der
Druck der Außenwelt plötzlich wie eingeklammert scheint; wir bedür­
fen alle solcher Entlastungen gelegentlich, sei es um uns kontrafaktisch

|V>| i! n r mÄc ii t i (i u n i; i; n i>i: h rkai. ität


der Nähe geliebter Personen zu versichern, sei es um unserer Ängste
angesichts einer unverfügbaren Welt Herr zu werden.
In diesen Bereich einer rational geduldeten Metaphysik müssen auch
jene ontologischen Primitivierungen fallen, von denen zu Beginn die
Rede war. Angesichts des Schwersten, des Todes geliebter Menschen,
erlauben wir uns wechselseitig das reale Spiel mit der Möglichkeit, sie
würden noch unter uns weilen; weder um eine bloß innerlich erlebte
Phantasie handelt es sich dabei noch um ein Geschehen in der Welt äu­
ßerer Tatsachen, sondern um ein ontologisches Dazwischen, das eine
weitere Befragung gar nicht erst aufkommen lässt. Die kognitive Re­
gression erfolgt hier im Dienst einer aufgeklärten Bewältigung des Le­
bens. Denn im Unterschied zu Freud wissen wir inzwischen, dass die
Steigerung unserer rationalen Fähigkeiten von dem Vermögen abhängt,
sich gelegentlich von ihren Erfordernissen zu verabschieden. Trost be­
deutet unter den Bedingungen eines allseitig akzeptierten Naturalis­
mus nichts anderes als die erlernte Bereitschaft, sich unter Duldung al­
ler Beteiligten auf eine Stufe des eigenen Daseins zurückgleiten zu
lassen, auf der das Wünschen noch geholfen hat.

! ■: N T M Ä < (i II N ( N I) I- K Hi* AI. T ÄT 1 37]


> ALLES AUS WORTEN
H an s-G erd Schw andt

i.

an stelle sich die Situation vor: Ein Mann sitzt im Kerker und war­
M tet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Es wird ein grausa­
mer Tod sein. Der Mann ist unschuldig. Er hat seinem König gedient,
hat hohe Ämter bekleidet, er ist einer der großen Denker seiner Zeit.
Über Gott, die Vorsehung und die menschliche Freiheit, über Zeit und
Ewigkeit, über das Böse und die Verantwortung des Menschen hat er
philosophiert, die Frage nach der Theodizee hat er gestellt. Jetzt stellt er
sie erneut - und er stellt sie als einer, der »seiner selbst vergessen« hat,
der den eigenen Einsichten nicht mehr traut: »Gibt es einen Gott, wo­
her das Übel? Gib es keinen, woher das Gute?«
Was gibt einem solchen Mann noch Halt; was kann ihn trösten? Wird er
jetzt schweigen? Verbleibt er in der »Lethargie, der gewöhnlichen
Krankheit verblendeter Geister«? Wird er verzweifeln? Was bewährt sich
noch von dem, was er gedacht, geschrieben und gelehrt hat, und was
muss verworfen werden?
Das Schicksal des Boethius hat von jeher die Phantasie beflügelt. Die
Consolatio philosophiae, sein im Gefängnis entstandenes Werk, hat die
Philosophie des Mittelalters stark geprägt. Seither wurde es viel zitiert
und öfter noch als Steinbruch lebenshelfender Sentenzen verbraucht-
und manchmal scheint es, nicht die Stringenz des Denkens sei es, die
seinen Sätzen Gültigkeit verleiht, sondern das pure Schicksal des Man­
nes, der sie formuliert: die Nähe eines ungerechten und brutalen Tods.
Damit wird aber die Situation, in der einer »auf Leben oder Tod« denkt,
in ihr absurdes Gegenteil verkehrt: als tröste ein Todgeweihter sich -

I | A I. I. i: S A li s WO l(T li N
wider besseren Wissens - mit dem, was er einmal wusste und für rich­
tig hielt, als täusche er den bitteren Ernst nur vor, mit dem er jede sei­
ner Gewissheiten auf den Prüfstand stellt. Ein erbauliches Trostbuch
aber kann und will die Consolatio p h ilosop h iae nicht sein. Alles, was in
ihr gilt, ist aus Trümmern hervorgeholt und auf Gedeih oder Verderb auf
seine Gültigkeit hin untersucht. Hier tröstet nichts außer dem Denken;
ein Denken, das kritisch betrachtet und reinigt und verwirft und weni­
ges festhält; ein Denken, das nur einer Sprache traut, die mächtig genug
ist, der Übermacht des Faktischen die Möglichkeit einer anderen Reali­
tät entgegenzusetzen. Diese Welt ist aus Sprache gebaut - ein Stoff, der
im Kerker nicht besonders gut gedeiht, besonders verderblich unter
den Bedingungen der Angst, des Zweifels, der Verlassenheit. Trost ist
hier eine Welt aus Worten, die nur entsteht, nur Bestand hat, wenn sie
der Realität des Negativen abgerungen ist.

II.

Eine Welt aus Worten. Eine Welt aus »nichts als Worten« - wir neigen
dazu, ihr nicht zu trauen: als fehlten ihr Verbindlichkeit, Verlässlichkeit,
die Entschiedenheit, den Worten Taten folgen zu lassen. Trost spricht
aber oft genug in Situationen hinein, in denen nichts mehr getan wer­
den kann, jedenfalls nicht in Bezug auf das, was geschehen ist. Trost
bringt das nicht zurück, was wir verloren haben. Trost spricht etwas zu:
Es ist - noch - nicht alles ungültig geworden, was du für gültig hieltest.
Oder: Ich bin bei dir, ich fühle mit dir; ich kann nicht wegnehmen, was
dich weinen lässt, aber ich bin da. Dieses Zugesagte, dieses aus Worten
Gebaute ruft eine eigene Welt herauf - eine Gegenwelt, in der anderes
bestand hat als das, was uns jetzt leiden lässt.
Otherland. Tintenwelt. Es ist ein starkes Motiv der gegenwärtigen Fan­
tasy-Literatur, dem real life in seiner Schönheit, seiner Banalität und
Grausamkeit Gegenwelten zu entwerfen; »Gateways« zu öffnen in Ge­
genwelten, die keine Fluchtwelten sind, keine Wolkenkuckucksheime,
als die Ernst Bloch gern die Negativfolie zu seiner konkreten Utopie be-
zeichnete. Es sind, das wohl, virtuelle Welten, entstanden aus digitalen
I )atenmengen oder Tinte und Papier, aber mit einer Kraft, die Realität
bestimmt, prägt, verändert. Es sind virtuelle Welten nicht der Science-

A I. I. I! S AUS WO KT R N | 39 ]
fiction-Zukunft, sondern Gegenwelten der Gegenwart, manche schö­
ner und besser, manche auch grausamer als unsere Wirklichkeit. Ob
das, was wir aus Worten schaffen, zum Besseren oder zum Schlechteren
führt, ob es als positive oder negative Utopie endet, als Eschaton der Er­
füllung oder des Scheiterns, das ist nicht ausgemacht. Aber diesen Preis
sind die Menschen, die sich nach Otherland, in die Tintenwelt begeben,
bereit zu zahlen. Unverzichtbar ist ihnen - und deshalb gehören auch
diese Gegenwelten der Populärkultur in Gedanken über den Trost -
dass Worte, »nichts als Worte« Wirklichkeit setzen, sei es als Schrift, sei
es als digitaler Code. Nicht Fiktion, sondern Wirklichkeit - eine Wirk­
lichkeit, in der Gedachtes, Gesprochenes und eine zugesagte solidari­
sche Präsenz der Realität, die uns leiden lässt, standhalten. Vielleicht
sind ja nicht nur die Philosophie, die Religion, die Literatur, »vielleicht
ist ja«, wie es in Cornelia Funkes Tintenblut ein aus Tausendundeiner
Nacht heraus- und in eine andere Geschichte hineingefallener Junge
mutmaßt, »alles aus Worten« gemacht. Aus solchen Worten, die Über­
gänge ermöglichen oder sie zumindest ahnen lassen.
Vor diesem Hintergrund mag der Satz, es sei Denken, das tröstet, sich
differenzieren, um eine Dimension erweitern lassen. Denken, das der
Faktizität standhält, ihr widersteht, legt die Basis dafür, dass jemand -
oder etwas - trösten kann und dass ein Mensch sich trösten lassen
kann. Diese Basis muss derjenige, der sich trösten lässt, nicht notwen­
digerweise reflektieren, auf ihre intellektuelle Gültigkeit hin prüfen; er
muss sich aber einlassen auf die Verlässlichkeit dessen, der tröstet. Wer
tröstet, der schafft denkend - und in einer Sprache, die dessen mächtig
ist, sei sie worthaft oder nicht - den Raum, den es braucht, um eine Ge­
genwelt erahnen, bejahen und erfahren zu können; eine Gegenwelt zu
dem, was uns kränkt und ängstigt, was uns zweifeln, verzweifeln lässt.
Eine Gegenwelt, die noch nicht fertig ist, die gelingen, aber auch schei­
tern kann, die aber eben nicht allein von dem abhängt, dem ausgelie­
fert ist, woran wir leiden, sondern abhängt auch vom Engagement, von
der emotionalen wie der intellektuellen Kraft dessen, der tröstet, und
vom Vertrauen, der Bereitschaft und dem Willen dessen, der sich trös­
ten lässt. Ohne eine solche Basis ist der billige Satz, den Worten müss­
ten Taten folgen, unsinnig - weil auch Handeln nur dann tröstet, wenn
es etwas schafft oder in Aussicht stellt, das über die erlebte Situation
hinausweist. Sonst wäre es ein blindes Tun, das den HandelndenI

I yfO | A 1. 1. i: S A U S W O K T I-: N
trösten mag, ohne dem Leidenden zu helfen. Im Trost verändert sich
der Leidende selbst.
Die Bandbreite dessen, was tröstet, ist groß: von dort, wo es um Leben
oder Tod geht, um Hoffnung im Angesicht der Vergänglichkeit - Celan
spricht hier vom erschwiegenen Wort, »dem das Blut nicht gerann, als
der Giftzahn /die Silben durchstieß« - über Thomas’ sieben Tröstungen
der Seele (das Beten, das Weinen, das Erkennen, das Gespräch, das
Schlafen, das Baden und die Freude) bis zu den Situationen des Alltags,
wo schon ein einzelnes Wort, ein Gegenstand, ein Blick trösten können,
der Blick eines Menschen, aber auch der Blick eines Tiers. Auch wo der
Trost selbst nicht worthaft ist, schafft er oder berührt er im Getrösteten
eine Welt aus Worten, in der dieser leben kann, eine Welt, die nicht in­
nerlich bleibt, sondern die gelebte Realität verändert.

III.

Alles aus Worten. Aber es müssen schon die »richtigen« Worte sein: ver­
lässlich, realitätshaltig: mit intellektuellem Ernst gedachte, mit emotio­
naler Kraft ausgestattete Worte, gesichert durch Engagement und Red­
lichkeit. Es gibt Kriterien für die richtigen und für die falschen Worte.
»Alles wird gut.« Der »Kult« gewordene Erkennungssatz einer Modera­
torin machte einen Sommer lang die Talkshow zur Heilsveranstaltung.
Der Auftritt von Helfern und Heilem, von Experten für das Glück und
die Liebe, für die Spiritualität und die Macht der Sterne sollte Betroffe­
nen wie Zuschauern ein »entspanntes und reiches Leben« versprechen
- und am Ende stellte die Meisterin alle miteinander in eine scheinbar
echatologisch rettende, in Wahrheit aber streng innerweltlich gemeinte
Perspektive: »Alles wird gut.«
I )ie Kehrverse des herrschenden Narzissmus endarven sich selbst, so­
bald man beansprucht, sie wörtlich zu nehmen. Sowenig »alles in Ord­
nung« sein kann, sowenig wird jemals alles gut werden. Nicht hier und
nicht jetzt. Es gibt Vertrauen, das verspielt, Liebe, die getäuscht bleibt.
Hs gibt biografische Brüche, die bleiben, auch wenn das Leben weiter­
gellt. Es gibt Lücken, die nichts schließt, Wunden, die nichts heilt, Ka-
lastrophen, die jede Kontinuität beenden.

A u . i; s a u s w o kt i; n | 41 ]
Aber so will »Alles wird gut« auch nicht verstanden sein. Trösten kann
und trösten soll hier nicht ernsthaft die Aussicht, einst würden alle Trä­
nen abgewischt und der Tod besiegt (Apk 21,4), und auch eine verläss­
liche, auf Taten basierende Solidarität ist nicht angekündigt. Vielmehr
wird - so Theodor W. Adorno in »Herr Doktor, das ist schön von Euch«,
einem Text aus den M inim a Moralin, der wie kaum ein anderer Trost
verweigert und Drost gewährt - mit dem Gestus der »Angleichung«, der
Herablassung, hinweggetäuscht über eine »erkaltete Welt« und ihre
Plausibilitäten, die zu ändern mim weder fähig noch bereit ist.
Trost aber, verantworteter Trost, ist wörtlich zu nehmen. Er muss ge­
deckt sein: emotional und intellektuell gedeckt. Durch Pusten und ein
bisschen Spucke lässt ein Kind, das weint, sich über die Schramme am
Bein trösten - weil es weiß, dass es anderes, Tragendes gibt; neben dem,
was es weinen lässt. Sich trösten zu lassen, das hat die Bindungsfor­
schung bei Kindern erwiesen, ist ein Zeichen für die gefestigte, verläss­
liche Bindung eines Kinds an einen Erwachsenen. Trost stellt ein Kind
zurück aus dem Schmerz, aus dem Erschrecken in eine ihm vertraute,
durch Liebe abgesicherte Welt. Auch bei Kindern ist Trost kein Kinder­
spiel, keine Ablenkung vom Jammer, ohne dass der Grund des Jammers
ernst genommen würde. Was Trost dem Jammer entgegenstellt, was er
dem Weinenden in Aussicht stellt, das ist - bei einer kleinen Verletzung,
einem »kleinen« kindlichen Schmerz ebenso wie bei einem großen Ver­
lust - nicht weniger als die »Möglichkeit des Besseren«, an der der Trös­
tende festhält, weil er sie an sich selbst, an das eigene emotionale En­
gagement bindet. Die Basis dafür wird zwischen Erwachsenen und
Kindern durch Liebe gelegt. Wo es aber um die großen biografischen
Brüche, wo es um die Katastrophen der Geschichte geht, da ist Trost nur
dadurch möglich, dass einer gegen die Erfahrung der Negativität - in­
tellektuell verantwortet - »andenkt«. Vor diesem Hintergrund verliert
Adornos Diktum, » ...e s ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer
in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungeminder-
ten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält«,
seine kompromisslose, kaum lebbare Härte - es ist durch existenzielle
Erfahrung gedeckt.
Wenn es gelingt. Es gibt Grauen, vor dem der Tröstende scheitert. Es
gibt Negativität, der der Blick nicht standhält. Es gibt die Erfahrung,
dass Trost versagt, dass er misslingt, misslingen muss, weil das Elend zu

[ 42 1 A I. I. l; S AUS W O K T I- N
groß ist, als dass sich ihm - schon - etwas entgegensetzen, an die Seite
setzen ließe. Damit es Trost gibt, braucht es auch das Wissen um das,
worüber nicht getröstet werden kann. Überhaupt richtet Trost sich
nicht auf das, was geschehen ist, sondern auf den, der weinend zurück­
bleibt. Zwischen dem Weinenden und dem, worüber er weint, steht der,
der trösten will. Er hält mit seiner Person, durch seinen Einsatz, einen
Raum offen - einen Raum, den Trost füllen kann, vielleicht aber auch ei­
nen Raum, der - noch - leer bleiben muss. In Chor d er Tröster spricht
Nelly Sachs vom Cherub »in der Tiefe des Hohlwegs /zwischen Gestern
und Morgen«:

Seine Hände aber halten die Felsen auseinander


Von Gestern und Morgen
Wie die Ränder einer Wunde
Die offenbleiben soll
Die noch nicht heilen darf.

Dieses Bild vom Cherub ist ein erschreckendes und zugleich tröstendes
Bild. Cherubischer Kräfte bedarf es also, der Versuchung vorschnellen
Tröstens zu widerstehen. »... Die Blüten des Trostes sind zu kurz ent­
sprossen«, sie brauchen Zeit. Nicht weil Zeit selbst es wäre, die heilt
durch ihr pures Vergehen, sondern weil vieles geschehen muss, vieles
getan werden muss zwischen Tröster und Getröstetem. Es ist unserer
Schwäche geschuldet, dass dies nicht immer gelingt: weil dem Trost die
Basis fehlt oder weil seine Zeit noch nicht da ist. Wer tröstet, ist beim
beiden des anderen mit dabei, er qualifiziert, er verändert, er füllt die
Zeit des Leidens, aber er verkürzt sie nicht.
Verbunden sind Tröster und Getrösteter durch eine gemeinsame Hoff­
nung: die Hoffnung, dass der Jammer nicht das letzte bleibt, die Hoff­
nung, dass weiter gedacht werden kann, dass weiter sagbar bleibt: Am
Ende sind doch alle Tränen abgewischt, weil kein Tod mehr ist, kein
Schmerz und keine Lüge.

Al . I. l i S AUS WORTEN [43]


> SCHWACHER TROST
Christoph Tärcke

ie viel einfacher lebte es sich doch, als die ganze Gesellschaft


noch auf die Überzeugung gegründet war, die Welt sei von Gott
geschaffen und werde von ihm auf ein gutes Ende hingelenkt! Jeder Ein­
zelne konnte sich daran aus- und aufrichten. Sein ganzes Tun und Lei­
den bekam dadurch Sinn, während es heutzutage, angenagt von Zwei­
fel und Ungewissheit, imgleich schwerer zu ertragen ist.
So legen sich Zeitgenossen, die gern wieder fest an etwas Höheres glau­
ben möchten, mit Vorliebe das Verhältnis von Vergangenheit und Ge­
genwart zurecht. Als ob erst mit der Neuzeit der existenzielle Zweifel in
die Welt gekommen wäre. Doch schon in der Blütezeit der christlichen
Epoche hatte die Glaubensgewissheit immer an entscheidender Stelle
ein Loch. Wo die ewige Seligkeit als Endzustand der Welt fest stand, da
stand auch fest, dass nicht alle in ihren Genuss kommen würden. Wo­
vor sollte sie denn erretten, wenn nicht vor dem Verderben? Wo ewige
Rettung winkt, da droht auch ewige Verdammnis. Beide gehören zu­
sammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Ewige Seligkeit, sagt Tho­
mas von Aquin, ist »die Freude darüber, nicht verdammt zu sein«.
Doch wessen Leben war so rein, dass er Anrecht auf Rettung hatte? Nie­
mand würde im Gericht aus eigener Kraft bestehen können, alle nur
dank göttlicher Gnade. Gnade jedoch ist etwas, womit man nicht rech­
nen kann. Das hatte ja den Mathematiker Pascal an den Rand der Ver­
zweiflung getrieben. Man kann Gnade erhoffen, erflehen, aber wer sich
auf sie verlässt, hat sie bereits zur Kalkulationsmasse gemacht, sich
über sie erhoben - und sie verwirkt. So felsenfest der göttliche Heilsplan
auch zu stehen schien, so unerschütterlich die Überzeugung, dass Gott
die Menschen gut geschaffen und nie aufgehört habe, es gut mit ihnen

[ ^4 ) SC HWAC 11I! R T R OST


zu meinen: Niemand konnte hundertprozentig gewiss sein, dass das
gute Ende auch für ihn ein seliges Ende sein werde.
Dieser Stachel war bereits Bestandteil der christlichen Heilsgewissheit.
Die Neuzeit hat den Zweifel nicht erfunden. Sie hat lediglich jenes
bange, wortlose »Werde ich auch dazugehören?«, das alle plagte, aber
mit dem jeder allein war, in einen öffentlichen, diskursiven Zweifel ver­
wandelt, in Worte wie: Wir wissen nicht, ob ein allweiser und allgütiger
Gott die Welt geschaffen hat und leitet. Oder, radikaler: Wir glauben
nicht an einen solchen Gott, wir leugnen seine Existenz, weil sie in
schreiendem Widerspruch zum Elend der Welt steht.
Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilter, gemeinsam getragener und be­
sprochener Zweifel ist ungleich erträglicher als einer, den alle privat mit
sich herumschleppen. Sehr fraglich, ob die kollektive Unsicherheit, in
der sich moderne, aufgeklärte Menschen über Anfang, Ende und Sinn
ihres Daseins seither befinden, schwerer auszuhalten ist als die Pseudo-
Sicherheit einer kollektiven Heilsgewissheit, die für das Schicksal des
Einzelnen ebenso wenig besagt wie die durchschnittliche Lebenser­
wartung oder das Pro-Kopf-Einkommen.
In diesem Licht erscheinen selbst Brechts berühmte Verse Gegen Ver­
führung nicht mehr unbedingt als Ausbund der Trostlosigkeit.

Lasst euch nicht verführen


Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

Wenn tatsächlich »nichts nachher« kommt, dann auch keine ewige Ver­
dammnis. Ein schwacher Trost? Gewiss. Aber man muss sich daran ge­
wöhnen, dass jeder Trost, der diesen Namen verdient, schwach ist.
Nicht nur, dass wir Trost stets dort brauchen, wo wir schwach sind. Ein
Trost, der darauf aus ist, die Schwäche einfach zu beseitigen, Trauer und
Angst wie eine Wölke wegzublasen, ein Trost, der Töne anschlägt wie
»Es wird alles wieder gut; den verlorenen Menschen ersetzen dir an­
dere; fürs irdische Leben bekommst du das himmlische«: das ist billiger
Trost. Er kommt lärmend daher, wie »klingendes Erz und tönende
Schelle« - respektlos gegenüber dem, worüber wir trauern, worum wir

SC I I W A C H EK TROST | 45 ]
bangen. Es ist ihm damit nicht ernst. Er gibt es preis und schielt nach
Wiedererstattung, Wiedergutmachung durch anderes. Trauernde und
Bangende zeigen Würde, wenn sie solchen Trost verschmähen. Billiger
Trost ist keiner. Er übertönt und übertüncht, aber er tröstet nicht.
Ernster Trost hat teil an der Betrübnis. Er verscheucht sie nicht. Er tritt
leise hinzu und legt sich ihr wie Balsam auf: lindernd. Trost kann Leid
nicht beseitigen, nur lindern. Das ist stets zu wenig - und doch etwas
vom Schönsten, was Menschen einander tun können. Wenn wir Sterb­
lichen anderen nicht bloß den Schmerz betäuben, sondern das Leid lin­
dern, dann umgeben wir sie mit einer Aufmerksamkeit und Fürsorge,
die erahnen lassen, was Seligkeit wäre. Wahrer Trost ist diese schwache
Ahnung: ein glimmender Docht. Mehr ist uns hienieden nicht beschie-
den. Doch wenn etwa einem Sterbenden ein behutsames Wort, ein lan­
ger Blick, eine aufgelegte Hand zuteil wird, so kann das etwas tief Be­
glückendes sein - ein Trost, der auf den, der ihn spendet, übergeht. Wo
dies aber geschieht: Ist da wirklich noch wichtig, ob »etwas nachher
kommt« oder eben - nichts?

| 46 | s c: 11 w a c 11 R T RO ST
> VON DEN ZW ILLINGEN :
TOD UND TROST
Q ünther B ern d G inzel

orin findet man Trost? Warum benötigen wir Trost? Wer tröstet?
Der Allmächtige? Ist die Vorstellung des tröstenden Gottes, die
wir ja in allen Religionen kennen, nicht Voraussetzung für eine unsag­
bare Verdummung? Eine Konstruktion, die es den Geplagten und Ge­
schundenen ermöglicht, ihren Hass nicht auf die Urheber ihres Elends
zu konzentrieren - sondern auf einen jenseitigen Trost zu hoffen, bei
dem die Letzten die Ersten sein werden? Prediger - und ich bin ein lei­
denschaftlicher Hörer von Übertragungen sonntäglicher Kirchengot­
tesdienste - scheinen das immer genau zu wissen. Da ist dem Lieben
Gott jede Autonomie genommen, er hat mild, lieb und vor allem trös­
tend zu sein. Die Frage eines Emst Simon, ob Gott entweder die Welt zu
schlecht oder den Menschen zu schwach gemacht habe, wird nicht ge­
stellt. Warum müssen wir auf den Trost des Himmels bis ins Jenseitige
warten, wo doch die Übel recht irdisch sind? Warum ertönt keine
Stimme vom Himmel und beseitigt die Ursachen, deren Vorhandensein
uns erst trostbedürftig werden lassen?
Oder ist die Frage falsch gestellt? Ist denn Trost nur ein Geschenk, das
einem ohne eigenes Zutun zuteil wird? Hat Trost nicht auch etwas mit
Hewährung zu tun? Ist es nicht eine intellektuelle Leistung, die uns, si­
cher auch Dank der religiösen Chiffren, in die Lage versetzt, auf eine Si-
luation angemessen zu reagieren und Trost zu spenden? Andererseits
stoßen wir dabei an die Grenzen des uns Machbaren, des unmittelbar
durch einen selbst zu Verändernden. Es ist die wohl bitterste Situation,
in die man hineingeraten kann. Einem Janusz Korczak blieb nur ein
Trost: Er hat das ihm mögliche in der gegebenen Situation getan. Auf

VON I) 1: N / \X I I I I \ (, t \ Till) UND TROST [47]


dem Weg in die Gaskammer von Treblinka stimmte er ein Lied an, um
seine Waisenkinder über das Furchtbare zu täuschen, dass sie erwar­
tete. Trost wäre danach etwas Aktives, ein Geschehen, in dem man nicht
mehr allein Objekt ist, sondern zum Handelnden wird - und sei es »nur«
im geistigen Sinne, wie die Märtyrergeschichten in allen Religionen be­
legen.
Was Johann Baptist Metz und mich seit Jahrzehnten verbindet, ist die
Sehnsucht nach der bergenden Hand Gottes, die alles gut, frei macht -
und die Furcht, dass dies nach Auschwitz ein fast blasphemischer Ge­
danke sein kann. Und dennoch haben wir nicht aufgegeben, nach dem
befreienden Gott des Sinai zu suchen, das Prophetische Ernst zu neh­
men, Zedakka einzufordern. Wir leben diese Widersprüchlichkeit, glau­
ben trotz Zweifeln, und trösten uns nicht zuletzt mit dem Gedanken,
dass all dies eine Einheit darstellt und wir allenfalls dazu beitragen kön­
nen, dem Guten ein wenig mehr Raum gegenüber dem Bösen zu ver­
schaffen. Doch Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, ist si­
cher eine tiefgläubige Form eines aktiven Trost-Suchens und -Findens.
Aus der Ohnmacht des Nicht-Verstehen-Könnens auszubrechen oder
sich aus demütigender Passivität zu befreien, in die uns so manche Her­
ren und Hirten gern verbannen würden, hat etwas Befreiendes. Trost ist
in diesem Sinn Teil menschlicher Autonomie, religiös gesprochen, Aus­
druck unserer Gottesebenbildlichkeit und damit nicht einfach Ge­
schenk, sondern Auftrag.
Wie so oft ist dabei nicht die Erlangung des Zieles das Entscheidende,
sondern der Aufbruch, das Durchhalten: Die Suche selbst kann helfen.
Hanna Saffai, berichten Schüler und Verwandte dieser wunderbaren
Lehrerin Israels, ist lernend aus dieser Welt gegangen. Noch auf dem
Sterbebett nach der Wahrheit Gottes zu forschen, Tora zu lernen: das jü ­
dische Ideal schlechthin. Trost und Tod, sicher Zwillinge, in allen Reli­
gionen. Wenn erst einmal der Tod nicht mehr aufzuhalten ist, wird im
»glücklichen« Fall ein Prozess eingeleitet, an dessen Ende Gelassenheit,
Ruhe, Barmherzigkeit steht, die Überwindung von Wut und Verzweif­
lung und die Erlangung einer großen Freiheit, den eigenen Tod den an­
deren leicht zu machen, sie auf das Leben zu verpflichten, die Kinder
noch einmal zu segnen. Segen - Leben-Trost.I

I /(H | VON 1) i: N Z W [ I. ]. I N (', !■: N : l()l» UNI) TROST


ZWEI ERLEBTE GESCHICHTEN ZUM THEMA TROST

Meine bereits betagte Mutter, die mich zu einem Studienaufenthalt


nach Jerusalem begleitet hatte, kollabierte und wurde in das alte Share-
Zedek-Hospital gebracht, wo sie tagelang zwischen Tod und Leben
schwebte. Nachts, wenn in der Klinik Ruhe einkehrte, zwischen Mitter­
nacht und Morgengrauen, tauchten aus den Krankenzimmern Mütter,
Väter, Söhne, Töchter auf. Die Kranken hatten endlich Schlaf gefunden
und wir sammelten uns auf den Fluren. Wir redeten nicht miteinander
und doch verstanden wir uns, erlebten wir doch edle die gleiche Sorge
und Verzweiflung angesichts der Schwerkranken hinter den Türen. Und
was taten wir? Das, was Israel in Notzeiten immer tut: Wir lasen die Psal­
men. Ob sie den Herrn im Himmel erreichten, weiß ich nicht, aber ich
empfand Trost.

Eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich gut an das Sterben von Hel­
mut Eschwege in Dresden. Wir kannten uns aus der gemeinsamen Ar­
beit über die Zeit des Dritten Reiches. Er ein Überlebender, der vor den
Nazis nach Palästina flüchtete und nach dem Krieg die erste Möglich­
keit nutzte, in die gerade gegründete DDR »zurückzukehren«. Ein ver­
träumter Sozialist, dessen Hoffnungen auf dem Aufbau einer glaub­
würdigen antifaschistischen Ordnung auf deutschem Boden ruhten.
Immer wieder fiel er dank seines Idealismus und der daraus resultie­
renden Bereitschaft zur Kritik in Ungnade, wurde aus der SED ausge­
schlossen, und wurde letztlich einer der Väter des christlich-jüdischen
Dialogs in der DDR. Nicht als religiöser Mensch, sondern als ein atheis­
tischer Zeitzeuge, der jüdischen Optimismus und sozialistische Utopie
verband. Und ich, der Nachgeborene aus Westdeutschland, den die
Warum-Fragen nicht loslassen, uns hat ein Ereignis zusammenge­
schweißt: Wir waren beide zum Evangelischen Kirchentag nach Rostock
eingeladen, lange vor dem Fall der Mauer. Dem Regime war diese Ein­
ladung erkennbar nicht recht, der ganze Kirchentag war ihnen ein nicht
zu kontrollierendes Ärgernis. Und so saßen wir also in Rostock auf ei­
nem Podium - und wir waren die einzigen Referenten, denen die Na­
men von der Zensur genommen worden waren. Anonymisiert stellte
uns das Programmheft vor: »Ein Jude aus der DDR« und »Ein Jude aus
der BRD«. Das Stehlen, Rauben des Namens erschien uns wie ein intel-

VIIN DliN /. W I I. I, I N l i li N TOI) UNI) TROST [49]


lektueller Mordversuch und wir haben beide, unabgesprochen, in glei­
cher Heftigkeit und Polemik öffentlich protestiert und darüber reflek­
tiert, wie wenig die notwendigen Konsequenzen aus Auschwitz in
deutsch-deutscher Harmonie gezogen worden waren. Für mich, den
man schlimmstenfalls aus dem Arbeiter- und Bauernstaat hätte aus-
weisen können, kein Heldenstück, anders für den DDR-Bürger
Eschwege. Das schweißte uns zusammen. Nach dem Fall der Mauer war
es mir ein Anliegen, in einer Fernsehdokumentation über die Bemü­
hungen von »Juden, Christen und Atheisten« zu berichten, die den Dia­
log schon zu Zeiten der DDR geführt hatten. Eschwege war bereits tod­
krank. Er konnte nur wenige Sätze sprechen, dann sackte er zusammen.
Aber er zwang sich, fand so etwas wie Trost darin, mit seiner letzten
Kraft über die Enttäuschungen in seinem Leben zu sprechen, darüber,
dass die SED seinen Traum verraten habe. Tage später ließ mich Helmut
Eschwege an sein Krankenlager rufen. Er, der immer gegen Gott rebel­
lierte, wolle mit mir beten. Dieser Wunsch überraschte mich und zu­
gleich ergriff mich die Angst vor der Begegnung mit dem nahenden Tod.
Zudem wußte ich nicht, was wir beten sollten, hatte ich ihn doch noch
nie betend erlebt. Als man ihm sagte, ich sei gekommen, erwachte er
aus seiner Apathie. Ich werde diese strahlenden Augen in dem weißen
Gesicht nie vergessen. Ich war tief erschüttert, sprach mit ihm das tra­
ditionelle Sündenbekenntnis. Wort für Wort flüsterte er mir nach. Dann
beteten wir das Schema, das »Höre Israel«. Und da richtete sich der
schwache Mann im Bett auf und mit lauter Stimme betete er mit, wie
befreit. Und wir beide wußten, was dieses in die Länge gezogene echad,
das Bekenntnis zum EinzigEinen, bedeutet: der Abschied. Fand er Trost
darin, versöhnt mit Gott zu sterben?
Für diesen kurzen Gruß an Johann Baptist Metz unterbreche ich die Ar­
beit an einer Dokumentation über den Aufstand im Warschauer Getto.
Es bewegt mich eine Duplizität der Ereignisse über alle Maßen. Am 19.
April 1943 feierten jene, die wollten und konnten den Seder, den Auftakt
dieses Freudenfestes Pessach, das »Fest unserer Freiheit«, die Erinne­
rung daran, wie Gott »unser« Klagen hört und sich »erinnert«, was er
einst den Vorvätern und Müttern geschworen hatte. Er rettet aus dem
Sklavenhaus, führt in die Freiheit des Landes und schließt mit dem gan­
zen Volk seinen Bund. So lasen sie damals, in Warschau, in der Haggada,
die letzten Fünfzig-, Sechzigtausend, sprachen die inbrünstig messia-

[ 50 | VON O i: N Z.WII.I.INdllN: TOI) UNI) TROST


nischen Gebete, dankten Gott für die Rettung - und die Stärksten von
ihnen gingen anschließend in die vorbereiteten Stellungen, jeweils 6
Personen mit einer Pistole. Ihr immer wieder bekundeter Trost: Sie wer­
den nicht durch die »Schornsteine von Auschwitz oder Treblinka ge­
hen«, sondern im Widerstand sterben. Wenig später feierte die SS mit
der Sprengung der großen (liberalen) Synagoge von Warschau ihren
Sieg: Warschau war judenfrei.
In diesem Jahr 2008 feierten wir abermals an einem 19. April Seder. In
unserer liberalen Gemeinde in Köln haben wir eine Tradition begrün­
det. Wir trinken nicht nur die vorgeschriebenen vier Glas Wein, halten
ein weiteres Glas für den Boten des Messias bereit. Wir haben noch ei­
nen Becher Wein eingeführt, in Erinnerung an die Umgekommen in der
Schoa. Dass wir nach allem immer noch - und sicher auch freudig - Se­
der feiern können und wollen, und dass wir unsere Toten mit hinein in
unsere Feier des Lebens und des Glaubens nehmen, macht uns weh­
mütig, glücklich, gibt uns Kraft und Entschlossenheit, das Judentum
des Fragens, wie es in dieser Nacht der Vier Fragen von den Jüngsten am
Tisch symbolisiert wird, fortzuführen. So vorwärtstreibend kann Trost
sein.

V N I) l< N Z W I 1. 1.1 N (i I! N O I) U N D TROST » I


> TROST - DAS MÜTTERLICHSTE
ALLER WÖRTER
Fulbert Steffensky

ch erzähle von einer Zeit meines Lebens, die trostlos war und in der
I ich am meisten Trost erfahren habe. Ich erzähle von der Zeit nach
dem Tod meiner Frau. Nicht getröstet hat mich, wenn jemand ver­
suchte, meinen Schmerz zu mindern. »Das Leben geht weiter«, haben
mir wohlmeinende Leute gesagt und: »Die Zeit heilt alle Wunden.« Es
gibt abstrakte Richtigkeiten, die zugleich konkrete Falschheiten sind.
Das Leben ging eben nicht weiter. Nie mehr habe ich ihre Hand gehal­
ten, nicht mehr mit ihr geredet und gestritten, nie mehr mit ihr Wein ge­
trunken. Das Leben ging nicht weiter und den Schmerz darüber konnte
mir niemand ausreden, auch nicht mit einem religiösen Satz. Die Sätze
des Glaubens haben nichts vom Schmerz genommen - Gott sei Dank.
Sonst wären sie nichts als Vertröstungen. Aber es gab viele Arten des
Trostes, die den Schmerz ernst genommen und ihn nicht gemindert ha­
ben.
Den tiefsten Trost aus jener Zeit will ich nennen, es waren Freunde und
Freundinnen, die mich oft besuchten und die den Schmerz ehrten. Sie
haben keine tröstenden Worte gefunden, sie waren da und sie haben
sich von meinem Unglück nicht vertreiben lassen. Das Unglück ver­
treibt ja oft die Freunde und trostlos macht einen nicht nur, was man
erlitten hat. Trostlos macht uns die Einsamkeit, weil Menschen in der
eigenen Selbstverständlichkeit des Lebens so wenig die Weltuntergänge
der anderen ertragen. Meine Freunde sind geblieben, sie haben mir den
Schmerz gelassen. Wir haben über die Tote gesprochen, die Lieder ge­
sungen, die sie mochte, und ihre Texte gelesen. Die Trauer wurde nicht
gemildert, aber geteilt. Der Trost der Freunde war ihre Anwesenheit,

I52) TROST DAS M (I T T I- RI . I C II S T I- A U E R W ftRTliR


keine klugen Worte und kein Versuch, mich aus meinem Abgrund zu
retten. Sie waren übrigens nicht nur für mich da, sie waren auch da als
sie selbst, mit ihrer Arbeit, von der sie erzählten, mit ihren eigenen Sor­
gen und mit ihrem Glück. Sie waren auch als Hungrige da, ich musste
sie füttern, und später habe ich meinen »verfressenen 'fröstern« ein
Buch gewidmet. Sie haben mich nicht eingeschlossen gelassen in ei­
nem Trauemarzissmus, in dem man nicht mehr wahrnehmen kann als
sich selbst im eigenen Unglück. Indem sie mit sich selbst da waren,
nicht nur für mich, haben sie mir gezeigt, dass es noch etwas anderes
gibt als mein eigenes Unglück. Sie haben mich langsam in die Welt zu­
rückgeführt, in die ich eigentlich nicht mehr wollte.
Der erste Impuls, nachdem einem eine große Lebenswunde geschlagen
wurde, ist ja - vielleicht gerade bei uns Männern - die Flucht in die Ein­
samkeit. »Wie’s da drin aussieht, geht niemand was an.« Es ist eine
schwer auszurottende Trostlosigkeit, es ist der Versuch, auch im Un­
glück Meister unserer selbst zu sein und nach außen zu tun, als sei
nichts geschehen. Das große Unglück macht einen klein und bedürftig.
Sich selbst dem Trost nicht entziehen heißt auch, sich einzugestehen,
dass man mit sich allein nicht fertig wird. Man ist angewiesen. Diese Be­
dürftigkeit ist vielleicht die größte Kunst, die man lernen kann. In den
wichtigsten Dingen des Lebens ist man nicht sein eigener Meister. Ei­
nen Menschen trösten heißt ihn bedürftig sein zu lassen; ihn weinen zu
lassen; ihn kleiner sein zu lassen, als er ist. Wenn ein Mensch einen Un­
glücklichen in den Arm nimmt, macht er fast automatisch eine wie­
gende Bewegung. Er wiegt den Geschlagenen, wie man ein trostloses
Kind wiegt. Es ist einer stark und es kann einer schwach sein. Welche Le­
benserleichterung, dass man in den Niederlagen des Lebens nicht sein
einsamer Meister sein muss. Und welche Größe, auf die trostlose Kunst
der eigenen Lebensmeisterschaft zu verzichten.
( iewiss sind es nicht nur Menschen, die trösten. Man könnte es einen
objektiven Trost nennen, dass am Morgen die Sonne aufgeht und am
Abend unter, dass die Vögel singen und der See sein Lächeln nicht ver­
loren hat. Es sagt keiner den dummen Spruch: Das Leben geht weiter.
Aber man spürt es im Strahl der Sonne, im Spiel des Schattens und in
der Farbe der Rose: Die Welt ist untergegangen und sie ist nicht unter­
gegangen. Das Leben macht keine dummen Sprüche, es zeigt, dass es
weitergeht.

T KOST DAS 11
M ( I T T li H I I C II S T I! A . . V
.R W Ö R T H R [53]
Es gibt nicht nur die persönlichen Weltuntergänge. Es gibt auch die gro­
ßen Niederlagen und die trostlosen Zustände, die den Lebensmut auf­
fressen. Jetzt arbeiten Menschen schon so lange an der Möglichkeit des
Friedens, und die Waffenarsenale sind voller denn je. Gruppen arbeiten
an der Rettung der Schöpfung, und das Wasser, die Erde und die Atem­
luft unserer Kinder sind bedrohter denn je. Sie arbeiten schon so lange
an der gerechten Verteilung der Güter, und die Brutalität der ökonomi­
schen Systeme wächst. Wer an der Gerechtigkeit arbeitet, hat eine fast
unendliche Idee: dass das Recht wie Wasser fließen soll; dass niemand
Beute eines anderen werde. Aber er ist ein endlicher Mensch. Wie kön­
nen diese Menschen in kleinen Schritten gehen und den großen Ge­
danken nicht verlieren oder nicht zugunsten des großen Gedankens in
Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere verfallen? Wie behalten sie
die Distanz zu sich selbst und lernen den Satz zu sprechen: Geschlagen
ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechterfs besser aus!
Um nicht in trostloser Lähmung zu versinken, müsste man die große
Kunst lernen, sich selbst als endliches Wesen zu begreifen. Was ich da­
mit meine, sage ich in Erinnerung an Daniel Berrigan, den mutigen
amerikanischen Friedensaktivisten, der wegen seiner Friedensarbeit in
den USA lange im Gefängnis war. Einmal hat er uns besucht nach einer
solchen Gefängniszeit. Er war müde und abgespannt und wollte bei uns
lesen, Musik hören, beten und mit uns ins Theater gehen. Es kam ein
Anruf aus einem Friedenscamp, wo viele junge Leute zusammen wa­
ren. »Daniel muss sofort kommen!«, sagte der Leiter des Camps. »Hier
hat er sein Publikum und hier ist er unentbehrlich!« Berrigan verwei­
gerte sich und sagte: »Jetzt will ich Wein trinken und beten. Ich wül ins
Konzert gehen und ausruhen. Wenn es an mir allein liegt, ist die Sache
sowieso verloren.« Mir hat die Ruhe dieses unruhigen Herzens impo­
niert. Er konnte ohneVerzweiflung arbeiten, und er kannte seine eigene
Endlichkeit. Man kann wohl nur dann langfristig arbeiten und den Ge­
danken des Rechts behalten, wenn man weiß, dass man nicht Erster
und nicht Letzter und nicht Gott sein muss. Wir sind Teil eines Ganzen.
Wir haben Väter und Mütter, die vor uns gelacht und geweint haben, ge­
arbeitet und geträumt. Wir haben Kinder und Enkel, die weiter an dem
Karren der Freiheit ziehen, den wir selbst ein Stück weiter gebracht ha­
ben. Vielleicht muss man wirklich an Gott glauben, um dem größen­
wahnsinnigen Gefühl zu entkommen, dass wir die Garanten der Welt

I vt 1 TROST DAS M O T T li K I. I C II S T I: Al . l . l i H WÖRTliR


sind und dass an unserem Wesen alles genesen muss. Nur wenn man
eine Herkunft hat, kann man eine Zukunft denken, die nicht nur aus
uns selbst besteht, sondern aus der Kraft von allen; aus der Kraft unse­
rer Toten und der Kraft unserer Enkel, und schließlich aus der Kraft Got­
tes. Wir bauen an der Zukunft, aber die Zukunft besteht nicht nur aus
uns und unseren Kräften. Man braucht Humor mit der eigenen End­
lichkeit, um nicht der Resignation und der Gewalt zu verfallen.
Daniel Berrigan hat das Gefängnis nicht gescheut im Dienst seiner gro­
ßen Idee, und er hat Wein getrunken und Musik gehört. Er hat gerne für
seine Freunde und Freundinnen gekocht und mit ihnen gegessen, und
er hat Demonstrationen angeführt. Er war von wundervoller Wider­
sprüchlichkeit und hat nicht behauptet, es gäbe im falschen Leben kein
wahres. Er konnte im Lande wohnen und ein vaterlandsloser Geselle
sein. Er war ein Heutiger und mit seinen großen Wünschen ein Morgi­
ger. Die eine Gefahr ist ja, sich mit dem falschen Trost der Gegenwart zu
betäuben; die andere: ein ewig Morgiger zu sein, der keine Blume sieht,
die jetzt schon am Wege blüht; der unerträglich ist für andere und sich
selbst. Die Kunst, sich als endliches Wesen zu begreifen, ist das Ende der
trostlosen Verbissenheit.

I R O S I­ DA s M 0 I I i; R 1.1 < ll S T i; A I w O rt i; R [ 55 ]
> W ID ER DIE STILLE
C a rl W ilhelm M acke

Trost wohnt im Himmel, und wir sind auf Erden,


wo nichts als Kreuz, als Sorg’ und Kummer leben.
(Shakespeare, R ichard II.)

nsere Welt ist zu leise. Warum zögern immer mehr Menschen


U Krach zu schlagen, zu Lärmen, auf die Pauke zu hauen, notfalls zu
schreien? Alles sehnt sich nach Gemütlichkeit, Rückzug vor dem Krach
da draußen in der Welt. Man preist, falls christlich-katholisch geprägt,
den Herrn im Himmel - neuerdings wieder in lateinischer Sprache - an­
sonsten aber geht Ruhe, Stille, Sofa und eine Tasse Tee über alles (Theo­
dor Fontane). Neue Werte braucht das lärmgeplagte Land: gelobt wird
das Kind, wenn es »still ist.« Getadelt wird es, wenn es Krach macht. Mu­
sik zum Meditieren und >Relaxen< steht ganz oben auf den Listen der
meistverkauften CDs. In jedem größeren Neubau müssen »Wellness-
Zonen« und Room s ofS ilen ce heute immer mitgeplant werden. Stille ist
>in<. Lärm ist >out<. Schlagbäume gibt es nicht mehr an unseren (inner)
europäischen Grenzen. Dafür scheinen unsere Länder aber immer
mehr Hotelzimmern zu ähneln, an deren Türen jene kleinen Papier­
schilder angebracht sind, die vor dem Eintritt warnen: Bitte nicht stö-
ren.Von »Kreuz, Sorg und Kummer auf Erden« möge man uns verscho­
nen.
In seiner großen Reportage über den historischen »Fußballkrieg« zwi­
schen Honduras und Salvador im Jahre 1969 unterbricht der polnische
Journalist Ryszard Kapuäciriski an einer Stelle seine Chronik. »Es wird
höchste Zeit«, schreibt Kapusciriski scheinbar vollkommen unvermit­
telt in seiner Reportage, »der Stille mehr Beachtung zu schenken [...].I

I y> I WI I) li K I) 1l; ST I I, I, I!
Die Geschichtenschreiber schenken den sogenannten lauten Momen­
ten zu viel Aufmerksamkeit, während sie Perioden der Stille vernach­
lässigen. Die Stille ist ein Vorbote des Unheils, oft sogar des Verbre­
chens. Sie ist ebenso ein politisches Instrument wie das Klirren der
Waffen oder die Rhetorik auf einer Versammlung. Tyrannen und Okku­
panten, die darauf bedacht sind, dass Schweigen ihr Werk umhüllt,
brauchen diese Stille ... Welche Stille alle Länder mit überfüllten Ge­
fängnissen atmen! Die Stille hat ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse.
Es ist ein Gebot der Stille, Konzentrationslager in menschenleeren Ge­
genden zu errichten. Die Stille verlangt einen großen Polizeiapparat. Sie
verlangt ein Heer von Spitzeln. Die Stille fordert, dass Feinde der Stille
plötzlich und spurlos verschwinden.« Stille, klärt uns der weit gereiste
Kapuscinski weiter auf, sei überall auf der Welt am häufigsten verbun­
den mit Worten wie Friedhof, Schlachtfeld, Verlies. Wo gefoltert wird,
achten die Schergen zuerst immer auf schalldichte Räume. »Die Stille
hätte es gerne, dass ihre Ruhe durch keine Stimme - der Klage des Pro­
tests, der Empörung - gestört wird. Wo eine solche Stimme erklingt,
schlägt die Stille erbarmungslos zu und stellt die ursprüngliche Ord­
nung wieder her - das heißt den Zustand der Stille.«1
Klagen über mangelnde Stille und eine unsere Wahrnehmungsmög­
lichkeiten überflutende Fülle an Informationen sind weit verbreitet.
Aber warum hören und lesen wir von den alltäglichen Belanglosigkei­
ten in unseren medialen Überflussgesellschaften immer so viel und von
den Überlebenskämpfen in anderen Ländern und Regionen der Welt
immer so wenig? Für die mediale Aufmerksamkeit sind diese Länder
einfach uninteressant, weil dort zu viel Ruhe herrscht. >Blood sells< -
und wo kein Blut in Strömen fließt oder keine Naturkatastrophe Touris­
ten aus den reichen Ländern der Welt in den Tod reißt, herrscht Stille
und Frieden. Aber diese Stille kann trügen. Man nehme sich nur einmal
bei einem Tee auf dem Sofa die Zeit, die laufende Chronik von am nesty
inlernational, den Reportern ohn e Grenzen, von Human Rights Watch
oder auch den täglich online publizierten Newsletter von Radio Vatikan
zu lesen. Nichts als von »Kreuz, Sorg und Kummer« wird man dort er­
fahren, vom Trost im Himmel jedoch nur wenig. Nehmen wir als Bei­
spiel dieser sedativen Weltwahrnehmung mal einen Berufsstand, der
uns professionell mit aktuellem Wissen über den Zustand der Welt ver­
sorgen soll.

WI l>li l< 1)1 li sr 11. 1, ii ( 57 ]


Ganz oben in der Ausbildung von jungen Journalistinnen und Journa­
listen stehen heute Forderungen nach »mehr Qualitätsmanagement«,
»spezifischen Crossmedia-Kompetenzen«, Kenntnisse von »Content
Management« und »Benchmarking«. Wer auf dem medialen Markt der
Zukunft konkurrenzfähig sein will, muss das alles beherrschen, wie
man den Zielsetzungen diverser Journalistenschulen entnehmen kann.
»Journalistische Ethik« aber und mitfühlende Solidarität für die Opfer
im weltweiten Kampf um Presse- und Meinungsfreiheit kommen in
diesen Schulungsangeboten für die kommenden Journalistengenera­
tionen nicht vor. Aber schon mal etwas gehört von Journalisten und Me­
dienmitarbeitern, die ihre Arbeit mit dem Leben bezahlt haben? Die in
Gefängnissen sitzen, nur weil sie Recherchen über politische Korrup­
tion in ihren Ländern durchgeführt haben? Die unter Polizeischutz ste­
hen, weil sie das Netzwerk organisierter Kriminalität offengelegt ha­
ben? Die aus ihrem Land fliehen mussten, weil sie als Zeugen von
Massakern ihrer Regierung unbequem wurden? Die starben, weil sie
über die alltäglichen Gewaltgreuel in Kriegs- und Krisenregionen be­
richten wollten? Seit den ersten Tagen des Militäreinmarsches in den
Irak sind dort weit über 100 Journalisten und Medienmitarbeiter getö­
tet worden. In Ländern wie Mexiko oder Kolumbien muss jeder Journa­
list, der über die Drogenmafia recherchiert, immer mit dem Tod rech­
nen. Wer sich in Hilfsorganisationen wie am nesty international, den
Reportern oh n e Grenzen oder auch Vereinen wie Journalisten helfen
Journalisten engagiert, wird ständig mit den Schicksalen von Journalis­
ten, Medienmitarbeitem und Schriftstellern konfrontiert, die das Men­
schenrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit mit hohem persönlichen
Risiko verteidigen. Auf Erden nichts als Kreuz, als Sorg’ und Kummer...
Es gibt gute Gründe, hier zynisch, sarkastisch oder einfach gleichgültig
zu werden. Das weltweite Leidenskataster ist einfach zu umfangreich,
zu erdrückend, zu deprimierend geworden, um an eine Veränderung zu
glauben.
Könnte man da nicht, wie es im Italienischen heißt, dem Menefreg-
hism o huldigen? Jener Mentalität, bei der es keine Unterscheidung von
Wichtig und Unwichtig, von Pflicht oder Laisser-faire gibt. Nur was Kar­
riere, Gesundheit, Lust und Laune fördert, hat Bedeutung. Alles andere:
m e ne freg a niente und »Bitte nicht stören!« Hier auf Erden ist den ver-

[ 58 | W I 1) I! K I) I H S T I 1. I. I:
gessenen, den verdrängten, den gedemütigten Opfern von Gewalt und
Terror ohnehin nicht mehr zu helfen. »Trost wohnt im Himmel« ...
Warum engagieren sich dann aber trotzdem viele Menschen - und es
sind vor allem viele Jugendliche und auffallend viele Frauen darunter -
in Projekten und Netzwerken, die in einem vielleicht naiven Sinne und
»wider alle Vernunft« an eine Verbesserung der Welt glauben? Seit Jah­
ren existiert ein ermutigend dichtes internationales Solidarnetz zwi­
schen Organisationen wie Reporter oh n e Grenzen, am nesty internatio­
nal, PEN und diversen kleineren Initiativen für den Erhalt der Presse-
und Meinungsfreiheit. Journalistinnen und Journalisten aus fast allen
klassischen und neueren Ressorts der Medien unterrichten sich dort
gegenseitig über Notfälle unterdrückter oder bedrohter Kollegen, sie
sammeln Geld oder technisches Equipment für Medienprojekte auf
dem Balkan, in Afrika oder Lateinamerika. Sie unterstützen auf jede er­
denkliche Art - und das fast immer jenseits öffentlicher Aufmerksam­
keit - Publizisten und Schriftsteller, die beispielsweise aus ihren dikta­
torisch geführten Heimaüändern nach Deutschland geflohen sind.
Vielleicht findet man in diesen, durch das Internet auch eng miteinan­
der verknüpften Initiativen für eine Civil G lobalisation genau das, was
Johann Baptist Metz in einem anderen Zusammenhang als Compas-
sion definiert, als die »teilnehmende, als verpflichtende Wahrnehmung
fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der Anderen.«2 Und ist
es nicht auch ein Zeichen des Trostes, dass in diesem Netzwerk der be­
kennenden Weltverbesserer und der globalen Ruhestörer viele christ­
lich inspirierte Initiativen3 unverzichtbar sind? Aber eines Trostes, den
man auf Erden und nicht erst im Himmel finden will. Ein Trost, der im
Sinne des Hebräerbriefes auf die Bruderliebe und Gastfreundschaft ver­
traut, mit denen man, wie es dort heißt, vielleicht einen Engel trifft und
beherbergt.

w 11) i: k i) 11! s t 11.1.1; [ 59]


> TROST DER ICH FREUN D LICH KEIT
Friedrich M eschede

ie Beiträge dieses Bandes sind einem sehr existenziellen Bedürfnis


D gewidmet. Der meine wendet sich ihm, dem Trost, aus der Per­
spektive der bildenden Kunst zu. Das liegt nahe, diente doch Kunst in
fast allen Religionen immer auch diesem Verlangen nach Trost. Das
wohl berühmteste Beispiel für diese »Tröstungskräfte« (Metz) stellt der
Isenheimer Altar von Matthias Grünewald aus den Jahren 1512-1516,
heute im Museum Unterlinden in Colmar, dar. Er sollte den Aussätzigen
des Hospitals als Trost dienen.
Gleich zu Beginn des Schreibens unterlief mir ein Tippfehler: Statt
»Trost« lese ich »Trust« auf meinem weißen Blatt Papier. Aus dem
deutsch gedachten Wort war unvermittelt ein englischer Begriff gewor­
den. Aus Gedanken an Aufmunterung und Erleichterung, also an Tröst­
liches, entwickelte sich nun spontan eine Reflexion über Vertrauen, der
Übersetzung von »trust«. Das Nachdenken wurde ausgelöst durch das
Bild eines falsch gesetzten Buchstabens und die Verwechslung inhaltli­
cher Bedeutungsebenen, die damit verbunden war. Das vertauschte »o«
zu »u« führte zu dem viel stärkeren Begriff. Ein kontrollierender Blick in
das Wörterbuch lässt die scheinbare Kluft der Bedeutungsebenen
schmaler werden, tatsächlich lässt sich etymologisch das Wort Trost auf
»Trauen« zurückführen. Aber damit wird die gedankenauslösende Be­
deutung des Wortgebildes schon wieder verlassen. Am Anfang war ein
Tippfehler.

[ 60 ] TROST DUR I C H H R I! 11 N 1) I. I O 11 K li I T
FUTURISMUS, DADA UND WAS FOLGTE

Buchstabensalat, absurde Sätze, das Spiel mit Worten und Wörtern war
immer schon eine strategische Methode von Künstlern, das Wort als
Bild zu begreifen. Aus der anfänglichen Anarchie der Futuristen - allen
voran Filippo Tomasso Marinetti mit seinem Buch »Zang tumb tumb«
im Jahre 1914, dann nach 1916, mittels der Performances der Dadais­
ten um Hans Arp, Hugo Ball und Tristan Tzara im Cabaret Voltaire in Zü­
rich - wurde im Verlauf der Moderne eine »Konkrete Poesie«, die zu ih­
rer Blüte in den sechziger Jahren kam. Aus dieser Konzeption heraus,
aus Worten Bilder, im doppelten Sinn, typografische Schriftbilder und
innere Gedankenbilder zu schaffen, entwickelt sich mit der »Konzept-
Kunst« das Prinzip, den geschriebenen Satz an sich als bildnerische
Botschaft zu begreifen. So bei Lawrence Weiner oder Jenny Holzer. Das
Werk dieser amerikanischen Künstlerin steht im besonderen Maße
auch für einen moralisch-ethischen Anspruch von Kunst. Holzer be­
zeichnet ihre Sätze als »Truisms«, also »Binsenweisheiten«. Es handelt
sich inhaltlich und ihrem Anspruch nach um absolut gesetzte (Bin-
sen-)Wahrheiten und Botschaften, die im Sprachduktus dem Aufbau
der Zehn Gebote durchaus vergleichbar sind. - Setzt also Kunst heute
die Werte, die uns einst die biblischen Überlieferungen vorgaben? Nicht
allein die Werte, auch die Worte dafür - in diesem Fall ein vorsätzliches
Wortspiel.

NAMEN WERDEN ZU BILDERN

Der britische Künstler MarkWallinger edierte 2006 für seinen Film »The
End« alle Namen, die im Alten Testament Vorkommen in alphabeti­
scher Folge, und er wählte dafür die Form des Filmabspanns. 17 Minu­
ten lang erscheinen ausschließlich Namen auf der Leinwand, so als ob
es sich um die Nennung der Darsteller eines epochalen Filmepos han­
deln würde. Im dunklen Ausstellungsraum sieht man sich diesen end­
los vielen Namen gegenüber, die man noch nie gelesen zu haben
glaubt. Zunächst meint man zu spät gekommen zu sein, das große Kino
soeben verpasst zu haben. Die Dramaturgie der Szenen ist abgelaufen,
die historischen Bilder sind vorbei, bis man begreift, dass diese Namen

T R O S T I) I- R I c: II !■' R IUI N [> I. 1 c: H K H IT [ 6l ]


selbst das Bild sind. Mit jedem gelesenen Namen entwickelt sich eine
Erinnerung, jede Person steht für eine Geschichte und evoziert vor al­
lem die eine Frage: Wer war die Figur in dieser mächtigen Erzählung?
Dann aber auch der Gedanke, wie schön diese Namen in Wort und Bild
klingen, wenn man versucht, sie innerlich auszusprechen. Mit seiner
Aufzählung aller Namen, die das Alte Testament uns zur Verfügung
stellt, ist Mark Wallinger großes Kino symbiotisch aus Text und Bild ge­
lungen. Die visuelle Statistik löst die Statik auf zu einer neuen großen
Erzählung.
Ähnlich verfuhr der schottische Künstler Douglas Gordon, als er 1999
im größten Ausstellungsraum des Kunstvereins Hannover alle Namen
derjenigen Personen, die er kennt, denen er begegnet ist, die ihm noch
einfielen, auf die Wände anbringen ließ. Es war ein imposantes Bild ei­
nes ganz anderen »Abspanns«. Man stand inmitten einer Gemeinde
von Personen, die durch den Künstler hier zusammengebracht und
sichtbar gemacht worden waren. Die Person des Künstlers selbst blieb
irgendwie unsichtbar im Zentrum der Installation als derjenige unfass­
bare Geist, der sich all jener Namen erinnerte, die zu diesem Wandbild
gefügt worden sind und dieses Bild war in seiner Monumentalität stär­
ker als die Vorstellung z. B. eines Gruppenfotos. Aber Douglas Gordon
ist noch einen Schritt weiter gegangen.

AM ANFANG IST DAS BILD - BILDER DER ZEIT

Douglas Gordon, der sich diesem heutigen Paradigmenwechsel ganz


verpflichtet fühlt, ließ sich sein Credo auf Lebenszeit eintätowieren:
»TRUST ME« ist auf seinem Arm zu lesen, »TRUST ME« ist der Titel ei­
nes Fotos »Tattoo 1« aus dem Jahre 1994, das diesen tätowierten Arm
abbildet - »TRUST ME« liest man, wenn man Douglas Gordon persön­
lich begegnet. Frei nach Marshall McLuhan steht man dem Bild, dem
bildenden Künstler, als Botschaft seiner selbst gegenüber. Die Person
ist das Bild und sie tritt als eine neue Form der Personifikation des Ver­
trauens auf. Trust me, vertraue mir, ist auch diese Aufforderung, dem
Bild zu trauen, dem Künstler, der es erschafft.
Genau davor hatte McLuhan etwa 1964, zu Beginn des Medienzeital­
ters, gewarnt: vor der zunehmenden Beeinflussung dieses » The image

[ 62 | T R O S T 1) 1: R [ (. II H R I: II N [) I. 1< II K I: IT
is the message«, das Bild ist die Botschaft. Aber die Wirklichkeit hat
diese Warnung eingeholt. Fotografische Bilder sind heute unbezweifel-
bar zur ersten Botschaft im Staate geworden, vor allem die Bilder, die
uns die Medien transportieren. Die Manifeste des Paradigmenwechsels
haben Namen, ich nenne sie kurz: »September 1Ith«, oder noch kürzer
»9/11«, »Abu Ghraib« oder »Guantanamo«, »Hurrican Kathrina«, um die
aufregendsten der letzten Jahre zu erwähnen. - Wenn man bedenkt,
dass nach Erkenntnis neurologischer Forschung und Wissenschaft 80%
unserer unmittelbaren Wahrnehmung zunächst durch das Auge aufge­
nommen wird, dann liegt darin auch die Begründung, weshalb sich das
Bild als das erste Medium unserer Wahrnehmung durchgesetzt hat.
Diesem Primat des Auges folgen alle anderen Sinneseindrücke, auch
und vor allem auf Kosten und zu Lasten der Reflexion darüber, die im­
mer sehr viel später einsetzt. Die obigen Stichworte dieses Paradig­
menwechsels haben weltweit Emotionen ausgelöst, so schnell wie nie
zuvor in der Geschichte von Bildern und ihrer Vermittlung via Internet,
so global wie niemals zuvor. Immer aber sind es politische Bilder, Do­
kumente von Gewalt und Schrecken - gar der neuen Dimension des
Schreckens -, die Vertrauen und Trost zu zerstören suchen und dadurch
als Abbilder unserer Wirklichkeit zu erkennen sind.

BILDER VON KÜNSTLERN - FÜR KÜNSTLER

Ich kehre zurückzur Botschaft der Kunst. Kunst will mehr, sie sucht eine
andere Wirklichkeit darzustellen und sichtbar zu machen. Derjenige
Künstler, der seit der Erfindung der Perspektive und ihrer Bildfunktion
in der Renaissance am stärksten das Bild und die Methoden der Bild­
komposition infrage gestellt hat, indem er sie total, das meint, gänzlich
und vollständig, zerstört hat, war der russische Maler Kasimir Male­
witsch, als er um 1914 sein »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund«
schuf, damit seinen Suprematismus postuliert und den Weg der Abs­
traktion einer ganz eigenen Bildsprache eröffnete. An die Stelle des
Baumes tritt die Fläche, abgeleitet aus der Bildtradition der Ikone und
deshalb ebenso religiös aufgeladen gedacht wie diese. Das zurücklie­
gende 20. Jahrhundert ist seither in der Kunst und der von ihr beein­
flussten Kultur in Architektur, Design, Tanz und Musik das Jahrhundert

TROST l)i:i< I ( I I I K I I I N I) I. I C II K i: I T | 63 |
der Abstraktion gewesen. Das 19. Jahrhundert hatte den Begriff des Ge­
samtkunstwerks gedacht, Kunst aber noch aus der Beobachtung der
Natur abgeleitet. Nun erlaubt die Reduktion auf geometrisch-rationale
Figuren und die damit einhergehende Komposition der Ordnung die­
ser Formen als ein eigenständiger Ausdruck intellektueller Ideen,
künstlerische Gestaltung auf alle Lebensbereiche zu übertragen. Die
Vielfalt des Bauhauses mag dafür ein Beispiel sein. Umso mehr ver­
blüffte Malewitsch nach der Epoche seiner eigenen gegenstandslosen
Gemälde mit einem Spätwerk um 1930, in dem er sich und wenige an­
dere Personen in scheinbar folkloristischem Kostüm vorstellt. Hatte er
alle Errungenschaften des Abstrakten aufgegeben? Die Antwort ist nein,
er wollte es - Konsequenz aus seinem Denken - noch unmittelbarer
realisieren: Die Abstraktion sollte nicht nur als Gegenüber im Bild oder
als Plastik dargestellt sein, er wollte sie am eigenen Körper tragen als
Gewandung, ganz in der Tradition einer Farbikonologie, wie sie schon
das Mittelalter kanonisch entwickelt hatte für die Darstellung von Hei­
ligen, denen bestimmte Farben Vorbehalten waren. Im Selbstbildnis
des Künstlers erscheint Malewitsch uns hier formal als Prophet und er
wirkt damit ebenso entrückt mit seiner Idee, wie einst die Heiligen in ih­
rer Darstellungswelt uns als entrückt vorgestellt worden sind. In einer
solchen Tradition von Künstlerselbstbildnissen geht Douglas Gordon
nun einen entscheidenden Schritt weiter, indem er den Künstlerkittel
auszieht und sich das Credo des eigenen Tims in die Haut tätowiert:
trust me. Ein ungewöhnliches Selbstporträt, das nun eine weitere Per­
spektive erschließt.
Im großen Verbund der Kunstgeschichte, die uns unendlich viele Bilder
und Motive zur Verfügung stellt, um sie in komplexen Zusammenhän­
gen immer neu und anders lesen zu lassen, ist es jetzt nur ein kleiner
Schritt zu dem Vergleich, dass dieses Armporträt von Douglas Gordon
mit seinem »TRUST ME«-Tattoo als eine zeitgenössische Interpretation
dessen zu lesen ist, was uns die christliche Ikonologie in Darstellungen
des »Ungläubigen Thomas« vor Augen geführt hatte: Der Apostel kann
und will es nicht glauben, er muss es selbst sehen. So öffnet Jesus auf
dem Altarbild G. B. Cima da Coneglianos von 1504 zum Beispiel zur
Seite hin sein Gewand und zeigt dem Ungläubigen die Wunde, um ihm
dadurch die Identität des Getöteten mit dem vom Tode Auferstandenen

| Cv| | T rost m: k i ( ii i ni n n i) i i < ii k i: I I


T K O ST D l ! U I (. Il I' H l i l i N I) U C II K li I T [ 65 |
begreifbar zu machen; um ihn sehen zu lehren, was sein Verstand nicht
wahrhaben will.
Aus dem zweifelnden Verstand, der trostlosen Agonie wird Vertrauen in
eine sehende Wahrnehmung - und eben daraus erwächst Trost. Tho­
mas ist erleichtert, sich visuell vergewissern zu können. Wir sind ge­
tröstet, dass Thomas es für uns festgestellt hat. Auch für diese Stellver­
treterfunktion haben Künstler bildnerische Intelligenz inszeniert: Man
sieht nie das Gesicht von Thomas, manchmal nur das Profil, niemals
wird ein Porträt des Thomas bei diesem Bildsujet gezeigt. Er bleibt dem
Betrachter mit dem Rücken zugewandt. Über seine Schultern hinweg
sehen wir, getrieben vom Voyeurismus, mitten in die Wunde und wer­
den über die eigentlichen Bildgrenzen hinaus Zeugen der Szene und
Teilnehmer des Moments seiner Wahrnehmung und der dadurch aus­
gelösten Erkenntnis.

SEHBEDÜRFNISSE HEUTE

Sowohl die Entwicklung der Geschichte von Kunst und ihrer vielfältigen
Ausdrucksformen einerseits, als auch die umfassende Entdeckung der
Welt durch denVerstand seit Renaissance und Aufklärung andererseits,
haben dazu beigetragen, dass immer neue Bilder gefunden werden
mussten, denn der zweifelnde Thomas sind wir selbst. Allen Deutungs­
und Erklärungsmodellen zum Trotz - und gar nicht zum Trost - ist die
Wunde geblieben, dieses Zeichen für Verletzung und Tod. Es bleibt da­
mit notwendig, immer wieder einen sichtbaren Beweis zu suchen, der
uns tröstet; es kann von existenzieller Bedeutung sein, das Bild zu fin­
den, dem wir vertrauen. Über Jahrhunderte hinweg war dies selbstver­
ständlich in religiösen Andachtsbildern der Fall, aber die allgemeine
Verbindlichkeit dafür ist aufgehoben, auch deshalb, weil sich Bilder ver­
selbstständigt haben. Sie illustrieren nicht mehr etwas außerhalb von
ihnen. Die Bildentwicklung hat eine Kongruenz zwischen Form und In­
halt geschaffen. Alles ist deckungsgleich oder, mit Frank Stella gespro­
chen, »man sieht was man sieht«. Das kann wenig sein, nichts oder al­
les. Auf jeden Fall haben die Künstler der Moderne die Entdeckung und
Deutbarkeit ihrer Bilder delegiert an uns Betrachter. Es bleibt nicht die
Zeit zu fragen, ob das gut oder schlecht ist, richtig oder falsch, weil der

[66] TROST I) I! K I II !•' R 1! U N [> I. I C 11 K li I T


Primat des Sehens uns gar keine andere Wahl lässt als zu sehen. Inso­
fern bleibt nur die Frage, an welchen Bildern wir uns orientieren, um
Vertrauen zu finden.
In der Moderne von heute ist vielleicht der sich selbst bewundernde
Narziss die neue Form der Menschwerdung. Dieser Narziss ist nicht
mehr der Eitle, der nur sich selbst im Spiegel betrachtet, oder über eine
Wasserfläche gebeugt ist, um sich in ihr als Ausdruck auch des Ein­
klangs mit der Natur selbst zu erkennen. Der schöne Selbstverliebte der
Mythologie erscheint transformiert zum Leitbild des modernen Künst­
lers - und sein Spiegel sind wir, die seine Kunst betrachten, die in Scha­
ren zu den Museen pilgern, die Mühsal des Wartens in der Besucher­
schlange auf uns nehmen, weil wir schon längst verinnerlicht haben,
dass 80 % unserer Wahrnehmung durch das Auge geschieht. Wir wollen
sehen, wollen Bilder schauen, weil wir Zeugen einer authentischen Er­
fahrung sein möchten, so wie sie sich uns in einem Kunstwerk vermit­
telt. Nimmt man also die Besucherstatistiken ernst und das darin aus-
gedrückte Sehbedürfnis der Personen hinter der Statistik, die von Jahr
zu Jahr immer mehr und häufiger Ausstellungen mit bildender Kunst
besuchen, dann bedeutet der neurologische Befund im Verbund mit
der Bilanz unserer Museen, dass es dabei vor allem auch um ein Mehr
an Trost geht. Wenn Bilder für unsere innere Befindlichkeit noch nie so
wichtig waren wie heute und wir akzeptieren können, dass im Ver­
trauen auf sie auch Trost zu finden ist, dann beweisen und belegen
diese Phänomene zugleich, dass in uns etwas verletzt ist, das des TVos-
tes bedarf. Trost ist es auch, zu verstehen, was nachvollziehbar und
sichtbar ist.
Künstler schaffen ihre Bilder für sich. Der Auftrag dazu kommt aus dem
narzisstischen Bedürfnis, etwas sehen zu wollen, was so bisher noch
n icht gesehen worden war. Sie schaffen die Bilder in all ihrerVielfalt ver­
bunden mit dem Wunsch und aus der Überzeugung, damit auch andere
anzusprechen. Der Narziss will sehen und gesehen werden. Für den
Moment der Betrachtung leiht sich der Betrachter diese »Ichfreund-
lichkeit« der Künstler, entlehnt sie ihren Werken, weil es dieses Vermö­
gen gibt, sich an Bildern zu trösten. Für die Künstler ist sie bereits der
IVost. Trust me - und das ist jetzt kein Tippfehler mehr.

T R O S T D liR I I . II !•'R I! II N I) 1.1 ( II K I! IT | 67 ]


> DIE TROSTLOSIGKEIT DER KIN D ER
Fran z-X aver K aufm ann

ie Aufklärung wird nicht vollendet, so lange sie nicht das Kind ent­
D deckt. Sich selbstständig ihres Verstandes zu bedienen, ist Aufgabe
der Erwachsenen. Wie aber gewinnt der Mensch solche Fähigkeit?
Der Glaube, den Menschen in ein unmittelbares Verhältnis zur Welt set­
zen zu können, war zugleich Stärke und Schwäche der Aufklärung. Viele
Worte, die der unmittelbaren Lebenserfahrung der Menschen Aus­
druck geben, wurden im Gefolge von Aufklärung und Modernisierung
verallgemeinert, in den Himmel der Begriffe gehoben. Dazu gehört
auch das kleine Wort »Trost«. Vom »Trost der Welt« träumen kann jedoch
nur, wer den Trost der Mutter oder des Vaters erfahren hat. Was Trost
heißt, haben wir erfahren, bevor wir das Wort kannten.
Der aus dem Mutterleib ausgestoßene Säugling ist nicht lebensfähig, es
sei denn, er erfährt unmittelbare Zuwendung, vor allem in Form von
Körperkontakt, Wärme und Nahrung. Das verbindet den Menschen mit
den meisten höherentwickelten Tieren. Beim Menschen kommt aber
Weiteres hinzu: Er wird mit einem noch wenig entwickelten Gehirn ge­
boren. Wie uns die neuere Hirnforschung belehrt, unterliegen die Ner-
venzellkörper mit ihren zur wechselseitigen Vernetzung bestimmten
Fortsätzen in den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt einer er­
heblichen Plastizität. Deshalb ist ihre strukturelle Ausformung, wie der
Himforscher Bernhard Bogerts formuliert, »der neuronale Stoffwech­
sel, der Aufbau und Abbau der Botenstoffe und damit die gesamte Him-
funktion durch frühe postnatale sensorische und emotionale Einflüsse
nachhaltig prägbar.« Wachstum und Vernetzung der Neuronen erschei­
nen dabei in erheblichem Maße von der Erfahrung emotionaler Zu­
wendung abhängig. Zuwendung stimuliert Neugierde und Lernbereit-

[ 6H ) D i l i T K O ST 1.0 S I (I K li I T 1) li l< K I N D 1! K
Schaft, und sie fördert Vertrauen - zunächst zur dem Kind zugewandten
Person und sodann generalisierend zur Umwelt. Das »Urvertrauen« ist
die beste Voraussetzung für ein späteres »Weltvertrauen«.
Schon vor Jahrzehnten beschrieben die Psychologen René A. Spitz und
John Bowlby das Phänomen der Mutterentbehrung: Die Kleinkinder
von Müttern in Gefängnissen entwickelten sich wesentlich besser als
solche mit wechselnder Betreuung in Heimen. Heute lassen sich diese
Zusammenhänge genauer rekonstruieren: Kleinkinder, die frühzeitig
unter fortgesetzten Stress geraten, sei es aufgrund physischen Schmer­
zes oder deprivierender Umstände, aktivieren Nervenbahnen stärker,
die dem Abbau von Stress dienen, und lernen gleichzeitig, die Welt als
bedrohlich zu erwarten, häufig mit entsprechenden Langfristfolgen.
Und was noch bedenklicher ist: Die Aktivierung der Ressourcen zur
Stressbewältigung behindert im Gehirn die Aktivierung der Wohlbefin­
den vermittelnden Nervenbahnen. Fortgesetzte »negative« Erfahrun­
gen prägen die Erwartungsstruktur des Kindes und in der Folge ein
misstrauisches, zur Aggressivität neigendes Verhalten.
Aber längst nicht alle Kinder, die unter äußerlich ungünstigen Umstän­
den leiden, entwickeln sich ungünstig. Was solch »resiliente« (zu
deutsch: »spannkräftige«) Kinder typischerweise unterscheidet, ist die
Bindung an wenigstens eine vertraute erwachsene Person. Solch ver­
traute Menschen können somit als Mediatoren wirken, welche die ob­
jektiven Belastungen vielleicht schon durch ihr bloßes Dasein, sicher
aber durch ihre sich wiederholende Zuwendung erträglich machen.
Wir wissen wissenschaftlich kaum, was an solcher »schützender« Be­
ziehung entscheidend ist, außer dass die Beziehung verlässlich sein
muss. Aber wir haben einen alltäglichen Namen für das, was hier ge­
schieht, nämlich Trösten und Trost. Wer zu trösten vermag, greift hei­
lend in den Gefühlshaushalt eines anderen Menschen ein. Er reduziert
das Leid, die Entbehrung; all das, was die Psychologie unter dem nivel­
lierenden Wort »Stress« fasst. Trösten - sei es in Worten oder körperli­
chen Gesten - ist ein zentraler menschlicher Vollzug, der nur aus dem
Kern der eigenen Persönlichkeit heraus geleistet werden kann. Trost
setzt Sympathie, Mitleiden voraus. Trösten ist ein dialogischer Vollzug
im Sinne von Martin Bubers Ich-Du-Beziehung.

> Mi T I U I S T U I S U i K H I T O li K K I N I) li R | 6t; ]
Wenn Kinder dauerhaft des Trostes entbehren müssen, wenden sich
ihre Energien gegen sie selbst: Incurvatio hom inis in seipsum (Augusti­
nus).
Tröstet »Religion«? Religion - ohnehin ein neuzeitlicher Begriff - ist zu
einem »Wieselwort« geworden, mit dem jedermann für nahezu jedes
Thema um Plausibilität buhlen kann. Karlfried Gründer fragt zu Recht,
»ob nicht etwas falsch wird, wenn man in Bezug auf das Christentum
oder, eineinhalb Jahrtausende weitergreifend, die ganze jüdisch-christ­
liche Tradition, mit den jungen Begriffen von Religion und Religiosität
agiert.« »Religion« ist trostlos. Man darf einem katholischen Theologen
zumuten, dass er Ross und Reiter nennt: Tröstet das Christentum? Oder
die katholische Kirche? Und inwiefern?
Man hat den »Parakletos« mit »Tröster« oder »Beistand« übersetzt. Hilfe
kann trösten, das erfährt schon das Kind. Wer sich Gott als seinem »Va­
ter« zuwendet, mag Trost erfahren. Das setzt Gottesglauben voraus.
Dass das Gebet zu trösten vermag, ist eine vielfach bezeugte Erfahrung.
Allerdings ist zu vermuten, dass diese religiöse Trosterfahrung nur dort
gelingt, wo nicht nur Glaubensvermittlung, sondern auch die Erfah­
rung mitmenschlichen und insbesondere väterlichen Trostes bereits
gelungen ist. Für die, welche ohne Vater aufwachsen müssen, wäre die
Mütterlichkeit Gottes erst noch theologisch zu entwickeln ...
Johann Baptist Metz hat allerdings eine andere Art von Trostlosigkeit
und Trost im Visier: Er spricht von »der tröstenden Kraft der Religion
[...] angesichts jener großen Verletzungen und Demütigungen des
Menschen und seines Selbstbewusstseins, die ihm [...] neuzeitlich zu­
gefügt worden sind.« Er nennt die Kränkungen durch Kopernikus, Dar­
win und Freud; Kränkungen somit, die das Selbstverständnis des Men­
schen als Zentrum der Welt, als Geistwesen und als Herrn seiner Motive
infrage stellen. Hier handelt es sich offensichtlich um Probleme von In­
tellektuellen, die die Welt begreifen wollen; die meisten Menschen wä­
ren froh, wenn sie nur solche Probleme hätten!
Brauchen Intellektuelle Trost? Und welcher Art könnte hier der Trost der
»frohen Botschaft« sein? Gegen die konkurrierenden korinthischen
Besserwisser hat Paulus sein »Hohelied der Liebe« geschrieben. »Stück­
werk ist unser Erkennen« - das kann jeder Wissenschaftler bestätigen.
Dass es aber auf die Liebe ankommt, müssten Intellektuelle erst noch
lernen. Das lehrt uns heute wissenschaftlich die Hirnforschung, und

[ 70 ] 1)1 H T R () S T I . O S K 1 K li 1T I) HR K I N D II R
Liebe als menschliche Zuwendung wird noch keineswegs in ihren viel­
fältigen Implikationen ernst genommen.
Das Zitat von Metz bezieht sich nicht auf die, welche die Kränkungen
der Erkenntniskritik durchleiden, sondern auf die, welche sie verdrän­
gen, die sich noch immer als Maître et possesseur d e la nature (Rous­
seau) verstehen. Eben deshalb sind sie unfähig, zu trauern und sich
trösten zu lassen. Hier treffen wir auf eine andere Form der Trostlosig­
keit. Im Gegensatz zum Kind will sich der »Meister und Eigentümer der
Natur« gar nicht trösten lassen. Das mag dem Beobachter, zumal dem
theologischen, als eine »trostlose« Situation erscheinen, von der aber
der Trostlose nichts weiß. Trost ist keine Kategorie für ihn. Wer von
Macht und Herrschaft lebt, findet gute Gründe, Anlässe für Mitleiden zu
verdrängen. Diese Gründe rubrizieren heute unter der Dimension der
»emotionslosen Sachlichkeit«. Das Abstraktum »Emotion« ist wie das
Abstraktum »Religion« geeignet, das menschlich Belangvolle aus dem
öffentlichen Diskurs auszublenden.
Naturwissenschaftlich gesehen mag es ja sein, dass das organische Kor­
relat von Gefühlen weitgehend unabhängig von ihrem bewussten
Inhalt ist. Dass also die Deutung der Wahrnehmung deren Art und Cha­
rakter bestimmt. Aber der Mensch lebt kulturell, lebt von und in Deu­
tungen. Unter »Emotionen« rubrizieren Liebe und Hass, Freude und
Trauer, Angst und Hoffnung, Zorn und Gelassenheit. Trost ist geeignet,
die Deutung der Situation zu verändern, und zwar stets zu dem Pol »po­
sitiver«, also mitmenschlich gedeihlicher Gefühle hin (was man von
»Religion« nicht behaupten kann, wie der häufige religiöse Hass zeigt).
Trost hat seinen Wirkungsraum im Bereich menschlicher Gefühle, nicht
im Raum der Erkenntnis noch demjenigen des Handelns. Wer Gefühle
auf Emotionen nivelliert, schließt schon den Deutungsraum von Trös­
ten und Trost aus der Wirklichkeit aus.
Emotionslose Sachlichkeit ist ein spezifisch moderner Habitus, eine Zi­
vilisationsleistung, welche den mühseligen Prozess einer »Zivilisierung
der Affekte« (Norbert Elias) historisch wie sozialisatorisch voraussetzt.
Zivilisierung meint aber nicht Verdrängung der Affekte, sondern ihre
Kultivierung - die Aufklärung erfand dafür das Programm der »Emp­
li ndsamkeit«. Mit der wachsenden Distanz zwischen Öffentlichkeit und
l’rivatheit wurde allerdings die Empfindsamkeit in den Raum des Pri­
vaten verbannt. Die Öffentlichkeit unterstellte sich zwar nicht unter-

1)1 H T K O S T L O S 1(1 K li I T l)HK K I N D HR [ 71 ]


schiedslos dem Imperativ emotionsloser Sachlichkeit, aber Emotionen
wurden nun - insbesondere aufgrund der Hass- und Kriegserfahrungen
der beiden Weltkriege - in »harmlose« öffentliche Territorien wie Sport
und Kunst verbannt.
Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen und das Internet, ha­
ben zu einer neuen Vernetzung von Öffentlichkeit und Privatheit ge­
führt. Nicht nur absorbiert der Konsum von Massenmedien einen
wachsenden Teil der privat verfügbaren Zeit. Er führt auch zu einer ge­
fühlsmäßigen Verarmung des Privaten, das immer mehr mit öffentlich
verbreiteten Deutungen »zugemüllt« wird. Die latente Emotionalisie­
rung durch Massenmedien hat nicht dieselbe Qualität wie die in der in­
terpersonellen Beziehung sich entwickelnden Gefühle. Sie bleibt - the
m edium ist the m essage (H. M. McLuhan) - grundsätzlich trostlos, un­
beständig und irritierend.
Wo bleibt da Raum für den »Trost der Religion«? Religion ist ein öffent­
licher Tatbestand geworden, über den in emotionsloser Sachlichkeit zu
verhandeln ein Gebot politischer Klugheit ist. Und das aseptische Abs­
traktum »Religion« steht dem auch nicht entgegen. Anders klingt es
schon, wenn von Islam, Judentum oder Christentum die Rede ist. Die
großen Traditionen des Gottesglaubens verweigern sich der Trennung
von Öffentlichkeit und Privatheit. Von ihrem Gott kann man nicht emo­
tionslos sachlich sprechen, ohne ihn zu verraten. Das ist im Wortsinne
peinlich - Gott ist nicht ohne Pein zu erfahren. »Für das Christentum
lautet die Ausgangsfrage nicht: Wer spricht?, sondern: Wer leidet?« (Jo­
hann Baptist Metz).
Johann Baptist Metz ist einer der ersten, der die Gottvergessenheit un­
serer Öffentlichkeit beim Namen genannt und sie - nach Nietzsche und
Foucault - auf ihre anthropologischen Konsequenzen hin bedacht hat.
Allerdings kommt auch bei Metz das Kind und seine ursprüngliche
Trostbedürftigkeit nicht vor. Obwohl Jesus wiederholt den Eigenwert
des Kindes betont, hat es keinen eigenständigen Platz in der gegenwär­
tigen Theologie. Und doch sind es die Kinder, die am intensivsten unter
den Konflikten unserer Welt leiden. Was Menschsein bedeutet, können
wir nur verstehen, wenn wir das Kind, seine Entwicklungsbedürftigkeit
und seine Trostbedürftigkeit ernst nehmen.

[ 72 I 1)1 II T l< () S T I. () S I (I K 1: I T I) 1: R K I N D II !<


> KOLLEKTIVE ENTSCHULDIGUNG? -
»TROSTFRAUEN«
IM ZW EITEN WELTKRIEG
Claus Leggewie

achmittag für Nachmittag kann man im Fernsehen falschen Trost


N beobachten: In Talkshows lassen sich Verlassene, Gedemütigte,
Betrogene vorführen, um vor allem einen »Trost« gespendet zu bekom­
men: mediale Minutenprominenz, deren rasches Vergehen nur noch
größeren Schmerz hinterlässt. In der Geschichte gab es weit größere
Perversionen des Begriffs Trost, eine davon sei hier im Blick auf eine ge­
nerelle Frage diskutiert. Der konkrete Fall sind »Trostfrauen«, die im
Zweiten Weltkrieg zwangsweise für japanische Armeebordelle rekru­
tiert wurden, die allgemeine Problematik ist, ob deren über Jahrzehnte
verleugnete Schmerz- und Schamgefühle durch öffentliche Anerken­
nung und kollektive Entschuldigung zu »trösten« wäre. Japanische Po­
litik und Öffentlichkeit haben sich dazu gegenüber den aus Japan, Ko­
rea und China sowie aus anderen japanisch besetzten Territorien
stammenden Frauen bisher nicht durchringen können; diese Weige­
rung belastet das aktuelle Verhältnis zu den asiatischen Nachbarn, aber
auch zu den USA.
Die erste Frage, die sich vor allem dem westlichen Beobachter stellt, ist,
warum die sexuell Versklavten ausgerechnet »Trostfrauen« (jap. ian-fu)
genannt wurden. Dahinter steckt offenbar die perfide Annahme, japa­
nische Soldaten hätten für die (durch Beteiligung an einem imperialis­
tischen Angriffskrieg bedingte) Abwesenheit von ihren Frauen und Fa­
milien getröstet gehört - und dies habe in einer Gesellschaft, die mit
Prostitution einen relativ laxen Umgang pflegt, am besten dadurch zu
geschehen, dass sie als »Freudensucher« auftraten und kostenlose se-

K O I . I. H K T I V I ! I! N T S c II II 1. 1) I (I II N (i t [73]
xuelle Dienstleistungen empfingen. Bis zu 200.000 Frauen sollen für
diese Sorte Trost unter Beteiligung und Ägide der japanischen Heeres­
führung zwangsrekrutiert worden sein. Auch wenn die genaue Zahl und
die Art der Beteiligung der Armee an diesem Kriegsverbrechen unter
Historikern umstritten sind, ist der Tatbestand dank massiver historio-
grafischer Evidenz kaum zu leugnen. Quellen dokumentieren auch das
Argument, mit dem die Zwangsprostitution offiziell legitimiert wurde,
nämlich zur Vermeidung von Vergewaltigungsverbrechen durch japa­
nisches Militärpersonal und der daraus resultierenden Feindseligkeit in
den besetzten Gesellschaften, denen sich Japan durchaus als Befreier
aus kolonialer Abhängigkeit vom Westen empfahl. Ein anderer Grund
war, dass armeegeführte Bordelle gesundheitlich besser zu kontrollie­
ren waren, nachdem japanische Soldaten zuvor massenhaft unter Ge­
schlechtskrankheiten gelitten hatten.
Nicht im mindesten kann davon die Rede sein, die Frauen hätten sich
freiwillig zu sexuellen Dienstleistungen bereitgefunden; üblicherweise
wurden sie dafür mittels massiver Täuschung, Kidnapping und auch
brutaler Vergewaltigung rekrutiert, die Lebensbedingungen in den
»Troststationen« waren katastrophal, sodass der heute übliche Begriff
»sexuelle Versklavung« durchaus angebracht ist. Es hat sehr lange ge­
dauert, bis dieses kapitale Verbrechen in der japanischen Gesellschaft
bekannt und diskutiert wurde. Frühe, in Massenblättern kolportierte
Selbstbezichtigungen waren fragwürdig, erst in den 1990er Jahren, als
vor allem koreanische Frauen ihre tiefe Scham und ihr langes Schwei­
gen überwanden, wurde das Thema seriös und verantwortungsbewusst
diskutiert. Auch bequemte sich die japanische Regierung zu einer aller­
dings immer bloß verhaltenen und halbherzigen Schuldanerkennung.
Das von Frauen-Gruppen organisierte »Aktive Frauen-Friedens-Mu-
seum«, das seit Mitte der 1990er Jahre Aufklärungsarbeit betreibt, führt
eine Schattenexistenz in einem Nebengebäude der Waseda-Universi-
tät, wo es nicht von Lautsprecherwagen der Ultranationalisten mit to­
sendem Dauerlärm belästigt werden kann. Ihnen erweisen japanische
Regierungschefs immer wieder Reverenz, indem sie den ebenso pro­
blematischen Yasukuni-Schrein besuchen, wo die Hauptkriegsverbre­
cher Japans geehrt werden.
In den letzten Jahren, unter Premier Koizumi, einem eifrigen Wallfahrer
zum Schrein, und seinem Nachfolger Abe haben sich revisionistische

[74] K O L L E K T I V E E N T S C. H II 1.1) I (i l ! N <> '


Strömungen noch verstärkt. Abe erklärte jüngst wider besseres Wissen,
für die Zwangsprostitution gebe es »keinerlei Beweise«, eine offizielle
Entschuldigung oder gar Entschädigung der unterdessen hochbetagten
Opfer hat es ohnehin nie gegeben. Lediglich ein privater Fonds wurde
eingerichtet. Bei Staatsbesuchen beim Hauptverbündeten USA werden
japanische Offizielle aber immer wieder auf die Causa angesprochen,
im US-Kongress liegt eine entsprechende Resolution vor, wobei anzu­
merken ist, dass den amerikanischen Besatzern die »Troststationen«
1945 nicht nur bekannt wurden, sondern sie sogar weiter betrieben
wurden - Grundlage eines gigantischen Bordellbetriebs, den die US-Ar-
mee bei diversen friedlichen und kriegerischen Missionen in Asien auf­
rechterhielt.
Was hätten die koreanischen Frauen, die in ihrer Heimat niemals ge­
tröstet, sondern verstoßen waren, von einer kollektiven Entschuldi­
gung und Entschädigung Japans, die über vereinzelte Wiedergutma­
chungsinitiativen von Privatleuten hinausreicht? Werden sie nicht nur
instrumentalisiert von den einst durch Japan angegriffenen Staaten, die
sich strategische Vorteile im Kampf um Macht und Märkte in Ostasien
ausrechnen? Die (wenigen) »Trostfrauen«, die den Kampf aufgenom­
men und sich in eine verminte Öffentlichkeit getraut haben, werden da­
durch vermutlich sogar Trost erfahren, immerhin aber eine Anerken­
nung des schreienden Unrechts, das ihnen widerfahren ist.
Nationale Kollektive können Leidtragende schwerlich trösten. Aber sie
können wenigstens symbolisch versuchen, eine Welt geradezurücken,
die damals aus den Fugen geraten ist und heute noch mit Begriffen ope­
riert, die diese Katastrophe perpetuieren. Auch inter- und transnational
ist diese Anerkennung bedeutsam: Denn die Existenz von Armee­
bordellen ist natürlich nicht auf den ostasiatischen Kriegsschauplatz
beschränkt und ebenso wie die Thematik sexueller Gewalt und Aus­
beutung im Blick auf die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges, des
Vietnamkriegs oder des Jugoslawienkriegs notorisch unterbeachtet
worden. International wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen im Krieg auf
der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien und auf der Weltfrau­
enkonferenz 1995 in Peking thematisiert; in diesem Zusammenhang
wurden Nichtregierungsorganisationen aktiv, die unter anderem das
»Internationale Frauentribunal für Kriegsverbrechen« einberiefen, das
in Tokio und in Den Haag tagte.1

k o 1.1.1; k t i v i; !■: n t s c ii ii i . i > i <; ii n o > | 75 |


> LEIDENSVERDRÄNGUNG
UND TROSTBEDARF
IM HISTORISCHEN D EN K EN
Jö rn Rüsen

st Trost ein Thema des historischen Denkens? Auf den ersten Blick
I ganz und gar nicht. Trost ist eine Reaktion auf eine Leidenserfahrung,
und die Historie handelt nicht vom Leiden der Menschen, sondern von
Geschehnissen der Vergangenheit, von den >res gestae<, die auf mensch­
lichem Handeln beruhen, von ihm bedingt oder für es relevant sind. In
der großen hochkulturellen Tradition der Geschichtsschreibung, die
durch die Logik der exemplarischen Sinnbildung geprägt ist - historia
vitae magistra - »lehrt« die Geschichte Einsichten in die moralischen
und praktischen Regeln des menschlichen Handelns. Sie mobilisiert
den Erfahrungsschatz der Vergangenheit, um gegenwärtiges Handeln
regelkompetent zu machen. Sie tröstet nicht - worüber auch, wenn es
darum geht, aktuelle Handlungssituationen dadurch zu bewältigen,
daß sie auf Regeln hin bezogen werden, die sich aus vergleichbaren Si­
tuationen der Vergangenheit generieren lassen. Die Vergangenheit be­
lehrt die Gegenwart, da es in ihr klar vor Augen liegt, was sich aus wel­
chem Handeln unter welchen Bedingungen ergeben hat.
Auch das moderne Geschichtsdenken gibt Orientierungen, indem es
gegenwärtige Handlungssituationen und Lebenslagen auf die Vergan­
genheit bezieht. Das geschieht freilich nicht mehr am Leitfaden einer
Urteilskraft, die aus geschehenen Ereignissen der Vergangenheit
Schlüsse zieht, die sich auf aktuelle Ereignisse handlungsorientierend
anwenden lassen. Modernes Geschichtsdenken macht Gegenwart ver­
ständlich und Zukunft erwartbar, indem es die drei Zeitdimensionen
durch eine Zeitverlaufsvorstellung zusammenschließt, durch die die

[ 76 ] I. F. I I) F. N S V H R 1) R Ä N Ci II N G U N D T R O S T B E D A R F
Veränderung der menschlichen Lebensumstände eine Richtungsbe­
stimmung erhält, mit der sich aktuelle Handlungsabsichten erfah­
rungskonform formieren und begründen lassen. Von trostbedürftiger
Erfahrung keine Spur.
Auch dann, wenn sich der Blick von der äußeren Orientierungsfunktion
des historischen Denkens, menschliches Handeln erfahrungs- und zeit­
konform auszurichten, auf seine innere Funktion richtet, die die Pro­
zesse der menschlichen Identitätsbildung betrifft, bleibt der Hand­
lungsbezug der historischen Sinnbildung dominant. Es geht darum,
Individuen und Gemeinschaften ein Bewusstsein ihrer Eigenart und Be­
sonderheit zu vermitteln, mit dem sie handlungsstark ihr Verhältnis zu
den anderen regeln können, von denen sie sich unterscheiden und mit
denen sie Zusammenleben müssen. Auch hier geht es um Handeln, frei­
lich nicht direkt, sondern indirekt, es geht um ein >inneres< Handeln, um
die Subjektivität der Menschen, um ihr Selbstbewusstsein im Umgang
mit sich selbst und mit den Anderen. Die Aufgabe der Historie besteht
hier darin, diese Subjektivität handlungsstark zu machen, ihr ein nor­
mativhoch aufgeladenes Selbstbewusstsein zu vermitteln, das die Gren­
zen der eigenen Lebensspanne überschreitet und sie mit bedeutungs­
vollen und erfahrungsschweren Bezügen zur Vergangenheit versieht.
Und doch kommt dieser grundsätzliche Handlungsbezug des histori­
schen Denkens an der schlichten Erfahrung nicht vorbei, dass sich kein
menschliches Handeln denken lässt, das nicht in inneren Zusammen­
hängen mit Leiden steht. Ja, wenn man sich den anthropologischen Lu­
xus leistet, einmal nach der Rolle des Leidens im menschlichen Leben
zu fragen, dann dürfte sich die Einsicht aufdrängen, dass Handeln ohne
Leiden weder verstanden noch absichtsvoll vollzogen werden kann.
Für den historischen Blick auf die menschliche Vergangenheit ist diese
Einsicht geradezu unvermeidlich: Denn es gibt keine Handlungsregel,
von der nicht abgewichen wurde, und jede sinnträchtige Veränderung
menschlicher Lebensumstände hat nicht nur ihre Gewinner, sondern
unvermeidlich auch ihre Verlierer. Da es aber, wie gesagt, um Handeln
und seine zeitliche Orientierung geht, kommt der anthropologischen
Fundamentaltatsache des menschlichen Leidens eine grundsätzliche
Störfunktion im historischen Denken zu.
Wie geht die Historie mit dem Leiden um? Damit stellt sich zugleich die
Frage, wie es um den Trost bestellt ist, nach dem jeder Mensch verlangt,

1.1; 11) i! n s v i; i< i) r ä n <; u n i ; u n d t r o s t h i; d a r k [77]


wenn in ihm selbst, in seinem Selbstbewusstsein, Leidenserfahrungen
eine Rolle spielen, wenn die Vergangenheit in der deutenden Aneignung
zu einem zukunftsfähigen Selbstbewusstsein als eine Wunde schmerzt,
die geschlossen werden muss, wenn das Leben weitergehen soll.
Diese Frage lässt sich angesichts der weltweiten traumatischen histori­
schen Erfahrungen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 20.
Jahrhundert nicht vermeiden, wenn es darum geht, gegenwärtige Le­
benssituationen des 21. Jahrhunderts historisch zu deuten. Und doch
ist Leiden kein Thema, und entsprechend der Trost auch nicht. Das gilt
nicht nur für die Geschichtstheorie, sondern für das kategoriale Gerüst
der geistes- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis insgesamt. Symp­
tomatisch dafür ist die Tatsache, dass sich in fast allen Enzyklopädien
und Wörterbüchern der Geistes- und Sozialwissenschaften zwar stets
Einträge unter >Handeln<, nicht jedoch unter >Leiden< finden. Erst in
jüngster Zeit meldet sich zaghaft das Leidensthema, ohne freilich schon
die Ebene kategorialer Veränderungen in den humanwissenschaftli­
chen Deutungsmustern erreicht zu haben.
Wie ist das möglich? Doch wold nur dadurch, dass die störende Funda­
mentalerfahrung des Leidens nicht einfach ignoriert, sondern mit ihrer
Aufdringlichkeit unterdrückt wird. Das geschieht dadurch, dass den lei­
densgeprägten Geschehnissen der Vergangenheit ein historischer Sinn
für die Gegenwart beigemessen wird, und im Lichte dieses Sinnes ver­
blasst das Leiden zu einem mehr oder weniger bedeutungslosen Schat­
ten der handlungsbestimmenden Geschichte.
Dafür möchte ich vier Beispiele aus dem späten 18. und dem 19. Jahr­
hunderts anführen: das Geschichtsdenken Herders, Hegels, Rankes
und Jacob Burckhardts. Alle vier Repräsentanten des modernen Ge­
schichtsdenkens lassen keinen Zweifel daran, dass ihnen die Leidens­
imprägnierung der historischen Erfahrung nicht fremd ist. Zugleich de­
monstrieren sie paradigmatisch, dass und wie das Leiden in dem
Moment aus der Erfahrung der Vergangenheit verschwindet (oder zu­
mindest in den Hintergrund gedrängt wird), wo aus dieser Erfahrung
eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte für die Gegenwart wird. So
heißt es bei Herder in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit« (1782-1791) lapidar: »Die Philosophie der Geschichte
also, die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die wahre Men­
schengeschichte, ohne welche alle äußeren Weltbegebenheiten nur

I 7« I I. !•: I I) I! N S V H K 1) K Ä N Ci II N (i UND TROSTBEDARF


Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden. Grauenvoll ist
der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmer
zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals
ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus diesen
Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten ver­
schwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwährend le­
bet.«1
Von Hegel ist uns die Metapher der >Schlachtbank< zur Kennzeichnung
des weltgeschichtlichen Geschehens der Vergangenheit geläufig, weni­
ger vielleicht seine Ausdrücke von Trauer und Empörung, die er ange­
sichts dieser Schlachtbank findet: »... Wenn wir auf die Individuen mit
tiefstem Mitleid ihres namenlosen Jammers [blicken], so können wir
nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt, und indem dieses
Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Men­
schen [ist], noch mehr mit moralischer Trauer, mit der Empörung des
guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über solches Schauspiel en­
den. [...] Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank
betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten
und die Tilgend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht
dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke
diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.«2
Die Opfer werden nun gedeutet als »die Mittel [...] für das, was wir be­
haupten, daß es die substantielle Bestimmung, der absolute Endzweck,
oder was dasselbe ist, daß es das wahrhafte Resultat der Weltgeschichte
sei.« Um zu einer solchen Deutung zu gelangen, hat sich das historische
Denken nach Hegel »wahrhaft über jene Ansichten und deren Empfin­
dungen zu erheben und die Rätsel der Vorsehung, welche uns in jenen
Betrachtungen aufgegeben worden, in der Tat zu lösen« anstatt »in den
leeren, unfruchtbaren Erhabenheiten jenes negativen Resultats sich
trübselig zu gefallen.« Mit dieser Erhebung gerät das Leiden nicht nur
aus dem Blick der Historie, sondern es wird gerechtfertigt durch die
>Aufhebung< in eine den eigentlichen Sinnkern des vergangenen Ge­
schehens umgreifende Tiefenperspektive philosophischer Geschichts­
deutung. Hier heilen die Wunden des Geistes ohne Narben (um eine
Formulierung aus der Phänomenologie des Geistes aufzugreifen).3
Auch Rankes Geschichtsschreibung, die der Ereignisfolge der Vergan­
genheit eine grundsätzliche und durchgängig positive Bedeutung zu­

I, I! I I) li N S V li K 1) K Ä N (i II N 11 U N D T K O S T li I! D A R F [ 79 ]
spricht, kann nicht verleugnen, dass diese innere Werthaftigkeit in der
historischen Entwicklung einer dunklen Seite der historischen Erfah­
rung abgerungen werden musste. Das kommt weniger in seinen Wer­
ken, als vielmehr dort zur Sprache, wo er seinen Studenten in einlei­
tenden Bemerkungen in seinen Vorlesungen nahebringen will, worauf
es der historischen Deutung der Vergangenheit ankommt. Leitmoti­
visch steht dann am Anfang ein Hinweis darauf, dass die realen Ge­
schehnisse der Vergangenheit im Kontext konkreter menschlicher
Handlungen leidvoll sind. So sagt er in seinen Vorlesungen über Neu­
este Geschichte im Wintersemester 1835/36: »Wenn wir die Geschichte
betrachten in ihrem äußeren Verlauf, wie stets ein Volk das andere ver­
nichtet und hinstürzt, dann selbst sich erhebt und untergeht, so sehen
wir die Geschichte und in ihr die Menschheit von ihrer traurigen Seite,
in ihrer Hinfälligkeit.«4 Und in der Einleitung zu seinen Vorlesungen
über Neuere Geschichte seit dem Westfälischen Frieden vom 27. April
1847 heißt es entsprechend: »Die Masse der Tatsachen unübersehbar;
der Eindruck unendlich trostlos. Man sieht nur immer, wie der Stärkere
den Schwächeren überwindet, bis wieder ein Stärkerer über ihn kommt
und ihn vernichtet; bis dann zuletzt die Gewalten unserer Zeit gekom­
men, denen es ebenso ergehen wird.«5
Angesichts dieses Eindrucks stellt sich das »Gefühl der Nichtigkeit aller
Dinge und ein Widerwillen gegen die mancherlei Frevel, mit denen sich
die Menschen befleckt haben. Man sieht nicht, wozu alle diese Dinge
geschahen, alle diese Männer waren und lebten; selbst der innere Zu­
sammenhang wird verdeckt.«6
Ranke muss den Blick der historischen Betrachtung weg von dieser Tat­
sächlichkeit des Leidens richten, um ihr den historischen Sinn zu ver­
leihen, mit dem tatsächliches (und eben leidvolles) Handeln der Ver­
gangenheit im Zeitzusammenhang mit der Gegenwart Bedeutung für
deren Selbstverständnis und Zukunftsperspektive gewinnt. Es ist eben
der »innere Zusammenhang«, den die äußere Erscheinung der Ge­
schehnisse der Vergangenheit eher verbirgt als aufscheinen lässt, der
diese Qualität der historischen Erfahrung völlig verändert: vom hand­
lungslähmenden und identitätsverstörenden Eindruck menschlicher
Unmenschlichkeit zur stimulierenden und identitätsstärkenden Ein­
sicht in die gestaltende Kraft des menschlichen Geistes. Es geht also
in der Geschichte nach Ranke darum,»... ein höheres zu erreichen undI

I Ho | I. II I I) II N S V II K l> H X N (i II N (I II N l> T l< O S T H E D A R H


zu geben [...], die Darstellung nämlich des inneren Zusammenhangs:
[...] Nicht das Reich der flüchtigen Erscheinung allein, sondern das
des unvergänglichen Geistes eröffnet uns die Historie. Wenn wir ihr
uns widmen, dem Reiche des Geistes entgegentreten von der histo­
rischen Seite, so eröffnet sich uns eine nicht genug zu bewundernde
Welt. [,..]«.7
Diese epistemologische Leidensverdrängung kommt nicht einfach aus
der anthropologischen Tiefe des menschlichen Geistes, wo es immer
darum geht, Leiden zu vermeiden, sondern hat durchaus einen Grund
in den Umständen, unter denen dieses moderne Geschichtsdenken
sich entwickelt hat. Es entsteht nämlich im Kontext eines bürgerlichen
gebildeten Bewusstseins, über die Mittel zu verfügen, menschliches Le­
ben human zu gestalten. Die Leidensverleugnung wird von der Erwar­
tung getragen, Humanität, also menschenwürdige Lebensumstände,
durch genau diejenige Einsicht in die historische Entwicklung zu be­
fördern, die vom Leiden absieht. >Abgesehen< ist doppeldeutig: Weg-
und Hinsehen zugleich. Das historische Denken bewegt sich vom einen
weg, um das andere plausibel zu machen.
Dieses Selbstbewusstsein der Historiker, durch ihr Denken die Bewe­
gung des Geistes zur Humanisierung der menschlichen Welt mitzuvoll­
ziehen, ist in dem Maße, in dem die zeitgenössische Entwicklung des
19. Jahrhunderts den bürgerlichen Bildungsoptimismus desavouierte,
geschwunden. Jacob Burckhardts sensible Zeitgenossenschaft in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ ihn Dehumanisierungsvor-
gänge im »Zeitalter der Revolutionen« erkennen, die ihn an der Kom­
petenz der Gebildeten zweifeln ließen, die politischen und sozialen
Verhältnisse zum Zwecke der Befreiung des Menschen aus unmensch­
lichen Lebensverhältnissen in die eigenen Hände zu nehmen.
Damit wandelte sich der historische Blick. Historische Erkenntnis
durchbrach den Schleier eines umfassenden Sinnzusammenhangs
menschlicher Weltveränderung zugunsten einer Geschichtsauffas­
sung, in deren Rahmen Leiden als anthropologische Grundtatsache
ernst genommen wurde. Burckhardt lehnte bekanntlich die moderne
Geschichtsphilosophie mit ihrem handlungsorientierenden und iden­
titätsstärkenden Entwicklungsgedanken ab. Stattdessen schlägt er eine
Anthropologie des »duldenden, strebenden und handelnden Men­
schen« vor, »wie er immer war und sein wird.«8 Handeln und Streben

1.1; 11) i n s v !•:k d k A n i i i i n <; 11 n d T r o s t i i i; d a r f ( 81 ]


wird durch Dulden systematisch ergänzt, und wenn Burckhardt diese
historische Anthropologie »gewissermaßen pathologisch« nennt, dann
billigt er dem Dulden eine kategoriale Bedeutung zu, die die Leidens­
verdrängung modernen Geschichtsdenkens zumindest im Ansatz zu­
rücknimmt. »Und nun ist das Böse auf Erden allerdings ein Teil der gro­
ßen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des
Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen
Kampf ums Daseins, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzen­
welt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub in
den früheren Zeiten, durch Verdrängung resp. Vertilgung oder Knech­
tung schwächerer Rassen, schwächerer Völker innerhalb derselben
Rasse, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher
Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes. Der Stärkere ist als
solcher noch lange nicht der Bessere.«9
Burckhardt problematisiert die versöhnende Interpretationsstrategie
des modernen historischen Denkens. Dessen Rechnung, Leiden unter
die Errungenschaften kultureller Schöpfungen zu subsumieren, geht
bei ihm nicht mehr auf. Mit dieser Problematisierung wird das histori­
sche Denken bei Burckhardt trostbedürftig. »Suchen wir nun auch eini­
gen der erlaubtesten Klagen der Weltgeschichte den unserer Ahnung
zugänglichen Trost gegenüberzustellen.«10 Er zählt solche tröstenden
historischen Vorgänge auf, insbesondere den »Trost«, dass es »das ge­
heimnisvolle Gesetz der Kompensation« gibt: »Es scheint ein Gesamt­
leben der Menschheit zu existieren, welches die Verluste ersetzt.«11Aber
kann der Hinweis auf den ungebrochenen Lebenswillen der Menschen,
»auf das Weiterleben der verletzten Menschheit« wirklich über diese
Verletzungen trösten? Burckhardt zweifelt daran: »Die Lehre von der
Kompensation ist meist doch nur eine verkappte Lehre von der
Wünschbarkeit, und es ist und bleibt ratsam, mit diesem aus ihr zu ge­
winnenden Tröste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Ur­
teil über diese Verluste und Gewinne haben. Entstehen und Vergehen
sind zwar das allgemeine Erdenschicksal; aber jedes wahre Einzelleben,
das durch Gewalt und (nach unserem Dafürhalten) vorzeitig dahinge­
rafft wird, darf als schlechthin unersetzlich gelten, sogar als nicht er-
setzlich durch ein anderes ebenso treffliches.«12
In einer letzten argumentativen Anstrengung windet sich Burckhardt
aus den Verstörungen, die unverdrängtes menschliches Leiden im geis-I

I 82 I I. H I 1) li N S V 1: R I) R Ä N Ci II N Ci U N I ) T R O S T H R I) A R F
tigen Haushalt der Historie anrichtet, dann doch heraus: Er konstatiert
in ästhetischer Form den höheren Sinn des historischen Weltgesche­
hens im Ganzen - freilich unter dem Zugeständnis, gegenüber dem
»Jammer« nicht gleichgültig zu sein, wie es unter der Maske fachlicher
Objektivität geschehen kann. Die Geschichte wird zum »wunderbaren
Schauspiel« des »Geist(es) der Menschheit, der über all diesen Erschei­
nungen schwebend und doch mit allem verflochten, sich eine neue
Wohnung baut.«13
Ich halte diesen - wie immer im Einzelnen auch gebrochenen - Per­
spektivenwechsel von einer elementaren Leidenserfahrung zu einer
sinnträchtigen Qualität des Geschichtsdenkens für typisch - nicht nur
im modernen Geschichtsdenken. Es scheint, als sei Geschichte als
sinnhaftes und bedeutungsträchtiges Zeitgebilde nur um den Preis zu
haben, Leiden zu verdrängen und vergessen zu machen. Historisches
Denken tilgt die Leidensspur aus der Kette der Begebenheiten, mit der
die Gegenwart und ihre Zukunftsperspektiven an die Vergangenheit ge­
schmiedet ist. Ein solches Denken ist aber nicht mehr zukunftsfahig.
Der Preis der Leidensvergessenheit ist zu hoch. Dazu ist der traumati­
sche Charakter der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stark, und
die Einsicht lässt sich schwerlich umgehen, dass Leidensverdrängung
ein geistiger Modus ist, Leiden historisch ungestört geschehen sein zu
lassen. Dabei liegt nichts näher und ist nichts natürlicher, als dem Lei­
den auch in der historischen Erfahrung mit dem Willen zu begegnen,
dass es überwunden werden, verwandelt werden, aufhören soll. Wenn
dieser elementare, menschliches Leben stets dominierende Wille zum
Impuls des historischen Denkens würde, dann würde auch Trost zum
Thema der Geschichte. Genau in dem Maße, in dem sich die Historie
ihrer Tradition der Leidensvergessenheit verweigert, wird sie trostbe­
dürftig.
Die Öffnung des historischen Blicks für historisches Leiden muss not­
wendig zu einer Verstörung des Denkens führen, zur Irritation der
Handlungsorientierung und Identitätsbildung. Der Schmerz über ver­
lorene Humanität wächst dann in die Deutungsarbeit am Humanum in
seiner zeitlichen Perspektive hinein und lädt das historische Denken
mit der quälenden Frage auf: »Who am I that that could happen?«14 Es
gibt auf diese Frage zwei mögliche Antworten: Die eine übersetzt den
Willen, Leiden zu überwinden, in die anthropologische Vorstellung, ei­

1. IÍ I I) !•;N S V !•;K I) l< Ä N (i II N (i UN I) T R O S T B li DA R F [83]


ner solchen Überwindung tatkräftig fähig zu sein. Dann wird das histo­
rische Denken in den Rahmen einer Ideologie gespannt, die genau
weiß, dass und wie man die menschlichen Lebensverhältnisse ändern
muss, um die Quelle menschlichen Leidens zu verstopfen. Eine solche
Ideologie ist dazu angetan, im Rahmen der Leidensüberwindung neues
Leiden zu generieren, und zwar umso schlimmer, je radikaler diese
Überwindung angegangen werden soll. Hier liegt einer der Gründe für
die historischen Schrecken des 20. Jahrhunderts. Die Utopie, Leiden be­
enden zu können, wurde zum Mittel einer Politik, die letztlich (natür­
lich unbeabsichtigt) Leiden nur gesteigert hatte. Die andere Antwort ist
ein Humanismus des historischen Denkens, der das Menschsein des
Menschen in die Mitte zwischen Humanisierung und Entmenschli­
chung im zeitlichen Prozess der Weltbewältigung und Selbsthervor-
bringung stellt.
Die historische Erfahrung zeigt ja beides: Sie macht die Geschichte
trostbedürftig, aber zugleich bietet sie auch Quellen des Trostes an.
Schließlich gibt es keine Kultur, die nicht vom Bemühen des Menschen
geprägt wäre, nicht mehr leiden zu müssen.
Es ist eine offene Frage, wie diese doppelte Erfahrung der Vergangen­
heit in die historischen Deutungsmuster verarbeitet werden kann, die
dem Leiden des Menschen (endlich) eine Stimme verleihen und zu­
gleich die Triebkraft kultureller Sinnbildung zur Geltung bringt, dass
Leiden nicht sein soll. Beides würde zugleich in den Blick gerückt: Lei­
densdruck und Trostbedürfnis einerseits und Leidensbewältigung
durch die Kräfte der Vermenschlichung andererseits, die den Betroffe­
nen aus eben diesem Leiden zugewachsen sind. Genau in dem Maße,
in dem beides zugleich wahrgenommen und in den konkreten Ge­
schehnissen der menschlichen Lebensverhältnisse aufgewiesen wird,
wächst dem historischen Denken nicht nur eine neue Erfahrungsdi­
mension von anthropologischer Universalität zu, sondern auch der
geistige Impuls, aus der Leidenserfahrung einen Sinnfunken zu schla­
gen: Mit ihm wird die historische Orientierung selbst zum integralen
Bestandteil einer Kultur der Humanisierung, einer »Beförderung der
Humanität«, wie Herder es genannt hat. Jetzt freilich wird das Leiden so
ernst genommen, wie sich das menschliche Handeln der Direktive ver­
pflichtet weiß, es zu lindern.

[ 84 ] I. li I I) 1; N S V I! R 1) R Ä N 1; II N G UND TROSTBEDARF
> TRÖSTLICHE PHILOSOPHIE?
Ludw ig Step

er Trost, den die Philosophie seit den Zeiten des Sokrates und des
D Boethius zu spenden versucht hat, beruhte über Jahrtausende vor
allem auf zwei Überlegungen: Zum einen, dass die volle Erkenntnis des
Wahren erst nach dem Tod erreichbar sein wird. Der philosophisch Le­
bende ist also durch keine Katastrophe des irdischen Lebens ernsthaft
betroffen. Zum anderen, dass die Welt, so wie sie dem die Oberfläche
durchdringenden Denker schon erkennbar ist, notwendig und im Letz­
ten »gut« ist. Das Leid und die Bosheit gehören zu den Mitteln einer Per­
fektion des Ganzen, die von einem allmächtigen vernünftigen Willen zu­
gelassen sind. Diese Vollkommenheit wird durch die Freiheit des
menschlichen Willens gesteigert, zwischen gut und böse zu wählen. In
dieser Freiheit und in den Mängeln einer unfertigen (religiös gespro­
chen: unerlösten) Natur liegen für den menschlichen Willen selbst Mit­
tel zur Vervollkommnung, sei es der moralischen, sei es der technischen.
In der neuzeitlichen Philosophie treten die technische Naturbeherr­
schung und der »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« an die Stelle
der göttlichen Vorsehung. Dass sich in den natürlichen und histori­
schen Prozessen eine vernünftige Notwendigkeit zeigt, teilen die natu­
ralistischen Determinismen seit Spinoza mit den Philosophen der Wil­
lensfreiheit. Von diesen hat am deutlichsten Hegel der Philosophie das
Potenzial zugesprochen, das menschliche Denken und Wollen mit der
»Vernunft in der Geschichte« zu »versöhnen«. Zwar gesteht Hegel der
Trauer, sei es über den Zerfall großer Kulturen, sei es über die »Schlacht­
bank« der großen Kriege, eine vernünftige Rolle zu. Aber die Trauer
muss und kann eine ruhige sein, weil diese Opfer notwendig sind für
den Fortschritt der Vernunft zu mehr Freiheit, mehr Erkenntnis und

•[' H 0 S T I . 1 C I I K P H I L O S O P H I E [ 85 ]
mehr Unabhängigkeit von Naturprozessen. Ist man sich der Geschichte
als der Heimat der Vernunft gewiss, dann braucht man auch nicht mehr
auf ein Jenseits zu hoffen. Die vernünftige Gestalt von Staat und Gesell­
schaft ist ein ausreichender Rahmen erfüllten Lebens.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Philosophie diesen An­
spruch, den Menschen mit dem Lauf der Dinge im Großen »versöhnen«
und ihn daher über die Leiden im »Kleinen« der Alltagsgeschichte und
der oberflächlichen Weitsicht hinwegtrösten zu können, zunehmend
aufgegeben. Die Kritik der Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise der ra­
tionalen Metaphysik ist dafür die eine Quelle, die anderen sind die Er­
fahrungen von Katastrophen und Zufällen in Natur und Geschichte. Al­
lerdings hat eine aus trüben Quellen der Natur- und Sozialwissenschaft
schöpfende »philosophische« Ideologie noch bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts an »Großprojekten« teilgenommen, die Geschichte zu ei­
nem vernünftigen Abschluss in Gestalt des neuen Menschen und der
neuen Gesellschaft zu bringen. Selbst 1989 haben Philosophen der He-
gelschen Tradition (Fukuyama) noch verkündet, mit Demokratie und
freiem Markt sei die Geschichte an ein im Großen und Ganzen ver­
nünftiges Ende gekommen - eine Deutung, die schon die Jahrtausend­
wende nicht mehr überstanden hat.
Heute wird ehrliche Philosophie eingestehen müssen, dass es für die
These eines vernünftigen Gesamtverlaufs der Geschichte, für den klei­
nere Übel ruhig in Kauf genommen werden können, keine hinreichen­
den Anhaltspunkte mehr gibt. Weder für eine durchgängige Zweckmä­
ßigkeit der Natur noch für eine vernunftgesteuerte Entwicklung der
Geschichte gibt es empirische oder apriorische Evidenz. Das schließt
»vernünftige« Lernprozesse in bestimmten Bereichen nicht aus, vor al­
lem in der Formulierung und annähernden Institutionalisierung von
Menschenrechten und sozialer Demokratie. Aber reicht das, um die
Trauer über die entsetzlichen Unvollkommenheiten und Leiden unter
der Unfähigkeit zu Frieden, gerechter Verteilung der Ressourcen und
schonendem Umgang mit der Natur zu beruhigen?
Eine Philosophie, die in der Tradition ihres griechischen Ursprungs auf
Erfahrung und vernünftiges Überlegen beschränkt ist, also auf das Re­
servoir übernatürlicher Offenbarungen nicht zurückgreifen kann, muss
heute zugestehen, dass Evolution und Geschichte ständig von Zufällen
und Katastrophen bedroht sind, die eine umfassende Versöhnung mit

| H6 ] t H O s r i. i r li i; l> l i.o.so i' ii 1i;


ihrer inneren Notwendigkeit und Güte nicht mehr zulassen. Sie muss
das umso mehr, als sie nicht zuletzt in der Erfahrung mit Katastrophen
immer mehr von dem entdeckt hat, was ein menschenwürdiges Leben
und die Entwicklung menschlicher Möglichkeiten bei jedem fordert.
Gerade diese höheren Anforderungen - etwa gegenüber einer Sklaven­
halter- oder Feudalgesellschaft - verstärken die Trauer über ihre Uner­
fülltheit in den überwiegenden Teilen der uns durch die modernen Me­
dien allgegenwärtigen Welt.
Die Aussichten auf wirkungsvolle Tröstung über die durch nichts ge­
rechtfertigten Leiden und Ungerechtigkeiten sind in der Phüosophie
auch deswegen gering, weil sie über das »Prinzip Hoffnung« immer we­
niger verfügt. Das heißt nicht, dass es keine Möglichkeit der Verbesse­
rung ungerechter Ordnungen und Zustände gäbe. Das ist weder prinzi­
piell zu zeigen noch empirisch belegt. Skeptisch muss man aber nach
den Erfahrungen und philosophischen Einsichten der letzten beiden
Jahrhunderte gegen die Möglichkeit sein, dass eine solche Verbesse­
rung ein endgültiges Ziel erreicht - oder auch nur einen »qualitativen
Sprung« macht, mit dem wir ein völlig neues Niveau mit gewaltig redu­
zierten Anlässen der Trauer erreichten.
Die Philosophie, die auf Vernunft und Erfahrung beschränkt ist, kann
heute auch nicht mehr auf jenseitige Hoffnungen zurückgreifen. Für
die Annahme der Unsterblichkeit der Seele und eines jenseitigen Aus­
gleichs aller Leiden gibt es keine rationale Notwendigkeit mehr. Die
philosophischen Maximen des Verzichtes auf Wunschdenken, der
Sparsamkeit ontologischer Annahmen, sofern sie nicht von der »besten
Erklärung« von Natur und Geschichte gefordert sind, lassen auch eine
rationale Hoffnung auf jenseitigen Trost nach meiner Auffassung - die
sicher nicht von allen Philosophen geteilt wird - kaum mehr zu. Nur
Philosophen, die aus Offenbarungen und Erfahrungen zehren, die man
heute nicht mehr jedem Menschen kraft seiner physischen und geisti­
gen Ausstattung zumuten kann, können solche Hoffnungen noch zu
begründen suchen.
hi der gegenwärtigen philosophischen Diskussion scheinen mir vor al­
lem drei Wege aus dieser »Trostlosigkeit« erwogen zu werden: Der erste
besteht in der Beseitigung der Ursachen der Trauer durch technische
Perfektion des Menschen und der ihm »dienstbaren« Natur. Der zweite
geht von einer Vollendung der Philosophie in der Religion aus. Der

m ftST I.ir.IIK PHII.OSOPHIf. [87]


dritte, nach meiner Überzeugung ehrlichste, besteht in dem Bewusst­
sein, dass die Philosophie zwar über wenig Trostmöglichkeiten verfügt,
aber deswegen die Hoffnung auf partikulare Verbesserungen nicht auf­
geben muss. Sie kann noch immer Orientierungen für die Arbeit an ei­
ner besseren, aber niemals endgültig »trauerfreien« Welt geben.
(1) Man kann die Ursache für die nicht endenden Konflikte zwischen
Menschen, wie es schon der englische Philosoph David Hume im 18.
Jahrhundert getan hat, in einer Trias von Bedingungen der menschli­
chen und außermenschlichen Natur sehen: Der Knappheit der natürli­
chen Ressourcen, der begrenzten Sympathie zwischen Menschen und
ihrer Angewiesenheit auf Kooperation. Solange Knappheit und Sympa­
thie mäßig bleiben, haben Moral und Recht eine Chance, menschliche
Beziehungen halbwegs friedlich zu regeln - bei radikaler Knappheit und
dem gänzlichen Verlust an Sympathie drohen die Bedingungen für Recht
und Moral zu schwinden. Charakteristisch für die menschliche Sympa­
thie ist, dass ihre Stärke mit der Entfernung abnimmt, weshalb ihr durch
staatliche Gesetze nachgeholfen werden muss. Darin liegt sicher ein
Problem angesichts der zunehmenden Globalisierung und der Bilder­
flut, die selbst gegen erschütternde Nahaufnahmen abstumpfen lässt.
Wenn weder die Erziehungsprogramme der Aufklärung noch die reli­
giöse Missionierung zur Verbreitung der Nächstenliebe ein Ende oder
auch nur ein Abnehmen der Konflikte in Sichtweite gebracht haben,
dann liegt die Idee nahe, den Fortschritt in den Techniken der Naturbe­
herrschung - die anscheinend allein in der Neuzeit einen linearen Fort­
schritt zu verzeichnen haben - auf die natürlichen Bedingungen der
Konflikte anzuwenden. Nicht nur auf die Effizienz der Naturnutzung,
sondern vor allem auf die »Sympathie-Struktur« der menschlichen Psy­
che. Daher die Programme zur Optimierung des Menschen, seiner Leis­
tungsfähigkeit und seiner »Sozialverträglichkeit«. Biologen und Phi­
losophen denken ernsthaft daran, die Aggressivität des Menschen
genetisch herabzusetzen. Allerdings hat das Programm der biotechni­
schen Perfektion des Menschen auch weniger notwendige und soziale
Ziele. Teils folgt es einer technischen Leitidee der permanenten Steige­
rung von Leistungsfähigkeit - wie bei allen Apparaten, etwa der Kom­
munikation oder Fortbewegung - teils der Erfüllung beliebiger privater
Wünsche einschließlich ihrer gewinnbringenden Erzeugung und Be­
dienung durch »Anbieter«. Der ganze Umfang von Projekten des

[ 8H ] T U 0 S T 1.1 C II i; l> II I I. O S () 1> II I li


»Transhumanismus« braucht hier nicht diskutiert zu werden. Es
kommt nur auf die Idee an, die Quellen menschlicher Leiden durch eine
Verbesserung seiner Natur zu stopfen.
Theologen neigen dazu, diese Fortsetzung des »Projekts der Moderne«
als Hybris zu verdammen und auf die gottgegebene Unvollkommenheit
und Erlösungsbedürftigkeit der menschlichen Natur hinzuweisen.
Aber auch die Theologie hat die Erleichterungen, die Medizin, Ernäh­
rung, Hygiene etc. zumindest unter günstigen sozialen Bedingungen
dem Menschen bringen können, weitgehend anerkannt. Auch die
christliche Verehrung des unter menschlichen Schmerzen leidenden
Gottes hat die Kirchen nicht davon abgehalten, die Fortschritte der Me­
dizin und ihrer technischen Mittel als akzeptable, sogar gebotene Wege
der Nächstenliebe zu beurteilen. Woher sollte der Philosoph die Argu­
mente nehmen, den weiteren Weg der technischen Beherrschung der
Ursachen menschlichen Leidens durch Verbesserung des Menschen
prinzipiell zu verwerfen?
Trotzdem lehnt der größte Teil der modernen Philosophie den »Trans­
humanismus« ab. Die Gründe dafür liegen in den Gefahren, die eine
unkontrollierbare Veränderung der menschlichen Konstitution für alles
das brächte, was uns am »Naturerbe« des Menschen erhaltenswert und
für sein »Kulturerbe« konstitutiv zu sein scheint. Die menschlichen
Emotionen bilden ein Ganzes, in dem »gerechte Empörung« nicht ohne
reizbare Sensibilität zu haben ist. Ohne Ungeduld und Bereitschaft zum
Streit ist Freiheitsstreben und Solidarität ohne Antrieb. Auch ohne das
Böse zur Bedingung von Vollkommenheit zu machen, muss man sagen,
dass das Gebilde der menschlichen Psyche viel zu sensibel ist, um es
Technikern und Menschheitsbeglückern zu überlassen. Was mit den
sozialtechnischen Experimenten des »neuen Menschen« oder der ver­
edelten Rasse im 20. Jahrhundert grauenhaft fehlgeschlagen sind, aber
immerhin durch Erfahrung revidierbar war, könnte unter biotechni­
schen Vorzeichen zu einer endgültigen Enthumanisierung führen.
In der Nahperspektive würde diese Form der Optimierung des Men­
schen ohnehin die Folgen radikal verschärfen, die jetzt schon durch die
Möglichkeiten bevorzugter Schichten gegeben sind, Erziehung, Ausbil­
dung und medizinische Versorgung ihrer Mitglieder zu verbessern: Der
soziale Abstand könnte mit einer von Kaufkraft abhängigen biotechni­
schen Verbesserung zu einer Bildung von subspecies führen, bei denen

T K ft S T I. I C II li l> H I l . d S O P H I Fi [ 89 ]
die Voraussetzungen für wechselseitiges Verständnis und Gleichbe­
handlung nicht mehr gegeben wären. Eines der positiven Resultate un­
seres kulturellen Lernprozesses, die Einsicht in die Irrelevanz der Un­
terschiede von Rassen und Geschlechtern in Bezug auf soziale Normen
und Positionen, könnte wieder umgekehrt werden.
Wenn also die technische Verbesserung des Menschen kein gangbarer
Weg ist, die Quellen unserer Trauer zu beseitigen, wie kann eine Philo­
sophie ohne Hoffnung auf eine allmächtige Vernunft und jenseitige
Tröstungen mit dieser Trauer umgehen?
(2) Der zweite Weg besteht darin, die Aufgabe der Tröstung der Religion
zu überlassen und in dieser die Erfüllung und Vollendung der Philoso­
phie zu sehen. Wenn es keine philosophischen Beweise für die Vernunft
in Natur und Geschichte, für die Unsterblichkeit der Seele und einen
gerechten Ausgleich aller Leiden am Ende der Tage mehr gibt, warum
dann nicht die Grenzen der Philosophie eingestehen und sich über sie
von religiösen Offenbarungen, Hoffnungen und Gewissheiten hinweg­
führen lassen?
Eine solche Lösung ist vor allen Dingen in Situationen nahe liegend, wo
es menschlich geboten scheint, andere über ein aussichtsloses Leben
oder einen nicht zu verkraftenden Verlust hinwegzutrösten. Was soll
man Menschen in aussichtslosen Ghetto-Situationen armer Länder
oder den Angehörigen von Opfern staatlichen oder nicht-staatlichen
Terrors anderes sagen, als dass es eine Zukunft jenseits dieser Welt gibt?
Und fordert nicht auch die moralische Vernunft, dass die Opfer der Ge­
schichte nicht vergessen werden und die Täter ihren Richter auch nach
dem Tode noch finden werden?
Menschlich scheint dieser Weg oft der einzig gangbare, aber dem Philo­
sophen, der sich an die notwendigen skeptischen Elemente seiner Me­
thode hält, sind sie gleichwohl kaum gestattet. Denn dass wir eine aus­
gleichende Gerechtigkeit fordern, ist keineswegs ein durchschlagendes
Argument dafür, dass es sie auch gibt. Und dass die Vernunft einen
Abschluss, eine Vollkommenheit und Endgültigkeit zumindest »postu­
lieren« muss, wie noch Kant meinte, beruht schon auf einem über­
menschlichen Vernunftbegriff, der heute nicht mehr durch Erfahrung
und möglichst sparsame Begründung gestützt wird.
Trost mit Blick auf ein Jenseits des irdischen Lebens zu spenden, muss
der Philosoph also den auf Offenbarung beruhenden Lehren überlas-

| <;o | T K 0 S T I. I C H I! P H I I. O S O P H I li
sen. Er kann ihnen nur folgen, wenn ihn selbst diese Offenbarungen auf
außerwissenschaftliche Weise überzeugen.
(3) Was bleibt dann innerhalb einer Philosophie, die weder auf Recht­
fertigung, noch auf diesseitige Abschaffung der Übel und auch nicht auf
jenseitige Kompensation vertraut?
Zuerst einmal das Eingeständnis, dass vieles an Schmerz, Leid und Un­
gerechtigkeit trostlos bitter ist und wir zwar auf emotionale Zuwen­
dung, aber nicht auf rationale Argumente der Beseitigung bauen kön­
nen. Selbst die stoischen Ratschläge, alles als unwichtig abzutun, was
nicht mit der Erlangung von Erkenntnis und der Erfüllung von völlig
selbstkontrollierbaren Wünschen zu tun hat, können heute nicht mehr
überzeugen. Sie erscheinen zu »rationalistisch«, zu unsensibel und un­
beteiligt, als eine Flucht eben aus der Komplexität, Fragilität und Sozia­
lität der menschlichen Verfassung.
Ferner die Einsicht, dass trostlose Trauer über viele Ereignisse und Zu­
stände nichts daran ändert, dass in dieser Welt Güte und Verbesserung
möglich ist. Ereignisse und Zustände sind prinzipiell erreichbar, die
von allen bejaht und zum Ziel des Handelns gemacht werden können.
Und das nach meiner Auffassung nicht nur im Einzelnen, sondern
umrissweise auch im Ganzen. Die Welt ist nicht perfekt und nicht ver­
worfen, sie hat viele Möglichkeiten zum Guten. Zumindest als Auf­
gabe kann sich der Mensch die Verfassung einer Welt vornehmen, in
der sich mannigfaltige Formen, Arten, Kulturen und Individuen ge­
genseitig tolerieren, anerkennen und wechselseitig fördern. Was Men­
schen untereinander fördern sollen, ist Gedeihen und Wohlergehen,
Anteilnahme und Mitleiden, Kooperation und wechselseitige Berei­
cherung von Individuen und Gruppen. Dazu sind sie aufgrund ihrer
Konstitution in der Lage, auch wenn sie es immer wieder verfehlen
und verderben.
Die Welt ist nicht notwendig gut, aber sie kann gut sein, im Einzelnen,
ausschnittweise, aber auch hinsichtlich einer erstrebenswerten Ge­
samtverfassung. Eine »konkrete Ethik« kann solche Ziele und die anzu­
strebende Güte dieser Welt genauer differenzieren, im Austausch mit
den Erfahrungen und Hoffnungen vieler Kulturen und Religionen.1Die
Arbeit daran, so viel wie möglich davon zu realisieren, muss sich nicht
von der Tatsache entmutigen lassen, dass ein Endzustand vielleicht nie­
mals erreicht wird, ja dass wir vielleicht - was die Häufigkeit von Leiden

T K ö S T I. I (. II I! P II I 1 . 0 S O P II I E [91]
und Schmerz im universalen Maßstab angeht - nicht einmal entschei­
dende Fortschritte machen.
Es kann sein, dass wir die Religionen für einen Trost brauchen, den die
Philosophie nicht mehr spenden kann. Dass wir etwas brauchen, ist al­
lerdings philosophisch kein Grund für die Wahrheit oder Realität des
Gebrauchten. Andererseits ist die Sorge vor einem Wunschdenken kein
Grund für selbstgewissen Atheismus. Ob ein allmächtiger Tröster exis­
tiert, muss die Philosophie offenlassen. Fähig erscheint sie mir aber zur
Ermutigung, auch ohne letzten Trost an der Bekämpfung von Leid,
Elend und Ungerechtigkeit mitzuwirken.

[ 1)2 ] T KÖSTUCHB PHILOSOPHIE


> BEI TROST?
Jürgen Werbick

nwiederbringlich verlieren: die Liebe, Heimat, die Blüte des Le­


U bens, das Zutrauen zur eigenen Lebenskraft und Kreativität; die
Trauer über den unaufhaltsam sinkenden Kurswert meines Attraktivi-
täts- und Aufmerksamkeitskontos. Trost ist nicht in Sicht. Und die Ver­
suche, sich zu trösten, bleiben hilflos.

SICHTRÖSTEN

Michel Houellebecq schreibt sich das Drama der Trostlosigkeit immer


wieder neu von der Seele, so als könnte er damit seine Seele loswerden
und mit ihr das Drama. Aber selbst seine »Neo-Menschen« werden es
nicht los. Die alt gewordene Menschheit konnte sich wenigstens noch
trösten. Geld macht vielleicht nicht glücklich; aber man kann sich eine
Zeit lang damit trösten, Aufsehen erregen, Aufmerksamkeit und Lust
kaufen. Geld als Prothese der Attraktivität und der Lebenskraft. Man
kann sich damit trösten. Aber mit den kleinen Komödien des Trostes ist
das große Drama nicht aufzuhalten. Houellebecq erzählt sie beide inei­
nander: die trostlosen Komödien des Sich-Tröstens und das Drama, das
nicht aufzuhalten ist. Religion kommt gerade noch als Travestie des
Trostes vor. Die Elohimiten in Die M öglichkeit einer Insel (deutsch: Köln
2005) sin d - zunächst jedenfalls- sympathische Irre, keine verrückt­
entschiedenen Fundamentalisten, Dänikken mit modernster Hirnphy­
siologie und Computertechnologie im Gepäck. Sie haben noch ein Ziel:
Unsterblichkeit scheint in Reichweite. Warum sollte man nicht die ge­
samten Information auf der alten Festplatte des Gehirns scannen und

H HI TR O S T? [ 93 ]
auf immer wieder neue Festplatten übertragen oder perfekte Klone her-
stellen können! Aber damit potenziert sich die Trostlosigkeit der Dauer
nur noch. Was kann überhaupt noch geschehen, außer dass es dauert?

»OHNE EIN FINALE INS NICHTS«

»Die Dauer, mit einem >Umsonst<, ohne Ziel und Zweck, ist der lä h ­
m endste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man ge­
foppt wird und doch ohne Macht (ist), sich nicht foppen zu lassen.«1
Der nihilistischen Lähmung durch die Dauer will Friedrich Nietzsche
entgehen; anders als die nihilistischen Religionen mit ihrem Angebot
eines jenseitigen Zwecks, die über das Umsonst hier und jetzt hinweg­
trösten, aber die Frage unausweichlich machen, warum Menschen
überhaupt mit dem Diesseits »gefoppt« sind. So führt Nietzsche in den
Nihilismus hinein, um ihn zu überwinden: »Denken wir diesen Gedan­
ken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn
und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins
Nichts: >die ewige Wiederkehr<.«2
Den Prozess des Daseins bejahen nicht wegen eines Zwecks, der an sei­
nem Ende erreicht wäre, sondern weil »Etwas innerhalb jenes Prozesses
in jedem Momente desselben erreicht würde- und immer das Glei­
che«3, das wäre der Trostlosigkeit der bedeutungslosen Dauer gewach­
sen. Die Übermenschen, die den furchtbarsten Gedanken der »ewigen
Wiederkehr des Gleichen« aushalten und in sich überwinden, weil sie
nur noch Bejahende sind, wären dazu herangewachsen, »triumphirend
jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen.«4 So dürfte
man sich trösten angesichts der Dauer, in der alles verblüht. Sich »als
Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen,
wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Ge­
fühl über alle Gefühle.« Wer aber - so fragt Nietzsche schon in Mensch­
liches, A llzu m enschliches-ist »desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter:
und Dichter wissen sich immer zu trösten.«5
Im Zarathustra, in dem Nietzsche den Gedanken von der ewigen Wie­
derkehr des Gleichen zum Evangelium stilisiert, wird er selbst zu einem
Dichter, der aber nur in der Trostlosigkeit Trost finden kann: darin, dass
er die Macht des Übermenschen besingt, das Trostlose als das bedeu-

I 94 | II li I T I U I S T !
tungslose, entgöttlichte Fatum zu lieben.6 Nietzsche sieht sich selbst
nicht als den »übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten
Menschen«, »der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden
und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es w ar und ist, wieder ha­
ben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend«7. Am
Ende quälender- in der Qual seiner Krankheit zu Ende gebrachter-
Selbstprüfung muss er von sich sagen: »Ich will das Leben nicht wieder.
Wie habe ich’s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Blick aushal-
ten? Der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe
versucht es selber zu bejahen - Ach!«8
Dem Künder und Platzhalter des Übermenschen bleibt nur eine nega­
tive Hyper-Anthropologie - und die Selbststilisierung eines Propheten,
der an seiner Botschaft zugrundegehen muss. Kann man sich nach-
nietzscheanisch noch trösten mit dem, was der Mensch einmal sein
wird? Oder wird das Hyper-Menschliche, wenn es uns denn bevorsteht,
das endgültig Trostlose sein; nicht mehr unmenschlich vielleicht, aber
trostlos unsterblich, wie von Houellebecq imaginiert?

WERVERGISST...

In der Flederm aus von Johann Strauß wird in Champagnerlaune der


Gegentext gesungen: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu än­
dern ist. Champagner gehört wohl schon dazu, mindestens. Wer im
Haus des Grafen Orlofsky verkehrt, der mag sich bei Champagner ar­
rangieren mit dem, was nicht zu ändern ist: mit der kleinen Tragödie im
Gefängnis, die sich allemal in die Komödie auflöst. Der Großbürger
konnte sich diesen kleinen Fatalismus emotional, finanziell und poli­
tisch leisten. Er musste oder wollte nicht tragisch nehmen, was nicht zu
ändern ist.
Der durch und durch ernüchterte Fatalismus müsste sich zu Schopen­
hauerscher Größe aufschwingen. Es gilt - so nun Arthur Schopenhauer
im Originaltext - »von den inneren Zuständen wie von den äußeren,
dass es nämlich für uns keinen wirksameren Trost gibt als die volle Ge­
wissheit der unabänderlichen Notwendigkeit.« Nichts ist danach »wirk­
samer zu unserer Beruhigung [...] als das Betrachten des Geschehenen
aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit, aus welchem alle Zufalle

HK I T R O S T ? [ 95 ]
sich als Werkzeuge eines waltenden Schicksals darstellen und wir mit­
hin das eingetretene Übel als durch den Konflikt innerer und äußerer
Umstände unausweichbar herbeigezogen erkennen, also der Fatalis­
mus.«9
Der Trost der Unausweichlichkeit: das Unausweichliche vergessen oder
heldenhaft ertragen oder sich zur Weisheit aufschwingen, dass es ins
Leben hineingehört, oder sich gar quasi-religiös der avay>cTi anver­
trauen? Was wäre da tröstlich? Das Sich-Zufriedengeben damit, dass al­
les andere ja doch nichts nützt, garniert vielleicht mit etwas Ehrfurcht
vor dem Leben, das sich erneuert, wenn es uns den unwiederbringli­
chen Verzicht abverlangt; Versöhnung mit dem Elend des Menschseins
und menschlicher Gesellschaften. Kein billiger Trost fürwahr; vielleicht
überhaupt kein Trost, eher tröstlich sein sollende Mythen mit und ohne
Götter.
Dagegen steht die Erinnerung an Israels Erwählung zur Trostlosigkeit,
an seine Trost-Armut bis auf den heutigen Tag. Israels Armut im Geiste,
das ist für Johann Baptist Metz seine »Unfähigkeit, sich durch Mythen
und Ideen trösten zu lassen.«10 Trostlosigkeit war es indes doch nicht,
jedenfalls nicht durchweg. »Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott
[...] Seht, Gott, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem
Arm«, kündet Deuterojesaja (Jes 40,1.10a). Sein Volk hat der Herr »ge­
tröstet und seiner Armen sich erbarmt« (Jes 49,13b). Und schließlich bei
Tritojesaja dieses bewegende Gotteswort: »Wie eine Mutter ihr Kind
tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost. Wenn ihr das
seht, wird euer Herz sich freuen, und ihr werdet aufblühen wie frisches
Gras« (Jes 66,13). Kein mythischer Trost. JHWH tröstet sein Volk, da er
ihm Zukunft gibt. Aber was war mit diesem Trost in den Trostlosigkei­
ten, die Israel in den Jahrtausenden seither heim suchten-wie das Gras
abgeschnitten vom Leben und ins Feuer geworfen? Lag noch Drost da­
rin, sich der Jesaja-Worte zu erinnern und sich an sie zu klammern?

WELCHER TROST?

Theodor W. Adorno, der dem Schicksal seines Volkes in Deutschland


entgeht, will angesichts der »Schmach des Daseins« keine Schönheit
und keinen Trost mehr kennen »außer in dem Blick, der aufs GrauenI

I l/j j H I! I T R O S T '
geht, ihm standhält und in ungemildertem Bewusstsein der Negativität
die Möglichkeit des Besseren festhält.«11 Kein lähmender Trost, der das
Fatum in seiner Fatalität wenn schon nicht lieben, so doch hinnehmen
lehrt; ein Dost vielmehr, der vor lähmender Trostlosigkeit rettet. Aber
w as-w er - könnte so trösten? Was könnte die Möglichkeit des Besseren
aufscheinen lassen im »ungemilderten Bewusstsein der Negativität«?
Kirnst käme für die Negative Dialektik gerade noch infrage; hier ist sie
Nietzsche gar nicht so fern. Kunst müsste die Möglichkeit des Besseren
nicht vorzeigen und abbilden. Sie kann darauf anspielen, indem sie den
Blick vom Grauenhaften nicht abwendet, ihm einen Ausdruck gibt, der
doch gehört und gesehen werden muss; der Anspruch darauf erhebt,
dass er gehört und gesehen w ird- und dass es einen Unterschied
macht, ob er gehört und gesehen oder in der Gleichgültigkeit erstickt
wird.
Wo sind die Ohren für das zum Himmel Schreiende; die Augen, die se­
hen, was man nicht mehr mit ansehen kann? Gott kam da schnell ins
Spiel. Und er ist schnell aus dem Spiel, wenn man eine Antwort auf die
Frage fordert, warum er nicht »kommt mit Macht« und »herrscht mit
starkem Arm«. Fast schon ein Reflex, gegen den man kaum etwas m a ­
chen kann: Wenn diese Trost-Figur im Spiel bleibt, ist es ein falsches
Spiel, das trostlos durchschaute Spiel der Vertröstung. So lässt man sie
politisch und ideologiekritisch korrekt verschwinden. Ich will schon
souverän selbst darüber entscheiden, von wem ich mich trösten lasse.
Bestimmte Trost-Figuren sind da deutlich unter meinem Problem-Ni­
veau! - Wie aber an der tröstenden »Möglichkeit des Besseren« festhal-
ten? Und an der Möglichkeit festhalten, dass solches Festhalten nicht
nur die leere Geste des Sich-nicht-Abfindens bleibt? Wer den Gottes-
Dost intellektuell unmöglich macht, sollte sich nicht mit großer rheto­
rischer Geste vor der intellektuellen Verantwortung davonstehlen, die
Möglichkeit eines Besseren gegenüber der lähmenden Trosflosigkeit in
Erwägung zu ziehen.

GETRÖSTET WERDEN

Man darf nicht an den Zeugnissen vorübergehen; weder an den Zeug­


nissen derer, die trostlos blieben, noch an den Zeugnissen derer, die ge­

Mli I T R O S T ' [ 97 |
tröstet wurden. Das bezeugen sie alle: Wer sich selbst trösten will, ist
verloren. So viel Tröstliches kann die Vernunft gar nicht aufbieten, als
der Blick auf das Geschehen von Welt, Gesellschaft, Kirche wegnimmt.
Aber damit ist die Vernunft nicht aus dem Spiel. Wer bei Trost ist, müht
sich zu unterscheiden, bei welchem Trost er Halt suchen kann und wel­
chen er zurückweisen muss. D octa spes: sie allein könnte tröstlich sein,
wenn sie in uns wachgerufen wird, wenn sie uns verbürgt wird. Kein
Trost ohne Weisheit. Weisheit ist das Gegengewicht gegen das unge-
tröstete »Wie lange noch!« Kann sie so viel Gewicht haben, kann sie uns
so zuverlässig verbürgt sein, dass der Ausruf nicht ganz ohne apokalyp­
tische Hoffnung auf das gute Ende bleiben muss?
Weisheit erinnert an das so leicht Vergessene und von dem, was uns
jetzt überrollt, bedeutungslos Gemachte. Sie weist hin und lässt sich
hinweisen auf das - bei allem, was geschieht - den noch Geltende. Sie
»weist hin«: das klingt noch zu affirmativ und triumphalistisch. Wie
könnte sie sich sicher sein, nach all dem, was geschehen ist. Sie ver­
sucht sich im Dennoch festzumachen, an ihm festzuhalten. Noch wenn
sie die Schönheit der Schöpfung preist, singt sie gegen das Chaos an. So
redet und schweigt der Trost gegen die Trosdosigkeit an, so macht er
sich in Trostgründen fest, die er selbst nicht hieb- und stichfest verge­
wissern kann; in diesem einen vor allem: Unser Gott ist nicht aufseiten
der Ungerechten und des Todes. Er ist ein Liebhaber des Lebens (Weish
11,27) und der Gerechtigkeit. Und seine Liebe wird mächtiger sein als
die zynische Entschlossenheit derer, die auf Ungerechtigkeit und Tod
setzen.
Was spricht nicht alles dagegen! Die Trostlosigkeit findet genug Gründe,
sich nicht trösten zu lassen. Wer wird es den Ungetrösteten verdenken,
wenn ihnen die Kraft abhanden gekommen ist, ihr Herz an das Den­
noch zu hängen. Zu viel Enttäuschung, als dass man noch darauf hof­
fen könnte, sich je tz t- und im Entscheidenden - nicht zu täuschen.
Man ist gewarnt. Aber man sollte auch gewarnt sein vor den Lehrern der
Enttäuschung, die mit ihrer Enttäuschung unbedingt Recht behalten
wollen und jeden Trost als intellektuell unter Niveau denunzieren.
Sollte man die Weisheits-Lehrer »vom Zwecke des Dasein« nicht höher
schätzen als Nietzsche und die Nietzscheaner? Die Weisheits-Lehrer
wollen den »Glauben an das Leben« fördern, wollen lehren, das Leben
zu lieben, denn ...1ZDie »ältesten Trostmittel«13 und Trostgründe, wo-

I 9« | Iti: I T R O S T '
nach das Leiden verschuldet, Erlösung aber erreichbar ist - durch das
Leiden hindurch-, werden nicht die besten sein. Und die Lehrer wer­
den ihrer selbst und ihrer Lehre nicht mehr so sicher sein. Aber was ist
dagegen einzuwenden, dass sie uns ihre Gründe nennen für das Den­
noch. Dass sie uns ermutigen, auf Menschen zu schauen, die das Den­
noch gelebt haben, ohne Triumphalismus, aber auch ohne sich klein zu
machen: auf Zeugen und Zeuginnen und ihre Hoffnung zu schauen,
wenn die eigenen Hoffnungen nicht mehr weit genug reichen?
Das wäre ein Trost, den man nicht verstecken müsste: wenn unser Blick
auf Menschen fallt, die das Dennoch lebten oder leben. Wie tröstlich,
mit ansehen zu dürfen, was die Hoffnung aus den Zeugen gemacht hat,
was - so sagen sie es hie und da selbst- der Paraklet aus ihrem Leben
gemacht hat: dass sie Grund finden zu danken. Sie können sich täu­
schen. Wir können uns täuschen, wenn wir uns von ihnen trösten las­
sen. Aber wir wären nicht bei Trost, wenn wir ihre Hoffnung nicht prüf­
ten: wenn wir ihr Dennoch nicht in Betracht zögen.
Wir können uns täuschen; sie können sich täuschen. Lehrer und Weis­
heiten verdienen keinen Kredit mehr, wenn sie uns das verheimlichen.
Aber der Zweifel muss nicht trostlos bleiben. Seine Gründe sind auch
nicht so gut, dass man an ihnen nicht zweifeln könnte. Wie und wozu
die Hoffnung einen Menschen verwandelt hat, wie sie ihn das Dennoch
hat leben lassen, das is t- wie gesagt- kein hieb- und stichfestes Argu­
ment. Aber es macht vielleicht Mut dazu, sich trösten zu lassen darüber,
dass so vieles gegen den Mut zu hoffen spricht und im Letzten vielleicht
nur dies eine dafür spricht: dass der Getröstete nicht abgeschlossen hat
mit dem, was war; dass er ein Mensch des Anfangs sein kann. Die Men­
schen, die Mächte des Todes und der Ungerechtigkeit, sie dürfen nicht
die Macht haben, die guten Anfänge restlos wegzunehmen. Im Getrös­
tetwerden liegt der Anfang, der Anfang des Dennoch. Dass dieser An­
fang kein Anfang vom Ende ist, das kann nur der erweisen, der, wenn er
ist und wenn er der ist, nach dem Juden und Christen sich ausstrecken,
die Tränen abwischt von jedem Gesicht (Jes 25,8).

H I! I T R O S T ? [ 99 ]
> »KOMM TROST DER WELT
UNTRÖSTLICHKEITEN UND TROST IN
DER LITERATUR
W olfgang Frü h w a ld

ohannes Pfeiffer hat 1946 in Hamburg eine Anthologie herausgege­

J ben, die den Titel trägt: »Anfechtung und Trost im deutschen Ge­
dicht«. In den Jahren der Nachkriegsdepression hatte dieses (rund 250
Seiten umfassende) Buch einen ungeahnten Erfolg und wurde bis ins
Jahr 1960 hinein immer wieder aufgelegt. Mein Münchner Lehrer Her­
mann Kunisch wurde nicht müde, uns Studenten der Germanistik in
den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Buch ans Herz zu
legen. Aus der Literatur, meinte er, sei tatsächlich Trost zu gewinnen,
Trost und Zuversicht in vielen Anfechtungen und Wechselfällen des Le­
bens. Doch fügte er sogleich differenzierend hinzu, er habe am 1. Sep­
tember 1939, beim Beginn des Zweiten Weltkrieges, Trost in den von
Glück und Trauer zugleich getragenen Judith-Szenen in Gottfried Kel­
lers autobiografischem Roman »Der grüne Heinrich« gesucht, jedoch
sogleich bemerkt, dass bei einem Ereignis wie dem Beginn des Welten­
brandes in diesem Text keine Zuflucht, kein Trost, keine innere Festig­
keit zu gewinnen war. Es gebe Situationen im Leben, meinte er, in de­
nen »schöne Literatur« allen Trost verweigere. Damals fand er Zuflucht
in Texten der Bibel, die vermutlich mehr vom Menschen, seinen Zu­
ständen und Sehnsüchten, seinem Zorn und seiner Freundlichkeit, sei­
nem Schmerz und seiner Lust wissen als viele belletristische Texte zu­
sammen. So ist es nicht verwunderlich, dass - zumindest seit Martin
Luthers folgenreicher Bibelübersetzung und bis in die jüngste Zeit hi­
nein - die deutsche Literatur von der Sprache der Bibel getragen ist,
dass »schöne Literatur« (europäischer Herkunft) dort, wo sie Trost

( IOO ] -KOMM TROS T I) i: R W H I. T -


spendet, zugleich über sich hinaus in biblische Prätexte verweist. Sie
gewinnt damit einen Mehrwert an Spiritualität, der sonst nur in mysti­
schen Texten der Weltliteratur zu finden ist.
Reinhold Schneider, dessen Todestag sich im Jahr 2008 zum fünfzigsten
Male jährt, hat 1934, nach den ersten Nachrichten aus dem deutschen
Konzentrationslager Dachau eine 1937 erstmals publizierte Novelle ge­
schrieben, der er den Titel gab »Der Tröster«. Darin berichtet er von dem
Jesuitenpater Friedrich Spee von Langenfeld, dessen Haare vor der Zeit
ergraut waren, weil er die Schrecken kaum noch ertragen konnte, die er
als Beichtvater der als Hexen angeklagten Frauen und als ihr Begleiter
zum Scheiterhaufen erfahren musste. Friedrich Spee von Langenfeld,
der das erste Buch gegen die grausame Praxis der Hexenprozesse ge­
schrieben hat, die bekannte Cautio Criminalis (1631), infizierte sich bei
der Pflege pestkranker Soldaten in Trier und ist dort 1635 gestorben. In
Schneiders Erzählung gibt es eine Szene, in der Pater Spee mit einem Or­
densbruder spricht, der eine von Krieg und Habgier zerstörte Kapelle
immer wieder aufbaut und immer wieder die Glocke läutet; dann näm­
lich schleichen sich, »wenn auch in Furcht und Zittern, [... ] ein paar Bau­
ern« heran »am Waldrand, und das Licht wird unter ihnen aufgehen;
denn es wird keine Zeit kommen, da es nicht an irgendeinem Orte der
Erde brennt«. Der Drost, den diese Glocke spendet, ist Trost inmitten von
Krieg und Pest und einer Verfolgung, die von Geschlechtshass getrieben
war und innerhalb eines Jahrhunderts ganze Landstriche entvölkert hat.
Das aber bedeutet, dass Trost ein Gegenstück braucht, um wirksam zu
sein, um einzugreifen ins Leben und ins Sterben der Menschen, die exis­
tenzielle Bedrohung, nicht nur an Leib und Leben, sondern auch an
Geist und Seele. Das berühmte Sonett, das Andreas Gryphius mit dem Ti­
tel »Thränen des Vaterlandes« im Jahr nach Spees Tod (»anno 1636«) ge­
schrieben hat, erzählt nicht nur von den Schrecken eines letztendlich
dreißig Jahre währenden Krieges, von verbrannten Städten, von Schwer­
tern, die »fett« sind von vergossenem Blut, von zerstörten Kirchen und
geschändeten Jungfrauen, sondern es belegt auch, warum der Ton von
Dichtern des 17. Jahrhunderts einem Entsetzensschrei mehr gleicht als
dem Ruf nach Rettung und Hilfe in tiefster Not:

■KOMM TROST I) 1! R W li L T ' [ IOI ]


Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod / Was grimmer denn die
Pest / und Glutt und Hungersnoth / Dass auch der Seelen Schatz / so vielen ab­
gezwungen.

Deshalb hat Friedrich Spee von Langenfeld in einem bekannten, noch


heute gesungenen Lied den Heiland gebeten, die Himmel »aufzurei­
ßen«, »Tor und Tür« vom Himmel abzusprengen und Schloss und Rie­
gel abzureißen:

Hier leiden wir die größte Not,


vor Augen steht der ewig Tod.
Ach komm führ uns mit starker Hand
vom Elend zu dem Vaterland.

Die Glocke der kleinen Kapelle am Waldrand bei Falkenhagen ist für
den Erzähler in Schneiders Novelle vergleichbar der Stimme des Poeten
Friedrich Spee, der allen Nachtigallen zum Trotz (freilich auch gegen die
Wittenbergische Nachtigall), das heißt mit der wundersamsten Natur­
melodie, die einem Vogel geschenkt ist, und mit Martin Luther um die
Wette gesungen hat. »[...] du hast ein Besseres, Pater Spee; du bedarfst
keiner Glocke, die Mordbrenner wieder umgießen zu Waffen, und kei­
ner Äcker, die ihre Rosse zerstampfen: du zauberst mit dem Liede, das
dir kein Feind entreißen kann, die Seelen in ihre Heimat hinüber«.
Im Bild des mörderischen Wütens, das Europa im Dreißigjährigen Krieg
verheerte, hat Reinhold Schneider die Schrecken des Zweiten Weltkrie­
ges vorweggenommen. Er hat die Nachrichten aus den Zwangslagern
des Regimes und die mit Wucht beginnende Verfolgung der europäi­
schen Juden verglichen mit jenem Verbrechen gegen Rang und Würde
des Menschseins, das zuerst in der Hexenverfolgung gipfelte (in der
meist Frauen als Frauen, das heißt als Geschlechtswesen angeklagt und
verurteilt wurden), ehe es, mit nochmals gesteigerter Obsession und
mit den Mitteln der modernen Technik ausgeführt, einen neuen Höhe­
punkt in der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegen die euro­
päischen Juden erreichte. Zwar haben sich, angefangen von Paul Celan
und Peter Weiss bis zu Primo Levi, Joseph H. H. Weiler und Amir Gut­
freund, viele neuere Autoren an der literarischen Darstellung dieses
Menschheitsverbrechens versucht, doch ist es nicht gelungen, Leiden

| 102] -KOMM TROST »KR W K LT-


dieser Größe in Schönheit zu verwandeln. In der Geschichte bleibt ein
Ton unstillbarer Trauer zurück, der im Laufe der Zeit nicht leiser wurde,
sondern immer lauter zu vernehmen ist. Es gibt offenkundig »Untröst­
liches« in der Geschichte der Menschheit, Geschehnisse und Erfahrun­
gen, die sich jedem Trost, auch der kollektiven Scham und sogar dem
sprachlosen Entsetzen, verweigern.
Friedrich Spees Lieder sind so gestellt, dass kein billiger Trost aus der
Erfahrung der mit dem Menschen leidenden Natur gezogen wird (.Bei
stiller Nacht), aber sie entwerfen auch nicht jene trostlose Szenerie, wie
sie die naturwissenschaftlich entzauberte Welt des späten 19. Jahrhun­
derts in Roman und Drama bestimmte. In dieser sich naturalistisch
oder »konsequent realistisch« nennenden Literatur ist Poesie nichts als
die gnädige Illusionierung des kahlen und nackten Todesschreckens.
Friedrich Spee von Langenfeld ist - so hat ihn sein Landsmann Heinrich
Böll genannt - ein Dichter der »Untröstlichkeiten«. Bei ihm ist kein
»happy ending« zu haben, aber auch nicht die undurchdringliche Fins­
ternis der modernen Gottesleugnung, in seinen Gedichten lebt die
Spannung des In-der-Welt-Seins, die Zerbrechlichkeit alles der Zeit un­
terworfenen Lebens.
Untröstlichkeiten entstehen gleichsam auf der Rückseite rationalisti­
scher Weltverhältnisse, wenn eine hochgezüchtete Kriegs- und Ver­
nichtungstechnik sich mit der Kehrseite des Rationalismus verbündet,
mit Exzessen des Verstandes, die jäh Umschlägen in gewalttätigen Irra­
tionalismus. So ist es nur konsequent, dass Friedrich Spee, der Dichter
der Untröstlichkeiten, auf dem Höhepunkt des rationalistischen Zeital­
ters (durch dessen romantische Vollender) wiederentdeckt wurde; dass
er von Ignaz von Wessenberg, Friedrich Schlegel, Clemens Brentano,
Achim von Arnim und schließlich auch von Joseph von Eichendorff
adaptiert, modernisiert und in eigene Texte transponiert wurde. Er sei -
meinte Clemens Brentano - »ein Dichter, mehr als mancher Minnesän­
ger«. Brentano und sein »Herzbruder« Achim von Arnim nahmen Lie­
der Spees in Des Knaben Wunderhorn (1806) auf, weil sie darin (auch
gegen die bei Spee zu erkennende Kunstfertigkeit des poetischen Hand­
werks) einen ursprünglichen Ton zu finden meinten, der an das Herz
der Welt rührte und nicht nur deren Eitelkeiten in polierte und galante
Reime fasste. Joseph von Eichendorff, für den »alle Poesie [...] nur der
Ausdruck, gleichsam der seelische Leib der inneren Geschichte der Na­

•K O M M TROST OHR W F I.T- [ IO j ]


tion« war, hat sich noch in seinen letzten Schriften an das Jugenderleb­
nis der Begegnung mit den Gedichten Friedrich Spees erinnert. Er hat
diesen Poeten des 17. Jahrhunderts flugs in das eigene Poesieverständ­
nis eingemeindet, ihn mit Friedrich Schlegel als einen Dichter »geistli­
cher Volkslieder«, einen Poeten der »Naturwahrheit« verstanden und
seine Gedichte so beschrieben, wie er wohl (allzu naiv) auch die eigene
Lyrik beschrieben hätte. Spee habe im Güldenen Tugendbuch und in
seiner Trutz-Nachtigall, heißt es in Eichendorffs Geschichte d er poeti­
schen Literatur Deutschlands (1857), »die verborgenen Stimmen der
Natur belauscht und verstanden: wie die Ströme und Wälder und Bäch­
lein emsig zu Gottes Lobe rauschen, und die Vögel von Ihm singen, und
die geheimnißvolle Sommernacht von Ihm träumt; als ob der Finger
Gottes leise über die unsichtbaren Saiten der Schöpfung glitte«. Doch
dieses »als ob« ist ganz Eichendorff eigen, verweist auf den modernen
Sehnsuchtston nach den Glaubensverlusten der Konfessionskriege. So
wird aus dem Dichter der Untröstlichkeiten unmerklich ein Dichter der
skeptischen Moderne, aus der Stimme des glaubenstreuen Poeten des
konfessionellen Zeitalters die naturfromme Stimme eines Protoroman-
tikers.
Ähnlich sind die Romantiker auch mit anderen Dichtem des Barock
verfahren, zum Beispiel mit Grimmelshausen, dessen Lied des Einsied­
lers aus dem Roman Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (1658)
unter dem Titel Schall der N acht nicht nur in Des Knaben Wunderhorn
aufgenommen, sondern von Eichendorff auch als Kontrafaktur mit der
Überschrift Der Einsiedler (1837) gestaltet wurde. »Komm Trost der
Nacht / 0 Nachtigal« beginnt das Lied des Einsiedels im barocken Ori­
ginal. Mit der Nachtigall singt dieser Einsiedler das Lob Gottes, um der
Bedrohung der Finsternis zu entgehen; er gibt der Melodie des kleinen
Vogels Worte und Ausdruck. Gemeinsam singen sie die Morgenröte her­
bei, welche den Tag ankündigt, nicht nur den Tag nach dieser einen
Nacht, sondern den Tag der Welt, die neue Harmonia mundi:

Unter währendem diesem Gesang [erzählt Simplicissimus] bedunckte mich


wahrhafftig / als wann die Nachtigal so wol / als die Eul und Echo, mit einge­
stimmt hätten / und wann ich den Morgenstern jemals gehört / oder dessen
Melodey auff meiner Sackpfeiffen aufzumachen vermocht / so wäre ich auß der

[ lO/f | -KOMM TROST I) li K W l i l . T -


Hütten gewischt / meine Karten mit einzuwerffen / weil mich diese H arm onia
so lieblich zu seyn bedunckte [...].

In Eichendorffs kenntlich diesem Lied nachgebildeten Gesang des Ein­


siedlers ist die Perspektive verwandelt. Die Romantik hat die Nacht als
die andere, geheimnisvolle Hälfte des Lebens entdeckt, wobei sich
Nacht und Tag wie innere und äußere Welt, wie Gemüt und Verstand,
wie Frau und Mann zueinander verhalten und das Meer immer das Un­
sichere und Gefahrvolle des Lebens abbildet. Im Inneren der Nacht lebt
eine andere, eine nur in Ideen und Liedern zu ahnende, »eigentliche«
Welt. Die Nacht ist die Schwester des Schlafes und der Schlaf der Bru­
der des Todes. In seinen Armen erwarten wir das »ewige Morgenrot«.
Das Morgenrot ist demnach in diesem Gedicht des Trostes in den Mü­
hen des Lebensweges die bildhaft sinnlich zu erfahrende Ankündigung
des Heils, des Jüngsten Tages:

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!


Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt über’s Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn


Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!


Der Tag hat mich so müd’ gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Laß ausruhn mich von Lust und Noth,
Bis daß das ew’ge Morgenroth
Den stillen Wald durchfunkelt.

•K O M M TROST Dl i R W lil.T - [ io5 ]


Joseph von Eichendorff, der Poet des Lebenstrostes, steht neben den
Poeten der Untröstlichkeiten, und beide Weisen poetischen Trostes, die
des Trostes in Untröstlichkeiten und die des Trostes in der Einsamkeit
des dahinfliehenden Weltlebens, führen den aus der Mitte selbst ge­
schaffener Bilder gefallenen Menschen zurück zu sich selbst und zu sei­
nem Schöpfer, nach dessen Bild er geschaffen ist.
Johann Baptist Metz hat 1974 von den »großen Verletzungen und De­
mütigungen des Menschen und seines Selbstbewusstseins [gespro­
chen] , die ihm (z. B. nach Freud) neuzeitlich zugefügt worden sind« und
immer von neuem zugefügt werden; von der kopemikanischen Krän­
kung, welche die Erde aus der Mitte des Kosmos genommen hat, von
der darwinischen, welche den Menschen eingegliedert hat in die Kette
seiner tierischen Ahnen, auch von der freudianischen, welche sogar die
erhabenen Gefühle des Menschen an sein Triebleben gebunden hat.
Hinzuzufügen ist demnächst vielleicht die biotechnische Verletzung,
die den genetisch vorprogrammierten Menschen der freien Entschei­
dung über sein Leben berauben könnte. Wer mit Jürgen Habermas
diese Verletzungen als Erfahrungen von »Dezentrierung« versteht, fin­
det in Literatur eine Möglichkeit, aus der Marginalisierung zum Zen­
trum des Menschseins, zum konkreten einzelnen Menschen, zurück­
zukehren, und findet - Trost.

[ 106 -KOMM TROST D F.R W 1: I . T -


ERIN N ERU N G EN GEGEN
DAS »SCHICKSAL«
Jü rgen Ebach

I.

ohann Baptist Metz’ mehr als dreißig Jahre alter Entwurf zu einem

J Buch über den Trost ist in vieler Hinsicht aktuell. Das betrifft auch
seine Diagnose der »Pathologie des neuzeitlichen Menschen« mit der
»Unfähigkeit zu trauern« als deren Kern, wobei sich jene »Pathologie«
gerade in derVerdrängung des pathein und der com passion erweist. Die
alte griechische Wendung »m athein - pathein « hält den Zusammen­
hang von Lernen und Leiden fest und ist - jedenfalls au ch - lesbar als
Plädoyer für ein Lernen, welches sich nicht gegen das Leiden immuni­
siert. Das gilt für ein »Lemfeld: Trost« allemal. Von Dag Hammarskjöld
wird der Satz überliefert: »Wer nie gelitten hat, weiß auch nicht, wie
man tröstet.« Trost, der (mit Metz) weder als »Opium« ideologiekritisch
zu entlarven noch als »Enttäuschungsabsorption« affirmativ zu instru­
mentalisieren wäre, müsste darum sympath(et)isch, com passioned
sein.
Auf ihre Weise hält die Sprache der hebräischen Bibel den Zusammen­
hang zwischen Lernen, Leiden(schaft), Reue und Trost fest, indem sie
jene auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ausdrucksweisen in ein
einziges Wortfeld fasst. Mein Beitrag zu dem einst von Johann Baptist
Metz imaginierten und hier nun als dankbare Gabe für diesen im Wort­
sinn passionierten Theologen verwirklichten Buch über den Trost hat
darum die vielschichtige, Trost und Reue umgreifende hebräische Wur­

I: I U N N li IUI N G li N (I li (t I! N D A S •SCHICKSAL- [ 107 ]


zel n-ch-m zum Thema. Er ist aber auch eine Einrede gegen den Begriff
des »Schicksals«, welchen Metz in der Rede vom »neuzeitlichen Schick­
sal« des Menschen gebraucht. Die biblische Erinnerung stärkt gerade
dagegen Johann Baptist Metz’ berühmt gewordene »kürzeste Definition
von Religion: Unterbrechung«1.

II.

Mit der hebräischen Wurzel n-ch-m verbindet sich eine vieldiskutierte


und linguistisch wie semantisch unterschiedlich beurteilte Frage: Wie
ist es zu verstehen, dass dieselbe Wurzel in verschiedenen sprachlichen
Ausdrucksformen entweder »trösten« oder (reflexiv) »sich gereuen las­
sen« bedeutet?2 Welcher sprachliche und lebensweltliche Zusammen­
hang steht hinter den so unterschiedlichen Verwendungsweisen des
Wortes? Eine alte und ansprechende Erklärung sieht als gemeinsame
Grundbedeutung ein heftiges emotives Atmen. In dieser Linie wäre für
die Reue ein Aufseufzen, Aufstöhnen in Anschlag zu bringen, während
das Trösten darin bestünde, jemanden zum Aufatm en zu bringen. Ob­
wohl gegen diese über das Arabische vermittelte Ableitung methodi­
sche Bedenken vorgebracht wurden, möchte ich sie im Spiel lassen.
Denn sie vermag auf den grundlegenden Zusammenhang kognitiver,
emotiver und leiblicher Aspekte aufmerksam zu machen, der zentrale
anthropologische und theologische Worte im Alten Testament kenn­
zeichnet. Dazu gehört - um beim Atem-Motiv zu bleiben - das Wort af,
welches die Nase, dann aber auch den Zorn bezeichnet - in der Rede
von Gottes Zorn mithin Gottes Wutschnauben. Dazu gehört ebenso das
in den meisten Bibelübersetzungen mit »Seele« wiedergegebene Wort
näfäsch, das zunächst die Kehle meint, dann aber auch das Leben und
im emphatischen Sinn ein »Selbst«. Durch die Kehle geht der Lebens­
atem; wem die Kehle zugedrückt wird, schwindet das Leben, und um­
gekehrt empfinden Menschen Angst so, als wäre ihnen die Kehle zuge­
schnürt. Die übliche Wiedergabe von näfäsch mit »Seele« ist insofern
problematisch bis falsch, als sie den Gedanken einer gegenüber der
sterblichen Hülle< unsterblichen Seele suggeriert. Unsterblich ist die
näfäsch aber gerade nicht, sondern in hohem Maße zugleich vital und
letal. Andererseits kommt in Wendungen wie »Deine Worte schneiden

[ 108 ] K R IN N B IU N G E N GEGEN DAS •SCHICKSAL-


mir in die Seele« oder »Es tut mir in der Seele weh« der Zusammenhang
zwischen kognitiven, affektiven und leiblichen Wahrnehmungen tref­
fend zum Ausdruck. Die in diesen und weiteren Worten der hebräi­
schen Bibel aufleuchtende integrative Sicht auf Denken, Fühlen und
Leiblichkeit erstreckt sich in aufregender Weise immer wieder auch auf
Gott selbst. Gott lässt sich bewegen, ist affizierbar, selbst leidensfähig
und leidenschaftlich bis zum Wutschnauben und zum inneren, leiblich
erfahrenen Zwiespalt - wenn anders biblische Rede von Gott jeder Got­
teslehre vorauszugehen hat.3Biblische Rede von Gott ist nicht unter das
Verdikt anthropomorpher und anthropopathischer und damit unauf­
geklärter Vorstellungen zu stellen und somit bloß religionsgeschichtlich
zu rubrizieren, sie vermag vielmehr als einfache Gottesrede ihrerseits
zur kritischen Erinnerung gegen neuzeitliche Spaltungen und Reduk­
tionen zu werden.
Sieht man den alttestamendichen Zusammenhang zwischen Trost und
Reue, der durch die Verwendung derselben Verbalwurzel angezeigt ist,
in der beschriebenen Weise als Expression unterschiedlicher Formen
des Atmens, so wäre nur das ein Trost, was Menschen zum Aufatm en
bringt.
Ein schönes Beispiel ist Ps 23. In der klassischen Lutherübersetzung
heißt es in V 3: »Er erquicket meine Seele«. Die hebräischen Worte (naf-
schi jeschovev) sprechen viel leiblicher und konkreter davon, dass der
Hirte die näfäsch, die Lebenskraft, in die durstige Kehle des Herdentie­
res zurückbringt. In V 4 wird das noch deutlicher: Die klassische Über­
setzung: »dein Stecken und dein Stab trösten mich« ist ebenso vertraut
wie unverständlich oder, schlimmer, führt auf fatale Vorstellungen von
den wohltuenden Züchtigungen Gottes. Der hebräische Text (schifte-
ch a um isch’an techa jen ach am u n i - die B ibel in gerechter Sprache ver­
deutscht nahe am Wortlaut: »dein Stab und deine Stütze - sie lassen
mich aufatmen«) bleibt wiederum ganz leiblich beim Wohl des Schafes,
dessen wehrhafter Hirte die wilden Tiere vertreibt und so dem ihm an­
vertrauten Tier erlaubt, Atem zu schöpfen und in Ruhe zu trinken. Das
Beispiel dieses vertrauten Psalms zeigt, wie rasch die Spiritualisierung
des Wortlauts die realen Bilder des Psalms und die in ihnen aufleuch­
tende Lebenswelt verfehlen und stattdessen zu hochproblematischen
Eintragungen führen kann, welche ihrerseits sehr wohl Folgen für Le­
ben und Welt haben. Was den Trost betrifft, zeigt Ps 23,4 trefflich, dass

i: h i n n i; k ii n c i; n ( ¡ i-:<; i-:n d a s - S c h i c k s a l - [ 109 ]


Trösten nicht nur in Worten und Gesten besteht, sondern zuweilen in
einem kraftvollen Tun, welches die Lebensbedingungen der zu Trös­
tenden konkret verändert.
Gerade eine leibliche Verortung des Trostes vermöchte die entschei­
dende Differenz zwischen Trost und Vertröstung zu wahren. Dazu aber
empfiehlt sich die Beherzigung eines luziden Aphorismus des in deut­
scher Sprache schreibenden israelischen Autors Elazar Benyoetz: »Mit
der Lüge macht man sich Luft, mit der Wahrheit atmet man auf.«4

III.

So anregend der beschriebene mögliche Konnex von Reue und Trost in


der Relation von Aufseufzen und Aufatm en ist, so sehr kommt doch
auch eine etwas anders bestimmte Kohärenz in Betracht. Danach wäre
beides - Trost und Reue - mit einer Bewegung verbunden und zwar ei­
ner Bewegung sowohl in emotiver als auch in praktischer Hinsicht.
Reue ist danach die konkrete Änderung einer Einstellung, aber auch ei­
nes Tuns. Und Trost ist nur dann keine Vertröstung, wenn er - in welcher
Weise auch immer - einen anderen Blick ermöglicht auf das, was ist und
was eben nicht nun ein m al so ist.
Die Differenz zwischen dem Satz: »So ist es« und dem Satz: »So ist es
nun einmal« markiert die Trennlinie zwischen der Macht des Schicksals
und dem biblischen Glauben. Ernst Bloch notiert: »Aber das unerbitdi-
che Schicksal, das bei den Griechen Regel war, ist in der Bibel Aus­
nahme; gerade der erste Schritt, nämlich der zur moralischen Umkehr,
dreht d as Verhängnis um. So nun erblicke man eine der lehrreichsten
Bibelstellen in diesem Betracht: nämlich das Erstaunen des Propheten
Jona, weil er seinen Unterschied zu Kassandra nicht begriffen hat.«5 Die
mögliche Wende, die Umkehr, die »vielleicht« - nicht nur im Buch Jo n a-
auch die Umkehr Gottes zu bewirken vermöchte, unterscheidet nicht
nur Israels Propheten von Kassandra oder Laokoon; sie unterscheidet
auch Israels Gott von den selbst dem Schicksal, der m oira, unterworfe­
nen Gottheiten der Antike. Die womöglich ungeheuersten Stellen der
hebräischen Bibel setzen ins Bild, dass Gott selbst etwas gereuen kann,
und sogar, dass es zuweilen an Menschen ist, Gott sich bewegen zu las­
sen - zur Emotion und zu neuer Praxis. Wenn man für den Moment den

| 110 | i; Kl n n i! r ii n i; i; n c; i; i ; i; n d a s - s c: h i c: k s a i . •
inneren Zusammenhang von Trost und Reue, an dem die hebräische
Sprache festhält, auf die Spitze treiben darf, könnte man sagen, Gott
lasse sich an den Stellen zur Reue bewegen, an denen Gott selbst nicht
bei Trost ist.6 In dem Betracht, in dem Gott zur Reue fähig ist - ein gro­
ßer biblischer Gedanke, der in der gegenwärtigen systematischen
Theologie mehr als unterbelichtet ist -, ist Gott auch des Trostes (wie
des Segens) bedürftig. Allemal kann es sich bei solchen Formulierungs­
versuchen in biblischer Erinnerung nur um Grenzaussagen handeln
und nicht um »Definitionen« in Paragrafen einer Gotteslehre.

IV.

Es wird nicht immer so weitergehen - das ist der Trost, den die biblische
Überlieferung, vor allem in ihren apokalyptischen und eschatologi-
schen Linien, bereithält. »Daß es >so weiten geht, ist die Katastrophe.«7
In diesem Diktum Walter Benjamins bündelt sich die Unbedingt­
heit des Festhaltens an apokalyptisch-messianischer Erwartung gegen
jede Perennierung gegenwärtiger Verhältnisse wie gegen jeden Fort­
schrittsmythos. Benjamin setzt den Satz fort: »die Rettung hält sich an
den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe«.8Johann Bap­
tist Metz hat diese Benjaminische Linie in seinen Unzeitgemäße(n) The­
sen zur A pokalyptik noch einmal verdichtet in seine schon genannte
»Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.« Die Haltung, wel­
che der eschatologischen Spannung der »Schrift« entspricht, ist nicht
die der Hoffnung, sondern die der Erwartung. Denn, noch einmal mit
Benyoetz: »Die Erwartung gilt dem Kommenden, die Hoffnung dem
Ausbleibenden.«9
Die kleine und doch entscheidende Differenz zwischen dem, das so ist,
und dem, das nun einmal so ist, die Differenz zwischen Fatalismus und
Glaube, lässt den Blick auf die Realität zu, ohne ihr als Totalität zu ver­
fallen. »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles«,
formuliert Theodor W. Adorno.10Theologie, welche ihrer Sache >gewiss<,
doch niemals >sicher< sein darf, darf ihr Vertrauen getrost auf eine (zwei­
fache) Modifikation dieses Satzes stellen: »Weil das, was ist, nicht alles
ist, lässt das, was ist, sich ändern.« Diese Gewissheit erlaubt der fatalis­
tischen Maxime Schopenhauers zu widerstehen, nach dem der einzige

i: K I N N !■: I UI N (i l: N C l i l l t N DAS .S C H IC K S A L [ III |


Trost in der Gewissheit der unabänderlichen Notwendigkeit bestehe.
Sie widerstreitet vor allem der auftrumpfenden Spielart jenes Fatalis­
mus, wie er sich bei Emanuel Geibel liest: »Wenn’s etwas gibt, gewalti­
ger als das Schicksal, so ist’s der Mensch, der’s unerschütterlich trägt.«
Entschieden anders liest sich da Adornos Bemerkung, es sei »kein Trost
mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im
ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besse­
ren festhält«11. Die Bibel - namentlich in ihren apokalyptischen Passa­
gen des Alten und des Neuen Testaments - hält diesen Blick aus und es
bleibt von ihr her dennoch mehr, denn an der Möglichkeit des Besseren
als Anstrengung des Begriffs festzuhalten. Das Grauen hat in der Bibel
nicht das letzte Wort, weil es nicht das erste hat. Die erhoffte Vergan­
gen heit eines Lebens ohne Blutvergießen, wie sie am Beginn der
»Schrift« ins Bild kommt, und die erinnerte Zukunft eines solchen Le­
bens, wie sie in prophetischen und eschatologischen Verheißungen
aufscheint, nehmen das, was ist, in die Zange und bestreiten ihm ge­
meinsam, das einzig Mögliche zu sein.

V.

»Das entstellte Leben«, so Benjamin, »wird verschwinden, wenn der


Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, daß er nicht mit
Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zu­
rechtstellen werde«12. Zuweilen bedarf es nur einer geringen Zurecht­
stellung, nur einer winzigen Verschiebung, einer Unterbrechung, da­
mit - ein Beispiel und mehr als ein Beispiel - aus einem nowhere ein
now here wird.
In dieser Gewissheit ohne Sicherheit können Menschen - weil das, was
ist, nicht alles ist - den Blick, der das Grauen aushält, wagen, ohne an
ihm zerbrechen zu müssen. Sie werden dann und darum zugleich un­
tröstlich bleiben und doch getröstet sein und vermögen eben so andere
zu trösten. Gegen den Fatalismus jeder Spielart wie gegen den Zwang
der mit der strikten Negativität verbundenen permanenten Überan­
strengung ist es darum zu tun, das Aufseufzen und das Aufatmen zu­
sammenzudenken und - getrost zu leben.13

| m ] HRINNERUNliHN GEGEN DAS -SCHICKSAL-


> »NICHTS KANN UNS TRÖSTEN!« (?)'
S ieg fried J. Schm idt

on der tröstenden Kraft der Religion im Hinblick auf »jene großen


V Verletzungen und Demütigungen des Menschen und seines
Selbstbewusstseins«, die dem neuzeitlichen Menschen durch Koperni-
kus, Darwin und Freud zugefügt worden sind, spricht Johann Baptist
Metz in seinem Artikel »Über den Trost«.
Aber sagt er nicht, indem er die Namen der Demütiger nennt, dass diese
Verletzungen und Demütigungen hausgemacht sind, und nicht von ir­
gendwoher über die Menschen hereingebrochen sind? Wäre hier ein
Zurückfahren der Selbstüberschätzung nicht angebrachter als die Hoff­
nung auf den Trost der Religion? Geht es hier nicht um eine konse­
quente Korrektur scheinbarer Selbstverständlichkeiten wie der, der
Mensch sei einzigartig im All und in der Natur, und er sei Herr im eige­
nen Hause?
Non-dualistische Epistemologien2, die von Identitäten auf Prozesse
umstellen und alles Beobachten und Beschreiben an Beobachter und
Beschreiber im Diskursdiesseto binden, betonen die Endgültigkeit der
Vorläufigkeit, die zugleich unsere Kreativität wie unsere Verantwortung
erweitert, uns aber auch alle scheinbar objektiven Wahrheiten und Nor­
men aus der Hand nimmt. Notwendig ändert sich damit auch die Ein­
stellung zur Religion. Wenn das Objekt der Beschreibung und die Be­
schreibung des Objekts zusammenfallen, wie J. Mitterer argumentiert,
dann können wir Gott nur auf menschliche Weise denken - was etwas
über uns aussagt und nicht über Gott. In unseren Diskursen betritt Gott
kommunikativ das Diskursdiesseits aus dem Diskursjenseits, mischt
sich in unsere Kommunikationen ein und stiftet unaufhebbare Unsi­
cherheit. Der Glaube wird zur paradoxen Grenze unserer Diskurse.

■ NICHTS KANN UNS T K fl S T I! N ! • ( ? ) [ 113 ]


Taugt er aber dann noch zum Trost, wenn auch er nicht der Kontingenz
entzogen wird?
Ich neige dazu, deutlich zwischen Trost und Tröstung zu unterscheiden.
Wir trösten jemanden, der einen Verlust erlitten hat, der körperliche
oder seelische Schmerzen erleidet, der Hoffnung und Vertrauen verlo­
ren hat. Trösten ist eine kommunikative Konstellation. Ein türkisches
Sprichwort sagt: »Trost wird man nicht finden, wenn nicht das Problem
erzählt wird.« Tröster und Trostbedürftiger müssen glaubwürdig sein,
die Worte und Gesten des Trösters müssen erkennbar durch Sympathie
und Anteilnahme geprägt sein. Wie das Wortfeld »Trost« seit dem Mit­
telhochdeutschen zeigt, geht es hier um Zuversicht, Vertrauen, Hilfe,
Vorwärtsbringen, Ermutigung, getrost m achen. Trösten kann man auch
ohne objektive Trostgründe bzw. Tröstungsbegründungen. Trösten
kann man durchaus glaubwürdig im Diskursdiesseits in Gestalt von An­
teilnahme, die dem Trostbedürftigen zeigt, dass er nicht allein ist.
Trost dagegen verlangt meines Erachtens objektiv verlässliche Trost­
gründe. Hier geht es nicht um eine persönliche Verlust- oder Schmerz­
situation, sondern um die Bearbeitung allgemeiner menschlicher und
sozialer Probleme. Nicht von ungefähr ist in der christlichen Religion
der Tod dos Thema, das Gott auf den Plan ruft, und zwar Gott als objek­
tiv verlässlichen Trostgrund, der dem Glauben nach selbst den Tod
überwunden hat und auferstanden ist. Im alten Osterruf der 1. Oster­
messe heißt es: »Christ ist erstanden von der Marter alle! Des solln wir
alle froh sein, Christ soll unser Trost sein.« Paulus schreibt im Römer­
brief: »Brüder! Keiner von uns lebt für sich selbst, und keiner stirbt für
sich selbst. Wenn wir leben, leben wir für den Herrn, und wenn wir ster­
ben, sterben wir für den Herrn. Wir mögen also leben oder sterben, wir
gehören dem Herrn« (Röm 14,7-12). Und im Johannes-Evangelium be­
lehrt Jesus Martha: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an
mich glaubt, der wird leben, auch wenn er schon gestorben ist; und je ­
ner, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.« (Joh
11,21-27)
Kaum ein zweiter hat sich so bohrend mit dem Tod auseinandergesetzt
wie Biaise Pascal in seinen Pensées .3 Für ihn ist der Glaube an ein Leben
nach dem Tod in Christus das einzige Angebot für ein sinnvolles Leben,
das das Elend der menschlichen Existenz erträglich machen kann. Nur
dieser Glaube löst die diskursiv unauflösbare und daher zutiefst irritie-

[ II4 ] -NICHTS KANN UNS TRÖSTEN!- ( ?)


rende Differenz zwischen dem Leben vor dem Tod und dem Leben nach
dem Tod, weil der Tod uns nicht gehört und weil keiner zurückgekom­
men ist, um uns vom Tod und dem Danach zu berichten. Allein durch
den Glauben kann man erkennen, dass es einen Gott gibt, ohne zu wis­
sen, wer er ist. Lind diesen Glauben müssen wir, so Pascal, in das Gefiihl
aufnehmen; denn das Gefühl handelt in einem Augenblick und ist im­
mer bereit, zu handeln. Mit dem Glauben sind wir auf der sichereren
Seite, ob es nun ein Leben nach dem Tode gibt oder nicht. Der Glaube
aber ist ein Geschenk Gottes. Wenn wir aber Gott, der sich selbst Deus
absconditus nennt (Jes 45,15) nicht suchen, haben wir schon alles ver­
spielt.4
Die Pensées sind meines Erachtens ein gutes Beispiel dafür, dass alles
konsequente Denken in der Paradoxalität ankommt: die Kette der Be­
gründungen endet vor der Entscheidung. Und bei dieser Entscheidung
geht es um unseren Umgang mit der universellen Kontingenz alles
Handelns und Kommunizierens. Wir haben die Wahl zwischen imma­
nenter und transzendenter Problemlösung. Die immanente hat N. Bolz
drastisch formuliert: »Was droht, sobald man Power off drückt, ist die
Nacht der Welt. In diese Nacht scheint das Licht der Kathodenstrahl­
röhre. Aller Trost scheint von den Strahlen des Bildschirms auszugehen.
Und wer darüber erschreckt, mag sich anders trösten: Auch das Böse
[...] ist nur ein Licht aus dem Fernseher.«5
Wie steht es mit der transzendenten Problemlösung? Hilft uns die alte
Weisheit credo qu ia absurdum tröstend weiter? Ohne Frage ist der
Glaube die paradoxe Grenze unserer Diskurse. Wenn man aber an­
nimmt, dass all unser Denken, Handeln und Reden im Diskursdiesseits
und unter dessen Bedingungen stattfindet, dann ist die Konstruktion
eines Diskursjenseits wie Gott eine paradoxe Konstruktion, die uns im
Diskurs eine Denkalternative zur immanenten Kontingenzbearbeitung
liefert, die im Diskursdiesseits in unserem Denken, Reden und Handeln
handlungspraktisch relevant werden kann. Doch erst wenn sie prak­
tisch relevant wird, kann sie als Trost dienen, indem sie bestätigt, was
wir auch durch die Vernunft gelernt haben: dass wir bescheiden werden
müssen angesichts der unauflösbaren Kontingenz all unseren Tuns.
Nur wenn wir Religion nicht als Verfügen über objektive Wahrheiten be­
trachten, wird sie nicht als Waffe missbraucht wie bei allen - auch den
christlichen - Fundamentalisten. Wenn wir sie dagegen als Glauben

• N I C H T S K A N N UNS T R ft S T I! N ! ■ ( ? ) [ 115 ]
betrachten und vor allem leben, an dem unsere Vernunft immer wieder
scheitert, dann taugt sie durchaus als Trost, den wir uns immer wieder
selbst erarbeiten, erwirken müssen. Ein objektiv verfügbarer Trost­
grund wäre eine zu einfache Lösung. Auch in Bezug auf Tirost haben wir
es mit einer Kommunikationskonstellation zu tun, in der die Glaub­
würdigkeit, die Anteilnahme und die Verlässlichkeit des Trösters über
die Wirkung des Trostes entscheiden - wenn wir uns denn im Stande se­
hen, den Tfost anzunehmen.
Angesichts der Unvermeidlichkeit des Todes bilden wir alle eine Ge­
meinschaft der Betroffenen, der Trostbedürftigen, denen der Glaube an
ein Jenseits eine weitreichende Hilfe für die Gestaltung der Verhältnisse
im Diesseits anbietet, die über die Einzelegoismen hinausreicht. Schon
das pure Angebot einer Alternative erweitert unseren Handlungsspiel­
raum in unerhörterWeise. Für die Nutzung dieser Alternative sind wir
selbst verantwortlich, weil wir nun wissen können, dass sie zur Verfü­
gung steht, wenn wir uns dazu durchringen können, uns mit Blick auf
die anderen wie mit Blick auf unsere Fähigkeiten nicht so wichtig zu
nehmen. Ertragene Kontingenz tröstet.
Pascals Antwort an die Vernunftgläubigen lautete: »Der letzte Schritt
der Vernunft ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit von Dingen
gibt, die sie übersteigen. Sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu die­
ser Erkenntnis vordringt.«6Vielleicht spricht dies auch für die Vernünf­
tigkeit der Gläubigkeit, die uns an Trost glauben lässt.

[ Il6] -NICHT KANN UNS T R Ö S T F . N! ( ? )


> TECH N IK , TROST UND
SCHLAUE PILLEN
A lexa n d er Kissler

achhaltigkeit gehört zu den Begriffen mit einer sehr rasanten Auf­


N stiegsgeschichte. Der Forstwirtschaft entnommen, wo sie das
Prinzip bezeichnet, nur so viele Bäume abzuholzen, wie auf demselben
Grund in gemessener Frist nachzuwachsen imstande sind, kann heute
jeder Innen- und Außenpolitiker, jeder Finanzmanager und Geschäfts­
führer die Grammatik nachhaltigen Wirtschaftens durchbuchstabie­
ren. Um unsere Schöpfung zu erhalten, heißt es dann, bedürfe es eines
ressourcenschonenden Umgangs mit ihr. Energiesparlampen, Recyc­
lingpapier, Passivhäuser und Autos mit Hybridmotor sind die Insignien
eines nachhaltigen Lebensstils. Die knappste Ressource überhaupt
geht dennoch zur Neige. Nicht Wasser, nicht Erdöl, nicht das »Human­
kapital« ist die knappste und kaum nachwachsende Ressource des
21. Jahrhunderts, sondern der Trost.
Wir leben, ließe sich mit einem Anflug von Pathos sagen, in ungetröste-
ten und darum zuweilen trostlosen Zeiten. Trost, der von Herzen
kommt, ist das einzige Kraut, das gegen Daseinsleid und Kränkungswut
gewachsen ist. Im Trost verbinden sich alle Liebe und alle Hoffnung, die
ein Du einem Ich, das an sich selbst irre zu werden droht, geben kann.
Trösten ist eine heikle Kunst, sich trösten lassen ebenso. Wer sich in
schwächster Stunde einem anderen Menschen anvertraut, auf dass er
ihn tröste, der setzt voraus, dass dieser sein Vertrauen nicht missbrau­
che, der schließt einen Pakt auf Gegenseitigkeit. Trost bedeutet, sich
fremde Schmerzen zu eigen machen. Trost ist der gemeinsame Gang in
die Abgründe der Seele. Auch der Tröstende kehrt von dort nicht un-
verwandelt zurück.

TIM I I N I K , TRUST UNI) S C H I . A IM ! P l L 1. II INI [ 117 ]


Es bedarf des Mutes und der Not zweier Menschen, damit Trost ent­
steht. Wo diesem die Tür gewiesen wird, weil er als Angriff auf das sich
unbeugsam dünkende Ich missdeutet wird, wo nicht einmal die Suche
nach ihm Raum hat im zwischen Wunsch und Wille spiegelfechtenden
Ich, wo also die Egolatrie absolut geworden ist, da entweicht der
Schmerz katastrophisch. Da gibt es keine Zukunft, weil ewig unwan­
delbar, wie es selbst sich wähnt, dem Ich die Welt erscheint. Da gibt es
keine Distanz, keine Freiheit von sich im steten Wechselspiel von Reiz
und Gegenreiz, da löst jede Kränkung nur Panik aus, jedes Scheitern
nur Wut, Zorn, Gewalt gegen sich und andere.
In ebendieser Lage befindet sich der Mensch in weiten Teilen des
Globus am Beginn des 21. Jahrhunderts. Gekränkt und ungetröstet
empfinden sich die Scharen bildungsferner, bindungsentwöhnter
Schichten, die mit den Schlagworten Prekariat, Unterschicht, »nutzlose
Menschen« (Zgymunt Baumann) kaum hinreichend beschrieben wer­
den. Panisch und ungetröstet, ergo ruhelos, agiert derweil die digitale
Elite auf den Basaren dieser Welt, die ihren Puls kurzgeschlossen hat mit
dem Auf und Ab der Devisenkurse, der Zeitzonen, der klimatischen Be­
dingungen. Gescheiterte und Ungetröstete sind die vollends Gestran­
deten, die aus dem Mund des Molochs Gegenwart Ausgespuckten, de­
nen niemand mehr ein Angebot macht, die zu langsam sind, zu fremd,
zu unbeweglich für die Waren- und Aufmerksamkeitsströme. Trost ist
ihnen allen keine Realität, ist vielleicht nie eine gewesen. Trost unter­
bräche ihren teils tragisch unterkühlten, teils machtlos erhitzten Kreis­
lauf der Ängste, und zyklisch ist fast jede Bewegung geworden, da selbst
das Denken sich den Erfordernissen von Angebot und Nachfrage, Ja
oder Nein, Null oder Eins unterworfen hat.
Trostfähig müsste der Mensch wieder werden, ehe er gesunden kann.
Insofern ist dringender noch als 1974, was Johann Baptist Metz damals
in einer Festschrift für den Verleger Heinrich Wild ein notwendiges
Buch nannte: Ein Buch über den »Trost der Religion, das sich den He­
rausforderungen des neuzeitlichen Schicksals des Menschen redlich zu
stellen sucht« und das genau darum ein »Angriff« wäre »auf vieles [...],
das uns neuzeitlich teuer geworden ist, vor allem auf die einseitig vor­
herrschende Bestimmung des Menschen als eines Herrschaftssubjekts
gegenüber Natur.« Denn, daran führt kein sanfterer Weg vorbei, ohne
Transzendenz bliebe der Drost Episode.

[ Il8 ] TECHNIK, TROST UNO SCHLAUE PILI. E N


Und doch hätte ein solches Buch heute, 34 Jahre später, eine wichtige
Differenz auszusprechen: Mit dem »Trost der Religion« wäre es nicht
getan. Religionsförmig geworden sind gerade jene neuzeitlichen Deu­
tungssysteme, denen der »Angriff« mit den »Waffen« des Trostes gelten
müsste: Die Lebenswissenschaften, die die Herrschaft über Natur ge­
steigert haben zum irreversibel gestaltenden Eingriff in diese, zu Nor­
mierung und Generierung mit den Mitteln von Gentechnik, Psycho-
Pharmakologie und neuronalem Tuning; die Ideologien einer »globalen
Ethik«, die den Atheismus zur einzig akzeptierten Weltanschauung
stählen wollen und so den republikanischen Geist vertreiben; die Pro­
tagonisten eines radikal beschleunigten Marktes, die unempfindlich
sind für die Fernwirkungen ihres Verbrauchens: sie alle argumentieren
religionsförmig insofern, als sie Dogmen mit Macht etablieren und ver­
teidigen - stark sei der Mensch, zufallslos das Leben, entgrenzt die Wirt­
schaft -, die immun sind gegen Kritik aus dem Kreis der Nichteinge­
weihten. Nein, heute müsste ein solches Buch, wie es Johann Baptist
Metz 1974 vorschwebte, vom »Trost des Glaubens« handeln.
Neuzeitlich aber, modern sind noch immer unsere Herausforderungen,
ist unser Schicksal nicht postmodem, wie hie und da vermutet wird.
Moderne bedeutet, um noch einmal den Soziologen Zygmunt Bauman
zu zitieren, ein »zwanghaftes und süchtig machendes Planen«, ein
flüchtiges Leben, das »eine tägliche Probe auf die universelle Vergäng­
lichkeit« ist, ein Leben nach immer neuen Listen und immer neuen Kri­
terien, an denen sich der Lebenserfolg bemisst. »Die Rangfolge in der
Hierarchie wird anhand des Geschicks (oder der Unfähigkeit) festge­
stellt, die Zeitspanne, die einen Wunsch von seiner Erfüllung trennt, zu
verringern oder ganz aufzugeben. Der Aufstieg in der sozialen Hierar­
chie wird anhand der gesteigerten Fähigkeit gemessen, das, was man
will (was immer es sein mag), jetzt gleich zu haben - ohne Verzögerung.«
Das Motto der Moderne laute: »Warten ist eine Schande.«
So leben denn in der Schande ihres Wartenmüssens die Abgehängten
und Ausgespieenen, während das Rad der Wünsche und der Sofortbe­
friedigung sich dreht und ein scheinhaftes Glück produziert, das Glück
einer Monade mit unbegrenztem Kredit. Trost im Scheitern brauchen
und sich dieses Bedürfnis nicht eingestehen wollen, ist das einzige ver­
bindende Element der Role m odels und der Spielverderber des neuzeit­
lichen Tempogebots. Welchen Trost aber könnte der Glaube spenden?

T II C. II N I K . T K O S T U N 1) S C H I. A II li P I I. 1. li N [ IU; ]
Fundamentaler noch: Wie kann er Einsicht in die Trostbedürftigkeit
provozieren?
Metz benennt anno 1974 die Hindernisse, die es aus dem Weg zu räu­
men gilt, bevor die »tröstende Kraft der Rede von Gott« wieder vernom­
men, geschweige denn verstanden werden kann. Der Katalog der Ta­
bus, die »gerade unsere kritisch aufgeklärte Gesellschaft nachhaltig
bestimmen«, ist lang und nicht vollständig. Mit einem »usw.« endet der
Aufsatz. Heute ließe sich der Katalog fortsetzen ad infmitum. Der Zu­
sammenhang von Aufklärung und Tabuierung leuchtet nunmehr un­
mittelbar ein, hat er sich doch in einer Gegenwart, die auf ihre bloße Ge­
genwärtigkeit stolzer ist als vordem die Alten auf die Ahnen, deren
Schultern sie okkupierten, emporgewandelt zur Geschäftsgrundlage
beinahe aller sozialen Beziehungen. Je stärker das Intime öffentlich und
das Private politisch wird, desto gebieterischer umzirkelt der intime,
also öffentliche Diskurs eine No go area. Bereden, anbieten und kaufen
lässt sich fast alles coram publico, doch im >Fast< lauert die Verdrängung
des wesentlich Menschlichen, die ihrerseits zurückschlägt ins Private,
zuvorderst und laut Metz: »Trauerverbot, Melancholieverbot, Bann ei­
nes heimlichen Unschuldswahns.«
Wesentlich menschlich sind Trauer, Melancholie, Schuld, und die ein­
zig menschlich angemessene Reaktion darauf ist der Trost. Wenn der
Mensch indes keine Trauer, keine Melancholie, keine Schuld mehr
meint eingestehen zu dürfen, versickern im gleichen Maße die Trost­
potenziale und die Tröstungsbereitschaft. Diese Entwicklung ist weit
fortgeschritten, mit all ihren destruktiven Folgen. Eine utilitaristisch
zugespitzte Philosophie arbeitet ihr zu. So lesen wir in einem 2007 er­
schienenen Buch über die freudig begrüßte »Perfektionierung des Men­
schen«, verfasst von einem 1968 geborenen Professor der Philosophie:
»Die Zahl der unglücklichen, antriebslosen und frustrierten Menschen
auf der Welt dürfte schon dann ab nehmen, wenn Mittel wie Prozac ver­
stärkt eingesetzt werden. [...) Das könnte das Klima in der Gesellschaft
viel freundlicher, offener und humaner machen. Viele verzweifelte,
chancenlose Existenzen könnten plötzlich Hoffnung auf eine Zukunft
erhalten.«
Der Nachwuchsprofessor setzt, mit einem abgewandelten Zitat Bacons
gesprochen, alles auf den Sieg der Technik im Wettlauf mit der Natur.
Das Enhancem ent, die pharmakologische wie gentechnische »Verbes­

[ 120 ] THCIINIK, TROST UNI) SCHLAUE P I I. L F. N


serung« der natürlichen Substanz des Menschen, erscheint hier wie die
»goldene Pforte« ins gelobte Land einer leidfreien, alterslosen Zukunft.
Keineswegs ein Einzelfall ist diese geschichtsblinde und letztlich inhu­
mane Spekulation. Hinweggeräumt werden soll mit jenem »forschen
Optimismus des Fortschritts«, mit jener »fühllosen Rationalität«, die
Metz 1974 kritisierte und in Zukunftslosigkeit und »eine drohende Apo­
theose der Banalität« münden sah, die menschheitsgeschichtliche Er­
kenntnis, dass der Homo sapiens immer wieder in Sackgassen gerät,
aus denen keine Technik, keine Wissenschaft ihm heraushilft. So
glückstrunken wie der Nachwuchsprofessor kann nur werden, wer je ­
des nach Trost verlangende Scheitern als gewaltige Kränkung missdeu­
tet, als Anschlag auf sein Übermenschentum.
Die Industrie hat dieses von einer entriegelten Philosophie unterstützte
Verlangen längst aufgegriffen. Prozac, die »Glückspille« von Eli Lilly, ist
noch ein vergleichsweise traditionelles Produkt aus den neuzeitlichen
Laboren. Neben dem genetischen und dem Body-Enhancement, so die
Medizinethikerinnen Davinia Talbot und Julia Wolf, entwickelt sich das
Neuro-Enhancement zum Kassenschlager. »Das Angebot an nebenwir­
kungsarmen Smart drugs zur Verbesserung von kognitiven und emo­
tionalen Eigenschaften und Fähigkeiten wächst stetig. Fragen nach ih­
rer Anwendung jenseits einer medizinischen Indikation stellen sich
bereits heute. [...] Dazu gehören Möglichkeiten der Steigerung der Auf­
merksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Überwindung von
Müdigkeit beim Menschen.« Die Firma »Memory Pharmaceuticals«
etwa arbeitet an Stoffen, die das Langzeitgedächtnis kräftigen, »Helicon
Therapeutics« an Präparaten zur Gedächtsnisblockade, damit leidvolle
Erinnerungen gelöscht werden können. »Kosmetische Psychopharma-
kologie« wird jener Branchenzweig genannt, dessen Produkte im Stile
von Prozac ein grundsätzlich neues Weltverhältnis ins Werk setzen - Ge­
lassenheit oder Gleichmut, Zutrauen oder Angriffslust. Die Oberfläche
ist nach innen gewandert.
Der Mensch soll werden, wie er nie gewesen ist - und trotz aller kom­
merzieller Raffinesse vermutlich auch nie werden wird. Bis diese Er­
kenntnis aber Raum greift, wird die Teilung der Weltgesellschaft vollen­
det sein. Nicht, wie oftmals heute schon, am Zustand von Zahn und
Maut wird sich das soziale Prestige ablesen lassen. Das stete Lächeln
wird zur Währung im Wettkampf um Aufmerksamkeit, leistungsstarke

T l i CI I N I K , T R O S T UNI) S C H I . A I I B P I 1. 1. li N [ 121 ]
Gelassenheit und ein minimales Schlafbedürfnis werden zum imver­
zichtbaren Accessoire der Weltelite. Trauer, Melancholie und Schuld
werden abgelebte Erfahrungen einiger Unverbesserlicher sein - die
Schuld kommt allein schon deshalb aus der Mode, weil die Neurophi-
losophie sich vom freien Willen längst verabschiedet hat. Keine indivi­
duelle Verantwortung sei mehr möglich, da jeder nur handelnd nach­
vollziehe, was im Hirn schon beschlossen liege. Wie soll man da traurig
oder melancholisch oder auch nur moralisch werden?
Bleiben wird indes die Ahnung, dass Glück als Kategorie gelingenden
Lebens nicht ausreicht. Bleiben wird die Erfahrung von Unglück und
Niederlage, Untergang und Tod trotz aller Besänftigungsindustrie. Das
eigene wie das fremde Leid lassen sich nicht an die Technik delegieren.
Da ist keine Stellvertretung möglich. Wahrer Trost und dauerhafte Ge­
lassenheit sind die ursprünglichen Gaben des Glaubens. Religiös mag
auch der »verbesserte Mensch« sein, gläubig ist er nicht. Zu mir selbst
kann ich ein religiöses Verhältnis gewinnen, das Ich kann ein Götze
sein, die Schönheit, die Gegenwart, die Lust nicht minder. Glauben
aber, eine unwandelbare Treue, die diesseits nicht endet, haben die Ba­
sare nicht im Angebot. Glauben ist, im Gegensatz zum industriellen
Scheinglück, nicht anstrengungslos zu haben.
Insofern wäre neu zu erlernen: ein aus der Demut gewachsener Mut,
sich als fehlbar anzunehmen; ein Realismus, der an den Pforten des
Scheiterns nicht Halt macht; die Zuversicht, trotz allen Ungenügens nie
unrettbar verloren zu sein. Eine Theologie des Trostes könnte die Ant­
wort sein auf die Egolatrie der Epoche. Trost ist immer dialogisch und
schon deshalb ein Gegenmittel gegen die Verpanzerungen der »Ich-
linge« (Christian Schüle). Trost kann Selbstgenügsamkeit und Selbstde­
struktion verhindern, wenn, ja wenn beide Seiten rückhaltlos ehrlich
und im Geist verzeihender Liebe einander begegnen. Dann weitet sich
der Raum für die »tröstende Kraft der Rede von Gott«, der Metz vor 34
Jahren ein notwendiges Buch zu widmen empfahl.
Eine solche Rede wäre, weil sie der Verfügbarkeit von Ich und Du letzt­
lich entzogen bleibt, zugleich die beste Gewähr, dass der Trost zu keiner
billigen Vertröstung und zu keinem falschen Trostversprechen aus­
schlägt. Die je neu zu erlernende Ausrichtung auf den gekreuzigten und
auferstandenen Gott könnte die heilende Wirkung von Trauer, Melan­
cholie und Schuld, dem Augenschein und dem Leistungskatalog der

[ 122 ] TECHNIK, T ROST UNI) S CH I. A II F. P I L I . F N


Spätmoderne entgegen, erfahrbar machen. So denn tatsächlich diese
Zeit es wagen muss, den »Wert des Leidens wiederzuentdecken« (so ein
Appell Papst Benedikts XVI. am 24. Juli 2007), dann verbirgt sich hinter
dieser Rückbesinnung kein finsterer Pessimismus, sondern sie könnte
den Boden bereiten für einen realistischen und sehr geerdeten Opti­
mismus.
Das Heil, nicht das Glück der Menschen, von dem ja wenig mehr be­
kannt ist, als dass es ein flüchtig’, launisch’ Ding sei, das Heil der Men­
schen bleibt aller Konstruierbarkeit entzogen. Die vermeintlich philo­
sophische Hoffnung, der Mensch solle mit allen Mitteln sich zu jenem
Bild von sich zurechttunen, das ihm attraktiv, da erfolgversprechend er­
scheint, ist ein Misstrauensvotum an die Gattung. Den Menschen wird
nicht zugetraut, dass sie jenseits von Glück, Erfolg und Stärke, jenseits
von Neuronen, Genen und Muskelmasse ihr Leben meistern. Die Tech­
nik soll planmäßig Situationen verhindern, die ein Trostverlangen her-
vorrufen könnten.
Demgegenüber wäre entschieden zu bekräftigen, dass die Wege der
Technik nicht die Wege des Heils sein können. Technik gebiert Technik,
weil sie Probleme schafft, die nur mit Technik lösbar scheinen: So lau­
tet der Refrain der Moderne. Nicht Normen, sondern Verfahren, nicht
Tugenden, sondern Techniken gliedern unser spätneuzeitliches Leben.
Das Beharren auf der tröstenden Gewissheit von der Vorläufigkeit allen
menschlichen Tuns könnte einen Durchbruch bedeuten zu echter
Menschlichkeit. Tränen wollen getrocknet, nicht zugeschminkt wer­
den.

T I! C II N I K , T R O S T UNI) S C H I. A II I! P I 1. 1. 1! N | I2J j
> ENGLISCHER TROST/
CONSOLATIO ANGELICA
Thom as Rüster

it dem ihm eigenen, seiner charakteristischen theologischen Intel­


ligenz entspringenden Scharfsinn hat Metz die fatale Lage er­
kannt, in die die Religion in der Moderne angesichts des menschlichen
Trostbedürfnisses gerät. »Menschen suchen nach Trost, weil ihr Leben
unweigerlich mit Leiden verbunden ist« (RGG); es sind Erfahrungen mit
Grenzen und Not, die das Verlangen nach Trost wecken. Solche Erfah­
rungen dürfte es aber für das neuzeitliche »Herrschaftssubjekt« eigent­
lich gar nicht mehr oder jedenfalls immer weniger geben. Wirtschaft will
grenzenloses Wachstum und gibt damit den Rhythmus der Epoche an.
Treten Konflikte oder Störungen auf, ist ein effektives Konfliktmanage­
ment zur Stelle. Religion ist nur da noch zuständig, wo Grenzen noch
bestehen und damit auch Leiden und Not, insoweit sie noch nicht über­
wunden sind. Priester kommen in Filmen bevorzugt in Beerdigungssze­
nen vor, das Mittel gegen den Tod ist ja noch nicht gefunden. Wo imZuge
eines »zynischen Kapitalismus« (E. Dussel) die Verheißung der Moderne,
zusammen mit dem wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt
auch Gerechtigkeit und Wohlstand für alle herbeizuführen, fallen ge­
lassen wird, wo also die Unvermeidlichkeit von Grenzen und Leiden
stillschweigend eingestanden wird, da mag der Markt für die Religion
wachsen. Sie hat dann die Aufgabe, die Unvermeidbarkeit des Leidens
einsehen zu lehren und doch den Leidenden nicht allein zu lassen (nach
der Art des philosophischen Trostes: Con-solatio), oder aber auf ein bes­
seres Jenseits zu verweisen, in dem die Grenzen dann überwunden sind.
Metz weiß um diese Versuchung der Religion, vermeidet sie mit großer
Entschiedenheit und will dennoch von der Tröstungskraft der Religion

[ 124 I 1: N G I. I S C H I-: R T R O S T / C O N S O I. A T I O ANGELICA


nicht lassen. Das Charakteristische seiner theologischen Intelligenz
tritt hier klar hervor. Seine Rede über den Trost ist mithin zugleich ein
Angriff: eben auf den Geist einer Gesellschaft, die des Trostes nicht
mehr bedürftig sein will und deshalb die »Unfähigkeit zu trauern«, das
Trauer- und Melancholieverbot, die Flucht vor dem Leiden und eine
fühllose Rationalität zwangsläufig mit sich bringt. Die Entwicklungen
seit der Abfassung seines Beitrags haben ihm Recht gegeben.
Wie ist aber das Metz’sche Buchprojekt auszuführen? Wie kann Trost
mit Angriff kombiniert werden? Wie lässt sich Vertröstung vermeiden,
wie die Trostfalle, die die Gesellschaft der Religion aufgestellt hat? Wie
lassen sich die überkommenen religiösen Bestände ins Spiel bringen,
wenn sie im Rahmen funktionaler Differenzierung in einen anderen,
ihrem Sinn widersprechenden Funktionszusammenhang gebracht
werden? Ich frage weiter: Lässt sich diese Frage nicht für das Metz’sche
Theologieprojekt im Ganzen stellen, das als ungeheuer anregende
Skizze einer zukünftigen Theologie, das der Ausführung noch harrt, vor
uns steht, bei der aber, wie das Beispiel Metz selbst lehrt, eine Ausfüh­
rung vielleicht unmöglich, jedenfalls mit den herkömmlichen theologi­
schen Mitteln unerschwinglich ist?
Ich setze an bei der Consolado angélica, beim Zusammenhang der En­
gel mit dem Trost. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass die »/epo­
chale/ Unfähigkeit, sich trösten zu lassen« einhergeht mit dem Aus­
schluss der Engel aus dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis.
Engel stehen für die Bewahrung einer Grenze. Sie schützen Gott und
den Baum des Lebens, den Ort der Weisheit und des rechten Tuns, vor
dem vermessenen menschlichen Zugriff, so erzählt Gen 3,24. Als solche
sind sie der auf Grenzenlosigkeit programmierten Wissenschaft lästig
geworden, und man hat sich darauf verständigt, dass sie nicht existie­
ren. Wie konnte dies übrigens zuwege gebracht werden, wo doch die
Engel die machtvollsten Wesen der Schöpfung sind und ihre Zahl die
der übrigen Geschöpfe bei weitem übersteigt? Wo doch alle Völker seit
Anbeginn der Welt um ihre Existenz wussten? Einfach, indem man nur
noch Instrumente zur Wirklichkeitsbeschreibung benutzte, die die En­
gel nicht wahrnehmen können. Weil sie nun auf keinem Messinstru­
ment mehr erschienen, wurde dann gefolgert, es gebe sie nicht. Selten
ist wohl die Menschheit auf einen simpleren Trick hereingefallen! Man
könnte meinen, der Teufel stecke dahinter, dem natürlich daran gele-

I! N G I, I S C H ii K ' I ' I I O S T / C O N S O U T K ) A N G li 1. I C A [ 125 ]


gen sein muss glauben zu machen, er existiere nicht. Wie auch immer,
auf diese Weise musste die Menschheit fortan auch des Trostes der En­
gel entbehren, der in den Religionen und in der Bibel zumal so reich be­
legt ist. Jesus selbst war seiner bedürftig, wie Lk 22,43 bezeugt. Als Jesus
angesichts des kommenden Leidens sich auf die Erde niederwarf und
zum Vater betete, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge, als er in
Angst geriet und sein Schweiß wie Tropfen Blutes wurde, die auf die
Erde niederrannen, da heißt es: »Es erschien ihm aber ein Engel vom
Himmel und stärkte ihn.« Die Szene hat prominente biblische Vor­
bilder. Am einschlägigsten ist die Erfahrung des Elia am Berge Horeb
(1 Kön 19). Der Prophet hatte soeben eine gesellschaftskritische Opera­
tion hinter sich gebracht, ganz im Sinne von Metz. Er hatte den Göt­
zendienst der Mächtigen entlarvt und der Nichtigkeit überführt, dies
zog ihm den Hass des Königshauses zu. Auf der Flucht gelangt er ans
Ende seiner Kräfte, er legt sich hin und will sterben. Da aber rührt ihn
ein Engel an, er reicht ihm zu essen und zu trinken und lässt ihn schla­
fen. Und noch einmal kommt der Engel und rührt ihn an, bringt ihn auf
den Weg zum Gottesberg, dem Horeb.
In diesen Texten finden wir den gesuchten Zusammenhang von Angriff
und Trost. Die Engel trösten den, der angegriffen hat; das gilt für Jesus
wie für Elia. Der Trost liegt aber nicht darin, dass die Engel die Unver­
meidlichkeit des Leidens einsehen lehren und etwa, wie man das aus
Seneca oder Boethius kennt, die Hoffnung auf die Befreiung aus allen
irdischen Bedrängnissen im Tod lenken. Das Gegenteil ist der Fall: Der
zum Tode bereite Elia wird wieder auf den Weg des Lebens gesetzt, wie
auch Jesus nicht aus dunklem Todesverlangen in die Passion geht, son­
dern als der, der das Leben in Fülle bringt. Auch verzichten die Engel
darauf, auf den Trost des Jenseits, auf das ewige Leben zu verweisen. Sie
verweisen stattdessen auf Gott. Genauer: Auf den Willen Gottes, wie er
für Elia am Gottesberg Horeb und für Jesus am Kreuz offenbar wird.
Dies genau ist der Trost der Engel: Sie stärken den, der in der Erfüllung
des Willens Gottes schwach und ängstlich geworden ist, sie richten ein
Leben neu auf die Erkenntnis und Erfüllung des Willens Gottes aus. In­
soweit ist der Trost selbst ein Angriff, denn die Engel kräftigen zum Tun
des Willens Gottes, das eben, wie bei Elia und Jesus offensichtlich,
selbst ein lebensgefährlicher Angriff auf die herrschenden Verhältnisse,
auf die »herrschende Bestimmung des Menschen« ist.

[ u 6 ] K N Ci L I S C H F R T R O S T / C O N S O L A T IO ANGELICA
Rücken wir nun diese biblischen Bezeugungen in den weiteren Hori­
zont der Angelologie, also in den Horizont einer Lehre vom Himmel, die
sowohl die seligen Engel wie auch die satanischen Mächte und Gewal­
ten umfasst, so kann deutlich werden, dass von dieser her ein Ansatz­
punkt zur Ausführung des Metz’schen (Buch-)Projektes gegeben ist.
Der Trost der Engel fügt sich nicht den »bereitwillig angebotenen Trös­
tungsmustern und Tröstungsfunktionen der Religion«, dies wurde ge­
zeigt. Es war nicht »Opium«, das Elia gereicht wurde, sondern Mittel zur
Fortsetzung des Kampfes, der dann beim Einsatz für den ermordeten
Nabot seine nächste Eskalation erreichte. Was dann die von Metz ge­
nannte »tröstende Kraft der Religion angesichts jener großen Verlet­
zungen und Demütigungen des Menschen« (Kopernikus, Darwin,
Freud) betrifft, so wird diese von den Engeln her zugleich überflüssig
wie auch reichlich gespendet. Überflüssig, weil den Menschen immer
schon zu wissen gegeben war, dass da Wesen in der Schöpfung sind, die
sie an Erkenntniskraft und Willensstärke unendlich überragen. Die
»Verletzungen und Demütigungen des Menschen« beruhten deshalb
lediglich auf falscher Selbsteinschätzung, die nur zu ihrem Besten kor­
rigiert wurden. Es war vermessen und wirklichkeitsfremd, sich als Mit­
telpunkt der Schöpfung, als Herr und Besitzer der Natur, ja als Herr sei­
ner selbst vorzukommen. Ein Blick in die Engelwelt, wie ihn jede
Religion gewährt, kann hier Aufklärung schaffen. Zum anderen ist von
einer glaubensgestützen, biblischen Engellehre her aber auch klar, dass
jene Mächte und Gewalten, die tatsächlich den Menschen demütigen
und verletzen - die verselbstständigten sozialen und technischen Sys­
teme, die die Bedürfnisse des Menschen in ihre Dienste nehmen, um
letztendlich nur ihre Selbsterhaltung zu betreiben, auch gegen die vita­
len Interessen der Menschen -, seit Jesu Vision vom gestürzten Satan
(Lk 10,18) als entmachtet gelten können, dass jedermann in der Nach­
folge Jesu ihren Versuchungen zu Reichtum, Sicherheit und Macht mit
Berufung auf Gottes Wort erfolgreich entgegentreten und schließlich in
der Liturgie zusammen mit allen Engeln und Heiligen siegestrunken
das »Dreimal Heilig Herr aller Mächte und Gewalten« anstimmen kann.
I)ies spendet Trost und gibt, wie bei Elia und Jesus, neue Kraft im Kampf
gegen »die Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der
Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter
d em Himmel« (Eph 6,12). Die Demütigung, die der Mensch dann noch

i; n i; i i s (. ii i: u t h o s t / c o n s o i . a t i o a n u h ü c a [ 127 ]
über sich bringen muss, ist diejenige gegenüber Gott; diese aber ver­
letzt nicht, sondern schafft erst Würde und Herrlichkeit.
Zu Recht sieht Metz, dass eine Gesellschaft, die den Menschen als
»Herrschaftssubjekt« einsetzt, zur »Unfähigkeit, sich trösten zu lassen«
verurteilt ist und folglich zu einer »völlig apathischen, fühllosen Ratio­
nalität« gelangt. Die Engel stellen hier eine andere Sprache und eine an­
dere Rationalität zur Verfügung. Ihnen, die nach jüdischer Überliefe­
rung in jedem Augenblick zu Myriaden aus Gottes Mund hervorgehen
und gleich wieder vergehen, sind die Versteifungen der Selbstbehaup­
tung fremd. Die reiche, zarte Engelspoesie der christlichen Jahrhun­
derte, das spielerische, verspielte Auftreten der Engel zum Beispiel im
Barock, die enge und einsichtige Verbindung der Engel mit der Musik,
das alles verweist auf Ausdrucksmöglichkeiten und Selbsterfahrungen
jenseits lächerlicher Herrscherposen. Wenn man doch schon um den
Schutzengel wüsste, wie viel an sprachloser Einsamkeit wäre überwun­
den! »Gesellschaftskritisch« ist es in der Tat, den »längst Besiegten« die
symbolische Sprachwelt zu eröffnen, mit der himmlische Wirklichkei­
ten sachgemäß einzig zu beschreiben sind. Da können Tränen fließen,
da kann - viel öfter - in die Freudenchöre der Engel eingestimmt wer­
den. Mit Apathie und Fühllosigkeit ist es da vorbei. Jesus selbst ließ den
Tränen in Gegenwart des Engels freien Lauf.
Von Adorno übernimmt Metz den Begriff der »Verblendungszusam­
menhänge, die gerade unsere kritische aufgeklärte Gesellschaft nach­
haltig bestimmen«, und er zählt sie in schöner Vollständigkeit auf. In
der Tat, wie sollte man nicht verblendet sein, wenn man den Himmel
aus der Wirklichkeitswahmehmung systematisch ausblendet, gegen
Gen 1,1 und den ersten Satz des Großen Glaubensbekenntnisses.
Dieser ganze, so eindrucksvolle Text von Metz ist doch nichts als ein
einziges Ankämpfen gegen ein verkürztes, um die wesentliche, die
himmlische Dimension, auf das bloß Irdische reduzierte Wirklichkeits­
verständnis. Selbstverständlich fallen da die Toten und ihr Schicksal aus
der Weltwahrnehmung heraus, denn sie sind ja nicht mehr auf der Erde
(sondern, wie noch die Scholastik wusste, im caelum empyreum, einem
raumzeitlichen aber unzugänglichen Ort dieser Welt). Selbstverständ­
lich muss man den Verdacht, dass die Sinnreserven zur Neige gehen,
unterschlagen, nachdem man zuvor die umfassende Sinnressource des
Himmels, aus der alle Religionen schöpfen, abgeklemmt hat. Selbstver-

| 128 ] ENCtlJSCHKR TR O ST/f.O NSOLATIO ANGELICA


ständlich wird die Zukunft inhaltslos, ist doch die Zukunft, wie über­
haupt die ganze Zeit (die Griechen wussten darum: Kronos ist der herr­
schende Gott im Götterhimmel) eine himmlische Angelegenheit: Be­
standteil der Schöpfung und doch schwer erkennbar, schwer
zugänglich und kaum manipulierbar. So sind himmlische Mächte. Üb­
rig bleibt, blendet man den Himmel erkenntnistheoretisch aus, in der
Tat nur die »Apotheose der Banalität« - ein trostloser Zustand.
Die zentrale Botschaft der Engel lautet: »Ehre sei Gott in der Höhe und
auf Erde Frieden den Menschen.« Darin liegt Trost, denn der begrenzte,
in seinen Leiden und seiner Not auf sich selbst zentrierte, folglich um
sein Lebensrecht verzweifelt und meistenteils brutal kämpfende
Mensch findet sich hier wieder in der kosmischen Gemeinschaft des
Gotteslobes. Der Trost ist echt, es handelt sich nicht um Vertröstung.
Die Grenzen des Ortes, der Zeit und der Einzelexistenz werden wirklich
überschritten, und auch die Leiden und die Not haben ihren Platz im
Gotteslob, ja bilden eine besondere Herausforderung und Chance. Um­
gekehrt werden Menschen vom Existenzkampf abgebracht und können
den »Geringsten unter den Brüdern« gerecht werden. Friede stellt sich
ein. Was die Hirten bei Betlehem vernahmen, war himmlischer Trost. Es
könnte die Grundlage eines allerdings dringend zu schreibenden Bu­
ches über den Trost sein.

l: N (, I. IS( II 1- K T R O S T / C O N SO I. ATI O A N (i MCA [ 129 )


> TROST, VON AUSSERHALB MIR
E ck h a rd N ordhofen

ls die Krankenschwester zugab, dass die Pille, die gegen das Ste­
A chen in der Herzgegend helfen s°Hfe> nichts weiter enthielt, als
Kreide mit Traubenzucker, war ihm geholfen-

WENN ICH WÜSSTE, WIE TROST FUNKTIONIERT, WÄRE ICH


UNTRÖSTLICH

Wenn der Doktor seine Schmerzen nicht ernst nahm, musste auch er
sie nicht ernst nehmen. Er hatte selbst schon in Erwägung gezogen,
dass die Herzschmerzen vielleicht bloß psychisch bedingt wären. Aber
es waren immerhin Schmerzen. Nun äher dokumentierte das Placebo
die Gedanken des Doktors. Sein Meta"Placeh ° : Er hat meine Herz­
schmerzen nicht ernst genommen. P er Doktor hatte gedacht: Dem
fehlt nichts, das ist nur psychisch. WeH aber der Doktor das dachte,
dachte auch er, was der Doktor dachte und wurde beschwerdefrei.

KANN MAN SICH TRÖSTEN?

Sie tröstete sich mit einem Jüngeren. P er Marm war weg. Mit einer An­
deren. Immer sind sie mit der immer Anderen dann mal weg und weg
für immer. Eigentlich sehr wenig origiheU- Dass ein intelligenter Mann
sich nicht zu schade war, der ChoreograPlde des Seitensprungs zu fol­
gen wie ein triebgesteuerter Lemming und die Frau wie ein Ersatzteil
durch die Jüngere ersetzte ... Das hatte gut die Hälfte seiner Altersko-

I 130 I T R O S T . V ON A II S S li K II A I. H Ml®
horte und drei Viertel seiner Vorstandskollegen ihm vorgemacht. Treue
wäre originell gewesen. Sie wäre erwidert worden und hätte auch Gott
gefreut. Treue ist bipolar. Und der Trost?

KANN MAN SICH STREICHELN?

Das geht. Aber wie man so sagt: Nicht wirklich. Nicht wirksam jeden­
falls. Ich meine Streicheleinheiten. Ihr Mann war Behaviorist. Er ver­
passte ihr Streicheleinheiten. Als sie das merkte, gab sie ihm eins auf die
Finger, denn sie wollte ohne Anführungszeichen gestreichelt werden.
Also wirklich!

VON AUSSERHALB MIR ...

In Ludwig Wittgensteins geheimem Tagebuch sind Sehnsüchte nieder­


gelegt. Nichts für Klartext. Die Verschlüsselung aber ist für einen Witt­
genstein fast wie eine Einladung, den Code zu knacken. Einfach das Al­
phabet umkehren - darauf muss erst mal einer kommen. Was so die
Aufmerksamkeit auf sich zieht, muss wichtig gewesen sein. Was lesen
wir? Gebete, Stoßgebete. Aufzeichnungen für die Entschlüsselung des
wahren Rätsels: Was klar gesagt werden könnte. »Alles was sich sagen
lässt, lässt sich klar sagen.« Er ist nah dran. Zum Greifen nah. »Es ist mir,
als läge mir ein Gedanke schon fast auf der Zunge.« (10.10.1914) »Es
scheint mir fast, als stünde ich knapp vor einer Lösung« (15.10.1914)
»Ich belagere jetzt mein Problem« (24.10.1914) »Konnte nicht viel ar­
beiten; arbeite aber mit Zuversicht.-DeinWille geschehe.« (28.10.1914)
und am 25.1.1915 »... Ich bin ganz im Dunkeln darüber, wie meine Ar­
beit weitergehen wird. Nur durch Wunder kann sie gelingen. Nur da­
durch, indem VON AUSSERHALB MIR der Schleier von meinen Augen
weggenommen wird.«
Paul Engelmann, dem Freund, erläutert er die Intention des »Tracta-
l us«, der Arbeit, deren Entstehung das Tagebuch begleitet. Er habe ver­
sucht, die Küstenlinie einer Insel zu beschreiben. Dabei sei es ihm aber
nicht um die Definition der Insel, sondern um den Ozean gegangen.

TROST, VON A II S S ü R H A I. B M I R [ 131 ]


Festen Boden unter den Füßen hatte er also dort, wo sein Interesse
nicht lag. Nur Unwichtiges hatte sich klar sagen lassen.

WARUM KANN KEIN MENSCH SICH SELBST KITZELN?

Streicheln oder Kitzeln. Es muss ein anderer machen. Und so kann kein
Mensch sich selbst trösten.

Als die Götter noch trösteten

Und jeglichem Zweck entsprach ein heiliges Bild.


Freundlich neigte ihr Haupt Pallas Athene
Jedem, der opfernd von ihr die Weisheit erbat.
Wer in den Kampf zog, wusste, dass Ares
wer für den Sieg sich verzehrte, dass Nike
warten auf frommen Wechsel und Tausch.
Wer über die See, weswegen auch immer strebte,
kannte Poseidons Adresse.
Knieten vor Aphrodite voll Hoffnung
alle, die krank vor Liebe,
spenden dem Hermes die Händler
gleich wie die trickreichen Diebe.
Und jedem menschlichen Interesse
entsprach die himmlische Adresse.

In Jan Assmanns polytheistischem Paradise lost waren die Götter freie


Schönheiten. Frei von der Verpflichtung wahr zu sein. Niemand hatte
sie als selbstgemachte Verlängerungen menschlicher Bedürfnisse und
Wünsche entlarvt. Jede Gottheit hielt das latente Versprechen bereit:
bei Bedarf werde ich Dir nützen können, Placebo, »ich werde Dir ge­
fallen«.
Einmal aber entlarvt, heißt ihre Wiedergeburt allenfalls Renaissance,
das heißt, sie leben fort im Schattenreich der Schönheiten, ohne An­
spruch auf Existenz außerhalb der Kunst und letztem Ernst.
Karl Valentin wusste wovon er sprach: »Kunst ist schön, macht aber
viel Arbeit«.

[ 132 | TRO ST. VON A II S S I! 1( II A I. H M I R


Aufklärung ist nicht schön, macht aber trotzdem viel Arbeit. Mose muss
das goldene Kalb zu Staub zermahlen, den Staub in Wasser schütten
und ihn den Kindern Israels zu trinken geben. Aus ihren Ohrringen war
es schließlich gemacht und kehrte so in sie zurück. Dass Aarons Mess­
schnur erwähnt und der Herstellungsprozess detailreich beschrieben
wird, gehört zu den Topoi der religionskritischen Aufklärer.
Jesaia liefert die Satire auf die frommen und dummen Handwerker aus
der Zunft der Göttermacher. Er geht noch mehr ins Detail: »Der Schnit­
zer misst das Holz mit der Messschnur, er entwirft das Bild mit dem Stift
und schnitzt es mit seinem Messer; er umreißt es mit seinem Zirkel und
formt die Gestalt eines M annes... (44,13). >Ein selbstgemachter Gott< ist
nichts als selbst gemacht. Ein Nichts, weil selbst gemacht.
Aufklärung im alten Israel - »jüdische Aufklärung«. Johann Baptist Metz
begrüßt diese Wendung, weist aber auf die Haskala hin, eine jüdische
Bewegung im Siècle des lumières, die den Begriff schon besetzt halte.
Sein Vorschlag: »Sprechen wir doch von »biblische(r) Aufklärung«.
Für diese Begriffspolitik spricht mehr als nur die Verwechslungsgefahr,
denn die Geschichte der biblischen Aufklärung setzt sich fort im Neuen
Testament.
Die Geschichte des Monotheismus ist eine Mediengeschichte. Sie be­
ginnt mit dem scriptural turn. Ohne die Buchstabenschrift, das neue
Medium, wäre der Qualitätssprung nicht möglich gewesen. Schrift
kann, was kein Bild kann: Die Abwesenheit des Anwesenden sichern.
Das Kultbild als Re-präsentant der Gottheit kann den Pygmalion-Effekt
nicht vermeiden. Der liebenswürdige Mythos vom Künstler Pygmalion,
der sich in das verliebt, was er selbst verfertigt hatte, zeigt die Unver­
meidlichkeit jenes Kicks, in dem sich das Kunstwerk selbständig macht.
Es bietet sich an, mit dem verwechselt zu werden, was es doch nur be­
deutet. Nicht so die Schrift. Es ist die unvermeidliche Abwesenheit alles
dessen, was sie ins Bewusstsein ruft. Das ist ihre Stärke. Daher kann
Gott, der, von dem es kein Bild geben darf, der sich offenbart, indem er
sich entzieht, sich in der Tora präsent machen und doch abwesend blei­
ben. Neu war die Gleichzeitigkeit von Abwesenheit und Offenbarung.
I )as Neue Testament bietet die Fortsetzung der biblischen Aufklärung
als Mediengeschichte. Das Wort, das den Monotheismus möglich
machte, wird Fleisch. (Joh 1,14)

TROST, VON A U S S II R H A 1. H M I R ( 133 ]


Jesus überbietet den Buchstaben. Kein Jota soll weggenommen werden
von Gesetz und Propheten aber »Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit
größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in
das Himmelreich kommen« (Mt 5,20).
An die Stelle des Konzepts einer Gottespräsenz im Text tritt das Konzept
einer Gottespräsenz im Menschen(fleisch).
Im Fortgang der andauernden Monotheismusdebatte und nach voran­
gegangenem Gedankenaustausch bezeichnet Jan Assmann den Exodus
und die mit ihm verbundene »Mosaische Unterscheidung«, Immanuel
Kants berühmte Definition von Aufklärung benutzend, als »Exodus aus
der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit.« Und das vor vollem Hörsaal
der Universität Frankfurt am Main am 29.11.2007. Wo Assmann recht
hat, hat er recht. Das, so denke ich, wird auch Johann Baptist Metz
freuen, denn unsere »biblische Aufklärung« spricht sich offenbar he­
rum.

»DER ZAHN DERZEIT, DER ALLE WUNDEN HEILT ...«

Sein Zustand war schrecklich. Der Wahnsinn hatte sich mit ihm be­
kannt gemacht. Er räumte das Messer aus seinem Gesichtsfeld, weil es
ihn ständig aufforderte, seinen Sohn zu schlachten. Das Böse zu tun,
wäre etwas ganz Großes. Erst als der Hausarzt, dem er sein Leiden
klagte, ihm berichtete, dass er so einen Fall schon einmal erlebt habe,
dass die Sache zwei Jahre brauche, bis sie überstanden sei, war er beru­
higt. Zwar blieb er derselbe, aber die Auskunft änderte seinen Zustand
augenblicklich, und nach zwei Jahren war er wieder wie alle.

ALSO IST ES VIELLEICHT DIE ZEIT, DIE TRÖSTET?

Wenn die göttliche Perspektive die des Abstands ist, dann wäre die Zeit
etwas Göttliches. Die Gnade, dass alles vorbeigeht, wäre ein Modus von
Offenbarung: Pesach?
Falsch!
Offenbarung muss doch das Nunc stans sein. Nähe, nicht Abstand.

[ 134] TROST, VON AUSSHRHALB MI R


Und überhaupt. Wenn wir nichts festhalten können und die Taten der
Zeit immer nur vernichten, wenn aller Deichbau und alle Arbeit am Be­
stand und alle Kunst des Widerstands, und - lächerlich wie beim blin­
den Faust - kein e Spur von irgendwelchen Erdentagen nicht in Äonen
untergeht, kann den, welcher der Zeit nicht entkommen kann, nur trös­
ten, wer über sie verfügt.

T KOS T VON A II S S I! R H A I. H M I R [ I 35 ]
> LEBENSTROST
K atrin G öring-Eckardt

on guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet


V wunderbar«, so heißt es im ersten Vers in Dietrich Bonhoeffers Text
»Von guten Mächten«. Datiert ist er auf den 19. Dezember 1944. Er war
eine Beigabe eines Briefes und zunächst gedacht als »Weihnachtsgruß
für Dich und die Eltern und Geschwister«. Als Kirchenliedtext sollte er
später sehr berühmt werden. Doch zunächst war er der individuelle
Trost »für Dich« in diesem Fall seine Verlobte Maria von Wedemeyer
und »die Eltern und Geschwister«. Heute kennen diesen Text Millionen
Menschen in der ganzen Welt, wozu sicherlich auch die englische Ver­
sion »By gracious powers« beigetragen hat.

TROST UND VERTRAUEN

Angefangen hat dieser Trost aber ganz individuell. Bonhoeffer schrieb


ihn für die Seinen, um ihnen Trost zu spenden und ihnen Mut zu ma­
chen. Er tat dies nicht mit einer Phrase wie »Weihnachten bin ich wie­
der zu Hause«, sondern schilderte ehrlich, wie hoffnungslos die Situa­
tion nach irdischem Ermessen war und bekannte sich zu seiner
göttlichen Hoffnung. Es handelt sich hierbei nicht um ein der Religion
immanentes »Tröstungsmuster«, sondern um einen ganz persönlichen
Gruß eines Christen an seine Lieben im Bewusstsein des baldigen ge­
waltsamen Todes. In dieser trostlosen Situation, im Keller der Gestapo
in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, richtete er andere Menschen auf
und spendete ihnen den Trost, den sie seiner Einschätzung nach für die
nun kommende Zeit nötig haben würden.

[ 136 | I. H H i; N S T R O S T
Seinen Trost bezog Bonhoeffer aus dem protestantischen Christentum.
Er stellte sich in der Gewissheit des ewigen Lebens und der Gegenwart
Gottes der Herausforderung, den Verfolgten, unter denen auch viele
seiner Glaubensschwestern und -brüder waren, eine Stimme der Hoff­
nung zu geben. Auch wenn das sicher nicht in seiner Absicht lag, so ha­
ben diese Worte des Trostes vielen anderen Menschen in den letzten
Kriegsmonaten und in der Zeit danach Mut und Kraft gegeben.
Eine etwaige unmittelbare Hoffnung, bezogen auf die konkrete Situation,
in der sich Bonhoeffer und seine Lieben befanden, wird in seinen Zeilen
nicht thematisiert. Damit meine ich die Aussicht auf einen Weg aus dem
Gefängnis, Wiederkehr des Verlobten, Sohnes, Bruders und Freundes. Sie
wird natürlich auch nicht ausgeschlossen, doch eine Flucht oder eine Be­
gnadigung müssen so unwahrscheinlich gewesen sein, dass er seine Zu­
versicht und Zukunft allein in Gottes Hände befahl und sich kämpfend
und helfend im Gestapogefängnis diesem Vertrauen hingab. Er glaubte
ganz fest daran, dass nach diesem Martyrium ein ewiges Leben auf ihn
warten würde. Er bezog Trost aber nicht nur aus der eigenen verheißenen
Zukunft, sondern auch aus dem tiefen Dank für das Erlebte. Und sogar in
den Tagen als er diese Zeilen schrieb, schöpfte er Hoffnung und sprach
nicht vom Ertragen, nein, vom »Leben dieser Tage«. Als dem Glauben
fernstehender Mensch mag man nun denken: Was für ein phantastischer
Optimist und viele Christinnen und Christen werden meinen, dass solch
ein vollkommener Glaube unerreichbar scheint. Doch Bonhoeffer hatte
diesen Glauben und hegte und mehrte sein Vertrauen in Gotjt sogar so
weit, dass er in dieser für ihn so leidvollen Zeit anderen davon abgeben
konnte, so sie bereit waren, diesen Trost anzunehmen.

DER UNANNEHMBARE TROST

Doch was ist, wenn Menschen, auch gläubige Menschen nicht bereit
oder in der Lage sind Trost anzunehmen? Mangelt es ihnen am Glau­
ben? Mangelt es ihnen an Vertrauen?
Vertrauen und Glauben sind hier sowohl im religiösen als auch weltli­
chen Bereich die beiden zentralen Begriffe, wenn man sich dem »un­
annehmbaren Trost« begrifflich nähern will. Dies impliziert sowohl das
Vertrauen in und den Glauben an Gott, und/oder die Menschen.I.

I. R H K N S T R O S T [ 137 ]
Nur allzu oft werden das Annehmen von Tfost und die damit verbun­
dene Verarbeitung von Leid und Kummer als menschliche Schwäche
abgetan. Die Herrschaft einer apathischen, gefühllosen Rationalität ist
kaum trag- und ertragbar für den Trostbedürftigen. Doch dieses Phä­
nomen bedrückt nicht nur Atheistinnen und Atheisten, sondern plagt
auch Gläubige. Man könnte diese Erscheinung, wie es Johann Baptist
Metz getan hat, als eine »anhaltende Flucht vor dem eigenen und frem­
den Leiden« beschreiben.
Das Gottvertrauen welches Bonhoeffer ausstrahlte, haben nur wenige,
und nur einige wünschen es sich. Denn Leid und Trauer, Angst und
Sorgen sind auch da zum Durch- und Ertragen. Der aus dem Vertrauen
auf Gott gespendete Trost fängt in seiner Intensität, wie wir sie von
Bonhoeffer kennen, oft auch erst dort zu wirken an, wo der weltliche
Trost keine Hoffnung mehr geben kann. In einer solchen Situation gibt
es, so könnte man aus unserer heutigen Sicht meinen, gar keine andere
Möglichkeit als - auf Gott - zu hoffen. Doch kann dieses Vertrauen auch
aus sich heraus, aus dem Glauben entstehen? Als Christin sollte die Ant­
wort darauf leichtfallen. Denn dieses Vertrauen erwerben Christinnen
und Christen in ihrem täglichen Gebet zu Gott. Es drückt sich aus in der
Bereitschaft, sein Leben in Christi Hände zu legen. Wer diesen Schritt
getan hat und immer wieder tut, lebt in einem Vertrauensverhältnis mit
Gott und kann dadurch auch ein innigeres Vertrauen zu Gottes Kin­
dern - den Menschen - aufbauen.
Doch auch Menschen, die nicht an Gott glauben, können natürlich ein
Vertrauensverhältnis zu den sie umgebenden Menschen aufbauen. Sie
können angesichts des Leidens einen weltlichen Trost annehmen und
sich im Vertrauen auf die Zukunft oder mit sehnsuchtsvollem Blick auf
das Vergangene trösten und trösten lassen. Und auch dieses Vertrauen
und der in leidvollen Situationen daraus erwachsene Trost können von
enormer Bedeutung für die Einzelne und den Einzelnen sein. Ob nun
religiös oder atheistisch motiviert, ohne den vertrauensabhängigen
Trost verkümmert der Mensch und fällt über kurz oder lang möglicher­
weise in die schwarzen Löcher der Hoffnungslosigkeit.
Er verkümmert, weil er immer unfähiger wird zum Vertrauen und auch
zum Trauern. Denn auch den Verlust eines geliebten Menschen zu ver­
arbeiten, ist eng verknüpft mit der Fähigkeit, Trost anzunehmen und
Hoffnung zu schöpfen.

[ 138 ] I. K B E N S T R O S T
TROST IM TRAUERN FINDEN

Seit vielen Jahren kann man eine zunehmende Berührungsangst mit dem
Tod in unserer Gesellschaft feststellen. Im Umgang mit dem Sterben
macht sich Unsicherheit breit. Anonyme Bestattungsformen nehmen zu.
Der Verstorbene wird, oft seinem eigenen Willen entsprechend, unter den
Grünen Rasen »verdrängt«, damit er, zum Beispiel durch eine anfallende
Grabpflege, »niemandem mehr zur Last falle«. Den Hinterbliebenen wird
so ein fester Ort verwehrt, an dem sie trauern können. Viele Verstorbene
nehmen ihren Angehörigen so unbewusst etwas Wichtiges, denn sie be­
denken nicht, dass Trauer und Erinnerung eines festen Ortes bedürfen.
Aber auch wenn auf einem weltlichen Grabstein ein »Unvergessen«
prangt und tatsächlich eine Ruhestätte angelegt wurde, ist das Trauern
nicht vorüber. Schon die Frage, ob Kinder zur Beerdigung mitgehen, ob
sie auf den Friedhof sollen, hat das selbstverständliche »Ja« in der Ant­
wort verloren.
Wer die Endlichkeit des Lebens verdrängt und die Toten vergisst, den
wird die Vergänglichkeit, der Verlust eines Tages völlig unvorbereitet
treffen. Wer diese Erfahrungen, auch die Nöte, nicht an die nächste Ge­
neration weitergibt, verkennt, wie sehr Tod und Sterben zum Leben ge­
hören, auch gehören sollten. Dies schafft nicht nur Kraftreserven für ex­
treme emotionale Situationen, sondern sorgt auch für Gelassenheit im
Umgang mit den kleineren Problemen im Alltag.
Aus der aufVerarbeitung angelegten Trauer kann ein Trost erwachsen und
somit auch eine Chance, den Verlust zu bewältigen. Wenn Trauernde am
Grabe stehen und meist erst in den Wochen danach den Verlust vollkom­
men ermessen können, entsteht oft das Gefühl der Ohnmacht, das durch
eben jene Hoffnung nicht völlig behoben werden kann. Es gibt eben nicht
nur die Sorge um dasWöhldesNächsten,sondemauchdenlegitimenego-
istischen Wunsch nach seiner Gegenwart. Gerade wenn jüngere Men­
schen sterben, werden die Fragen nach dem Sinn und der Notwendigkeit
diesesTodes jenseits des irdischen Deutungshorizontes gestellt. Die Frage
nach dem >Warum hat Gott dies zugelassen< stellen hier nicht nur Gläu­
bige, sondern auch den Religionsgemeinschaften Fernstehende. Durch
den unbändigen Drang, darauf eine Antwort zu bekommen, besinnen
sich Menschen darauf, dass es möglicherweise außerhalb der materialis­
tischen Erklärung der Welt noch eine andere Kraft gibt. Eine, die unserem

I. R H E N S T R O S T [ X39 ]
Wissen und Wollen nicht verfügbar ist. Wie viel Trost daraus erwachsen
kann, wird unterschiedlich sein. Vielleicht liegt es auch schon im Prozess
des Sterbens. Immer wieder hören wir von Hospizhelferinnen und -hel-
fem, die Sterbenden und Angehörigen helfen konnten, eine letzte wirkli­
che Lebensphase aus dem Sterben zu machen. Eine fröhliche Rückschau
auf gute Zeiten, ein Trauern um zu Ende gehende Gemeinsamkeit, ein
Blick in die Zukunft des Zurückbleibenden. Trost also im Sterben selbst, so
wie es Bonhoeffer vielleicht auch verstanden wissen wollte.

DER LEBENSTROST

Johann Baptist Metz fordert einen »Lebenstrost, der weder von vornhe­
rein als >Opium< marxistisch-ideologiekritisch entlarvt noch als >Ent-
täuschungsabsorption< systemtheoretisch oder auch psychoanalytisch
konzediert bzw. gar gesucht wird«. Meiner Ansicht nach ist der Lebens­
trost individuell und entspringt einer persönlichen Beziehung zu Gott.
Der eigene Lebenstrost kann an die Nächste und den Nächsten weiter­
gegeben werden und ist dadurch ein Grundpfeiler des menschlichen
Zusammenlebens.
Ich glaube nicht, dass es dabei entscheidend ist, dass dieser Lebenstrost
abstrakten Kategorien des Diskurses standhält, sondern dass er sich
vielmehr in der Praxis beweist. Durch das Vertrauen auf und das Ge­
spräch mit Gott und den Menschen entsteht für jede Gläubige und je ­
den Gläubigen ein individuelles Lebensvertrauen, welches ihr und ihm
gerade in leidvollen Lebenssituationen die Kraft und die Zuversicht
gibt, dass wir uns auf Gott verlassen können.
Der Lebenstrost ist das Vertrauen in Gott und die Menschen. Nur ein
Mensch, der diesen Lebenstrost erfahren und gelebt hat, kann im größ­
ten Leid schreiben:
»Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet
wunderbar, so will ich diese Tage mit Euch leben und mit Euch gehen in
ein neues Jahr.« Der Lebenstrost ist schwer in abstrakte Begriffe zu fas­
sen. Er basiert auf der Erfahrung jedes Einzelnen mit seiner Umwelt.
Wenn dieses Umfeld durch den Glauben an den dreieinigen Gott er­
weitert wird, so meine ich, dass dieser Lebenstrost beständiger ist als ei­
ner, der nur auf die Menschen baut.

[ 140 ] L l i B B N S T R O S T
> SORGET NICHT!«
W olfga n g Thierse

ass wir Menschen des Trostes bedürfen, ist ja gewiss: Wir bedürfen
D der Hilfe, die uns aufrichtet, weil wir es selbst nicht vermögen,
wenn eigene Schuld, eigenes Versagen uns beugt oder das Elend der
Welt, die Aussichtlosigkeit uns schmerzt und niederdrückt. Das ist eine
unabweisbare, elementare Lebenserfahrung. Dass aber Trost nicht
leicht zu haben ist, es sei denn, es wäre der billige Trost der Verharmlo­
sung, der Verkitschung, des Vertröstens - das ist mir an einem Bibeltext
deutlich geworden, den ich besonders liebe. Es ist Matthäus 6,24-34.
Die Jesus-Worte »von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf dem
Felde« haben mich immer wieder beschäftigt und fasziniert, sie haben
mich geärgert und irritiert und getröstet und ermutigt. Ich habe diesen
Text - von Kindesbeinen an im Gottesdienst Jahr für Jahr mindestens
einmal gehört - wechselnd empfunden als Provokation, als Zumutung
oder als befreiendes Versprechen, als Entlastung, gar als Verführung zu
einer Art christlichem Fatalismus’ oder auch als Angebot einer glückli­
chen christlichen Faulheit.
Und ich habe ihm früher auch zu widersprechen versucht: Das ist doch
gänzlich weltfremd. Wir müssen uns doch sorgen! Ohne unser aktives
Tun, unseren Fleiß, unser Engagement geschieht doch nichts. Es fliegen
uns doch keine gebratenen Tauben in den Mund. - So dachte ich als
junger Mensch und immer wieder. - Den Hunger zu stillen, den eigenen
und, vor allem, den Hunger anderer - das geht doch nicht von allein!
Die riesigen Probleme, die deutschen, die europäischen, die globalen
Probleme, - sie lösen sich wirklich nicht von selbst. Da ist heftigste An­
strengung, Sorge also gefordert. Gewiss, gewiss. Aber von einem Schla­
raffenland ist in den Jesus-Worten ja auch keine Rede. Ein Schlaraffen-

■S O R U H T N I c: H T ! • [ 141 ]
land wird nicht verheißen. Nett nämlich ist das Neue Testament hier
nicht und auch sonst nicht. Gottlob.
Nein, keine falschen Versprechungen machen mir diesen Text wichtig.
Heute, nach soviel Veränderung in meinem Leben, heute, wo ich ein
vergleichsweise hektisches und angestrengtes Leben führe, heute sind
mir diese Jesus-Worte von den Vögeln unter dem Himmel und den Li­
lien auf dem Felde vor allem eine Einladung zur Gelassenheit gewor­
den: Sich weniger wichtig nehmen können - welch schöne Möglichkeit
gerade für Politiker (für andere Berufe, für andere Menschen aber
auch), deren Berufskrankheit doch die Wichtigtuerei ist. Eine Einla­
dung, sich zu befreien von der Selbstüberschätzung - also von der
Überzeugung, alles selbst leisten zu können. Eine Einladung, sich aber
auch zu befreien von der Selbstüberforderung - also vom Anspruch, al­
les selbst leisten, lösen, machen zu müssen.
Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung haben gerade in der Po­
litik, bei Politikern fatale Konsequenzen: Verzweiflung oder Zynismus
oder beides, verzweifelter Zynismus, der zu Trunksucht, dem falschen
Trost, führt oder zur Kälte der Untröstlichkeit, der Resignation, der Rou­
tine, der Verhärtung.
Es ist gewiss wichtig, was wir tun und worum wir uns kümmern, ja, ja. -
Aber Jesus lädt uns ein, nicht zu glauben, wir allein seien verantwortlich
und wir hätten für alles Verantwortung: »Werfet eure Sorgen auf Gott,
denn er sorgt für euch!« Eine trostreiche Verheißung.
Und trotzdem, dieser Text nimmt den Pflichten, die wir haben, nicht ih­
ren Ernst, aber er erlaubt, denke ich, Emst von Fanatismus zu unter­
scheiden.
Eine wahrlich wichtige Unterscheidung. Die eigenen Sorgen, Interes­
sen, Ziele, Überzeugungen absolut setzen und darin sich selbst absolut
setzen - das führt zu Fanatismus - eine politische und moralische Ge­
fahr - nicht nur weit weg von uns, sondern ganz nah; denken wir nur an
den jugendlichen Rechtsextremismus und seine entsetzlichen Gewalt­
ausbrüche. Oder an religiösen, weltanschaulichen Fundamentalismus
ganz individueller Art.
Neben dem Zuspruch »Sorget nicht!«, jener Einladung zu einer befrei­
enden Sorglosigkeit des Gottvertrauens und zugleich aktivem Tun des­
sen, was heute anliegt (»Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene
Plage hat«), kommt man an dem zentralen Einspruch des Textes nicht

( 142 ] ■ S O R Ci I: T N I C H T ! -
vorbei: Das Gleichnis von den Vögeln im Himmel und den Lilien auf
dem Felde ist eine unmissverständliche Absage an eine Kultur des Ha­
bens, des materiellen Reichtums und Besitzes, an eine Kultur, in der
sich der Wert des Menschen danach bemisst, was er hat - und weniger,
was er ist. Wo Eigentum der wichtigste Wert ist, beherrscht es auch das
Denken. Ökonomische Ziele, Interessen, Spielregeln bestimmen, was
vernünftig ist. Wirtschaftliche Sachzwänge verbieten offensichtlich je ­
den Gedanken daran, dass es auch um anderes geht. Freiheit, verstan­
den als Konsum, als Bereicherung, wird irgendwann zur Ausweglosig­
keit, führt in die Abhängigkeit des »Terrors der Ökonomie«.
»Ist das Leben nicht mehr als die Speise und der Leib mehr als die Klei­
dung?« Dahinter las ich immer die fröhliche Aufforderung zu einer Kul­
tur der materiellen Bescheidenheit, zu einer Lebensweise, die das Le­
ben selbst heiter beim Wort nimmt und loslassen kann, wenn es zu
Ende geht. Der Satz verweist uns allerdings auf ein »Mehr«, auf etwas,
was wichtiger ist, wertvoller, was unser Leben eigentlich ausmacht.
Welches Menschenbild tritt uns hier gegenüber? In welche Vorstellung
vom Menschen passt dieses Bild?
Im Gleichnis von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln im Himmel
begegnen wir einem Menschenbild, das den Menschen zunächst auf
eine Stufe mit den anderen Geschöpfen stellt. Ohne jede Geringschät­
zung der natürlichen Bedürfnisse (»Denn euer himmlischer Vater weiß,
dass ihr all dessen bedürft«) sind wir Teilhaber an einer Schöpfung, de­
ren Schöpfer es sich angelegen sein ließ, darin nicht nur das Nötige,
sondern auch das Schöne gedeihen zu lassen; ja sie beschämt uns so­
gar, wenn wir uns schöner und reicher machen wollen - wie »Salomo in
seiner Herrlichkeit«, der an die Schönheit der Lilien auf dem Felde nicht
heranreichen kann. Das Gleichnis, das uns Genügsamkeit und Be­
scheidenheit lehren will (»Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen
nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer
himmlischer Vater ernährt sie doch«), zielt aber dann auf eine ent­
scheidende Wende, seine eigentliche Pointe: »Seid ihr nicht viel mehr
als sie?«
Was ist es, was uns Menschen von den anderen Geschöpfen unter­
scheidet? Davon ist von Anfang an die Rede: die Sorge, das Streben nach
mehr, schließlich die Angst vor dem Tod. »Wer ist unter euch, der seines
I ,ebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch da-

■ S D K Ci li T N I C. II T ! ■ [ M3 ]
rum sorgt?« Das Gleichnis zeichnet uns ein Bild vom Menschen, in dem
die Suche nach Sinn und Sicherheit, das Streben nach Wahrheit und
ewigem Leben das Eigentümliche des menschlichen Wesens ist. Die
christliche Wendung dieses Strebens heißt: »Trachtet nach dem Reich
Gottes und seiner Gerechtigkeit.« Das Eigentliche und Unterschei­
dende des Menschseins, so lehrt uns das Gleichnis und die ganze Bibel,
sein Streben nach Teilhabe am ewigen Leben, erhält durch den Ruf in
die Gotteskindschaft seine hervorgehobene Würde.
Es gehört doch wohl zu unseren allgemeinen Überzeugungen und Wer­
ten, wenn wir behaupten: Alle Menschen haben die gleiche Würde. Das
heißt nämlich: Ohne unser eigenes Zutun, vor aller Vorsorge und Mühe
sind wir Menschen schon ausgestattet mit dem, was unseren Anspruch
auf Achtung durch den anderen begründet, auch den Anspruch auf das
tägliche Brot. Dass diese Haltung - imabhängig von Glauben oder Be­
kenntnis - im Grundsatz anerkannt wird, ist gewiss edles andere als
selbstverständlich, weder historisch noch in der gegenwärtigen Reali­
tät. Und die daraus folgenden Übereinkünfte, wie etwa die Sicherung
des sozialen Existenzrechtes, stehen immer wieder zur Diskussion.
Dennoch gilt dieser Grundsatz als grundlegender Wert unserer politi­
schen Ordnung, steht er in unserer Verfassung allem voran. Der erste
Satz im ersten Artikel des Grundgesetzes lautet: »Die Würde des Men­
schen ist unantastbar.«
Das heißt: Wir sind überzeugt, dass die Würde etwas ist, was dem Men­
schen nicht genommen werden darf, unabhängig von seinem Tun und
Lassen, von seiner Herkunft, seinem Aussehen oder Glauben. Positiv
ausgedrückt: Es ist die menschliche Würde, aus der bei aller individuel­
len Verschiedenheit die grundlegende Gleichheit aller Menschen folgt.
Die Menschenrechte, politische und soziale Grundrechte, deuten auf
die überall gleichen natürlichen Grundbedürfnisse hin - zuerst und vor
allem sind sie jedoch der Anerkennung der Menschenwürde geschul­
det.
Wenn ich unter diesem Blickwinkel das Gleichnis von den Vögeln im
Himmel und den Lilien auf dem Felde wieder lese, bin ich überrascht,
dass sein Menschenbild keineswegs so weltfremd ist, wie es dem be­
rühmten »Realpolitiker« erscheint, der behauptet, dass man mit der
Bergpredigt keine Politik machen kann. Es gehört zu unseren grundle­
genden Werten, dass jeder Mensch immer als Zweck an sich und nie­
mals nur als Mittel zu betrachten ist. Das gilt für Männer wie Frauen
und fragt nicht nach Rasse und Hautfarbe. Ein Ausdruck des Glaubens
an eine vorgegebene unverfügbare menschliche Würde ist die Über­
zeugung, dass wir im Respekt vor anderen Menschen und Sichtweisen
der Offenheit, des gerechten Umgangs miteinander und der rationalen
Auseinandersetzung bedürfen. Wenn wir also glauben, dass die Freiheit
allen Menschen zugesagt ist, sind Menschenrechte und Demokratie
überall in der Welt möglich - und vor allem der Menschen würdig!
Erst also in der Verbindung von Entlastung und Verpflichtung, von Ein­
ladung zu fröhlicher Gelassenheit und Aufforderung zu menschenge­
mäßem Tun - so gelesen wird mir dieses wunderbare Gleichnis zum
Trost, begreife ich. Das allerdings ist dann nicht der billige Trost des »Es
wird schon werden«. Das ist kein Vertrösten, das die Leiden und Nöte
und Ausweglosigkeiten nicht ernst nimmt, ist keine Jenseitsvertrös­
tung. Es ist, so buchstabiere ich den Text, ein Trost, der standzuhalten
ermöglicht!

- S O R G I! T NICHT!- [ 145 ]
GOTT W IRD ABW ISCHEN ALLE
TRANEN VON IHREN AUGEN
K laus Berger

enn uns jemand die Tranen abwischt, dann ist das große, behüt-
W same Zärtlichkeit.
Eine Mutter wischt dem Kind die Tränen ab, wenn das Schlimmste
überstanden ist, wenn wie ein Silberstreifen am Horizont das Ende des
Unglücks in Sicht ist.
Wer die Tränen abwischt, hatte nicht selbst zu leiden, konnte aber auch
das Leiden nicht verhindern. Tränen abzuwischen ist ein ganz beschei­
dener Dienst. Eigentlich wird nichts bewirkt, nichts medizinisch oder
physikalisch Erhebliches.
Aber wie, wenn das Kind großen Kummer in der Schule oder auf dem
Spielplatz hatte und es kommt nach Hause und die Mutter weiß schon,
sie muss nicht erst fragen. Es ist wie ein geheimes Einverständnis. Das
Kind braucht jetzt nicht die Frage nach dem Warum und wer es heute
wieder war. Es muss nur in die Arme geschlossen werden, und die Trä­
nen werden abgewischt.
Die Mutter mischt sich nicht ein in das Leiden, in den Kummer. Sie
schimpft auch nicht und verweist auch nicht darauf, das Kind sei wohl
auch nicht unschuldig gewesen. Sie weiß schon, dass es immer ähnlich
verläuft auf dem Spielplatz. Immer das Gleiche. Und gerade dass sie
nicht fragt, ist das größte Stück Trost. Sie weiß schon.
Tränen abwischen geschieht ganz sanft, nicht gewaltsam. Allerdings
muss man etwas Stillstehen dabei und sie sich abwischen lassen. Sonst
geht es nicht. Schreien und zappeln darf man nicht. Aber oft schluch­
zen wir noch, wenn unsere Tränen getrocknet werden.

[ 146 ] «O TT WIRD A B W I S C I I K N A I. I. H T R Ä N E N
Tränen der ganzen Menschheit, von unermesslichem Leid. Es ist ganz
unvorstellbar, wie alle Kreatur leidet. Nichts davon wird in der Bibel be­
schönigt. Und Gott ist nicht derjenige, der mit dem Zauberstab alles
Leiden wegpustet. Keine falschen Hoffnungen wecken! Der Inhalt ge­
rade des letzten Buches der Bibel ist: Wir müssen da durch. Wir müssen
durch alles hindurch, wie durch eine Hölle.
Wir müssen da hindurch, durch die Folgen unseres Tuns und durch das,
was offensichtlich unvermeidlich ist. Ich weiß auch, dass all unser gu­
tes und notwendiges Bestreben darauf gerichtet ist, Leiden zu verhin­
dern und abzukürzen.
Aber aufs Ganze gesehen gelingt uns das kaum. So wie es uns nicht ge­
lingen will, die Nacht zum Tage zu machen. Selbst wenn wir nachts etwa
von einem Hügel aus über eine Großstadt blicken, so sind es doch im­
mer nur helle Punkte, die wir sehen können. Und wie die Medizinmän­
ner der Steinzeit stehen wir noch immer vor der Frage, wie man Regen
machen kann, etwa um die schrecklichen Dürrekatastrophen in Afrika
zu verhindern. Noch nicht einmal das Einfachste vermögen wir allzu
oft, ganz abgesehen davon, dass wir kein einziges grünes Blatt herstel-
len können. Und so viele Leiden hat unsere Leiden verkürzende Wis­
senschaft hervorgebracht. Und so ist auch die Ethik, die die Offenba­
rung des Sehers Johannes verkündet, leicht auf den einen Punkt zu
bringen: Hier eine halbwegs saubere Weste zu behalten - , weil wir so
wenig machen können.
All unsere Bemühungen in Ehren, aber wir müssen hindurch, und auch
unser Sterben nimmt uns niemand ab. Auch Gott befreit nicht einfach
von alledem. Kein Wunder jetzt und auch kein Schlaraffenland am Ende
verspricht unser Text. Das letzte Buch der Bibel ist ganz realistisch.
Keine Träne wird geleugnet. Nur dies: Wenn wir durch den dunklen
Tunnel hindurch sind, dann wird Gott wie einer sein, der uns die Ttä-
nen abwischt. Der um unser Leiden weiß und nicht fragen muss.
Neuer Himmel und neue Erde, das ist die neue Schöpfung, von der
schon der Apostel Paulus so bewegt gesprochen hat. Sie ist das Grund­
muster seiner Theologie. Nach Paulus beginnt sie schon jetzt, wo im­
mer der heilige Geist die Zertrennungen und Spaltungen überwindet,
die zwischen Gott und Mensch, im Menschen mit sich selbst und zwi­
schen Mensch und Mensch bestehen. Nach dem Seher Johannes gibt es
in der Gegenwart schon die Anwärter auf die neue Schöpfung, nämlich

(¡ OTT W IR D A R W I S C H E N ALLE T R Ä N E N [ 147 ]


die verfolgten Christen, die Drangsale und Martyrien zu überstehen ha­
ben. Der Seher Johannes nennt diese treuen Christen >Sieger<, ü b e r ­
winden, und auch 21,lff. endet in V. 7 mit einem Überwinder-Spruch:
Alles dieses, nämlich alles das, was Gott neu macht, wird jeder >Sieger<
erben. Vor allem wird die alte Sehnsucht Israels erfüllt: Gott wird ihm
Vater sein, und er wird ihm Sohn sein, und Gott wird bei ihm wohnen
(21,3 und 7). Diese im Alten Testament oft gebrauchte Erwartung nennt
man >Bundesformel<. Im Frühjudentum wird der Verheißung des Woh­
nens bei Israel bisweilen der Wunsch hinzugefügt >wie ein Menseln,
bzw. >als Menseln (Baruch 3,38/4,1). Bereits am Schluss jedes der sieben
Gemeindebriefe in Kapitel 2-3 stand ein derartiger >Überwinder-
Spruch<, und in farbenreichen Bildern wurde die Verheißung für jeden
Sieger ausgemalt, der in Treue widerstanden hatte.
Apk 21,4 wiederholt die Verheißung aus 7,17: Gott wird die Tränen ab­
wischen aus den Augen der Menschen. Und weiter: >Es wird keinen Tod
mehr geben< und keine dumpfe Trauer, keine Verzweiflungsschreie und
keinen peinigenden Schmerz. Mit diesen Adjektiven haben wir über­
trieben, denn Trauer, Geschrei und Schmerz wird es vielleicht doch ge­
ben, was wäre ein menschliches Leben, noch dazu ein orientalisch ge­
dachtes, ohne sie?
In Jerusalem als der Braut vom Himmel wird die Sehnsucht Jesu, des
messianischen Bräutigams sich erfüllen, der sich Bräutigam nennt, weil
er das neue Gottesvolk ersehnt. Das Judentum kennt diese Art messia-
nischer Erwartung nur an einer einzigen Stelle. Daher ist es eine kenn­
zeichnend christliche Art von Messianität, die sich in allen vier Evange­
lien, bei Paulus, im Epheserbrief und in der Offenbarung des Johannes
erhalten hat. Demnach wird der Messias bei seinem endgültigen Kom­
men die alte Ehe zwischen Gott und seinem Volk ersetzen durch eine
neue Ehe mit dem neuen, größeren Gottesvolk aus Juden und Heiden.
Diese Hoffnung spiegelt den erotischen Charakter, den die Botschaft
des unverheirateten Jesus von der Zukunft hat. Aus dem reichen Arse­
nal der Bilder, die ihm aus der Heiligen Schrift zur Verfügung standen,
greift er gerade dieses Bild von Braut und Bräutigam heraus. War nicht
schon sein erstes öffentliches Wunder nach dem 4. Evangelium das
Weinwunder bei der Hochzeit von Kana? Hatte nicht Jesus nach Mk 2
sein und der Jünger Weintrinken gerechtfertigt mit dem Bild der Vör-
hochzeit, die der Bräutigam mit den Jüngern in der Gegenwart schon

[ 148 ] GOTT WIRD ABW ISC HEN ALLE TRÄNEN


feiern darf? Erzählt Jesus nicht immer wieder Gleichnisse vom Hoch­
zeitsmahl, in denen der Sohn den Bräutigam spielt (Mt 22; 25,1-10)? Je­
sus findet offenbar Gefallen an diesem Gedanken, an dem Bild der
künftigen Hochzeit, denn auch sein Tod ist am besten zu verstehen als
Zeichen der Liebe für sein Volk, so wie die Gabe seines Leibes in der Eu­
charistie, und ist nicht der Weinbecher beim letzten Mahl ein >Requisit<
aus der Hochzeitsfeier, mit dem der Hochzeitsbund zeichenhaft darge­
stellt wird? Ganz sicher also geht es Jesus um die Liebe des Bräutigams,
die er auch dort zeigt, wo das Wort Bräutigam nicht fällt. Denn welche
leibhaftige Hingabe könnte intensiver sein als die des Bräutigams für
seine Braut? So gehören nach meiner Auffassung diese drei Stichwörter
in der Verkündigung Jesu zusammen: Liebe, Leibhaftigkeit und Ehe
(Bräutigam). Und wohl aus diesem Grund plädiert Jesus für die Unzer-
trennbarkeit der Ehe, damit das irdische Abbild der künftigen Wirklich­
keit als Anschauungsmaterial erhalten bleibt. Denn die eheliche Treue
ist ein Bild für die Treue Gottes, und zwar nicht nur irgendein Bild für
eine entfernte Sache, sondern das Bild für eine Wirklichkeit, die sehr
viel mit Ehe und Kindern zu tun hat. Sind nicht zuletzt deshalb Kinder
so wichtig in der Verkündigung Jesu? Wir haben gerade nachvollzogen,
wie man auf relativ unbekannte Seiten der Verkündigung Jesu stößt,
wenn man dem Bildfeld Braut und Bräutigam aus Apk 21 ein wenig
folgt.
Glücklicherweise spricht der Text nicht von utopischen Idealen, die wir
verwirklichen müssten, sondern von Gottes Stadt, in der wir endgültig
geborgen sein werden. Das ist die Alternative zu allen apokalyptischen
Schrecken. Daher ist unser Glaube an die unsichtbare Stadt der Glaube
an eine tiefe und endgültige Verbundenheit mit einem menschlichen
Gott. Alle unsere Haltlosigkeit ist nur Nichtgeborgenheit. Aber Gebor­
genheit wird nicht nur >rein innerlich< wahrgenommen. Auch sollen wir
durch diese Hoffnung nicht von edlem Leistungsdruck befreit werden.
Die Passiven und die in den Tag Hineinlebenden müssen nicht getrös­
tet werden, sondern die Handelnden, Menschen, die etwas Kostbares
bewahren möchten, und die Leidenden. Denn solche sind es, die fra­
gen: Ist alles, was wir tun, Bewahren und Leiden auf Dauer ohne Per­
spektive? Nicht Abwarten ist das Thema, sondern es geht um die viel
drängendere Frage nach einem Sinn. Und die Antwort ist: Nicht mit
dem Handeln sollen wir warten, sondern auf den Sieg müssen wir war­

liOTT WIRD A It W [ S C II I! N A I. I. li T R Ä N E N [ M9 ]
ten. Freiheit ist das heimliche Thema dieses Textes, aber nicht Freiheit
von der Leistung, sondern die Kraft, frei zu sein zum Opfer. Alles tun zu
können im Angesicht der Verheißung der zukünftigen Stadt.
Denn mit dieser Stadt ist eben überhaupt ein Ziel gesetzt, allem Nihi­
lismus zum Trotz. Darüber kann man staunen, und dieses Staunen
kann uns formen. Nicht um Machbares geht es, aber um die Kraft, die
aus dem Staunen und aus ein paar Gramm Hoffnung kommt. Und
wenn Gott alle Tränen von den Augen abwischen wird, dann geht es
nicht um Prinzipien, sondern um den menschlichen Gott, den Jesus, so
wie er war, verkündet hat. Denn wo die Alternative Haltlosigkeit oder
Nihilismus ist, darf man nicht mit unverbindlichen Weltanschauungen
spielen. Jesus spricht in die Richtung des Lebens aller. Daher das Bild
von der zukünftigen Stadt.
Die >Himmelskinder< dieser Stadt sind unter uns Liebe und Kreativität.
In diesem Sinne spricht der Apostel Paulus von der neuen Schöpfung
durch den Heiligen Geist und von den Gaben und Wirkungen eben die­
ses Heiligen Geistes in Gestalt von Liebe und »lügenden der Zurück­
nahme der Macht«. Man muss zugeben: Diese Gaben haben oft etwas
von unwirklicher Herrlichkeit und werden gerade deshalb geneidet und
unterdrückt. Oft sind sie ohnmächtig ausgeliefert wie kesse, mutige
Frühlingsblumen dem Frost preisgegeben sind, der unerwartet zurück­
kommt. Man kann dagegen protestieren, dass es immer wieder ge­
schieht, wie in fast allen Fällen, da man vom politischen Frühling
sprach. Ändern kann das nur die Macht und die schiere Wirklichkeit
dieser >Himmelskinder< selbst. Also die bewahrte und gehütete Un­
schuld reiner Liebe und großer Kreativität. Oft sind diese >Himmelskin-
der< wie Findelkinder, herumgestoßen und abgelehnt auf der Suche
nach Eltern, die sie wollen und die ihrem Temperament gewachsen
sind. Denn nicht um etwas Abgehoben-Religiöses geht es bei der
himmlischen Stadt, sondern um ein gerechtes und glückliches Mitei­
nander, bei dem Gott für immer alle Tränen trocknen wird.
Kommt nicht alle Haltlosigkeit daher, dass wir die Perspektive der zu­
künftigen, der himmlischen Stadt verloren haben? Apokalyptische
Schrecken drohen uns doch nur, wenn wir aus dieser Perspektive aus­
brechen, von dieser Straße abkommen, die auf sie hinführt. Aber die
Einheit ist früher als der Zweifel, die Liebe ist die Grundlage aller Wahr­
heit, das Dienen der Maßstab alles Wissens. Das will sagen: Wir müssen

[150] GOTT WIRD ABWISCHEN ALLE TRÄNEN


nicht erst konstruieren: Das, was Halt gibt, ist doch schon da. Und so ist
es auch mit dem Messias, dem Bräutigam: Auch er ist schon da. Er ist
schon der Sieger, er ist schon die Orientierung, und deshalb ist Hoff­
nung kein Vertrösten. Der Künder des neuen Tages ist als der Morgen­
stern schon da. Der Anfang ist schon gemacht, und von ihm gilt der
Satz: »Und j edem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und
der uns hilft, zu leben.«
Der Ort der romanischen Radleuchter, die das zwölftorige himmlische
Jerusalem darstellen, ist die Vierung romanischer Dome, und zwar di­
rekt hoch oben über dem Altar. Die Menschen, die Gottesdienst feiern,
tun das im Angesicht des Ziels des himmlischen Jerusalm. Dieser An­
blick tröstet im Vollzug des Gottesdienstes, denn in ihm ist nicht nur die
Gemeinschaft der Engel schon gegeben. Es steigt, wie die äthiopischen
Anaphora-Gebete sagen, auch das Lamm herab. Viel zu selten ist der
Versuch unternommen worden, Kirche von dieser Szenerie her zu
verstehen. So zum Beispiel das Amt - denn die zwölf Apostel sind die
Fundamente der künftigen Stadt. Alles apostolische Amt ist nur ein
schwacher Abglanz der erwarteten Vollendung. Und dieses Amt ist Fun­
dament und nicht Herrschaft. Kirche aber ist, so betrachtet, ein Ge­
meinwesen, eine Res publica, eine Öffentlichkeit fern jeder Kleinkrä­
merei und Spießigkeit.
Und wir fragen - »Gekleidet wie eine Braut, geschmückt für ihren
Mann« - hat das etwas mit unserer Kirche zu tim? Genauso kann man
fragen - »Jerusalem ist der Name der zukünftigen Stadt« - hat das etwas
mit Jerusalem zu tun? Wir werden solange ohne Antwort bleiben, wie
wir bei unserer heimlichen Gewohnheit bleiben, Jesus wegzulassen.
Mit ihm geht alles, ohne Um stürzt die Welt in den Abgrund. Denn er tritt
für uns ein.
Johann Baptist Metz, den ich mit diesen Zeilen ehren, erfreuen und er­
bauen möchte, ist einer der wenigen Zeitgenossen und Gesprächspart­
ner, der einen Geschmack für die Mystik der Sehnsucht in apokalypti­
schen Bildern entwickelt hat. So wie der Durst auf die Existenz von
Wasser weist.

G O T T W I R D AH W I S C H E N A 1. 1. I! T R Ä N E N [ 151 ]
> »MITTEN W IR IM LEBEN SIND MIT
DEM TOD UMFANGEN«
W olfgang H uber

b es einen Trost gibt, entscheidet sich im Angesicht des Todes. Ob


O wir getrost sterben können, zeigt, ob wir eines Trostes gewiss sind,
der stärker ist als der Tod. Früher als im Sterben selbst kann das keiner
wissen. Aber wir können alle darauf hoffen. Deshalb ist die Frage nach
dem Tod für die Frage nach dem Trost der ernsteste Fall.

I.

»Wir sind allesamt zum Tode gefordert, und da wird keiner für den an­
deren sterben, sondern ein jeder in eigener Person für sich mit dem Tod
kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss
für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht
bei dir sein noch du bei mir.«1
Der das sagte, war kein moderner Individualist, auch wenn es danach
klingen könnte. Der das sagte, war ein Theologe im 16. Jahrhundert.
Martin Luther formuliert so, am 9. März 1522, in der ersten seiner be­
rühmten Invokavit-Predigten.
Der Hintergrund ist schnell erläutert: Während Luther sich auf der
Wartburg versteckt hält, brechen in Wittenberg Unruhen aus, die zum
größten Teil mit der für viele Menschen unklaren Situation des neuen
religiösen Aufbruchs Zusammenhängen. Gegen den ausdrücklichen
Rat seines Kurfürsten verlässt Luther die Wartburg und steigt in Witten­
berg auf die Kanzel, erstmals am Sonntag Invokavit. Sieben weitere Pre-

[ 152 ] -MI TTEN WI R IM L E B E N SIND MI T DEM TOD UMFANGEN­


digten folgen, mit denen es Luther gelingt, den Ausbruch der Gewalt zu
beenden.
Typisch für Luther ist es, dass er nicht unmittelbar das Thema der Un­
ruhen vor Ort anspricht, sondern mit einer Kernfrage seiner Theologie
beginnt. Die Frage heißt: »Wie kann ich im Kampf mit dem Tode beste­
hen?« Luthers Verhältnis zum Tod ist also ein kämpferisches. Der Tod ist
bedrohlich. Der Tod ist mächtig. Der Tod ist eine Macht. Und zwar eine
Macht, die bekämpft werden muss. Es ist kein Zufall, dass Luther auf die
gewaltige Macht des Todes zu sprechen kommt, wenn es um die ganz
menschliche Gewalt in Wittenberg geht. Das hat etwas miteinander zu
tun.
Ein vorreformatorisches Kirchenlied hat dies so in Worte gefasst: »Mit­
ten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.«2 Es geht zurück auf die
Antiphon »media vita in morte sumus« aus dem 11. Jahrhundert. Das
heißt: Der Tod ist nicht nur etwas, das am Ende des Lebens auf uns war­
tet. Der Tod greift in das Leben ein. Er rückt uns schon nahe, wenn mit­
ten im Leben etwas endgültig kommt und kein Ausweichen zulässt. Im
Ende von Beziehungen. Wenn Lebenspläne zerbrechen. Im Aufmarsch
von Krankheiten. In Kammern voller Kummer. Im Scheitern. Oder, mit
den Worten Rainer Maria Rilkes3:

Der Tod ist groß.


Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

»Mitten in uns wagt er zu weinen.« - »Mitten wir im Leben sind mit dem
Tod umfangen.« Da ist kaum ein Unterschied zwischen der Lyrik des
20., des 16. wie des 11. Jahrhunderts. Große Dichtung hat sich nicht ge­
scheut, dies als eine Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, die die Zeiten
überdauert.

■ M I T T I! N W I K IM I. li It li N S I N D Ml T 1) I! M T O l ) 1 I M F A N G I! N > [ I 53 ]
II.

Christliche Theologie hat die Mächtigkeit des Todes immer wieder um­
kreist. Der Tod sei der Sünde Sold, erklärt der Apostel Paulus (Röm 6,21).
Nicht die Endlichkeit des menschlichen Lebens als solche, sagt er da­
mit, sondern die Bedrohlichkeit dieses Endes hängt mit der Selbstver­
krümmung des Menschen zusammen, die er Sünde nennt, jener Ab­
kehr von Glaube, Liebe und Hoffnung, die allein dem menschlichen
Leben eine klare Orientierung und eine Verheißung verleihen können,
die am Tod nicht zerbricht. Diese Vorstellung vom Tod als Macht be­
gleitet - bei allen Variationen und Verschiebungen, die hier nicht zu
erörtern sind - den menschlichen Umgang mit dem Tod. Der mittelal­
terliche Totentanz zeigt den Tod als unheimlichen Herrscher, der nach
dem Leben des Menschen greift, ohne dass es ein Entrinnen gibt. Diese
Vorstellung vom Tod als Macht erschließt eine besondere Wahrheit über
den Menschen. Vor dem Tod sind alle Menschen gleich. Ob Kaiser oder
Krüppel, ob Papst oder Jude: vom Tod wird jeder gleichermaßen ergrif­
fen. Diese Gleichheit der Verschiedenen vor einer letzten Instanz hat
Rückwirkungen auf den Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden.
Sie enthält einen untergründigen Zug zu demokratischer Egalität, zu
der Vorstellung, dass »ein Mensch eine Stimme« haben müsse.4 Und es
gehört nicht viel Phantasie dazu, sich umgekehrt deutlich zu machen,
dass der Gedanke, Einzelne könnten sich Unsterblichkeit kaufen, wäh­
rend die anderen der Sterblichkeit unterworfen blieben, auch mit der
Erwartung entsprechender Vorrechte verbunden ist, wie weit hergeholt
dieser Gedanke auch immer sein mag.
Doch kehren wir zurück zu dem Lied »Mitten wir im Leben sind mit
dem Tod umfangen.« Martin Luther hat dem Vorgefundenen Hymnus
zwei Strophen hinzugefügt. In einer dieser Strophen fragt er: »Wo solln
wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?« Das Gefühl der Bedroht-
heit kommt zur Sprache. »Wo bleiben?«, ist noch existenznäher gefragt
als »Was bleibt?«. Der Tod ist hier die härteste Probe. Wer auf die eine
Frage antwortet »Nichts bleibt«, und erst recht, wer auf die andere Frage
antwortet: »Nirgendwo«, spielt mit unabsehbaren Konsequenzen, ko­
kettiert am Rande des Abgrunds mit eben diesem Abgrund. Aber hart
am Abgrund gefragt werden muss schon, wenn tragender Grund ge­
funden werden soll, auf dem der Macht des Todes Paroli geboten wer­

[154) -MITTEN WIR IM LEHEN SIND MI T DEM TOD UMFANGEN-


den kann. Luther antwortet so: »Wo solln wir denn fliehen hin, da wir
mögen bleiben? - Zu dir, Herr Christ, alleine.« Er beruft sich auf das
Grunddatum des Glaubens: auf das Bekenntnis zum Tod des Todes.

III.

»Durch seinen Tod wird der Tod getötet«, sagt Luther wiederholt vom
Tod Jesu von Nazareth. Der Tod Christi wird als »Tod des Todes« ver­
standen. Das nötigt dazu, theologisch nicht allgemein, sondern kon­
kret, nicht abstrakt, sondern in einer unüberbietbaren Bestimmtheit
vom Tod zu reden. Unüberbietbar ist diese Bestimmtheit deshalb, weil
am Tod eines Menschen abgelesen wird, was vom Tod überhaupt zu sa­
gen ist, und weil am Tod dieses einen Menschen darüber hinaus abge­
lesen werden soll, wie Gott zum Tod des Menschen steht. Das erklärt,
warum die frühen christlichen Glaubensbekenntnisse diesem Zusam­
menhang so breiten Raum einräumen, einen im Verhältnis zur Kärg­
lichkeit ihrer Aussagen über das Leben Jesu geradezu üppigen Raum:
Von Jesus Christus sagen sie - beispielsweise in den Worten des Apos­
tolischen Glaubensbekenntnisses - , er sei »gekreuzigt, gestorben und
begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auf­
erstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.« Der Karfrei­
tagstod ist auf der einen Seite ein Tod wie jeder andere; das Todesge­
schehen selbst ins Unermessliche zu steigern - wie Mel Gibsons Film
»Die Passion Christi« das tut -, führt von daher eher in die Irre. Aber ge­
rade in seiner Verwechselbarkeit - zur gleichen Zeit starben auch zwei
andere am Kreuz, rechts und links von Jesus - gewinnt dieser Tod etwas
Einmaliges, weil Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert. An diesem
einen Menschen nimmt er dem Tod die Macht; an diesem einen Men­
schen durchbricht er den Zusammenhang von Sünde und Tod, von
Selbstverkrümmung des Menschen und Todverfallenheit. Und dies ge­
schieht, so bekennt es die Christenheit seitdem, allen Menschen zu
Gute. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort; darum kreist das christli­
che Bekenntnis zur Auferstehung Christi wie die Hoffnung auf eine all­
gemeine Auferstehung.
Würdigen kann man diese Wendung nur, wenn man sie nicht als selbst­
verständlich nimmt. Im Alten Testament ist die Vorstellung einer Aufer-

■MI T I HN WI K IM 1. I! H I! N S I N D Ml T D HM T OD UMFANGEN" [ I55 ]


stehung der Toten keineswegs geläufig. In frühen Texten wie beispiels­
weise dem 88. Psalm kommt deutlich zum Ausdruck, dass man damit
rechnete, mit dem Tode sei alles aus. Alles, sogar die Beziehung zu Gott.
Leben ist Beziehung, Tod Beziehungslosigkeit, das Ende aller Verhält­
nisse, auch des Gottesverhältnisses. Erst langsam kommt in den alttes-
tamentlichen Texten die Überzeugung zum Durchbruch, dass die
Macht und die Liebe Gottes auch mit dem menschlichen Tod nicht am
Ende sind. Diese Überzeugung übersteigt alle Erfahrung und ist des­
halb schwer in Sprache zu fassen. Spätere biblische Texte versuchen das
in Bildern zu sagen, zum Beispiel durch das Bild des Aufstehens vom
Schlaf. Aufstehen, oder - im Deutschen noch etwas intensiver - auf-er-
stehen, mit dieser Metapher versuchen alttestamentliche Beter und
prophetische Stimmen dann auszudrücken, was eigentlich unsagbar
ist: Es gibt ein Leben nach dem Tod. Das zwölfte Kapitel im Buch des
Propheten Daniel ist eines der herausragenden Beispiele. Dabei ist es
für alttestamentliches Denken deshalb besonders schwer, diese Hoff­
nung zum Ausdruck zu bringen, weil es von einem ganzheitlichen Bild
vom Menschen ausgeht. Es teilt den Menschen nicht in Leib und Seele
auf. Es sieht ihn vielmehr als leib-seelische Einheit. Auf ihn bezieht sich
der hoffnungsvolle Blick auf den Tod. Der Tod verliert seine Macht, in­
dem die Hoffnung über ihn hinausführt.
Im Neuen Testament gewinnt diese Hoffnung eine bestimmte Kontur.
Sie knüpft sich an den gekreuzigten Jesus. Von ihm bekennen die frühen
Christen: »Der Herr ist wahrhaftig auferstanden.« Unter Berufung auf
ihn hoffen sie auf »die Auferstehung der Toten und das ewige Leben«.
Sie fragen, wie Franz Kamphaus eindrucksvoll unterstrichen hat, nicht
nach einem anderen Leben, sondern nach der Bewahrung, Erneue­
rung, Vollendung dieses Lebens.5 Es geht beim Bekenntnis zum Aufer­
standenen und bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten nicht
um zusätzliche Bekenntnisinhalte und additive Glaubensleistungen,
sondern lediglich um das Vertrauen auf Gott. Nicht die Ewigkeit des
Geistes, die Unsterblichkeit der Seele, die Unzerstörbarkeit der Materie
oder der ewige Kreislauf der Natur werden hier in Anspruch genom­
men. Nur das Vertrauen auf Gott sucht Sprache. Menschen fragen, was
es bedeutet, dass sie ihr Vertrauen ganz und gar an den Gott hängen, der
sich in Christus offenbart hat. Auch was es für ihren Tod bedeutet, fra­
gen sie. Und die Antwort heißt: Er behält nicht das letzte Wort. Im

[156] -MITTEN WIR IM LEBEN SIND MI T DEM TOD U M E A NC , E N -


Grunde kommen alle theologischen Aussagen des Neuen Testaments
von dieser Überzeugung her: die Umkehr zu einem neuen Leben, die
Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft durch die Taufe, die
Rechtfertigung allein aus Glauben - und eben auch: die Auferstehungs­
hoffnung.
Freilich kann der Herrschaft des Todes nicht einfach die Wiederkehr des
Lebens entgegengesetzt werden, sondern nur ein neues Leben. Des­
halb muss auch mit der Auferstehung anderes gemeint sein als die
Rückkehr in das Leben. Das Neue Testament kennt eine solche Rück­
kehr in das Leben; die Auferweckung des Lazarus ist dafür das wich­
tigste Beispiel (Joh 11,1-45). Von ihr ist die Auferweckung Jesu deutlich
unterschieden. Es geht nicht um eine Rückkehr in das bisherige Leben.
Es soll nicht der Anschein erweckt werden, als sei nichts gewesen. Jesu
Tod am Kreuz ist nicht eine kurze Unterbrechung, nach der alles so wei­
tergehen kann wie zuvor. Das christliche Bekenntnis unterstreicht das
besonders durch den descensus a d inferos, den Hinabstieg in das Reich
des Todes. Deshalb hängt für die liturgische Erinnerung dieses Gesche­
hens und für seine Vergegenwärtigung im Kirchenjahr so viel daran, ob
man den Samstag zwischen den Tagen der Kreuzigung und der Aufer­
stehung als Karsamstag oder als Ostersamstag versteht, als Tag des Ver-
harrens unter der Todesgewalt oder als vorweggenommenes Osterfest.
Nur das erste wird dem inneren Sinn gerecht, in dem diese drei Tage -
Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag - sich zueinander verhalten.
Die von der Auferstehung des Lazarus unterschiedene Auferstehung
Jesu meint dann aber den Übergang in eine andere Sphäre, die der
raumzeitlichen Struktur enthoben ist. Mit dem Bekenntnis zur leibli­
chen Auferstehung bekennt sie sich zu einer Überwindung des Todes,
die auch die Leiblichkeit transzendiert.

IV.

Der christliche Glaube findet darin Trost, dass er den Tod als Inbegriff
menschlicher Zeitlichkeit ins Verhältnis setzt zur Ewigkeit Gottes. Er
rückt die Endlichkeit des menschlichen Lebens ins Licht der Unend­
lichkeit Gottes. Er kann dies, weil er sich auf die Leidempfindlichkeit
Gottes, auf seine Compassion verlassen kann.6 In ihr gründet das Ver-

- M I T T KN WI K I M I. Hi l l ! N S I N D MI T DKM TOD UMFANGEN" [ 157 )


trauen des christlichen Glaubens über den Tod hinaus, dem sich aller
Trost verdankt. In ihm gründet sich zugleich, wie Johann Baptist Metz
deutlich gemacht hat, das »Weltprogramm« des christlichen Glaubens,
seine Bereitschaft zum Handeln, so lange noch Zeit bleibt. Denn auch
dieses Handeln hat in nichts anderem seinen Grund als in der Leid­
empfindlichkeit Gottes; und es lässt sich deshalb von nichts anderem
leiten als von der Empfindlichkeit für das Leiden des Nächsten, von
Compassion.
Nicht um eine Verlängerung des irdischen Lebens geht es bei diesem
Trost, sondern um ein Geborgensein des irdischen Lebens in vollkom­
mener Gemeinschaft mit Gott. Dieses ewige Leben beginnt schon im­
mer dort, wo Menschen sich auf die Wirklichkeit Gottes einlassen, die
Liebe ist; und wo immer sie sich dieser Wirklichkeit verschließen, ge­
winnt der Tod Macht über sie. Auch für den, der meint, der Macht des
Todes schon entronnen zu sein, kann diese Macht doch wiederkehren.
Aber sie behält nicht das letzte Wort.

[158] -M I T T RN WI R IM L E B E N S I N D MI T D R M T O D U M F A N G RN-
> TROST AUS DER ZUVERSICHT
DES GLAUBENS
K a rl K a rd in a l Lehm ann

n letzter Zeit wurde in der öffentlichen Diskussion das menschliche


I Leid und seine Bewältigung immer wieder in den Vordergrund ge­
rückt. In der bioethischen Diskussion, vor allem um den Import em­
bryonaler Stammzellen, wurde die mögliche Linderung von Krankheit
und Leid als ein Argument ins Feld geführt. Viele glauben, die Errun­
genschaften der modernen Biomedizin könnten in einem sehr hohen
Maß Leid und Schmerz vermindern oder gar beseitigen. Es besteht kein
Zweifel, dass gerade der Christ alles vermeidbare Leiden verhindern
muss. Darum geht unser Kampf gegen Krankheiten, Seuchen und Un­
gerechtigkeit. Aber es gibt auch viel unsichtbares Leid, das Menschen
einander von der Rücksichtslosigkeit über die Ausbeutung bis zur Tö­
tung zufügen. Außerdem bleibt ein Rest von offensichtlich unvermeid­
lichem Leid, das sicher mit den Grenzen des Menschlichen zusam­
menhängt, gewiss auch mit den Folgen der Ursünde und der Schuld,
der Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen.
So denken wir auch an das Leid, das etwa durch Naturkatastrophen auf
uns zukommt. Besonders augenscheinlich wurde dies, als im Dezem­
ber 2004 die Flutkatastrophe von Südostasien, der Tsunami, Hundert­
tausende von Menschen in den Tod riss. Dies war in unserer hochtech­
nisierten Welt, in der so vieles »machbar« erschien, ein besonderer
Schock, und die Frage nach dem Leid stellte sich konkret neu, vielmehr:
die Frage nach Trost in dieser Zeit. Die Welt trauerte mit, denn überall
herrschte Fassungslosigkeit und Entsetzen gegenüber dem fast unvor­
stellbaren Ausmaß dieser Katastrophe. Sie hat uns auch besonders des­
halb getroffen, weil wir kaum Erklärungsmöglichkeiten haben. Es gibt

T K <) S T All S 1) 1; R Z II V li R S IC H T O E S ÜLAII B ENS [ 159 ]


keine kriminelle oder politisch motivierte Ursache, die auf Menschen
zurückgeht, wie am 11. September 2001. Wir können nicht einmal sa­
gen, dass die Katastrophe auf einem Fehlverhalten der Menschen im
ökologischen Sinne beruht. Die Macht der Natur hat die Menschen in
Südasien und weit darüber hinaus bis an die Küsten Afrikas geradezu
schicksalhaft überwältigt. Darum stehen wir zunächst besonders ohn­
mächtig und hilflos vor dieser Urgewalt aus der Tiefe des Indischen
Ozeans. Die elementare Wucht der Naturgewalten gibt uns keine Erklä­
rung und schenkt uns keinen Trost, macht uns sprachlos.
Dies ist ein Schock für unsere heutige Zivilisation. Wir haben die irdi­
schen Kräfte vor allem durch Wissenschaft und Technik so zu beherr­
schen und umzugestalten gelernt, dass wir wirklich im Übermaß glaub­
ten, wir seien die »Herren und Besitzer« (Descartes) der Natur. Jetzt
müssen wir zunächst wehrlos eine Naturkatastrophe hinnehmen, die
uns bei all unseren Leistungen und dem bewundernswerten Können in
unserer Endlichkeit, Armut und Sterblichkeit entlarvt. So sind wir Men­
schen auch des 21. Jahrhunderts verwundbarer, als es der verbliebene
Rest eines Fortschrittsglaubens vermittelt. Deshalb rücken wir durch
eine solche Flutkatastrophe nicht nur stärker in der weltweiten Anteil­
nahme an diesem Drama zusammen, sondern wir werden auch an eine
uralte Geschichte des Unheils erinnert: Die Bibel hat wie auch andere
Religionen und Mythen die Erzählung von der Sintflut aufbewahrt und
dadurch die zerstörerische Kraft von Katastrophen, besonders im Blick
auf die Kräfte des Wassers, angemahnt.
Auch in der Neuzeit gibt es ungeheuere Tragödien. Als im Jahr 1755 zwei
Drittel von Lissabon mit mindestens 30.000 Toten durch ein Erdbeben
verwüstet worden sind, als kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges die
Stadt Dresden mit 35.000 identifizierten Opfern durch einen Bomben­
hagel zerstört wurde, als am 6. und 9. August 1945 in Hiroshima und Na­
gasaki die ersten Atombomben 100.000 Menschenleben kosteten und
im Jahr 1991 die Überschwemmung des unsäglich armen Bangladesch
wiederum 100.000 Opfer forderte, da haben die Menschen immer wie­
der auch für sich selbst das Ende der Welt nahegefühlt. Darum sprechen
wir nicht zufällig von einem apokalyptischen Ausmaß einer solchen Ka­
tastrophe.
Heute ist die Weltgemeinschaft durch die modernen Kommunikations­
mittel und die Globalisierung noch dichter zusammen gerückt. Auch

[l6o] TROST AUS DER ZUVERSICHT DES GLAUBENS


wenn die Katastrophen weit entfernt geschehen, sind sie durch die m o­
dernen Medien im Nu in unseren Wohnzimmern. Gerade dadurch
kommt uns die Katastrophe zum Beispiel des Tsunami in Südostasien
anders als früher auch so einmalig vor.
In einer solchen Ratlosigkeit suchen die Menschen nach einem verbor­
genen Sinn. Auch Menschen, für die der Glaube im Alltag keine große
oder keine Bedeutung besitzt, fragen, warum Gott, von dem plötzlich
alle reden, so etwas »zugelassen« habe. Man kann aber gerade in dieser
asiatischen Zerstörungswelle nicht so schnell Sündenböcke entdecken.
Vielleicht flieht man deswegen rasch zu einer alles bestimmenden Ur­
sache. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Es ist unverständliches Leid,
ohne jede erkennbare Schuld. Dies macht die Herausforderung und das
Rätsel noch größer. Es gibt nicht nur das moralische Übel, das wir noch
eher bekämpfen können, sondern es gibt in unserer Welt auch grundle­
gende Unvollkommenheiten, Mängel und Fehler. Wir sitzen auch sonst
viel mehr, als uns bewusst ist, auf einem gefährlichen Vulkan, der noch
längst nicht zur Ruhe gekommen ist. Jetzt sind wir jäh aus den Täu­
schungen aufgeweckt worden. Wie selten spüren wir die Wahrheit des
Buches Kohelet: »Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter
dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und
eine Zeit zum Sterben.« (Koh 3,lf.)
Lange hat man sich besonders im theologischen Denken gegenüber
dieser grundlegenden Rätselhaftigkeit durch die Annahme zu helfen
versucht, das Übel und das Böse hätten schon einen uns eben jetzt noch
entzogenen Sinn, der sich erst später in einer höheren Harmonie auf­
löse und enthülle, in die jetzt nur Gott selbst Einsicht habe. Manche
dachten auch an eine bei der Vollendung der Welt und der Geschichte
geschehende Allversöhnung.
So können wir nicht mehr denken. Dazwischen steht vor allem die Er­
fahrung mit zwei Weltkriegen, besonders aber mit Auschwitz und dem
Holocaust. Es gibt eben unsägliches, durch und durch unverständliches
Leid. Man kann es im Grunde auch nicht mehr verstehen, denn jedes
Verstehen hat immer auch etwas von Rechtfertigung an sich. Dennoch
fragen wir, vielleicht sogar ganz verzweifelt. Diese Fragen darf man
nicht unterdrücken oder sie mit spekulativen Antworten beschwichti­
gen. Schon das Alte Testament bezeugt hier eine radikale Ehrlichkeit.
Dort ist zum Beispiel der plötzliche Tod eines jungen Menschen ein

TH O S T AUS l)lil< Z II V I! K S I C II T I) II S (i I. A II H li N S [ l 6l ]
Skandal, auf den es keine Antwort gibt. Ja, Ijob schleudert sogar Gott
selbst harte Fragen und Anklagen entgegen: »Hast du die Augen eines
Sterblichen, siehst du, wie Menschen sehen?« (10,4). Oder mit Ps 77:
»Hat seine Huld für immer ein Ende, ist seine Verheißung aufgehoben
für alle Zeiten? Hat Gott seine Gnade vergessen, im Zorn sein Erbarmen
verschlossen?« (77,9f.). Schließlich wird die Klage um den Verlust ge­
rade zur Anklage Gottes selbst. Der Fromme, der sich auf Gott verlässt
und ihm vertraut, rechtet mit ihm. Die Literatur und die ganze Kunst
haben sich dies über Jahrhunderte zu eigen gemacht, besonders wenn
es um das Leid und Leiden von unschuldigen Kindern geht. Viele sind
gewiss bis zum heutigen Tag darum am Glauben gescheitert. Jedenfalls
liegt hier eine tiefgreifende Anfechtung und Gefährdung des Glaubens.
Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Übel in der
Welt erscheint in der Tat wie ein »Fels des Atheismus« (G. Büchner, Dan -
tons Tod, 3. Akt). Und überall tauchen die Fragen auf, ob bei F. M. Dos-
tojewskij, A. Camus oder W. Borchert: Wo warst du, lieber G ott... in Sta­
lingrad, in Auschwitz und in Khao Lak? Sogar Papst Benedikt XVI.
spricht diese Fragen an, als er bei seinem Besuch in Auschwitz sagt: »An
diesem Ort kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen -
Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du ge­
schwiegen? Warum konntest du dies alles dulden? In solchem Schwei­
gen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die
hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind; dieses Schwei­
gen wird dann doch zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung, zu
einem Ruf an den lebendigen Gott, dass er solches nie wieder gesche­
hen lasse.«1
Der christliche Glaube weicht diesem Rätsel des Übels nicht aus.
Schließlich finden wir im Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz einen Höhe­
punkt der Unfasslichkeit: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?« (Mt 27,46, Zitat von Ps 22,2, vgl. auch das Gebet im Garten
Getsemani: Mt 26,36-46, bes. 39ff.). Der Karfreitag zeigt uns nun, dass
Gott selbst das Leid nicht einfach ignoriert und abgeschieden von allem
Schmerz über uns tfiront, sondern dass Gott in Jesus Christus mitten im
Leiden ist. In seiner Sendung liegt es zweifellos auch, Leid und Leiden
unter den Menschen zu verhindern. Dies gilt auch für den leiblichen
Bereich. Darum heilt er Kranke edler Arten. Er stillt den Hunger und hält
die Menschen an, durch Umkehr zu einem anderen Leben grundsätz-

[ IÖ2 ] TROST AUS D F R ZUVERSICHT UES GLAUBENS


lieh das Böse zu meiden und den Anfängen zu wehren. Dennoch gibt es
auch für Jesus Leid und Leiden. Er erfährt in ganz besonderer Weise
rohe Gewalt und wird regelrecht zum Mann der Schmerzen. Auch hier
zeigen sich viele Ursachen für Leid und Leiden, sofern sie nicht phy­
sisch bedingt sind: Abneigung, Hass, Neid, Vernichtungswille. Jesus
geht mit dem Leid so um, dass er es von innen her trägt und besiegt. Er
geht davon aus, dass jeder täglich sein Kreuz zu tragen hat. Bei allem
Willen zur Vermeidung von Leid und Leiden dürfen wir nicht der Illu­
sion erliegen, es würde in dieser Zeit eine vollkommene Befreiung von
jedem Leid stattfinden können. Wir bekommen auch nicht eine - uns
wenigstens voll zufriedenstellende - Antwort auf unsere Frage nach
dem »Warum«.
Ich finde darum auch keine andere Antwort als im Blick auf das Kreuz.
Gott selbst ist Mensch geworden und hat bis zum grausamen Tod am
Schandpfalfi, dem schändlichsten Tod der alten Welt, unser Mensch­
sein geteilt und am eigenen Leib erfahren. Er, der Gerechte schlechthin,
hat das größte Unrecht erlitten. Wir glauben jedoch, dass er durch die­
sen Abstieg in die äußerste Finsternis, indem er das Leid der Welt er­
fahren und ertragen hat, uns zugleich davon befreit und erlöst hat. Frei­
lich wissen wir, dass auch nach seiner Auferstehung viele Anfechtungen
bleiben. Dies erleiden wir spürbar und leibhaftig. Es fällt uns schwer,
daran zu glauben, dass Tod und Zerstörung nicht das Letzte sind. Aber
»wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt
und in Geburtswehen liegt.... wir sind gerettet, doch in der Hoffnung«
(Röm 8,22.24a). Ich weiß, dass Katastrophen, die wir erleben, in unse­
rem persönlichen Leben, aber auch in den weltweiten Dimensionen,
wie sie uns die Medien vermitteln, alle diese Worte in der konkreten Si­
tuation zu Boden drücken und entlarven können. Aber dies ist die
Größe des Glaubens, dass er auch in einer solchen Situation Widerstand
leistet gegen eine letzte Verzweiflung und uns seit alters zu der Aussage
in unserem Glaubensbekenntnis führt: Ich glaube (...) das ewige Leben.
Vor diesem Hintergrund hat Paulus, der viel weiß vom Leid und vom
Kreuz, den Mut, uns beinahe triumphal zuzurufen: »Was kann uns
scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung,
I lunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?« (Röm 8, 35).
Wir rücken gerade im Leid in der Menschheit enger zusammen. Das ha­
ben die Beispiele gezeigt, ökonomisch stecken wir mitten in einem gro­

THOST Al i s I) i: K z II V li K S I ( II T DES (¡1. Al l H U N S [163]


ßen Globalisierungsprozess. So haben wir auch in solchen Extremfällen
wie einer Naturkatastrophe die Chance, dass wir im Sozialen und Hu­
manitären globaler denken und empfinden. Dann wären wir auf dem
rechten Weg zu mehr weltweiter Solidarität. Dann könnte man mit ei­
ner solchen Katastrophe, wie wir sie beim Tsunami erlebt haben, ein­
mal eine neue Epoche zu zählen beginnen. So sind wir mitten im Un­
heil gemeinsam nicht so hilflos.
Die Vorfahren im Glauben haben durch die Jahrtausende hindurch ge­
wusst und gespürt, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind.
Aber selbst in tiefer Trauer möchte ich uns und allen Leidenden welt­
weit die Erfahrung wünschen, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Das
ist die Zuversicht aus dem Glauben; ein Trost, der uns auch in schweren
Zeiten tragen kann: »Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen« (Ps
23,1). »Würde ich sagen: >Finsternis soll mich bedecken, statt Licht soll
Nacht mich umgeben<, auch die Finsternis wäre für dich nicht finster,
die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.«
(Ps 139,1 lf.)

[ 164 ] T R O ST A 11 S 1) 1: R Z U V E R S IC H T DES G I. A U H E N S
> DIE »SIEBEN WORTE JESU
AM KREUZ«
Norbert A rntz

er Gefahr als Kreuzesreligion zur Wohlstandsreligion zu werden,


D müssen wir ins Auge sehen. Denn wenn wir ihr wirklich verfallen,
dienen wir schließlich keinem, nicht Gott und nicht den Menschen« -
hatte Johann Baptist Metz der Kirche in der Bundesrepublik ins
Stammbuch geschrieben, als er 1974 für die Würzburger Synode die
Vorlage zum Beschluss »Unsere Hoffnung« erarbeitete (vgl. Teil III. 1.).
Die Wohlstandsreligion tröstet nicht, weil sie auch nicht mehr befreit.
Darum lasst uns den Gott des Lebens dort suchen, wo Gott selbst sich
finden lässt: Unter den Gekreuzigten der Geschichte. Der Gekreuzigte
von Golgatha verweist uns an die Gekreuzigten von Geopolitik, Bör­
senspekulation und Rüstungsindustrie; die Gekreuzigten unserer Tage
offenbaren uns die Gegenwart des gekreuzigten Jesus. Die gekreuzig­
ten Völker verhindern, dass unser Glaube an den Gott des Lebens ideo­
logisch im Sinne der Wohlstandsreligion missbraucht werden kann.
Die Gekreuzigten stehen uns vor Augen im Kreuz Jesu. Sie haben uns
etwas zu sagen - wie der gekreuzigte Jesus. Jesu Sieben Worte am Kreuz
werden zur Botschaft der gekreuzigten Völker von heute. Was Gott ver­
bunden hat, dürfen wir Menschen nicht trennen: Christus und die Be­
freiung der Gekreuzigten.

VATER, VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN

Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung geführt.
Sie kamen zur Schädelhöhe: dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den

d m : . s i k ii i; n « u i i t i ; j i : s 11 a m k k i: uz- [ 165 ]
einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,32-34)

Die Henker wissen nicht, was sie tun,


ihre Hintermänner wissen nicht, was sie tun.
Alle, die sich ans Unrecht gewöhnen, die sagen:
Was können wir da schon machen!
Sie alle wissen nicht, was sie tun.
Die Gewöhnung ans Unrecht bringt den Geist um Sinn und Verstand,
hält die Wahrheit nieder (vgl. Röm 1,18),
macht das Unrecht zur Wahrheit
und die Lüge zum Recht.
Dann wissen wir eben nicht mehr, was wir tun.

Wir wissen nicht mehr,


dass wir unsere eigene Seele auf Eis legen,
wenn wir uns an Unrecht gewöhnen.
»Sie kennen die Rechtschaffenheit nicht - Spruch des Herrn -,
sie sammeln Schätze in ihren Palästen mit Gewalt und Unterdrü­
ckung.« (Arnos 3,10)
Wir wissen nicht mehr, dass wir selbst zugrunde gehen,
wenn wir andere zugrunde gehen lassen
und das auch noch religiös übertünchen.
Dann verwechseln wir den Gott des Lebens
mit den Götzen des Todes.
Überall, wo Menschen geopfert werden, sind Götter im Spiele.
Die Götter des Nationalismus, des Imperialismus,
die Götter der Nationalen Sicherheit,
die Götter der freien Marktwirtschaft.
Diese Art von Religion dient als mystische Hinterwelt
von Krieg und Markt.
Darin glauben die Menschen,
sie könnten sich mit Gott gut stehen,
auch wenn sie dabei über Leichen gehen.

Aber wenn sie mit Gott ihr Geschäft machen, rechnen sie nicht mit
dem Gott Jesu.

[l66] DIE • S I K H KN W O R T K J I i S II AM KREUZ*


Der Schmerzensmann und die Gekreuzigten entlarven die Religion
des Todes.
»Unrecht und Gottesdienst ertrage ich nicht.
Eure Feiertage sind mir in der Seele verhasst.« (vgl. Jes l,12ff.)
Sünde wider den Heiligen Geist ist es,
wenn Menschen sich daran gewöhnen, über Leichen zu gehen.
Der Schrei des Schmerzensmannes will uns aufwecken
zur Wahrheit:
dass Gott an der Seite der Opfer zu finden ist!
Damit wir nicht zugrunde gehen - ohne Gebet und Vergebung.
Wenn wir beten wie er, sagen wir nicht: So ist es halt, amen!
Wenn wir beten wie er, sagen wir vielmehr:
So ist es halt, aber so soll es nicht bleiben!
Wir beten, damit wir doch noch zu wissen lernen, was wir tun:
das Leben als das Licht der Wahrheit erkennen,
die Anpassung an Unrecht als Lüge sehen,
die den Tod bedeutet - schon jetzt.
»Vater, gib, dass wir wissen, was wir tun.«

HEUTE NOCH WIRST DU MIT MIR IM PARADIESE SEIN

Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht
der Messias? Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zu­
recht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Ur­
teil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten;
dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Dann sagte er: Jesus, denk an mich,
wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Heute noch wirst du
mit mir im Paradies sein. (Lk 23,39-43)

Das Paradies jetzt


- für einen Kriminellen,
vielleicht einer von den vielen,
die gegen das herrschende Unrecht kämpfen.
Das Paradies für einen Gehenkten,

D ili -S lliltliN W O K 'r !•: J !•: S II AM KKlitIZ- [ 167 ]


nicht für Etablierte,
nicht für Honoratioren in Kirche und Gesellschaft,
Jesus in schlechter Gesellschaft - sogar im Paradies.
Galgenvögel um ihn herum, Ausgegrenzte jeder Art,
Typen, die wir alle kennen -
aus Polizeiregister und »Aktenzeichen XY«.
Ein solches Paradies? - Nein danke.
Kriminelle gehören ins Kittchen, nicht ins Paradies.
Bei Paradies denke ich an die Karibik-
wie die Werbung empfiehlt:
»Kommen Sie mit,
raus aus dem deutschen Schmuddel-Wetter,
hinein in das sonnenüberglänzte Traumparadies der Karibik«.
»Denn in der Bibel steht, wohin wir gehen.
Im neuen Flugplan, wohin wir fliegen.
Irdische Paradiese verheißt unser neuer Winterflugplan«.
Das Paradies für mich statt für iille,
jede und jeder sucht es für sich, der Markt für uns alle.

Doch selbst der karikierte Traum vom Paradies beweist noch,


dass wir nicht so fest in unserer Haut eingeschlossen sind,
als es scheint.
Wer den Himmel auf Erden noch erträumen kann,
wird die Hölle auf Erden für überwindbar halten.
Der Gekreuzigte verwandelt das Paradies
in die Unmöglichkeit zu morden.
Sein Gott ist jenseits des Systems,
in dem der Mensch des Menschen Wolf ist,
in dem den Letzten die Hunde beißen.
Sein Gott stellt sich unter die Letzten.
Von den Unterdrückten aus fordert Gott Gerechtigkeit
und bricht mit dem bürgerlichen Um-sich-selbst-Kreisen.
»Sorgt euch nicht um euer Leben.
Sorgt euch zuerst um Gottes Reich.« (vgl. Mt 6,25.33)
Gott im Anderen
weckt Gott in mir.
Das Unendliche im Endlichen,

[ 168 ] I) I K ■ S I H H H N W O R T H J H S U AM K R 1! II Z ■
Güte wird durch Gutsein nicht erfüllt, sondern vertieft.
Dies ist die Religion Jesu.

SIEHE DEIN SOHN! SIEHE DEINE MUTTER!

Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu sei­
ner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine
Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (Joh 19, 26-27)

Die an der Seite der Opfer stehen,


sind ihm Mutter und Bruder.
Das treue Israel - an der Seite der Opfer.
Die neue Jesusgemeinde - an der Seite der Opfer.
Beide brechen mit Tempel, Bank und Gesetz,
suchen einander als Geschwister,
das treue Israel - die Mutter -
und die neue Gemeinde - der Sohn -.
Sie sollen künden,
damit für die Opfer zu hören ist,
dass Gott sich nicht gegen sie wendet,
auch wenn Tempel, Bank und Gesetz an den Rand des Grabes drän­
gen.

Eine nicht ungefährliche Herausforderung.


Denn wer die Götter des Landes nicht anerkennt,
akzeptiert auch die Herren nicht.
Wer die Staatsreligion ablehnt, ist automatisch Staatsfeind.
Und wer dem Gott Jesu folgt, macht die Sache noch schlimmer;
denn mit dem Namen dieses Gottes ist Unruhe, ja Aufstand verbun­
den.

Der Aufstand ändert die Praxis von Auge,


Hand und Fuß zugunsten der Gedemütigten,
befreit aus Beamten-, Priester- und Bankiersherrschaft.
In neuer Praxis wird Unendliches erfahren.
Wir sind mehr, als wir uns dachten: Gott in uns.

i> i >■: •s 11; h i; n wo kt i: 11: s 11 am kr k uz- [ 169 ]


Der Mensch - die Medizin des Menschen.
Es gibt keinen anderen Trost als neue Liebe, als neue Solidarität.
Wenn die Kälte einbricht, hilft nur neue Wärme.
Wenn der Tod einen Sieg errungen hat,
wird gegen ihn die Zärtlichkeit
wieder für das Leben auferstehen und kämpfen.

Daran sind alle, die Jesu Beispiel folgen, zu erkennen.


Sie werden tun, was er getan,
ja, Größeres als er werden sie tun (vgl. Joh 14,12),
wenn sie sich miteinander gegen den Tod verbünden:
gegen den Tod des Totschweigens,
desVergessens,
des Ausgrenzens,
des Überflüssigmachens,
des Davonlaufens,
der Resignation »Da kann man doch nichts machen!«
Kein anderes Erbe hat Jesus uns hinterlassen als das Bündnis fürs
Leben
- gegen den Tod.

MEIN GOTT, MEIN GOTT, WARUM HAST DU MICH VERLASSEN?

Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 27,46)
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem
Schreien, den Worten meiner Klage? (Ps 22,2)

Schrei des im Stich gelassenen Menschen.


Schrei der Gefolterten.
Schrei der als Ketzer und Hexen von den Christen Verbrannten.
Schrei der von christlichen Conquistadoren Unterworfenen,
Schrei der Sinti und Roma,
der vergasten Juden und Homosexuellen.
Schrei derer,
die im Namen des christlichen Abendlandes geopfert werden.

[ 170 ] DIR -SIEBEN WORTE JESU AM KREUZ-


Unvorstellbar:
wenn jene, die sich auf einen Ausgestoßenen berufen,
selbst ausstoßen und vernichten.
Schrei in den Kranken- und Sterbezimmern.
Schrei - millionenfach wiederholt.
Hinausgeschrieen durch das Volk in der Wüste der Städte.
Gemurmelt auf dem Bahnhofsabort,
wenn der Schuss nicht reicht oder zum Goldenen wird.
Schrei der Angst, dass alles sinnlos war, dass alles sinnlos wird.

Warum nur kann es nicht anders sein?


Warum nur den Kelch bis zur Neige trinken müssen,
den Kelch der gequälten Kreatur?
Jesus kann nicht mehr »Abba« - »Lieber Vater« sagen.
Jener Gott, der versprach, immer da zu sein - ist nicht da.
Der Verfluchte schreit »Mein Gott«.
Er ruft nach dem Gott der Verfluchten.

Jesu Schrei - ein Gebet, ein Psalm, der zuversichtlich endet:


»Er wird mir das Leben geben!« (vgl. Ps 22,30)
Vor dem Bild des Schmerzensmannes dämmert uns:
»Der Herr, an den wir glauben, geht niemals auf die Jagd.
Aber das sagt noch viel zu wenig,
er steht vielmehr immer aufseiten des Wildes, ja er ist das Wild.« (Jean
Cardonnel)

Der Gott Jesu entlarvt Gewalt, Tod und Vernichtung,


die christliche Kirchen gesät haben,
jenes Christentum, das den Namen Christus noch beansprucht,
Christus selbst aber längst verlassen hat,
weil es vergaß, dass Christus ein Opfer der Gewalt wurde.
Eine Kirche, die mit den Wölfen heult,
mag irgendeine Kirche sein, irgendeine Religion,
sie ist nicht die Kirche Jesu Christi,
sooft sie ihn auch im Munde führen mag.

1111 : ■ S I I: It li N W O IU' I: | li S II A M KREUZ« | 171 ]


Nein, der Gott des Lebens hat die Verfluchten
von Golgatha und Wallstreet nicht verlassen.
Wo das Leben des Menschen verletzt wird,
da wird Gottes Ehre getroffen.
»Ich habe den Schrei meines Volkes gehört!« (Ex 3,7)
Ins Recht gesetzt hat er denVerfluchten, ihm neues Leben gegeben.

MICH DÜRSTET

Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die
Schrift erfüllte: Mich dürstet. (Joh 19,28)

Durstige Seele im geschundenen Leib.


Müde vom Rufen, trocken die Kehle.
Für den Durst reichen sie Jesus Essig statt Wasser.
Es genügt nicht, dass sie ihn hinrichten.
Sie müssen ihn auch noch quälen.
Grundlos hassen sie ihn (vgl. Ps 69,5; Ps 22).
»Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben.«
(Joh 19,7)
Religiöse Gesetze nehmen die Stelle ein,
die der Praxis von Gerechtigkeit zukommt.
»Im Anfang war das Wort«, aber wir haben es nicht gehalten.
Wo Gott den Höhenflug der Liebe geschaffen, da reden wir vom Sün­
denfall.
Wo Gott sagt, dass sündigt, wer unfähig ist zur Liebe,
da verstehen wir, dass sündigt, wer liebt.
Wo Gott die Erde als Garten für alle gewollt,
da breiten wir die Wüste aus.
Wir vertrösten noch die Seelen,
lassen aber nicht mehr hoffen auf das, was sein soll.
Unser Gesetz ist zu Essig geworden.
Das Gesetz verbietet zwar zu töten,
aber jetzt rechtfertigen wir mit ihm den Mord.
»Die Seinen nehmen ihn nicht auf.« (Joh 1,11)
So erfüllt sich das Wort, das in ihrer Schrift steht (vgl. Joh 15,25).

[172] OIE »SIEBEN WORTE JESU AM KREUZ*


Aber nicht einmal jetzt verdammt er jene, die nicht wissen, was sie
tun.
Keine Rachegefühle.
Seine Liebe wird vom Hass nicht besiegt,
die Liebe des Vaters nicht dementiert,
damit der Mensch nicht verloren geht.
Im grenzenlosen Hass grenzenlose Liebe,
ein Zeichen gesuchter Nähe, Treue zum Menschen - bis ans Ende.
Das ist Gottes wahres Bild und Gleichnis - Gott im Menschen.
Nicht zu stillender Durst nach Leben und Gerechtigkeit,
stärker als der Tod.

VATER, IN DEINE HÄNDE LEGE ICH MEINEN GEIST

Und lesus rief laut: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. (Lk 23,46a)

Wenn Menschenhände töten, bleiben Gottes Hände;


die können alles, nur nicht töten.
Gottes Hände schaffen Leben.
Es sind die entdeckenden Hände des Kindes,
die zärtlich-liebkosenden Hände der Frauen,
die zärtlich-liebkosenden Hände der Männer.
Es sind die rauen Hände von Bauern,
die schwarzen Hände der Kumpels,
die zerstochenen Hände der Näherinnen in den Maquilas von
Guatemala,
die erlahmenden Hände der Schmerzensmutter von Gaza und
Bagdad,
von Darfur und Chiapas.
Alles tun diese Hände, nur nicht töten.
Aus Nichts erschaffen sie, was ist,
den Tod bekämpfen sie mit Zärtlichkeit,
den Hass verwandeln sie in Liebe,
Frieden säen sie, um Leben zu ernten.
Solchen Händen vertraut der Sterbende sich an,
mit seinem Leben,

i> 11; ■ s 11; it !■: n w o r t i; j i -: s ii am k r i: u z . [ 173 ]


mit seinen Leben spendenden Worten,
mit seinen hilfreichen Taten,
in seinem gewaltsamen Ende. -
Seinen »Geist« vertraut er solchen Händen an.
Aus seinem Geist haben wir alle empfangen,
Gnade um Gnade,
dass wir neue Hände haben,
Hände, die nicht töten können,
Hände, die zärtlich alles tragen, was lebt,
Hände, die wir einander entgegenstrecken,
damit Friede werde.
Vater, dein Wille geschehe, durch uns, die du brauchst.

ES IST VOLLBRACHT

Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er
neigte das Haupt und gab seinen Geist auf. (Joh 19,30)

Jetzt »ist seine Stunde gekommen« (Joh 2,4; 13,1).


Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr:
Jesus liebt die Menschen bis zum Letzten.
Für die Liebe sterben zerbricht die Macht einer Welt,
die uns mit Ausgrenzung, Gewalt und Tod regiert.
Jetzt ist der Exodus vollendet,
Jesus verlässt diese Art von Welt und geht zum Vater.
Denn Gottes »Werk zu Ende zu führen« (Joh 4,34),
voll Gnade und Wahrheit,
aller Übermacht von Hass und Gewalt zum Trotz,
das ist seine Speise, seine Heiligung in der Wahrheit.
In ihm ist Gottes Gnade uns erschienen,
Gottes Sanftmut, Gottes Treue.
In ihm ist ein für alle Mal ans Licht gekommen,
wie Gott ist - wehrlos und selbstlos.
»Mein Herr und mein Gott!« (Joh 20,28)
Gott - unsterblich - in die Menschen verliebt.

[174] DIE "SIEBEN WORTE JESU AM KREUZ-


In ihm ist ein für alle Mal ans Licht gekommen,
wie jede und jeder von uns sein könnte:
Ein Mensch aus Gott, ein Freund des Lebens, ein Licht,
einer, der nicht aus Eigennutz gelebt,
und nicht vergeblich, fruchtlos, sondern vollendet stirbt -
ein solcher Mensch macht sichtbar,
was Gott mit dem Menschen im Sinn hat:
Leben geben, Leben in Fülle, statt Unrecht und Tod.
Jetzt wird des Menschen Sohn verherrlicht.
Wo der Gott des Lebens wirkt, verliert jeder Tod seine Macht.
Aus Jesu Geist wird die Schöpfung neu geschaffen.
In seinem Geist wird grenzenlose Liebe möglich.
Durch seinen Geist wird der Tod überwunden.
Tod, wo ist dein Sieg?
Menschen, die keine Angst vor dem Tod mehr haben,
sind auch nicht mehr beherrschbar.
Sie werden zur unversiegbaren Quelle des Lebens
in einer Wüste des Todes.
Daran erkennen wir Gottes Bild und Gleichnis -
vollbracht, vollendet.

I) I M •S I li It I! N W (> K T l; J I! S II AM KRIillZ- >75]


> IHR SEID ALLZUMAL
LEIDIGE TRÖSTER!
Robert Leicht

angen wir beim Einfachsten, beim scheinbar Einfachsten an - beim


F Kind! Es ist hingefallen, hat sich wehgetan und, nun ja, weint. Wir
beugen uns zu ihm hinunter und singen einen kleinen Vers - um es
zu trösten: »Heile, heile, Segen, drei Tage Regen, drei Tage Eis und
Schnee - schon tut (das Aua dem H ansi...) nicht mehr weh!« Und als­
bald lächelt das Kind, es springt weiter - es ist alles wieder gut. Was war
geschehen? Dieser sogenannte Trost war im Grunde nur eine Ablen­
kung gewesen, der Schmerz ging nicht so tief, als dass das Bewusstsein
des Kindes nicht mit einer kleinen Umarmung und einem Nonsens-
Lied (der Segen ist wohl nur um des Reimes willen ins Gedicht gekom­
men) umzulenken gewesen wäre.
Wo aber Trost wirklich gefordert ist, da ist mit einer Bestreitung des
Ernstes der Lage nichts auszurichten. »Ach, nimm es nicht so ernst!
Denk an andere, denen es dreckiger geht!«, solche Floskeln wirken dann
nur noch beleidigend. Dennoch versuchen wir oft genug zu trösten, in
dem wir wiederum von der (nun wahrlich bedrohlichen) Lage ablen­
ken. Ich erinnere mich noch der Szene am letzten Krankenbett meiner
Großmutter. Sie hatte einen Magen- und Darmkrebs mit infauster Prog­
nose - jeder wusste das, sie selbst wohl auch, soweit der Morphium­
schleier die Wirklichkeit noch unverstellt an sie heranließ. Was sagt man
unter religiös unmusikalischen oder unbeholfenen Menschen an ei­
nem solchen Bett? Mein geliebter Patenonkel versuchte es erst einmal
so: »Vielleicht wird es ja noch einmal ein wenig besser!« Die Patientin
schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht darf man doch noch hoffen?« In
diesem kleinen Dialog wurde der Ernst der Lage ja mitnichten bestrit­

[ 176 ] I HR SEID ALLZUMAL LEIDIGE TRÖSTER!


ten oder gar unwahrhaftig verleugnet. Aber in den Mittelpunkt des Ge­
sprächs ausdrücklich die Einsicht zu stellen, dass es nun bald zu Ende
geht und es heißt, hier für immer Abschied voneinander zu nehmen,
das hätten alle (wirklich: alle?) Beteiligten als unbarmherzig empfun­
den. Oder empfanden sie einfach, dass ihnen der wahren Lage gegen­
über nur die wahren Worte fehlen würden? (Aber was heißt hier: »nur«?)
Die Frage nach dem Hoffen-Dürfen war ja perspektivisch richtig ange­
legt. Doch wenn man anschließend nicht deutlich zu machen vermag
(kein Tadel an dieser Stelle!), worauf man in der voll erkannten Lage
wirklich hoffen darf - und worauf nicht!, dann geht die Rede von der
Hoffnung unvermeidlich ins Leere. (Übrigens: Das ist immer noch bes­
ser als gar kein Wort von der Hoffnung!).
Wahrer Trost setzt ein wirkliches Eingehen auf die tatsächliche Lage vo­
raus. Wo Ablenkung wirklich hilft, ist die Lage nicht ernst; wenn die Lage
ernst ist, hilft keine Ablenkung. Wer dann dennoch ablenkt, der tröstet
nicht - der ver-tröstet. Wenn aber die Lage ernst ist, dann heißt es, sie
auszuhalten - und dennoch von (der) Hoffnung zu sprechen, und zwar
möglichst präzise. Und damit sind wir bei einem der großen Trost- und
Vertröstungstexte unserer Überlieferung - dem Buch Hiob. Genauerhin
beim Gespräch zwischen Hiob und seinen Freunden, die anfangs ge­
kommen waren, um ihn zu trösten - deren Gespräch aber in einen Streit
entgleitet.
Hiob braucht Trost. Zweimal hat der Teufel es vermocht, den Herrn zu
einer Versuchsanordnung zu überreden. Beim ersten Mal darf er ihm
Hab und Gut, beim zweiten Mal zwar die Gesundheit, nicht aber das Le­
ben rauben - nur um herauszufinden, ob Hiob dem Herrn nur deshalb
anhängt (und nur deshalb ein Gerechter sein will), weil ihm das - im
Tun- und Ergehenszusammenhang - Glück und Reichtum einträgt. Wir
stellen böse Hintergedanken gegen diese Versuchsanordnung (»Du
hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben«, Hiob 2,3), der wir
in Goethes Faust wieder begegnen, entschlossen zurück. Hiob sitzt da,
um alles gebracht, voller Geschwüre, von der Fußsohle an bis auf sei­
nen Scheitel: »Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in
der Asche. Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner
Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!« - Das ist nur nicht tröstlich ge­
sprochen, sondern zynisch. »Er aber sprach zu ihr: »Du redest, wie die
törichten Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und soll­

I II n S I! I I ) A I . I . / . I I MA I . I. I-: 1 I) I (i II T R Ö S T E R ! | 177 |
ten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allem versündigte sich
Hiob nicht mit seinen Lippen.« (2,5) So weit, so gut - so konventionell,
um nicht zu sagen: geradezu heiligmäßig langweilig.
Selbst der Auftritt der drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar folgt
zunächst noch dem konventionellen Muster: »Denn sie waren eins ge­
worden hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten.« Ihr seelsor­
gerischer Einstieg folgt ebenfalls dem vorgegebenen pastoraltheologi-
schen Formular: Sie »erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder
zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und
saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten
nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.« Ein
Teil dessen kennen wir sogar aus Fernsehbildern, wenn wieder einmal
im Nahen Osten die Opfer von Attentätern und Kriegshandlungen be­
klagt werden.
Die Freunde machen also zunächst nichts falsch. Sie reden auch nichts
Verkehrtes, haben auch keine faulen Trost- und Verharmlosungsfor­
meln zur Hand, sondern schweigen erst einmal aus Solidarität. Schwei­
gende Präsenz als Trosthandlung, immer noch besser als Formelklap­
pern.
In dieses Klappern aber verfallen sie alsbald, und nicht nur das. Dem
geht voraus, dass Hiob sich einfach nicht trösten lässt, obwohl doch re­
ligiös-rituell korrekt getröstet wurde. Und nun fängt die Geschichte an,
spannend zu werden. Den Freunden geht Hiob, der Gerechte, aus ihrer
Sicht: der Selbstgerechte, auf die Nerven. Auch das kennen wir aus ei­
gener Erfahrung. Ich erinnere mich nur zu gut, wie ich mich von einem
jungen Mann in der Nachbarschaft zurückzog, der mir auf die Nerven
ging, weil er mir überWochen Tag um Tag, und das fast in ritualisierter
Regelmäßigkeit, sein Leid klagte: Seine Frau hatte ihn für einen ande­
ren verlassen - schnöde gewiss, aber eben nicht selten. Und ich hielt es
einfach nicht mehr aus, weder die variationslos vorgetragene Dauer-
Klage noch die Fruchtlosigkeit alles Redens und Schweigens. Geht es
uns nicht öfter so, dass wir uns von Menschen zurückziehen, deren Leid
und Leiden sie so besetzt, dass sie nichts anderes mehr sehen und sa­
gen können? Und dabei brauchten sie doch gerade darin Beistand ...
Hiobs Freunde sind gute, wenn auch konventionelle Theologen - und
Hiob wird ihnen zum gefährlichen Gottesverflucher, bis dahin (aber
dies ist nur eine der vielen Zuspitzungen!), dass er Psalm 8,5-7 auf den

[ 178 | IHR S H[ D A L L Z U M A L LEIDIGE TRÖSTER!


Kopf stellt. Hatten wir dort noch gelesen: »Was ist der Mensch, dass du
seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner an­
nimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und
Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über
deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan ...«, so hören
wir nun: »Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dich um ihn
bekümmerst? Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle
Stunden.« Hiob sehnt nur noch seinen Tod herbei: »Dass mich doch
Gott erschlagen wollte und seine Hand ausstreckte und mir den Le­
bensfaden abschnitte! So hätte ich noch diesen Trost (sic!) und wollte
fröhlich springen ...« (6,9-10) Ist das schon starker Tobak für Theolo­
gen, so mussten die Freunde erst recht erschaudern, als sie folgende
Sätze in der Antwort auf Bildad vernahmen: »Ich bin unschuldig! Ich
möchte nicht mehr leben; ich verachte mein Leben. Es ist eins, darum
sage ich: Er bringt den Frommen um wie den Gottlosen. Wenn seine
Geißel plötzlich tötet, so spottet er über die Verzweiflung der Unschul­
digen. Er hat die Erde unter gottlose Hände gegeben ...« (Der Leser des
Buches Hiob weiß besser als die Freunde, wie recht Hiob hier hat: Der
Herr hat Satan die Lizenz zum Plagen gegeben, grundlos, wie er selbst
eingesteht.)
Wollen wir aber Hiob nicht recht geben gegen seine Feinde, pardon:
Freunde, die immer wieder darauf herumreiten, dass Gott niemals
einen Gerechten straft, dass also der Gestrafte namens Hiob im Um­
kehrschluss sich fragen müsse, wo er in Wirklichkeit doch gesündigt
habe, ja, dass gerade seine Behauptung, er sei gerecht, sich im Licht
der Leiden und also Strafen als sträfliche Selbstgerechtigkeit erweise
(welch herrlicher theologischer Zirkelschluss!) - wollen wir Hiob nicht
recht geben: »Ihr seid allzumal leidige Tröster! Wollen die leeren Worte
kein Ende haben? Oder was reizt dich, so zu reden? Auch ich könnte
wohl reden wie ihr, wärt ihr an meiner Stelle. Auch ich könnte Worte ge­
gen euch zusammenbringen und mein Haupt über euch schütteln«
(Hiob 16,2-4).
Ja, Hiob hat erst einmal recht, insofern wir vom Trost reden. Aber theo­
logisch machten wir die Sache dadurch auf parteiische Weise um das
entscheidende Element zu einfach. So simpel sind große Bücher der Bi­
bel nicht angelegt! Im Grunde geht es um eine Krise im Gottesbild und
in der Gotteserfahrung. (Es lohnte sich übrigens, einmal zu untersu­

I II K Süll) AU. ZU MAI. I. ü I I) I V, I! T R Ö S T E R ! [ X79 ]


chen, ob nicht alle großen biblischen Texte von solchen Krisen der Got­
teserfahrung ausgelöst wurden und getragen werden.) Allein die Rah­
menhandlung mit dem Doppelbeschluss zwischen Gott und Satan ist,
jedenfalls religiös korrekt betrachtet, eine skandalöse Ungeheuerlich­
keit: Da wird jemand bis aufs Blut gepeinigt, nur um seine Frömmigkeit
zu testen - und das, obwohl der Allmächtige ex definitione doch von
vorneherein wissen müsste, was er wissen will. Aber verhält es sich
denn wirklich so? Könnte sich hier nicht eine tiefe - und nur zu berech­
tigte - Krisis des Bewusstseins vom Tun-Ergehen-Zusammenhang an­
melden? Gut, wenn Gott belohnt, dann liegt das in seiner souveränen
Hand. Aber wenn aus dieser Erfahrung ein menschliches Anspruchs­
denken würde, wenn gar umgekehrt vom puren Reichtum auf göttli­
ches Wohlwollen und eigene Gerechtigkeit geschlossen würde, ja wenn
gar der Reichtum (und alle Aktienoptionen aller Vorstandsmitglieder)
selbst als göttlich verherrlicht würde - dann wäre dies doch des Teufels.
Bei Hiob fängt es an: Gott wird in diesem Buch sozusagen in Schutz ge­
nommen gegen alle Versuche, seine Souveränität in irgendeinem me­
chanistischen, verdienstlichen Gerechtigkeitsschema einzumauern -
oder Menschen gegen ihn auszugrenzen, die nicht in dieses Schema
passen. Bis auf den heutigen Tag, bis in die Lehre von der doppelten
Prädestination oder der lutherischen Rechtfertigungslehre ist Gott zu
sichern gegen die berechnende Vereinnahmung durch seine Ge­
schöpfe.
Die Krisis des (falsch verstandenen) Zusammenhangs zwischen Tun
und Ergehen, sie trifft Hiob in aller Härte - und öffnet ihm den Mund.
Das konventionelle Beharren der Freunde auf dem Tun-und-Ergehen-
Mechanismus verschließt ihre Seelen und macht sie unfähig, wahrhaft
zu trösten. Ihre Theologie verführt sie, ja zwingt sie gerade dazu, ihren
Freund mit allerlei korrekter Dogmatik im Stich zu lassen. Die Nähe zu
ihrem Gott ist ihnen wichtiger als die Nähe zu ihrem Freund.
Wir reden vom Trost und haben gelernt: Die erste Voraussetzung ist, die
ernste Lage des Trostbedürftigen auch wirklich ernst zu nehmen, ohne
alle Ablenkungsmanöver. Man muss sich also in seine Schuhe stellen -
das ist gemeint mit wahrem Mitleid. Aber man darf aus diesen Schuhen
nicht aussteigen, sobald der zu Tröstende damit Schritte tut, die uns
Angst machen, die sogar unser Gottesbild und unsere saubere Dogma­
tik infrage stellen. Wir wollen nur zu gerne recht behalten, uns selbst be­

[180] IHR SEI D ALLZUMAL L E I D I G E T RÖST ER!


halten statt uns an den zu Tröstenden verlieren, der uns ja wirklich ner­
ven und überfordern kann. Sich in seine Schuhe stellen, heißt aber bei­
leibe nicht, ihm nur willenlos nach dem Munde zu reden. Auch der
Trostbedürftige kann irren, man sollte aber die Zweifel und die Ver­
zweiflung nicht nur vor seiner Tür abladen - denn durch das Leid des
Leidenden wird auch unsere Gewissheit auf die Probe gestellt; und üb­
rigens nicht schon dadurch gerettet, dass wir stur auf ihr beharren. Und
im Zweifel dürfen wir dem zu Tröstenden durchaus ins tiefe Tal seiner
Gotteszweifel folgen, anstatt auf den theologisch gesicherten Anhöhen
zu verharren - und zuzuschauen, vielleicht genervt, vielleicht auch ta­
delnd.
Wir brechen hier ab, denn ein praktisches Handorakel des Trostes, in
diesem Sinne fortgeschrieben, drohte selbst zu einer religiös und pas-
toral korrekten Vorschriftensammlung zu erstarren und zu einer maß­
losen Selbstüberforderung zu werden. Denn Hand aufs Herz, so vom
Trost zu reden, dass wir die altväterliche Frage: »Aber vielleicht darf
man doch noch hoffen?«, ins Sinnvolle wenden, dies können wir nur in
christologischer Perspektive, gewisslich glaubend, dass Gott schließlich
nicht Satan schickt, um uns experimentell auf die Probe zu stellen, son­
dern dass er sich selbst in seinem Sohn existenziell mit uns so solidari­
siert, dass er uns in all unserem Leiden, auch in unserer (und seiner ei­
genen!) Gottverlassenheit (»Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«) vorausgegangen ist
und nicht von der Seite weicht - was immer sogar unsere Freunde über
unsere mangelnde Gerechtigkeit und unser fehlendes Verdienst, ja über
unsere ganze Sündenlast denken mögen. Und wir über unsere Feinde
und Widersacher. Und Freunde ...

I II H S I! I I ) AI . I. 7, II M A I. I. II I I) I (I II T K 0 S T II R ! [ 181 ]
> BIBLISCHE MINIATUREN ÜBER
TRÖSTEN UND TROST
Erich Zenger

as hebräische Wort (genauer: die hebräische Wurzel mit den drei


D Konsonanten Nun Chet Mem - also nhm), mit dem das Verbum
»trösten, sich trösten, sich trösten lassen« und das Nomen »Trost, Trös­
tung« in ihren unterschiedlichen Formen gebildet werden, hat in der
Hebräischen Bibel ein auffallend breites Bedeutungspotenzial. Neben
dem Begriffsfeld »Trost« kann es auch die Begriffsfelder »Mitleid«,
»Zornbesänftigung«, »Rache« und »Reue« abdecken. Die sprach- und
bedeutungsgeschichtlichen Implikationen dieses Sachverhalts können
und sollen hier nicht diskutiert werden. Gleichwohl soll wenigstens no­
tiert sein, dass alle genannten Sinngehalte höchstwahrscheinlich auf
die Grundbedeutung »heftig atmen, Luft schnappen, schnaufen, auf­
seufzen« bzw. »wieder atmen können, aufatmen, durchatmen« zurück­
gehen. Zugrunde liegt offensichtlich die Idee, dass eine wie immer
entstandene körperliche oder seelische Atemnot bzw. heftige Atemer­
regung überwunden und beendet wird. Dabei ist wichtig, dass in der
Vorstellungswelt der Bibel der Atem den Vollzug des Lebens realisiert
und signalisiert - und zwar sowohl Gottes als auch des Menschen (vgl.
Gen 2,7; Ps 104,29f.). Für das Bedeutungsspektrum »Trost« bedeutet
dies: Wer Trost erfährt, erfährt Hilfe und Kraft zum »Aufatmen« und zum
(Weiter-)Leben. Wer Trost spendet, spendet und mehrt Leben. Von wem
Trost ausgeht, ist Quelle des Lebens und des Heils. Dieses Bedeutungs­
und Wirkpotenzial des biblischen »Trostkonzepts« soll im Folgenden in
biblischen Miniaturen nachgezeichnet werden, weder mit der Mög­
lichkeit, alle wichtigen Aspekte zu erfassen, noch mit dem Anspruch,
alle Tiefendimensionen herauszuarbeiten.

[182] B I B L I S C H E M I N I A T U R E N ÜBER T R Ö S T E N UND TROST


ER ABER WEIGERTE SICH, SICH TRÖSTEN ZU LASSEN« (GEN 37,35)

Das Thema »Trost« begegnet in der Bibel (wie im Leben) im Kontext von
Trauer, Schmerz, Wut und Verzweiflung, insbesondere angesichts von
Verlust- und Leiderfahrungen. Wenn und wo der Tod anderer Men­
schen das eigene Leben so sehr verwundet, dass das Weiterleben
schwerfällt, ja unmöglich erscheint, wo katastrophische Erfahrungen
die Sinnhaftigkeit von Geschichte und Welt so sehr verdunkeln, dass
nur noch Klage als »Lebensatem« bleibt, und wenn Gott nicht mehr als
der nahe und gute, sondern als der zornige und vernichtende Gott »er­
scheint« und erfahren wird, da taucht biblisch das Thema »Trost« auf,
allerdings auf sehr unterschiedliche Weise.
Eine erste Weise ist die explizite Weigerung, sich trösten zu lassen. Die
Bibel verteidigt an herausragenden Gestalten und in subtiler theologi­
scher Reflexion das Recht auf Untröstlichkeit und den Widerstand ge­
gen oberflächliche, unwürdige Vertröstungen. Sie tut dies, um den wah­
ren Trost zu schützen und vor falschen Tröstern zu warnen.
Als man Jakob, dem Stamm-Vater Israels, die (falsche) Nachricht bringt,
sein Lieblingssohn Josef sei von wilden Tieren zerrissen und aufgefres­
sen worden, vollzieht er zwar zu Ehren seines Sohnes die traditionellen
Trauerriten (Gen 37,34: Zerreißen seines Gewandes, Anlegen des grob
gewebten »Sacks«), aber »er weigert sich, sich trösten zu lassen« (Gen
37,35). Er weigert sich, diesen Tod seines Sohnes, der Teil seines Lebens
war und bleibt, einfach hinzunehmen und zum alltäglichen Leben zu­
rückzukehren. Der einzige Trost wäre für Jakob, so sagt er in Gen 37,35,
zu seinem toten Sohn in die Scheol hinabsteigen zu können. Für die Le­
ser der Geschichte ist es ohnedies paradox, dass ausgerechnet die Brü­
der Josefs, die ihrem Vater diesen Verlust verursacht haben, ihn nun
trösten wollen. Dazu sind sie unfähig, weil sie die Wunde nicht verste­
hen können, die dieser Verlust ihrem Vater geschlagen hat. Sie können
das deshalb nicht, weil sie die besondere Liebe des Vaters zu Josef nicht
respektiert und akzeptiert haben (vgl. Gen 37,4). Wer trösten will, muss
wahrhaft und vorbehaltlos den Schmerz und die Trauer des zu Trösten­
den teilen.
Auch von der im Grab liegenden Stamm-Mutter Rahel heißt es in Jer
31,15: »Rahel weint über ihre Kinder und weigert sich, sich trösten zu
lassen über ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr.« Rahel weint und

» i ii 1.1 s ( ii ii m i n i at u k i-: n O b e r t r ö s t e n u n d t r o s t [183]


klagt hier über das Volk Israel, das in das Exil getrieben und vom ver­
nichtenden Tod durch Fremdmächte heimgesucht wird. Wo es um das
Überleben Israels geht, kann die Stamm-Mutter nicht schweigen. Die
Verweigerung, diesen Tod einfach als politische Realität hinzunehmen,
ist sie sich selbst als Stamm-Mutter schuldig - und vor allem dem Gott
Israels, der auf diese Ungetröstetheit reagieren muss, so er denn der
Gott JHWH ist. Der Buchzusammenhang Jer 30-31 zeigt, dass und wie
JHWH antwortet. Die Bibelwissenschaft nennt Jer 30-31 deshalb
»Trostbüchlein« bzw. »Trostrolle«. Dabei ist festzuhalten: Der Trost, den
JHWH dann spendet, ist weder ein Erklärungsversuch der Katastrophe
noch eine Aufforderung, die Trauer im Stil der sogenannten Trauer- und
Lebenshilfeliteratur zu »bearbeiten«, sondern die Verheißung seiner er­
neuten und erneuernden Zuwendung durch die Gabe von Leben und
Heü. Der TTost kommt nicht trotz, sondern gerade wegen der Weigerung
Rahels, sich vertrösten zu lassen.
Auch der im Exil entstandene Psalm 77, der eine tiefe Reflexion über die
dramatische Widersprüchlichkeit der Geschichte Israels bietet, fasst
sein Leiden an Gott mit den Worten zusammen: »Am Tag meiner Be­
drängnis suche ich d ich ..., des Nachts ist meine Hand ausgestreckt...,
meine Seele weigert sich, sich trösten zu lassen. Denk ich an Gott, muss
ich seufzen« (Ps 73,3f.). Die Sprache der Theodizee ist das »Seufzen« des
Nichtverstehens und der Klage. Die »Seele« (hebräisch: die Kehle als Or­
gan des Atems, s. o., und der Lebensvollzüge der Sprache und der Nah­
rung), d. h. der Mensch in seiner Lebensempfindsamkeit und in seiner
Lebenssehnsucht, muss gegen die Verletzungen des Lebens protestie­
ren und sich allen von wem immer verordneten »Tröstungen« widerset­
zen. Die »Miniatur« des biblischen Ijob stellt dies in poetisch und theo­
logisch unübertreffbarer Form dar.

»UND BIN GETRÖSTET, MITTEN IN STAUB UND ASCHE« (IJOB 42,6)

Man kann das Buch Ijob in mehrfacher Hinsicht als Buch über den Trost
lesen. Es setzt sich kritisch mit Tröstungsstrategien auseinander, die das
Leid und den Leidenden nicht ernst nehmen, sondern ihm als Tröstung
eine theologische Lehre vorlegen, der er sich unterwerfen soll, um so
das von ihm als irrational empfundene Leid, sowohl sein eigenes als

( ig ij ] H I H U S C H F. M I N I A T U R E N ÜBER TRÖSTEN UND TROST


auch das Leid überhaupt, als rational verstehbar und als theologisch
sinnvoll zu bejahen. Zugleich widerspricht das Buch Ijob der hellenis­
tischen Philosophie, die »Trost« im Leid durch die psychische Uner-
schütterlichkeit und durch die Relativierung des »äußeren« Lebens
suchte (vgl. analog das kritische Gespräch des Buches Kohelet mit der
hellenistischen Philosophie über das wahre Glück).
Repräsentanten dieser Tröstungsstrategien sind Elifas, Bildad und Zo-
far, die drei Freunde Ijobs. Das Buch lässt sie in unterschiedlichen Rol­
len auftreten. Am Anfang des Buches (Ijob 2,11-13) wird erzählt, dass
sie, als sie von Ijobs Unglück hören, von weither (!) zu ihm kommen, um
ihn zu trösten: »Sie erhoben von Ferne ihre Augen und sie erkannten
ihn nicht wieder. Sie erhoben ihre Stimme und weinten. Sie zerrissen
ein jeder sein Obergewand und warfen Aschenstaub auf ihre Häupter
zum Himmel hin. Sie setzten sich zu ihm auf die Erde - sieben Tage und
sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass
der Schmerz sehr groß war.« Die Erzählung hebt plastisch hervor: Sie
wollen den Schmerz und die Trauer mit Ijob teilen und tragen. Sie set­
zen sich zu Ijob auf die Erde (Zeichen der Solidarität), sie werfen Staub
und Asche (vgl. Ijob 42,6) gegen den Himmel (Zeichen des Protestes)
auf ihr Haupt (Zeichen der Todesbetroffenheit), sie schweigen zusam­
men mit ihm, sieben Tage und sieben Nächte lang. So teilen sie sein
Entsetzen und sein Ungetröstetsein - und geben ihm so Trost, durch ihr
schweigendes Da-Sein.
Aber als Ijob sein Schweigen beendet und seinem Leid »Luft« macht,
um Atem (»Trost«: s. o.) zu holen, da versagen die Tröster, weil sie nun
(in langen Redegängen: vgl. Ijob 4-27) reden und belehren. Sie sehen
und verstehen den leidenden Ijob nicht mehr, weil sie meinen, Gott
und die Gotteswahrheit gegen Ijob verteidigen zu müssen. Für diese
Tröstungsproduzenten mit ihrer kalten Orthodoxie und mit ihrem pas-
toralen Schmalz lässt das Buch Ijob den biblischen Ijob unmissver­
ständlich feststellen: »Solcherlei Reden habe ich oft gehört. Leidige
Tröster seid ih r... Auch ich könnte reden wie ihr, wenn euer Leben (eure
Seele) an der Stelle meines Lebens (meiner Seele) wär« (Ijob 16,2). Was
die drei Freunde vortragen, ist Ijob nicht unbekannt. Es ist beste »Schul­
theologie«, nicht ungelehrt und in sich durchaus stimmig, gar nicht ein­
fach zu widerlegen und durch die Tradition sogar geheiligt. Und trotz­
dem sind ihre Reden für Ijob kein Trost, sondern Worte, die »Mühsal«

li I H I. I S C II I! M I N I A T U R E N 0 H I! R TRÖSTEN UND TROST (185]


bringen, und »windige Worte« bzw. »Wort voll Windhauch« (vgl. Ijob
21,34; »Mühsal« und »Windhauch« sind Leitworte im Koheletbuch). Der
Grund ist offensichtlich: Anders als am Buchanfang sind sie nun nicht
mehr »an der Seite« Ijobs, sondern »stehen daneben« - buchstäblich.
Sie beharren auf ihrem Standpunkt, von dem aus sie Ijob nicht nur be­
urteilen, sondern schließlich sogar verurteilen. Statt als Tröster Ijob
zum »Aufatmen« zu verhelfen, machen sie ihn sprachlos und wollen
ihm vorschreiben, was er reden und denken soll. Nicht sie teilen ihr Le­
ben mit ihm, sondern er soll sein Leben mit ihnen teilen. Sie wollen ihm
die Lebenskraft, die ihm geblieben ist, wegnehmen, und zwar »ad maio-
rem dei gloriam«.
Der Buchschluss ist da ganz anderer Meinung. Nicht nur, weil Gott sich
gerade dem klagenden und anklagenden Ijob zuwendet und weil auch
er die Reden der Freunde trotz ihrer gelehrten Orthodoxie als weder für
Ijob hilfreich noch als seinem Gottgeheimnis angemessen erklärt, son­
dern vor allem, weil er verkündet, dass und wie Ijob Trost gefunden hat:

»Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört,


nun aber hat mein Auge dich geschaut.
Darum gebe ich auf und bin doch getröstet
- mitten in Staub und Asche« (Ijob 42,5f.).

Diese letzten Worte, die das Ijobbuch den Ijob reden lässt, formulieren
eine Antithetik von Gotteswissen aus tradierter Lehre (»Hörensagen«),
repräsentiert durch die Freunde Ijobs, und innerer Gotteserfahrung
(»Gottesschau«), die dem mit Gott gegen Gott kämpfenden Ijob zuteil
geworden ist - als Trost und als Geschenk Gottes. Zum einen hat die
»Gottesschau« Ijob zu einer neuen Gottesbeziehung geführt, die ihn
dazu bewegt, die Beschuldigung Gottes als »Verbrecher« und »Versager«
aufzugeben. Dass Gott sich ihm und nicht seinen »gelehrten« Freunden
zugewandt hat, zeigt ihm, dass er von seinem Gott in seinem Schmerz
und in seiner Klage ernst- und wahrgenommen wurde. Zum anderen ist
er zu dieser Einsicht nur gelangt, weil er vor Gott sein Herz ausgeschüt­
tet hat. Dabei hat er »Aufatmen« und Trost gefunden - »mitten in Staub
und Asche«: wenn dieser Gott mit ihm ist, kann er in das Leben »ge­
tröstet« zurückkehren, wie der (keineswegs idyllisch gemeinte) Schluss
des Buches dann zeigt.

[ 186 ] HI B l . l S C H K M I N I A T U R E N ÜBER TRÖSTEN UND TROST


Nun lernen sogar die Freunde wieder, wie »trösten« geht (Ijob 42,10-11)
und wie die Erfahrung wahren Trostes das Leben verändern kann. Es
überrascht, dass nun noch einmal davon die Rede ist, dass die Ver­
wandten und Bekannten (und wohl auch die Freunde) kommen, um
den »Wiederhergestellten« (vgl. Ijob 42,10) zu »trösten« (42,11), mit ihm
Mahl halten und Goldgeschenke bringen. Selbst wenn man diese über­
raschende Schlussnotiz als Indiz für eine komplexe Entstehungsge­
schichte des Ijob-Buches auswertet (wie das exegetisch meist ge­
schieht), sie hat im vorliegenden Endtext eine wichtige Funktion: Sie
zeigt, dass echtes »Trösten« eine Dauer- und Lebensperspektive haben
muss. So wie das Leid das Leben des Leidenden verändert, kann und
soll auch die tröstende Teilhabe das Zusammenleben der Getrösteten
und der Tröster verwandeln. Das Mahl und das Gold sind dafür faszi­
nierende Trostbilder und werden transparent für die zahlreichen bibli­
schen Bilder, die Gott selbst als »Tröster« bezeugen und verheißen (vgl.
vor allem das mit der Trostbotschaft »>Tröstet, tröstet mein Volk<, spricht
euer Gott« beginnende Buch Deuterojesaja).

II I II I I S ( II I M I N I A T II K i: N (t II I; K T R f t S T K N UNO TR O ST [187]
> JERUSALEMS ZW EIFEL AM TROST
E d n a Brocke

ie Pesikta de Raw Kahana ist eine frühe Kompilation von Midra­


D schim1 aus Eretz Jissrael, verfasst zu den ersten und zweiten Le­
sungen an Feiertagen und an »ausgezeichneten Schabbat-Tagen«.
Die erste wissenschaftliche Ausgabe der Pesikta de Raw Kahana er­
schien 1868 (in Lyck) und wurde von R. Shlomo Buber (1827-1906)
ediert. Er stützte sich auf vier Handschriften: Aus Zefat (Israel), aus Fes
(Marokko), Manuskript Oxford und eine Handschrift aus Italien (aus
der Bibliothek von di Rossi).
1913 erschien in Warschau eine Pesikta de Raw Kahana mit einer Reihe
zusätzlicher Kommentare, die 1959 in New York erneut erschien. Eine
neue Edition brachte David Bemard Mandelbaum 1962 heraus, der die
Oxford-Handschrift zugrunde lag und Ergänzungen aus der Kairoer
Genizah hinzugefügt wurden.2
Unklar ist, wer mit »Raw Kahana« gemeint ist, der am Anfang dieser Mi­
drasch-Kompilation als ihr Verfasser genannt wird. Es sind sechs ein­
zelne Personen unter diesem Namen bekannt, die allerdings alle in Ba­
bylonien lebten. Die Pesikta de Raw Kahana wurde jedoch mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit im Land Israel verfasst.
Die Anordnung in dieser Midrasch-Kompilation ist einzigartig und
gründet auf dem Lesezyklus im synagogalen Gottesdienst; sie umfasst
33 (bzw. 34) Homilien. Die letzten zehn Homilien in dieser Kompilation
sind dem Thema Schelte (drei) und Trost (sieben) gewidmet. Der hier
übersetzte Abschnitt gehört in die Reihe der sieben Trost-Homilien.
Diese Homilie ist Schabbat-Nachamu 00113 rQÜ) zugeordnet. Hierbei
handelt es sich um den Schabbat nach dem 9. Aw, jenem Gedenk- und
Fasttag im jüdischen Kalender, der an die Zerstörung beider Tempel er­

[ 188 ] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
innert. Der Schabbat nach diesem Gedenk- und Fasttag gehört zu den
»ausgezeichneten Schabbat-Tagen«, denn nach der Trauer um den
zerstörten Tempel folgt der Trost: Schabbat nachamu. Er hat diesen
Namen bekommen, da die zweite Lesung an diesem Schabbat mit
»’OS? ram i n m - nachamu nachamu a m i...« tröstet, tröstet m ein V olk...
(Jesaja 40,1) beginnt.

Und wie vertröstet ihr mich eitel, und eure Antwort bleibt Betrug (Ijob 21,34)

Es sagte Rabbi Abba bar Kahana: Eure Worte bedürfen der Polierung, und un­
sere Lehrer sagen: Eure Worte sind widersprüchlich. Der Heilige, gepriesen sei
er, sagte zu den Propheten: Geht und tröstet Jerusalem.
Es ging Hosea. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: Sein will ich wie d e r Tau f ü r Israel (Hosea 14,6). Sie sagte:
Gestern sagtest du: Geschlagen ist Efrajim, verdorrt ihre Wurzel, F ru ch t tragen
sie nicht (Hosea 9,16) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben?
Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Toel. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: u n d es wird sein a n je n e m Tag d a triefen d ie Gebirge Most,
die H öhen strömen Milch (Joel 4,18). Sie sagte: Gestern sagtest du: Erwachet,
Trunkene, u n d weint; heult, all ih r W eineszecher; des Mostes wegen, dass e r eu ch
getilgt vom M u n d (Joel 1,4) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau­
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Arnos, um Jerusalem zu trösten und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: An je n e m Tag werde ich aufrichten d ie stürzende H ütte D a­
vids (Arnos 9,11). Sie sagte: Gestern sagtest du: Gefallen ist, steht nicht m eh r
auf, die Jungfrau Israel (Arnos 5,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich
glauben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Micha, um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen sei
er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du mit
dir? Er sagte zu ihr: Wer ist wie du, ein Gott, d er Schuld vergibt (Micha 7,18). Sie
sagte: Gestern sagtest du: Ob Jaakows Frevel all dies, u n d ob d e r Schuld des
Hauses Jissrael (Micha 1,5) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau­
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?

| 1! IU I S A I. li M S Z W F. 11 -1; I. a m i ko st [ 1891
Es ging Nachum. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: D enn nicht m eh r zieht d er ruchlose durch dich, ganz ist
e r vernichtet (Nachum 2,1). Sie sagte: Gestern sagtest du: Von d ir g in g aus, d er
gegen ihn, den Ewigen, Böses sann, Ruchloses plante (Nachum 1,11) und heute
sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten oder der zweiten Aus­
sage?
Es ging Chawakuk. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, geprie­
sen sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst
du mit dir? Er sagte zu ihr: Zogst aus zu deines Volkes Hilfe, zu Hilfe deinem
Gesalbten (Chawakuk 3,13). Sie sagte: Gestern sagtest du: Wie lange schrei ich
auf, o Ewiger, u n d hörst d u ’s nicht, r u f zu d ir >Raub<, u n d hilfst d u nicht (Cha­
wakuk 1,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten
oder der zweiten Aussage?
Es ging Zefanjah. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: Und es wird sein zu je n e r Zeit, da such ich a b Jeruscha-
lajim m it Lichtern (Zefanjah 1,12). Sie sagte: Gestern sagtest du: Ein Tagdes
Grimms ist je n e r Tag, ein Tag von Engnis u n d Bedrängnis, ein Tag von Graun
u n d Grausen (Zefanjah 1,15) und heute sprichst du so - welchem soll ich glau­
ben? Der ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Chagaj. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: Ist noch d ie Saat im Speicher, u n d hat noch d ie Rebe, die
Feige, die Granate u n d d e r Ölbaum nicht getragen? (Chagaj 2,19). Sie sagte:
Gestern sagtest du: Gesät habt ihr viel, u n d einzubringen gibt es w enig (Chagaj
1,6) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der ersten oder der
zweiten Aussage?
Es ging Secharjah. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, geprie­
sen sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst
du mit dir? Er sagte zu ihr: U nd großen Zorn zü rn e ich ü b er d ie sorglosen Völker
(Secharjah 1,15). Sie sagte: Gestern sagtest du: Gezürnt hat d e r Ewige ü b er eure
Väter (Secharjah 1,2) und heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Der
ersten oder der zweiten Aussage?
Es ging Malachi. um Jerusalem zu trösten, und sprach: Der Heilige, gepriesen
sei er, sandte mich zu dir, um dich zu trösten. Sie sagte zu ihm: Was führst du
mit dir? Er sagte zu ihr: D a n n werden eu ch alle Völker glücklich preisen, d en n

[190] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
(Midiichl 11,12). SU» sagte: (leslem siigli'Nl du:
ihr werdet nl/i Lund der Lust sein
(Midiichl 1,10) und
Ich habe keine Lust zu euch, spricht d er Hielte d e r S ch ä m t
heute sprichst du so - welchem soll ich glauben? Her ersten oder der /.weiten
Aussage?
So gingen die Propheten zum Heiligen, gesegnet sei er, und sagten ihm: Herr
der Welt, Jerusalem hat den Trost nicht angenommen. So antwortete der Hei­
lige, gesegnet sei er, ich und ihr werden gemeinsam gehen und sie trösten.
Tröstet, tröstet m ein Volk (Jesajah 40,1). Tröstet, tröstet sie, die Oberen und die
Niederen, tröstet sie, die Lebenden und die Toten, tröstet sie in dieser Welt
und tröstet sie in der zukünftigen Welt, tröstet ihre zehn Stämme und tröstet
den Stamm Jehudah und den Stamm Benjamin, Oh tröstet tröstet m ein Volk,
Tröstet mich, tröstet mich mit mir.

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Ytt ,(tf’ 'S) Diop) nSeun T n naio ntt optt ttvn oi'a S"tt 1
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/tra n o Vtt ,pruS tSsk 'r h v rfapn m rat non* ,rao "jbn (nß)
na'D) wSna nntttrS y m by rapi pp tten; 710a btt 10 9 h 1
ob?» ■hob?’ tra mtonai ntt Sa app' ptpoa 'nrat Siont 9 h ,(rf' 't
:n"jB?7itt njia?ttlS pottj nrttS , p 'S ratt nnt iB?api ,('n 'tt
'a Y h ,T ra n o y K ,p n jS u n S r rfapn nS rat neruS 01m -iS n (Oß)
nrat to n t 9h ,('h 'a ovu) Spf>a *p mapS -np tpov tö 1
nent nntt iu?api (m 'tt ob?) Sp'Sa ppi’ npn 'n vy aann h t > p o ,'S
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JERUSALEMS ZW EIFEL AM TROST [191]


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Aus: Pesikta de Raw Kahana, Abschnitt 1 6 ,10ni n a ch a m u (=tostet), Absatz zwei­
undachtzig.3

Der Midrasch lässt zehn Propheten ausziehen, um Jerusalem zu trösten


und alle zehn kommen mit leeren Händen zurück.
Offen bleibt jedoch die Frage, wieso der Trost der Propheten unglaub­
würdig ist, nur weil zu anderer Zeit und bei anderer Situation der glei­
che Prophet eine Scheltrede über Jerusalem hielt?
Das Ende des Midrasch wirft ebenfalls eine Frage auf. Dieser Abschluss
legt nahe, dass Jerusalem sich a d personam von dem jeweiligen Pro­
pheten nicht trösten ließ, da der Prophet lediglich als Bote wahrge­
nommen wird. Wenn der Heilige, gesegnet sei er, die Quelle, der Ur­
sprung sowohl für Schelte als auch für Trost ist, so haben die Propheten
in ihrer jeweiligen Botenfunktion beide Varianten übernommen. Worin
ist also Jerusalems Verweigerung begründet und inwiefern löst das
Ende des Midrasch dieses Dilemma?
Es scheint, als wolle der Midrasch die Besonderheit des Trostes klären.
Sieht man bei den Droh- und Scheltreden der Propheten die Möglich­
keit, sie an der späteren Wirklichkeit zu messen und zu prüfen, so ist für
die Gewissheit beim Trost mehr gefordert als herkömmliche Hinweise
wie etwa: »Am Ende wird alles gut«. Dieser Trost zielt auf mehr als nur
auf die faktische, politisch verifizierbare Ebene.
Im Hintergrund dieses Midraschs steht die tief greifende Erfahrung
der Zerstörung des Tempels, die eine so einschneidende war, dass

[192] J E R U S A L E M S Z W E I F E L AM T R O S T
ein Vergleich zwischen Gewesenem und Zukünftigem nlclil misrclchcn
konnle. Er wurde mit einem Trost verglichen, der einer Irisch-verwit­
weten jungen Frau gegeben wird, indem ihr die Aussicht vermittelt
wird, dass ihre zweite Ehe eine weit glücklichere sein könnte als die
erste. Während bei ihr das Gefühl vorherrscht: Nichts wird mehr so sein,
wie es einst war.
Ob der Midrasch uns nahebringen möchte, dass die Funktion des Tros­
tes darin begründet liegt, eine solche Diskrepanz zu überbrücken und
sich bemüht, eine andere Qualität einzuführen? So ist mehr als die fak­
tisch-praktische Ebene angesagt. Der Tröster - als unabhängige Größe
von Intimität - muss dem Traurigen/Trauernden jenen Ruheort ver­
mitteln, der, wenn man so will, das Zeitlose, die Ewigkeit als den >Ort des
Trostes< nahebringen will.
Das Dilemma der Propheten liegt also nicht in einer fehlenden Zuver­
lässigkeit der Personen, sondern in der Auffassung, dass nicht ein
Mensch, auch nicht ein Bote, den Trost überbringen kann. So sieht der
Midrasch es vor, dass die Boten ihre Aufgabe an Gott zurückgeben.

JERUSALEMS ZW EIFEL AM TROST [193]


> ANM ERKUNGEN

ÜBER DEN TROST


Joh an n Baptist Metz

1 J. B. Metz, Ober den Trost, in: Notwendige Bücher. Heinrich Wild zum 65. Geburtstag,
München 1974,125f.

ERMÄCHTIGUNG DER REALITÄT


Axel Honneth

1 5. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders., G esam m elte Werke, Frankfurt/M.
1991, Bd. XIV, 419-506; 444.
2 J. Joyce, Die Toten, in: Ders., Dubliner, Frankfurt/M. 1967,179-229; 228.
3 J. Didion, Das Jahr magischen Denkens, Berlin 2008.
4 S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Gesammelte Werke (vgl. Anm. 1), Bd. XIV
323-380; 332.
5 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (vgl. Anm. 1), bes. 421-431.
6 S. Freud, ebd., 423.
7 S. Freud, ebd.
8 S. Freud, ebd., 424.
9 S. Freud, ebd., 430.
10 S. Freud, Trauer und Melancholie, in: Ders., Gesammelte Werke (vgl. Anm. 1), Bd. X,
427-446; 430.
11 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (vgl. Anm. 1), 432.
12 D. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1974.
13 D. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: Ders., Vom Spiel zur
Kreativität (vgl. Anm. 12), 10-36; 23.
14 D. Winnicott, ebd.
15 D. Winnicott, Die Lokalisierung des kulturellen Erlebens, in; Ders., Vom Spiel zur Krea­
tivität (vgl. Anm. 12), 111-120.
16 Vgl. etwa: Vicki Hearne, Adam’s Task: Calling Animais by Name, New York 1986.
17 Vgl. zu derartigen Beispielen die großartige Studie von Tilmann H aberm as, Geliebte
Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt/M. 1999.

[194] ANMERKUNGEN
WIDHH Dili STILLE
Carl Wilhelm M acke

1 H. Kapus'cMski, Der l-'ußhallkrleg, Frankfurt/M. 1990,289f.


2 J. B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Ge­
sellschaft, Freiburg i. Br. 2006,166.
3 Stellvertretend für viele seien der Flüchtlingsdienst der Jesuiten
(www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de) und die Gemeinschaft Sant’ Egidio genannt.

TROST DER ICHFREUNDLICHKEIT


Friedrich M eschede

1 Schwarzweißphotographie, 134, 5 x 88 cm, © Foto: J. Riddy, London; Courtesey Dou­


glas Gordon.

KOLLEKTIVE ENTSCHULDIGUNG -
»TROSTFRAUEN« IM ZWEITEN WELTKRIEG
Claus Leggewie

1 Literatur: Y. Tanaka, Japan’s Comfort Women: Sexual Slavery and Prostitution During
World War II and the US Occupation, London 2002; Y. Yoshimi, Comfort Women: Se­
xual Slavery in the Japanese Military During World War II, New York 2000.

LEIDENSVERDRÄNGUNG UND TROSTBEDARF IM


HISTORISCHEN DENKEN
Jörn Rüsen

1 /. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von M. B oila­
cher, Frankfurt/M. 1989 (Werke Bd. 6), 343.
2 Diesesund die folgenden Zitate: G.F.W. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. von
J. Hoffmeister, Hamburg 51955,79-81.
3 »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben;...« [G.F.W. Hegel, Phäno­
menologie des Geistes [Werke in 20 Bänden, Bd. 3], Frankfurt/M. 1973,492).
4 L. von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hg. von V. Dotterweich u .W .R Fuchs (Aus Werk
und Nachlaß, Bd. IV), München 1975,124-126; 124.
5 L. von Ranke, ebd., 185.
6 L. von Ranke, ebd.
7 L. von Ranke, ebd., 124f.
8 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Gesamtaus­
gabe, hg. von R. Stadelmann, Pfullingen 1949, 26 [/. Burckhardt, Werke: Kritische Ge­
samtausgabe in 27 Bänden: Bd. 10: Ästhetik der Bildenden Kunst - Über das Studium

ANM ERKUNGEN [ X95 ]


der Geschichte. Mit dem Text der »weltgeschichtlichen Betrachtungen« in der Fassung
von 1905. Aus dem Nachlass hg. von P. Gans, München 2000, 56].
9 /. Burckhardt, ebd., hg. von Stadelmann, 316, Kritische Gesamtausgabe, 534.
10 /. Burckhardt, ebd., hg. von Stadelmann, 318, Kritische Gesamtausgabe, 535.
11 J. Burckhardt, ebd., hg. von Stadelmann, 318, Kritische Gesamtausgabe, 535.
12 J. Burckhardt, ebd., hg. von Stadelmann, 321f„ Kritische Gesamtausgabe, 538.
13 ]. Burckhardt, ebd., hg. von Stadelmann, 325; Kritische Gesamtausgabe, 540.
14 So Eelco Runia kürzlich in einer Diskussion in Groningen.

TRÖSTLICHE PHILOSOPHIE?
Ludwig Siep

1 Vgl. dazu L. Siep, Konkrete Ethik. Frankfurt/M. 2004

BEI TROST?
Jürgen Werbick

1 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1886-Herbst 1887, Sämtliche Werke,


Kritische Studienausgabe, hg, von G. Colli und M. Montinari, München - Berlin 1980
(KSA), Bd. 12, 213.
2 F. Nietzsche, ebd.; J. B. Metz bezieht sich immer wieder auf diese Formel; vgl. etwa:
Gott. Wider den Mythos von der Ewigkeit der Zeit, in: T. R. Peters/C. Urban (Hgg.), Ende
der Zeit? Die Provokation der Rede von Gott, Mainz 1999,32-49; 35.
3 F Nietzsche, KSA 12,214.
4 F. Nietzsche, ebd.
5 F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, Aphorismus 33, KSA 2,53.
6 Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 276, KSA 3,521.
7 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 56, KSA 5,75.
8 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente November 1882-Februar 1883, KSA 10,137.
9 A Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke, hg. von W. Frhr.
von Löhneysen, Frankfurt/M. 1986, Bd. 1,421.
10 Vgl./. B. Metz, Theologie als Theodizee, in: W. Oelmüller (Hg.), Theodizee- Gott vor Ge­
richt? München 1990,103-118; 113.
11 T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte
Schriften, hg. von R. Tiedemann, Bd. 4, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 2003, 26
05 ).
12 F.Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 1, KSA 3,369-371.
13 Vgl. F. Nietzsche, Morgenröthe I, Aphorismus 15, KSA 3 ,28f.

ERINNERUNGEN GEGEN DAS »SCHICKSAL«


Jürgen Ebach

1 J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1977,150.

( 196 ] ANMERKUNGEN
2 Dazu die Artikel in: THATII, 59-66 (H .J. Stoebe); ThWATV, 366-384 (H. Simian-Yofre),
die betreffenden Passagen in: J. Jerem ias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn?21997,
ferner die wichtige Erörterung zur Wurzel n-ch-m bei: 1. Willi-Plein, Hiobs Widerruf?,
FS I. L. Seeligmann, III, Jerusalem 1983, 273-289, sowie jetzt v.a. die noch unveröf­
fentlichte Dissertation von/. -D. Döbling, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des
Motivs der Reue in der Endgestalt der Hebräischen Bibel, Marburg 2007.
3 Die Frage spitzt sich zu, wenn sie mit dem biblischen Schnittpunkt von Theologie und
Anthropologie zu tun bekommt, nämlich der grundlegenden und Grund legenden
Rede von der Gottesbildlichkeit des Menschen in Gen 1. Zugespitzt formuliert: Wenn
Gott nicht affizierbar ist, möchte ich nicht »Bild Gottes« sein.
4 E. Benyoetz, Allerwegsdahin, Zürich/Hamburg 2001,199.
5 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, Bd. 3,1514.
6 Hier verdienen gerade die Stellen der Bibel und ihrer Lektüregeschichte Aufmerksam­
keit, an denen sich Gott von Menschen bewegen lässt, um zur eigenen Identität zu­
rückfinden. Man denke an Noahs Opfer (Gen 8,20f.), nach welchem Gott der sozusa­
gen »zweitbesten aller möglichen Welten« Bestand garantiert, obwohl der Mensch
fürderhin kaum anders ist als im vorhergehenden Urteil Gottes (Gen 6,5ff.), das ihn zur
Reue darüber brachte, ihn überhaupt erschaffen zu haben. Man denke weiter an den
Einsatz des Mose für das von Gott zur Vernichtung bestimmte Volk (Ex 32,11) - eine
Stelle, die noch dramatischer wird, wenn man die Wendung wajechal moschä (mit ei­
ner rabbinischen Lesart) von ch-1-1 ableitet, wonach Mose Gott von dem schreckli­
chen Dilemma »entbindet«, entweder sein Wort nicht wahr zu machen oder dessen
Bewahrheitung auf Leichenbergen zu errichten (zu dieser Lesart J. Taubes, Die politi­
sche Theologie des Paulus, München 1993, bes. 45). Dazu gehört auch die aufregende
Stelle im Traktat Berachot des Babylonischen Talmud (Blatt 7a), nach welcher Gott des
Segens durch einen Menschen bedürfen will, damit Gottes Eigenschaft der Barmher­
zigkeit über die Eigenschaft des Gerichts - man kann auch sagen: damit Adonaj über
Elohim - obsiegen möge (dazuAf. L. Frettlöh, Theologie des Segens, Gütersloh 52005,
393-399).
7 W. Benjamin, GS 1/2, Frankfurt/M. 1974,683.
8 W. Benjamin, ebd.
9 E. Benyoetz, Treffpunkt Scheideweg, München/Wien 1990,60.
10 T. W. Adorno, Negative Dialektik, GS 6,391.
11 T. W. Adorno, Minima Moralia, GS 4,26.
12 Die Bemerkung findet sich in W. Benjam ins Kafka-Essay, GS II/2,432, sowie in: Ders.,
»Denkbilder«, GS IV/1,419.
13 Einige Hinweise auf weitere Arbeiten des Verf.s im Umfeld des Themas, in denen an
etlichen Stellen explizit und an sehr viel mehr Stellen implizit deutlich wird, wie viel
sie ). B. Metz verdanken: Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals, Frank­
furt/M. 1987; Vergangene Zeit und Jetztzeit. Walter Benjamins Reflexionen als Anfra­
gen an biblische Exegese und Hermeneutik, EvTheol 52 (1992) 288-309; Apokalypse
und Apokalyptik, in: H. Schmidinger (Hg.), Zeichen der Zeit. Erkennen und Handeln,
Innsbruck 1998,213-273; Weil das, was ist, nicht alles ist. Theologische Reden 4, Frank­
furt/M. 1998; Messianismus und Utopie, Kirche und Israel 15 (2000) 68-85; Zeit als
Frist. Zur Lektüre der Apokalypse-Abschnitte in der Abendländischen Eschatologie,
in; R. Faber u. a. (Hgg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg
2001, 75-91; Art.: Eschatologie/Apokalypse, in: NHThG 1, 2005, 260-272; Ders.IM.L.
Frettlöh!H. Gutmann/M. Weinrich (Hgg.), »Dies ist mein Leib«. Leibliches, Leibeige­
nes und leibhaftiges bei Gott und den Menschen, Jabboq 6, Gütersloh 2006.

ANMIUIKHN1.ÜN | 11) / |
»NICHTS KANN UNS TRÖSTEN!« (?)
Siegfried J. Schm idt

1 »Ein schrecklicher Unfall hat uns unsere (...1 genommen. Nichts kann uns trösten!«,
Todesanzeige in den Westfäl. Nachrichten vom 22.11.2007.
2 Vgl. J. Mitterer, Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprin­
zip, Wien 1992. - S. J. Schmidt, Geschichten & Diskurse, Reinbek bei Hamburg 2003.
3 »... dass uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jah­
ren und unfehlbar vor die schreckliche Notwendigkeit stellt, in Ewigkeit ausgelöscht
oder unglücklich zu sein. [.. .1 Alles, was ich weiß, ist, dass ich bald sterben muss, aber
was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann.«
(3. Pascal, Pensées, Kap. I, Abt. 1; zitiert nach der Ausgabe der Gedanken in der Die-
trich’schen Verlagsbuchhandlung Leipzig o. J.)
4 »... dass es nur zwei Arten von Menschen gibt, die man vernünftig nennen kann; jene,
die Gott von ganzem Herzen dienen, weil sie ihn erkennen, oder jene, die ihn von gan­
zem Herzen suchen, weil sie ihn nicht erkennen.« (B. Pascal, Pensées, Kap. I, Abt. 1, vgl.
Anm. 3)
5 N. Bolz, Mensch-Maschine-Synergetik unter neuen Medienbedingungen. In: Symp­
tome 11/93,34-37; 37.
6 B. Pascal, Pensées, Kap. I., Abt. 55 (vgl. Anm 3).

»MITTEN WIR IM LEBEN SIND MIT DEM TOD UMFANGEN«


Wolfgang Huber

1 M. Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. K. B ornkam m u. G. Ebeling. Bd. 1: Aufbruch


zur Reformation (it 1284), Frankfurt/M. 1990, 271.
2 Evangelisches Gesangbuch 518,1.
3 R.M. Rilke, Schlussstück, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, Frankfurt/M. 1966,
233.
4 Vgl. E.Jüngel, Tod, Stuttgart 1971,156f.
5 Vgl. F. Kam phaus, Eine Fortsetzung findet nicht statt, in: Frankfurter Allgemeine Zei­
tung, 11. November 2004,8.
6 Vgl. J. B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer
Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2006,166-174.

TROST AUS DER ZUVERSICHT DES GLAUBENS


Karl K ardinal Lehm ann

1 Vgl. B enedikt XVI., Wo war Gott? Die Rede von Auschwitz. Mit Beiträgen von E. Wieset
W. Bartoszewski, J. B. Metz, Freiburg i. Br. 2006,9.

[ 198] ANMERKUNGEN
JERUSALEMS ZWEIFEL AM TROST
E dna Brocke

1 Midrasch (EH1D) kommt von der hebräischen Wurzel (O, “I, ”1) d,r,sch, = fordern. Der
Text wird ss. Midrasch bezeichnet eine der Weisen, in denen die Rabbinen die Jüdische
Bibel auslegten. Sie suchten nach den wörtlichen Bedeutungen des Textes, ebenso
fragten sie aber auch nach den grundsätzlichen Aussagen.
Es ist eine Auslegungsmethode, die vornehmlich rechtliche Themen erklärt und
Schlüsse zieht. Um dem Leser die juristischen Schlüsse näherzubringen, verwendet
der Midrasch unterschiedliche literarische Formen wie Erzählungen, Gleichnisse, Le­
genden u. a.
2 Diese Ausgabe ist im Internet unter folgender Adresse:
http://www.daat.ac.il/daat/vl/tohen.asp?id=166 zu finden.
3 Die biblischen Verse sind der Übersetzung von EI. Torczyner, Jerusalem 1954 entnom­
men. Die Midrasch-Hommlilie selbst habe ich übersetzt.

A N M M H K U N (■ I! N [ U)i) |

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