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Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik

Walter Müller-Seidel

Die Geschichtlichkeit
der deutschen Klassik

Literatur und Denkformen um 1800

J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
Stuttgart
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Müller-Seidel, Walter:
Die Geschichtlickeit der deutschen Klassik :
Literatur u. Denkformen um 1800 /
Walter Müller-Seidel.
- Stuttgart : Metzler, 1983.
ISBN 978-3-476-00529-8

ISBN 978-3-476-00529-8
ISBN 978-3-476-03177-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03177-8

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 1983


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1983
Vorwort

Die hier vereinigten Beiträge zur Literatur der deutschen Klassik und zu ihrem ge-
schichtlichen Verständnis wurden allesamt in den letzten fünfundzwanzig Jahren veröf-
fentlicht: der erste (über Goethes Altersgedicht Der Bräutigam) im Jahre 1958; das
Erscheinen des letzten (über Hölderlins Ode Dichterberufin einer kürzeren Fassung)
steht noch bevor. Die zunehmende Beschäftigung mit der Literatur der Modeme in
diesem Zeitraum stand diesen Arbeiten in keiner Weise im Wege. Eher das Gegenteil
ist der Fall, und vielleicht ist die Hoffnung nicht ganz unberechtigt, es könnte solche
Zweigleisigkeit beiden Arbeitsgebieten zugute gekommen sein. Daß man seine eigene
Gegenwart nur verstehen könne, wenn man viel von Vergangenheit und Tradition
versteht, ist eine eingebürgerte Weisheit unserer historischen Schulen. Sie wurde uns
von der Generation unserer Lehrer eingeprägt, und wir sind mit ihr aufgewachsen.
Nicht gleichermaßen eingebürgert ist die Umkehr solcher Beziehungen: die Auffas-
sung, daß man einer Vergangenheit nur gerecht werden kann, wenn man die Gegen-
wart nicht aus dem Auge verliert. Zumal die Erforschung der deutschen Klassik
wurde bei uns vielfach und lange Zeit in Absehung von der jeweiligen Gegenwartsli-
teratur betrieben. Daß mit solchen Einstellungen zumeist Formen ungeschichtlichen
Denkens einhergehen, die in Ideologien einmünden können, ist in der einleitenden
Betrachtung über Weimarer Klassik und Weimarer Republik ausgeführt. Deutsche
Klassik und Goethezeit: das erwies sich als eine großartig dargestellte, aber auch
zeitlos dargestellte Welt, in die man eingeführt wurde, wenn man im Wintersemester
1937/8 in Leipzig zu studieren begann. Die damals ungeliebte Gegenwart trug nicht
wenig dazu bei, daß man in einer vergangenen Kultur wie dieser eine Art geistiger
Heimat suchte - und auch fand. Sie geschichtlich zu sehen lernen, war später zu
lernen. Zu einem nicht geringen Teil sind die hier vereinigten Arbeiten ein Nieder-
schlag solcher Lernprozesse.
Nicht wenige Beiträge wurden Kollegen und Freunden, älteren wie jüngeren, als
Beiträge zu ihren Festschriften dargebracht: Lieselotte Blumenthai, Paul Böckmann,
Richard Brinkmann, Hermann Kunisch, Victor Lange, Ernest Ludwig Stahl und
Benno von Wiese. Die Verbundenheit, die in solchen Widmungen zum Ausdruck
gebracht wurde, besteht fort und wird mit dem veränderten Kontext, in dem diese
Arbeiten nunmehr erscheinen, nur bekräftigt. Der Zeitraum dieses Vierteljahrhun-
derts ist zugleich derjenige, in dem das Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft
VI Vorwort

gemeinsam mit Fritz Martini und Bernhard Zeller herausgegeben wurde - als Organ
zur »wissenschaftlichen Erforschung deutscher Literatur vom Beginn der Neuzeit bis zu
einer der Geschichtserkenntnis bereits zugänglichen Gegenwart«, wie es im Vorwort
zum erstyn Band heißt. Eine letzte Bemerkung sei angefügt: der Hinweis, daß. zwei
dieser Aufsätze zuerst an Ort und Stelle der deutschen Klassik, nämlich in Weimar,
vorgetragen wurden, beide aus Anlaß von Zusammenkünften der Goethe-Gesell-
schaft in den Jahren 1958 und 1979. Das mag man inzwischen als etwas Selbstverständ-
liches ansehen. Aber ganz so selbstverständlich ist diese Feststellung vielleicht nicht.
Solche Zusammenkünfte schließen die Möglichkeit ein, daß man die eigene Sehweise
besser mit anderen vergleichen kann, als es sonst geschieht. Vor allem dienen sie dem
Gespräch und einem besseren Verständnis von Wissenschaft, die noch aus anderem
als nur aus dem besteht, was sich mathematisch berechnen läßt, wie eine gelegentli-
che Bemerkung Goethes lautet. Aus seiner Naturforschung und aus seinem Wissen-
schaftsbegriff sind Sprache und Gespräch nicht wegzudenken, und zumal in solchen
Fragen ist von ihm noch viel zu lernen. Denn natürlich ist die Geschichtlichkeit eines
geschichtlichen Phänomens immer nur die eine Seite der Sache. Die andere betrifft
das, was es im Prozeß lebendiger Aneignung jeweils zu vergegenwärtigen gilt.

München, im Januar 1983 W.M.


Inhalt
Vorwort ............ . v
Einleitung:
Weimarer Klassik und Weimarer Republik
Zur Geschichte eines ungeschichtlichen Denkens. . . . . . 1
I. Das Zeitalter der Französischen Revolution 31
1. Deutsche Klassik und Französische Revolution
Zur Entstehung einer Denkform . . . . . . . . . . . . 33
2. Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 49
3. Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt
Zur Geschichte einer sozialen Frage . . . . . . . . . . 66
II. Programmatik und Freundschaftsbund .... 85
1. Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 87
2. Naturforschung und deutsche Klassik
Die Jenaer Gespräche im Juli 1974 . . . . 105
3. Goethes Gedicht Die Braut von Korinth
Zum Balladenjahr der deutschen Klassik. 119
III. Formen des nicht klassischen Dramas. 125
1. Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein . 127
2. Episches im Theater der deutschen Klassik
Eine Betrachtung über Schillers Wallenstein 140
3. Komik und Komödie in Goethes Faust. 173
IV. Gegenklassische Wendungen . . . . 189
1. Hölderlins Ode Dichterberuf
Zum schriftstellerischen Selbstverständnis um 1800. 191
2. Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik. 209
3. Brentanos naive und sentimentalische Poesie. 231
V. Spätwerk und Altersstil . . . . . . . . 249
1. Goethe und das Problem seiner Alterslyrik . 251
2. Goethes Gedicht Der Bräutigam
Ein Beitrag zur Form seiner Alterslyrik . 262
3. Goethes Maximen und Reflexionen
Denkformen und Bewußtseinskritik 274
Anmerkungen ............ . 287
Einleitung
Weimarer Klassik und Weimarer
Republik
Zur Geschichte eines ungeschichtlichen Denkens
Die erste Republik auf deutschem Boden, die im Zeichen Weimars begann, nahm
im Zeichen Weimars auch ihr Ende: mit den Feiern, Reden und Schriften zum Ge-
denkjahr 1932. Man kann den Aussagewert einer solchen Feststellung bezweifeln und
meinen, daß es bloß Zufall war, wenn das Goethejahr zum letzten Jahr dieser Repu-
blik wurde. Doch kann es auch anders gesehen werden. Denn es ist so abwegig nicht,
zwischen Anfang und Ende einen zwar nicht monokausalen, aber einen doch inneren
Zusammenhang herzustellen - einen solchen, in dem die Bezeichnung der ersten
deutschen Republik als einer Weimarer Republik beschlossen liegt; denn diese Be-
zeichnung ist weit entfernt, etwas ganz und gar Zufälliges zu sein. Der Auffassung eines
solchen Zusammenhangs widersprechen die geschichtlichen Tatsachen, wie es
scheint: die Wahl Weimars als Ort der Nationalversammlung hatte in erster Linie
pragmatische Gründe. Berlin oder Potsdam kamen schon aus Gründen der inneren
Sicherheit nicht in Frage. Man dachte an eine Stadt in der Mitte oder im Süden
Deutschlands. Würzburg mit seinem ehrwürdigen Schloß wurde eine Zeitlang erwo-
gen und diskutiert [1]; und daß der »Geist von Weimar« an der Wahl des Ortes
beteiligt gewesen sei, wird von dem Historiker der neuen Verfassung (Willibalt
Apelt) ausdrücklich bestritten: »Das Reichsamt des Innern war mit der Aufgabe
betraut worden, einen geeigneten Ort für die Tagung zu finden, und schlug Erfurt,
Eisenach oder Weimar vor. Ebert entschied sich für Weimar, jedoch nicht um den
>Geist von Weimar< gegen den >Geist von Potsdam< auszuspielen, wie dies später so
oft versucht worden ist, sondern lediglich aus dem sehr nüchternen Grunde, daß
Weimar militärisch gut abzuschützen war und mit seinem neuen Theater eine recht
brauchbare Stätte für die Sitzungen, dazu auch die Möglichkeit bot, Abgeordnete und
Behördenvertreter in größerer Zahl unterzubringen«. Aber der Verfasser dieses Bu-
ches gibt gleichwohl zu: »Immerhin standen alle, die sich damals im Weimarer Natio-
naltheaterversammelten, insofern sie solchen Gefühlen überhaupt zugänglich waren,
stark unter der Wirkung des genius lock [2] »Immerhin«, räumt der Verfassungshi-
storiker ein; und immerhin beschwört Friedrich Ebert in seiner Rede Zur Eröffnung
der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung eben diesen Geist nun
doch! Wir lesen die folgenden Sätze: »Die preußische Hegemonie, das Hohenzollern-
sche Heer, die Politik der schimmernden Wehr sind bei uns für alle Zukunft unmög-
lich geworden. Wie der 9. November 1918 angeknüpft hat an den 18. März 1848, so
4 Einleitung

müssen wir hier in Weimar die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealis-
mus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. Es charakterisiert durchaus die nU!: auf
äußeren Glanz gestellte Zeit der Wilhelminischen Ära das Lassallesche Wort, daß die
klassischen deutschen Denker und Dichter nur im Kranichzug über sie hinweggeflo-
gen seien. Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und
Dichter, wieder unser Leben erfüllen. Wir müssen die großen Gesellschaftsprobleme
in dem Geiste behandeln, in dem Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm
Meisters Wanderjahren erfaßt hat: Nicht ins Unendliche schweifen und sich nicht im
Theoretischen verlieren«. [3]
Keine Frage, daß es einem Volk nicht verwehrt bleiben darf, sich zum Zweck eines
neuen Anfangs zu seinen besten Traditionen zu bekennen. Man hat Grund, sich über
Bekenntnisse wie diese zu freuen, und zweifellos sind sie auch gut gemeint. Doch
müssen sie geschichtlichem Denken verpflichtet bleiben, und geschichtlich denken
heißt auch, daß man sich im Bewußtsein einer solchen Tradition des Abstandes
bewußt ist, der uns von ihr trennt - und heißt fernerhin, daß man etwas geschichtlich
Gewordenes nicht behandelt, als hätte man es mit einer Erscheinung der Gegenwart
zu tun. Wo ein solches Bewußtsein nicht vorhanden ist, können sich Formen unge-
schichtlichen Denkens entwickeln, besonders aber dort, wo man sich an Traditionen
klammert, um der Modeme aus dem Wege zu gehen. Wo sich die Proportionen derart
verschieben, wo man einer Gegenwart zu wenig von dem zuerkennt, was sie beanspru-
chen darf, gerät man leicht auf jene Wege, die nach rückwärts führen. In der Vorge-
schichte der ersten deutschen Republik gibt es zahlreiche Wege dieser Art. Es gibt
eine Vielzahl von Wegen nach Weimar, ehe man die Stadt der deutschen Klassik zum
Ort der deutschen Nationalversammlung kürt. Diese Wege als solche eines zumeist
ungeschichtlichen Denkens bedürfen dringend der Aufklärung, damit sich unser ge-
schichtliches Denken klärt und damit wir über dem Glanz einer großen Kultur die
Trübungen nicht übersehen, die es in der Geschichte ihrer Rezeption gegeben hat.
Von bestimmten »Niederungen« der Vorgeschichte eines solcherart ungeschichtli-
chen Denkens ist hier zu sprechen.
Wege nach Weimar heißt eine Schriftenreihe, die 1905 zu erscheinen begann, zu-
nächst in Form von Monatsblättern, ehe sie in den Jahren 1910/11- in den Jahren des
expressionistischen Aufbruchs! - als zweite Auflage in sechs Bänden erschien; zu einer
dritten und vierten ist es am Ende des Krieges gekommen. [4] Begründer und Heraus-
geber dieser »Wege« war Friedrich Lienhard, den man in unseren Literaturgeschich-
ten als einen Vertreter der deutschen Heimatkunst genannt findet. Aus dem Elsaß
stammend, hatte er während der achtziger Jahre in Berlin sein Damaskus erlebt, das
ihn zunehmend aus der Gegenwart hinaus und in die Vergangenheit hinein führte.
Eines seiner frühen Dramen mit dem Titel Weltrevolution war schon wieder verges-
sen, als ihm das Buch Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn zum literarischen
Erlebnis wurde. Von den Naturalisten, die er in Berlin kennengelernt hatte, distan-
zierte er sich rasch. »Diese Leute«, heißt es in einer autobiographischen Skizze, »sind
so kalt, so nüchtern, so modem-rationalistisch, so undeutsch, so wissenschaftlich, so
religionslos«. [5] Los von Berlin heißt die Devise, der er sich nunmehr verschreibt,
und Weimar wird eine der wichtigen Stationen seiner Reisen in die Vergangenheit.
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 5

Was ihm die Stadt bedeutet, wird im Vorwort zum ersten Band ausgesprochen: »Das
Wort> Weimar< erhält erst - wie die Worte> Wartburg<, >Sanssouci<, >Hellas< - Leben
und Sinn, wenn es in jedem von uns ähnliche Wirkungen erzeugt, wie sie dort lebendig
gewesen [... ] Demnach ist der Weg nach Weimar ein Weg in die schöpferische Stille.
Der Weg nach Weimar ist ein feines Abstandhalten von der Körperlichkeit der Er-
scheinungswelt«. Ästhetische Kultur in Erinnerung an die Weimarer Klassik versteht
sich als »Sehnsucht nach Freude, Güte und Harmonie«. Ungeschichtliches Denken
bezeugt sich in Formen der Erbaulichkeit. Gegenüber einem »modemen Nerven- und
Seelensystem« wird in diesen Blättern eine Welt ohne Dissonanzen beschworen - eine
Poesie nicht von dieser Welt und nicht in dieser Zeit, sondern sub specie aeternitatis:
»jene eigentliche und reine Poesie flutet, wie durch einen Wolkenriß, aus dem Ewi-
gen herein. Solche Poesie ist etwas Transzendentes«. [6] Die so verkündete Kultur der
Stille erweist sich rasch als jene »machtgeschützte Innerlichkeit«, wie sie Georg
Lukacs bezeichnet hat. Denn: »die Ausbreitung des politischen Deutschland zu Lande
und zu See ist für die Entfaltung eines neuen deutschen Idealismus kein Hemmnis«,
heißt es in einer 1901 veröffentlichten Schrift Lienhards. [7] In einer geschichtsklit-
temden Verfahrensweise werden Texte der Weimarer Klassik einem germanischen
oder germanistischen Kontext eingefügt und entsprechend ihrer ursprünglichen Be-
deutung entstellt. Zwar gibt es !J.ier und da behutsame Abgrenzungen gegenüber allzu
lautstark vorgetragenen Parolen völkischer Kultur. Sogar in Hinsicht auf den »Kern
der Rassenfrage«, wie ein Kapitel überschrieben ist, gibt es sie. Aber das hindert
unseren Heimatkünstler keineswegs, die »völlige Emanzipation der Juden« zu bedau-
ern und den edlen Grafen Gobineau so zu interpretieren, daß aus dessen Essay über
die Ungleichheit der Rassen tragische Heldendichtung herausgelesen werden kann.
[8] Damit ist die Wertwelt bezeichnet, die man sich aus weißer Rasse und nordischem
Menschentum zusammengesetzt zu denken hat. Die unberechtigte Berufung auf Her-
der läßt nicht auf sich warten: »Aber alles außer uns liegende Große in Gegenwart
und Vergangenheit wird nur wertvoll, wenn es in uns wiedergeboren wird. Und so ist
Herders nordische Welt erst voll gegenwärtig geworden, als sich ein großer Künstler
ihrer bemächtigte: - Richard Wagner ist Herders Erfüllung«. [9]
Von Anfang an behält der Herausgeber dieser Blätter Bayreuth fest im Blick. Hier
war in den siebziger Jahren und im Anschluß an den Bau des Festspielhauses als einer
Art Weihestätte deutscher Kunst ein Zentrum der Verehrung und Verklärung Ri-
chard Wagners entstanden und einer völkischen Kulturpflege nicht zuletzt. Sogleich im
ersten Heft der Wege nach Weimar findet sich ein Bild des Philosophen Heinrich von
Stein, »des früh verstorbenen Wagner-Jüngers«, wie er vorgestellt wird. Er bedeute
die theoretische Verbindung zwischen Bayreuth und Weimar, heißt es in dem eigens
ihm gewidmeten ersten Band. [10] Ungeschichtliches Denken, das in der Feindschaft
zur Modeme seinen Ausdruck findet, haben beide Kreise gemeinsam. Auch hier,
auch im Bayreuther Kreis, findet man die Kultur der Modeme mit Begriffen wie
Verfall, Decadence und Degeneration umschrieben. Auch hier, wie ähnlich bei Lien-
hard, sind Regeneration und Wiedergeburt die Werte, die solchem Verfall entgegen-
gesetzt werden. Was man von Cosima, der Herrin des Hauses, gesagt hat, gilt für
andere Wortführer nicht minder: »Die gesamte modeme Dichtung lag jenseits ihrer
6 Einleitung

Verständnismöglichkeit«. [11] Man hält sich an das Bewährte: an klassische Ästhetik,


wie sie im benachbarten Weimar entwickelt worden ist. »Wir sind die Enkel Schil-
ler's, und Bayreuth steht auf Weimarischem Grunde«, kann 1890 ein Sprecher des
Kreises (Hans von Wolzogen) in den Bayreuther Blättern verkünden. [12] Noch ein
wenig emphatischer drückt es der kunstsinnige Schwiegersohn (Henry Thode) in
einem Beitrag desselben Organs aus: »Weimar und Bayreuth! Es ist ein an Bedeutung
Unermeßliches, was in diesen beiden Worten zusammengefaßt wird! Nicht ein Geson-
dertes, sondern ein im tiefsten Sinne Gemeinsames, Einiges: das Ideal deutscher
Kultur!« [13]
Philosophie als eine Form des strengen Denkens ist in diesen Wegen nach Weimar
nur in bescheidenem Umfang zugelassen, am ehesten als Kunst-Philosophie im Sinne
von Lienhards Gewährsmann Heinrich von Stein. Gelegentlich werden einige Stellen
aus Platons Dialogen eingerückt, oder Gedanken über Kant wie diese: "Kant ist uns
ein Sinnbild und Gleichnis für einen geklärten und gefestigten Zustand. Seine gesun-
de Klarheit sammelt die Kräfte des Inneren aus Zerstreuung und Schwärmerei«. [14]
Philosophie wird zu einer solchen der Innerlichkeit wie im Schrifttum des im benach-
barten Jena wirkenden Philosophen Rudolf Eucken, der im Jahre 1908 für sein ange-
strengtes Denken den Nobelpreis für Literatur erhält. Fünf Jahre später ruft er zur
Sammlung der Geister auf in einer Schrift, die im Jahre des Kriegsausbruchs in zweiter
Auflage und im fünften Tausend erscheint. Zwar wird eingeräumt, daß eine »einfache
Wiederaufnahme des klassischen Lebensideals« nicht in Frage komme: »die Entwick-
lung des 19. Jahrhunderts und sein geschichtliches Bewußtsein stellt uns viel zu deut-
lich vor Augen, daß jenes Lebensideal geschichtliche Zusammenhänge und prinzipiel-
le Voraussetzungen hat, die nicht für die Gegenwart gelten«. [15] Aber in Wirklich-
keit wird dieses Lebensideal nun doch der Gegenwart als etwas empfohlen, das zu
übernehmen sei: als eine Kultur der Innerlichkeit, die sich mit Macht, Kampf und
Unterwerfung der Welt durchaus verträgt, so daß es im Blick auf die Befreiungskrie-
ge heißen kann: »so hat überhaupt der deutsche Idealismus der klassischen Zeit mit
seiner Verinnerlichung die nationale Erhebung und die großen Leistungen des 19.
Jahrhunderts allererst möglich gemacht«. [16] Von Goethes Ganzheitsdenken wird
hier gesprochen, als sei es auf die Gegenwart mühelos übertragbar: »Die volle Eini-
gung beider Welten verkörpert uns namentlich Goethe [... ] Je bewußter und kräfti-
ger der deutsche Idealismus seine Art entfaltet, desto mehr wird er solchem Gegen-
satz und der mit ihm drohenden Entzweiung der Menschheit entgegenwirken«. [17]
Das Ideal heißt »volle Harmonie der Welten«. [18] Philosophie hat sich zur Weltan-
schauung verdünnt. [19]
Was vorliegt, kann man zweifellos als Ideologie bezeichnen - als eine Weimar-
Ideologie, die man auf sich beruhen lassen könnte, wenn es die Wirkungen nicht
gegeben hätte, die von ihr ausgegangen sind. Die Auflageziffern beweisen es. Solche
Ideologien können aufgrund falscher Zeitverhältnisse entstehen, aufgrund eines fal-
schen Bewußtseins von Zeit hinsichtlich einer bestimmten Vergangenheit wie auch
der eigenen Gegenwart. Mit der Hinwendung zu einer vergangenen Kultur geht
Feindschaft gegenüber der Gegenwart und den Formen fortschreitenden Lebens ein-
her. Die Aneignung einer solchen Kultur, als Aneignung im eigentlichen Sinn dieses
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 7

Wortes, unterbleibt, weil sie als Erbe übernommen wird, das man zu kennen meint,
als ein Besitz, mit dem man hantiert. In anderen Worten wurde die mit einer solchen
Besitznahme einhergehende Entstellung als Klassik-Legende beschrieben, in einer
von Reinhold Grimm und Jost Hermand herausgegebenen Schrift, in deren Vorwort
es heißt: »Und so hat denn die Klassik-Legende in diesem Lande einen geradezu
kultischen Anstrich. Oft genug, wenn es an wirklich neuen oder eigenen Konzepten
mangelte, wurden flugs Goethe und Schiller herbeibemüht, um einen ideologischen
Trumpf in der Hand zu haben, der sich schlechterdings kaum überbieten ließ«. [20] Es
kommt, wie hier ausgeführt wird, »zu den seltsamsten Verzerrungen und Verzeichnun-
gen«; auch einzelne Werke können davon betroffen sein - wie Goethes Iphigenie.
Eine Gestalt des antiken Mythos wird in der Geschichte ihrer Rezeption ihrerseits ein
Mythos im Sinne einer Legende oder eines ideologischen Schemas. Sie wird zum
Mythos des Weiblichen, das erlöst, wie Hans Robert Jauß in einer rezeptionstheoreti-
schen Erörterung dargelegt hat: »Dieser neue Mythus hat entscheidend dazu beigetra-
gen, daß Goethes im Ansatz aufklärerisch-humanitäres Drama seit dem 19. Jahrhun-
dert mehr und mehr in den schönen Schein eines zeitlos wahren Klassizismus geraten
ist«. [21] In anderer Weise ist Faust als ein solcher Mythos beschrieben worden.
»Faustische Kultur«, »Faustische Mission«, »Faustische Religion« sind Schlagworte
einer Faust-Ideologie, wie Hans Schwerte gezeigt hat. Ihre politischen Implikationen
beschreibt er wie folgt: »Die >Faustische Ideologie< [... ] bedeutete ein wahnhaftes
Sich-Verhalten-Sollen gegenüber einer historisch und politisch geprüften, nüchternen
Einsicht in die deutsche Wirklichkeit [... ] Sprache ohne Realität, auch ohne poeti-
sche Realität endet im Bodenlosen einer Ideologie. So wurde das >Faustische< ein
euphorisches Gebilde, >falsches Bewußtsein<, dessen Verbindung mit der Dichtung
bald nur noch scheinhaft war; vielmehr wurde auch die Dichtung im fortschreitenden
Prozeß dieser Ideologisierung selbst destruiert«. [22] Für den Prozeß einer solchen
Ideologisierung wird die Zeit zwischen 1870 und 1918 angesetzt. Aber man hat guten
Grund anzunehmen, daß er über diesen Zeitpunkt hinaus und in die Weimarer Repu-
blik hinein fortgewirkt hat. Die Formen ungeschichtlichen Denkens, mit denen wir es
zu tun haben, erweisen sich als Formen eines vorwiegend nationalkonservativen Den-
kens. Etwas vereinfacht gesagt, handelt es sich zumeist um Ideologien von rechts.
Es liefe auf so etwas wie eine Geschichtsklitterung hinaus, wollte man solche Wei-
mar-Ideologien um ihr linkes Pendant unbesehen ergänzen. Denn von einem einheitli-
chen Goethebild der Linken kann in der Zeit der Weimarer Republik nicht entfernt
die Rede sein. An vielfach respektlosen Ausfällen und Invektiven fehlt es nicht. Über
Weimar fällt Egon Erwin Kisch, der »rasende Reporter«, in einer Weise her, daß man
noch heute erschrickt: »Ganz Weimar ist eine zur Stadt erhobene Dichterbiographie«,
heißt es in einer 1926 veröffentlichten Schrift: »Lächerlich, solch ein Geniekult, lä-
cherlich, ein Leben in Spiritus zu konservieren, lächerlich, die Bewohner einer Stadt
zu Mitwirkenden eines beständigen Passionsspieles zu machen«. [23] Das sind Formen
ungeschichtlichen Denkens nach der anderen Seite hin. Aber man wird ihnen das
Recht auf Ungerechtigkeit zugestehen dürfen, wenn es darum geht, einen eigenen Stil
gegenüber einer übermächtigen Tradition durchzusetzen. Um einen solchen geht es
auch Bertolt Brecht, wenn er sich gegen die Übernahme der deutschen Klassik zu
8 Einleitung

behaupten sucht, gleichfalls mit wenig Respekt und Pietät: »Wenn sie [die Klassiker]
nun gestorben sind, wann sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Krieg
gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer. Wenn es wahr ist, daß Soldaten, die
in den Krieg zogen, den >Faust< im Tornister hatten - die aus dem Krieg zurückkehr-
ten, hatten ihn nicht mehr.« [24] Dagegen wurde ein so einflußreicher Denker wie
Georg Lukacs am Verständnis moderner Literatur durch seinen fortwirkenden Klas-
sizismus immer erneut gehindert. Seine Bildung, seine Gesellschaftslehre und sein
Weltbild sind gewiß nicht von gestern. Sie verbieten jede Gleichsetzung mit lediglich
umgekehrten Vorzdchen, blickt man auf die Ideologen von rechts. Ein nur nach
rückwärts gerichteter Denker ist er in keiner Phase seines bewegten Werdegangs
gewesen; allenfalls gibt es in seiner Gedankenwelt einige rückwärtsgerichtete Uto-
pien. Doch hat seine beharrliche Gegnerschaft zur Modeme in einem normativ-unge-
schichtlichen Verständnis von Klassik und klassischer Ästhetik ihren Grund, und
nicht erst die Debatte zwischen ihm und Brecht macht es offenkundig. Streit unter
Brüdern und Genossen derselben Partei hat es in der Zeit der Weimarer Republik
wiederholt gegeben. Die Kontroversen sind vor allem nachzulesen in der Zeitschrift
Die Linkskurve, an deren Redaktion Georg Lukacs maßgeblich beteiligt wird. [25]
Was alles in ihr an moderner Literatur verurteilt und abgekanzelt wird, einschließlich
Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, macht noch heute betroffen. Die Rekurse mit
Berufung auf Goethe oder Hegel sind nicht immer auf den ersten Blick in ihrem
Klassizismus erkennbar, und der stramme Traktat über Tendenz und Parteilichkeit,
1932 in der genannten Zeitschrift veröffentlicht, läßt an Lenin weit eher denken als an
bürgerliche Traditionen. Doch ist es diese mit neuartigen Begriffen begründete Un-
terscheidung vor allem, die es erlaubt, modeme Techniken wie Montage oder Repor-
tage als Tendenz abzutun, während man im Begriff der Parteilichkeit die realistische
Darstellungsweise erkennen soll, die jederzeit zu gelten hat. Mit Hilfe solcher Begriffe
wird der Anschluß an die überlieferte Ästhetik hergestellt. In derselben Zeitschrift -
und gleichfalls im Goethejahr - nimmt sich Lukacs Ernst Ottwalt vor, den Verfasser
des noch heute lesenwerten Justizromans Denn sie wissen, was sie tun. Die Kategorie
der Gestaltung wird gegen die Darstellungsform der Reportage ausgespielt. Aber-
mals kann nicht zweifelhaft sein, daß es sich bezüglich der Verwendung des Begriffs
um klassizistische Denkweisen handelt. Schon der erste Satz dieser Abfertigung läßt
daran keine Zweifel, daß Lukacs mit ihr im Raum klassischer Erzähltraditionen ver-
bleiben will: »Der neue Roman Ottwalts ist repräsentativ für eine ganze Literaturrich-
tung, für eine ganz bestimmte Art der schöpferischen Methode. Er arbeitet mit den
Mitteln der Reportage, an der Stelle der >überkommenen<, >veralteten<, >bürgerli-
chen< Mittel der >erfundenen< Handlung und der >gestalteten< Menschen.« [26] Die
Reportage als journalistische Praxis läßt er gelten, aber als literarische Form lehnt er
sie ab. Wie in der »klassischen« Ästhetik (Goethes und Hegels) wird ein geschlosse-
nes Weltbild vorausgesetzt, eine entschieden dichterische und symbolische Darstel-
lung. Auch der Symbolbegriff im Sinne Goethes wird übernommen und bewahrt. [27]
Dementsprechend wird vom Drama Geschlossenheit verlangt. Die offene Form des
epischen Theaters kann von solchen Normen und Doktrinen her verworfen werden.
Der Reportage-Romancier Ernst Ottwalt hatte in seiner Replik mit unverkennbarer
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 9

Berufung auf Brechts Dramentheorie ausgeführt: »Denn das Ziel dieser Arbeiten im
Sinne von Lukacs ist die Gestaltung, das Streben nach einem abgeschlossenen, in sich
ruhenden und in sich vollendeten Kunstwerk, vor dem der Leser sich automatisch in
einen Genießer verwandelt, keine Folgerungen zieht und sich mit dem, was da ist,
begnügt, mit der emotionellen Erregtheit, mit der sanften Genugtuung, ein schönes
Buch gelesen zu haben«. Von seinem Widersacher, von Georg Lukacs, wird die
Berufung mühelos durchschaut: »Das entspricht genau der Gegenüberstellung, die
Bert Brecht zwischen altem und neuem Theater macht«, so daß der Verfechter eines
epischen Theaters in die Ablehnung einbezogen werden kann, um die es sich handelt.
Von einem »unhistorischen, unkritisch verallgemeinernden Grundzug« in diesen Tex-
ten und Theorien ist die Rede. Wo tatsächlich geschichtliches Denken vorliegt und
wo ungeschichtlich gedacht wird, ist kaum noch zu unterscheiden. Diese und andere
Kontroversen werden im letzten Heft der Linkskurve ausgetragen [28], am definitiven
Ende der Weimarer Republik. [29] Aber als Klassizist gibt sich Georg Lukacs nicht
erst jetzt zu erkennen. Schon die frühen Schriften, der literarischen Modeme so viel-
fach zugewandt, werfen ihre Schatten voraus.
Der 1911 veröffentlichte Essayband Die Seele und die Formen zeigt den jungen
Lukacs auf der Höhe der Zeit. [30] Rudolf Kassners Platonismus; der an seiner
Verlobung scheiternde Kierkegaard; Stefan Georges Lyrik und die neue Einsamkeit,
von der sie zeugt, oder Richard Beer-Hofmanns Erzählformen - das sind unter ande-
rem die Themen, die eine Nähe zur Gedanken- und Formenwelt der europäischen
Modeme bezeugen. Aber das Verhältnis zu ihr bleibt abwartend, reserviert und viel-
fach beunruhigt, wenn am Gedicht Georges Einsamkeiten - »an menschlichen Ge-
meinschaften vorbei« - wahrgenommen werden: »Der Mensch der George-Lieder
[... ] ist ein einsamer, aus allen sozialen Banden gelöster Mensch. Was man begreifen
muß und was man nie begreifen kann: daß zwei Menschen nie wirklich zu Einem
werden können, das ist der Inhalt jedes seiner Lieder und der Inhalt ihrer Gesamt-
heit.« [31] Um so warmherziger fällt die Erinnerung an die noch ungebrochene Bür-
gerlichkeit Theodor Storms aus. Hier heißt es: »In diesen Schriften, die entstanden
sind, als das alte deutsche Bürgertum >modem< zu werden begann, umfließt noch ein
märchenhafter, phantastischer Schimmer diese veralteten Interieurs«. [32] Das Wort
»modem« ist bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzt; und daß sich der jun-
ge Philosoph den Wagnissen der Modeme nicht völlig ungeschützt aussetzt, geht aus
dem abschließenden Beitrag hervor, der über Paul Ernst und die Metaphysik seiner
Tragödie handelt. [33] Einem heute kaum noch zu rettenden Drama, der Tragödie
Brunhild, wird die Krone der neuen Klassik zuerkannt: >>>Brunhild< ist die erste Erfül-
lung, die dem Tragiker Paul Ernst vergönnt ward [... ] Es ist sein erstes >griechisches<
Drama [... ] Ihre gewaltigen Kämpfe um den Stil eines modem-klassischen Dramas
entsprangen aus einem Unwillen über das notwendige Verzichten auf vieles, das jede
griechische Form mit sich bringt [... ] Es ist dies die neuerstandene Tragedie classi~
que, ein Vertiefen, ein Verinnerlichen der höchsten Absichten Corneilles, Racines
und Alfieris«. [34]
Wir befinden uns damit im Zentrum der sogenannten Neuklassik, die es vorüberge-
hend gab und deren Wortführer Paul Ernst - neben Samuel Lublinski - gewesen ist.
10 Einleitung

Thomas Mann stand solchen Bestrebungen zeitweilig nicht ganz fern, wie seine Kon-
troverse mit Theodor Lessing vermuten läßt, der seinerseits als ein Widersacher
Lublinskis hervorgetreten war. [35] Der Residenz von Weimar schien im ersten Jahr-
zehnt unseres Jahrhunderts eine neue Blütezeit bevorzustehen. Hier hatte sich der
schon genannte Paul Ernst im Jahre 1903 eingerichtet. Er stand mit Gleichgesinnten
in freundschaftlichem Kontakt, zu denen auch Wilhelm von Scholz gehörte, der über
seinen Aufenthalt in Weimar in mehreren Kapiteln seines Erinnerungsbuches An 11m
und Isar handelt. Über Paul Ernst heißt es hier: »Tradition, Erhaltung, Kultur, straffe
Führung, Vaterland waren keine veralteten Dinge mehr. Sie zogen ihn, nicht einmal
sehr allmählich! von links immer mehr nach rechts hinüber.« [36] Großes hatte man
sich vorgenommen. Ein modernes Festspielhaus mit Blick auf Bayreuth stand auf
dem Plan, und Henry van de Velde, der nach Weimar berufen worden war, war mit
der Ausführung beauftragt. Seinen Glanz sollte dieses Festspielhaus durch die Schau-
spielerin Louise Dumont erhalten, aber schon ein Jahr später hatte sich das Vorhaben
zerschlagen. [37] Auch Harry Graf Keßler - als Diplomat nannte man ihn später den
roten Grafen - war an solchen Bestrebungen beteiligt. Vom 9. April 1903 ist der an
HofmannsthaI gerichtete Brief datiert: »Überhaupt wäre es für mich eine übergroße
Freude, wenn Sie Beziehungen nach Weimar knüpfen könnten, die Sie häufiger und
vielleicht auch länger diesem meinen Wirkungskreis nähern würden. Man hofft an
diesem Hof allmählich durch ausgezeichnete Menschen, die man dauernd oder vor-
übergehend, aber wiederkehrend hinzieht, wieder ein Kulturzentrum und eine geistige
Atmosphäre, die auf vielen Gebieten unseres Lebens mögliche Blüten fördern wür-
de.« [38] Um Kunstliebhaber von gestern handelte es sich in keinem Fall. Paul Ernst
war mit Arno Holz befreundet gewesen und hatte in den neunziger Jahren zeitweilig
auf dem linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei gestritten. Ebenso wenig ist
dem Grafen Keßler, dem Mitherausgeber und mäzenatischen Förderer der Zeitschrift
Pan, eine Gegnerschaft zur modernen Kunst nachzusagen. Der Prozeß, den es zu
beschreiben gilt, hat mit der Literatur der Moderne mancherlei zu tun, aber mit einem
neuen oder neuartigen Klassizismus doch eben auch. Wir werden aufmerksam auf
Verlaufsformen der literarischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, die im Gebiet des
deutschen Kaiserreichs und der nachfolgenden Weimarer Republik anders beschaffen
sind als in allen anderen europäischen Ländern. Durchaus der Gegenwart zugewandt,
vermag man sich doch nicht gänzlich dem Bann der Weimarer Klassik zu entziehen;
und kaum daß die literarische Moderne begonnen hat, zieht man bereits, wie Samuel
Lublinski, Bilanz und spricht von ihrem Ausgang. [39] Was als Literaturrevolution
vorlaut verkündet worden war, mündet schon im ersten Jahrzehnt des neuen J ahrhun-
derts in eine partielle Zurücknahme der Moderne ein, wie man diesen Vorgang
bezeichnen kann. Bisin die hohen und höchsten» Ränge«hinaufisterzu beschreiben. Die
Wortführer und Repräsentanten der modernen Literatur im deutschen Sprachgebiet
erscheinen nicht nur aufgrund ihrer Repräsentanz als gleichsam »klassische« Autoren
dieses Zeitalters; sie werden vielmehr zu Klassikern der Moderne in einem doppelten
Sinn: zu solchen, die auf ihre Weise die Literatur der Moderne repräsentieren, aber
zum andern Teil doch eben auch zu denjenigen, die nicht aufhören, sich mit dem
Dichterfürsten von Weimar zu vergleichen. [40]
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 11

Von Gerhart Hauptmann als dem ältesten dieser »Klassiker« ist in diesem Zusam-
menhang zu sprechen. Seine Anfänge haben mit den wie immer beschaffenen Wegen
nach Weimar nichts zu tun. Als Dichter des sozialen Dramas Die Weber fühlt er sich
der antiklassischen Tradition im Sinne und im Stil Georg Büchners verwandt - nicht
der klassischen Tradition; und als Schöpfer eines neuen sozialen Dramas wird er von
der an der neuen Literatur interessierten Jugend verehrt. Der Zeuge einer solchen
Verehrung ist Ernst Toller. In seinem autobiographischen Werk Eine Jugend in
Deutschland berichtet er über einen Schulverein, dem er angehört hat. Man hatte
Hauptmanns Dramen gelesen, und als der Direktor davon erfuhr, reagierte er mit
Verbot: »Gerhart Hauptmann [... ] ist ein übermoderner, demokratischer Flachkopf,
ich verbiete Ihnen solche Lektüre, lernen Sie Mathematik, das ist wichtiger fürs
Leben«, heißt es in Tollers Schrift. [41] Noch 1911 zeigt Hauptmanns Tragikomödie
Die Ratten weit mehr von kritischer Distanz zur Tradition als von irgendeinem Kult des
Klassischen. Die nicht mehr überzeugende Tragödie überlieferten Stils wird zu einem
Thema der dramatischen Handlung, und die Tragödien Schillers sind zu Deklamatio-
nen verkommen. In solchen Formen, und in der Person des Theaterdirektors Hassen-
reuther vor allem, werden sie parodiert. Aber schon einige Jahre zuvor, schon mit der
Reise nach Griechenland im Jahre 1907, hatte die Besinnung auf das Klassische
eingesetzt, wie sie sich im Reisetagebuch Griechischer Frühling niederschlägt. Der
Stilwandel, der damit einhergeht, schließt ein verändertes, ein zunehmend positives
Verhältnis zu Griechentum und Goethezeit ein. Es wird von einer Art Goethe-Nach-
folge begleitet, die in einer merkwürdig physiognomischen Ebenbildlichkeit ihren
Ausdruck findet. So wird es verständlich, daß Gerhart Hauptmann zum Verhältnis
von Weimarer Klassik und Weimarer Republik mancherlei beiträgt, und es sieht ganz
so aus, als beginne das Bewußtsein geschichtlicher Distanz hier und da zu schwinden.
So vor allem in den Reden, die er in der Zeit der Weimarer Republik gehalten hat.
Deutsche Wiedergeburt lautet der Titel einer solchen, die 1921 im Festsaal der Wiener
Universität vorgetragen wurde. Die Absage an Krieg und Militarismus, die sich mit
einem Bekenntnis zum Geist von Weimar verbindet, ist hier ähnlich ausgesprochen
wie in Eberts schon zitiertem Text. Wir lesen die folgenden Sätze: »Trotzdem zum
Beispiel ein Deutscher, wie es heißt, Berthold Schwarz, das Pulver erfand, so werden
wir doch nicht in der Kanone, in Krieg und Kriegsgeschrei einen besonders wertvol-
len Teil deutschen Wesens erblicken»; und indem er solcher Herrschaft eine Absage
erteilt, wird eine andere Herrschaft im Bild deutscher Muttererde beschworen: »Un-
beachtet und still hat während seiner Herrschaft in dem geheiligten Raume zu Wei-
mar, Goethes Arbeits- und Sterbegemach, der Teller mit Erde gewartet, den man
sich gern als ein Symbol deutschen Wesens vorstellen wird. Erde hat der trotz allem
olympische Greis und Mann wenige Tage, vielleicht wenige Stunden vor seinem Tode
nachdenkend geprüft, jene Erde, aus der er geboren und in die er hinabsteigen sollte
[... ] Und da wir nun den Namen eines Erlauchten, den Namen Goethes, einmal
genannt haben und gerade in ihm die umfassendste und herrlichste Inkarnation deut-
schen Wesens wunderbar Ereignis geworden ist, wird man sich gern dieses Wesens an
ihm verdeutlichen.« [42] Es ist wie stets der Ton, der die Musik macht, ein betont
sakraler Ton, der sich hier als eine Form ungeschichtlichen Denkens bezeugt. In einer
12 Einleitung

Rede aus derselben Zeit, in dem 1922 gehaltenen Vortrag Goethe und die Volksseele
wird es bestätigt. Unüberhörbar ist der religiöse Wortschatz auch hier. Von den
heiligsten Pflichten des neuen Deutschland ist die Rede, von Seelenwanderungen und
Wallfahrten, von denen gesagt wird, daß sie der Volksseele zuträglich sind - was
immer diese auch sei; und fast an die Redeformen des Heimatkünstlers Friedrich
Lienhard erinnernd, kann die »bindende Kraft« beschworen werden, die sich über
Länder und Meere hinweg mit dem Namen Schillers und Goethes verbinde: »Diese
Namen sind Mächte, denen, seit sie in die Geschichte getreten sind, das Deutschtum
der Welt Unermeßliches verdankt. Es sind im höchsten Grade reale Mächte.« Im
Blick auf Goethe scheinen sich die Spaltungen von selbst zu erledigen, von denen die
modeme Welt so vielfach betroffen ist: »Im Werke des echten Dichters liegt nichts
Trennendes [... ] Martin Luther, richtig verstanden, mußte Spaltungen hervorbrin-
gen, Goethe, richtig verstanden, kann nur einigen.« [43]
Von solcher Zuversicht im Verhältnis von Weimarer Klassik und Weimarer Repu-
blik ist in einem der letzten Zeugnisse aus dieser Zeit nur noch wenig zu spüren. Als
einer der ersten Repräsentanten der Literatur meldet sich Gerhart Hauptmann im
letzten Jahr der Weimarer Republik mit dem Goethe-Drama Vor Sonnenuntergang zu
Wort, das schon vom Titel her an eine Zeit der Düsternis denken läßt, die kommen
könnte. Doch handelt es sich um ein Goethe-Drama nur vergleichsweise und im
übertragenen Sinn. Das Stück spielt in der damaligen Gegenwart und kann als Zeit-
stück verstanden werden. Aber unverkennbar sind die Anklänge und Anspielungen,
die auf Goethes geistige Welt verweisen. Die Kinder des Geheimen Kommerzienrates
Clausen heißen Wolfgang, Egmont, Bettina und Ottilie, und die Hauptgestalt selbst
läßt uns an Goethe und seine Idee des neuen Lebens denken: an die Idee der wieder-
holten Pubertät, die ihm die Begegnung mit Ulrike von Levetzow in Marienbad
bescherte. Von einer solchen Erneuerung, von der Idee einer Vita Nova, ist auch
Hauptmanns Kommerzienrat inspiriert. Aber er scheitert als ein anderer König Lear
an der Habgier seiner Kinder, und die Einheit von Geschäft und Geisteswelt verwirk-
licht sich nicht; sie bricht im Gegenteil auseinander. Was in der Rede des Jahres 1922
als Einheit im Zeichen und im Namen Goethes noch verkündet worden war, wird
nunmehr zurückgenommen. Damit würde auch Hauptmanns Goethe-Nachfolge wi-
derlegt. Aber auf eine kaum zu übersehende Art bezeugt sie sich gleichwohl; denn die
Autobiographik des Dramas spricht für sich selbst. Sie kommt ~ Ausdruck in der
Anspielung auf das erste Drama, das Hauptmann berühmt gemacht hatte, und der
Vergleich mit dem Dichterfürsten in Weimar ist das, was hier so merkwürdig berührt.
Das eigene Leben sich spiegelnd in Goethe und seiner dichterischen Welt! Abermals
kann es sich nicht darum handeln, Beziehungen moderner Schriftsteller zur deutschen
Klassik zu beargwöhnen. Nicht nur wollen wir uns freuen, daß es sie gibt; wir wollen
auch hoffen, daß es sie weiterhin gibt. Aber ein anderes sind die ungeschichtlichen
Bezugnahmen, die darin beruhen, daß man sich fortwährend vor allem mit Goethe
vergleicht. Das Ergebnis ist das Bewußtsein einer Wiederholung in einem vermeint-
lich noch immer gemeinsamen Traditionsraum - als sei Dichterberuf ein über die
Zeiten hin unveränderter Begriff.
Von unvergleichlich anderem Rang, weil im höchsten Grade differenziert, stellt
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 13

sich das hier in Frage stehende Verhältnis im Weg und im Werk Thomas Manns dar;
und auch hier ist es in erster Linie Goethe, um den es geht, von gelegentlichen
Befassungen mit Schiller wie in der Erzählung Schwere Stunde oder der großen Rede
des Jahres 1955 abgesehen. Das leuchtet ein; denn Goethe, anders als Schiller, war
der Typus desjenigen Repräsentanten, der im Dichterbild unseres Jahrhunderts noch
immer fortwirkt. Das Bewußtsein schriftstellerischen Tuns als eines repräsentativen
Daseins ist im Denken Thomas Manns von früh an ausgeprägt. Schon bezogen auf die
spätere »Fürsten«-Novelle Königliche Hoheit heißt es in einem Brief aus dem Jahre
1903 (an Walter Opitz): »Man führt, möchte ich sagen, ein symbolisches, ein reprä-
sentatives Dasein, ähnlich einem Fürsten ... «. [44] Noch im denkwürdigen Brief-
wechsel mit Bonn, im Schreiben an den Dekan dieser Philosophischen Fakultät, wirkt
das Bewußtsein dichterischer Repräsentanz fort: »Seit ich ins geistige Leben eintrat«,
schreibt Thomas Mann, »habe ich mich in glücklichem Einvernehmen mit den seeli-
schen Anlagen meiner Nation, in ihren geistigen Traditionen sicher geborgen gefühlt.
Ich bin weit eher zum Repräsentanten geboren als zum Märtyrer«. [45] Auch Gustav
von Aschenbach im Tod in Venedig ist ein solcher, obgleich angefochtener Repräsen-
tant; er habe es gelernt, sagt er von sich selbst, von seinem Schreibtisch aus zu
repräsentieren [46]; und zumal an diesem Text zeigt sich beispielhaft, wie komplex sich
Weimarer Klassik und Goethes Welt in diesem Werk spiegeln und brechen. An
kritischer Distanz fehlt es trotz Bewunderung und Faszination keineswegs. Sie kommt
zum Ausdruck in der zunehmenden Entfernung von der Goethe-Novelle, als die Der
Tod in Venedig konzipiert worden war. Schon im Ansatz ist das Grundmotiv erkenn-
bar, das in einem späteren Brief aus dem Jahre 1920 erläutert wird: »Leidenschaft als
Verwirrung und Entwürdigung war eigentlich der Gegenstand meiner Fabel« [47];
und daß der Welt Goethes, seiner Dichtung wie seiner Biographie, nicht nur stoffli-
cher Anregungen verdankt werden, geht aus demselben Brieftext unmißverständlich
hervor: »Ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit wurde angestrebt, wie
ich es in den >Wahlverwandtschaften< ideal vollendet fand, die ich während der Arbeit
am T.i.V., wenn ich recht erinnere, fünfmal gelesen habe.« [48] Die Wendung vom
Gleichgewicht deutet an, daß mit ihr ein bestimmter Stil angestrebt werden soll: ein
auf das Vorbild der Klassik gerichteter Stil. In einem um diese Zeit verfaßten Aufsatz
über Richard Wagner, der solche Intentionen bestätigt, steht der gegen Wagner
gerichtete Satz: »eine neue Klassizität, dünkt mich, muß kommen«. Damit ist gemeint:
»irgend etwas ausnehmend Logisches, Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges
und Heiteres«. [49] Dennoch hat Thomas Mann als Verfasser der Novelle Der Tod in
Venedig - einem Text der Moderne in jedem Betracht! - mit der Neuklassik um Paul
Ernst und Samuel Lublinski so gut wie nichts zu tun, sieht man auf das abgeschlossene
Werk; und daß die Klassizität nicht außerhalb der Moderne gesucht wird, sondern in
ihr, zeigt sich in der Distanz zum Werk Richard Wagners als einem in der Optik
Thomas Manns historisch gewordenen Werk: »Wagner ist neunzehntes Jahrhundert
durch und durch ja, er ist der repräsentative deutsche Künstler dieser Epoche«. [50]
Daß seine Bedeutung um diese Zeit an Gewicht zugunsten Goethes verliert, kann
man folgern. [51] Solche Annäherungen an Goethes dichterische Welt und an den Stil
einer neuen Klassizität erreichen in den Betrachtungen eines Unpolitischen ihren Hö-
14 Einleitung

hepunkt, obwohl in diesem vielfach fatalen Text die »Errungenschaften« der Moder-
ne nicht einfach preisgegeben werden. An der Rechtfertigung der Krankheit in litera-
rischen Werken wird es offenkundig. Aber zu keiner Zeit im Leben Thomas Manns
sind die Berufungen auf Goethe so zahlreich wie in den Jahren des Übergangs vom
Kaiserreich zur Republik. Goethe ist geschätzt als der Unpolitische schlechthin, der
sich für die Demokratie nicht erklärt, aber gegen die Revolution: »Goethe konnte die
Französische Revolution nicht lieben. Dies Erlebnis verstörte ihn tief, und er selbst
hat gesagt, daB es seine produktiven Kräfte auf Jahre gelähmt habe.« [52] DaB sich
der Zivilisationsliterat von seinem Bildungsethos nicht mehr angesprochen fühlt, wird
gerügt; und von Bildung wird in diesen Betrachtungen gesprochen, als hätte man es
mit einem zeitlosen Begriff zu tun. Ähnlich zeitlos hört sich an, was über den Geist von
Weimar gesagt wird. Abermals geht es um den Zivilisationsliteraten, was meistens
heiBt, daß es gegen ihn geht: »Der Zivilisationsliterat steht im ganzen nicht gut mit
Goethe, dem Anti-Revolutionär, dem Quietisten, dem Fürstenknecht. Hundertmal
hat er Voltaire gegen ihn ausgespielt [... ] Gegen das >Reich< aber spielt er Goethe
aus und pflichtet recht unwählerisch der demokratischen Allerweltsmeinung bei, daB
das Machtreich ein Affront gegen den Geist von Weimar sei.« [53]
Was sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch vielfach als ungeschichtli-
ches Bekenntnis äuBert, erhält im Zauberberg, dem groBen Roman der Weimarer
Republik, den Charakter geschichtlicher Distanz - einer solchen, die das Erzählwerk
zu gestalten sucht. Denn Humanismus und Humanität sind hier nicht mehr als Begrif-
fe einer Tradition aufzufassen, die unverändert Geltung beanspruchen können. Sie
erscheinen im Lichte ironischer Kritik - einer Sprachkritik, wie sie für die Literatur
der Moderne kennzeichnend ist. Der Anwalt solcher Ideen ist Settembrini, der wort-
reiche Italiener. Mit dem Zivilisationsliteraten der Betrachtungen hat er einige Züge
gemeinsam. Doch wäre es gänzlich verfehlt, eine Identität zwischen beiden Figuren
herzustellen. [54] In dieser Gestalt vor allem, in dem Italiener Lodovico Settembrini,
wird die groBe Tradition des europäischen Humanismus zur Rede gestellt; und sie
wird im Verfahren einer solchen Befragung als rückständig erkannt. Der Vertreter
eines solcherart rückständigen Humanismus erweist sich als Klassizist, und nach der
Devise, wonach das Klassische das Gesunde sei, kann er Krankheit nur als eine Form
der Liederlichkeit abtun. [55] Serenus Zeitbiom im Doktor Faustus - ein »Humanist
und Liebhaber des klassischen Altertums« auch er - ist im Personenensemble Thomas
Manns der unmittelbare Nachfolger. Wie Settembrini ist auch Hans Castorp, die
Hauptgestalt des Romans, der Krankheit und dem Tode nicht verfallen. Aber anders
als der Italiener läBt er sich auf sie ein, um zu Einsicht und Erkenntnis zu gelangen;
und anders als dem Humanisten ist ihm Humanität kein Besitz, sondern etwas, das es
auszudrücken gilt. Das ist nur in dichterischer Form auszusprechen möglich, in einer
Art Gedankentraum, in dem wir den Satz lesen, auf den das Geschehen wie auf einen
Gipfelpunkt zuzulaufen scheint: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem
Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« [56] In der Geschichte der
zahlreichen Wege nach Weimar bedeutet dieser Roman einen einzigartigen Höhe-
punkt, aber im gegenläufigen Sinn: keine Absage an Goethes Welt oder an die
Tradition des europäischen Humanismus, aber ein deutlich sich äuBerndes BewuBt-
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 15

sein von der Geschichtlichkeit dieser Tradition. Und einzigartig erst recht ist die Art,
wie hier ein Werk der modemen Literatur im Prozeß einer Ablösung entsteht - der
Ablösung von einer »Vaterwelt«, wie sie ähnlich in der modemen Psychologie be-
schrieben wurde. [57] Der Roman Lotte in Weimar und das Spätwerk des Doktor
Faustus führen diesen Prozeß fort. Die dargestellte Distanz fällt in beiden Werken um
vieles deutlicher aus; aber beide Romane sind bereits nach dem Ende dieser ersten
Republik entstanden. Sie sind entstanden im erzwungenen Exil.
Von Thomas Mann führen manche Linien zu Stefan George und seiner Dichtung
hin, so wenig persönliche Beziehungen es im Verhältnis beider gegeben hat. Der
langjährige Freund Ernst Bertram kann als eine Art Mittelsmann zwischen beiden
»Welten« angesehen werden. Doch anders als im Fall Thomas Manns geht es hier
nicht um bestimmte Entfernungen von Klassik und klassischer Kultur; es handelt sich
im Falle Stefan Georges und seines Kreises um einen Prozeß der Annäherung weit
mehr. Aber zwischen George selbst und seinem Kreis gibt es Unterschiede; denn
dieser Dichter war keineswegs bereit, in der dichterischen Welt eines anderen aufzu-
gehen oder mit dessen Stimme zu sprechen. Trotz seiner Vorliebe für Huldigungen
legt er auf Abgrenzung Wert, die in der Anthologie Das Jahrhundert Goethes nicht
verleugnet wird. Mit dem Titel wird auch zum Ausdruck gebracht, daß man es mit
einer abgeschlossenen Geschichte zu tun hat, was die Lyrik des neunzehnten Jahrhun-
derts angeht. Auch das große Gedicht Goethes lezte Nacht in Italien, 1908 entstanden
und in den Blättern für die Kunst zuerst veröffentlicht, bezeugt Distanz. Denn was
Goethe zu vollenden nicht gelungen war, so kann man den Gedankengang umschrei-
ben, ist George fortzuführen bereit: »In kaum verhüllter Weise konfrontiert sich
George hier mit Goethe«, so deutet es Claude David als ein namhafter Kenner seiner
Dichtung: »Er setzt also Goethe fort oder, besser gesagt, er verwirklicht, wovon
Goethe träumte.« [58] Aber anders verhält es sich im Fortgang der Jahre mit dem
Kreis Stefan Georges, in dem die Professoren gegenüber den Dichtem zunehmend an
Bedeutung gewinnen.
Hier wohl am deutlichsten ist der Vorgang der partiellen Zurücknahme der Moder-
ne zu verfolgen, um den es geht. In der Nachfolge Mallarmes und der französischen
Symbolisten hatte George begonnen, und auf die eigene Kunst, die um der Kunst
willen gemacht wird, war man stolz. Züge der Modeme an dieser Lyrik hat der
Philosoph Georg Simmel sehr früh erkannt und beschrieben, und er hat sich dabei in
zustimmender Weise des Begriffes »l'art pour l'art« bedient. Dieser bedeute keines-
wegs definitive Abschnürung von den anderen Mächten und Provinzen des Daseins.
Kunst sei immer mehr als nur Kunst, und was man l'art pour l'art nenne, sei ein
ästhetischer Rigorismus, der dem ethischen Rigorismus entspricht. [59] Die Aufsätze
Simmels über Georges frühe Lyrik sind um die Jahrhundertwende erschienen. Jahr-
zehnte später wird ihm eine derart undeutsche Begrifflichkeit von Friedrich Wolters,
dem »Chefideologen« des Kreises, gründlich verdacht. In seiner 1930 veröffentlichten
Hagiographie, in dem Buch Stefan George und die Blätter für die Kunst, teilt er mit:
»Sein [Simmels] Entdeckungseifer für das aesthetische Problem hatte ihm die Sicht
auf die Gehalte der Dichtung verdeckt, und als Simmel kurz nach der Abfassung des
Aufsatzes George in Rom traf und durch einige Angriffe von Freunden gereizt sich
16 Einleitung

beim Dichter selbst die Bestätigung für die Richtigkeit seiner Ansichten holen wollte,
antwortete dieser lachend, es gäbe keine Zeile seiner Gedichte, die nicht ganz erlebt
sei.« [60] Ein Wandel hat stattgefunden: man spricht nun in Erinnerung an eine große
Tradition lieber von Erlebnislyrik und orientiert sich an Goethe; aber nicht an der
geschichtlichen Gestalt, sondern an einer solchen, die noch in der Gegenwart als Maß
und Norm verstanden werden soll. Ein solches Bild Goethes, ins Mythische und
Monumentale überhöht, hat Friedrich Gundolf inmitten unserer modemen Welt auf-
gerichtet. Das Interesse an moderner Literatur tritt deutlich zurück hinter eine literar-
historische Tradition, der sich Gundolf auch von seinem Beruf her verbunden weiß.
Dieses Goethebuch, das wie kaum ein anderes auf weite Kreise der Gebildeten in
Deutschland gewirkt hat, ist in erster Auflage im Kriegsjahr 1916 erschienen. Es
beginnt mit dem lapidaren Satz: »Das nachfolgende Buch ist betitelt >Goethe<, ohne
weiteren Zusatz«. Daraus sei schon zu entnehmen, worauf es ankomme, heißt es im
Fortgang der einleitenden Erläuterung: »auf die Darstellung von Goethes gesamter
Gestalt, der größten Einheit worin deutscher Geist sich verkörpert hat«. Mit dem
Gestaltbegriff ist der wichtigste Leitbegriff in dieser auf Größe gerichteten Darstel-
lung genannt. Mit ihm sind Einheit und Ganzheit gemeint, Leben und Werk als nur
»verschiedene Attribute einer und derselben Substanz, einer geistig leiblichen Ein-
heit«. [61] In einer Welt der Zersplitterung, der Dissoziation und der Spaltungen
unterschiedlichster Art wird Ganzheit beschworen, verkündet und eingeprägt: der
feste Punkt müsse gefunden werden, der es gestattet, »sein Werk als ein Ganzes, eben
als einen Goethe zu überschauen. Man muß Goethe als ein Ganzes erlebt haben«. [62]
Erlebnis, als Ur- oder als Bildungserlebnis, ist der zweite seiner Leitbegriffe. Einheit
der Gestalt und Einheit in Erlebnis und dichterischer Produktion haben den großen
Menschen im Blick: »Wie nur große Menschen wirklich eine eigene Gestalt und ein
eigenes Werk haben, so haben auch nur große Menschen ein eigenes Schicksal«. Ganz
anders der gewöhnliche Mensch! Er hat bloß Eigenschaften, Meinungen, die kaum
zählen. Jener aber, der große Mensch, ist auch der klassische Mensch: »Das Zusam-
menstimmen dieser drei Fälle [... ] eigenes Schicksal, eigene Schöpferkraft, eigene
Gestalt - macht erst den klassisch großen Mann [... ] Goethe ist der einzige Deutsche
der jene Harmonie völlig erreicht hat, er ist deshalb unser vorzugsweise klassischer
Mensch.« [63] Hier wird nicht nur im Ton der Ausschließlichkeit gesprochen, hier
wird auch zeitlos gedacht: nichts entwickelte sich, »was nicht seine Gestalt ewig fest-
legte - Goethe ist das größte verewigte Beispiel der modemen Welt [... ] - Der
modeme Mensch [... ] hält in dem Parzenlied-monolog Iphigeniens eins seiner ewigen
Gebete« - und so fort. Das Denken in den Kategorien der Zeitlosigkeit findet im
Begriff des klassischen Menschen seinen Ausdruck; und damit ist nicht nur an die
Zeit der Klassik oder an Goethes Klassik als eine Phase seines literarischen Schaffens
zu denken, sondern an etwas weit mehr, das auf überzeitliche Daseinsformen zielt. Auf
eine merkwürdig undeutliche Art gehen das Klassische und das Modeme ineinander
über, als hätte man es mit auswechselbaren Begriffen zu tun. Eine Verwechslung der
Zeitverhältnisse nimmt man wahr, die Goethe in den Wahlverwandtschaften in ihren
bedenklichen Folgen dargestellt hat. Eine solche Verwechslung der Zeitverhältnisse -
des Klassischen mit dem Modemen -liegt auch Gundolfs einflußreichen Goethebuch
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 17

zugrunde. Natürlich hat auch ein Literarhistoriker wie Friedrich Gundolf mit diesem
längst historisch gewordenen Buch ein Anrecht darauf, daß man es historisch aus
seiner Zeit heraus versteht, und die Kriegszeit hat man in Rechnung zu stellen. Auch
ist es nicht ein Werk des ungeschichtlichen Denkens in jedem Sinn. Das Verhältnis zur
geschichtlichen Welt - zu Caesar, Friedrich 11., Paracelsus, Napoleon oder Nietzsche-
ist im Kreis oder im Umkreis Stefan Georges so innig und intensiv, daß geschichtliche
Gestalten im Prozeß der Vergegenwärtigung nicht selten wie aus ihrer Zeit herausge-
löst erscheinen. In solchen Wandlungen des Denkens als Antworten auf Positivismus
und Historismus war Gundolfs Goethebuch auf seine Art modern, als es 1916 er-
schien; und daß es für die moderne Biographik grundlegend geworden sei, wie Ri-
chard Alewyn 1931 in seinem Nachruf betonte, trifft sicher zu. [65] Dennoch bleibt
aus wissenschaftskritischer Sicht anzumerken, daß sich die Modernität im Denken
Gundolfs wie im Kreis Stefan Georges mit einem Klassizismus verbindet, der stets in
Formen eines ungeschichtlichen Denkens beruht; nirgends deutlicher als dort, wo
man auf bestimmten Normen insistiert, die in jedem Fall auf Normen eines bestimm-
ten Welt- und Menschenbildes gerichtet sind. Solche Normen können innerhalb der
modernen Kultur und innerhalb der modernen Wissenschaft immer weniger überzeu-
gen, weil es in ihnen zunehmend auf Koexistenz des Verschiedenen, auf Polyvalenz
und Pluralität ankommt. Der normative Charakter dieses Goethebildes aber ist offen-
kundig; und normativ heißt zugleich, daß die einen dazugehören, die anderen aber
nicht. Es wird »einverleibt« und ausgegrenzt. Jean Paul und vor allem Hölderlin sind
die großen Gestalten innerhalb dieser neuklassizistischen Mythenwelt, die man bereit-
willig aufnimmt.
In Georges Lobrede wird Hölderlin aus allen zeitlichen Bezügen entfernt; er wird in
eine Art zeitlose Moderne entrückt: »Durch aufbrechung und zusammenballung ist er
der verjünger der sprache und damit der verjünger der seele [... ] mit seinen eindeutig
unzerlegbaren wahrsagungen der eckstein der nächsten deutschen zukunft und der
rufer des Neuen Gottes«. [66] Auch Norbert von Hellingrath ist bestrebt, Hölderlin
von allem zu trennen, was ihn mit der Zeit oder dem Geist der Romantik verbinden
könnte: das Vaterländische, so steht es in der Vorrede zum vierten Band, dürfe nicht
verwechselt werden »mit jener Abwendung vom antiken Vorbild, welche den Kern
der im weitesten Sinne so genannten romantischen Bewegung ausmacht«. [67] Das
Klassische wird hier noch einmal und im strengen Sinn auf die antike Welt bezogen,
und der Romantik wird nachgesagt und verdacht, diesen Bezug - das antike Vorbild! -
preisgegeben zu haben. In welchem Maße die Aufnahme Hölderlins in den Bezirk
solcher Normen an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, erweist sich am Ver-
ständnis der Krankheit als einer Frage, die sich von der Biographie des Dichters her
früher oder später stellt; und daß das Klassische das Gesunde zu sein habe, ist als
Erwartung oder Forderung in jedem Klassizismus angelegt. Wie George hierüber
denkt, hat er unmißverständlich in derselben Lobrede ausgesprochen: »Uns küm-
mern wenig die berufsmühen des mannes und der krankheitsablauf des greisen: wir
sind heil genug um wissen zu dürfen dass jenseits von vernünftig und gesund der
dämon seine wirkung tut« [68]; und Norbert von Hellingrath, der hochverdiente
Entdecker des Spätwerks, denkt in diesem Punkt nicht grundsätzlich anders. Auch er
18 Einleitung

grenzt aus und trennt, als sei über Krankheitsverläufe wie diese durch exakte Tren-
nungen zwischen dem Kranken und dem Gesunden zu entscheiden: »Diese Entwick-
lung läuft ab ohne Sprung und Absatz; weder das Jahr 1801 noch der Aufenthalt in
Frankreich und das äusserliche Auftreten des Wahnsinns bilden irgend einen merkli-
chen Einschnitt. Nach der lezten Barockstufe dieses Weges aber ist eine sichere Gren-
ze zu ziehen: was ich dem sechsten Bande zugewiesen habe ist nicht mehr die gerade
folgerichtige [... ] Fortführung des anfänglich eingeschlagenen Weges [... ] es gehört
nicht mehr in das feste Gefüge des Schicht auf Schicht sich türmenden Gesamtschaf-
fens«. [69] Hellingrath hat mit solchen Prämissen das Spätwerk Hölderlins, weil es
nur als ein total »gesundes« zu retten war, den (Editions)-Händen seines Wiedersa-
chers Franz Zinkernagel entrissen. Das ist sein Verdienst. Aber sein Menschenbild
bleibt eigentümlich zwiespältig. Sein Bemühen, vom Spätwerk alles fernzuhalten, was
an Krankheit erinnern könnte, hindert ihn nicht, dieselbe Krankheit in Erinnerung an
Platons Phaidros und entgegen dem medizinischen Wissensstand der Zeit zu verklä-
ren, wie es in dem Vortrag über Hölderlins Wahnsinn geschieht. [70] Und gemäß
diesem Klassizismus und seinen Denkformen wird das von Krankheit schon umstellte
Gedicht Hälfte des Lebens, das in diesem Vortrag erläuternd einbezogen wird, mit den
Kategorien des Vollendeten umschrieben. [71] Es sind solche Denkformen, die den
Herausgeber der jüngsten Edition (Dieter Sattler) zu einer verärgerten Replik provo-
zierten: »Als müsse der Gesang vor Selbstverwundung bewahrt werden, wird ihm die
Zwangsjacke eines nachklassischen Formidols angelegt. Die Vorliebe fürs> Vollende-
te< bleibt an der Erscheinung kleben und eliminiert, was den formalen Eindruck
stört.« [72] Die beiden Hölderlin-Editionen vor dem Ersten Weltkrieg - diejenige von
Hellingrath und diejenige von Zinkernagel - scheinen durch Welten voneinander
getrennt zu sein. Aber Gemeinsames gibt es gleichwohl, und vornehmlich durch die
Art ihres Klassizismus unterscheiden sie sich: der am Positivismus des 19. Jahrhun-
derts entwickelte Klassizismus Zinkernagels wird von Hellingraths modernem Klassi-
zismus überholt und überboten. Das Hölderlinbild der zeitgenössischen Schriftsteller,
vor allem derjenigen, die dem Expressionismus zuzurechnen sind, steht auf einem
anderen Blatt. Für Schriftsteller wie DÖblin, Heym oder Benn ist es neben dem
künstlerischen Rang dieses Dichters das Bild des Geschlagenen, Beschädigten und
Verstoßenen, für den man sich interessiert und mit dem man sich gegebenenfalls
identifiziert - wie es Alfred Döblin rückblickend in seiner Schicksalsreise ausgespro-
chen hat: »Den >Hyperion< von Hölderlin trug ich zwischen 1898 und 1900 mit mir
herum, in einem zuletzt völlig aufgelösten Reklambändchen. - So aufmerksam und so
intensiv las man ihn wohl damals im allgemeinen noch nicht. Diese beiden, Kleist und
Hölderlin, wurden meine geistigen Paten. Ich stand mit ihnen gegen das Ruhende,
das Bürgerliche, Gesättigte und Mäßige.« [73]
Das Beispiel Hölderlins steht für das, was man im Kreis Stefan Georges »einver-
leibt«. Aber zahlreich sind die Gestalten und Gebiete, die man einzuschränken oder
auszugrenzen trachtet. Das beginnt in Gundolfs Goethebuch mit Goethe selbst, sieht
man auf alle Phasen seiner Schaffenszeit. Zum Bild seiner mythischen Größe und des
klassischen Menschen, das es als Norm zu beschreiben gilt, trägt das Spätwerk wenig
bei: die geistige Weltstellung dieser späten Phasen sei nicht mehr »Eroberung neuer
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 19

Sphären und Methoden, sondern die Auswirkung und Anwendung, die Bebauung
und Ernte des unerschöpflichen Bereichs den er sich in den vorigen fünfzig Jahren
gesichert und erobert hatte.« [74] Auch hier, wie man sehen muß, walten Normen.
Eine solche ist Jugend als Idee und Idol, und sie ist in diesem Kreis auch weiterhin
eine prägende Idee. Eine zweite Norm ist mit dem Klassischen gegeben. Das Alter
kann solche Rechte nicht beanspruchen, weshalb von einer Eroberung neuer Sphären
nicht gesprochen werden könne. Auch Schiller ist in diesem Normensystem nur mit
Vorbehalt zugelassen. Was George an ihm schätzt, hat er uns in einer der Vorreden zur
Anthologie Das Jahrhundert Goethes wissen lassen: »Aber als schönheitslehrer und
erzieher· als verfasser der Aesthetischen Erziehung' der seinem volk auch heute noch
fremd ist und vermutlich noch lange bleibt· wird Schiller noch einmal eine glänzende
auferstehung feiern«. [75] Dagegen gehört er als dramatischer Dichter nicht zum
inneren Kreis derer, die zählen. Auch in Gundolfs Goethebuch sind die Vorbehalte
deutlich ausgesprochen: »Von allen ganz großen Erlebnissen Goethes hat vielleicht
Schiller am wenigsten auf Goethes Gehalt, d. h. letzten Endes auf sein Weltbild
gewirkt« [76]; und ausgegrenzt wird schließlich alles, was Romantik heißt: als eine im
Grunde unverbindliche und ungesunde Kunst ohne Maß und Wert. Die beiden Bände
Romantiker mit ihrer fast wahllosen Einbeziehung von Schriftstellern, die mit Roman-
tik kaum noch etwas zu tun haben, sind kein literarhistorisches Meisterstück. Sie sind
ihrerseits der Ausfluß unhistorisch-normativen Denkens. [77]
Aber das Paradigma solcher Ausgrenzungen heißt Heinrich von Kleist. Kein Dich-
terbild, wie es sein sollte, sondern eher eine Art Gegenbild! Die Vorstellung vom
Klassischen als dem Gesunden: hier wird sie noch einmal gegen einen Dichter vorge-
bracht, den die Moderne fast als einen der ihren schätzt, wie es in der Verleihung des
Kleistpreises zum Ausdruck kommt, der im Zeitraum von 1912-1932 einer der angese-
hendsten Literaturpreise war, die man zu vergeben hatte [78]; und während moderne
Dichter Hölderlin und Kleist wiederholt zusammen nennen, wie es Döblin tut, wird
im Kunstverständnis Georges wie Gundolfs zum Nachteil Kleists aufs strengste ge-
trennt. Als hätte man es im Falle Hölderlins nur mit Gesundheit und im Falle Kleists
nur mit Krankheit zu tun! Die Norm, die es gebietet, einen Dichter wie diesen fernzu-
halten, hat Gundolf am deutlichsten im Penthesilea-Kapitel seines Kleistbuches for-
muliert. Hier heißt es: »Doch in Kleist spürte er [Goethe] vom ersten Augenblick
[... ] die Widersetzlichkeit, die Ungesetzlichkeit, den Vulkanismus des einsamen
Selbst und er wehrte sich gegen dessen Anspruch, als eine Norm zu gelten oder die
Norm, das heilige Menschenrnaß zu überrennen [... ] Goethe sah in Kleists Unzeitge-
mäßheit das vorderste Zeichen seines Unmaßes und Außermaßes überhaupt«. [79]
Aber vom Überrennen des »heiligen Menschenrnaßes« und der Norm zur Abnormität
ist es nur ein Schritt, diese psychologisch oder psychiatrisch verstanden. Aus solchem
Verständnis oder Mißverständnis heraus ist der Gebrauch von Vokabeln wie »hybrid«
oder »Hysterie« oder »Nervenzerfaserung« zu erklären. Das im schlechten Sinne bei-
spielhafte Werk der Moderne, das man aus solchem Anlaß nennt, indem man es mit
Kleists Penthesilea vergleicht, ist Hofmannsthais Elektra. Auch Gundolf läßt sich
diesen Vergleich nicht entgehen. [80] So wenig wie Georg Lukacs, der sich über beide
Dichter und Dramenwerke als Deformierungen antiken Maßes empört. Diese Empö-
20 Einleitung

rung wird schon nach dem Scheitern der Weimarer Republik ausgesprochen. Aber
mit den im ersten Jahrhundertdrittel ausgebildeten Denkformen hat sie sehr viel zu
tun.
Die Art seiner Ausgrenzung findet sich im Essay Die Tragödie Heinrich von Kleists,
1936 verfaßt, mit dem das Buch Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts beginnt. Mit
Begriffen des Humanen, des Humanismus oder der Humanität wird bereitwillig ope-
riert - ganz so, als habe man es mit zeitlosen Kategorien zu tun, die unverändert gelten.
Wie der deutschen Klassik, so wird in diesem Essay der Antike ein ungeschichtlicher
Humanismus in Gestalt einer Weltanschauung unterstellt: Kleist, so lesen wir, werde
zum »ersten Initiator der dionysischen Barbarisierung der Antike, der Vernichtung
des aus der Antike geschöpften Humanismus.« [81] Mit Berufung auf die humanisti-
sche Vernunft Goethes und Schillers ist dieser Essay gerichtet gegen Kleist im Maße
seiner Modernität und mehr noch gegen modeme Literatur überhaupt, so daß nahezu
jede Modernisierung antiker Stoffe als Enthumanisierung begriffen werden kann.
Hofmannsthais Elektra wird ganz so verstanden: als Gipfelpunkt nämlich einer Bar-
barisierung der Antike. Man muß daneben halten, was ein so konservativ denkender
Literarhistoriker wie Friedrich von der Leyen über dasselbe Drama zu sagen weiß -
um zu finden, wie wenig sich die Auffassungen der in ihrer Herkunft so unterschiedli-
chen Geister unterscheiden. Friedrich von der Leyen also in seinem 1922 bei Eugen
Diederichs erschienenen Buch Deutsche Dichtung in neuer Zeit: »Diese Elektra ist
eine pathologische Studie, eine Ausgeburt der widrigen Dekadenzen unsrer Zeit [... ]
Kein Hauch des antiken Pathos weht in dieser Tragödie! Der Dichter entblößt alle
Unsauberkeiten einer weiblichen gepeinigten, ungeliebten Seele, mit jener häßli-
chen, zersetzenden Kunst, die auch von den Geheimnissen den Schleier reißt, die
immer Geheimnisse bleiben sollen.« Man hielte es kaum für wahr, aber es ist so:
Hofmannsthais Elektra wird mit Goethes Iphigenie verglichen und kann natürlich in
Anbetracht solcher »Gräßlichkeiten« moderner Pathologie, wie hier gesagt wird,
nicht bestehen: »Läßt sich der tiefe Sturz des modemen Dramas aus der Höhe der
großen reinen Kunst unsrer Vorfahren erschütternder zeigen?« [82] Auch Georg Lu-
kacs schließt seinen klassizistischen Kleist-Essay als ein Dokument ungeschichtlichen
Denkens mit einem Lob des Gesunden wie weiland Julian Schmidt: »Goethe, der
infolge seiner gesunden Abneigung gegen jede Dekadenz Kleist nicht mochte, nennt
ihn einen >von der Natur schön intentionierten Körper, der von einer unheilbaren
Krankheit ergriffen< sei. Die unheilbare Krankheit lag im damaligen Deutschland,
und es war für Kleist keine Möglichkeit vorhanden, sie wirklich zu überwinden. Er ist
an der Miserabilität Deutschlands, an seinen eigenen reaktionären wie dekadenten
Instinkten tragisch zugrunde gegangen.« [83] Das ist wenigstens eine mißverständliche
und zudem widerspruchsvolle Ausdrucksweise, denn so »unheilbar« kann die Miser-
abilität der Zustände im Blick auf die »humane Vernunft Goethes und Schillers« doch
nicht gewesen sein, die es in derselben Zeit, wie Lukacs ausführt, gegeben hat. Zur
mißverständlichen wie widerspruchsvollen Ausdrucksweise gesellt sich ein fahrlässi-
ger Umgang mit dem Begriff Dekadenz. Zu deutsch: Entartung! Max Nordau,
Schriftsteller und Arzt, hat über diesen Begriff und was alles er bedeuten kann, im
Eingang der Modeme ein bitterböses und verfemendes Buch verfaßt. Nahezu alle
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 21

Strömungen der Modeme vom Naturalismus bis zum Symbolismus, die es damals gab,
werden mit diesem Begriff in Acht und Bann getan. [84] Und was geschehen kann,
wenn man Denkweisen wie diese nicht aufs strengste kontrolliert, hat Peter Szondi in
seinen Vorlesungen über Poetik und Geschichtsphilosophie dargelegt: »Krankheit,
Unnatur: das sind Urteile, die übers Ästhetische weit hinausgreifen und nicht bloß ein
Kunstwerk als schlechtes verwerfen, sondern den Weg bahnen zu einem Verdikt, von
dem das Lebensrecht des Künstlers selber ereilt wird [... ] Das beginnt mit der Ver-
dammung der französischen Klassik als naturferner Kunst, führt zu Goethes Urteil
über die Kleistsche Dichtung als Zeichen von Krankheit, von Hypochondrie, und
mündet in die Barbarei, in der, was der eigenen Vorstellung vom Gesunden sich nicht
fügte, als entartet verfolgt wird«. [85] Der Schriftsteller Günter Kunert hat diesen
Passus 1975 in seinem Pamphlet für K., einem Pamphlet für Kleist, zitiert. Er hat
damit zur Diskussion gestellt, was man als Erbe der deutschen Klassik zu bezeichnen
pflegt, und es kann kaum zweifelhaft sein, daß es zugleich um Grundfragen im Ver-
hältnis von klassischer Ästhetik und moderner Literatur geht. [86] In welchem Maß
solche Normen im Georgekreis und in der Literaturgeschichtsschreibung des Kreises
in Geltung waren, bezeugt Max Kommerell, nachdem er sich von ihm getrennt hatte,
eindrucksvoll. Nun kann über Schillers Dramen wie über Kleists Dichtung gehandelt
werden. Seine Aufsätze gehören zum Vorzüglichsten, was über diese Gegenstände in
neuerer Zeit gesagt worden ist. Kein schlechtes Zeugnis für den Umgang mit Dich-
tung, wie er - trotz allem - in diesein Kreis zu lernen war, kann man hinzufügen.
[87]
Die modeme Literatur hat sich mit Musil, Kafka, Döblin, Rilke oder Trakl, um nur
diese zu nennen, weithin unbehindert von dem entwickelt, was hier als partielle Zu-
rücknahme der Modeme im Zeichen Weimars zu beschreiben war. Auch sind Anteil
und Ausmaß der Wirkung nicht zu überschätzen, die von Stefan George und seinem
Kreis ausgegangen sind. Doch läßt sich gerade an ihm die Eigenart des Problems
besser als an vergleichbaren Erscheinungen verdeutlichen. Der mit der Zeit fort-
schreitenden Literatur muß ohnehin das Recht eingeräumt werden, in einem schöpfe-
rischen Sinne ungeschichtlich und ungerecht gegen das Frühere zu sein. Dagegen
sollte es dem gebildeten Leser wie dem Historiker zukommen, nach mehreren Seiten
hin geschichtlich zu denken: nach der Seite der Tradition wie nach der Seite der
modemen Literatur. Am Georgekreis zeigt sich beispielhaft, wie sich eine von ihrem
Ursprung her modeme Literatur in Richtung auf eine klassizistische Modeme hin
verändert. Was durch solche Veränderungen bewirkt wurde, ist bekanntlich schwer zu
ermitteln. Doch sind Lehrer und Professoren an solchen Wirkungen in weit größerer
Zahl beteiligt, als es Schriftstellern je gelingen kann. Zudem bleiben Formen eines
derart ungeschichtlichen Denkens, wie es sie im »Weltbild« dieses modemen Klassi-
zismus gibt, auf George und seinen Kreis keineswegs beschränkt. Ein bedeutender
Literarhistoriker, dessen hochverdienstvolles Werk in der Zeit der Weimarer Repu-
blik zu erscheinen begann, vermittelt in Ton, Stil und »Einstellung« kein wesentlich
anderes Bild Goethes und seiner Zeit. Es handelt sich um Hermann August Korffs
groß angelegtes Werk Geist der Goethezeit, dessen erster Teil (über den Sturm und
Drang) im Jahre 1923 erschienen war. Um vieles wichtiger ist der zweite, der Klassik
22 Einleitung

vorbehaltene Teil. Das Vorwort wurde im September 1930 verfaßt, gegen Ende also
der Weimarer Republik. Dieses Bild der Weimarer Klassik ist bestimmt von der Idee
des Gleichgewichts und der Idee einer freien Gesetzlichkeit, die mit der Idee der
Schönheit identisch sei, wie einleitend gesagt wird. Wörtlich heißt es: »Denn das ist
es, was die Hochklassik unter Schönheit versteht: der harmonische Ausgleich zwi-
schen Freiheit und Gesetz, Natur und Geist, Stoff und Form, unbewußtem Trieb und
bewußtem Willen [... ] Und ihre Weltanschauung hat darum einen ebenso ausgeprägt
künstlerischen Charakter, wie ihre Kunstanschauung aus der letzten Tiefe ihrer Welt-
anschauung steigt.« Diese Idee der Schönheit dürfe aber nicht als etwas Statisches
angesehen werden, sondern vielmehr als Durchgangspunkt ewigen Werdens, »im
Sinne ewiger Steigerung«; und abschließend: »So ist denn erst dies die ganze Formel
für den Weg, auf dem die deutsche Geistesgeschichte zur Klassik emporgestiegen ist:
Freiheit, Gesetz, Schönheit und Entwicklung!« [88] Die Sprache bedarf keines Kom-
mentars. Sie ist geprägt von einem Raumdenken, in dem Niederes zu höchsten Höhen
emporsteigt; und hinsichtlich der Zeit dominiert das Ewige über das Werden - im
Begriff »eines ewigen Werdens«. Daß in einem solchen auf das Höchste gerichteten
Denken »Niederes«, wie die Revolutionskomödien oder die Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten, nichts zu suchen hat, ist nun einmal so: das historisch Konkrete wird
ausgespart zugunsten übergeschichtlicher Dimensionen, in denen nur reine Dichtung
gedeiht. Das letzte bestimmende Wort in Gundolfs Goethebuch heißt Vollendung-
im Blick auf Faust wie auf seinen Schöpfer: »und so steht Goethes größtes Werk am
Schluß seines Lebens da als das Bild seiner Vollendung«. [89] Auch in Korffs Geist
der Goethezeit ist dieses Wort noch einige Jahrzehnte später bezeichnenderweise das
letzte Wort: von der Vollendung der Kunstphilosophie handelt das abschließende
Kapitel des letzten Teils. [90] Als hätten uns jene nichts zu sagen, die gerade das
Unvollendete und Unvollendbare menschlicher Existenz bezeugen! Man hat es
schwer, sich vorzustellen, wie man sich von hier einen Weg in die Gegenwart und ihre
Literatur denken soll; denn es ist eine weithin zeitlos verstandene Klassik, die an
Schulen und Universitäten verbreitet wird, und es ist zugleich eine zeitlos anmutende
Sprache, in der man sie vermittelt. Ein bedenkliches Dokument solchen Denkens und
Sprechens teilt Ludwig Marcuse in seiner Autobiographie Mein zwanzigstes Jahrhun-
dert mit. Er berichtet über eine Feier aus Anlaß des 250-jährigen Bestehens seines
eigenen Gymnasiums, des berühmten Friedrich-Werder-Gymnasiums in Berlin; und
er zitiert, was in der Festschrift dieser Schule zu lesen war: »Wir Humanisten sind, wie
der Jon des Euripides, zu Wächtern eines Tempels bestellt. Wir wehren wie er mit den
Wedeln delphischen Lorbeers dem flatternden Ungetier, das mit Gekreisch die Stille
stören will, die herrschen muß, wo Jugend reifen soll. Wir hegen ein heiliges Feuer,
das gezeugt aus dem Funken, den Prometheus den Göttern abgelistet, unablässiger
Zubringung nährender Scheite bedarf. Helft uns, Werderaner, diesen Funken - er ist
der Menschheit bestes Teil- zu hüten!« [91] So geschehen im Jahre 1931! Natürlich
handelt es sich im Blick auf die Fülle des Vorhandenen um ein vereinzeltes, aber doch
nicht zufälliges Zeugnis, wenn man es im Zusammenhang dessen liest, was hier anzu-
führen war.
Demgegenüber deuten sich in der Besinnung auf das Verhältnis von Weimarer
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 23
Klassik und Weimarer Republik, zu der das Goethegedenkjahr Anlaß gibt, gewisse
Veränderungen an. Das betrifft vor anderem das Heft der Neuen Rundschau, das
Aufsätze von Thomas Mann, Jakob Wassermann, Johannes V. Jensen, Hermann
Hesse, Andre Gide, Emil Ludwig, Friedrich Gundolf, Jose Ortega y Gasset und
Gottfried Benn enthält. An Besinnungen auf die Geschichtlichkeit Goethes, seiner
Gestalt, seines Werkes und seiner Zeit, fehlt es keineswegs. Das gilt sogleich für den
großen Essay Thomas Manns, dem ersten dieses Heftes. Er stellt das bürgerliche
Zeitalter, als dessen Repräsentanten wir uns Goethe denken sollen, als eine zu Ende
gehende Epoche dar, über die er selbst schon vielfach hinausdenkt. So vor allem nach
der Seite des technischen Fortschritts wie nach derjenigen des sozialen Lebens hin.
Am Erziehungsgedanken wird zu verdeutlichen gesucht, »daß die Erziehungsidee
Brücke und Übergang bildet aus der Welt des persönlich Innermenschlichen in die
Welt des Sozialen.« [92] Damit sind Umakzentuierungen verbunden. Der soziale Ro-
man Wilhelm Meisters Wanderjahre kommt in solchen Auffassungen anders zu seinem
Recht als zuvor, und es ist kein Zufall, daß er wiederholt in diesen Beiträgen ange-
führt wird. In diesem Roman vor allem erfahre man, daß sich der Anbruch einer
neuen Zeit ankündigt und daß man sich auf sie einzustellen hat. Mit einem in olympi-
sche Höhen entrückten Dichter hat man es auf keiner Seite dieses Essays zu tun. Das
aus sakralem Klassikverständnis abgeleitete Menschenbild hat sich erledigt. Hier
werden mit Absicht ganz andere Seiten dieser «Gestalt« gesehen und gezeigt: »Es gibt
da eine eigentümliche Kälte, Bosheit, Medisance, eine Blocksberglaune und naturel-
bische Unberechenbarkeit [... ] Und viele Zeitgenossen, die ihm begegnen, bezeugen
das Elementare, Dunkle, Boshafte und Verwirrende, ja Teuflische, das aus seinem
Wesen gesprochen habe.« [93] Aber betont werden auch der Zug ins Weltweite, die
Idee der Weltliteratur und das, was über den sich anbahnenden Nationalismus hin-
ausweist. Damit erhält auch das Spätwerk sein Recht, an dem man so lange vorbeige-
gangen war; denn der träumerische und kühne Blick in eine schon nachbürgerliche
Welt - was immer das sei! - ist bereits der »Blick des greisen Goethe«. [94] Nicht
zufällig ist in demselben Jahr der noch heute lesenswerte Aufsatz über Goethes Alters-
gedichte von Karl Vietor erschienen, der die spätere Erforschung der Altersdichtung
am deutlichsten signalisiert. [95]
Etwas weiteres an dem Heft der Neuen Rundschau fällt auf: nirgends in diesen
Beiträgen geht es darum, daß man sich geschichtslos mit der Vergangenheit identifi-
ziert, von der man spricht. Auch für Gottfried Benns bedeutenden Beitrag zu diesem
Heft, für seinen Essay Goethe und die Naturwissenschaften, trifft das nicht zu. Zwar
sind Bewunderung und Faszination von einem im ganzen wenig geachteten Gebiet
dieses Werkes ausgeprägt. Dennoch wird der Abstand nicht verleugnet, der uns von
Goethes geistiger Welt trennt- einer solchen, in der noch einmal aus dem Weltganzen
heraus und auf das Weltganze hin gedacht werden konnte. Daß es um Wiedergewin-
nung eines solchen einheitlichen Weltbildes gehen müsse, wie ausgeführt wird, hat
nichts mit Regression oder Restauration zu tun, sondern damit, daß utopische Versu-
che dieser Art das eigentliche »Anliegen« der Moderne bezeichnen, im Grunde seit
Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung als einem ihrer maßgebli-
chen Wegbereiter. Ein Dichter der Moderne, hat man von Benn gesagt, habe hier
24 Einleitung

»noch einmal das positive Gegenbild errichtet, wohl wissend, daß es >einmalig< und
>unwiederholbar< bleibt«. [96] Dieser historischen Distanz bleibt sich Benn stets be-
wußt, und wiederholt in seinen Schriften bringt er sie zur Sprache. [97] Auch die
wissenschaftskritischen Teile seines Essays - gegen Sozialdarwinismus und gegen das
positivitische Weltbild des 19. Jahrhunderts im ganzen - widerlegen nicht seine Zuge-
hörigkeit zum Raum der modemen Literatur, den er mit diesem Aufsatz nicht verläßt.
Zur Bewußtseinslage der Modeme gehört von Anfang an Kritik an ihr: als Sprachkri-
tik, Justizkritik oder Wissenschaftskritik überhaupt. Daß sich Benn in solchen Fragen
mit Goethe treffen kann, hängt damit zusammen, daß klassische Physik - wie Darwi-
nismus - ihrerseits historisch gewordene Phänomene sind und daß eben deshalb
Goethes Naturwissenschaft aus der Sicht der Modeme an Interesse gewinnt. Auch
hier kann von einer Wiederbelebung sakralen Sprechens nicht die Rede sein - weder
in diesem Essay noch später: »alles Sieghafte ist völlig unerträglich. Und ich glaube,
daß unser im Zeichen der Jungfrau geborene olympische Urgroßvater, den man in
dieser Stunde feiert, zwar seine Zusammenbrüche gut verschleiern konnte, aber sie
kannte u. von ihnen lebte«, heißt es in einem Brief, der am 200. Geburtstag Goethes
geschrieben wurde. [98]
Solche Veränderungen im Verhältnis zur Weimarer Klassik am Ende der Weimarer
Republik sind sicher nicht zahlreich genug, um weitreichende Folgerungen zuzulassen.
Doch kann kaum zweifelhaft sein, daß es sie gibt, und daß eine Zwangsläufigkeit der
Entwicklung zur Katastrophe hin nur zum Teil vorliegt. Aber die gegenläufigen Ten-
denzen sind noch weniger zu übersehen: eine kaum beschreibbare Labilität und eine
mit anderen Ländern nicht vergleichbare Zerklüftung der geistigen Situation der
Zeit. Die erstere, bleiben wir bei unserem Thema, ist leicht erwiesen. Das zeigt sich
vor anderem im Fall Gottfried Benns! Seinen Goethe-Essay hatte ein ganz unverdäch-
tiger Zeitgenosse wie Klaus Mann über alles gelobt - denselben, den Benn ein Jahr
später in sein Buch Der neue Staat und die Intellektuellen aufnimmt. Das ist vielleicht
der fatalste seiner Irrtümer, die er sich zuschulden kommen ließ, weil man wissen
konnte, daß am wenigsten hinsichtlich einer Kritik an sozialdarwinistischen Entwick-
lungen mit Zustimmung auf der anderen Seite zu rechnen war. Das zweite Beispiel
liefert ein Professor der Philosophie, der seines Amtes in Gießen waltete: es ist
August Messer, der Herausgeber einer »lebensfreundlichen« Zeitschrift mit dem Ti-
tel »Philosophie und Leben«, der das Märzheft aus feierlichem Anlaß der Weltan-
schauung des Nationalsozialismus gewidmet hat; und er selbst steuert hierzu den Bei-
trag »Goethe und der Nationalsozialismus« bei. [99] Eine dritte Labilität, wenn man
es so ausdrücken kann, sei noch angemerkt: Hatte man bei Eröffnung der National-
versammlung den Geist von Potsdam auf sich beruhen lassen, so wird er nun, anläß-
lich der Versammlung der Goethe-Gesellschaft am 9. Juni 1933, mit dem »Geist von
Weimar« wieder verbunden, wie es in der Rede des amtierenden Vizepräsidenten - es
ist Anton Kippenberg - geschieht: »Er [Kippenberg] erinnerte an den früheren Präsi-
denten, Professor Roethe, der so manchesmal zu Zeiten, da vielen im Lande das noch
ein Ärgernis bedeutete, den Geist von Potsdam heraufbeschworen und gezeigt habe,
daß er nicht im Gegensatz stünde zu dem von Weimar, daß vielmehr in der Synthese
der beiden sich das deutsche Wesen vollende. Heute, da der Geist von Potsdam neu
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 25

erstanden sei, sei unsere Bitte an den Genius unseres Volkes, daß der Geist von
Weimar ihm zugesellt bleiben möge.« [100]
Um vieles bedrohlicher im Blick auf die bevorstehende Katastrophe stellt sich die
Zerklüftung und Zersplitterung dar; und sie findet auch in den Schriften und Feiern
dieses Jahres den ihnen gemäßen Ausdruck. An uniforme Verlautbarungen oder gar
an Gleichschaltung, die ohnehin nicht lange auf sich warten läßt, muß man nicht
denken. Aber schon das Nebeneinander von Zeitschriften wie Die Neue Rundschau,
Die Linkskurve oder Philosophie und Leben vermittelt in dem, was sie darbieten,
einen verwirrenden Eindruck. Diese für die deutschen Verhältnisse kennzeichnende
Situation beschreibt Walter Laqueur in seinem Buch über die Weimarer Kultur über-
zeugend und eindrucksvoll: »Ein Henri Barbusse oder ein Romain Rolland hatte
unvergleichlich mehr mit einem Maurice Barres gemein als ein deutscher Intellektuel-
ler der Linken mit dem Staatsrechtslehrer earl Schmitt oder mit Ernst Jünger. Die
französischen Schriftsteller waren Erben der gleichen kulturellen Situation [... ] Dem-
gegenüber war in Deutschland die Rechte fest davon überzeugt, daß die Linke unpa-
triotisch und damit kein Teil des deutschen Volks sei, während die Linke geltend
machte, die Rechte sei stupid und barbarisch.« [101] Was Goethe angeht, so wider-
sprechen sich nicht nur politische Rechte und politische Linke in dem, was sie über
ihn denken und schreiben. Auch innerhalb dieser Lager brechen nicht selten unüber-
brückbare Gegensätze auf. Wenn Max Herrmann-Neiße 1922 erklärt, die Klassiker
repräsentieren eine Dichtung, die nur der Aufrechterhaltung des Unrechts dient, so
hätte er mit solchen Äußerungen Gundolf ebenso wie Lukacs gegen sich gehabt,
wenn sie Stellung genommen hätten. [102] Doch sind derart provokative Attacken oft
nur die Folge eines übersteigerten Kultes seitens des Bildungsbürgertums. Aber die
schlimmste dieser Zersplitterungen im Sinne unüberbrückbarer Gegensätze ist zweifel-
los das Gegeneinander von Klassik und Modeme. Lediglich um ästhetische Gegen-
sätze handelt es sich mit Gewißheit nicht. Hier stehen sich bestimmte Normensysteme
nicht nur gegenüber, sondern mehr noch im Weg. Jedes dieser Systeme scheint das
jeweils andere auszuschließen, wenn man das eine mit den Maßstäben des jeweils
anderen mißt. Die Klassizisten operieren mit Begriffen wie Dekadenz, Entartung oder
Nihilismus, und auf der Gegenseite verkündet man, wie Herbert Ihering, den Klassi-
kertod. Die eine Gegnerschaft ist so ungeschichtlich wie die andere. Dennoch beruht
für lange Zeit und noch über die Zeit der Weimarer Republik hinaus in der Behinde-
rung moderner Literatur durch eine falsche, weil zeitlos verstandene Klassik das
eigentlich gravierende Problem; und natürlich muß es darum gehen, die Koexistenz
beider Systeme zu ermöglichen, damit das eine hinfort nicht mehr am anderen gemes-
sen wird. Zu solcher Koexistenz ist ein Begriff von Geschichtlichkeit gefordert, in dem
sich die Hinwendung zu einer Vergangenheit mit dem Bewußtsein ihrer geschichtli-
chen Distanz verbindet.
Ein solcher Begriff von Geschichtlichkeit wird in den hier vereinigten Betrachtun-
gen vorausgesetzt. Er schließt das Nebeneinander verschiedener Normensysteme ein,
denen verwehrt wird, die Maßstäbe für das jeweils andere zu liefern. Das muß nicht
hoffnungslosen Relativismus bedeuten, wie er den Denkformen des Historismus
nachgesagt wird. Der Verzicht auf Normsysteme jeder Art muß nicht Verzicht auf
26 Einleitung

Normen überhaupt bedeuten. Das in Frage stehende Problem hat Wilhelm Dilthey
erörtert und beschrieben: »Aus der Analysis der menschlichen Natur ergeben sich
Gesetze, welche unabhängig vom Wechsel der Zeit den aesthetischen Eindruck wie
das dichterische Schaffen bestimmen. Die Bewußtseinslage in einem Volke zu einer
gegebenen Zeit bedingt eine poetische Technik, welche sich in Regeln darstellen läßt,
deren Gültigkeit durch diese Bewußtseinslage begrenzt ist; aber aus der menschlichen
Natur entspringen Prinzipien, die so allgemeingültig und notwendig den Geschmack
und das Schaffen beherrschen wie die logischen das Denken und die Wissenschaft.
Die Zahl dieser Prinzipien, Normen oder Gesetze ist unbestimmt«. [103] Diesen Dar-
legungen Diltheys ist nur bedingt zu folgen. Zweifellos ist mit dem Verweis auf die
Natur des Menschen eine Beständigkeit gegeben, die bestimmte Systeme oder Epo-
chen der Kultur nicht gleichermaßen besitzen. Aber daraus »ewige Gesetze« herleiten
zu wollen, wäre verfehlt. Gegenüber der Geschichtlichkeit bestimmter Normensyste-
me kommt der Natur des Menschen eine nur relative Beständigkeit zu, eine nur
relative Invarianz. Um ewige Normen geht es in keinem Fall. Diese relative Invarianz,
die beständiger ist als Epochen und Kultursysteme, schränkt den Relativismus im
raschen Wechsel solcher Systeme ein. Daß sich aber Kultursysteme und Denkformen
als geschichtlich erweisen, heißt stets, daß sie eines Tages nicht mehr uneingeschränkt
und absolut gelten, ohne daß sie deswegen aufhören fortzuwirken oder uns in An-
spruch zu nehmen. Unter Geschichtlichkeit ist mithin eine in gewissen Grenzen abge-
schlossene Zeitphase zu verstehen, die uns berechtigt, sie von einer späteren zu unter-
scheiden, wie es in der Geschichte der Naturwissenschaften geschieht, wenn man von
klassischer und moderner Physik spricht. [104] Daß die ältere Physik nicht einfach
durch die neue abgelöst wird, sondern in gewissen Grenzen ihre Geltung behält,
ändert an der Feststellung nichts, daß man solche Unterscheidungen vorgenommen
hat. [105] Im Gebiet der Ästhetik hat man es mit anders beschaffenen Problemen zu
tun. Hier geht es um Werte, nicht um wertfreie Phänomene, und der Verzicht auf eine
alles regelnde Norm, als die man die klassische Ästhetik lange Zeit verstanden hat,
setzt Bereitschaft zur Anerkennung verschiedener Denkweisen wie verschiedener lite-
rarischer Formen voraus. Das damit gegebene Dilemma als ein Dilemma der Ge-
schichte berührt Gottfried Benn in seiner Autobiographie Doppelleben. Er schreibt:
»Das Gefühl für diese Relativierung, Relativierbarkeit der europäischen Gedanken-
welt, der Verlust des Bestimmten und Absoluten ist das augenblickliche Stigma des
Kulturkreises.« [106] Daß aus der neuen Situation nicht Wertneutralität abgeleitet
werden darf, ist oben ausgeführt.
Unter den kulturellen Systemen ragt die Weimarer Klassik über andere Systeme
und literarische Epochen heraus, und wie die Geschichte ihrer Rezeption zeigt, be-
steht die Gefahr, daß man sich einseitig an ihren höchsten Werten und an ihren
Meisterwerken orientiert. Auch in solchen Fällen handelt es sich um Formen unge-
schichtlichen Denkens. Geschichtlichkeit versteht sich daher in den hier vereinigten
Beiträgen in zweifacher Weise: als Absage an ein kulturelles System im normativen
Sinn, wie ausgeführt; und zum zweiten im Versuch, literarische Texte nicht über
Gebühr aus ihrem Kontext herauszulösen, um sie in einem konkreten geschichtlichen
Zusammenhang zu erfassen. Zwei Bereiche außerkünstlerischer Art sind es vor allem,
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 27

an die dabei zu denken ist und an die nicht unbedingt gedacht werden muß, wenn man
den Begriff Klassik im althergebrachten Sinn als etwas über die Zeiten hin Vorbildli-
ches und Musterhaftes versteht. Geschichtlichkeit in dem so verstandenen Sinn be-
trifft zum ersten das politische Zeitalter als Zeitalter der Französischen Revolution.
Sie ist als Thema, mit dem man sich auseinandersetzt, in den klassischen Dichtungs-
arten wie Tragödie, Elegie oder Epos anwesend; ebenso in nicht-klassischen Dich-
tungsformen wie Novelle oder Reiselitertur. Das Ereignis des Jahres 1789 ist aus
einem heutigen Bild deutscher Klassik nicht wegzudenken; und daß es seinen Stil wie
seine Denkformen maßgeblich beeinflußt hat, wird hier behauptet und vorausgesetzt.
Natürlich kann es sich nicht darum handeln, Vorbehalt oder Ablehnung in Zustim-
mung umzubiegen, wie es sich von selbst verstehen sollte, daß man die eigenen Revo-
lutionswünsche nicht zum Maßstab macht, mit dem man alles und jedes mißt - als ob
ein guter Dichter nur derjenige sein könne, der für Revolution ist! Der zweite Bereich
außerkünstlerischer Art im Sinne einer konkreten Geschichtlichkeit ist die Naturfor-
schung des Zeitalters, nicht nur diejenige Goethes. Im Weltbild der Weimarer Klas-
sik hat sie ihren festen Ort, und daß der Freundschaftsbund mit Gesprächen über die
Metamorphose der Pflanze eingeleitet wird, ist weder nebensächlich noch ist es Zu-
fall. Aus der Sicht der Naturwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist es zweifel-
los der vergänglichste Teil in diesem Lebenswerk. Ein so namhafter Forscher wie
Emil Du Bois-Reymond hat von der totgeborenen Spielerei eines autodidaktischen
Dilettanten gesprochen. [107] Noch 1949 hat Karl Japsers gemeint, in diesem Teil des
Werkes nur ein Versagen sehen zu sollen [108]; und zweifellos ist auch uns seine auf
das We1tganze gerichtete Betrachtungsweise in unerreichbare Fernen entrückt. Aber
in manchen ihrer Aspekte erscheint sie höchst aktuell- in dem Maße nämlich, in dem
die klassische Naturwissenschaft ihrerseits »klassisch«, und d. h. historisch geworden
ist. Erst damit aber kann Wissenschaft als Wissenschaftsgeschichte im eigentlichen
Sinn verstanden und betrieben werden. Im Corpus der Maximen und Reflexionen gibt
es hochinteressante Hinweise zu diesem Thema. In Gundolfs Goethebuch werden sie,
wie das Register ausweist, mit keinem Wort erwähnt. Auch Karl Vietor nennt sie in
seinem Goethebuch (1949) nicht.
Das ergeht anderen bedeutenden Texten Goethes - wie der autobiographischen
Schrift Kampagne in Frankreich - nicht anders. Der Zusammenhang von Revolu-
tionsgeschehen, Naturforschung und Dichtung im Sinne »konkreter Geschichtlich-
keit« ist hier vor allem aufzuzeigen, und fast könnte es scheinen, als habe die Dichtung
in einem solchen Kontext das Nachsehen, woran das hier geschilderte Gespräch mit
dem Fürsten Reuß denken läßt. In Goethes Schrift heißt es: »Nach mancherlei politi-
schen Gesprächen [... ] fragte mich der Fürst: womit ich mich gegenwärtig beschäfti-
ge, und war sehr verwundert, als ich, anstatt von Tragödien und Romanen zu vermel-
den, aufgeregt durch die heutige Refraktionserscheinung, von der Farbenlehre mit
großer Lebhaftigkeit zu sprechen begann.« [109] Auch diese Schrift wird im »klassi-
schen« Bild der Weimarer Klassik nur am Rande erwähnt. Korffs Geist der Goethezeit
übergeht sie ganz, und Gundolf widmet ihr kaum mehr als einen Satz. Die mangelnde
Geschichtlichkeit in solchen Auswahlen erklärt sich aus der einseitigen Sicht auf die
Meisterwerke der »reinen Dichtung« hin. Aber die konkrete Geschichte eines Zeital-
28 Einleitung

ters besteht nicht nur aus »Höhenflügen«, sondern aus Höhen und Niederungen
gleichermaßen. Der Klassizismus, der etwas anderes ist als die Klassik selbst, ist
einseitig an den Höhenlagen der Autoren interessiert, um die es jeweils geht. Daß es
in jeder Kultur Niederungen der verschiedensten Art gibt, »Subkulturen«, die das
literarische Leben vervollständigen, wird ausgegrenzt und verschwiegen. Entstellt er-
scheint in solchen klassizistischen Sehweisen erst recht das Bild des Menschen im Bild
des Dichters. In den Redeformen der Stilisierung, Idealisierung und Verklärung wird
er als Seher, Prophet oder als »Rufer eines Neuen Gottes« aus den wirklichen und
konkreten Lebensbezügen herausgelöst und in eine abstrakte Idealwelt entrückt. Das
klassische Beispiel solcher Sehweisen und Redeformen ist nirgends so gut wie in der
neueren Rezeptionsgeschichte Hölderlins zu verfolgen. Mit Begriffen aus dem religiö-
sen Wortschatz wie Heiligkeit, Erhabenheit oder Göttlichkeit hat man seine dichteri-
sche Tätigkeit umschrieben. [110] Von Vollendung und von der Höhe des Vollendet-
seins wird mit einer Selbstverständlichkeit gesprochen, die betroffen macht, weil sich
im Hinblick auf die geschichtlichen Tatsachen seines Schicksals ein Begriff wie dieser
eigentlich verbieten sollte. Doch heißt es gleichwohl: »Hölderlins Vollendung ist
Vielen der Gegenstand einer quälenden Frage: Hat er sie erreicht? Unser Erschauern
vor Glück durch die Vollendung im Kleinsten, in einem Gedicht, in wenigen Zeilen,
in einer einzigen Zeile, sagt Ja.« [111] Er selbst, der Betroffene, hat sehr viel nüchter-
ner und »geschichtlicher« über sich und die Lage des Menschen gedacht, und der
Blickrichtung auf die Höhe des Vollendetseins widerspricht es, wenn er im Brief an
einen Freund 1798 sehr anschaulich bemerkt: »Also ohne Gemeines kann nichts
Edles dargestellt werden; und so will ich mir immer sagen, wenn mir Gemeines in der
Welt aufstößt: Du brauchst es ja so nothwendig, wie der Töpfer den Leimen, und
darum nehm es immer auf und stoß es nicht von dir und scheue nicht daran.« [112] In
einem Bild der deutschen Klassik aus heutiger Sicht darf Hölderlin am wenigsten
fehlen; nicht nur deshalb, weil es in seinem Spätwerk das gibt, was man als Überwin-
dung des Klassizismus bezeichnet hat, wie sie im Brief an Boehlendorff ausgesprochen
ist (»Deßwegen ists auch so gefährlich sich die Kunstreg!!ln einzig und allein von
griechischer Vortreflichkeit zu abstrahiren« [113]), sondern deshalb vor allem, weil
mit seinem Werk und mit seinem Leben die gegenklassischen Wendungen am deut-
lichsten bezeichnet sind, die zum Bild dieser Klassik unablösbar gehören. Damit sind
nicht nur die Erweiterungen der Sehweisen und des Blickfeldes gemeint, über die
griechische Antike hinaus und auf den Orient hin, sondern die beunruhigenden Le-
bensläufe nicht minder, die als Gegenbild jede einseitige Sicht korrigieren, wie sie
Christa Wolf in der Einleitung zu ihrem Günderodebuch korrigiert: »Die Literaturge-
schichte der Deutschen, in den Händen von Studienräten und Professoren, orientiert
an den retuschierten Kolossalgemälden ihrer Klassiker, hat sich leichtherzig und
leichtsinnig der als >unvollendet< abgestempelten Figuren entledigt, bis in die jüngste
Zeit, bis zu dem folgenreichen Verdikt, das Georg Lukacs gegen Kleist, gegen die
Romantiker aussprach.« [114]
Die Überhöhung der Dichtergestalt zur Heroengestalt und des Zeitalters zum Bild
einer überzeitlichen Klassik stehen im Widerspruch zum Selbstverständnis und zum
Geschichtsverständnis ihrer Dichter. Keiner von ihnen, auch nicht die Wortführer der
Weimarer Klassik und Weimarer Republik 29
Klassik im engeren Sinn, hat sich als ein klassischer Autor oder als »Klassiker« in dem
Sinne verstanden, in dem wir diese Begriffe gebrauchen. [115] Sie waren sich der
Zeitgebundenheit alles Klassischen bewußt; auch die Vorbildlichkeit der Antike als
Klassik im ursprünglichen Sinn verlor für sie zunehmend die absolute Geltung, die sie
allenfalls vorübergehend besaß. Daß es sich so verhält, kann kaum deutlicher ausge-
sprochen sein, als es im Brief Schillers an den Philologen Johann Wilhelm Süvern
vom 26. Juli 1800 geschieht: »Ich theile mit Ihnen die unbedingte Verehrung der
Sophokleischen Tragödie«, heißt es hier; »aber sie war eine Erscheinung ihrer Zeit,
die nicht wieder kommen kann, und das lebendige Produkt einer individuellen be-
stimmten Gegenwart einer ganz heterogenen Zeit zum Maaßstab und Muster aufdrin-
gen, hieße die Kunst, die immer dynamisch und lebendig entstehen und wirken muß,
eher tödten als beleben.« Schillers Forderung, keiner Zeit eine andere als Muster und
Maßstab aufzudrängen, bezieht sich auf die Vorbildlichkeit der Antike im Verhältnis
zur eigenen Zeit, aber darüber hinaus auf das Verhältnis früherer zu späteren Zeiten in
einem allgemeingültigen Sinn; und zugleich bezieht sie sich auf die Kunstform der
Tragödie. Geschichtlichkeit ist auch hier in dem doppelten Sinn ausgesprochen, in
dem sie in diesen Beiträgen verstanden werden soll: als Absage an jede Denkart, die
sich mit dem Anspruch auf absolute Geltung verbindet; wie als Absage an Überhö-
hungen in jeder Gestalt. Denn Schiller fährt fort: »Unsere Tragödie, wenn wir eine
solche hätten, hat mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des
Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen«. Es folgt der Satz: »Die Schön-
heit ist für ein glückliches Geschlecht, aber ein unglückliches muß man erhaben zu
rühren suchen.« [116] Der Tragödie als Kunstform wird damit eine für das eigene
Zeitalter zentrale Bedeutung zuerkannt, eine solche, die uns berechtigt, die deutsche
Klassik auf dem Hintergrund der gewaltigen Zeitereignisse als ein tragisches Zeitalter
zu verstehen - als eine Zeit der Tragödien in vielerlei Gestalt. Nicht nur Schiller,
Hölderlin und Kleist, jeder von ihnen ein Verehrer der Sophokleischen Tragödie auf
seine Art, haben sie als eine ihnen besonders gemäße Darstellungs- und Denkform
aufgefaßt. Auch Goethe hat die Zeitereignisse mit Tragödien in Verbindung ge-
bracht. So am Ende der Kampagne in Frankreich: »Übrigens läßt sich hiebei bemer-
ken, daß in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am besten
dran sind, welche Partei nehmen; was ihnen wahrhaft günstig ist, ergreifen sie mit
Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen's ab, oder legen's wohl gar zu ihrem
Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben
muß, sucht sich von den Zuständen beider kämpfenden Teile zu durchdringen, wo er
dann, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muß, tragisch zu endigen.
Und mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der tosenden Weltbewe-
gung bedroht!« [117]
I. Das Zeitalter der Französischen
Revolution
1. Deutsche Klassik und Französische Revolution
Zur Entstehung einer Denkform [1]

Daß man in den historischen Wissenschaften seinen Gegenstand weiterhin sine ira
et studio betrachtet, wollen wir hoffen. Zumal bei einem Thema, das den Verlauf
einer Revolution in die Geschichte der Literatur einbezieht, ist an eine solche Selbst-
verständlichkeit wissenschaftlichen Denkens zu erinnern. Denn die Zeiten, in denen
wir leben, sind bekanntlich sehr revolutionsfreudige Zeiten. Da kann es leicht gesche-
hen, daß man im Prozeß der Umwertung aller Werte verdammt, was gerade noch
gefeiert worden war; und daß man feiert, was man noch eben verdammte. Wir reden
keiner Wertfreiheit das Wort. Aber wir wollen uns noch weniger als Parteigänger der
ßeschichte verstanden sehen, die ihren Gegenstand nicht mehr vorurteilsfrei durch-
denken, weil sie schon im vorhinein wissen, wie man darüber zu denken hat. Revolu-
tionen sind im Umgang mit Literatur nicht etwas, das man verdrängen muß, weil sie
der Dichtung als Dichtung - wie man sagte - abträglich sind. Aber sie sind auch nicht
der Wertmaßstab, mit dem alles und jedes zu messen ist. Die Literatur der deutschen
Klassik hätte bei so beschaffener Urteilsbildung nichts Gutes zu erhoffen, wollte man
so verfahren. Ein Repräsentant dieser Klassik wie Goethe war bekanntlich auf Revo-
lutionen nicht gut zu sprechen; auch Schiller war wenig von ihnen angetan; und
natürlich darf man nicht einfach dekretieren, daß nur derjenige ein guter Dichter ist,
der für Revolutionen ist. Aber daß er sie zur Kenntnis nimmt und daß er sich als
Schriftsteller den Fragen stellt, die solche Ereignisse aufwerfen, wenn sie stattfinden,
darf man erwarten. Mehr noch darf man fordern, daß er der Wirklichkeit nicht den
Rücken kehrt, um in das Wolkenkuckucksheim seiner Träume auszuwandern. Unnö-
tig zu betonen, daß damit eine Vorentscheidung bereits getroffen ist, die den Gang
dieser Untersuchung begleitet. Sie betrifft einen bestimmten Begriff von Literatur,
diese nicht als unverbindlichen Schmuck des Daseins verstanden, sondern als Ant-
wort auf die Fragen der Zeit in der Geschichte des menschlichen Denkens.
Aber der so verstandene Literaturbegriff schließt weitere Überlegungen ein. Wie
Goethe, Schiller oder Hölderlin über das Ereignis des Jahres 1789 geurteilt haben,
ginge uns wenig an, wenn ihre Auffassungen nicht in ihr Werk eingegangen wären.
Nur mit Äußerungen ist es nicht getan. Es geht vor allem um Fragen des Ausdrucks
und des Stils. Wenn sich ein Dichter über ein politisches Ereignis äußert, in seiner
Dichtung aber ganz anders »denkt«, so bleibt diese Äußerung bloß biographisch und
womöglich privat: Die Frage, ob Hölderlin ein Jakobiner war oder nicht, ist literarhi-
34 Das Zeitalter der Französischen Revolution

storisch keine sehr sinnvolle Frage. [2] Sie betrifft in erster Linie seine Erlebnisse, die
uns wenig angehen, wenn sie sich nicht in künstlerischen Ausdruck verwandeln, so
wenig uns die Gesinnung eines Schriftstellers interessiert, wenn es nur diese ist, die er
uns mitzuteilen hat. Auf Vermittlungen kommt es an. Sind sie gelungen? Und wenn
sie gelungen sind, wie ist es nachweisbar, daß sie es sind? Man erinnert sich der
Stellungnahme Emil Staigers, der Fragen wie diesen gründlich mißtraut. In seinem
Buch über Probleme des Stilwandels hat er sich darüber ausgesprochen: »Die deut-
sche Romantik etwa sei - so wird versichert - eine Folge der Französischen Revolu-
tion. Romantische Autoren selber legen uns diesen Gedanken nahe. Die Französische
Revolution wiederum ist aber ihrerseits zweifellos von Dichtem und Denkern vorbe-
reitet und insofern mitveranlaßt worden. Verstünde man diese nur wieder als Funk-
tion des ancien regime, so ließen sich wohl unschwer einige ältere Schriftsteller aus-
findig machen, die ihrerseits zum Werden des ancien regime beigetragen haben. So
bleibt es zweifelhaft, ob das Schrifttum mehr eine Funktion der Gesellschaft oder
umgekehrt diese mehr eine Funktion des Schrifttums sei. Beides ist behauptet wor-
den«. [3] Hier wird unmißverständlich für den »Überbau« und gegen die »Basis«
votiert, wie man in einer etwas veränderten Terminologie sagen könnte; und zugleich
wird bestritten, daß zwischen beiden Ebenen ein Wechselverhältnis besteht, über das
die Forschung etwas Nachweisbares beibringen kann. Doch handelt es sich in solchen
Aussagen um das Verhältnis von deutscher Literatur und Französischer Revolution
nicht allein. Es sind prinzipielle Probleme, die in Frage stehen oder in Frage gestellt
werden. Zweifelhaft bleibt es tatsächlich, ob das Schrifttum mehr eine Funktion der
Gesellschaft oder umgekehrt diese mehr eine Funktion des Schrifttums sei. Es ist
beides möglich, und man muß es von Fall zu Fall untersuchen. In jeder historischen
Wissenschaft geht es um Zusammenhänge, und die wechselseitige Funktion zwischen
dem Schrifttum und der Gesellschaft einer Epoche ist ein solcher. Zusammenhänge
aber sind komplex. [4] Nur mit solchen Einschränkungen sind Probleme von der Art
zu erörtern, um die es hier geht. Das trifft für die Probleme des Stilwandels gleicher-
maßen zu, wenn der stilgeschichtliche Schritt vom Sturm und Drang zur Klassik zu
untersuchen ist. Und dabei ist das Ereignis der Französischen Revolution nicht zu
übersehen.
Aber die Auffassungen hinsichtlich dieses Schrittes sind überaus kontrovers. Es
geht zunächst um den keineswegs eindeutigen Zusammenhang zwischen der literari-
schen Bewegung des Sturm und Drang und der Französischen Revolution. Das Schaf-
fen des jungen Goethe wird als »Weiterführung der Rousseauischen Linie« verstan-
den. So vor allem hat es Georg Lukacs gelehrt, und eine ganze Generation der
marxistischen Literaturwissenschaft hat sich an den Lehren seiner Schule orientiert.
Wir lesen die wahrhaft wegweisenden Sätze: »Freilich ist der junge Goethe kein
Revolutionär, auch nicht im Sinne des jungen Schiller. Aber in einem breiten und
tiefen historischen Sinne, im Sinne der innigen Verknüpftheit mit den Grundproble-
men der bürgerlichen Revolution, bedeuten die Werke des jungen Goethe einen
revolutionären Gipfelpunkt der europäischen Aufklärungsbewegung, der ideologi-
schen Vorbereitung der Großen Französischen Revolution.« [5] Hans Mayer sieht es
ähnlich: »>Kabale und Liebe< vollends, Schillers drittes Drama, war zweifellos, wie
Deutsche Klassik und Französische Revolution 35
Friedrich Engels richtig erkannt hat, das erste deutsche Tendenzdrama im eigentli-
chen Sinne [... ] Nicht der tragische Konflikt als Vertrauenskonflikt zwischen Ferdi-
nand und Luise steht im Mittelpunkt, sondern ganz zweifellos und nach der Absicht
des Verfassers der gesellschaftliche Konflikt zwischen bürgerlicher und höfischer
Welt.« [6] Es bleibt anzumerken, daß diejenige Literaturwissenschaft, die man die
bürgerliche nennt, in diesem Punkt anders denkt. Die Vorstufe der Republik stellt
sich ihr als Problem meistens anders dar. Paul Böckmann leugnet nicht, daß der junge
Schiller für die Lehren Montesquieus oder Rousseaus hellhörig und aufnahmebereit
gewesen sei. Dessen leidenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ancien regime
dürfe »als eine Art Selbstbefreiung des eng gebundenen bürgerlichen Lebens« aufge-
faßt werden. Aber ein Vorklang der Revolution sei es keineswegs. [7] Erst recht
bestreitet Benno von Wiese, daß Schillers »Denken und Dichten vor 1793 tatsächlich
sich in eindeutiger Weise auf die Revolution zubewegt hätte.« [8] Nun kann von einer
Eindeutigkeit in solchen Fragen ohnehin nicht die Rede sein; und anzunehmen, daß
das eine unmittelbar in das andere übergeht, liefe aufunvertretbare Vereinfachungen
hinaus, die dem komplexen Zusammenhang nicht entsprechen, um den es sich han-
delt. Es geht nicht an, mit Lukacs den Sturm und Drang in der Aufklärung verschwin-
den zu lassen, als seien es identische Begriffe. Wie die sozialkritischen Tendenzen mit
der »Gefühlskultur« dieser literarischen Bewegung in Einklang zu bringen sind, bliebe
ebenso zu klären wie die Frage nach dem Verhältnis von Vorstufe und Revolution. Im
übrigen ist nicht Unvergleichbares zu vergleichen. Zwischen dem Sturm und Drang als
Literatur und der Revolution als einer Tathandlung gibt es Grenzen, die man nicht
verwischen sollte. [9] Der Stil, der künstlerische Ausdruck, die literarische Form
kämen sonst nicht zu ihrem Recht. Den späten Georg Lukacs, der sich fast ausschließ-
lich für sozialkritische Inhalte interessiert, müßte man an eigene Aussagen aus seiner
frühen Zeit erinnern. In dem Essay zur Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas
aus der vormarxistischen Phase seines Werdegangs war damals - um 1909 - zu lesen:
»Die größten Fehler der soziologischen Kunstbetrachtung sind, daß sie in den künstle-
rischen Schöpfungen die Inhalte sucht und untersucht und zwischen ihnen und be-
stimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen will. Das wirklich
Soziale aber in der Literatur ist: die Form.« [10] Die geraden Linien sind es in der Tat,
die wir uns verbitten wollen; sie führen nicht zur Literatur hin, sondern von ihr weg.
Wie sich der komplexe Zusammenhang zwischen Sturm und Drang und Französischer
Revolution also darstellt, wäre zumal am Stil dieser literarischen Bewegung zu erör-
tern. Aber das sind nicht die Fragen, um die es hier geht. Unser »Gegenstand« ist die
deutsche Klassik, und wenn diesem Begriff literarhistorisch überhaupt eine Bedeu-
tung zukommen kann, so schließt er eine stilgeschichtliche Opposition zum Sturm und
Drang ein - einen Stilwandel, der die beiden »Bewegungen« oder »Epochen« vonein-
ander entfernt. Daß es zwischen dem Sturm und Drang und der späteren Revolution
Beziehungen und Zusammenhänge gibt - »aufnahmebereit für die Lehren Montes-
quieus und Rousseaus«! - wird auch innerhalb der bürgerlichen Literaturwissenschaft
nicht geleugnet; so wenig wie die marxistische Literaturkritik eine weitgehende Ab-
lehnung der Revolution seitens der Klassik leugnen kann. Zwar ist die Ablehnung
von Fall zu Fall verschieden, und das Verhältnis der deutschen Klassik zu dem Ereignis
36 Das Zeitalter der Französischen Revolution

des Jahres 1789 ist, um genau zu sein, das Verhältnis verschiedener Schriftsteller zu
diesem. Dennoch läßt sich wenigstens seit 1793 dieses Verhältnis verallgemeinern:
seit der Hinrichtung des französischen Königs zeigen sich die meisten enttäuscht,
ernüchtert und desillusioniert. Vor allem Schiller äußert sich unmißverständlich: »Ich
kann seit 14 Tagen keine franz. Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinders-
knechte mich an.« [11] Solche Stellungnahmen sind durch Äußerungen Goethes mü-
helos zu ergänzen. Zwar ist auch sein Verhältnis zur Revolution komplex. Aber die
GrundeinsteIlung ist nicht ernsthaft bestreitbar: sie läuft klar und deutlich auf Ableh-
nung hinaus. Goethe war nicht nur von den Vorgängen, sondern von der Vorge-
schichte erst recht verschreckt und verstört. Nicht nur rückblickend hat er die Ge-
schehnisse als »das schrecklichste aller Ereignisse« verstanden. [12] In den Tag- und
lahresheften - gleichfalls im Rückblick - findet er kaum noch Worte, um das Entset-
zen auszudrücken, das ihn erfaßte: »Schon im Jahr 1785 hatte die Halsbandgeschichte
einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof-
und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen
gespensterhaft«. Er habe sich so seltsam benommen, daß er Freunden damals, als die
Revolution längst ausgebrochen war, wie wahnsinnig vorgekommen sei. [13] Seit der
Mitte der achtziger Jahre steht der Name Cagliostros im Denken Goethes für die
Sache, die ihn »wie das Haupt der Gorgone« erschreckte, heißt es wiederum in der
Kampagne in Frankreich [14]; und schon 1781 hatte Goethe gegenüber Lavater, tief
beunruhigt von den geheimen Künsten Cagliostros, ein düsteres Bild der Lage ge-
zeichnet: »Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen
Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren
Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und
sinnt.« [15] Solche und verwandte Äußerungen scheinen die Komplexität der Zusam-
menhänge zu widerlegen. Das Verhältnis der deutschen Klassik zur Revolution in
Frankreich, das geht aus den meisten dieser Äußerungen hervor, ist dasjenige einer
Gegnerschaft, sie sei stilgeschichtlich relevant oder nicht. Wenigstens stellt es sich im
Falle Goethes wie Schillers, ihrer Wortführer, so dar. Aber auch die stilgeschichtli-
chen Probleme - im Verhältnis der Klassik zum vorausgegangenen Sturm und Drang-
lassen sich damit verbinden. Man spricht - wie Friedrich Sengle - von der Überwin-
dung des Sturm und Drang im Zusammenhang einer solchen Gegnerschaft: »Die
Überwindung des Sturm und Drang wiederholte sich in einer am Ende sehr energi-
schen, auch in die politische Realität hinüberwirkenden Ablehnung der französischen
Revolution.« [16] Und während man den Stil des Sturm und Drang zumeist noch als
das sieht, was jeder Stil ist: etwas Zeitbedingtes, Historisches und Vergängliches,
wurde mit dem Begriff Klassik lange Zeit die irrtümliche Vorstellung verbunden, man
habe es mit etwas schlechterdings Zeitlosem zu tun. Gegenüber der zeitbedingten
Politik jenseits des Rheins erhält die zeitlose Dichtung ihr Recht - Klassik also im
eigentlichen Sinn, als Rückkehr zu Maß und Norm antiken Lebens. Das Unzusam-
menhängende - hier, in den Meisterwerken deutscher Dichter am Ende des 18.
Jahrhunderts, wird es Ereignis. Die Eindeutigkeit im Verhältnis beider Erscheinun-
gen scheint sich erneut zu bestätigen: der Antagonismus von deutscher Klassik und
politischer Revolution. Die Folgerung liegt nahe, als gingen sich beide Phänomene
Deutsche Klassik und Französische Revolution 37

nichts an. Aber dieser Antagonismus legt noch eine weitere Folgerung nahe - diese
nämlich, daß deutsche Klassik und ancien regime zusammengehören und daß die
zeitüberdauernde Dichtung Goethes und Schillers womöglich einem in jeder Hinsicht
rückschrittlichen Regierungssystem seine Entstehung verdankt. [17] Einer solchen
Auffassung - daß die deutsche Klassik mit dem ancien regime identisch ist, weil sie zur
Revolution in Frankreich im Gegensatz steht - ist ein für allemal zu widersprechen.
Mit deutscher Klassik sind vorzüglich »Kultur und Gesellschaft im klassischen Wei-
mar« gemeint - Culture and Society in Classical Weimar, wie der Titel eines Buches
von W. H. Bruford lautet. [18] Und die Weimarer Klassik - das kann durchaus auf
Stilprobleme bezogen werden - ist gegenüber dem Sturm und Drang eine betonterma-
ßen höfische Kultur. Dennoch war der Weimarer Hof nicht irgendein Hof. Hier
waren Reformen anders als andernorts erwünscht. Goethe hat seine Tätigkeit als
Staatsmann von Anfang an so verstanden. Was er als weimarischer Minister auf dem
Gebiet des Münzwesens, des Wegebaus, des Heeres oder des Bergbaus erreicht hat,
ist nicht wenig. Diesen Staat zu einem Idealstaat hinaufzustilisieren, besteht kein
Grund. Auch Karl August selbst war nicht frei von den Sünden absoluter Monarchen;
an irgendeine demokratische Willensbildung dachte er kaum, und Mitspracherechte
seiner Untertanen standen außer Frage. In allen diesen Punkten war er wie andere
Fürsten seiner Zeit ein Repräsentant des ancien regime. Aber die Schriftsteller, die
unter ihm tätig wurden, waren es nicht in gleicher Weise. Nicht einmal die Kleinstaa-
terei, der sie schließlich ihre berufliche Existenz verdankten, haben sie vorbehaltlos
akzeptiert. »Weil in unserem Vaterlande keine allgemeine Bildung durchdringen
kann, so beharrt jeder Ort auf seiner Art und Weise und treibt seine charakteristi-
schen Eigenschaften bis aufs letzte«, schreibt Goethe; und ähnlich andernorts: »Wir
sind lauter Particuliers; an Übereinstimmung ist nicht zu denken; jeder hat die Mei-
nungen seiner Provinz, seiner Stadt, ja seines eigenen Individuums, und wir können
noch lange warten, bis wir zu einer Art von allgemeiner Durchbildung kommen.« [19]
Und keineswegs war das Verhältnis zum Hofleben mit seinen Vergnügungen und
Verschwendungen ungetrübt. Es gibt vielfach Reserven, die nicht selten in unverhüll-
ter Kritik geäußert werden. »Die lezten Tage der vorigen Woche«, so steht es in einem
Brief an Lavater aus dem Jahre 1781, »hab ich im Dienste der Eitelkeit zugebracht.
Man übertäubt mit Maskeraden und glänzenden Erfindungen offt eigne und fremde
Noth.« [20] Schließlich die italienische Reise! Man würde zweifellos ihre Bedeutung
verkennen, wenn man sie nur aus einer biographischen Situation heraus verstehen
wollte: als Flucht vor Charlotte von Stein, wie ältere Literatur behauptet. Daß in
diese Krise, die hier so abrupt zum Ausbruch kam, gesellschaftliche Motive hinein-
spielen, kann als erwiesen angesehen werden. Hans Mayer hat diese Auffassung
vertreten und begründet: »Goethe mußte sich an den Aktenkram >verzetteln<, weil
seine großen politisch-reformatorischen Pläne zwischen 1775 und 1786 an den Weima-
rer Verhältnissen zerschellt waren.« [21] Der Minister in weimarischen Diensten, der
Goethe geworden war, war keineswegs für fremde Not erblindet. Die miserable Lage
der Bauern hat er nicht als gottgegeben und unabänderlich hingenommen. In einem
Bericht über seine Tätigkeit wird die soziale Lage ohne jede Beschönigung geschil-
dert: »ich gehe weiter und sehe nun, zu was die Natur ferner diesen Boden benutzt und
38 Das Zeitalter der Französischen Revolution

was der Mensch sich zu eigen macht [... ] So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe
den Bauersman der Erde das Nothdürftige abfordern, das doch auch ein behäglich
auskommen wäre, wenn er nur für sich schwizte. Du weißt aber wenn die Blattläuse
auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann
kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrirten Safft aus den Leibern. Und so
gehts weiter, und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr
verzehrt wird, als unten in einem beygebracht [... ] werden kann.« [22] Das hört sich
nicht an, als sei der Minister in allem mit dem Staat einverstanden, dem er dient. Der
Brief ist an Knebel gerichtet, und eigentlich für alle, denen sich Goethe als Minister
ebenso wie als Mensch verbunden fühlte, darf in Anspruch genommen werden, was
er rückblickend für sich selbst in Anspruch nimmt: weder ein Anwalt der Revolution
noch ein Anwalt des ancien regime gewesen zu sein. In den Gesprächen mit Ecker-
mann ist dieses sein Denken charakterisierende Bekenntnis enthalten. Von der un-
vollendet gebliebenen Revolutionskomödie Die Aufgeregten ist die Rede. Er habe
darin die Gestalt der Gräfin als eine Repräsentantin des Adels dargestellt - des
Adels, wie er sein sollte, muß man ergänzen. Diese selbst habe in Paris aus den
Vorgängen keine schlechte Lehre gezogen: »Sie hat sich überzeugt, daß das Volk wohl
zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist und daß die revolutionären Aufstände der
unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Großen sind.« Das eigene
Verhältnis zur Französischen Revolution aber wird so umschrieben: »Es ist wahr, ich
konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir
zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre wohltätigen Folgen
damals noch nicht zu ersehen waren [... ] Ebensowenig aber war ich ein Freund
herrischer Willkür. Auch war ich vollkommen überzeugt, daß irgendeine große Revo-
lution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz
unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind,
so daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht
so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird«; und den
eigenen Standort beschreibt Goethe rückblickend sehr genau, wenn er in eben diesem
Gespräch fortfährt: »Weil ich nun aber die Revolution haßte, so nannte man mich
einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir
verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so
hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes,
Ungerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft
nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten.« [23] Also weder
ancien regime noch Revolution! Ein Denken in Gegensätzen, die auf ein Drittes
verweisen, eine sich wiederholende Dreistufigkeit wird erkennbar. Im Erzählzyklus
der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten stehen sich der starrsinnige Geheimrat
- ein Anwalt des ancien regime - und der jugendliche Feuerkopf - ein Anwalt der
Revolution - schroff gegenüber. Der Erzähler aber hält Abstand, vermittelt und
integriert. Das Erzählen selbst wird eins mit diesem Dritten als einem Bereich jenseits
politischer Gegensätze, wie sie hier aufeinandertreffen. Volk und Gesellschaft, wie sie
sein sollten, werden »poetisiert«. Weder der bestehenden Gesellschaft noch der
durch die Revolution entstandenen wird das Wort geredet, sondern einer Gesell-
Deutsche Klassik und Französische Revolution 39

schaft anderer Art: einer solchen, die sich der Dichter in seiner Vorstellung schafft. In
Italien, am Beispiel des römischen Karnevals, war ihm ein solches Idealbild gesell-
schaftlichen Lebens aufgegangen. Nicht zufällig wird darüber in den Annalen des
Jahres 1789 gehandelt: »Auf diese Vorarbeiten gründete ich meine Darstellung des
>Römischen Karnevals<, welche, gut aufgenommen, geistreiche Menschen veranlaß-
te, auf ihren Reisen gleichfalls das Eigentümlichste der Völkerschaften und Verhält-
nisse klar und rein auszudrücken.« [24] Goethe sind in dieser Niederschrift nicht nur
die gesellschaftlichen Verhältnisse als diese wichtig. Es geht ihm erst recht darum, sie
klar und rein auszudrücken, sie so objektiv wie nur möglich darzustellen. Der Stil
seiner Klassik ist der Stil einer so verstandenen Objektivität: »Ich dagegen hatte die
Maxime ergriffen, mich soviel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein als
nur zu tun wäre in mich aufzunehmen.« [25] Der Begriff »Stil« wird aus einer solchen
Darstellung abgeleitet. Er ist mit dem Prinzip des Objektiven identisch und bestätigt
seinerseits die Dreistufigkeit des Denkens, mit der wir es zu tun haben: erst die
einfache Nachahmung, dann die Manier, schließlich der Stil: »Wie die einfache Nach-
ahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruhet, die Ma-
nier eine Erscheinung mit einem leichten, fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf
den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns
erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.« [26] So steht es in
dem Beitrag Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, der im Revolutionsjahr in
Wielands Teutschem Merkur erschien. Herbert von Einem weist in diesem Zusam-
menhang auf den Versuch einer Typenlehre hin, den Mengs unternommen hatte und
den Goethe fortführt. Aber zugleich macht er auf eine Stufenfolge aufmerksam, die
seinem Denken zugrunde liegt: »Indem er die höchste erreichbare Stufe, den Stil, auf
den Grundfesten der Erkenntnis ruhend sieht, vollzieht er die für sein späteres Den-
ken entscheidende Wendung zum Objektiven. Dabei ist charakteristisch, daß er die
Stufen nicht nur gegeneinander abgrenzt, sondern auch miteinander verbindet. Das
Wesen der Kunst ist eins. Jede Stufe hat ihr Recht. Wie die unterste schon auf die
höchste hindeutet, so ist die höchste nicht ohne die unterste möglich.« [27]
Im Grunde sind Inhalt (die gesellschaftlichen Verhältnisse) und Darstellung (der
objektive Stil) nicht voneinander zu trennen. Das eine ist immer schon im anderen
enthalten. Aber das ideale Bild der Gesellschaft ist jene Einheit, die sich aus den
Gegensätzen ergibt; so abermals im »Erlebnis« des italienischen Volkslebens, wenn es
heißt: »Aus Italien, dem formreichen, war ich in das gestaltlose Deutschland zurück-
gewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen.« [28] Der Beitrag
handelt von der Grunderfahrung der italienischen Reise: von Natur und Kunst. Aber
erst die Einbeziehung der menschlichen Gesellschaft ergibt die Einheit, auf die es
ankommt: »Wie die begünstigte griechische Nation verfahren, um die höchste Kunst
im eignen Nationalkreise zu entwickeln, hatte ich bis auf einen gewissen Grad einzuse-
hen gelernt, so daß ich hoffen konnte, nach und nach das Ganze zu überschauen, und
mir einen reinen, vorurteilsfreien Kunstgenuß zu bereiten. Ferner glaubte ich der
Natur abgemerkt zu haben, wie sie gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild,
als Muster alles künstlichen, hervorzubringen. Das dritte, was mich beschäftigte,
waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von
40 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Wider-
stand ein drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist,
notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesell-
schaft.« [29] Kunst und Natur, Notwendigkeit und Zufall sind hier die Gegensätze, die
das Dritte ergeben: Ihre Vereinigung in einem Ganzen, als welches die menschliche
Gesellschaft - eine ideale Gesellschaft - gedacht wird. Solche Erfahrungen italieni-
schen Volkslebens, auf die Goethe wieder und wieder zu sprechen kommt, sind gewiß
nicht schon so zu verstehen, als habe er im Politischen und Sozialen endlich gefunden,
was er so lange gesucht hatte: das Volk nicht mehr nur als Möglichkeit, sondern als
Wirklichkeit, wie sie existiert. Aber zur Wirklichkeit eines Volkes gehört eine genaue
Kenntnis seiner sozialen Lage. Wie es diesem eigentlich ergeht, welche Not zum
Vorschein kommt, wenn Maskerade, Komödie und Karneval gewesen sind, wird von
dem bloß durchreisenden Minister kaum in Erfahrung gebracht. Dieser so ins Positive
gewendete Volksbegriff ist abgeleitet aus einer exzeptionellen Situation. Er ist nicht
die Wirklichkeit, sondern ihr Symbol, gewiß ein solches im Goetheschen Sinne, das
auf Anschauung des Wirklichen basiert; denn auch das Symbol der deutschen Klassik
ist eine für die Zeitlage bezeichnende Denkform, die aus gegensätzlichen Bereichen-
dem Besonderen und dem Allgemeinen - das dichterische Bild als ein Drittes hervor-
gehen läßt.
Der Passus über Natur und Kunst als Gegensätze, die ein Drittes ergeben - das
ideale Bild einer menschlichen Gesellschaft -, findet sich nicht zufällig in einer Schrift
Goethes zur Morphologie. Er blickt darin zunächst auf das, was damals um die gleiche
Zeit entstand, auf die Aufsätze über Kunst, Manier und Stil; über die Metamorphose
der Pflanze und über den römischen Karneval. [30] Das ist abermals eine Dreiheit der
Bereiche. Goethe nennt sie die drei großen Weltgegenden, und die Naturwissenschaft
bildet die Mitte. Sie steht von nun an ohnehin im Zentrum seines Denkens. Das
Schlüsselwort heißt Metamorphose. Sie ist eine solche der Pflanzen und der Tiere,
aber der Menschen gleicherweise. Denn auch zum Vorstellungsbereich der Metamor-
phose gehört das Denken in Stufen, deren höchste die Menschheit ist: »ich war völlig
überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch
die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf
gewissen mittlern Stufen gar wohl beobachten, und müsse auch noch da anerkannt
werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene beschei-
den zurückzieht-.« [31] Mit dem Vorstellungsbereich der Metamorphose wird weder
das Bestehende gerechtfertigt, noch wird irgendeiner Form des Umsturzes das Wort
geredet. Die der Metamorphose zugeordneten Begriffe heißen Wandel, Verjüngung,
Erneuerung, Wiedergeburt - alles Leitmotive der Italienischen Reise [32]. Sie haben
ihre Geltung innerhalb der organischen Natur ebenso wie innerhalb der menschli-
chen Gesellschaft. Die der Klassik zugrundeliegende Denkform ist an Goethes natur-
wissenschaftlichen Schriften am besten zu erläutern. Dem Prinzip der Steigerung
durch Polarität kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. [33] Der Revolution im
gesellschaftlichen Bereich wird die Evolution in allen Bereichen entgegengesetzt.
Auch die Bildungsidee wird so aufgefaßt: als eine aus den Gegensätzen hervorgehen-
de Synthese. Hier vor allem ist es Schiller, der den Begriff in der Dialektik seiner
Deutsche Klassik und Französische Revolution 41

Dreistufigkeit denkt. Im vierten der Briefe über die aesthetische Erziehung spricht er
vom Menschen, der sich in doppelter Weise entgegengesetzt sein kann: »entweder als
Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn
seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.« [34] Diesen beiden Menschentypen ist der
gebildete Mensch übergeordnet, so daß ein allgemeines Prinzip menschlicher Bildung
formuliert werden kann: »Die mannichfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln,
war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu setzen. Dieser Antagonism der
Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn
solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser.« [35] Der zwölfte der
Briefe nimmt die Dialektik dieses Denkens auf einem anderen Gebiet der Anthropo-
logie wieder auf: auf demjenigen der menschlichen Triebe. Schiller versteht sie so,
daß dem Stofftrieb ein Formtrieb entgegenwirkt. Der Spieltrieb aber ist derjenige, in
dem beide Triebe verbunden wirken und sich aufheben. [36]
Im Denken Schillers ist die »produktive Spannung zwischen Dichtung und Politik«
von Anfang an angelegt; und in seinem Verhalten zur Revolution gewinnt sie an
Schärfe. [37] Der Brisanz seiner gesellschaftskritischen Dramatik, die das Jugendwerk
kennzeichnet, haben sich die Zeitgenossen nicht entzogen, und es war nicht ein ganz
und gar grundloser Irrtum der Rezeption, als die französische Nationalversammlung
im August 1792 auch ihm - neben anderen - den Ehrentitel eines Citoyen a ~ais
verlieh. [38] Es ist daher auch nicht abwegig, mit Hans Mayer zu folgern: »die gewalti-
ge Revolution selbst, die Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Umstän-
de im Vollzug der Vernunftgesetze: ihr fühlte auch er sich verbunden.« [39] Man wird
der produktiven Spannung erst in ihrem Ausmaß gerecht, wenn man das in vieler
Hinsicht revolutionäre »Programm« seiner Jugendwerke erfaßt und mit der Schärfe in
Beziehung setzt, mit der er die Ablehnung der Revolution seit 1793 wiederholt zum
Ausdruck bringt. Diese Ablehnung ist unmißverständlich: »Was sprichst du zu den
französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen
gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da ligt sie mir nun noch da.« So
steht es in demselben Brief, aus dem das Wort über die Schindersknechte schon zitiert
wurde. [40] Das ist ein deutliches Wort! Aber man hüte sich, falsche Schlüsse zuziehen
- so, als habe damit Schiller die Ideen seines »Sturm und Drang« einfach liquidiert,
als sei er nun etabliert und avanciert, als sei er zum politischen Repräsentanten des
ancien regime geworden, dem er letztlich diente. Davon kann keine Rede sein. Die
Revolution trägt ihre Früchte: Aber der Begriff erhält in Deutschland schon früh
einen veränderten Sinn. Im Spannungsfeld von Dichtung und Politik handelt es sich
um eine hochbedeutsame Wendung, die hier vollzogen wird, von Schiller nicht nur!
Im Athenäum steht das vielzitierte Wort Friedrich Schlegels: »Die Französische
Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Ten-
denzen des Zeitalters.« Es ist üblich, nur diesen Satz - den ersten des Fragments - zu
zitieren. Aber für die nach 1793 charakteristische Konstellation des Denkens in
Deutschland ist der zweite Satz im höchsten Grade aufschlußreich; er lautet: »Wer an
dieser Zusammensetzung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen
kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten
Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.« [41] Hier wird unmißverständ-
42 Das Zeitalter der Französischen Revolution

lich einer Revolution das Wort geredet, die nichts »Materielles« ist. Was ist gemeint?
Schlegels Revolutionsbegriff steht keineswegs vereinzelt im geistigen Raum der Zeit.
In der Abkehr von den Ereignissen in Frankreich, ihrer Wirklichkeit wie ihrer Praxis,
bildet sich eine Vorstellung aus, die darauf zielt, in der Revolution des Denkens die
eigene Aufgabe zu erkennen, die zumal der Philosophie übertragen ist. Die Revolutio-
nierung der Denkungsart ist die Wendung, die man aus der Bewußtseinslage der Zeit
deduziert. Schon 1788, noch vor Ausbruch der Revolution, hat sie earl Leonhard
Reinhold, Wielands Schwiegersohn, in seinen Vorlesungen über die Kantische Phi-
losophie gebraucht. [42] Den Passus aus Reinholds Vorlesungen hat Hegel in der
Phänomenologie des Geistes zitiert; und Hölderlin umschreibt das damit Gemeinte mit
etwas anderen Worten in dem bekannten Brief an Ebel vom 10. Januar 1797: »Ich
glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles
bisherige schaamroth machen wird.« [43] Der Gedanke von der Revolutionierung der
Denkungsart, wie sie für die idealistische Philosophie charakteristisch wird, wird
selbst zu einer Denkungsart - zu einer Denkform, die weder dazu dienen kann, das
Bestehende noch den Umsturz zu rechtfertigen. Die Absage an die Ideale der Revolu-
tion erweist sich in jedem Fall als höchst komplex. So vor allem in der Auseinander-
setzung, die Schiller seit 1793 auf einer Reflexionsstufe führt, die kaum ihresgleichen
hat. Daß er es an der Anstrengung des Denkens und der Begriffe fehlen ließe, ist ihm
nicht vorzuwerfen. Die Klassikschelte, wie sie hier und da in Mode kommt, nimmt
sich wenigstens in diesem Punkt höchst bescheiden aus. Ihre gedankliche Schlichtheit
ist evident.
Seine Auseinandersetzung mit dem Geist der Zeit und mit der Wirklichkeit der
Revolution leitet Schiller mit den Briefen an den Herzog von Augustenburg ein. Er
geht von dem politischen Schöpfungswerk aus, womit nichts Geringeres als die Revo-
lution in Frankreich gemeint ist, und schon die Ausdrucksweise - »Besonders aber ist
es jetzt das politische Schöpfungswerk, was beynahe alle Geister beschäftigt« - gibt zu
denken. [44] Was man um jeden Preis ablehnt und verachtet, bezeichnet man nicht so.
Denn immerhin ist es ein Schöpfungswerk - ein Schöpfungsakt -, mit dem sich
Politisches verknüpft. Aber Schiller hält mit seiner Auffassung nicht zurück, daß
dieses politische Schöpfungswerk mißlungen sei. Er ist überzeugt, daß die Menschen
auf einen solchen Zustand der Freiheit und Vernunft noch nicht hinreichend vorbe-
reitet waren; und er läßt es an der Begründung nicht fehlen, die er bündig in dem Satz
formuliert: »Alle Reform, die Bestand haben soll, muß von der Denkungsart ausge-
hen.« [45] Daher wird eine Erziehung gefordert, die nur eine ästhetische Erziehung
sein kann; und daß Schiller seine Ästhetik auch politisch versteht, ist bei genauer
Analyse des Textes kaum zu überhören. Seine Schönheitslehre ist nicht isoliert zu
sehen, denn daß das politische Schöpfungswerk erst gelingen kann, wenn die Erzie-
hung geleistet ist, bedeutet ja nicht, daß es damit auf unbestimmte Zeit »vertagt«
wird. Schiller denkt nicht an unbestimmte Zeiten; er denkt allenfalls an eine Arbeit
für mehr als ein Jahrhundert. In jedem Fall ist dieses Schöpfungswerk auf Erziehung
des Menschen angewiesen. Und es ist ein unblutiges Werk! Dabei wird die Kunst auf
keinen Fall um ihrer selbst willen gerechtfertigt. Sie zielt auf einen freien Menschen in
einem von der Vernunft regierten Staate hin und ist politisch motiviert. Die Französi-
Deutsche Klassik und Französische Revolution 43

sche Revolution - in Schillers Umschreibung »das Signal zur großen Veränderung«-


erzwingt die Rechtfertigung der Kunst durch Veränderung des Denkens.
Von einer Absage an die Ideale der Aufklärung spreche man nicht. Ihre Errungen-
schaften werden nicht preisgegeben. Aber so wenig das geschieht, so wenig kann sich
Schiller mit ihren Einseitigkeiten abfinden. Der Kernsatz seines kritischen Befundes
lautet lapidar: »Die Aufklärung, deren sich die höheren Stände unsers Zeitalters
nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur.« Daß mit der Kritik an der
Aufklärung als einer bloß theoretischen Kultur die Ereignisse des Jahres 1789 in
erster Linie gemeint sind, wurde ausgeführt. Aber eine Identifikation mit dem Beste-
henden ist damit nicht verbunden. Das bestätigt der Fortgang des Briefes. Schiller übt
nicht einseitig Kritik. Er bezieht die »civilisierten Klassen« und die »höheren Stände«
in seine Kritik ein. Sie bieten seiner Ansicht nach einen widrigen Anblick der Er-
schlaffung und der Geistesschwäche, was alles um so empörender sei, als die Kultur
selbst daran teilhabe. »Der sinnliche Mensch«, schreibt Schiller, »kann nicht tiefer als
zum Thier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen
herab, und treibt ein ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit«. [46] Der so
herabgestürzte Mensch: das ist in seiner Auffassung der Vertreter des ancien regime
unbeschadet seiner Aufklärung; aber es ist ebenso der von der Aufklärung geprägte
Anwalt der Revolution. Beide gemeinsam sind sie - trotz aller Gegnerschaft - Anwäl-
te einer bloß theoretischen Kultur, die den Menschen aus der verhängnisvollen Ver-
einzelung nicht herausgeführt, in der er sich befindet. Auch die Revolution hat dies
nicht vermocht. Daher kommt alles auf eine veränderte Denkungsart an, auf eine
Überwindung dessen, was den Menschen vereinzelt und von seiner möglichen Totali-
tät entfernt. Es ist nicht schon die Kunst, der solches zugetraut wird, sondern die
Erziehung zur Kunst, die ästhetische Erziehung des Menschen. In der Sprache der
deutschen Klassik ist es die Idee der Bildung, die einer bloß theoretischen Kultur
überlegen ist - dadurch auch, daß sie zugleich die Kluft überbrücken hilft, die den
Bürger vom Adel trennt. Man muß den uni.versalen Sinn dieser Idee im Wortver-
ständnis der Zeit vernehmen, wie er auch dem Bildungsroman des Wilhelm Meister
zugrundeliegt. Es ist die individuelle Bildung nicht nur, um die es geht. Bildung des
Individuums kann auch deshalb so nachdrücklich gefordert werden, weil ohne sie die
Bildung der Menschheit nicht gelingen kann. Hölderlin handelt darüber in dem gro-
ßen Neujahrsbrief des Jahres 1799: »Der Horizont der Menschen erweitert sich, und
mit dem täglichen Blik in die Welt entsteht und wächst auch das Interesse für die
Welt, und der Allgemeinsinn und die Erhebung über den eigenen engen Lebenskreis
wird gewiß durch die Ansicht der weitverbreiteten Menschengesellschaft und ihrer
großen Schiksaale so sehr befördert, wie durch das philosophische Gebot, das Inter-
esse und die Gesichtspuncte zu verallgemeinern.« [47] Von solchen Gedanken ausge-
hend, kommt Hölderlin auf Bildung zu sprechen, und ähnlich wie für Schiller ist es für
ihn mit politischer Bildung nicht getan, wenn sie nicht durch Kunst erweitert wird.
Bildung in einem derart universalen Sinn zielt auf »Menschenharmonie«. Sie ist eine
solche, die Poesie und Politik vereint und eben dadurch aus einer bloß theoretischen
Kultur herausführt. »Die höchste Filosofie endigt in einer poetischen Idee, so die
höchste Moralität, die höchste Politik«; so formuliert Schiller 1795 in einem Brief an
44 Das Zeitalter der Französischen Revolution

die Gräfin von Schimmelmann. [48] In den Briefen über die aesthetische Erziehung des
Menschen hat er seine Kritik nach beiden Seiten hin - nach unten wie nach oben - in
der Formulierung modifiziert. Aber sie hat dadurch nichts an Schärfe eingebüßt.
Verwilderung und Erschlaffung bleiben die Pole des menschlichen Verfalls, des Ver-
falls der menschlichen Gesellschaft. Die erstere ist eine Sache der niederen Klassen,
die in seiner Denkweise nicht abzuösen ist von dem, was in Frankreich geschah, als die
bürgerliche Ordnung zerbrach. Die rohen und gesetzlosen Triebe dieser Klassen: das
ist ohne Frage die »losgebundene Gesellschaft« in anderen Worten. Die Losgebunde-
heit hat Entsetzen verbreitet. Aber die höheren Klassen haben nicht an Ansehen
gewonnen. Die Kritik an ihnen ist rücksichtslos: »Auf der andern Seite geben uns die
civilisirten Klassen den noch widrigem Anblick der Schlaffheit und einer Depravation
des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist [... ] Aus
dem Natur-Sohne wird, wenn er ausschweift, ein Rasender; aus dem Zögling der
Kunst ein Nichtswürdiger. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeiner-
ten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredeln-
den Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen
befestigt.« [49]
Der dritte Weg zwischen den unteren und den höheren Klassen - er ist im Denken
Schillers mit dem Gegensatz zwischen Revolution und ancien regime nahezu identisch
- heißt auch in seinem Fall: Verjüngung, Erneuerung, Veränderung. Er heißt Ge-
schichte. Aber damit ist in den Werken seiner Klassik mehr gemeint als das, was sie in
seinen Jugenddramen als das Feld der großen Handelnden schätzenswert erscheinen
ließ. Die Geschichte ist ihm jetzt immer weniger nur Stoff. Sie wird gerade in dem
erfaßt, was sie im Wandel und im Fortschreiten erst zur Geschichte macht. Es sind die
Veränderungen im Umkreis einer Zeitwende, die Reformationen und Revolutionen,
für die sich Schiller unter dem Eindruck der Zeitereignisse zunehmend interessiert.
Der 1792 zeitweilig erwogene Plan einer Geschichte der deutschen Reformation ist
bezeichnend für diese Wendung seines Denkens: »Jetzt über die Reformation zu
schreiben, und zwar in einem so allgemeingelesenen Buch, halte ich für einen großen
politisch wichtigen Auftrag und ein fähiger Schriftsteller könnte hier ordentlich eine
welthistorische Rolle spielen.« [50] Schiller versteht ein solches Werk als einen poli-
tisch wichtigen Autrag, und abermals wird der Revolutionsbegriff mit der Denkungs-
art verknüpft, wenn es im vorhergehenden Satz zuversichtlich heißt: »Ich muß geste-
hen, daß es mir sehr leid thun würde, wenn diese herrliche Gelegenheit, auf die
VorstellungsArt der ganzen Deutschen Nation von ihrem Religionsbegriff zu wirken,
und durch dieß einzige Buch vielleicht eine wichtige Revolution in Glaubenssachen
vorzubereiten, nicht benutzt werden soUte.« [51] Das Interesse für Revolutionen der
verschiedensten Art - und das schließt die Aufstände unterdrückter Völker ein - setzt
sich in der ausgeführten Geschichtsschreibung, in der Geschichte des Abfalls der
vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung, fort. Seine Vorrede leitet
Schiller mit dem Satz ein: »Als ich vor einigen Jahren die Geschichte der niederländi-
schen Revolution unter Philipp 11. in Watsons vortreflicher Beschreibung las, fühlte
ich mich dadurch in eine Begeisterung gesetzt, zu welcher Staatsactionen nur selten
erheben.« [52] Mit dem Wallenstein-Drama gibt Schiller eine Deutung der Geschich-
Deutsche Klassik und Französische Revolution 45

te, die in ihrem Gewicht nur verstanden werden kann, wenn man sie aus der Zeitlage
heraus versteht. Auf diese verweist schon der Prolog. Im Drama selbst wird ge-
schichtlicher Wandel zum schlechterdings zentralen Motiv. Nicht nur steht die Haupt-
figur gegen Kaiser und Reich. Sie steht erst recht gegen die alten Ordnungen dieses
Reichs; und gegen das Bestehende begehrt der Feldherr des großen Dramas auf:

»Das Jahr übt eine heiligende Kraft,


Was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich.
Sei im Besitze und du wohnst im Recht,
Und heilig wirds die Menge dir bewahren.« [53]

Es geht sicher nicht an, Wallenstein nur als den selbstlosen Friedensfürsten zu
interpretieren, der lediglich an der Kleinheit seiner Umwelt scheitert. Gegen eine
derart einseitige Deutung spricht der »Machtmensch«, der sich in keiner Phase der
Handlung verleugnet. Dennoch ist er dieser nicht nur. Er ist ein Handelnder, der
nicht nur Macht, Intrige und Berechnung kennt; er ist zugleich ein Anwalt des ge-
schichtlichen Wandels und des sich erneuernden Lebens. Damit ist in der Optik des
Dramas keine Parteinahme für die Revolution ausgesprochen, so wenig wie Octavio
Piccolomini, der Vertreter der bestehenden Ordnung, als Sieger anzusprechen ist,
wenn er das letzte Wort erhält. Derjenige, der im Drama selbst die Erneuerung
erstarrten Lebens vorantreibt, scheitert. Aber damit wird er innerhalb der Tragödie
nicht einfach widerlegt. Die Erneuerung ist ein Teil des tragischen Vorgangs; sie ist
ihr eigentliches Thema; und die Struktur dieser Dichtungsart kommt den Denkfor-
men der deutschen Klassik entgegen.
Das bedarf eines erläuternden Wortes; denn die Kunstform der Tragödie ist keine
Erfindung deutscher Dichter am Ende des 18. Jahrhunderts. Aber sie ist auch keine
zeitlose Kunst, sondern ihrerseits vom geschichtlichen Wandel geprägt. Es gibt ver-
schiedene Formen des Tragischen, und Parteinahmen für eine der Seiten im Streit der
Kontrahenten - wie in der Märtyrertragödie des Barock - sind durchaus denkbar. Die
Parteinahme ist hier eine solche für den Märtyrer und gegen den Tyrannen. Die
klassische Tragödie - diejenige der klassischen Ästhetik - kennt solches nicht. Sie
basiert auf einer Denkform, in der das eine ausgespielt wird gegen das andere, damit
ein Drittes zu seinem Recht kommt. Die Tragödie der deutschen Klassik war in dieser
Gestalt - als Denkform und als Dramenform - wie geschaffen, einen Vorgang zu
verdeutlichen, der den Verzicht auf Parteinahme impliziert. Eine Äußerung Goethes
hierüber findet sich nicht zufällig in einer Schrift, die unmittelbar die Zeitereignisse
zum Gegenstand hat: in der Kampagne in Frankeich, wo es heißt: »Übrigens läßt sich
hiebei bemerken, daß in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zu-
schauer am besten dran sind, welche Partei nehmen; was ihnen wahrhaft günstig ist,
ergreifen sie mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen's ab, oder legen's
wohl gar zu ihrem Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteüsch
sein und bleiben muß, sucht sich von den Zuständen beider kämpfenden Teile zu
durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muß,
tragisch zu endigen. Und mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der
tosenden Weltbewegung bedroht!« [54] Mit Betrachtungen zur Kunstform der Tragö-
46 Das Zeitalter der Französischen Revolution

die klingt die Schrift aus. Aber auch die einleitenden Teile handeln von ihr. Eine
Szene, in der einfache Schäfer auf eine widrige Art um ihr Besitztum gebracht werden,
hat sich Goethe eingeprägt. Er bezeichnet sie als tragisch und fährt fort: »so gesteh'
ich wohl, es ist mir nicht leicht eine grausamere Szene und ein tieferer männlicher
Schmerz in allen seinen Abstufungen jemals vor Augen und zur Seele gekommen. Die
griechischen Tragödien allein haben so einfach tief Ergreifendes.« [55]
Seit der Klassik, aber zunehmend im Spätwerk, werden zwei Phänomene mit dem
Tragischen wiederholt in Verbindung gebracht: das Dämonische einerseits und die
Entsagung zum andern. Auf das erstere kommt Goethe in Dichtung und Wahrheit
dort zu sprechen, wo über das Egmont-Drama gesprochen wird; und nicht zufällig
spielt dabei auch das hinein, was wiederholt als ein Drittes bezeichnet wird: »Das
Dämonische, was von beiden Seiten im Spiel ist, in welchem Konflikt das Liebens-
würdige untergeht und das Gehaßte triumphiert, sodann die Aussicht, daß hieraus ein
Drittes hervorgehe, das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde, dieses ist es
wohl, was dem Stücke [... ] die Gunst verschafft hat, deren es noch jetzt genießt.« [56]
Die tragische Form, die Goethe in der Epoche seiner Klassik entwickelt, heißt Entsa-
gung. Sie ist der Fluchtpunkt im Trauerspiel der Natürlichen Tochter, aber im tragi-
schen Roman der Wahlverwandtschaften gleichermaßen. Doch stand eine solche »Lö-
sung« - wenn das Wort gebraucht werden darf - nicht von Anfang an fest. Das
Ereignis der Revolution hat ihn durch die Jahre hin nicht nur beunruhigt und verstört;
es hat ihn auch die gemäße literarische Form lange Zeit nicht finden lassen. Davon
handelt rückblickend der Beitrag Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches
Wort. »An eben diese Betrachtung schließt sich die vieljährige Richtung meines
Geistes gegen die Französische Revolution unmittelbar an, und es erklärt sich die
grenzenlose Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und
Folgen dichterisch zu gewältigen«. [57] Die Anhänglichkeit an den unübersehlichen
Gegenstand, so führt er aus, habe sein poetisches Vermögen lange Zeit fast unnützer-
weise aufgezehrt. Das betrifft vor allem die Revolutionskomödien der frühen neunzi-
ger Jahre und den Versuch, mit dem Ereignis auf diese Weise fertig zu werden.
Nach der italienischen Reise nahmen ihn diese Komödien zunächst ganz in An-
spruch. Daß es sich um mißratene Geschöpfe seiner poetischen Muse handelt, ist die
communis opinio der Forschung, eigentlich bis zum heutigen Tag. Das wird teilweise
verständlich, wenn man bedenkt, daß es der Komödie in der Tradition der Aufklä-
rung vorbehalten war, ihre Gegenstände zu »verlachen«. Annäherungen an die Satire
sind damit meistens verbunden. Die Dramatisierung der Halsbandgeschichte mit ei-
nem Betrüger als Komödienheld mochte sich hierfür allenfalls noch eignen. Aber der
Revolution selbst und dem Ernst der Ereignisse war damit nicht beizukommen. Jede
Behandlung dieses Vorgangs mit satirischer Tendenz bringt die Gefahr einer Partei-
nahme mit sich, einer solchen zugunsten der bestehenden Verhältnisse, also des an-
cien regime. In dem Stück Die Aufgeregten ist es nicht so sehr diese Gefahr als eine
andere, die das Gelingen erschwert. Die aus Paris zurückgekehrte Gräfin ist fest
entschlossen, jeder Gewalttätigkeit durch besonnene Reformen vorzubeugen, und
lieber will sie für eine verhaßte Demokratingehalten werden, als Unterdrückung und
Unrecht dulden. So löst sich bei so viel guter Gesinnung alles zur allgemeinen Zufrie-
Deutsche Klassik und Französische Revolution 47
denheit auf - aber es löst sich alles zu leicht. Zwar ist die Kritik an beiden Systemen
unüberhörbar; aber das Dritte - die redliche Gesinnung der Gräfin - bleibt im Mora-
lischen stecken. In dem Revolutionsstück Der Groß-Cophta spielt noch ein anderer
Komödienbegriff hinein. An ein opernartiges Theater war hier zunächst gedacht, an
ein souveränes Spiel der Freiheit und der Heiterkeit, das an die italienische Volksko-
mödie erinnert, wie sie sich Goethe in Italien tief eingeprägt hatte. Es war offensicht-
lich an eine Komödie gedacht, der es hätte zukommen sollen, selbst widriges Gesche-
hen in einer höheren Einheit aufzulösen. Solche Vorstellungen haben sehr viel mit
dem Komödienbegriff der deutschen Klassik zu tun. Obwohl es an überzeugenden und
gelungenen Werken dieser Gattung weithin fehlt, wird die Komödie in der Literatur-
theorie der Epoche - bei Goethe ebenso wie bei Schiller - hochgeschätzt. Es ist später
bei Hegel nicht anders. In der »Hierarchie der Werte« reicht die Komödie ihrem
Ansehen nach über die Tragödie noch hinaus, wie es Schiller in der Schrift Ober naive
und sentimentalische Dichtung erläutert. Ihr Vorzug, heißt es hier, liege in der Ge-
mütsfreiheit, die von der Herrschaft der Affekte befreit. [58] In einem Bruchstück aus
dem Nachlaß wird es noch deutlicher ausgesprochen: »Welche von beiden, die Comö-
die oder die Tragödie, höher stehe, ist öfters gefragt worden [... ] Im Ganzen kann
man sagen: die Comödie sezt uns in einen höheren Zustand, die Tragödie in eine
höhere Thätigkeit. Unser Zustand in der Comödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir
fühlen uns weder thätig noch leidend, wir schauen an und alles bleibt außer uns; dieß
ist der Zustand der Götter, die sich um nichts menschliches bekümmern, die über
allem frei schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt.« [59] Diese
alles überragende Stellung, die Schiller der Komödie zuerkennt, erinnert an seine
Auffassung und Deutung der Idylle als der höchsten in der Poesie erreichbaren
Form. [60] Die höchste Stufe im Antagonismus der Kräfte aber heißt Totalität. Auch
in Goethes Komödienbegriff ist sie das höchste Erreichbare, wie es sich ihm am Bild
der italienischen Volkskomödie offenbarte: »Gestern war ich in der Komödie, Thea-
ter Sankt Lukas, die mir viel Freude gemacht hat [... ] Mit unglaublicher Abwechs-
lung unterhielt es mehr als drei Stunden. Doch ist auch hier das Volk wieder die Base,
worauf dies alles ruht, die Zuschauer spielen mit, und die Menge verschmilzt mit dem
Theater in ein Ganzes.« [61]
Merkwürdiger Vorgang, mit dem man es zu tun hat! Die Revolutionsstücke in
Komödienform scheitern am Ernst der Zeit, aber das wiederholte Nachdenken über
Idylle und Komödie als dem »höchsten Zustand der Götter« in derselben Zeit! Mit
solchen Vorstellungen eines höchsten Zustandes, einer Totalität, in der Getrenntes
wieder zur Einsicht gelangt, verbinden sich ohne Frage auch utopische Momente und
Motive. Die geschichtsphilosophischen Ideen der Klassik wie der Romantik sind
damit verwandt. Und hier vor allem ist an das für die Epoche charakteristische
Denkbild zu erinnern; an die Vorstellung vom verlorenen Paradies, das es wieder zu
gewinnen gilt. [62] Auch diesem Vorgang liegt die Dreistufigkeit zugrunde, die Schil-
lers Theorie der sentimentalischen Dichtung bestimmt. Von einer Trennung, vom
Verlust einer Einheit geht sie aus, und Einheit soll wieder werden, was Einheit war.
Diese - sie mag zurückliegen oder voraus - hat stets etwas vom Zustand der Idylle
oder der goldenen Zeit. Und nur dem sentimentalischen Dichter kommt es zu, diesen
48 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Zustand herbeizuführen. Nur ihm ist »die Macht verliehen [... ] jene Einheit, die
durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wieder herzustel-
len«. [63] Aber eigentlich sind Idylle, Totalität und neue Einheit nur Umschreibun-
gen für das, was Poesie als jenes Dritte in ihren höchsten Möglichkeiten selbst zu sein
vermag. »Lieber, Sie sind kein Chymist, sonst würden Sie wissen, daß durch ächte
Mischung ein Dri ttes entsteht, was beydes zugleich und mehr als Beydes einzeln ist«,
so umschreibt Novalis die bestimmende Denkform der Epoche auf seine Art und in
seiner Sprache. [64]
Das Dritte als das, was sich aus der Vereinigung der Gegensätze ergibt, ist der
Zustand einer besseren Welt, wiedergegeben im dichterischen Bild, im Symbol, das
sich der Utopie jederzeit annähern kann; denn beide - Symbol und Utopie - sind ihrer
Intention und ihrer Struktur nach miteinander verwandt. Dieses Dritte ist als Idee der
Bildung, als Metamorphose, als Tragik oder Symbol identisch mit Poesie und ist stets
auch mehr als nur Poesie. Als diese - als Literatur - ist es ein eigener Bereich, von
Politik nicht zu trennen, aber ihr nicht untertan. Das hat Goethe stellvertretend für
sein Zeitalter in dem berühmten Sylvesterbrief des Jahres 1809 an den Grafen Rein-
hard, einen entschiedenen Befürworter der Revolution, zum Ausdruck gebracht. In
einer Fabel lasse man sich etwas gefallen, so wie man sich in der Geschichte nach
einigen Jahren die Hinrichtung eines alten Königs gefallen läßt. Danach der oft
zitierte Satz: »Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.« [65] Mit
diesem Satz wird prägnant formuliert, was man seit der Zeit Goethes als Autonomie
der Literatur bezeichnet. Aber schon in der Zeit, in der sie begründet wird, ist es eine
relative Autonomie, die von politischen und sozialen Gegebenheiten nicht abgelöst zu
denken ist. Daß sie durch Politik und durch das Ereignis der Revolution nicht nur,
aber durch diese doch auch erzwungen wurde, ist keine Frage. Was aber haben wir
von einer solchen Autonomie noch zu halten in einer Zeit, in der die Klassik selbst
und mit dieser ihre Autonomie historisch geworden sind? Wir haben allen Grund,
wachsam zu sein, wenn man die Sache, um die es geht - und um die es der deutschen
Klassik ging - für etwas ein und für allemal Vergangenes erklärt, wie man es im
neuesten Schrifttum nachlesen kann. Denn solche Entfernung ins Vergangene und
bloß noch Historische hat Methode. Sie hat zum Ziel, die Poesie - um diesen etwas
altmodisch gewordenen Begriff mit Absicht zu verwenden - so oder so der Politik zu
unterstellen, wie sie ehedem der Theologie unterstellt war. Eine Bevormundung, aus
der sie sich befreit hat, würde damit durch eine neue, in Wirklichkeit veraltete Bevor-
mundung ersetzt. Die Möglichkeit der Literatur, etwas Drittes zwischen den Gegen-
sätzen zu sein, ist aber ihrerseits Fortschritt und als dieser irreversibel. Wer Autono-
mie mit bloßem Ästhetizismus verwechselt, wird wohl im Recht sein, sie zu bekämp-
fen. Wer aber den Hang zu Bevormundung aller Art nicht für erledigt hält, wird auch
die Probleme nicht für erledigt halten, die sich aus dem beispielhaften Widerspiel von
Französischer Revolution und deutscher Klassik ergeben - mit der Einsicht in einen
Zusammenhang der Dinge, wonach aus dem Zusammentreffen von Widerstand und
Bewegung ein Drittes hervorgeht, »Was weder Kunst noch Natur, sondern beides
zugleich ist«.
2. Cagliostro und die Vorgeschichte
der deutschen Klassik

In das traditionelle Bild von deutscher Klassik als dem goldenen Zeitalter unserer
Literatur, wie man gern sagt, paßt eine Gestalt wie Cagliostro mehr schlecht als recht.
Erzzauberer , Schwindler, Gauner, famoser Betrüger, ruchloser Irrgläubiger - das sind
nur einige Ausdrücke, die ihm Mitwelt und Nachwelt zugedacht haben, ob berechtigt
oder nicht, stehe dahin. Sein Name wird mit der Französischen Revolution in Verbin-
dung gebracht. Aber während diese als ein großer Gegenstand der Menschheit ihre
eigene Dignität besitzt, scheint die Gestalt des vermeintlichen Grafen Cagliostro jeder
Würde zu ermangeln. Er lebt fort als Komödienfigur - und als eine Figur der Wiener
Operette obendrein. Zum Bild einer betont aristokratischen Kultur, wie der Weima-
rer Klassik, gesellt sich eine merkwürdig schillernde Subkultur. Zu ihr gehören Ge-
heimlehren und geheime Gesellschaften aller Art. Spannungen werden sichtbar, und
wer es unternimmt, sie zu erforschen, kann leicht den Eindruck einer aus den Fugen
geratenen Welt gewinnen. Sie hat einzelne - Hölderlin wie Kleist - aus ihrer Bahn
geworfen. Wenigstens seit dieser Zeit wird Wahnsinn als ein zugleich gesellschaftli-
ches Phänomen erkennbar. Im Grunde zeigen es die Texte der deutschen Klassik auf
ihre Weise an, unter deren Oberfläche es gärt. Die Humanität der Iphigenie verdeckt
nur mühsam den Untergrund eines düsteren Geschlechterfluchs. Pylades wie Tasso
sind pathologische Gestalten einer Gesellschaft, die Harmonie nicht schon besitzt,
sondern nach ihr verlangt. Und der alle diese Gestalten geschaffen hat - also Goethe
- hat von sich selbst gesagt, daß er seinen Freunden zeitweilig wie wahnsinnig vorge-
kommen sei. Die Mitteilung bezieht sich auf die Halsbandgeschichte, in die sich
unversehens auch Cagliostro verstrickt sah, der als Magier und Wundermann um 1780
in ganz Europa von sich reden machte. [1] Die Biographie dieser problematischen
Persönlichkeit ist nicht unser Thema. Aber was sie zur Entstehung der deutschen
Klassik beigetragen hat, gilt es darzulegen. Um Goethes Dichten und Denken geht es
zunächst.

Die ersten Äußerungen über den merkwürdigen Wundermann stammen aus dem
Jahre 1781. [2] Sie lassen keinen Zweifel, daß Goethe schon seit längerem das Treiben
50 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Cagliostros verfolgt hat. In einem Brief aus dieser Zeit (an Lavater) heißt es: »Was
die geheimen Künste des Calliostro betrift bin ich sehr mistrauisch gegen alle Ge-
schichten, besonders von M[itau] her. Ich habe Spuren, um nicht zu sagen Nachrich-
ten, von einer großen Masse Lügen, die im Finstern schleicht.« [3] Die Wendung von
den Geschichten mit der Ortsangabe Mitau bezieht sich auf die Tätigkeit des Italieners
in Kurland, wo er sich 1779 aufgehalten hatte. [4] Das Gebaren des Magiers, Wahrsa-
gers und Wunderarztes, als der er sich ausgab, hatte Elisa von der Recke in einer
epochemachenden Veröffentlichung enthüllt. Über Cagliostros Wirken in Straßburg,
wo er sich zu Beginn der achtziger Jahre wiederholt aufhielt und als Gast des Kardinals
Rohan geschätzt war, gibt es in der genannten Schrift einen höchst anschaulichen
Bericht. Elisa von der Recke hat den Brief eines Gewährsmannes in ihre Veröffentli-
chung aufgenommen, in dem das Für und Wider der seltsamen Erscheinung abzuwä-
gen gesucht wird. Hier heißt es: »Plötzlich erfuhr man, es sei ein fremder wohltätiger
Herr hier, der Kranke umsonst übernehme [... ] Nun kamen nach und nach noch
schüchtern einzelne Arme zu ihm. Er empfing sie liebreich, gab ihnen Essenzen, Eli-
xiere, andere Arzeneien, befreite manchen vom Fieber und anderen Zufällen, besuch-
te selbst auch manche schwere Kranke in ihrer Behausung. Sein Ruf stieg, und bald
waren nicht bloß seine Zimmer, sondern die Treppen und die Haustüre mit Hilfsbe-
gierigen besetzt. Er war etwas leicht und zuversichtlich im Versprechen der Heilung
[... ] Freilich sind ihm nun bei der Menge der Kuren viele verunglückt, besonders bei
Taub- und Blindheit.« [5] In Straßburg hat auch Goethes Freund Lavater den Wun-
dertäter aus nächster Nähe beobachtet. Das Bild, das er in seinen Briefen vermittelt,
ist widerspruchsvoll: »Calliostro ist ein höchst origineller, kraftvoller, unerhabner
und in gewissem Betracht unaussprechlich gemeiner Mensch; ein Parazelsischer Stern-
narr , - ein hermetischer Philosoph - ein Atkanist - ein Antiphilosoph - - das ist nun
wohl das Schlimmste, was von ihm gesagt werden kann [... ] So, wie er dasteht, gewiß
ein Erzfester, höchstprägnanter Mann.« [6] Nennt Lavater den Italiener schon hier
einen höchstprägnanten Mann, so fallen spätere Äußerungen über ihn um vieles
positiver aus: denn was immer gegen seinen sittlichen Charakter vorzubringen sei -
seine Divination und Geisterseherei seien keinen Zweifeln ausgesetzt. [7] Gegenüber
solchen Eindrücken bleibt Goethe in seiner Ablehnung von Anfang an entschieden;
fast apodiktisch teilt er es mit: »Calliostro ist immer ein merckwürdiger Mensch. Und
doch sind Narr und Krafft, und Lump so nah verwandt. Ich darf nichts drüber sagen,
ich bin über diesen Fleck unbeweglich.« [8] Den Umsturz, den Goethe kommen sah,
verbindet er schon um diese Zeit mit dem Namen der ihm unheimlichen Person. So in
dem bedeutenden Brief vom 22. Juni 1781, in dem Goethe den Herzensfreund seiner
Jugendzeit nachgerade warnt: »Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist
mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu
seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl
niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel
begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus
einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir,
das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und
unter freyem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewöl-
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 51

be. Glaube mir, du bist ein größerer Hexenmeister als ie einer, der sich mit Abacad-
abra gewafnet hat.« [9]
Der fast beschwörende Zuruf »Glaube mir« bestimmt den Duktus des Briefs. Im
Geistersehen und Geisterbannen nimmt Goethe den Zustand einer Gesellschaft
wahr, deren Fundamente er untergraben sieht. Obwohl er selbst als hoher Staatsbe-
amter dieser Gesellschaft angehört, hält er mit seiner Kritik an ihr nicht zurück. Das
geschieht in den Briefen an Lavater nicht zufällig dann, wenn über Cagliostro zu
sprechen ist. So in einem Brief vom Februar 1781, in dem sich Goethe nach dem
Italiener erkundigt, um fortzufahren: »Die lezten Tage der vorigen Woche hab ich im
Dienste der Eitelkeit zugebracht. Man übertäubt mit Maskeraden und glänzenden
Erfindungen offt eigne und fremde Noth.« [10] Was gegen Maskerade und glänzende
Erfindungen einzuwenden ist, wird auch gegen Cagliostro eingewandt: hier wie dort
wird eine Gesellschaft im Verfall wahrgenommen. Die zur Mode gewordene Geister-
seherei und die geheimen Wissenschaften, wie sie Cagliostro praktiziert, beunruhigen
Goethe tief. Gegenüber dem in diesem Punkt gläubigen Propheten in Zürich wird
daher ein Ton angeschlagen, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Wir
lesen Sätze wie diese: »Was soll ich aber zu Geistern sagen die solchen Menschen
gehorchen, solches Zeug vorbringen und solche Handlungen begehen. Ich weiß wohl,
wie du solche Dinge zusammenhängst und will Dich weder widerlegen noch bekehren,
mir aber wenden sich die Eingeweide bei dergleichen Thorheiten um, besonders, da
mir das Schädliche davon so oft sichtbar geworden ist.« [11]
Diese seit 1780 bemerkbare Beunruhigung über Cagliostro und eine Gesellschaft,
die ihm Glauben &chenkt, erreicht ihren Höhepunkt mit der berüchtigten Halsband-
geschichte des Jahres 1785. Die Einzelheiten sind in Kürze diese: die französische
Königin hatte den Kauf kostbaren Schmucks abgelehnt, den ein Pariser Juwelier
verfertigt hatte. In betrügerischer Absicht mischte sich die Gräfin de la Motte in die
Angelegenheit ein. Sie ließ den bei Hofe in Ungnade gefallenen Kardinal Rohan
wissen, daß die Ablehnung des Schmucks nur vorgetäuscht sei; in Wirklichkeit, wie
sie vorgab, wünsche ihn die Königin sehr wohl zu besitzen. Sie riet daher dem Kardi-
nal, den Schmuck für sie zu besorgen und zu bezahlen, damit er sich dadurch ihre
Gunst zurückgewinne. Dieser tat, wie ihm geraten. Aber der Schmuck gelangte nicht
in die Hände der Königin, sondern verschwand. Als Teile bald danach in England
auftauchten, wurde der Betrug offenkundig. In dem sich anschließenden Prozeß wur-
den sowohl der Kardinal wie Cagliostro freigesprochen, der im Zusammenhang die-
ser Affäre mehrere Monate in der berüchtigten Bastille hatte zubringen müssen. [12]
Nach seiner Freilassung und nach dem Freispruch wurde er des Landes verwiesen.
Hält man sich lediglich an die juristische Seite der Sache, so wirkt Goethes Reaktion
merkwürdig forciert. Aber damit würde man seinem Verständnis der Dinge nicht
gerecht. Daß Cagliostro nicht zu den Hauptbeteiligten dieser Diebskomödie gehört
hat, steht fest. Dennoch konnte es für Goethe auch nach dem Ausgang des Prozesses
nicht zweifelhaft sein, daß Cagliostro mit ihren Regisseuren auf vertrautem Fuß stand;
auch ist bekannt, daß sich der Kardinal mit Leidenschaft der Alchimie verschrieben
hatte und daß Cagliostro mit seinen Künsten eine unwiderstehliche Gewalt auf diesen
ausgeübt hat. [13] Die Gesellschaft, in der solches geschah und geschehen konnte,
52 Das Zeitalter der Französischen Revolution

war in mehr als einem Sinne auch seine Gesellschaft. Aber darüber hinaus war der
Betrug in Goethes Auffassung nicht irgendein Betrug. Er stellte Zusammenhänge
zwischen diesem und Betrügereien auf ganz anderen Gebieten her. In der Kampagne
in Frankreich spricht er es aus: »Mit Verdruß hatte ich viele Jahre die Betrügereien
kühner Phantasten und absichtlicher Schwärmer zu verwünschen Gelegenheit gehabt
und mich über die unbegreifliche Verblendung vorzüglicher Menschen bei solchen
frechen Zudringlichkeiten mit Widerwillen verwundert«; hier auch der erregte Satz:
»Schon im Jahre 1785 erschreckte mich die Halsbandgeschichte wie das Haupt der
Gorgone. Durch dieses unerhört frevelhafte Beginnen sah ich die Würde der Maje-
stät untergraben« [14]; und an anderer Stelle derselben Schrift: »die durch jenen
Prozeß entstandene Erschütterung ergriff die Grundfesten des Staates [... ] denn
leider alles, was zur Sprache kam, machte nur das greuliche Verderben deutlich,
worin der Hof und die Vornehmeren befangen lagen.« [15] Schon aufgrund solcher
Einsichten, die eine beträchtliche Kritik am Bestehenden einschließen, wäre es ver-
fehlt, Goethe als einen Vertreter des ancien regime zu nennen, so wenig er als Anwalt
der Revolution angesehen werden kann. Denn er war von beiden Phänomenen tief
beunruhigt: von der Gesellschaft, wie sie war, und von der Revolution, wie sie verlief.
Zwischen der Revolution und der Halsbandaffäre des Jahres 1785 liegt in seinem
Lebensweg die italienische Reise. [16] Die Befassung mit Cagliostro und seinem
Stammbaum ist ein integraler Bestandteil dieses vermeintlich so heterogenen Werks.
Goethe verfolgt in Sizilien seine Spuren. Er recherchiert und bedient sich dabei der
Recherchen eines italienischen Gelehrten. Es geht ihm vor allem um die Feststellung
der Identität. Er will wissen, wer dieser Mensch eigentlich war, der sich als Graf
Cagliostro bedenkenlos in die europäische Gesellschaft eingeschlichen hatte. Die
Identität des Guiseppe Balsamo mit der Figur des Grafen Cagliostro wird als zutref-
fend erkannt. Der Familie und den Verwandten wird es nicht entgolten, daß sie einen
Betrüger wie diesen in ihren Reihen haben. Sippenhaft ist im Denken Goethes nicht
zugelassen. Die Ermittlungen werden in einem Vortrag eingebracht, der 1792 in der
Freitagsgesellschaft gehalten wird. Noch in demselben Jahr veröffentlicht er ihn als
eigene Schrift unter dem etwas umständlichen Titel: Des Joseph Balsamo, genannt
Cagliostro, Stammbaum. Mit einigen Nachrichten von seiner in Palermo noch leben-
den Familie. [17] Im Zusammenhang der Prozeßakten, die man herangezogen hatte,
spricht Goethe fast bekenntnishaft von Aufklärung, von den Vernünftigen und von
gesundem Menschenverstand: »Wer hätte geglaubt, daß Rom einmal zur Aufklärung
der Welt, zur völligen Entlarvung eines Betrügers so viel beitragen sollte [... ] Denn
obgleich diese Schrift weit interessanter sein könnte und sollte, so bleibt sie doch
immer ein schönes Dokument in den Händen eines jeden Vernünftigen; der es mit
Verdruß ansehen mußte, daß Betrogene, Halbbetrogene und Betrüger diesen Men-
schen und seine Possenspiele jahrelang verehrten, sich durch die Gemeinschaft mit
ihm über andere erhoben fühlten und von der Höhe ihres gläubigen Dünkels den
gesunden Menschenverstand bedauerten, wo nicht geringschätzten.« [18] Wendungen
wie diese kehren auffällig wieder in einem Brief an Jacobi vom 1. Juni 1791, der von
Cagliostro handelt und über die in Palermo beigebrachten Erkundigungen berichtet.
Der Italiener wird hier ein Nichtswürdiger genannt, und im Fortgang des Briefes
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 53

heißt es: »Es ist erbärmlich anzusehen, wie die Menschen nach Wundem schnappen,
um nur in ihrem Unsinn und Albernheit beharren zu dürfen, und um sich gegen die
Ohnmacht des Menschenverstandes und der Vernunft wehren zu können.« [19] Der
Stürmer und Dränger von einst übernimmt Grundbegriffe der Aufklärung, ohne sich
dieser einseitig zu verschreiben. [20] Die epochemachende Wirkung Cagliostros be-
gleitet Goethe bis in die letzten Lebensjahre hinein. Im Jahre 1829 kommt er in einem
Gespräch mit Eckermann noch einmal auf das zurück, was ihn in den achtziger Jahren
des 18. Jahrhunderts so tief bewegt und beunruhigt hatte: »Viel über den Großkophta
gesprochen. >Lavater<, sagte Goethe, >glaubte an Cagliostro und dessen Wunder. Als
man ihn als einen Betrüger entlarvte hatte, behauptete Lavater: dies sei ein anderer
Cagliostro, der Wundertäter Cagliostro sei eine heilige Person.« [21] Damit ist das
Lustspiel genannt, über das in diesem Zusammenhang zu sprechen ist.

Goethes Komödie Der Groß-Cophta - eine Revolutionskomödie, wie sie zumeist


genannt wird - gilt selbst unter Verehrern Goethes bis zum heutigen Tag als ein
mißlungenes Stück. Zusammen mit den übrigen Revolutionskomödien Die Aufgereg-
ten und Der Bürgergeneral zählt sie ein so dezidierter Verehrer Goethes wie Emil
Staiger zu jenen »Werken, in denen sich kaum die leiseste Spur von seinem Genius
findet, die nicht einmal als Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution von
Interesse sind. Mehr konnte er sich nicht verleugnen.« [22] Doch bleibt schon hier
einzuwenden, daß es dem Verfasser des Groß-Cophta um eine Auseinandersetzung
mit der Revolution gar nicht zu tun war und auch nicht zu tun sein konnte. Eine
Revolution hatte ja noch gar nicht stattgefunden, als sich Goethe 1787 in Italien
entschloß, den Stoff der Halsbandgeschichte und die Gestalt Cagliostros in einer
opera buffa zu behandeln. Von diesem Plan sind lediglich einige Szenarien, Gedichte
und Arien überliefert. Daß der Stoff als Tragödie nicht zu gebrauchen war, kann
kaum verwundern, wie es denn kein Zufall ist, daß Cagliostro auch in anderen Texten
der Zeit als Komödienfigur oder als komische Figur erscheint. Die russische Zarin
(Katharina die Große) wußte sich des Betrügers nicht anders als dadurch zu erwehren,
daß sie ihn in einer Komödie der Lächerlichkeit preisgab. [23] Wenn man indessen
bedenkt, wie sehr Goethe diese Erscheinung verstört hatte, so ist man über den Plan
einer im ganzen doch wohl heiteren Oper, worüber mit dem Komponisten Kayser
bereits verhandelt worden war, erst einmal frappiert. Dieser Plan erklärt sich aber
doch wohl vor allem aus dem Geist der italienischen Reise und ihrem zentralen
Erlebnis. Dieses Erlebnis heißt Einheit des Heterogenen. An der römischen Volksko-
mödie wie am römischen Karneval wurde sich Goethe einer von ihm als naturhaft
erfahrenen Einheit bewußt. Die Schrift über dieses große Volksfest, 1788 niederge-
schrieben, wurde später dem Text der Italienischen Reise beigefügt. Der römische
Karneval wird als ein eigentlich demokratisches Fest beschrieben, das sich das Volk
selber gibt: »Der Unterschied zwischen Hohen und Niedem scheint einen Augenblick
aufgehoben: alles nähert sich einander, jeder nimmt was ihm begegnet leicht auf, und
54 Das Zeitalter der Französischen Revolution

die wechselseitige Frechheit und Freiheit wird durch eine allgemeine gute Laune im
Gleichgewicht erhalten.« [24] Figuren der Commedia dell' arte treten auf. Volksko-
mödie und Karneval werden zu Sinnbildern einer Einheit, die als Wirklichkeit italieni-
schen Volkslebens realiter erfahren wird. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften
kommt Goethe auf dieses Schlüsselerlebnis seines Italienaufenthalts erneut zu spre-
chen. In dem Beitrag Schicksal der Handschrift (womit die Schrift über die Metamor-
phose der Pflanzen gemeint ist), führt er aus: »Ich schrieb zu gleicher Zeit einen
Aufsatz über Kunst, Manier und Stil, einen andern die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären, und das Römische Karneval; sie zeigen sämtlich, was damals in meinem
Innern vorging und welche Stellung ich gegen jene drei großen Weltgegenden genom-
men hatte.« [25] Die drei großen Weltgegenden: das sind Kunst, Natur und Gesell-
schaft; sie stellten sich Goethe damals als eine harmonische Einheit dar. Aber inzwi-
schen war die Revolution ausgebrochen, die mancherlei Ernüchterungen mit sich
brachte, wie vor allem der zweite italienische Aufenthalt deutlich macht. Der nun-
mehr veränderten Stimmungslage entspricht es, wenn es in einem Brief an Jacobi im
März 1790 heißt: »Daß die Französische Revolution auch für mich eine Revolution war
kannst du denken.« [26] Zwar bleibt die Halsbandgeschichte auch weiterhin ein Ko-
mödienstoff. Aber von der italienischen Leichtigkeit, die der Oper vermutlich zuge-
kommen wäre, ist in der ausgeführten Komödie nur noch wenig zu spüren. Goethes
Lustspiel der Groß-Cophta ist auf seine Art ein sehr ernstes Stück; und keinesfalls ist
es so belanglos, wie bis zum heutigen Tag mit schöner Selbstverständlichkeit behaup-
tet wird.
Räumt man nämlich mit dem Etikett einer Revolutionskomödie einmal auf, um die
es sich nicht handelt, so besteht schon eher die Möglichkeit, daß man einem Text
gerecht wird, dem man bisher nur selten gerecht geworden ist. Man könnte mit guten
Gründen ebenso von einem Erziehungsdrama wie von einem Freimaurerdrama spre-
chen. Beide Gebiete - Erziehung wie Freimaurerei - sind aufeinander bezogen; und
wie sehr sie es auch sonst sind, ist den letzten Büchern des Wilhelm Meister zu entneh-
men. Anders unsere Komödie! Bildung und Erziehung werden hier nicht nach ihrer
positiven Seite hin entfaltet. Weit mehr wird Erziehung gezeigt, wie sie ist, aber nicht
sein sollte, wenn es darum geht, dem mündigen Menschen sein Recht zu verschaffen.
Statt einer solchen Erziehung - nämlich zum mündigen Menschen - werden Personen
des Stücks von anderen beherrscht und manipuliert. Das zeigt sich in den unwürdigen
Formen einer öden Abfragerei von Lehren, wie sie im Groß-Cophta der Graf prakti-
ziert, in dem man als Urbild unschwer den Grafen Cagliostro erkennt. Gehorsam - als
blinder Gehorsam wie im soldatischen Tugendsystem - wird in k(Jmödienhafter Ent-
larvung der Lächerlichkeit preisgegeben; und indem die Personen des Dramas ihren
Lehrmeister verspotten und dennoch mit ihm paktieren, wird die lügenhafte Lebens-
form der Gesellschaft offenkundig, als die sie in diesem Drama dargestellt erscheint.
Als ein Freimaurerdrama kann Goethes Groß-Cophta bezeichnet werden, weil schon
die Titelfigur auf freimaurerische Riten und Begriffe verweist: auf die aegyptische
Loge, die Cagliostro für seine Zwecke eingeführt hatte. [27] Daß die kritische, ja
satirische Darstellung freimaurerischer Bräuche einen Schrifsteller zum Verfasser hat,
der selbst zeitweise einer Loge angehörte, ist nicht ungewöhnlich. Auch Wieland geht
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 55

in seinem Spätwerk Agathodämon nicht schonend mit einer Zeiterscheinung wie


dieser um: überdies ist die Freimaurerei ein höchst komplexes Phänomen, das von
den restaurativen Rosenkreuzern bis zu den revolutionären Illuminaten reicht. [28] In
Goethes Komödie erscheint sie im übrigen nicht eindeutig negativ. Die aufkläreri-
schen Ideale vertritt ein Ritter, der zu den wenigen »positiven Helden« des Stückes
gehört. Er verwendet sich für das Wohl der anderen und denkt sozial. »Was du willst,
daß die Menschen für dich tun sollen, das tue für sie«, sagt er. Aber dieser Ritter
vertritt das Prinzip des kategorischen Imperativs merkwürdig naiv, ohne im mindesten
in die Praktiken der Weltklugheit eingeweiht zu sein. Einer solchen Praxis der Welt-
klugheit huldigt einseitig der Domherr, der seinen Gesprächspartner über den Wahl-
spruch des zweiten Grades belehrt, indem er Kants kategorischen Imperativ ins Ge-
genteil verkehrt: »Was du willst, das die Menschen für dich tun sollen, das tue für sie
nicht.« [29] Dieser weltkluge Freimaurer macht aus seinem Zynismus keinen Hehl,
wenn er hinzufügt: »Alle Menschen sind Egoisten; nur ein Schüler, nur ein Tor kann
sie ändern wollen.« [30] Der Domherr ist überzeugt davon, daß man sich die Men-
schen nur zu Feinden macht, wenn man sie aufklären wollte. Der Verfall des Freimau-
rerwesens zeigt sich in der Auffassung einer Weltklugheit, die nur noch den eigenen
Vorteil gelten läßt. Altruismus in der Gestalt des Ritters und Egoismus in der Person
des Domherrn haben sich verselbständigt. Sie lassen die Verbindung vermissen, auf
die es ankäme. Aber ihr eigentliches Ziel findet die satirische Kritik der Komödie in
den Praktiken einer Geheimwissenschaft, in der Getrenntes auf eine höchst zweifel-
hafte Art zusammengebracht wird. Magie, Alchimie, Goldmacherei und Geistersehe-
rei sind einige der Disziplinen, auf die sich der Graf unseres Dramas versteht - wie der
historische Graf Cagliostro auch. Tiefe Kenntnis der Natur sei notwendig, um sich
Gewalt über Elemente und Geister zu verschaffen, verkündet er als Groß-Cophta der
ägyptischen Loge. Er vergißt dabei nicht die magische Beschwörungsformel hinzuzufü-
gen: »in verbis, herbis et lapidibus«.
Die Beherrschung von Menschen wird auf beispiellose Art vorgeführt. Was mit
dubiosen Mitteln der Magie veranstaltet wird, ist mit den Begriffen unserer heutigen
Sprache nichts weniger als Manipulation. Vor allem die Wortmagie, wie sie hier geübt
wird, zeigt sich in ihren bedenklichsten Formen. Im Zusammenhang solcher Praktiken
spricht der Graf de Rostro des Groß-Cophta aus, was der Dichter des Urfaust wohl
gleichermaßen hätte aussprechen können: »Wenn der Mensch, mit seinen natürlichen
Kräften nicht zufrieden, etwas Besseres ahnet, etwas Höheres begehrt; wenn er sich
eine unverwüstliche Gesundheit, ein dauerhaftes Leben, einen unerschöpflichen
Reichtum, die Neigung der Menschen, den Gehorsam der Tiere, ja sogar Gewalt
über Elemente und Geister stufenweise zu verschaffen denkt - so kann es nicht ohne
tiefe Kenntnis der Natur geschehen [... ] - Die größten Geheimnisse, Kräfte und
Wirkungen liegen verborgen - - in verbis, herbis et lapidibus.« [31] Solche Formeln
sind der Mystik, der Magie oder der Alchemie entlehnt, wie sie der junge Goethe im
Kreise der Susanne von Klettenberg kennengelernt hatte. [32] Sie konnten mühelos
in den Wortschatz der Freimaurerei übergehen; und als diese werden sie in Goethes
Komödie in erster Linie von dem Grafen gebraucht, der schon vom Klang seines
Namens her an den historischen Cagliostro denken läßt. Dieser soll im Januar 1781
56 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Lavater auf dessen schriftliche Anfrage, woher denn seine Kenntnisse stammten,
lakonisch geantwortet haben: »In verbis. In herbis. In lapidibus«. [33] In einem Brief
an Jacobi vom 8. Juni 1785 gebraucht Goethe eben diese Formel, aber mit einer
bezeichnenden Weglassung, die sich auf die Sprache im Kontext solcher Naturdinge
bezieht. Goethe schreibt: »Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in
herbis et lapidibus.« [34] Diese so gebrauchte Wendung ist sichtlich nicht mehr der
Ausdruck der Naturfrömmigkeit, wie sie für den jungen Goethe charakteristisch war.
Die Formel wird jetzt mit Beziehung auf eine naturforschende Tätigkeit im Dienste
des Staates gebraucht, wie dem Fortgang des Briefes deutlich zu entnehmen ist:
»Knebel, Voigt und Fritz sind mit mir, es giebt genug zu thun und die Arbeit wird
durch gemeinsame Freude an allem was vorkommt belebt.« Das in den Bergen ge-
suchte Göttliche versteht sich nunmehr als ein Suchen nach naturhafter Ordnung und
Gesetzlichkeit; und nicht zufällig handelt derselbe Brief von Spinoza und dem, was
dieser als höchste Realität anerkennt. [35] Auf die Weglassung der Wörter kommt
hier alles an. [36] Dieser Weglassung entspricht die wahrnehmbare Sprachskepsis, die
dem Groß-Cophta Goethes eigentümlich ist. Die Vorbehalte gelten in erster Linie der
Magie der Sprache; fast fühlt man sich an Hofmannsthais Brief des Lord Chandos
erinnert. Doch hat man sich vor Verallgemeinerungen zu hüten. Denn die von Goethe
gegen Newton ins Feld geführte Naturforschung insistiert im Gegenteil auf sprachli-
cher Beschreibung gegenüber ihrer Mathematisierung; und eben mit dem Verhältnis
von Sprache und Naturkunde hat es auch unser Lustspiel zu tun. Ganz im Sinne
veralteter Denkweisen wird Erforschung der Natur mit Wortmagie von Personen
vermischt, die im Stück äußerst kritisch beurteilt werden. Solche Vermischung ist im
Verständnis der Komödie - und gewiß auch im Verständnis Goethes um 1792 - genau
so Betrug und Lüge, wie die Halsbandgeschichte Lüge ist. Die Kritik an einer veralte-
ten Wissenschaft ist, recht besehen, eines der zentralen Themen dieser Komödie.
Diese Kritik geht sicher über das weit hinaus, was das Stück an Bedeutung zu tragen
vermag. Was aber diese zu Unrecht verkannte Komödie an Bedeutung enthält, ist so
wenig nicht. Vor allem ist Goethes Text - wie andere Texte dieser Zeit auch - im
Kontext der sich entwickelnden Naturwissenschaft zu erläutern. Denn die Erregung
Goethes über Cagliostro hat vornehmlich im eigenen Wissenschaftsverständnis ihren
Grund; mehr noch in einem tiefgehenden Bewußtseinswandel, wie er seit 1780 zu
verfolgen ist. Eine Art Paradigmawechsel auf dem Hintergrund der allgemeinen Be-
wußtseinslage findet statt. Den Wandel der Dinge bekommt unter den Freunden
Johann Caspar Lavater am heftigsten zu spüren. Es ist kein Zufall, daß der Bruch
dieser Freundschaft im Zeichen Cagliostros vor sich geht.

Die Beziehungen Goethes zu Lavater hatten mit einer Herzensfreundschaft im Stil


der Zeit begonnen. [37] Die Mitarbeit des jungen Goethe an den Physiognomischen
Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe hatte die
Freundschaft befestigt und vertieft. Der in vielen Kreisen hochgeschätzte Kanzelred-
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 57

ner und Seelenfreund hatte gelegentlich einer Reise nach Ems und Elberfeld im Jahre
1774 den Dichter vollends für sich gewonnen. Der Besuch wurde 1775 von Goethe
erwidert. Vier Jahre später kehrte er erneut bei Lavater in Zürich ein, diesmal in
Begleitung des Herzogs. Die Begegnung ist als Höhepunkt ihrer Freundschaft anzuse-
hen; ein Brief an Frau von Stein bringt es zum Ausdruck: »Wir haben einen starcken
Dialog übers Erhabne geführt den ich auch aufzuschreiben schuldig bleiben werde. Es
ist mit Lavater wie mit dem Rheinfall man glaubt auch man habe ihn nie so gesehen
wenn man ihn wiedersieht, er ist die Blüte der Menschheit, das Beste vom be-
sten.« [38] Als Lavater 1786 auf einer Art von Prophetenreise Goethe in Weimar
wiedersieht, ist der Bruch innerlich vollzogen; der unversöhnlichste, den es in Goe-
thes Leben gibt, wie man gesagt hat. [39] Jetzt heißt es (abermals in einem Brief an
Frau von Stein): »Er hat bey mir gewohnt. Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter
uns gewechselt worden und ich bin Haß und Liebe auf ewig los [... ] Ich habe auch
unter seine Existenz einen grosen Strich gemacht.« [40] Dazwischen liegen Lavaters
Zusammenkünfte mit Cagliostro zu Anfang der achtziger J abre, von denen in anderem
Zusammenhang schon die Rede war. Sie haben zweifellos das ihre zur raschen Ent-
fremdung beigetragen. In der Forschung wird der Bruch bisweilen Lavaters Buch
Pontius Pilatus oder der Mensch in allen Gestalten (1782/5) zugeschrieben, das Goethe
wegen seines religiösen Dogmatismus geschmacklos fand. [41] Keine Frage, daß auch
diese Verstimmung eine Rolle gespielt hat. Aber anderes kommt hinzu. So vor allem
Lavaters Neigung zu Magnetismus und Hellseherei. [42] Das Zerbrechen dieser
Freundschaft ist nicht isoliert zu sehen. Die religiösen Überzeugungen hätte Goethe
wohl gelten lassen, wenn es hier nicht eine bedenkenlose Verquickung von Wissen-
schaft und Religion gegeben hätte. Dieser unversöhnliche Bruch, um den es sich
zweifellos handelt, hat jedenfalls am wenigsten in persönlichen Sympathien oder Anti-
pathien seinen Grund, sondern in der Sache weit mehr - in Goethes sich wandelndem
Verständnis von dem, was ihm Wissenschaft bedeutet. Von solchen Wandlungen her
gesehen, ist das Mißtrauen gegenüber Lavater und Cagliostro gleichermaßen ausge-
prägt.
Goethes Empörung über Cagliostro, von dem Lavater in seinen Briefen aus Straß-
burg ausführlich handelt, fällt fast auf das Jahr zusammen mit einer folgenreichen
Umorientierung seines Denkens. Seit 1780 ist er bemüht, in der Erforschung der
Natur Prinzipien anzuwenden, die sich methodisch rechtfertigen. Mit der nun einset-
zenden Naturforschung entfernt er sich sehr rasch von der Naturmystik des Sturm und
Drang; damit auch von Lavater. Dieser hatte die Physiognomik zwar als eine Wissen-
schaft aufgefaßt, aber doch als eine solche, die Magie, Prophetie und Alchimie nicht
ausschloß. Von solchen Auffassungen her fiel es dem Zürcher Gottesmann nicht
schwer, an den Geheimlehren des Grafen Cagliostro teilweise Gefallen zu finden.
Dessen Erfolge schildert der schon erwähnte Gewährsmann der Elisa von der Recke,
und man spürt, daß es sich weithin um Auffassungen von Wissenschaft handelt, die
Lavater und Cagliostro gemeinsam haben, wenn es in diesem Bericht heißt: »in seiner
Schule werde man angeführt, nicht nur den Puls [... ] sondern auch die Gesichtsfarbe,
den Blick, den Gang und jede Bewegung des Körpers medizinisch zu erforschen,
daher denn die Physiognomik ein natürlicher Teil der Arzneikunde sei ... «. Da die
58 Das Zeitalter der Französischen Revolution

ganze Natur miteinander verwandt ist, so muß der Arzt sie in großem Umfange ken-
nen, und die Chemie muß ihm dann zur Auflösung und Zusammensetzung zu Gebote
stehen.« [43] Das hört sich fast wie eine Vorwegnahme psychosomatischer Methoden
an - und bezeichnet medizingeschichtlich doch zugleich jenen Grenzbereich, in dem
sich Scharlatane aller Art gern aufhalten. Der Dichter des Urfaust war solchen Denk-
formen noch durchaus zugetan. Am wenigsten in dieser Zeit hätte er sich von der
Wissenschaft das Heil der Welt erhofft. Die Besprechung des dritten Teils der Physio-
gnomischen Fragmente, die er 1772 in die Frankfurter Gelehrten Anzeigen einrücken
ließ, schloß mit einem Plädoyer für den Irrationalismus des Sturm und Drang: »Nun
erhebe sich seine Seele, und schaue auf diesen Gedankenvorrat wie auf irdische
Güter, fühle tiefer das Geisterall, und nur in andern sein Ich«; und sie schloß mit
einer Huldigung für den »gewürdigten Seher unsrer Zeiten«, womit kein anderer als
Swedenborg gemeint war. [44] In einem Brief Goethes an Lavater steht der bemer-
kenswerte Satz: »Wenn Wissenschaft Wissenschaft wird, so ist nichts mehr dran.« [45]
Man könnte sich einen Satz wie diesen auch von Faust ausgesprochen denken; und in
der Tat läßt dieser sich im berühmten Monolog auf verwandte Art vernehmen - mit
dem Vers: »Drum hab ich mich der Magie ergeben.« Aber im fünften Akt des zweiten
Teils wird zurückgenommen, was im ersten gesagt worden war: »Könnt' ich Magie
von meinem Pfad entfernen«, heißt es jetzt. Im historischen Teil der Farbenlehre wird
später die Absage an die religiöse Naturkunde der eigenen Jugendzeit wie folgt formu-
liert: »Betrachtet man die Alchimie überhaupt, so findet man an ihr dieselbe Entste-
hung, die wir oben bei anderer Art Aberglauben bemerkt haben. Es ist der Miß-
brauch des Echten und Wahren, ein Sprung von der Idee, vom Möglichen, zur Wirk-
lichkeit, eine falsche Anwendung echter Gefühle, ein lügenhaftes Zusagen, wodurch
unsern liebsten Hoffnungen und Wünschen geschmeichelt wird.« [46] Zwischen dem
Wunsch, sich der Magie zu ergeben, und dem seit etwa 1780 erkennbaren Bemühen,
Magie vom eigenen Pfad zu entfernen, vollzieht sich der folgenreiche Wandel in Goe-
thes Verständnis von Wissenschaft. Die »vorwissenschaftliche« Physiognomik Lava-
ters genügt immer weniger den Ansprüchen, die nunmehr gegenüber Wissenschaft
und Naturforschung geltend gemacht werden. Diese Umorientierung geschieht viel-
leicht nicht ganz zufällig in der Zeit, in der Kants erste kritische Schrift, die Kritik der
reinen Vernunft (1781), erscheint, obwohl Goethes »Einblicke« in sie einer späteren
Zeit angehören. Naturlich ist in diesem Zusammenhang auf die amtliche Tätigkeit
hinzuweisen und die dadurch bedingte Richtung auf das Nützliche und Praktische [47] ;
aber daneben doch vor allem auf das Interesse für eine so gänzlich anders beschaffene
Naturbetrachtung wie diejenige Linnes, von dem Goethe in der Geschichte seiner
botanischen Studien sagt, daß ihn nach Shakespeare und Spinoza kein anderer so sehr
beeinflußt habe wie er. [48] In der Forschung besteht heute weithin Übereinstimmung
darin, daß sich seit 1780 eine neuartige Naturbetrachtung im Denken Goethes verfol-
gen läßt. [49]
Goethe hat Lavaters Physiognomik in Dichtung und Wahrheit zutreffend charakte-
risiert: »Seine Physiognomik ruht auf der Überzeugung, daß die sinnliche Gegenwart
mit der geistigen durchaus zusammenfalle, ein Zeugnis von ihr ablege, ja sie selbst
vorstelle.« [50] Das hört sich an, als sei es ganz aus dem Goetheschen Symboldenken
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 59

heraus formuliert. Aber das Zusammenfallen des Sinnlichen mit dem Geistigen wird
in Lavaters Lehre bloß intuitiv und unmethodisch betrieben, wie Goethe überzeugt
ist. Es werde nicht begründet; seinen Synthesen lägen keine Analysen zugrunde,
wendet er ein. [51] Goethe kann damit immer weniger einverstanden sein, weil es ihm
in allem darum geht, das Gesetzhafte aller Erscheinungen zu entdecken; auch in der
ehedem gemeinsam betriebenen Physiognomik wird es zu entdecken gesucht. Aus
diesem Bemühen erklärt sich die anhaltende Beschäftigung mit Knochenbau und
Anatomie. Blumenbach, Loder und Gall werden auf diesen Gebieten als Gelehrte
von nun an hochgeschätzt. Die Osteologie löst die Physiognomik Lavaters ab und
besorgt dieser das Fundament, das ihr bis dahin fehlte. Diesen aus der Physiognomik
hervorgegangenen Studien ist schon wenige Jahre später die Entdeckung des Zwi-
schenkieferknochens zu danken, die Goethe am 27. März 1784 Herder unverzüglich
mitteilt; man darf vermuten: als eines der freudigsten Ereignisse seines Lebens; der
Ton der Mitteilung spricht für sich selbst: »Nach der Anleitung des Evangelii muß ich
dich auf das eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich
habe gefunden - weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht-
das os intermaxillare am Menschen! ... « [52]
Ein Übergang von der Physiognomik im irrationalen Sinn zur Osteologie nach empiri-
schen Methoden hat stattgefunden. [53]
In der Kampagne in Frankreich kommt Goethe auf diesen Übergang erneut zu
sprechen. Vom Kreis um die Fürstin Gallitzin ist die Rede. Fürstenberg, ein Mitglied
des Kreises, habe sich verwundert darüber geäußert, daß er [Goethe] um der Physio-
gnomik willen die allgemeine Knochenlehre studiere, obwohl sich von dieser kaum
eine Beihilfe zur Beurteilung der Gesichtszüge des Menschen erhoffen lasse. Goethe
führt an dieser Stelle aus, daß er erst durch Lavaters Physiognomik zum Studium der
Osteologie gelangt sei und daß er sich veranlaßt sah, dieses Studium bei Freunden zu
entschuldigen, die es als etwas für einen Dichter Unschickliches aufgefaßt hätten. [54]
An anderer Stelle derselben Schrift wird die Begegnung mit einem Lehrer in Trier
geschildert, der Goethe mit den neuesten Journalen versorgt habe. Abschließend
heißt es: »Er verwunderte sich, wie so viel andere, daß ich von Poesie nichts wissen
wolle, dagegen auf Naturbetrachtungen mich mit ganzer Kraft zu werfen schien«; und
daß ein bedeutender Dichter sein eigentliches Metier derart hintansetzt, um erst
einmal für längere Zeit der Naturforschung den Vorrang einzuräumen, ist ja in der
Tat so selbstverständlich nicht. [55] Es wird deutlich, wie wenig es um einen bloß
innerliterarischen Stilwandel geht, sondern um Umorientierungen des Denkens und
Dichtens auf breitester Grundlage. Der Bruch mit Lavater wie die Empörung über
Cagliostro erklären sich aus solchem Wandel. Ein gewöhnlicher, in irgendeine Hals-
bandaffäre verstrickter Betrüger hätte Goethe kaum aus der Fassung gebracht, wären
es nicht die vorwissenschaftlichen Lehren gewesen, die er in die Französische Revolu-
tion hineinwirken sah. Nur von solchen Auffassungen her wird verständlich, daß in
den naturwissensschaftlichen Schriften gelegentlich die Halsbandgeschichte neben
der Entdeckung des Zwischenkieferknochens genannt werden kann. [56]
Goethes Wissenschaftsbegriff, wie er sich seit 1780 entwickelt, ist gewiß nicht an
der exakten Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu messen. Aber gegenüber vor-
60 Das Zeitalter der Französischen Revolution

wissenschaftlicher Spekulation wie gegenüber den Praktiken geheimer Gesellschaften


dringt er auf Erfahrung, Wahrheit und Evidenz. Das wird ihm selbst von einem For-
scher des 19. Jahrhunderts wie Rudolf Virchow bescheinigt. [57] Als Naturforscher
sucht Goethe nach Gesetzen, die das Ganze organisieren. Davon handelt ein schon
1779 geschriebener Brief aus der Schweiz: »Man fühlt tief, hier ist nichts Willkür-
liches, hier wirkt ein alles langsam bewegendes ewiges Gesetz.« [58] Lavaters Physio-
gnomik bleibt unbefriedigend, weil er selbst nicht fähig war, »irgendeine Abstraktion
methodisch zu suchen« und daher am einzelnen haften blieb. [59] Goethes Begriffvon
Wissenschaft schließt ein, daß es Fortschritte und neue Ansichten gibt. [60] Das
Bewußtsein, auf neuen Bahnen zu gehen, prägt sich ein. »Es ist wundersam, wie eine
jede Zeit Wahrheit und Irrtum aus dem kurz Vergangenen, ja dem längst Vergange-
nen mit sich trägt und schleppt, muntere Geister jedoch sich auf neuer Bahn bewe-
gen, wo sie sich's denn freilich gefallen lassen meist allein zu gehen oder einen Gesel-
len auf eine kurze Strecke mit sich fortzuziehen«, heißt es wiederum in einer Nieder-
schrift der Kampagne in Frankreich. [61] Es steht für Goethe fest, daß es einer
Wissenschaft nicht zukomme, sich in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, Geister zu
berufen oder den Stein der Weisen zu suchen, wie in den Tag- und lahresheften für
1805 gesagt wird. [62] Abermals ist in diesem Zusammenhang von Cagliostro die
Rede: »Haben wir nicht in den neuern Tagen Cagliostro gesehen, wie er große
Räume eilig durchstreifend, wechselsweise im Süden, Norden, Westen seine Ta-
schenspielereien treiben und überall Anhänger finden konnte?« [63] Goethe nennt
ihn einen dämonischen Menschen und meint damit einen solchen von der schlimme-
ren Art. In ihrer Nähe könne das problematisch Wahre, das es überall gibt, jederzeit
in Lüge umschlagen; und Lüge bezeichnet stets das, was der Wahrheit als wissen-
schaftlicher Wahrheit entgegensteht. [64] Wenn Goethe auf Cagliostro oder die Hals-
bandgeschichte zu sprechen kommt, werden solche Begriffe fast wie Formeln ge-
braucht. Auch auf Lavater und seine Lehren werden sie rückblickend angewandt.
Cagliostro wie Halsbandaffäre sind für ihn nicht abtrennbar von vorwissenschaftlicher
Magie, Geheimlehre und Aberglauben, denen mit den Methoden neuerer Erfah-
rungswissenschaften der Prozeß zu machen ist. Es ging Goethe also nicht allein oder
am wenigsten um die politischen Probleme im engeren Sinn. Er war weit mehr von
den Wirkungen einer Pseudowissenschaft beunruhigt, als die er sie erkannte; und er
war überzeugt, daß sie eine Gesellschaft zugrunde richten muß, wenn diese sich sol-
chen Irrlehren verschreibt. In diesem Punkt hatte er das Bewußtsein, der fortschritt-
lich denkende Dichter zu sein. Daher mußte es ihn zusätzlich irritieren, daß ein Vertre-
ter überholter Geheimwissenschaft wie Cagliostro nach seiner Haft in der Bastille sich
halb und halb als ein Anwalt der Revolution auszugeben verstand. Altes und Neues
erscheinen im Auftreten dieser Gestalt auf wunderliche Art vermischt. Sie lassen
Einheit und inneren Zusammenhang vermissen. Damit ist eigentlich der Schlüsselbe-
griff in Goethes Verständnis von Wissenschaft genannt: die Überzeugung, daß in der
Natur alles mit allem zusammenhängt und ein Ganzes darstellt.
Das auf Einheit und Zusammenhang gerichtete Denken bestätigt sich in nahezu
jeder seiner wissenschaftlichen Schriften. [65] Statt anderer Beispiele sei auf den 1784
geschriebenen Aufsatz Über den Granit verwiesen: »Denn man wird mir gerne zuge-
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 61

ben, daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhange stehen, daß der
forschende Geist sich nicht gerne von etwas Erreichbarem ausschließen läßt.« [66]
Seinen Ausdruck findet dieses auf Einheit gerichtete Denken im Goetheschen Begriff
des Symbols. Im Umkreis der vorwissenschaftlichen Magie wie der geheimen Gesell-
schaften wurde vielfach bedenkenlos mit Symbolen operiert. Noch im Epenfragment
Die Geheimnisse vom Herbst 1784 ist solcher Umgang erkennbar: »Eine absichtliche,
mehr oder minder willkürliche Symbolik also, keine notwendige liegt hier vor«, be-
merkt Emil Staiger. [67] Ein derart unbedenklicher Umgang mit Symbolen trifft auch
für Lavater zu: »aber wir sind Symbolen, u. unsere Worte u. Werke sind's mit uns.
Laßt uns symbolisiren, weil wir's müßen, so lang wir können ... «, heißt es in einem
seiner Briefe. [68] Goethe kann sich mit einem solchen Denken nicht mehr begnügen.
Es kommt ihm willkürlich vor. So sucht er das Symbolische im Notwendigen zu
begründen und findet hierfür die Grundlagen abermals im Bereich der Naturfor-
schung, wie er sie versteht. Als Schiller 1797 über der Arbeit am Wallenstein nicht
recht zu erkennen vermag, wie der Sternenglaube seines Helden mit der Tragik der
Tragödie zu verbinden sei, schlägt ihm Goethe vor, die Motive an das Weltganze
anzuschließen: »Der astrologische Aberglaube ruht auf dem dunkeln Gefühl eines
ungeheuren Weltganzen. Die Erfahrung spricht, daß die nächsten Gestirne einen
entschiedenen Einfluß auf Witterung, Vegetation und so weiter haben, man darf nur
stufenweise immer aufwärts steigen, und es läßt si<;h nicht sagen, wo diese Wirkung
aufhört.« [69] Das Weltganze ist ein Grundbegriff seiner Naturbetrachtung wie seiner
Poesie. Man muß einräumen, daß auch in vorwissenschaftlicher Sprache Magie und
Naturkunde zu einem Weltganzen vereint sein können. Aber daß dies gegenüber der
neuen Erfahrungswissenschaft unmethodisch geschieht, bezeichnet Goethes Ärgernis.
Daher seine Empörung über Lavater wie über Cagliostro gleichermaßen. Im Zeitge-
spräch jener Jahre finden solche Aversionen gegenüber Lavaters Physiognomik ihren
Ausdruck in Spott und Satire, bei Musäus wie bei Lichtenberg. [70] Die Abgrenzung
gegenüber diesen Phänomenen und Symptomen ist die vordringliche Aufgabe der
achtziger Jahre. Später kommt über der Beschäftigung mit Optik und Farbenlehre
eine zweite Abgrenzung hinzu. Sie gilt Newton und seiner kausal-mechanistischen
Denkweise. Diese Abgrenzung wird nicht nur, aber doch auch im Namen der Sprache
vorgenommen - aber nicht im Namen der Sprachmagie, wie schon ausgeführt. Sie
basiert auf der Überzeugung, daß der Mathematik kein universaler Anspruch zuzubilli-
gen sei. Diese selbst wird keineswegs negiert: »Ich ehre die Mathematik als die
erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am
Platze ist«, heißt es 1826 in einem Gespräch mit Eckermann; doch dürfe sie nicht für
Dinge mißbraucht werden, die außerhalb ihres Bereichs liegen. Danach der denkwür-
dige Satz: »Und als ob alles nur dann existiere, wenn es sich mathematisch beweisen
läßt.« [71] Wissenschaft sollte frei von Affekten sein. In zwei Fällen hat sich Goethe in
seinem Verhältnis zu den Naturwissenschaften von Affekten nicht zu lösen vermocht.
Sie betreffen sein Verhältnis zu Cagliostro und Newton; und das sind gewiß sehr
verschiedene Gestalten des welthistorischen Verlaufs. Doch wird gerade in der Ge-
genüberstellung beider Namen deutlich, worauf es ankommt: darauf nämlich, i~
sehen einem vagen Universalismus einerseits und einer Separierung im Mathema-
62 Das Zeitalter der Französischen Revolution

tisch-Exakten zum andern eine in sich einheitliche Kultur zu begründen, die nicht in
beide Extreme auseinanderfällt.

Damit steht auch sein eigenwilliges Verhältnis zur Revolution in Frage. Goethe hat
ihre politischen und sozialen Fortschritte sicher nicht angemessen einzuschätzen ver-
mocht, weil ihm anderes wichtig war; aber auch dieses andere hat Anspruch auf
Verständnis. An Cagliostro, der als vorwissenschaftlicher Magier wie als partieller
Revolutionär aufgetreten war, hat Goethe den Zerfall einer ehedem einheitlichen
Kultur wahrgenommen. Aber für sein Verständnis der Revolution ist bezeichnend,
daß er mit dieser den Prozeß des Zerfalls nicht unterbrochen, sondern eher fortge-
führt sieht. Alle Äußerungen deuten darauf hin, daß es sich so verhält: daß er im
Ereignis der Revolution einen Vorgang der Spaltung, Trennung und Vereinzelung
erkannte. Im Trauerspiel Die natürliche Tochter, das die für ihn gräßlichen Ereignisse
dichterisch zu »gewältigen« suchte, spricht eine der Figuren solche Erfahrungen Goet-
hes aus:

»Der feste Boden wankt, die Türme schwanken,


Gefugte Steine lösen sich herab,
Und so zerfällt in ungeformten Schutt
Die Prachterscheinung« ... [72]

In den Paralipomena zu Dichtung und Wahrheit findet sich die Notiz: »DieFranzösi-
sche Revolution bricht aus. Spaltung der Gesinnung. Immer wachsende Trennung der
obern Stände vom Mittelstande.« [73] Mit der Revolution des Jahres 1789 verbindet
sich für Goethe das Bild einer unabsehbaren Zersplitterung: »wie die Halsbandge-
schichte als düstre Vorbedeutung, so ergriff mich nunmehr die Revolution selbst als
die gräßlichste Erfüllung; den Thron sah ich gestürzt und zersplittert.« Das französische
Volk wird gesehen als »veruneinigt, nicht einmal in Parteien gespalten, sondern im
Innersten zerrüttet, in lauter Einzelheiten getrennt.« [74] Gegen solche Auflösungs-
tendenzen wird in der Kampagne in Frankreich, aus der soeben zitiert wurde, der hohe
Einheitssinn der edel Verbündeten ausgespielt. Das hört sich merkwürdig an. Aber
kulturhistorisch und geschichtsphilosophisch ist es so naiv nicht gedacht, wie es den
Anschein hat. Das literarische Werk der Kampagne in Frankreich ist aus diesem
Einheitssinn konzipiert. Heterogenes aus den Bereichen der Kunst, der Natur und der
Gesellschaft wird zur Sprache gebracht, damit sich ein innerer Zusammenhang erge-
ben kann. Die Naturwissenschaft, die erst der vorwissenschaftlichen Magie und da-
nach dem Ereignis der Revolution entgegengehalten wird, hat keineswegs den Sinn,
von den Forderungen des Tages abzulenken. Sie soll auch nicht einfach als Evolution
gegenüber der Revolution das ganz andere sein - sondern soll für den hohen Einheits-
sinn bürgen, an dem es die Revolution fehlen ließ. In ihm, in diesem Sinn für Einheit,
darf man den eigentlichen Sinn dessen erkennen, was man deutsche Klassik nennt.
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 63

Von anderen Voraussetzungen her verfolgt Schiller weithin dieselben Ziele, noch
ehe das gemeinsame Programm entworfen ist. Zwar waren ihm Cagliostro und Hals-
bandgeschichte nicht gleichermaßen wichtig wie Goethe. Aber nebensächliche Ange-
legenheiten auf dem Wege zur Klassik sind sie auch für ihn nicht gewesen. Für Orden,
geheime Gesellschaften und Geheimlehren aller Art hat er sich seit den Anfängen
seiner schriftstellerischen Tätigkeit stets brennend interessiert. Kaum nach seiner
Flucht in Bauerbach angekommen, erbittet er sich Bücher aus diesen Gebieten. Über
Cagliostro hat er sich zuerst 1781 als Redakteur einer Stuttgarter Zeitung geäu-
ßert. [75] Der kurze Text kann als Vorspiel zu der wohl erfolgreichsten Prosa angese-
hen werden, die Schiller je geschrieben hat: zu der Fragment gebliebenen Erzählung
Der Geisterseher, als psychologische, ja psychiatrische Analyse ein Meisterwerk oh-
negleichen. [76] Seit 1787 erschien sie in Fortsetzungen in der Zeitschrift Thalia. In
der Tendenz ist sie mit der in derselben Zeit konzipierten Komödie Der Groß-Cophta
vergleichbar: hier wie dort werden Geheimlehren und Geheimgesellschaften, Gei-
sterseherei und Geisterbeschwörungen in ihren bedenklichen Praktiken decouvriert.
Die Erzählung selbst spielt in Venedig. Hier lebt ein deutscher Prinz, eine an Hamlet
erinnernde Gestalt, die in Mystizismus und Melancholie zu versinken droht. Eines
Tages wird ihr von einem Unbekannten, der eine Maske trägt, der Tod des Onkels
vorausgesagt. Das Vertrauen des Prinzen in diesen Unbekannten wächst. Er wird im
Fortgang der Erzählung als Armenier bezeichnet. Doch werden dessen betrügerische
Veranstaltungen mit der Zeit durchschaut. Dem Prinzen kommt zum Bewußtsein, daß
er nur als Mittel zu höchst verwerflichen Zwecken benutzt werden sollte. Die Gestalt
des Armeniers hat so, wie sie beschrieben wird, etwas Faszinierendes. Und wie ihr
Urbild Cagliostro wird sie im Geisterseher zum Inbegriff einer Gesellschaft, in der das
Zweideutige, Trübe und Mysteriöse dominiert.
Der weitere Weg des Prinzen wird in den folgenden Teilen geschildert. Nachdem er
sich von dem Armenier getrennt hat, wird er zum Freigeist, der sich aller Bindungen
zu entledigen sucht. Er fällt von einer Exaltation in die andere. Dem Prinzen dieser
Erzählung fehlt der feste Standort, dessen er bedürfte, um sich der Machenschaften zu
erwehren, denen er anheimfällt. Geisterseherei und Libertinage sind nur verschiede-
ne Erscheinungen desselben Phänomens: eines Preisgegebenseins an Mächte, die
Gewalt über Menschen gewinnen. Die falsche Erziehung setzt einen Mechanismus der
seelischen Exaltationen in Gang, der das Handeln determiniert, so daß es im Text der
Erzählung heißen kann: »er hatte sich in dieses Labyrinth begeben als ein glaubensrei-
cher Schwärmer, und er verließ es als Zweifler und zuletzt als ausgemachter Freigeist.«
[77] Die Einheit der Person erscheint in Frage gestellt; von einem geteilten Selbst
könnte man sprechen, um einen Begriff der modemen Psychiatrie (oder Anti-
psychiatrie) zu gebrauchen. [78] Aber die eigentliche Leistung Schillers beruht darin,
daß er die Analyse der individuellen Person mit der Analyse der Zeiterscheinungen
verknüpft: die Zersplitterung der Kräfte im Menschen korrespondiert mit der Zer-
splitterung nebeneinander existierender Kulturen und Subkulturen, denen es an Totali-
tät mangelt. Ihre Wiederherstellung ist der zentrale Gedanke auch seiner »Klassik«.
64 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Schon in der Rezension der Gedichte Bürgers - sie entstand im Jahre 1789 - ist es
der Fall. Schon in dieser bedeutenden Abhandlung wird der Dichtung zugetraut, daß
sie beinahe allein es sei, »welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereini-
gung bringt ... welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wiederherstellt«. [79]
Wie im Geisterseher wird in den ästhetischen Schriften das geteilte Selbst des Men-
schen nur als Spiegelung einer auseinanderfallenden Kultur verstanden. Davon han-
deln die Briefe an den Herzog von Augustenburg. Sie machen deutlich, daß auch
Schiller nach zwei Seiten hin Abgrenzungen vorzunehmen hat: gegenüber Schwärmerei
und Geheimlehren einerseits; und gegenüber der Aufklärung als einer einseitig theo-
retischen Kultur zum andern: »Die Aufklärung, deren sich die höheren Stände unsers
Zeitalters nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur [... ] Und so sehen
wir den Geist der Zeit zwischen Barbarey und Schlaffheit, Freygeisterey und Aber-
glauben, Rohheit und Verzärtelung schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht der
Laster, was das Ganze noch zusammenhält.« [80] Daß die Revolution diese Einheit
nicht zustande gebracht hat, ist auch Schillers Überzeugung. Ihr Ergebnis ist dieses:
»Hier die empörendste Verwilderung, dort das entgegengesetzte Extrem der Erschlaf-
fung: die zwei traurigsten Verirrungen, in die der Menschencharakter versinken kann,
in Einer Epoche vereint!« [81] Nur daß es eben nicht die rechte Vereinigung ist, die
man wünschte!
Im Verlangen nach Einheit in Anbetracht vielfacher Zersplitterungen beruhen die
Grunderfahrungen des Zeitalters. Aus ihnen entwickeln die Wortführer der Klassik
ihr Programm. Diese Grunderfahrung, daß die Kultur der Epoche in unverbundene
Kräfte und Gegenkräfte auseinanderfällt, haben die Zeitgenossen wiederholt be-
schrieben. So der Freiherr von Knigge in seinem bekannten Buch über den Umgang
mit Menschen: »daß in den Zeiten der größten Aufklärung ein Blinder Glaube an
Ammenmärchen grade am stärksten einreißt.« [82] In dem Erzzauberer und Wunder-
täter Cagliostro vermischen sich alle diese Tendenzen auf eine höchst widerspruchs-
volle Weise. In ihr werden sie zum zeitgeschichtlichen Symptom kat' exochen. Erst auf
dem Hintergrund und Untergrund solch divergierender Strömungen und Kräfte kann
das, was man lange Zeit als unverlierbaren Besitz unserer Klassiker bezeichnet hat,
angemessen beurteilt werden. Ihr auf die Einheit unserer Kultur gerichtetes Pro-
gramm ist ein gemeinsames Programm, wobei für Goethe die Einheit der Natur als
schon immer vorhanden angenommen wird, die nur erkannt werden muß, während es
Schiller, noch einen Grad moderner, der Kunst zur Aufgabe macht, »jene Einheit, die
durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wiederherzustellen«,
wie in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung ausgeführt wird. [83]
Wir sind uns in solchen Betrachtungen des historischen Abstandes bewußt. Die auf
Naturforschung gegründete Einheit unserer Kultur, das Weltganze, wie es Goethe
noch einmal dachte, ist durch die Entwicklung der modemen Naturwissenschaft über-
holt. Auch für Schillers Zuversicht, die Welt durch Kunst wieder zu heilen, trifft das
wohl zu. Aber inzwischen ist auch die exakte Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts
zu einem partiell historisch gewordenen Paradigma geworden. Sie hat uns nicht nur
gelöste Probleme hinterlassen; denn nicht weniges liegt unerledigt am Weg. Spaltun-
gen der verschiedensten Art - Bewußtseins- oder Atomspaltungen - bezeichnen eini-
Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik 65

ge dieser Probleme. Der Geschichtlichkeit sind wir uns bewußt. Aber geschichtliches
Denken heißt mit Jacob Burckhardt auch, Konstanten des historischen Verlaufs
wahrzunehmen. [84] Die Vereinzelung unserer Geisteskräfte in den Formen der Ent-
fremdung wie die zahlreichen Identitätskrisen unserer modemen Welt dürfen wir als
solche Konstanten auffassen. So gesehen ist das, was am Ende des 18. Jahrhunderts in
dem kleinen Weimar versucht worden ist, ebenso historisch wie hochaktuell.
3. Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt
Zur Geschichte einer sozialen Frage

Daß Menschen aus dem Lande ihrer Väter auswandern oder vertrieben werden, ist
literarisch früh bezeugt. Der Auszug der Kinder Israel, wie er anschaulich in den
Büchern des Alten Testaments beschrieben wird, ist ein solches Zeugnis, und der
aktuellen Bedeutung dieser frühzeitlichen Ereignisse sind wir uns bewußt. In der Art,
wie sich von Zeit zu Zeit wiederholt, was hier geschieht, scheint man es, im Sinne
Goethes, mit Urphänomenen zu tun zu haben, die sich aus der Natur des Menschen
erklären, weniger aus seiner Geschichte. Von der Wiederkehr der Schicksale ganzer
Völker wird in den Wanderjahren gesprochen, und zwar dort, wo über die Geschichte
des Volkes Israel gesprochen wird - dem beharrlichsten Volk der Erde, wie es heißt.
[1] Gleichwohl haben wir es mit spezifisch neuzeitlichen Vorgängen zu tun, die in der
europäischen Geschichte mit der Glaubensspaltung akut werden. Die Vertreibung
der Hugenotten aus Frankreich ist religionsgeschichtlich eines der herausragenden
Ereignisse, und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein liegen zumal den Auswanderungen
nach Amerika noch vielfach religiöse Motive zugrunde. [2] Aber früh schon gibt
wirtschaftliche Not den Ausschlag, und ehe die soziale Frage die Welt bewegt, wirft
die Geschichte der Auswanderungen, von der europäischen Kabinettspolitik oft nur
am Rande vermerkt, ihre Schatten voraus. Die Auswanderungen im Zusammenhang
der Französischen Revolution sind neuartig; sie sind vorwiegend politischen Charak-
ters - ehe in unserem Jahrhundert die schrecklichste aller politischen Emigrationen
traurige Geschichte macht. [3] Die ausgebreitete Exilforschung, die sich mit diesen
Geschehnissen befaßt, hat es nicht nur mit schöner Literatur zu tun, und die Wirkun-
gen, die es zu erforschen gilt, sind längst in ihrer weltweiten Bedeutung erkannt; und
so auch - als etwas Epochemachendes von weltweiter Bedeutung - hat Goethe in
seiner Zeit die Auswanderungen und Vertreibungen aufgefaßt, deren Zeuge er war.
Doch sind einige Vorbemerkungen zu diesem unserem Thema vorauszuschicken. In
der Sprache der Zeit kommen Wörtern wie »Ausland« oder »Emigration« noch Be-
deutungen zu, die sie heute nicht mehr haben; so wenn Goethe gelegentlich notiert:
»Schlosser wandert aus und begibt sich [... ] nach Ansbach« [4]; oder wenn seine
Mutter von ihrem Schwiegersohn spricht, »der nach Bayreuth emigriert«. [5] Doch
fehlen im Wortschatz Goethes und seiner Zeit die Bedeutungen keineswegs, die wir
mit Begriffen wie diesen verbinden; und natürlich ist hier über Auswanderungen zu
sprechen - nicht über die zahlreichen Wanderungen, die wir aus Goethes Dichtung
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 67
kennen, von den frühen Gedichten bis zum späten Faust. Verwandte Motive - die
Verbannung und Vertreibung einzelner - gilt es im Auge zu behalten. Die Iphigenie
des gleichnamigen Schauspiels wie die Eugenie der Natürlichen Tochter, Mignon wie
der Harfner sind Personen in Goethes dichterischer Welt, die es in ein fremdes Land
verschlagen hat. [6] Auswanderungen sind dennoch ein Kapitel für sich - ein vorwie-
gend politisches Kapitel, mit dem man sich vorab auf die Französische Revolution
verwiesen sieht.
Aus Goethes Verständnis dieser Revolution ist die Halsbandgeschichte nicht wegzu-
denken. Er hat sie als ein Symptom aufgefaßt, mit dem sich das Ereignis des Jahres
1789 unüberhörbar ankündigte, und er hat keine Zweifel gelassen, wo die Verant-
wortlichen dieser Affäre zu suchen waren; denn was dabei zur Sprache gekommen sei,
habe nur das greuliche Verderben deutlich gemacht, »worin der Hof und die Vorneh-
meren befangen lagen«, heißt es im Text der Kampagne in Frankreich. [7] Eine zweite
Erfahrung kommt hinzu. Es ist diese, daß Revolutionen, wie üblich, kriegerische
Ereignisse, Tumulte und Gewalttätigkeiten mit sich bringen. Damit war über Flücht-
lingsschicksale zu sprechen, über Not und grenzenloses Elend der von solchen Ereig-
nissen heimgesuchten Menschen. Die in dieser Zeit geschriebenen Briefe Goethes
sind eindrucksvolle Zeugnisse des Betroffenseins von dem, was aus nächster Nähe
erlebt wurde. An Voigt vom 10. Oktober 1792: »Von den Hindernissen die durch
Wittrung und Wege entstanden sind hat niemand einen Begriff als wer mit gelitten
hat. Wir haben in diesen sechs Wochen mehr Mühseligkeit, Not, Sorge, Elend,
Gefahr ausgestanden und gesehen als in unserm ganzen Leben«. [8] Dieser Feldzug
werde »als eine der unglücklichsten Unternehmungen in den Jahrbüchern der Welt
eine traurige Gestalt machen«, heißt es fünf Tage später, abermals im Brief an Voigt
[9]; und an Christiane an demselben Tag: »das Elend das wir ausgestanden haben läßt
sich nicht beschreiben. Die Armee ist noch zurück, die Wege sind so ruinirt, das
Wetter ist so entsetzlich daß ich nicht weiß wie Menschen und Wagen aus Franckreich
kommen wollen«. [10] Aber nur um Klagen über die Unannehmlichkeiten und Wi-
derwärtigkeiten der eigenen Situation geht es keineswegs. Es geht um Kriege über-
haupt, und die 1822 veröffentlichte Schrift, die Kampagne in Frankreich, ist ein
einziges und einzigartiges Plädoyer gegen sie, gegen Kriege in jeder Gestalt; hier wird
auch nicht von oben her beschrieben: aus der Perspektive der Heerführer und Feld-
herren. Bestimmend für Goethes Sehweise ist der Blick von unten, die sehr menschli-
che Teilnahme für die in erster Linie Betroffenen, wenn es in den Tag- und Jahreshef-
ten heißt: »Denn persönlicher Zeuge höchst bedeutender und die Welt bedrohender
Umwendungen gewesen zu sein, das größte Unglück was Bürgern, Bauern und Solda-
ten begegnen kann mit Augen gesehen, ja solche Zustände geteilt zu haben, gab die
traurigste Stimmung«. [11] Der Text der Kampagne in Frankreich bestätigt diese
Sehweise fast Seite für Seite. Doch bleibt zweifellos zu klären, in welcher Weise diese
Schrift authentische Erfahrungen mitteilt.
Die Kampagne in Frankreich ist ein literarisches Werk, ohne Frage ein Werk der
späteren Zeit; sie ist Teil des Alterswerkes und eine Fortsetzung von Dichtung und
Wahrheit in mehrfacher Hinsicht. [12] Seine Literarität ist unverkennbar. Wie andere
autobiographische Schriften ist der Text komponiert. Faktisches wird in künstlerische
68 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Darbietungsformen überführt und damit verändert. Auch ist nicht zu leugnen, daß die
Briefe aus dieser Zeit das Betroffensein um vieles unmittelbarer zum Ausdruck brin-
gen, als es in der späteren Niederschrift geschieht. Sie hat es nach Goethes eigener
Aussage mit dem) Widerwärtigsten< zu tun, von dem dennoch gesagt wird, daß es
»durch milde Behandlung wenigstens erträglich werden kann« [13]; und milde Be-
handlung des Widerwärtigen ist zweifellos ein Stilmerkmal dieser Schrift. [14] Gleich-
wohl sind in dem später entstandenen Werk die authentischen Erfahrungen des Jah-
res 1792 deutlich zu erkennen. Sie sind in Verbindung mit den gleichzeitigen Briefen
und dichterischen Zeugnissen rekonstruierbar. Eine dieser Erfahrungen betrifft den
Verzicht auf Parteinahme im Streit der Meinungen. Aber die zentrale Erfahrung die-
ser Zeit findet in der wiederholten Verwendung der Auswanderungsmotive ihren
Niederschlag; und auch dabei wird Kritik nach beiden Seiten hin geübt: gegenüber
den Revolutionären wie gegenüber den Emigrierten, die beide auf sehr unterschiedli-
che Weise die eigentlich »Schuldigen« solcher Vorgänge sind.
Vorbehalte gegenüber den Emigrierten werden wiederholt zur Sprache gebracht-
in den Briefen aus der Zeit des Feldzugs ebenso wie im Text der Kampagne in
Frankreich. Es spricht nicht für die Sympathie mit den Emigrierten, wenn Goethe im
Brief an Voigt ihr Kommen mit dem Satz ankündigt: »Die Armee ist noch zurück, sie
wird sich aus Frankreich ziehen, die Emigirierten sind meist schon heraus und werden
Deutschland wieder überschwemmen«. [15] Zu Anfang des Jahres 1796 haben sie
zumal das Weimarische Land tatsächlich überschwemmt, nachdem sie der Kurfürst
aus Erfurt allesamt verbannt hatte. Davon handelt Schiller in einem Brief an Huber
(vom 10. Februar); er teilt mit, daß in Weimar über den Zulauf der Franzosen sehr
viel Unzufriedenheit herrsche und fährt fort: »Auch Göthen sage ich nichts davon, da
er gar kein Freund der Emigrierten ist, die in Weimar alle über ihn klagen. Zwar thut
er keinem was zu leide, aber er nimmt sich auch keines an, und würde ihre Anzahl eher
zu vermindern als zu vermehren wünschen.« [16] Im Text der Kampagne in Frankreich
werden die Vorgänge moderiert und ausgewogen geschildert. Aber Kritik ist auch
hier unüberhörbar. Schon mit den ersten Sätzen sind Partei und Gegenpartei deutlich
bezeichnet: »Gleich nach meiner Ankunft in Mainz besuchte ich Herrn von Stein den
älteren, Königlich Preußischen Kammerherrn und Oberforstmeister, der eine Art
ResidentensteIle daselbst versah und sich im Haß gegen alles Revolutionäre gewalt-
sam auszeichnete.« [17] Aber die nächsten Abende werden munter mit den republika-
nischen Freunden verbracht, mit Sömmering, Huber, Forster und anderen. Man
befindet sich auf dem Boden der Wissenschaft und der Einsicht, und mit verhaltener
Ironie, der ein Schuß Selbstironie beigemischt ist, heißt es abschließend: »Von politi-
schen Dingen war die Rede nicht, man fühlte, daß man sich wechselseitig zu schonen
habe: denn wenn sie republikanische Gesinnungen nicht ganz verleugneten, so eilte
ich offenbar mit einer Armee zu ziehen, die eben diesen Gesinnungen und ihrer
Wirkung ein entscheidendes Ende machen sollte«. [18] Damit ist gewiß kein Einver-
ständnis mit dem Republikanismus der Freunde ausgesprochen, aber noch weniger
kann von Zustimmung zum Royalismus der Emigrierten die Rede sein. Ungeachtet
ihrer Flüchtlingsschicksale bleiben sie von Kritik nicht verschont, weil gesagt werden
soll, daß sie nicht gänzlich schuldlos an ihren Schicksalen sind. Das nicht ganz Ein-
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 69

wandfreie, das leicht Anstößige ihrer Lebensführung wird in unauffälligen Nebensät-


zen angedeutet. Als munter und reizend wird die Fürstin von Monaco vorgestellt -
»entschiedene Freundin des Prinzen von Conde, die Zierde von Chantilly in guten
Tagen«. [19] Der Vergleich mit der Philine des Wilhelm Meister spricht für sich selbst.
Bisweilen wird eigene Distanz hinter der Meinung anderer zu verbergen gesucht, wenn
wir erfahren, wie ein Postillion über das Verhalten der Emigrierten urteilt: »Ihr
Betragen sei höchst anmaßend, die Bezahlung knauserig; denn mitten in ihrem Elend,
da sie nicht wüßten wo sie sich hinwenden sollten, betrügen sie sich noch immer, als
hätten sie von einem eroberten Lande Besitz genommen.« [20] Es fehlt in solcher
Kritik nicht an anekdotischen Pointen, in denen der Ernst des Erzählstils in eine
humoristische Tonart übergeht. Von einem schwerbeladenen Emigrantenwagen ist
die Rede, der von nachfolgenden Revolutionstruppen untersucht wird. Man erhofft
sich gute Beute, aber es ist lediglich eine Unzahl von Spielkarten, die dabei heraus-
fällt. [21] Daß es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem früheren Leben
der Emigrierten und ihrer jetzigen Flucht geben könnte, hat der Leser zu vermuten
guten Grund. Am Beispiel des Marquis von Bombelles, den Goethe zwei Jahre zuvor
als französischen Gesandten in Venedig kennengelernt hatte, wird es deutlich. Mit
wenigen Worten erinnert ihn Goethe an Glanz und Pracht des ancien regime. Aber
der Marquis - einer der wenigen, der zu Einsicht gelangt ist - wehrt ab: »Schweigen
wir von diesen Dingen, jene Zeit liegt nur gar zu weit hinter mir, und schon damals als
ich meine edlen Gäste mit scheinbarer Heiterkeit unterhielt, nagte mir der Wurm am
Herzen, ich sah die Folgen voraus dessen was in meinem Vaterlande vorging«. [22]
So gilt es gegenüber den Royalisten auf Abstand zu sehen, aber gegenüber den
Republikanern nicht minder, wie es sich für einen Begleiter in Diensten des Herzogs
gehört. Dennoch wird wiederholt beschrieben, wie vorbildlich sich die Beteiligten auf
der Gegenseite verhalten. Bei Eroberung der Stadt Verdun wird ein republikanischer
Charakterzug wahrgenommen, wie im Text der Kampagne gesagt wird. Dem Kom-
mandanten war nichts anderes übrig geblieben, als die Stadt zu übergeben. Aber
nachdem er sie übergeben hatte, zieht er eine Pistole hervor und erschießt sich - »um
abermals ein Beispiel höchster patriotischer Aufopferung darzustellen.« [23] Von
einem französischen Grenadier wird Ähnliches berichtet. Er hat einen Flintenschuß in
die Menge gefeuert, ohne jemand verletzt zu haben, und wird deshalb zur Wache
gebracht. Bis sein Schicksal entschieden war, überließ man ihn sich selbst; danach der
Wortlaut des Berichts: »er setzte sich aufs Mäuerchen, blieb eine Zeitlang ruhig, dann
überschlug er sich rückwärts in die Tiefe und ward nur tot aus dem Wasser herausge-
bracht.« [24] Damit ist ein Motiv benannt, das sich mit der Erfahrung der Emigration
aufs engste verknüpft: dasjenige des Sichopferns. Mit Auswanderungen als Folge
solcher Ereignise hat das unmittelbar wohl nichts zu tun, aber mittelbar sehr viel. Das
Schicksal der Flüchtigen wird Anlaß, über seine Ursachen nachzudenken. Die Ausge-
wanderten - und das ist in erster Linie der hohe Adel - werden mit den republika-
nisch Gesinnten verglichen, die sich für ihre Sache einsetzen - wenn es sein muß, um
den Preis des eigenen Lebens. Der Vergleich fällt zumeist, wie sich versteht, zugun-
sten der letzteren aus. Das darf nicht mißverstanden werden. Goethe ist weit entfernt,
bedenkenlos zum Tod fürs Vaterland aufzufordern, wie es die Regierenden in aller
70 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Welt von Zeit zu Zeit tun. Aber der führenden Klasse eines Volkes, die Herrschaft
beansprucht, werden Beispiele patriotischer Aufopferung vorgehalten. Aufopferung
und republikanischer Patriotismus sind in solchen Beispielen aufeinander bezogen: sie
sind Ausdruck desselben Denkens. Hölderlins Gedicht Der Tod fürs Vaterland ist aus
solchen Gesinnungen heraus zu interpretieren.
Daß aber Goethe als Autor der Kampagne in Frankreich weder mit den Emigrier-
ten noch mit den republikanischen Patrioten eines Sinnes ist, ergibt sich aus den
Maximen seines Denkens: daß es nämlich dem Dichter zukomme, über den Parteien
zu stehen. Eine solche Auffassung ist gewiß kritisierbar, wie dezidierte Parteinahme
kritisierbar ist. Es kommt vermutlich auf die Umstände und auf die Begründungen
an, mit denen das eine oder das andere gerechtfertigt wird. Die Situation, der sich
Goethe gegenübersah, macht den Verzicht auf Parteinahme wenigstens verständlich.
Sie hatten sich beide, die Vertreter des ancien regime wie die Anwälte der Revolu-
tion, in seiner Sicht diskreditiert. So wird denn im Text der Kampagne in Frankreich
stets abwertend von Parteigängerei gesprochen: von der Parteigängerrolle, die je-
mand übernimmt, oder von der Parteiwut, die sich entlädt, wenn Könige - wie Karl I.
von England - hingerichtet werden; und Parteinahme wird in solchen Auffassungen
zugleich als das Leichtere angesehen gegenüber dem, was dem Dichter gebührt. Da-
von handelt einer der letzten Abschnitte unserer Schrift: »Übrigens läßt sich hiebei
bemerken, daß in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am
besten dran sind, welche Partei nehmen; was ihnen wahrhaft günstig ist, ergreifen sie
mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen's ab, oder legen's wohl gar zu
ihrem Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteüsch sein und
bleiben muß, sucht sich von den Zuständen beider kämpfender Teile zu durchdrin-
gen«. [25] Solche Gedanken wurden zwischen 1820 und 1822 niedergeschrieben. Aber
gedacht wurden sie bereits zu der Zeit, auf die sie sich beziehen. Das ist an den
dichterischen Texten zu zeigen, die auf ihre Art die Motive der Emigration aufneh-
men. Es ist sicher kein Zufall, daß die Umsetzung solcher Erfahrungen in die Gestalt
der Dichtung nicht sofort gelingt. Die ersten literarischen Zeugnisse, die von Aus-
wanderungen handeln, bleiben bezeichnenderweise Fragment. Es sind dies das Prosa-
stück Reise der Söhne Megaprazons und das als Trauerspiel konzipierte Dramenfrag-
ment Das Mädchen von Oberkirch.
Das Romanfragment Reise der Söhne Megaprazons scheint in einer zeitlosen Welt
glückseliger Inseln angesiedelt zu sein, die man zu erreichen sucht. Dennoch ist der
Zeitbezug unverkennbar. Das Zeitfieber ist der Grund des Streites, der die Gemein-
schaft der sieben Brüder auf dem Schiff unversehens entzweit [26]: »Jeder ließ sich
von seinem Eifer hinreißen, so daß in kurzer Zeit die Menschen, die wir bisher so
einträchtig kannten, sich in zwei Parteien spalteten, die aufs heftigste gegen einander
zu Felde zogen.« [27] Das ist die Situation, die man aus den Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten kennt; und daß Goethes Romanfragment in den Umkreis seiner
Revolutionsdichtungen gehört, bestätigt ein Passus der Kampagne in Frankreich: »Ich
hatte seit der Revolution, mich von dem wilden Wesen einigermaßen zu zerstreuen,
ein wunderbares Werk begonnen, eine Reise von sieben Brüdern verschiedener Art«.
[28] Vermutlich hat man sich die Insel der Papimanen irgendwo in einer Südsee zu
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 71

denken, und daß man sich in Folge der Revolution ein Inselidyll fern von Europa
erträumt, ist auch sonst in der zeitgenössischen Literatur, bei Tieck, Kotzebue oder bei
Sophie La Roche, bezeugt. [29] Doch hat Goethes Fragment mit Europamüdigkeit
wenig zu tun. Der Aufbruch der sieben Brüder in feme Länder hat andere Gründe.
Der eigene Vater, der seinen Söhnen ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hat,
hat ihn verfügt und in einem Brief erläutert; und er hat zur Bedingung gemacht, daß
die Reise ohne Geld angetreten wird: »Es steht Geld genug in meinen Gewölben, da
mag es stehen bis ihr zurückkommt und der Welt gezeigt habt, daß ihr der Reichthü-
mer werth seid die ich euch hinterlasse.« [30] Auf Bewährung in der Welt also kommt
es an, und es wird sich zeigen, daß Goethe in den abgeschlossenen Werken dieser
Jahre die durch die Revolution verursachten Auswanderungen wiederholt so ver-
steht: als eine Art Prüfung, die zur Bildung des Menschen beitragen kann. Auch im
Dramenfragment Das Mädchen von Oberkirch - das Stück spielt vor Straßburg - ist
das teilweise der Fall. Die Kinder der Gräfin, einer entschiedenen Anwältin des
ancien regime, haben das Land verlassen und suchen sich nun am neuen Ort zu
behaupten. Der Baron, ein Neffe der Gräfin, ist voll des Lobes für sie: »Sie werden
sich freuen [... ] wie diese gute Seelen so fest, so wacker sich in dem traurigen
Zustande befinden [... ] Sie sparen das Geld, das wir ihnen zuschicken, und arbeiten.«
[31] Das Motiv der Bewährung im Zusammenhang erfolgter Auswanderungen gibt es
auch hier. Aber wie daraus in Verbindung mit anderen Motiven - der unstandesge-
mäßen Heirat, die der Baron anstrebt - ein Ganzes hätte entstehen können, ist den
wenigen Szenen nicht zu entnehmen, die uns überliefert sind.
In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten werden die während des Feldzugs
gemachten Erfahrungen einem zusammenhängenden Erzählzyklus eingefügt. Die Aus-
gewanderten sind Deutsche, die ihre linksrheinischen Besitzungen verloren haben und
rechts des Rheines Zuflucht suchen; und Besitztümer haben sie auch hier. Die auf der
Flucht Befindlichen gehören dem Adel an oder - wie der Geheimrat - dem gebildeten
Bürgertum. Aber Not und Elend der also Vertriebenen halten sich in Grenzen. Es
geht ihnen trotz einiger Aufregungen nicht schlecht. Man richtet sich rasch in der
neuen Umgebung ein und findet bald auch Zeit zum Erzählen unterhaltsamer Ge-
schichten. Ehe es dazu kommt, entwickelt sich unter den Ausgewanderten ein politi-
scher Diskurs, der die Mitglieder der Gesellschaft rasch entzweit. Der Geheimrat, ein
entschiedener Anhänger des ancien regime, und der jugendliche Vetter der Baronin,
der für die Revolution leidenschaftlich Partei ergreift, geraten aneinander. Man
wünscht sich gegenseitig nichts Gutes, und zweifellos ist es der Jüngere, der mit seiner
Scheltrede den Bogen der politischen Auseinandersetzungen einigermaßen über-
spannt, wenn er hofft, »daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Ernte
finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde.« [32] Solche Gesinnungen sind
dem Geheimrat suspekt. Er sieht sich zum Aufbruch genötigt und bedauert, ein
zweitesmal vertrieben zu werden. Das hört sich an, als gebühre ihm vor allem die
menschliche Teilnahme. Aber wie wir seinen Aufbruch verstehen sollen, ist dem Text
eindeutig nicht zu entnehmen, und keineswegs ist als erwiesen anzusehen, daß der
Erzähler und der Geheimrat in allem eines Sinnes sind. Immerhin wird der letztere
innerhalb der Rahmenhandlung zum sozusagen blinden Motiv. Schiller war damit
72 Das Zeitalter der Französischen Revolution

nicht ganz einverstanden. Er gab Goethe zu bedenken, ob es nicht geraten sei, »daß
Sie ihn [den Geheimrat] doch durch den hitzigen Karl, wenn er sein Unrecht eingese-
hen, möchten zurückholen und in unserer Gesellschaft bleiben lassen.« [33] Aber
Goethe ließ sich nicht beirren. Vom Geheimrat ist in der Rahmenhandlung hinfort
nicht mehr die Rede, während sein Kontrahent, der ungezügelte Vetter, nicht nur in
der Gesellschaft verbleibt, sondern sich obendrein am Erzählen beteiligt. Mit seiner
Person wird die Parteinahme, bei der es nicht bleiben soll, zum bestimmenden Motiv
des Erzählzyklus im ganzen. Sie wird zum Anlaß geselliger Bildung; denn eben darum
ist es Goethe als dem Autor der Unterhaltungen zu tun, daß im Erzählen und durch
Erzählkunst eine Ebene gewonnen wird, die aller Parteinahme und Parteiwut überle-
gen ist.
Aber zunächst ist dem in der Gesellschaft verbleibenden Vetter alles Unparteiische
zuwider. »Unparteiisch! rief Karl mit Heftigkeit aus; wenn ich doch dies Wort nicht
wieder sollte aussprechen hören!«, heißt es im Verlauf des Wortwechsels, der den
Geheimrat zum Aufbruch nötigt. [34] Aber ein Parteigänger - ein solcher des ancien
regime - scheint auch der Erzähler zu sein, der eingangs das Wort ergreift, indem er
die Situation beschreibt: »In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für
Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Fran-
ken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle
Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den
Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren,
denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren
erinnerten«. [35] Die Parteinahme ist kaum zu überhören. Es ist diejenige eines
offensichtlich deutsch denkenden Erzählers, der es mit vornehmlich deutschen Lesern
zu tun hat, wenn er warmherzig von »unserem Vaterland« und distanziert vom Heer
der Franken spricht. Mehr noch ist über die Revolution schon der Stab gebrochen,
ehe über sie gehandelt wird. Von unglücklichen Tagen ist die Rede und von den
traurigsten Folgen für die ganze Weit. Die Familie, die sich auf der Flucht befindet, ist
eine edle Familie, und daß sie sich ihrer Väter mit Freuden erinnert, wie gesagt wird,
zeigt an, in welchem Maße sich dieser Erzähler der Tradition verpflichtet weiß. Schil-
ler hätte allen Grund gehabt, hinsichtlich dieses Eingangs besorgt zu sein; und dem
Programm der Horen, in dem die Unterhaltungen 1795 veröffentlicht wurden, schien
die hochpolitische Rahmenhandlung ohnehin zu widersprechen. [36] Dennoch bleibt
zu fragen, ob das, was zu Eingang der Unterhaltungen gesagt wird, dem »Geist der
Erzählung« entspricht, um eine Wendung Thomas Manns zu gebrauchen; denn es sieht
ganz so aus, als seien der Erzähler der Rahmenhandlung und der Erzähler des Ganzen
nicht ein und dieselbe Person. Das·ist deshalb anzunehmen, weil es im Fortgang der
Erzählung bei derart einseitigen Stellungnahmen nicht bleibt. Der Erzähler der Rah-
menhandlung ist wie andere Figuren eine Person, die sich im Erzählen bildet, sofern
er nicht zurücktritt und das Feld anderen Erzählern überläßt. Ein solcher ist auch der
Vetter der Baronin, der eines Abends im Kreise dieser Gesellschaft die Geschichte
des Marschalls von Bassompiere erzählt. Er erzählt sie in der Ichform, indem er sich
mit der erzählten Figur identifiziert: »Der Marschall von Bassompiere, sagte er, erzählt
sie in seinen Memoiren; es sei mir erlaubt, in seinem Namen zu reden.« So wird denn
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 73

diese Geschichte eingeleitet mit dem Satz: »Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich
bemerkt [... ] daß eine schöne Krämerin [... ] sich tief und wiederholt vor mir neigte
und mir so weit nachsah, als sie nur konnte.« [37] Mit diesem Ich hat es erzählerisch
eine interessante Bewandtnis. Es ist das Ich des Marschalls von Bassompiere, mit der
Stimme des Vetters Karl, dem der Erzähler der Rahmenhandlung das Wort erteilt,
der wiederum vom Erzähler des Zyklus zu sprechen ermächtigt wird; und der Erzähler
des Zyklus ist eine dem Autor des Textes nahestehende Persönlichkeit. Wir erhalten
auf solche Weise Einblick in eine Skala von Erzählweisen, die von einfacher Identifi-
kation bis zur kunstvollen Distanzierung reicht. Die Parteinahme wird in gesellige
Bildung überführt und im Prozeß des Erzählens »aufgehoben«. Sie wird in Erzählkul-
tur verwandelt. [38] Daher sind die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten alles
andere als ein Mittel, die Not und das Ungemach zu verdrängen; sie sind keine
Fluchtliteratur, sondern machen im Gegenteil die Ursachen solchen Elends bewußt.
Wenn es dabei auch um Bildung geht, so vornehmlich um eine solche, die sich in
ungewöhnlichen Situationen bewährt.
Auswanderung wird in den Werken der frühen neunziger Jahre zumeist mit einem
individuellen Bildungssinn verbunden; wie sich der einzelne bildet, indem er mit
ungewöhnlichen Verhältnissen fertig wird, soll gezeigt werden. Dazu gehört, daß sich
der Mensch beherrschen lernt, daß er Herrschaft über sich selbst gewinnt. Da es sich
um Angehörige der führenden Adelsschicht oder des gebildeten Bürgertums handelt,
die sich einander Geschichten erzählen, beziehen sich solche Forderungen in erster
Linie auf sie. >>Vor der Revolution war alles Bestreben; nachher verwandelte sich
alles in Forderung«, lesen wir in den Maximen und Reflexionen. [39] Es ist bezeich-
nend für die Stellung der Baronin im Zyklus der Unterhaltungen, daß sie solche
Forderungen mit dem Auswandern in Verbindung bringt. Wir sehen meist nur, wie
die Ausgewanderten ihre Fehler und Albernheiten mit sich herumführen, stellt sie
fest und fährt fort: »Wie selten, daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen
erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben
wird.« [40] Damit ist ein Motiv benannt, das aus Goethes Gedankenwelt hinfort nicht
wegzudenken ist: dasjenige der Aufopferung, des Sichopferns, von dem schon im
Zusammenhang der Kampagne in Frankreich die Rede war. Es verweist auf eine der
zentralen Erfahrungen dieses Feldzugs und gehört für Goethe bis zu den Wanderjahren
hin zum festen Bestand seines Erzählens. Von Ferdinand in den Unterhaltungen wird
gesagt, daß er vom Vater den Trieb zu genießen, dagegen von der Mutter »eine
Anlage zur Kraft sich für andere aufzuopfern« erhalten habe. [41] Auch von der
Schlange im Märchen wird solches gesagt: »Was hast du beschlossen?« wird sie ge-
fragt; und ihre Antwort lautet: »Mich aufzuopfern, ehe ich aufgeopfert werde«. [42]
Ganz im Sinne der Wanderer belehrt Wilhelm seinen Sohn Felix: »Des Schönen sind
die Menschen selten fähig, öfter des Guten; und wie hoch müssen wir daher diejeni-
gen halten, die dieses mit großen Aufopferungen zu befördern suchen.« [43] Aufopfe-
rung hat etwas mit Entsagung zu tun; es ist kaum zu übersehen, daß dieses Thema
schon in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten voll entfaltet erscheint. So
vor allem in der Entsagungskur , die der jungen Ehefrau in der Prokuratornovelle von
ihrem Geliebten verordnet wird - wie wir hören: mit Erfolg. So bekennt sie denn am
74 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Ende, was alles sie ihm verdankt: »Sie sind vernünftig und gut; Sie haben mich fühlen
lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten
kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsere heiße-
sten Wünsche von uns zu entfernen.« Sie fährt fort: »Sie haben mich in diese Schule
durch Irrtum und Hoffnung geführt; aber beide sind nicht mehr nötig, wenn wir uns
erst mit dem guten und mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig
in uns wohnt [... ] bis es die Herrschaft im Hause gewinnt.« [44] Solche Erzählungen
haben mit den kriegerischen Ereignissen, wie es scheint, nicht mehr viel zu tun. Die
Deutung liegt nahe, daß man sie zu vergessen sucht, daß man das eigene Schicksal der
Auswanderung durch Unterhaltungen verdrängt. Aber damit würde der kunstvolle
Zusammenhang zwischen Binnenerzählung und Rahmenhandlung durchaus verkannt;
denn die Teile sind in diesem Zyklus aufs genaueste dem Ganzen zugeordnet. Die
Gesellschaft der Prokuratornovelle ist eine dem Rokoko vergleichbare Gesellschaft.
Wohlstand und Reichtum sind die zentralen Motive der Ehegeschichte, um die es sich
handelt. In der Art, wie der auf Reisen gehende Handelsmann über die Liebhaber
seiner Frau spricht, falls sie es nicht mehr aushalte, allein zu sein, gewahrt man das
leicht Frivole einer solchen Kultur. Umkehr ist angezeigt, und mit der vom Liebhaber
der Ehefrau eingeübten Entsagung bahnt sie sich an. Die Umkehr ist eine solche des
Denkens. Sie hat vorbeugenden Charakter, wenn verhindert werden soll, was hier-
in der Rahmenhandlung - geschehen ist. Auch im abschließenden Märchen ist Um-
kehr, in der Idee der Aufopferung das bestimmende Motiv. Sein Zielpunkt ist eine
Wende, die man als Lebenswende oder Zeitwende interpretiert. [45] Es wird erzäh-
lend aufgezeigt, daß nicht alles so bleiben kann, wie es ist. [46]
Mit dem Epos Hermann und Dorothea kehrt Goethe noch einmal zum Thema der
Auswanderung mit der Französischen Revolution als ihrer Ursache zurück. Die Quel-
le, der die Fabel verdankt wird, ist Göckings Geschichte der vertriebenen Protestan-
ten aus dem Erzbistum Salzburg, zuerst 1732 in Leipzig erschienen. [47] Sie handelt
höchst anschaulich von der ein Jahr zuvor erfolgten Ausweisung Salzburger Protestan-
ten und von ihrer Vorgeschichte. Die Erzählung von dem Mädchen, das von einem
einheimischen Bürgersohn zuerst als Magd angeworben wird, ehe er um ihre Hand
anhält, hat Goethe mit geringfügigen Abweichungen übernommen. Aber die religiö-
sen Motive wurden eliminiert. Die Handlung wird in das deutsch-französische Grenz-
gebiet verlegt, und aus den gut ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Geschehnis-
sen ist eine Gegenwartserzählung entstanden. Das Epos ist an den Mustern der Anti-
ke gebildet - und ist eine Revolutionsdichtung gleichwohl, wie kaum zweifelhaft sein
kann. Der Gegensatz von antiker Form und zeitgenössischem Gehalt erzeugt die einzi-
gartige Spannung, die sich jedem der neun Gesänge mitteilt - bis sie schließlich zum
Ausgleich gelangt. Die Begegnung des seßhaften Landmanns mit Vertriebenen ist ein
uns aus der Dichtung Vergils vertrautes Motiv. [48] Seine Wiederkehr in einem
modemen Gedicht macht es zu einem überzeitlichen Phänomen, als das man es verste-
hen könnte, wenn es im ersten Gesang heißt: »So sind die Menschen fürwahr! und
einer ist doch wie der andre«. Das Los des Vertriebenseins wird am biblischen Ge-
schehen erläutert, wenn der Richter als einer der ältesten Führer erscheint:
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 75

»Die durch Wüsten und Irren vertriebene Völker geleitet.


Denk ich doch eben, ich rede mit Josua oder mit Moses«. [49]
Zeitgeschichte wird durch biblische Geschichte ins Symbolische überhöht.
Das der Idylle sich nähernde Gedicht spart die Szenen menschlichen Elends im Gefol-
ge von Vertreibungen nicht aus. Dem klassischen Vers werden Bilder von fast natura-
listischer Kraßheit zugemutet. Mit unbesonnener Sorgfalt, wie gezeigt wird, hat man
die Reste seiner Habe zusammengerafft. Viele unnütze Dinge tragen die Ausgewan-
derten mit sich herum: Bretter und Fässer, Käfige und Gänseställe. Frauen wie
Kinder sind mit Bündeln bepackt; sie keuchen unter den Lasten, die sie sich aufge-
bürdet haben:
»Und so zog auf dem staubigen Weg der drängende Zug fort,
Ordnungslos und verwirrt. Mit schwächeren Tieren, der eine
Wünschte langsam zu fahren, ein andrer emsig zu eilen.
Da entstand ein Geschrei der gequetschten Weiber und Kinder,
Und ein Blöken des Viehes, dazwischen der Hunde Gebelfer,
Und ein Wehlaut der Alten und Kranken, die hoch auf dem schweren
Übergepackten Wagen auf Betten saßen und schwankten«. [50]
Die zeitnah anmutenden Schilderungen von Flüchtlingsnot in einem hochklassi-
schen Epos sind in solcher Form ohne Vergleich. Kritik am Ereignis der Revolution
ist nicht zu überhören, sofern es der Mensch ist, der dem Menschen Not und Elend
zugefügt hat, wie hier geschehen. Damit sind Stellungnahmen gegen den Krieg ver-
bunden, die an modemen Pazifismus zu grenzen scheinen. Nichts gilt hier Heraklit;
nichts der Krieg als der Vater aller Dinge. »Allverderblich« wird er genannt, das
»wilde Geschick« [51], das die Welt zerstört. Revolutionen wie diejenige in Frank-
reich sind aus der Optik des Gedichts deshalb so verachtenswert, weil sie Krieg und
Flüchtlingselend mit sich bringen und also das, was im zweiten Teil des Faust »Tumult,
Gewalt und Unsinn« heißt. Solche Stellungnahmen gegen den Krieg dürfen uns aber
nicht darüber hinwegsehen lassen, daß über die der Revolution zugrundeliegenden
Ideen nicht in gleicher Weise gesprochen wird. Daß Goethe in seinem Epos die
Französische Revolution als die Unform zeigt, »von der sich unser Auge schaudernd
abkehrt, um Trost zu finden an der wohlumrissenen kunstgerechten Gestalt«, wie
gesagt worden ist, trifft nur mit Einschränkungen zu. [52] Immerhin war Dorothea,
die vor anderen Personen ausgezeichnete Gestalt unseres Gedichts, mit einem Men-
schen verlobt, der den Ideen der Revolution offensichtlich gewogen war, aber tragi-
scherweise in ihren Wirren den Tod fand. Im sechsten Gesang mit der Überschrift
»Das Zeitalter« erhält der fremde Richter aus der Schar der Ausgewanderten das
Wort zu einer Rede, in der noch einmal die Hoffnungen verherrlicht werden, die viele
auf die Revolution gesetzt hatten - auf die Zeit,
»Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei,
Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit!« [53]
Im elegischen Rückblick ist es ein enthusiastischer Ton, den wir vernehmen - bis
mit dem Bericht des Richters der Umschlag erfolgt: der Krieg, der bald danach
begann und ein »verderbtes Geschlecht« erkennen ließ - »unwürdig, das Gute zu
schaffen«,
76 Das Zeitalter der Französischen Revolution

»Sie ermordeten sich und unterdrückten die neuen


Nachbarn und Brüder ... " [54]
Dennoch wird nicht einfach jenen das Wort geredet, die nur darauf gerichtet sind,
zu bewahren und zu erhalten. Die Verbindung Hermanns mit Dorothea ist eine Ver-
bindung des Alten mit dem Neuen; und Erneuerung - aber in geordneten Bahnen-
ist die zentrale Idee des Epos, das nur zum Teil eine Idylle genannt werden kann; nur
insofern nämlich, als der Ausgleich der Gegensätze von Zeit zu Zeit gelingt.
Hier zum erstenmal wird Revolutionsgeschehen in Verbindung mit Auswanderun-
gen ausschließlich im Kreis des Bürgertums erfaßt. Von Fürsten und Königen ist nicht
die Rede. Im Grunde trägt das Epos dem durch die Revolution bewirkten Aufstieg
des Bürgertums bereits Rechnung. In der Gestalt des Löwenwirts hat dieser Aufstieg
schon bedenkliche Formen angenommen, obgleich er sich nach einigem Widerstre-
ben in die Ehe mit dem besitzlosen Mädchen fügt. Aber in manchen Zügen nimmt
Goethe mit dieser Figur des Vaters die sich ankündigende Symbiose von Besitz und
Bildung vorweg. Bildungskritik mitten in diesem Zeitalter der Bildungsidee - das ist
eine erstaunliche Feststellung. Denn um Kritik an der Bildung handelt es sich in der
Tat, wenn Hermanns Vater diese in erster Linie als eine Frage des sozialen Aufstiegs
betrachtet und in einer inzwischen schon konventionellen Art auf Bildungsreisen
seines Sohnes dringt. Aber der Sohn ist dieser Bildungsbeflissene keineswegs, wie ihn
der Vater sich wünschte. WeItläufigkeit von der Art Lotharios oder Lenardos liegt
ihm fern. Hermann ist schüchtern, ängstlich und gehemmt; und ein wenig ungebildet
ist er obendrein. Nicht einmal die Personen der Zauberf/öte sind ihm geläufige Na-
men, wie die einheimischen Mädchen mit Spott vermerken. Auch deshalb ist er nicht
gut auf sie zu sprechen. So ist seine Wahl des fremden Mädchens auf vielfache Weise
motiviert, und es ist doch wohl in erster Linie seiner Herzensbildung zuzuschreiben,
wenn es überhaupt zu dieser Wahl kommt. Bildung erhält damit von der Zeitlage her
gesehen eine höchst aktuelle Bedeutung. Sie bedeutet auch - und gewiß nicht zuletzt-,
daß Menschen fähig sind, die Not anderer wahrzunehmeJ;l und entsprechend zu han-
deln. In diesem Sinn ist Hermann ein gebildeter Mensch, wie es Dorothea auf ihre
Weise ist.
Mit dem Aufweis solcher Motive ist der Schritt zum Bildungsroman des Wilhelm
Meister schon getan, der abgeschlossen vorlag, als das Epos Hermann und Dorothea
begonnen wurde. Mit diesem wie mit den vorausliegenden Texten, die Auswanderun-
gen im Kontext der Französischen Revolution behandeln, hat unser Roman so gut wie
nichts zu tun. Die Auswanderung, von der in den letzten Büchern beiläufig die Rede
ist, bezieht sich auf einen anderen Sachverhalt. Hier geht es um keine unfreiwillige
Vertreibung, sondern um einen vorgefaßten Plan; nicht um Frankreich und die Fran-
zösische Revolution, sondern um Amerika und damit um die 1776 erstrittene Unab-
hängigkeit vom englischen Mutterland. Man scheint es mit zwei verschiedenen The-
menzu tun zu haben, mit zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen. Dennoch gibt es
Gemeinsamkeiten in der Struktur, denn in jedem Fall sind Auswanderungen mit
Stellungnahmen gegenüber dem Land verbunden, das man verläßt. Jede Auswande-
rung wirft soziale Fragen auf, falls sie ihr nicht schon zugrundeliegen. Schließlich sind
die in Frage stehenden Länder, die Goethe mit Auswanderungen in Verbindung
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 77

bringt, nicht beliebige Länder, sondern solche, in denen um dieselbe Zeit Revolutio-
nen stattgefunden haben. Hier auch ist der Ort, daran zu erinnern, daß in der Zeit der
Klassik nicht nur ein reges Interesse für die Ereignisse in Frankreich lebendig war,
sondern für diejenigen in Amerika nicht minder. Was wir als deutsche Klassik be-
zeichnen, wird einseitig mit den Ereignissen in Frankreich verknüpft, sofern es nicht
der klassische Boden Italiens ist, auf den man angestrengt blickt. Aber eine der
merkwürdigen Paradoxien in der geistigen Situation der Zeit beruht darin, daß man
sich in einer Epoche der Wiederbesinnung auf klassisches Altertum zugleich auf die
Neue Welt besinnt, auf ihre Verfassung, ihren Liberalismus und ihre Demokratie.
Kant wie Klopstock waren von Amerika und seiner erstrittenen Unabhängigkeit
fasziniert. Die mit der Zeit denkenden Schriftsteller ergriffen für die Rebellen Partei,
allen voran der mutige Schubart, der Gefangene auf dem Hohenasperg. [55] Über der
Anteilnahme an den Ereignissen des Jahres 1789 trat Amerika in den Hintergrund.
Aber spätestens mit der Enttäuschung am Gang der Revolution in Frankreich kehrte
das Interesse an der Neuen Welt und ihren politischen Verhältnissen zurück. Einer
der namhaften Amerikakenner seiner Zeit, Christoph Daniel Ebeling, veröffentlicht
seit 1793 seine siebenbändige Erdbeschreibung und Geschichte von Amerika und führt
in der Einleitung zum ersten Band aus: »Wird nicht dort das fürchterliche Rätsel, das
die Französische Revolution dem mit Nordamerika noch immer so unbekannten Eu-
ropa aufgegeben hat, nicht schon seit Jahren immer deutlicher und weit glücklicher
aufgelöst als hier?« [56] Er sah es als seine Aufgabe an, wie er in einem Brief an T.
Jefferson darlegte, »to promote human happiness in my country by a faithful picture
of your constitutions, laws, and Government.« [57] Um dieselbe Zeit, im Jahre 1795,
erschien der erste Band von E. A. W. Zimmermanns Werk Frankreich und die
Freistaaten von Nordamerika. Es ist der rührende Versuch, alles und jedes in Hinsicht
auf beide Länder zu vergleichen. Aber dem amerikanischen Kontinent wird das be-
vorzugte Interesse zugewandt, und »die Folgen der unglücklichen Revolution Frank-
reichs« werden nicht verschwiegen. [58] Goethe seinerseits hatte die Vorgänge wie
seine aufgeklärten Zeitgenossen mit Anteilnahme verfolgt; und ihrer weltweiten Be-
deutung war er sich wohl bewußt. [59] Die Gestalt Benjamin Franklins war ihm wie
Herder eine ehrwürdige Gestalt, und der Rückblick in Dichtung und Wahrheit spricht
hinsichtlich dieser Ereignisse für sich selbst: »Nun aber sollten sich in dem entfernte-
ren Weltteil ähnliche Auftritte wiederholen; man wünschte den Amerikanern alles
Glück, und die Namen Franklin und Washington fingen an am politischen und kriege-
rischen Himmel zu glänzen und zu funkeln.« [60] Als um 1810 die eigene Autobiogra-
phik an Interesse gewann, wurde Amerika in einer Beschreibung der politischen
Situation nach dem siebenjährigen Krieg, die um diese entstand, nicht übersehen:
»Man darf sich nicht verbergen daß seit dem Hubertsburger=Frieden, wo die Parthey-
ung welche Deutschland zwischen Preußen und Östreich theilte aufgelöst ward, die
Deutschen etwas anderes suchten und ein gewisser unbestimter Sinn, wo nicht zu
etwas Besserem doch zu etwas Anderem sich nach und nach in ihnen entwickelte. Der
dritte Stand bildete sich fortschreitend aus, der Adel wollte nicht zurückbleiben und
trat mit ihm in Verbindung. Nach dem Antheil, den man zu Corsika sodann aber an
Nord=Amerika genommen, rückte das Interesse näher; die Franzosen machten einen
78 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Versuch ihren Regierungsformen andere Gestalt zu geben; diese Neuheit unterhielt


jedermann.« [61] Das Interesse an Nordamerika, an seiner Verfassung und an seiner
Wirtschaft, belebte sich um 1795 spürbar, wie schon ausgeführt. Auch für Goethe bot
sich ein willkommener Anlaß, sich dieser Vorgänge zu erinnern. Seit der Zeit der
Kampagne in Frankreich sah er sich zwischen zwei Lager gestellt: hier ancien regime,
dort Revolution, und keinem war er bereit, sich vorbehaltlos anzuschließen. Mit dem
Blick auf die Neue Welt und ihre republikanischen Ideale bot sich ihm ein Drittes an:
die Möglichkeit, Utopie und Realität im Bilde Amerikas zu vereinen.
Die Amerika-Idee ist im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von der eindrucksvol-
len Gestalt Lotharios, eines Adligen, nicht zu trennen. Wir erhalten erste Kenntnis
von ihm durch Aurelie, wenn sie über ihr Leben berichtet, und schon in der Theatrali-
schen Sendung gibt es diese Gestalt. Aureliens Bericht, der sich auf sie bezieht, lautet
wie folgt: »Eben zu der kritischen Zeit, da ich für meines Mannes Tage besorgt war,
lernte ich ihn kennen, er war von Reisen zurückgekommen, und sein Gesellschafter
trennte sich von ihm.« [62] Von Amerika ist hier nicht die Rede. Erst in den Lehrjah-
ren lernen wir Lothario, wie er nunmehr heißt, als einen Rückwanderer aus Amerika
kennen. Der erste Satz in Aure1iens Bericht kann unverändert übernommen werden,
aber der zweite war zu ändern; und dabei fällt auf, daß Amerika und Frankreich ins
Spiel gebracht werden, so daß es nunmehr heißt: »Er war eben aus Amerika zurückge-
kommen, wo er in Gesellschaft einiger Franzosen mit vieler Distinktion unter den
Fahnen der Vereinigten Staaten gedient hatte.« [63] Das ist im Text der Lehrjahre
eine bemerkenswerte Aussage, da wir über die Zeit als historische Zeit so gut wie
nichts erfahren. Mit der Person Lotharios und seiner Rückkehr aus Amerika werden
uns genauere Daten mitgeteilt. Wir dürfen ihnen entnehmen, daß der Zeitraum
unseres Romans etwa die letzten zwei Jahrzehnte umfaßt - unter Einschluß des ameri-
kanischen Unabhängigkeitskrieges, über den hier rückblickend gesprochen wird. Es
ist kein Zufall, daß ein Auswanderer nach Amerika, ein Rückwanderer, die Seele des
Reformwerkes ist, das von der Turmgesellschaft gefördert wird, obgleich nicht ohne
Ironie des Erzählers. [64] Im Diskurs mit dem Nützlichkeitsdenker Werner entwickelt
Lothario seine vielfach radikalen Ideen. Sie lassen den Adligen hinsichtlich der Privi-
legien, die sein Stand noch immer genießt, vom Lehns-Hokuspokus sprechen. Hier
wird steuerliche Gleichstellung adliger, bürgerlicher und bäuerlicher Besitztümer ge-
fordert, und daß der Besitz nur rechtmäßig sei, wenn dem Staat der schuldige Teil
abgetragen werde, ist eine communis opinio im Kreise dieser Gesellschaft. Wenn
Wilhelm in der Amerika-Idee lediglich Abenteurerturn vermutet, so befindet er sich
in diesem Punkt nicht auf der Höhe des Bewußtseins aller beteiligten Personen.
Lothario und Jarno blicken sehr viel weiter. Schon in den Lehrjahren stehen mit
beiden Figuren Auswanderung und Rückwanderung gleichberechtigt nebeneinander:
mit Jarno, der in Amerika an das anknüpfen möchte, was Lothario begonnen hat;
und mit Lothario, der nach seiner Rückkehr resolut erklärt: »hier, oder nirgend ist
Amerika!« und im Fortgang seiner eindringlichen Rede hinzufügt: »hier, oder nirgend
ist Herrnhut!«. Abermals ist von Aufopferungen die Rede, von Entsagungen um
anderer willen. Hätte sein Schwager, führt Lothario aus, »einen geringen Teil seiner
Einkünfte aufgeopfert, so hätte er viel glückliche Menschen [... ] schaffen können.«
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 79

[65] Die Pläne dieser Adligen richten sich auf eine Reihe liberaler Wirtschaftsrefor-
men, und die Ideen der Französischen Revolution sind hier in dem Maße anwesend, in
dem auch die Ideen der amerikanischen Revolution anwesend sind. Gewiß hat man
sich zu hüten, solche Gedanken und Pläne einfach als Goethes Meinung auszugeben,
und daß auch die Gesellschaft vom Turm nicht völlig von Ironie verschont wird, ist
offensichtlich. Dennoch haben die beiden letzten Bücher gegenüber der einseitigen
Phantasiewelt der Theatralischen Sendung eine korrigierende Funktion, und daß sich
eine Gestalt wie Lothario des besonderen Vertrauens des Erzählers erfreut, kann
kaum zweifelhaft sein. Die Reformen, von denen in den beiden letzten Büchern dieses
großen Romans gehandelt wird, stehen daher nicht nur auf dem Papier oder im
Raume des Romans als einer fiktionalen Welt. Sie haben einen zugleich zeitgeschicht-
lichen Sinn, und es ist keineswegs in Abrede zu stellen, daß Goethe mit ihnen die
späteren Reformen des Freiherrn von Stein antizipiert habe, wie in neuerer Forschung
gesagt wird. [66] Zugleich nimmt Goethe mit der Hinwendung zu Amerika spätere
Auffassungen liberaler Historiker des 19. Jahrhunderts vorweg, die der Entwicklung
in Amerika mit weit mehr Sympathie gegenüberstehen als den Ereignissen in Frank-
reich. Gustav Droysen vergleicht beide Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts
miteinander und stellt fest: »Will man, was hier vor sich ging, eine Revolution nen-
nen, so war sie von der Art, daß keines der wesentlichen inneren Verhältnisse ver-
rückt, die Kontinuität des innerlichen Rechtslebens an keinem Punkte unterbrochen,
der Zustand der Personen und des Eigentums nicht weiter, als der dauernde Krieg es
mit sich brachte, verändert wurde.« [67] Und wie in den vorausgegangenen Werken,
die das Auswanderungsmotiv behandeln, ist das soziale Denken von der Tätigkeit für
andere geprägt - davon, sich selbst zu beschränken und zu entsagen.
Die schon 1797 im Briefwechsel mit Schiller erwogene Fortsetzung des Wilhelm
Meister vollzog sich schrittweise, und es sah zunächst so aus, als hätten sich die Aus-
wanderungsmotive mit den Andeutungen in den letzten Büchern der Lehrjahre erle-
digt. [68] Sowohl die 1807 entstandenen Novellen wie die 1821 veröffentlichte Fas-
sung der Wanderjahre kommen ohne diese Motive aus. [69] Zwar gibt es schon in
dieser ersten Fassung die Wanderrede Lenardos, mit der das Buch endet. Aber
Auswandern, als Verlassen des eigenen Vaterlandes, wird ausdrücklich verurteilt:
»Die Grille des Auswanderns [... ] kann in einem beengten kümmerlichen Zustand
den Menschen gar wohl ergreifen, sie wird, wenn einzelne Fälle durch glücklichen
Erfolg begünstigt werden, im Ganzen sich als Leidenschaft hervorthun wie wir gesehn
haben, noch sehen und dabey nicht läugnen, daß wir selbst von einem solchen Wahne
bethört gewesen«. Die sich in der ersten Fassung miteinander verbinden, sind Men-
schen, die auf alles Auswandern ausdrücklich verzichten, so daß es im Fortgang der
Erzählung heißen kann: »Hier kehrt man nicht dem Vaterlande auf immer den Rük-
ken, sondern man hofft, auch auf dem größten Umweg, wieder dahin zu gelangen;
reicher, verständiger, geschickter, besser, und was aus einem solchen Lebenswandel
Vortheilhaftes hervorgehen mag.« [70] Ob in solchen Erklärungen ein definitiver
Verzicht ausgesprochen wird, ist schwer zu sagen, wenn man bedenkt, daß die erste
Fassung ein Torso ist. [71] Aber sicher hatte Goethe nicht aufgehört, sich für Ameri-
ka zu interessieren. Erst zwei Jahre zuvor, im Jahre 1819, war das Spruchgedicht
80 Das Zeitalter der Französischen Revolution

Amerika, du hast es besser entstanden, und daß damit auf einen von Traditionen
unbelasteten Kontinent verwiesen wird, ist unverkennbar Goethes Kenntnisse ameri-
kanischer Verhältnisse seien vorzüglich gewesen, wird uns versichert. [72] Zweifellos
hat sich aber sein Interesse mit den Reiseberichten des Prinzen Bernhard vor Ab-
schluß der zweiten Fassung neu belebt. [73] Die Erweiterung des Wandererbundes
zum Bund der Auswanderer ist jedenfalls die herausragende Veränderung der zweiten
Fassung. Sie hat dem abgeschlossenen Roman das Etikett eines Auswandererromans
eingetragen. [74] Das ist in mehrfacher Hinsicht eine ungenaue Bezeichnung, weil sie
unterstellt, Auswanderung nach Amerika sei nunmehr das erklärte Ziel des Romans.
Aber davon kann nicht die Rede sein. Sie ist ein Motiv neben anderen; denn neben
dem von Lenardo geführten Bund der Auswanderer gibt es gleichberechtigt den
Bund der im Lande verbleibenden Siedler, dem sich Odoardo verpflichtet hat; und es
gibt die geistige Welt Makariens, die weit mehr als diese Bünde zum Fluchtpunkt des
Romangeschehens wird. Vor allem aber gibt es in beiden Romanen den Gedanken
der Rückwanderung, wie er sich in den Wanderjahren in der Gestalt des Oheims zeigt.
Auch die Mitglieder des Auswandererbundes lassen erkennen, daß sie zur Rückkehr
bereit sind, wenn sich die Verhältnisse wieder gebessert haben: »Nur einige bewiesen
Mut genug, als Odoardo mit den Seinigen abging, sich als entschieden Bleibende zu
erklären; von Lenardos Auswanderern war keiner geblieben, aber von diesen letztem
beteuerten verschiedene in kurzer Zeit zurückkehren und sich ansiedeln zu wollen,
wenn man ihnen einigermaßen ein hinreichendes Auskommen und Sicherheit für die
Zukunft gewähren könne.« [75] Aus Goethes Amerikamotiven ist der Gedanke der
Rückwanderung nicht wegzudenken. Eine definitive Auswanderung mit dem Ziel, für
immer in der Neuen Welt zu verbleiben und hier Besitz zu erwerben, würde überdies
der Idee der Wanderjahre widersprechen.

»Bleibe nicht am Boden heften,


Frisch gewagt und frisch hinaus,
Kopf und Arm mit heitern Kräften
Überall sind sie zu Haus ... «,

heißt es im Bundeslied der Wanderjahre. [76]


Im Gedanken der Rückwanderung liegt die Zeitweiligkeit des Unternehmens be-
schlossen, die durch die Planmäßigkeit nicht widerlegt wird, mit der es Lenardo in die
Wege leitet. Wie sehr auch mit solchen Plänen neue staatliche und wirtschaftliche
Verhältnisse angestrebt werden - die Idee des neuen Lebens ist dennoch die bestim-
mende Idee; und das heißt, daß Amerika jederzeit wieder aufgegegeben werden
kann, wenn es neu anzufangen gilt. Insofern ist die Ausreise nach Amerika eine
Fortsetzung der italienischen Reise mit anderen Mitteln. Daß es die Eigenheit des
Menschen sei, von vorn anzufangen, ist vor allem Lenardo wichtig, wenn er bekennt,
daß er unwiderstehlich nach uranfänglichen Zuständen hingezogen werde. [77] Das
Moment der Zeitweiligkeit erklärt zugleich, daß einzelnen Personen, die sich in beruf-
lichen Schwierigkeiten befinden - wie die Spinner und Weber - ein Ausweg aus ihren
Krisen eröffnet wird, wenn sie nach Amerika gehen, wo sich bessere Arbeitsmöglich-
keiten bieten. [78] Auch der mit Lenardo befreundeten Susane wird zur Bewältigung
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 81

ihrer seelischen Krisen ein solcher Neuanfang - gleichsam als Psychotherapie - vorge-
schlagen. Daß für den Organisator des Auswandererbundes das vordringende Ma-
schinenwesen ein wichtiges Motiv seiner Auswanderungspläne darstellt, ist offenkun-
dig. Aber das kann nicht heißen, daß Goethe mit vorindustriellen Wirtschaftsformen
den Gang der Dinge aufzuhalten gedenkt. Der Altersroman tritt dafür ein, daß hand-
werkliche Arbeit, die sich der Kunst annähert, erhalten bleibt. In ihr sind Tun und
Denken anders zu vereinen, als es im Maschinenwesen möglich ist; und daß das
Handwerk neben diesem weiterlebt, wird zumal von der Weite Amerikas erhofft.
Auch Entsagung ist nicht unbedingt als etwas Dauerndes aufzufassen, sondern als eine
Übung, die von Zeit zu Zeit zur Erhaltung der Kultur unerläßlich ist. Da4er kann von
Lenardo gesagt werden, daß er nicht radikal auf Glück verzichtet, sondern nur vorläu-
fig entsagt. [79]
Schließlich liegt ein Moment der Zeitweiligkeit auch dem Begriff»Welt«zugrunde,
der auf eine so eindringliche Art das Romangeschehen begleitet. Schon in den Lehr-
jahren gibt es diesen Begriff, aber erst die Wanderjahre erweitern unsere Sprache um
so herrliche Ausdrücke wie Weltbund, Weltgegend oder Weltfrömmigkeit, und die
Ausweitung der Turmgesellschaft zur weltweiten Sozietät vollzieht sich hier. Die Vor-
stellung von einer Welt, in der man überall zu Hause sein kann, heißt ja gerade nicht,
daß man sich für die Dauer seines Lebens unbedingt einem Land oder einem Konti-
nent zugehörig weiß:

»Wo wir uns der Sonne freuen


Sind wir jede Sorge los:
Daß wir uns in ihr zerstreuen
Darum ist die Welt so groß«. [80]

Um diesen menschheitlichen Sinn geht es in den Wanderjahren, und deshalb kann


auch Amerika nicht das Ziel alles Bestrebens sein. Seinen denkwürdigen Ausdruck
findet dieser menschheitliche Sinn im Begriff der Weltfrömrnigkeit, wie er im Bericht
des Abbes gebraucht wird: »Wir wollen der Hausfrömrnigkeit das gebührende Lob
nicht entziehen: auf ihr gründet sich die Sicherheit des einzelnen, worauf zuletzt denn
auch die Festigkeit und Würde des Ganzen beruhen mag; aber sie reicht nicht mehr
hin, wir müssen den Begriff einer Weltfrömrnigkeit fassen, unsre redlich menschli-
chen Gesinnungen in einen praktischen Bezug ins Weite setzen, und nicht nur unsre
Nächsten fördern, sondern zugleich die ganze Menschheit mitnehmen.« [81] Daher ist
es auch nicht nötig, von Alternativen zu sprechen: zwischen Amerika und Rußland in
den Lehrjahren und zwischen Europa und Amerika in den Wanderjahren. Goethe ist
als Verfasser dieser Romane auf solche Alternativen nicht gerichtet. Er kennt nur die
Notwendigkeit, sich zur Menschheit und zur Welt hin zu erweitern. Über den europäi-
schen Nationalismus war sein Denken schon hinaus, ehe dieser seinen Höhepunkt
erreichte.
Dieses der sozialen Welt zugewandte Denken entwickelt sich konsequent. Seine
Wandlungen werden eingeleitet durch die amerikanische Unabhängigkeit, die Franzö-
sische Revolution und die Napoleonischen Kriege, wie Wilhelm Flitner ausführt. [82]
Mit diesen weltgeschichtlichen Ereignissen dringt zugleich die Auswanderung als Er-
82 Das Zeitalter der Französischen Revolution

fahrung und dichterisches Motiv in seine Gedankenwelt ein. Von den ersten noch
unveröffentlichten Niederschriften im Zusammenhang der Kampagne in Frankreich
spannt sich der Bogen bis zum letzten Buch der Wanderjahre hin. Diese Wandlungen
sind an den erzählten Auswanderungen zu verfolgen. Sie sind bis zum sechsten Buch
der Lehrjahre unter Einschluß des später entstandenen Epos Hermann und Dorothea
noch in hohem Maße vom Individualitätsgedanken geprägt, von der Idee der Bildung
als einer Entfaltungsmöglichkeit, die mit der personalen Entelechie gegeben ist. Aber
schon die letzten Bücher der Lehrjahre deuten auf Umorientierungen und Erweite-
rungen des Denkens hin. War es zuvor das Ich, das sich an der Welt zu bilden hatte, so
wird nunmehr der Ort des Ich vom Ganzen der Welt her zu bestimmen gesucht. Was
sich in den Lehrjahren andeutet, erweitert sich in den Wanderjahren zur ausgeführten
Lehre, die sich in Maximen und Reflexionen niederschlägt: »Mach' ein Organ aus dir
und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmei-
nend zugestehen werde.« [83] Der theodizeehafte Glaube, die Sicherheit und Zuver-
sicht des 18. Jahrhunderts beginnen zu verblassen. Goethe sieht sie von unabsehbaren
Entwicklungen der Gesellschaftsgeschichte in Frage gestellt: »Was bin ich denn gegen
das All [... ] Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle
geistigen Kräfte die nach vielen Seiten hingezogen werden in seinem Innersten, Tief-
sten versammelt. .. ?«, fragt der Astronom in der Nähe Makariens. [84] Der Be-
wußtseinswandel, mit dem wir es zu tun haben, findet überzeugenden Ausdruck in der
großen Rede, die Lenardo im Bund der Auswanderer an die Seinen richtet. Sie ist in
hohem Maße Geist vom Geist Goethes. Lenardo führt aus: »Da wir uns nun alles
dieses einander vergegenwärtigt und aufgeklärt, so wird kein beschränkter Trübsinn,
keine leidenschaftliche Dunkelheit über uns walten. Die Zeit ist vorüber wo man
abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher,
weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall
bekannt genug, daß wir ungefähr wissen was zu erwarten sei. Doch kann zu einer
vollkommenen Klarheit der einzelne nicht gelangen. Unsere Gesellschaft aber ist
darauf gegründet, daß jeder in seinem Maße, nach seinen Zwecken aufgeklärt wer-
de«; und die Stellung des individuellen Menschen noch verdeutlichend, fährt er fort:
»Wer sich dem Notwendigsten widmet, geht überall am sichersten zum Ziel [... ]
Doch was der Mensch auch ergreife und handhabe, der einzelne ist sich nicht hinrei-
chend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis.« [85] Zweimal
beruft sich Lenardo in dem zitierten Text auf den Geist der Aufklärung, indem er das
Wort selbst im entsprechenden Sinne gebraucht; und um eine erneuerte Aufklärung
im Weltbild dieses vorsorgenden Menschen handelt es sich in der Tat. Doch ist nicht
zu übersehen, daß der soziale Sinn in solchem Bewußtseinswandel schon in den Erfah-
rungen angelegt ist, die mit dem Augenschein der Kampagnen, Kanonaden und
Belagerungen gemacht wurden. Im Grunde ist der Gedanke der Entsagung als die
zentrale Idee des Spätwerks schon mit diesen Erfahrungen gegeben: als Forderung,
die an die Führenden eines Volkes zu richten ist, wie sie sich 1783 im Ilmenau-Gedicht
ankündigt:
»Allein wer andre wohl zu leiten strebt,
Muß fähig sein, viel zu entbehren.« [86]
Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt 83

Für die Herkunft dieser Entsagung wurden die verschiedensten Wissensgebiete


und Lebensbereiche benannt: die Philosophie Spinozas, die Beziehung zu Frau von
Stein, die spätantike Stoa wie die frühchristliche Askese. [87] Aber der soziale Sinn
dieser Idee ist möglicherweise das anstoßgebende und ausschlaggebende Moment
ihrer Entfaltung. Als Kritik an der führenden Schicht des ancien regime, die es an
Gemeinsinn fehlen ließ, wie als Forderung an die Führenden einer neuen Gesell-
schaft, wenn es Gewalttätigkeiten und politischen Umsturz zu verhindern gilt, ist die
Idee der Entsagung mit den Auswanderungsmotiven der Revolutionszeit untrennbar
verknüpft. Kein Begriff erhält in den biographischen wie in den dichterischen Zeug-
nissen dieser Zeit ein solches Gewicht wie derjenige der Aufopferung, und damit ist
nicht unbedingt das Opfer des eigenen Lebens gemeint. Er meint weit mehr Verzicht,
wo er geboten ist, Beschränkung und eben Entsagung, damit anderen geholfen wer-
den kann. [88] Daß auch im Begriff der Aufopferung wie in demjenigen der Entsa-
gung Christliches hineinspielt, bestätigt das bekannte Gespräch zwischen Jarno und
Lothario in den Lehrjahren: »So gibt mein Schwager«, führt Lothario dort aus, »sein
Vermögen, insofern er es veräußern kann, der Brüdergemeinde, und glaubt seiner
Seele Heil dadurch zu befördern; hätte er einen geringen Teil seiner Einkünfte aufge-
opfert, so hätte er viel glückliche Menschen machen, und sich und ihnen einen Him-
mel auf Erden schaffen können.« [89] Aber der weltliche Sinn, die Umwandlung des
Christlichen ins Weltlich-Soziale, ist in der Rede Lotharios kaum zu überhören. Dar-
aus folgt, daß in seinem Weltbild Amerika und Herrnhut nicht ganz gleichberechtigt
nebeneinander existieren, sondern daß eine zeitliche Folge anzunehmen ist - in dem
Sinn, daß sich aus den Erfahrungen in Herrnhut und Amerika eine neue, vom welt-
lich-sozialen Denken bestimmte Gemeinschaft herausbilden kann, ein Herrnhut neu-
er Art. Man würde aber die Goethesche Entsagung durchaus verkennen, wollte man
sie zu sehr der Resignation Schopenhauers annähern. Dafür ist das Aktive, das Täti-
ge, das Wagemutige und Vorausblickende im Verständnis Goethes zu ausgeprägt:
»Bleibe nicht arn Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus ... «
Aber dieser sozusagen positive Sinn in der Idee der Entsagung ist bereits die Ant-
wort auf eine solchem Bewußtseinswandel vorausliegende Erfahrung: daß Besitz und
Eigentum keine Sicherheit mehr gewähren und daß man sich daher - im Sinne der
Wanderer wie der Auswanderer - auf Beweglichkeit einzustellen hat. Die geschichtli-
che Lage wird aufgrund solcher Erfahrungen von Goethe begriffen als die Lage einer
Gesellschaft, »die in Unsicherheit, Auflösung und Bewegung geraten ist und in der
die dahinterstehende Zersetzung der religiösen Substanz zur Krise treibt.« [90] So hat
es denn durchaus seine Richtigkeit, wenn in Anbetracht der auf der Flucht befindli-
chen Menschen, der Auswanderer wie der Rückwanderer, jenes berühmte Wort
gesprochen wird, das für das Geschichtsdenken Goethes so bezeichnend ist: »Von hier
und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr
seid dabei gewesen.« [91] Daß es sich nicht um eine nachträgliche »Erfindung« han-
delt, bestätigt der am 27. September 1792 geschriebene Brief an Knebel: »Es ist mir
sehr lieb daß ich das alles mit Augen gesehen habe und daß ich, wenn von dieser
84 Das Zeitalter der Französischen Revolution

wichtigen Epoche die Rede ist sagen kann: et quorum pars minima fui.« [92] Auch
durch Riemers Tagebuch über seine Zusammenkunft mit Goethe im Jahre 1809 wird
der Ausspruch als eine damalige, nicht als eine nachträgliche Erfahrung erhärtet:
»Beim Abendessen erzählte Goethe von seinen Abenteuern in der Champagne, und
wie es den Preußen ergangen. Die Kanonade bei Valmy entschied das Schicksal der
Welt.« [93] Ähnlich betont der Brief an Voigt - vom 15. Oktober 1792 - das Epoche-
machende im Begriff der Epoche, indem er das herausragende Ereignis den »Jahrbü-
chern der Welt« zuordnet. [94] Und so wichtig ist Goethe dieser Ausspruch geworden,
daß er ihn in der 1822 abgeschlossenen Schrift über die Belagerung von Mainz wieder-
holt und hinzufügt: »Wunderbar genug sah man diese Prophezeiung nicht etwa nur
dem allgemeinen Sinn, sondern dem besonderen Buchstaben nach genau erfüllt,
indem die Franzosen ihren Kalender von diesen Tagen an datieren.« [95] Goethes
Begriff der Epoche erhält in solchen Äußerungen die ihn auszeichnende Bedeutung.
Das ist nicht immer der Fall, wenn er ihn gebraucht. Es gibt zahlreiche Wendungen,
die lediglich einen bestimmten Zeitraum bezeichnen, beispielsweise eine Epoche der
Literatur. [96] Aber das Epochemachende im Verständnis seines Epochenbegriffs hat
offensichtlich Vorrang vor anderen Bedeutungen. Auch in beiläufigen Wendungen
kommt es zum Ausdruck; so im Erzählfluß der Unterhaltungen deutscher Ausgewan-
derten, wenn es dort heißt: »Ich übergehe mancherlei Szenen, die in seiner Jugend
vorfielen, und erzähle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht
setzt und in seinem Leben eine entschiedene Epoche machte.« [97] Das Epochema-
chende bedeutet Abschluß, Ende und alles das, was nunmehr der Vergangenheit
angehört [98]; und bedeutet damit zugleich: Zeitwende, Wandlung und neues Leben.
[99] Anders als bei Ranke, der im Begriff der Epoche vorzüglich an das Ruhende und
für eine bestimmte Zeit Gleichbleibende denkt, an eine Art stehenden Gewässers, ist
Goethes Geschichtsdenken sehr viel stärker auf Metamorphosen und Umschlag ge-
richtet, auf Abschluß und Neubeginn. Lenardo in den Wanderjahren ist der herausra-
gende Vertreter einer solchen Gesinnung. Nicht zufällig spricht Goethe in der Schrift
Belagerung von Mainz mit Bezug auf den berühmten Ausspruch von seiner vormali-
gen Weissagung, die sich nunmehr erfüllt habe. Sein Geschichtsdenken ist auch inso-
fern etwas Eigenes und Besonderes, als es die Kategorien der Zukunft kennt, ehe
man im 19. Jahrhundert vorwiegend erforscht, wie es eigentlich war. [100] In den
Wanderjahren wird erwogen und erörtert, was zu tun sei, wenn dieses oder jenes
geschehen könnte. So auch erhält die Auswanderung ihr Gewicht von der epochema-
chenden Erfahrung, die Goethe zu Anfang der neunziger Jahre machte. Man hat es
mit einem in sich schlüssigen Gedankenzusammenhang zu tun, der die ersten Nieder-
schriften von der Kampagne in Frankreich bis zur letzten Fassung derWanderjahre
umfaßt.
II. Programmatik und Freundschaftsbund
1. Schillers Kontroverse mit Bürger
und ihr geschichtlicher Sinn [1]

In seinem berühmten Vortrag hatte Max Weber seinerzeit an eine Wissenschaftlich-


keit der Wissenschaft gedacht, die sich weithin frei hält von Werturteilen und Voraus-
setzungen aller Art. [2] Aber ein anderes sind die Voraussetzungen, die nichts mit
Werturteilen zu tun haben wollen und dennoch auf dezidierten Urteilen basieren - auf
vertrauten Vorurteilen, die man ungeprüft übernimmt. Die Lyrik Schillers - wie von
anderen »Voraussetzungen« her die Lyrik Heines - ist mit solchen Vorurteilen bela-
stet. Sie lassen uns daran denken, daß es im Verständnis von Dichtung immer zugleich
um gewisse Vorverständnisse geht. Solche Vorverständnisse sind in Deutschland mit
bestimmten Auffassungen vom Wesen der Lyrik verknüpft. Dem Gedicht Schillers
waren sie nie besonders günstig. Hans Mayer hat darüber in seinem Marbacher
Vortrag gehandelt. Wörtlich führte er aus: »Es will mithin scheinen, als sei die Aus-
einandersetzung über den Lyriker Schiller untrennbar mit Besonderheiten der deut-
schen Dichtungs- und Deutungstradition verbunden. Dadurch mag die Allgemeingül-
tigkeit der Werturteile fragwürdig werden«. [3] Fragwürdig jedoch sind solche Wert-
urteile seit langem. Man darf sie gut und gern als Vorurteile bezeichnen. Heute
stehen wir indessen der Lyrik Schillers verständnisvoller gegenüber, weil die soge-
nannte Erlebnislyrik nicht mehr unbestritten gilt. Auch ihrer Theorie, soweit es sie
gibt, folgen wir nicht mehr unbedingt. Während aber solche und andere Revisionen
der Lyrik Schillers zugute kamen, hat man seine Theorie der Lyrik nur zögernd revi-
diert. Die Rezension der Gedichte Bürgers, die 1791 in der Allgemeinen Literatur-
Zeitung erschien, ist der bedeutendste Teil dieser Theorie. [4] Sie gilt vielen als ein
dunkler Punkt in Schillers »Gesammelten Werken«, über den man lieber schweigt.
Von Schillers Rezension hält man nicht viel, weil man von seiner Kritik überhaupt
nicht viel hält. Ein schlechter Kritiker, sagt man, ist er gewesen, weil er ein »Ideolo-
ge« oder »ein wilder Programmatiker« war. [5] Er sei in seiner eigenen Theorie
befangen gewesen, und von einem objektiven Werturteil könne demgemäß nicht
gesprochen werden. [6] Einseitig moralische Maßstäbe in seiner Kritik werden ihm
vorgeworfen. [7] Ihm war die selbständige Bedeutung des Ästhetischen nicht aufge-
gangen[8] - demselben Dichter, darf man ergänzen, dem seit dieser Zeit nichts wichti-
ger war als ebendiese Selbständigkeit. Man rügt den übertriebenen Eifer für die
Sache der Klassik. [9] Man dürfe diese Abhandlung überhaupt nicht als eine Charak-
teristik Bürgers betrachten, »als welche sie maßlos hart und ungerecht ist.« [10] Sie
88 Programmatik und Freundschaftsbund

sei übertrieben, sie sei gnadenlos, wird auch in neuerer Forschung festgestellt. [11]
Noch auf schärfere Töne muß man gefaßt sein, wenn man einseitig nach gut biogra-
phischer Manier die Lebensumstände Bürgers in den Vordergrund rückt, um Schillers
»Grausamkeit« daran zu messen. Schiller auf der Höhe des Glücks, aber Bürger ein
vom Unglück Verfolgter! Tatsächlich stand es mit dem Dichter der Lenore um diese
Zeit in materieller Hinsicht nicht zum besten. Wir lassen die Frage auf sich beruhen,
wieviel an eigener Schuld er sich dabei zuzuschreiben hatte. Aber Schiller dafür mit-
verantwortlich zu machen, weil seine Rezension zu dem allmählichen Untergang des
Dichters beigetragen habe - »der ja 1794 schon starb« -, ist eine, mit Verlaub zu
sagen, ungeheuerliche Behauptung. Man sollte sie überprüfen. [12]
Niemand wird dabei die Spannung von Kritik und Humanität verkennen, die aller
verantwortlichen Auseinandersetzung in Dingen des Geistes innewohnt. Wer sich
indessen als Autor einer Öffentlichkeit stellt, muß mit der Kritik dieser Öffentlichkeit
rechnen. Daß sie ihn möglicherweise unter unglücklichen Verhältnissen trifft, mag
persönlich bedauerlich sein. Man mag solche Konstellationen wie im Falle des un-
glücklichen Bürger auch als »tragisch« bezeichnen, sofern man damit überhaupt noch
etwas bezeichnet. Aber der Vorgang in derartigen Auseinandersetzungen gebührt der
Sache selbst und nicht den persönlichen Umständen. Schiller geht es in seiner Rezen-
sion um die Sache, nicht um die Person. Seine Kritik mit Bürgers Tod in irgendeine
Verbindung zu bringen, ist unbeweisbar und eine dem Gegenstand unangemessene
Verfahrensart obendrein. Man verstellt das Problem, um das es geht. Man verdeckt
damit die »Sache« selbst mit unsachlichen Argumenten. Was aber ist die Sache, für
die sich Schiller so bedingungslos verwendet?
Nicht gleichermaßen unsachlich ist ein Gesichtspunkt der Beurteilung, den man
wiederholt geltend gemacht hat. Ihm zufolge handelt es sich in Schillers Kritik vorwie-
gend um Selbstkritik. Es sei in erster Linie Schillers eigene Jugendlyrik, über die in
der Rezension das Urteil gesprochen werde. Die in ihr gegeißelten Verirrungen Bür-
gers seien die gleichen Entgleisungen, denen Schillers eigene Gedichte in der Stutt-
garter Zeit verfallen waren. [13] Das Gericht über die eigene Jugendlyrik sei nur aus
der gesteigerten Selbstkritik im Ringen um Goethe zu begreifen. [14] Als so gefestigt
gelten die Urteile, daß sie in eine historisch-kritische Ausgabe übernommen werden
können, wenn es heißt: »Die beiden großen Besprechungen wollen nicht die Eigenart
zweier verschiedener Dichterpersönlichkeiten erfassen und objektiv werten, sie sind
vielmehr nur aus Schillers eigener geistiger Entwicklung heraus verständlich und
tragen persönlichen Bekenntnischarakter.« [15] Zur Not kann sich die These von der
Selbstkritik Schillers auf einen beiläufigen Satz in der Abhandlung selbst berufen,
wenn dort gesagt wird: »aber wir entdecken bei dieser Gelegenheit an uns selbst, wie
wenig dergleichen Matadorstücke der Jugend die Prüfung eines männlichen Ge-
schmacks aushalten«. Das ist eigentlich auch der einzige Beleg für die Behauptung
vom Selbstgericht des Rezensenten, die man in der Schillerliteratur mit erstaunlicher
Beharrlichkeit wiederholt. Benno von Wiese hat sie neuerdings mit vollem Recht in
Frage gestellt und bemerkt, daß sie der näheren Überprüfung bedürfe, »da sie sich
aus den vorhandenen Zeugnissen kaum belegen läßt«. [16] Eine Überprüfung der
These von der Kritik Schillers als einer Selbstkritik seiner Jugendlyrik kann aber
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 89

kaum besser als dadurch erfolgen, daß man die Grundgedanken der Rezension her-
ausarbeitet. Es wird sich dabei von selbst erweisen, daß diesen Grundgedanken eine
Bedeutung zukommt, die vieles als nebensächlich erscheinen läßt, was man bisher als
die Hauptsache angesehen hat.
Zu den für Schiller wesentlichen Gesichtspunkten gehören zweifellos die Probleme
der Volkstümlichkeit, der Individualität und der Idealisierung. Es sind vorzüglich
diese Problemkreise, nach denen man die Abhandlung Schillers gliedert. [17] Benno
von Wiese formuliert sie als die Frage nach der Popularität des Dichters, nach seiner
Individualität und nach der Verschiedenheit von Mensch und Künstler, womit zu-
gleich das Problem der idealisierenden Stilgebung in Frage steht. [18] Die für Schiller
wesentlichen Gedanken sind damit wohl zutreffend bezeichnet. Aber wie wichtig sie
auch sein mögen - den für Schiller zentralen Ausgangspunkt hat man noch nicht
erfaßt. Über die Bedeutung solcher und anderer Einzelfragen hat man sich erst dann
zureichend verständigt, wenn man sich über den eigentlichen Anlaß verständigt hat.
Der aber ist weder mit der Person Bürgers noch mit Schillers eigener Jugendlyrik
noch auch mit den angeführten Einzelproblemen gegeben. Der Anlaß der Rezension
liegt im Zeitbewußtsein Schillers, in seinem historischen Sinn. Vorzüglich aus diesem
Grund kommt der Abhandlung über Bürgers Gedichte eine so hervorragende Bedeu-
tung zu. Sie darf durch Nebensächlichkeiten nicht verdeckt werden, wie es zumeist
geschieht und geschehen ist.
Für den historischen Sinn der Kontroverse ist schon der Eingang aufschlußreich.
Sogleich mit dem ersten Satz umreißt Schiller die Situation der Literatur um 1790,
vorzüglich diejenige der Lyrik. Sie ist durch die alles beherrschende Philosophie in
eine schwierige Lage geraten. Schiller spricht vom philosophierenden Zeitalter, von
dem sich die Lyrik umgeben sieht: »Die Gleichgültigkeit, mit der unser philosophie-
rendes Zeitalter auf die Spiele der Musen herabzusehen anfängt, scheint keine Gat-
tung der Poesie empfindlicher zu treffen als die lyrische.« Das philosophierende Zeit-
alter wird um 1790 - vier Jahre vor dem Erscheinen von Fichtes Wissenschafts lehre -
vorwiegend durch Kant und dessen Kritiken aufs nachhaltigste repräsentiert. Die
Kritik der reinen Vernunft war 1781 erschienen, die Kritik der praktischen Vernunft
1788, und die Kritik der Urteilskraft von 1790 ging der Schillerschen Rezension unmit-
telbar voraus. Die Veränderung des geistigen Klimas ist offenkundig. Wir befinden
uns, unnötig es zu sagen, auch philosophisch im Zeitalter der Revolution. Aber die
Revolutionierung im Denken ist eine andere als die Revolutionierung der Literatur,
von der Goethe in Dichtung und Wahrheit mit Beziehung auf seine Jugend handelt.
»... wir trieben uns auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward
von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir
Zeugen waren, und wozu wir, bewußt und unbewußt, willig oder unwillig, unaufhalt-
sam mitwirkten«, heißt es im elften Buch des dritten Teils. [19] Die literarische
Revolution, die Goethe meint, hat es nicht im gleichen Ausmaß mit der Philosophie
als Wissenschaft zu tun. Die Gedankenwelt des Sturm und Drang ist in mancher
Hinsicht eher als philosophiefeindlich zu bezeichnen. Das Zeitalter des jungen Goet-
he, Herders und Bürgers war ein philosophierendes Zeitalter nicht im gleichen Maße
gewesen, als welches es sich jetzt, um 1790 darstellt. Schiller ist sich solcher Verände-
90 Programmatik und Freundschaftsbund

rungen in der Zeitlage deutlich bewußt. Er bezieht das nunmehr vorhandene Überge-
wicht der Philosophie in sein Denken ein. Aber er ist darum nicht bereit, die Poesie
einfach dem philosophierenden Zeitalter zu überantworten. Er ist ebensowenig ge-
neigt, den Verfall der lyrischen Dichtkunst hinzunehmen, wie er sich in den jährlichen
Almanachen und Gesellschaftsgesängen bezeugt. Vielmehr gewahrt er eine verhäng-
nisvolle Isolierung hier wie dort. Verhängnisvoll ist die Isolierung der Geisteskräfte,
die sich ausschließlich in den Dienst des strengen Denkens stellen. Aber verhängnis-
voll nicht minder ist die lyrische Poesie, die den Anspruch des philosophierenden
Zeitalters nicht zur Kenntnis nimmt. Eine derartige Isolierung der Dichtung vom
Geist der Zeit ist umso bedauerlicher, als die Poesie allein es ist, die eine Einheit des
Getrennten herbeiführen könnte; und in der Einheit des Getrennten erkennt Schiller
die »Forderung des Tages«, die nur gelingen kann, wenn die Lyrik nicht bleibt, wie
sie ist: »Dazu aber würde erfordert, daß sie selbst mit dem Zeitalter fortschritte, dem
sie diesen wichtigen Dienst leisten soll«. Man hat allen Anlaß, über den zitierten Satz
nachzudenken. Er hört sich eigentlich wie eine Provokation in unserem Lande an, in
dem die Lyrik so gern als etwas schlechterdings Zeitloses angesehen wird: als eine der
Zeit entrückte Kunst, die es nicht nötig hat, sich mit der Wirklichkeit des Lebens
einzulassen. [20] Daß sich die Kunst mit den veränderten Verhältnissen des Lebens
ändert und ändern muß, leuchtet im Falle des Dramas oder des Romans noch am
ehesten ein. Auch Schiller weist in diesem Zusammenhang auf die genannten Dich-
tungsarten hin: »Der dramatischen Dichtkunst dient doch wenigstens die Einrichtung
des gesellschaftlichen Lebens zu einigem Schutze, und der erzählenden erlaubt ihre
freiere Form, sich dem Weltton mehr anzuschmiegen und den Geist der Zeit in sich
aufzunehmen.« Daß auch die Lyrik von den veränderten Verhältnissen Kenntnis zu
nehmen hat, ist die keineswegs selbstverständliche, die eigentlich unerhörte Wen-
dung, die Schiller dem Problem gibt. Das in der Theorie der Lyrik Neue ist die
bewußt geforderte Erneuerung der lyrischen Poesie mit Beziehung auf die Verhältnis-
se der Zeit.
Auf die Idee einer solchen Erneuerung kommt es Schiller an; und er bedient sich
dabei seiner dichterischen Sprache, um diese ihm wichtige Idee in wirksamen Bildern
zu umschreiben. Es sind namentlich die Bilder des organischen Lebens, die seiner
Metaphorik das Gepräge geben. Schon das Wort vom »Verfall« (der lyrischen Dicht-
kunst) deutet darauf hin. Es deutet auf etwas Altgewordenes hin, das der Erneuerung
bedarf. Schiller spricht von jugendlichen Blüten des Geistes, die in der Fruchtzeit
absterben könnten - ein etwas merkwürdiger Gedanke, der sich auf einen unregelmä-
ßigen Verlauf organischen Lebens zu beziehen scheint. Dennoch trifft er die Sache.
Die Lyrik ist vom Standpunkt der Zeit aus betrachtet in der Tat als eine jugendliche
Blüte des Geistes anzusehen; ist es doch kaum zwei Jahrzehnte her, daß die Generation
des Sturm und Drang die Befreiung von einer erstarrten Gesellschaftskultur in eben
jener literarischen Revolution betrieb, die Goethe später in Dichtung und Wahrheit
beschrieben hat. Doch ändert die Tatsache der kurz zuvor erneuerten Lyrik nichts an
der Notwendigkeit einer erneuten Erneuerung - welches immer die Gründe sein
mögen, die solches gebieten. Dem bezeichneten Sachverhalt entspricht das Bild von
den jugendlichen Blüten des Geistes, die in der Fruchtzeit absterben könnten. Gegen-
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 91

über einem derartigen Verfall versteht Schiller den lebendigen Geist der Dichtung als
einen solchen der Verjüngung: »Aus noch so divergierenden Bahnen würde sich der
Geist bei der Dichtkunst wieder zurechtfinden und in ihrem verjüngenden Licht der
Erstarrung eines frühzeitigen Alters entgehen. Sie wäre die jugendlich-blühende He-
be, welche in Jovis Saal die unsterblichen Götter bedient.« Die um 1790 für Schiller
unerläßliche Erneuerung der Literatur und zumal der Lyrik ist der eigentliche Aus-
gangspunkt seiner Überlegungen. Und diesem Gedanken kommt von der Sache her
eine so fraglose Bedeutung zu, daß alle bloß auf die persönlichen Verhältnisse Bürgers
bezogenen Darstellungen wie ein veralteter Biographismus anmuten, der nicht zur
Sache gehört. Über die persönlichen Verhältnisse sind einige Bemerkungen an dieser
Stelle einzufügen. Schiller hat Bürger 1789 persönlich kennengelernt. Seine eigene
Beschreibung ist weit davon entfernt, enthusiastisch zu sein. Aber sie ist auch frei von
jeder Gehässigkeit, wenn es im Brief an Körner vom 30. April 1789 heißt: »Bürger
war vor einigen Tagen hier und ich habe seine Bekanntschaft gemacht. Sein Äußerli-
ches verspricht wenig - es ist plan und fast gemein, dieser Karakter seiner Schriften ist
in seinem Wesen angegeben. Aber ein gerader ehrlicher Kerl scheint er zu seyn, mit
dem sich allenfalls leben ließe.« [21] Daß es in der Person Bürgers bedenkliche Seiten
gibt, die sich auch in seinen Schriften widerspiegeln, wird hier mit ähnlichen Worten
zum Ausdruck gebracht wie in der späteren Rezension. Nichts aber in diesen Sätzen
deutet darauf hin, daß die persönliche Begegnung die Ursache einer demgemäß
persönlich gemeinten Auseinandersetzung wäre. Der für Schiller wesentliche Anlaß,
die Erneuerung der Lyrik, ist die Sache selbst - nicht die Person Bürgers. Als der
Verfasser der Gedichte aber, den Schiller einer so entschiedenen Kritik unterwarf,
war Gottfried August Bürger repräsentativ wie wenige andere Dichter seiner Zeit.
Zu Bürgers Freundeskreis gehören die Dichter des Göttinger Hains. Doch unter-
hielt er lange Zeit Beziehungen auch mit Poeten der älteren Richtung. Und wenn er in
der Geschichte der deutschen Dichtung als Erneuerer der Ballade seinen ehrenvollen
Platz erhalten hat, so war er dieser Erneuerer doch nicht von Anfang an. Es gibt in der
Sammlung seiner Gedichte zahlreiche Anklänge an die anakreontische Manier. Dem
jungen Goethe waren sie nicht entgangen; und doch wohl als eine Warnung, nicht in
den alten Ton zurückzufallen, war der Brief aus dem Jahre 1773 gemeint. Er spricht
von der Minne in Bürgers Lyrik, die »den Fehler zu haben« scheint, »neuen Geist mit
alter Sprache zu bebrämen.« [22] Aber Bürger blieb vor nennenswerten Rückfällen
schon durch seine Freunde bewahrt. Mehr noch blieb er es durch Herders Schriften.
Er empfand sie wie eine Offenbarung des eigenen dichterischen Wollens. Die beglük-
kende Begegnung im Geist war von Herders Briefwechsel über Ossian und die Lieder
alter Völker ausgegangen. Bürger hatte die Schrift im Sommer 1773 gelesen. Er
schreibt darüber an Boie im Brief vom 18. Juni: »0 Boie, Boie, welche Wonne! als
ich fand, daß ein Mann wie Herder , eben das von der Lyric des Volks und mithin der
Natur deutlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht
und empfunden hatte. Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einiger Maßen entspre-
chen.« [23] In solcher »Entsprechung«, in der Anwendung der Theorie auf die Praxis
des Dichters, beruht in erster Linie Bürgers Verdienst an der Erneuerung der Litera-
tur im Umkreis des Sturm und Drang. In der Theorie selbst hat er Bedeutendes kaum
92 Programmatik und Freundschaftsbund

geleistet. Nicht weniges ist Nachklang Herderschen Gedankenguts. So sehr aber hat
dieser die Dichtungsauffassung Bürgers beeinflußt, daß man oft die wörtlichen Über-
einstimmungen bezeichnen kann. [24] So bezüglich der Würfe und Sprünge, die Her-
der an alten Volksballaden rühmt. [25] Mit entsprechenden Wendungen und in einem
Stil, bei dem schwer zu ermitteln ist, wieweit es sich um den Stil Herders oder um
denjenigen des Sturm und Drang handelt, heißt es ähnlich in Bürgers Schrift Aus
Daniel Wunderlichs Buch: »Da nehmen sie das erste das beste Histörchen, ohne allen
Endzweck und alles Interesse, leiern es in langweiligen, gottesjämmerlichen Stro-
phen, hier und da mit alten Wörtchen und Phrasen läppisch durchspickt, auf eine
drollig sein sollende Art, mit allen unerheblichen Nebenumständen des Histörchens,
von Kopf bis zu Schwanz herab, und schreiben darüber: Ballade, Romanze. Da regt
sich kein Leben! Kein Odem! Da ist kein glücklicher Wurf! Kein kühner Sprung«.
[26] Bürger polemisiert gegen Batteux, Aristoteles und andere Gesetzgeber im Reiche
der Poesie. Er verspottet die Gelehrtendichtung als bloße »Quisquilien-Gelahrtheit«
- alles im Sinne Herders und seiner frühen Schriften. [27] Auf die Philosophie ist
Bürger im allgemeinen nicht gut zu sprechen. Er ist es umso weniger, wenn sie es
wagt, sich Anrechte auf die Poesie anzumaßen. So rechnet er mit den Philosophen auf
seine Weise in dem Kapitel Zur Beherzigung an die Philosophunkulos ab. Mit der
Anrede »Ihr weisen ästhetischen Fliegen« leitet er den polemischen Abschnitt ein, in
dem sich der burschikose Ton als Stilprinzip kaum noch überbieten läßt. Es geht um
Hexen- und Gespensterszenen in Shapespeares Dramen: »In einem Zeitalter, sagt ihr,
da Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Niedere an Hexen, Gespenster und ihre
Alfanzereien wie an ein Evangelium glaubten, waren diese Vorstellungen ernsthaft
und erhaben und erschütterten, wie Religion, das Herz; aber in unserem erleuchteten
philosophischen Jahrhunderte sind sie abgeschmackt«. [28] Aus dem Zusammenhang
ergibt sich der ironische Sinn der Aussage. Erleuchtet ist das philosophische Jahrhun-
dert, weil es sich selbst für erleuchtet hält. Aber Bürgers Auffassung ist das nicht. Er
steht in Opposition zu diesem Jahrhundert, eben weil es ein philosophisches ist. Doch
muß man beachten, daß es für Bürger als Verfasser dieser um 1776 veröffentlichten
Schrift in erster Linie die Philosophie der Aufklärung ist, gegen die er sich wendet,
und gegen die populär gewordene Aufklärung weit mehr als gegen die Philosophie
dieser Epoche von ihrem Ursprung her betrachtet. Das philosophierende Zeitalter in
Schillers Abhandlung über Bürgers Gedichte betrifft demgegenüber eine Philosophie
von unvergleichbar anderem Rang. Bürger hat sich 1787 mit ihr befaßt. Er hat um
diese Zeit Kant zu studieren begonnen. Aber ein eindringendes Studium ist es nicht
gewesen, und zum Professor der Philosophie, der er 1789 wurde, war er gewiß nicht
prädestiniert. Bürger war als Theoretiker des Sturm und Drang ein Repräsentant
dieser im Wesen theoriefeindlichen Bewegung. Er ist es auch später weithin geblie-
ben. Schon von seiner geistigen Persönlichkeit her war er wenig aufgeschlossen für
den Geist der Zeit, in dem sich am Ende des Jahrhunderts der Geist der kritischen
Philosophie so gebieterisch zu Wort meldete. In diesem Punkt war der Dichter, der
1789 seine gesammelten Gedichte der Öffentlichkeit übergab, von vornherein im
Nachteil. Schiller aber dachte in seiner Abhandlung über Bürger an einen Dichter,
der dem philosophierenden Zeitalter gewachsen ist. Dieser Dichter ist Bürger nie
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 93
gewesen, und natürlich ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen, daß er es nicht war.
Auch Bürger hat ein Anrecht auf seine Individualität, die es zu verstehen gilt. Er hat
wie andere ein Anrecht darauf, daß man seinem eigenen Stil gerecht wird. Wenn sich
indessen der eigene Stil überlebt hat, wird die Individualität zur privaten Individuali-
tät, die zur Kritik herausfordert - wie es hier geschieht. Dabei sollte man den Dichter
nicht ganz so unbesehen überschätzen, wie es üblich ist, wenn man ihn gegen Schiller
verteidigt. Es gibt in Bürgers Lyrik sehr viel Unvollkommenes und Unfertiges, und es
fällt nicht einmal leicht, die vollkommenen Gedichte zu bezeichnen, die man ohne
Vorbehalt in unsere beliebten Blütenlesen aufnehmen darf - in jene, die bemüht sind,
jeweils das Beste vom Besten zu bringen. Das trifft in erster Linie für die reine Lyrik
zu, aber mit der Ballade verhält es sich nicht wesentlich anders. In einer Auswahl aus
neuerer Zeit ist einzig die Lenore vertreten[29], und wer eine derart bescheidene
Auswahl ungerecht findet, muß begründen, warum er anderes vermißt. Die guten
Gedichte Bürgers sind nicht so zahlreich, wie diejenigen vorgeben, die den großen
Dichter manchmal mit allzu bewegten Worten vor dem abstrakten Theoretiker in
Schutz nehmen - als sei Theorie eine Sünde wider den Geist der Poesie. Das veränder-
te philosophische Klima ist, mit anderen Worten, der Horizont, von dem aus die
Grundgedanken Schillers erst angemessen zu erläutern sind. Sicher der wichtigste
dieser Grundgedanken ist das Problem der Volkstümlichkeit, das die Rezension ein-
gehend erörtert.
Abermals geht es um den Sinn des Ganzen, von dem aus das Einzelne zu erfassen ist.
Auch das Problem der Volkstümlichkeit sieht Schiller im Horizont des Ganzen. Er
sieht es nicht isoliert, sondern im Zusammenhang seines Zeitbewußtseins und seines
historischen Denkens. Für Bürger hingegen sind das weit mehr Fragen seines emotio-
nalen Engagements. Er spricht im Ton der Begeisterung von einer solchen Poesie,
der nunmehr der Ton einer vergangenen Epoche ist. Das kommt zum Ausdruck,
wenn er ein Kapitel als Herzensausguß über Volks-Poesie überschreibt. Bürger tritt
darin begeistert für die alten Volkslieder ein, und begeistert erst recht verwendet er
sich für alte Balladen: »In jener Absicht hat öfters mein Ohr in der Abenddämme-
rung dem Zauberschalle der Balladen und Gassenhauer unter den Linden des Dorfs,
auf der Bleiche und in den Spinnstuben gelauscht [... ] Gar herrlich und schier ganz
allein läßt sich hieraus der Vortrag der Ballade und Romanze oder der lyrischen und
episch-lyrischen Dichtart - denn beides ist eins! und alles Lyrische und Episch-Lyri-
sche sollte Ballade oder Volkslied sein! - gar herrlich, sag' ich, läßt er sich hieraus
erlernen«. [30] Von der Popularität handelt ein anderes Kapitel, und sie wird immer
mehr zum A und 0 seiner Ästhetik, an der schlechterdings alles gemessen wird. Der
schon in den frühen Schriften formulierte Gedanke wird zum poetischen Glaubensbe-
kenntnis schlechthin, das auch Jahrzehnte später noch gültig bleibt. Es lautet, und so
immer wieder: »Alle Poesie soll volksmäßig sein, denn das ist das Siegel ihrer Voll-
kommenheit.« [31] Neu sind diese Gedanken nicht. Auch damals, in der Epoche des
Sturm und Drang, waren sie es nicht mehr. Sie sind bestes Gedankengut Herders.
Neu ist allenfalls die Einseitigkeit, mit der Bürger bestimmte Anschauunger Herders
forciert. Herders Differenzierungen sind stets bemerkenswert, und Besonnenheit ist
nicht zufällig ein zentraler Begriff seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache.
94 Programmatik und Freundschaftsbund

Auch Begriffe wie Volkslied und Volkstümlichkeit bleiben bei Herder vielschichtig
genug. Demgegenüber hat Bürger das Volkstümliche als das für Herder Unver-
brauchte zur bloßen Popularität verengt. Er hat die Idee der Volkstümlichkeit mit
seiner Vorstellung von Popularität vulgarisiert. Man kann die derart vulgarisierte
Idee nicht so unbesehen gegenüber Schiller verteidigen. Oder ist man wirklich allen
Ernstes gewillt, eine solche im Ansatz sinnvolle, aber in der Übertreibung bedenkli-
che Popularitätstheorie ernst zu nehmen? Glaubt man in der Tat, daß die Rezepte
befolgt werden können, die Bürger empfiehlt? Seine ästhetische Theorie gelangt so
selten über die Emphase hinaus, man mag in diesen Schriften lesen, was man will:
»Man lerne das Volk im ganzen kennen, man erkundige seine Phantasie und Fühlbar-
keit, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen und für diese das rechte Kaliber zu
treffen. Alsdann den Zauberstab des natürlichen Epos gezückt! Das alles in Gewim-
mel und Aufruhr gesetzt! Vor den Augen der Phantasie vorbeigejagt! Und die gülde-
nen Pfeile abgeschossen! Traun, dann sollt's anders gehen, als es bisher gegangen
ist.« [32] Der Ton der Unmittelbarkeit mag erfrischend berühren. Aber im Jahre der
Französischen Revolution erscheint das alles in einem anderen Licht. »Man lerne das
Volk im ganzen kennen«, hatte Bürger damals geschrieben. Aber das Volk ist um
1790 nicht mehr das, was man zwei Jahrzehnte früher darunter verstand. Und wie
immer sich die deutschen Dichter mit dem weltgeschichtlichen Ereignis der Französi-
schen Revolution auseinanderzusetzen bereit waren - mit der Naivität Bürgers war
dieses Ereignis nicht mehr zu bewältigen. Der Volksbegriff war um 1770 von Voraus-
setzungen her zu interpretieren, die Schiller nicht mehr für gegeben erachtet. Der
Begriff hat sich kompliziert. Auch die Idee der Volkstümlichkeit ist dem Wandel der
Verhältnisse unterworfen. Sie kann nicht ohne weiteres aus der Ästhetik des Sturm
und Drang übernommen werden, sondern ist neu zu durchdenken wie andere Ideen
auch. Um eine solche Erneuerung ist Schiller bemüht. Bürger möchte das Volkstüm-
liche isoliert und von aller Philosophie getrennt verwirklicht sehen. Er will, daß die
Dichtung auch von den Einfachsten verstanden wird. Eben damit isoliert er sie von
den Gebildeten und vom Geist der Zeit. Schiller ist demgegenüber weit entfernt, die
Dichtung nur als eine Sache der Gebildeten zu betrachten. Er redet keiner Esoterik
das Wort, wenn er vom gebildeten Dichter spricht. Aber er will die Bildung als etwas,
das auch denen offensteht, die sich darum bemühen. Und Bildung ist in Deutschland
um 1790 der zentrale Gedanke in Dichtung und Philosophie. Sie erweist sich in der
Epoche der deutschen Klassik mehr und mehr als die eigentliche Antwort auf das
Ereignis in Frankreich. Die Zeitbezogenheit in Schillers Begriff der Volkstümlichkeit
ist jedenfalls offenkundig.
Abermals sehen wir uns auf den Ausgangspunkt der Rezension verwiesen: auf die
Alternative, die Schiller nicht anerkennt. Er läßt die Dichtung nicht gelten, die aus-
schließlich im Dienst der Philosophie steht. Und er verwirft zum andern diejenige
Poesie, die vom Geist des kritischen Zeitalters keine Kenntnis nimmt. Die in seinen
Überlegungen reine Gedankendichtung ist ebenso ein isoliertes Phänomen, wie es die
reine Volksdichtung ist, an die Bürger denkt. Demgegenüber liegt für Schiller wahre
Volkstümlichkeit dort vor, wo sich das eine mit dem andern vereint. Dahinter zeich-
net sich eine Kulturphilosophie ab, die seiner Volkstümlichkeit eine Tiefe gibt, wel-
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 95
che man bei Bürger vermißt. Und es ist Schiller - nicht Bürger - der die Situation der
Zeit erfaßt, wenn er das Problem ins Grundsätzliche wendet: »Ein Volksdichter in
jenem Sinn, wie es Homer seinem Weltalter oder die Troubadours dem ihrigen wa-
ren, dürfte in unsern Tagen vergeblich gesucht werden. Unsre Welt ist die homerische
nicht mehr, wo alle Glieder der Gesellschaft im Empfinden und Meinen ungefähr
dieselbe Stufe einnahmen, sich also leicht in derselben Schilderung erkennen, in
denselben Gefühlen begegnen konnten. Jetzt ist zwischen der Auswahl einer Nation
und der Masse derselben ein sehr großer Abstand sichtbar, wovon die Ursache zum
Teil schon darin liegt, daß Aufklärung der Begriffe und sittliche Veredlung ein zusam-
menhängendes Ganze ausmachen, mit dessen Bruchstücken nichts gewonnen wird.«
Es kann für Schiller nur darum gehen, die Kluft zu schließen, die den Gebildeten vom
Ungebildeten trennt. Auch das liegt in der Idee der Totalität beschlossen, die sein
Denken bestimmt. Aber zu erreichen ist die erstrebte Totalität nicht dadurch, daß
man dem Gebildeten eine neue Schäferwelt des »einfachen Lebens« empfiehlt. Die
Aufgabe der Dichtung beruht für Schiller nicht darin, daß sie sich zum Volk hinabbe-
gibt, sondern daß sie es zu sich heraufzieht, und dieser Aufgabe wird Bürger nicht
gerecht: »Hr. B(ürger) vermischt sich nicht selten mit dem Volk, zu dem er sich nur
herablassen sollte, und anstatt es scherzend und spielend zu sich hinaufzuziehen, gefällt
es ihm oft, sich ihm gleich zu machen.« Es geht demnach - auf einer höchsten Stufe-
um die Verbindung des Einfachen mit dem Erhabenen, des Volksgemäßen mit dem
Bewußten. Es geht im Stil Schillers um Konjunktive, weil der Zustand nicht Wirklich-
keit ist, sondern Postulat, fast im Sinne einer Utopie jenes ästhetischen Staates, den
diese bedeutende Rezension vorwegzunehmen scheint. Im Konjunktiv spricht Schiller,
wenn er im Sinne seiner Ideenwelt von dem Ideal eines Volksdichters handelt, wie er
sein sollte. Er spricht bezeichnenderweise im Konjunktiv von einem sozialen Status als
einem Ideal: »Als der aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Volksgefühle würde er
dem hervorströmenden, Sprache suchenden Affekt der Liebe, der Freude, der An-
dacht, der Traurigkeit, der Hoffnung u. a. m. einen reinem und geistreichem Text
unterlegen«. In der höchsten Idee von Dichtung, die eine volkstümliche Dichtung ist,
würde das Getrennte vereinigt sein: »Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens
würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auflösen«. Die Volks-
tümlichkeit, die Schiller ins Auge faßt, hat den Sündenfall des modemen Geistes
hinter sich und strebt solcherart einem neuen Paradiese zu. In Bürgers Ästhetik wird
der vorausliegende »Sündenfall« nicht recht wahrgenommen. Die Berechtigung des
modemen Bewußtseins wird ihm nicht zum Problem. Seine dichterische Vorstellungs-
welt stellt sich für Schiller und von der Situation der Zeit her gesehen als eigentümlich
überholt dar.
Volkstümlichkeit ist in der für das Zeitalter kennzeichnenden Philosophie des Drei-
schritts die höchste Stufe, die sich denken läßt. Diese höchste Stufe liegt jenseits des
modemen Bewußtseins, eine wiedergewonnene Naivität nach dem Zustand des Senti-
mentalischen; und das Sentimentalische wird darum nicht negiert, sondern im Gegen-
teil vorausgesetzt. Es ist für Schiller mit dem philosophierenden Zeitalter weithin
identisch, wie er es in seiner späteren Abhandlung begründen wird. Auch die Idee der
Bildung ist mit dieser Bewußtseinsstufe eng verknüpft. Schiller gibt ihr eine von
96 Programmatik und Freundschaftsbund

Herder und Goethe etwas abweichende Bedeutung. Die Idee der Bildung ist dort
unverkennbar auf einen vorwiegend naturkundlichen Zusammenhang bezogen. Bil-
dung ist für Herder wie für Goethe zunächst Bildung organischen Lebens, Entwick-
lung eines Bildungstriebs zum vorbestimmten Bild des Ganzen; und es ist vorzüglich
diese organisch-morphologische Bildung, die dem Roman der Lehrjahre zugrunde
liegt. Entsprechend verwendet auch Herder den Bildungsbegriff, wenn er in den
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mens.chheit ausführt: »Was indes jeder
Stein- und Erdart verliehen ist, ist gewiß ein allgemeines Gesetz aller Geschöpfe
unsrer Erde; dieses ist Bildung, bestimmte Gestalt, eignes Dasein. Keinem Wesen
kann dies genommen werden; denn alle seine Eigenschaften und Wirkungen sind
darauf gegründet«. [33] Gewiß gibt es in der Diskussion der Zeit auch den Gedanken
der allgemein geistigen Bildung, die den naturkundlichen Ursprung des Begriffs ver-
gessen läßt. Auch Herder und Goethe verwenden das Wort in diesem Sinn. Schiller
dagegen gebraucht den Bildungsbegriff fast ausschließlich so: im Sinne des geistig
gebildeten Menschen. Er meint mit Bildung eine Bewußtseinsstufe, die mehr ist als
bloße Intellektualität: »Was Erfahrung und Vernunft an Schätzen für die Menschheit
aufhäuften, müßte Leb.en und Fruchtbarkeit gewinnen [... ] Die Sitten, den Charak-
ter, die ganze Weisheit ihrer Zeit müßte sie, geläutert und veredelt, in ihrem Spiegel
sammeln und mit idealisierender Kunst aus dem Jahrhundert selbst ein Muster für das
Jahrhundert erschaffen. Dies aber setzte voraus, daß sie selbst in keine andre als reife
und gebildete Hände fiele.« Schiller denkt an den gebildeten Mann seiner Zeit, der
seinerseits einen gebildeten Dichter erwartet. Der gebildete Mann und der gebildete
Dichter müssen im Intellektuellen und Sittlichen auf einer Stufe stehen. Es ist diese
Bewußtseinsstufe, an die Schiller denkt, wenn er Bildung sagt. Vorzüglich von dieser
Voraussetzung her ist auch der bedeutende und für die Dichtung der deutschen Klas-
sik programmatische Satz zu verstehen, mit dem Schiller auf eine für ihn nicht mehr
zeitgemäße Dichtung antwortet. Er betrifft die Idee der Begeisterung, im Sturm und
Drang verstanden als Ausdruck, Emotion und Emphase. Davon handelt Stolberg in
einem charakteristischen Essay. Der Geist in der Begeisterung wird dabei vorwiegend
religiös interpretiert. Er bezeugt sich in der Begeisterung des Dichters als eine göttli-
che Gabe, über die der Mensch nicht verfügt: »Selbst das göttlichste Gedicht ist nur
ein Nachbild von den Zügen des Urbilds, welches die Begeisterung mit glühendem
Pinsel in die Seele des Dichtenden hinwarf«. [34] Bürger wahrt den Ton einer solchen
Begeisterung, ohne damit den religiösen Sinn zu übernehmen. Auch in Herders
Schriften dominiert dieser Ton. Aber auch Herder war um 1790 nicht mehr nur der
Theoretiker des Sturm und Drang. Er stand Goethe während der italienischen Reise
als der Programmatiker einer erneuerten Dichtungsform nahe und nahm daher auch
die unmittelbare Begeisterung von einst nicht mehr bedingungslos hin. [35] Herder
distanziert sich von diesem Stil, und Schiller formuliert solche Distanz in dem Satz, der
auf die bloß emotionale Begeisterung im bisherigen Sinne antwortet, wenn er sagt:
»Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten
Geistes.«
Die Idee der Begeisterung ist wie die Idee des Erhabenen ein zentraler Gedanke in
der geistigen Welt des 18. Jahrhunderts. [36] Aber sie ist auch mehr als nur ein
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 97
Gedanke. Wir verstehen sie am besten, wenn wir sie als eine Formkraft der Dichtung
verstehen, die eben deshalb auch dem Formenwandel der Dichtung unterliegt. Es
kann sich nicht darum handeln, in der Begeisterung nur die überzeitliche Konstanz
eines seit der Antike überlieferten Topos zu registrieren. Man muß, zumal seit dem
18. Jahrhundert, den Stilwandel beachten, den diese Idee von Epoche zu Epoche
erfährt. Der Sturm und Drang versteht sie anders als die werdende Klassik am Aus-
gang des Jahrhunderts. Die Wandlung im Verständnis dieser Idee bezeugt Schiller
selbst in seinen Beiträgen zur Theorie der Lyrik, und die Rezension der Gedichte
Stäudlins von 1782 ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlußreich. Sie ist nicht
ausschließlich vom Wetteifer mit dem angesehensten unter den schwäbischen Poeten
diktiert; und auch im Unverständnis gegenüber diesen Gedichten hat Schillers Kritik
nicht nur ihren Grund. Schon hier war ihm der Zeitbezug der lyrischen Poesie wichtig;
nur daß sich dieser Zeitbezug um 1780 von der Dichtungsauffassung des Sturm und
Drang her erläutert, wenn Schiller gegenüber Stäudlin kritisch vermerkt: »Aber eben
die Haupterfordernis, eignes Gefühl, scheint Hrn. Stäudlin ganz zu mangeln. Seine
Lieder sind nicht Ausflüsse eines vollen, von einer Empfindung vollen Herzens, son-
dern Bildwerke einer mittleren Phantasie«. [37] Solcher Mangel eignen Gefühls wird
im Fortgang dieser Rezension als Mangel echter Begeisterung verstanden: »Aber
eben dies ist der Probierstein der Nichtbegeisterung.« Es ist die vom eignen Gefühl
erfüllte Begeisterung, die Schiller ein Jahrzehnt zuvor gefordert hatte, und es ist nicht
unbedingt die liedhafte Lyrik im Sinne des jungen Goethe, an der sich seine Kritik
orientiert. Seine eigene Jugendlyrik ist dieser lyrischen Form (im Sinne des jungen
Goethe) kaum je gefolgt. Sie ist stets jener hymnischen Lyrik nahegeblieben, die von
Klopstock über Stolberg zu Hölderlin führt. [38] Aber gerade im Zeichen der Begei-
sterung werden die Wandlungen innerhalb einer solcherart hymnischen Lyrik offen-
kundig. In seiner Kritik an Stäudlin ist Schiller bemüht, eine im Prinzip sehr andere
und vom jungen Goethe abweichende lyrische Form mit den Erfordernissen des
Sturm und Drang in Übereinstimmung zu bringen, indem er die Begeisterung »als
Ausguß eines wahrhaftig empfindenden Herzens« versteht. Aber dieselbe Begeiste-
rung ist ihm jetzt, in der Rezension der Gedichte Bürgers, nicht mehr genug, weil sie
offenbar der Zeit nicht mehr genügt. In gewisser Weise wird damit natürlich auch der
eigenen Lyrik eine Absage erteilt. Aber wichtiger als die Tatsache der Selbstkritik ist
ihr Grund: der unerläßliche Stilwandel des Dichtens und seiner Theorie. Dieser
Wandel wird im erhöhten Bewußtseinsgrad ~~ in einer Begeisterung nicht
mehr allein, sondern in der Begeisterung des gebildeten Geistes. In der Zuordnung
von Bewußtsein und Begeisterung kommt die Distanz von der Dichtungsauffassung
des Sturm und Drang zum Ausdruck, und der Begriff der Bildung entspricht dem
damit gemeinten Bewußtseinsgrad. Mit der Individualität, dem zweiten Fragenkreis
unserer Abhandlung, verhält es sich nicht wesentlich anders.
Zur Bildungsidee der Klassik gehört die Idee der Individualität. Sie ist uns vom
Bildungsroman Goethes her vertraut. Aber zugleich ist das Individuelle auf eine Idee
der Ganzheit bezogen. Im Individualitätsbegriff Schillers tritt der Charakter des Allge-
meinen im Individuellen um vieles deutlicher hervor. Schiller verknüpft die Idee der
Individualität mit der Idee des Allgemeinen und Generischen, wenn er auf die Forde-
98 Programmatik und Freundschaftsbund

rung vom gebildeten Geist jenen vielzitierten Satz folgen läßt, den man so oft mißver-
standen hat: »Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese
muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine
Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit
hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf,
die Vortrefflichen zu rühren.« Unsere gegenüber allem Biographischen überängstli-
che Dichtungsauffassung mag geneigt sein, solche Gedanken als Biographismus abzu-
tun - in der Überzeugung, daß uns der Dichter nichts angeht, wenn nur die Dichtung,
losgelöst von ihm, etwas taugt. Aber die vom Dichter völlig losgelöste Dichtung als
Theorie des Doppellebens ist eine brüchige Theorie. So ganz nebensächlich kann uns
doch wohl derjenige als Mensch nicht sein, der uns als Künstler etwas bedeutet; und
am wenigsten um einen solchen biographischen oder biographisch mißverständlichen
Sinn ist es Schiller zu tun, wenn er von der Individualität des Dichters handelt, wie er
sie denkt. Schiller bezieht das Individuelle noch bestimmter auf ein Allgemeines,
wenn er sagt, daß es dem Dichter zukomme, »das Individuelle und Lokale zum Allge-
meinen zu erheben.« [39] Der gebildete Dichter als ein Dichter der geläuterten Indivi-
dualität ist also nicht einfach der Dichter einer nur individuellen Bildung. Schiller zielt
auf eine bestimmte Individualität. In ihr stimmt das Individuelle mit dem Allgemei-
nen überein; und im Allgemeinen sind die Erfahrungen und »Vernunftschätze« ent-
halten, die die Menschheit aufgehäuft hat. Die ganze Weisheit der Zeit ist im Begriff
der Individualität enthalten. Auch dieser Begriff wird nicht losgelöst von der Forde-
rung, die Schiller an anderer Stelle erhebt: daß der Dichter mit dem Zeitalter fort-
schreiten müsse. Ein solcher Zeitbezug ist nun aber auch bezüglich des dritten Fragen-
kreises zu beobachten, den Schiller als Idealisierung bezeichnet. Hier vor allem kommt
es darauf an, sich von der Begriffssprache der Zeit nicht irritieren zu lassen, sondern
das Problem unbeschadet des zeitbedingten Ausdrucks in der ihm zukommenden
Dringlichkeit zu sehen, wie es Schiller sieht.
Erst wenn man Bildung als eine erhöhte Bewußtseinsstufe erfaßt, und erst dann,
wenn man Individualität als ein zugleich Allgemeines begriffen hat, versteht man die
Idealisierung richtig, die Schiller auch mit dem Begriff >>Veredlung« umschreibt. Es
ist dies ein zentraler Begriff seiner Ästhetik, der erstmals im Brief eines reisenden
Dänen erscheint und verwandelt auch in die Briefe Über die ästhetische Erziehung des
Menschen eingehen wird. [40] Mit der Idealisierung verbindet Schiller eines der »er-
sten Erfordernisse des Dichters«. Die voreiligen Ausleger nehmen ihn dabei beim
Wort und triumphieren. Idealisierung kann für sie kaum anderes bedeuten als Be-
schönigung der Wirklichkeit und also Schönrednerei. Nirgends aber in dieser Rezen-
sion gibt es dafür einen Beleg. Für Schiller ist Idealisierung nicht ablösbar von einem
»Höheren«. Eine solche Dimension des Höheren wird in verschiedenen Wendungen
bezeichnet. Sie bringt sich in Erinnerung in einer Individualität, die »hinauf« geläutert
werden soll. Schiller spricht vom »höchsten« Wert eines Gedichts. Er spricht von
seiner »höheren« Schönheit. Hinsichtlich des Volkes müsse es darum gehen, es scher-
zend und spielend zu sich »hinaufzuziehen«. Das Individuelle und Lokale soll der
Dichter zum Allgemeinen »erheben«. Zweifellos geht es Schiller im Wesen der Dich-
tumg um eine »Erhebung« bestimmter Art, um ein Höheres, das er Idealisierung
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 99

nennt. Sie ist als wirklichkeitsferne Beschönigung nicht mißzuverstehen. Schiller


meint im Grunde das Wesen der Kunst, wenn er Idealisierung sagt. Er meint ihre
spezifische Leistung. In dem Gedicht mit dem späteren Titel Das Ideal und das Leben
wird eine verwandte Idealisierung angedeutet in den Versen:
»Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch,
Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Ideales Reich!«
Aber auch das Reich des Ideals ist vor dem Mißverständnis zu bewahren, als würde
damit einer Flucht vor der Zeit und vor der Welt das Wort geredet. Schiller denkt
nicht an blasse Ideale im vulgären Sinn. Im vorliegenden Gedicht verbindet sich
damit die Vorstellung vom Reich der Schatten als dem Schein der Kunst. Die Flucht-
wenn überhaupt - ist eine Flucht in die Kunst als der einzigen Möglichkeit, der
Bedrängnis des Irdischen zu entgehen. In unserem Gedicht wird diese Bedrängnis
nachgerade dramatisch gesteigert. Von irgendeiner Harmonisierung kann nicht die
Rede sein, wenn es im Fortgang des Gedichts heißt:
»Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen,
Wenn Laokoon der Schlangen
Sich erwehrt mit namenlosem Schmerz,
Da empöre sich der Mensch! Es schlage
An des Himmels Wölbung seine Klage
Und zerreiße euer fühlend Herz!«
Auf die vermeintlich weltflüchtige Idealisierung antwortet ein unerbittlicher Na-
turalismus. Mit dem Aufschwung ins Erhabene kontrastiert das unbeschönigte Er-
denleid. Die Kunst ist - fast wie bei Nietzsehe - über den Abgrund hingebreitet. [41]
Aber es kommt ihr nicht zu, darin zu versinken. Sie soll sich erheben. Daher ist sie auf
Abstand angewiesen, der solche Erhebung verbürgt. Und Erhebung ist umso mehr
geboten, wenn es nicht so sehr auf das Glück des individuellen Gefühls wie in Goe-
thes Straßburger Lyrik ankommt, sondern darauf, vielfach sich zeigende Bedrohun-
gen zu bewältigen, die offenkundig eine andere Anstrengung des Geistes erforderlich
machen als in der Ausdruckslyrik des Sturm und Drang. Schiller sieht um 1790 die
lyrische Poesie in mehrfacher Hinsicht bedroht, und er sucht die gebotene Bewälti-
gung nicht mehr in der Unmittelbarkeit, sondern in den Formen der Distanz. Auch
das ist, möchte man sagen, schon ganz in der Richtung auf die moderne Lyrik hin
gedacht.
Idealisierung als Abstand ist aber gerade ein der Lyrik nicht in selbstverständlicher
Weise zukommendes Bauelement. EmilStaiger hat das Wesen des Lyrischen gerade
in seiner Abstandlosigkeit beschrieben. [42] Er trifft damit eine Lyrik bestimmten
Gepräges. Wir bezeichnen sie seit dem Sturm und Drang als unmittelbar. Bürgers
Lyrik, einschließlich seiner Balladen, ist eine solche Lyrik der Unmittelbarkeit. So
sehr kann dabei der unmittelbare Naturlaut vorherrschen, daß der Kunstcharakter
gefährdet erscheint. Denn es kann ja nicht Aufgabe des Dichters sein, eine Kunst zu
leisten, deren Wesen die totale Kunstlosigkeit ist: die Unmittelbarkeit des Lebens
ohne jede Form. Gegenüber einer Gesellschaftskunst, die allen unmittelbaren Le-
100 Programmatik und Freundschaftsbund

bens ermangelte, wirkte die neue Lyrik um 1770 wie eine einzigartige Befreiung von
Zwang und Schablone. Nunmehr treten gewisse Gefährdungen deutlicher hervor, die
von Anfang an in ihr angelegt sind. Die Annäherung an das Leben wird wie im Falle
Bürgers sichtbar als künstlerischer Verlust. Sie wird sichtbar als ein nicht mehr Ge-
formtes; denn man kann gerade aus diesem Grund unmöglich alles das als Lyrik
gelten lassen, was Bürger mit dieser Sammlung seinen Zeitgenossen übergab. Man
kann nicht so unbesehen hinnehmen, was Schiller an einem Gedicht wie der Elegie,
als Molly sich losreißen wollte getadelt hat. Wir lesen die folgende Strophe:
»Denn wie soll, wie kann ich's zähmen,
Dieses hochempörte Herz?
Wie den letzten Trost ihm nehmen,
Auszuschreien seinen Schmerz?
Schreien, aus muß ich ihn schreien!
Herr, mein Gott, du wirst es mir,
Du auch, Molly, wirst verzeihen!
Denn zu schrecklich tobt er hier.« [43]
Die Bedrängnis der Kunst ist vom Gegenstand her gegeben. Sie beruht darin, daß
sie künstlerisch dem Schmerz nicht völlig gewachsen scheint, den sie bewältigen soll.
Sie droht sich aufzuheben in einer Form, die keine Form mehr ist. Bürgers Lyrik gibt
sich öfters dem Ungestalteten und Chaotischen anheim. Er überläßt sich ohne alle
künstlerische Anstrengung der ungeformten Expression und überfordert damit das
Prinzip einer noch immer künstlerischen Ausdruckskunst. Bürger tilgt nicht selten den
letzten Erdenrest von Abstand in seinen Gedichten. Er läßt damit die Abstandlosig-
keit und Unmittelbarkeit ins Ungestaltete entgleiten. Dabei ist die Unmittelbarkeit
des lyrischen Ich ein durchaus legitimes Stilprinzip. Sie ist es seit dem Sturm und
Drang, und Bürger fährt fort, sich dieses Prinzips zu bedienen. Aber legitim ist es
eigentlich nur, wenn man es nicht bis zum äußersten befolgt, wenn man das Unmittel-
bare nur als das fast Unmittelbare versteht. Das in jedem Punkt unmittelbare Leben
ist noch keine Kunst. Ein gewisser Abstand ist unerläßlich. Er ist es dann erst recht,
wenn die Wiedergabe unmittelbaren Ausdrucks von Schmerz und Verzweiflung gefor-
dert ist. Der dabei wie immer zu fordernde Abstand, auch wenn er sich in der Unmit-
telbarkeit so sehr verringert, daß man ihn fast nicht mehr bemerkt, ist das Gesetz, das
Schiller wichtig ist. Er meint damit nicht eine bestimmte Lyrik, sondern ein Formge-
setz der Kunst überhaupt. Und wir haben keinen Grund, die prinzipielle Gültigkeit zu
bestreiten, wenn es im Fortgang dieser Abhandlung heißt: »Ein erzürnter Schauspie-
ler wird uns schwerlich ein edler Repräsentant des Unwillens werden; ein Dichter
nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen [... ] Aus der
sanftem und femenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je
mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen
Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen soll.«
Schiller formuliert mit dem unerläßlichen Abstand der Kunst ein Gesetz jeder
Kunst. Aber im zeitlos Gültigen des Gesetzes ist zugleich ein zeitbedingtes Moment
enthalten. Mit der »femenden Erinnerung« als einer Erscheinungsform der Idealisie-
rung zielt Schiller entschieden auf die bestimmte Lyrik in eben dem Zeitalter, das er
das philosophierende nennt. Diese Lyrik ist im ganzen eine solche der gesteigerten
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 101

Distanz. Ihre Formen sind Ausdruck der höchsten Bewußtheit im Gegensatz zur fast
unbewußten Lyrik des Sturm und Drang. Das Ereignis der Französischen Revolution
ebenso wie die kritische Philosophie stehen dabei im Hintergrund des gebotenen
Formenwandels. Die politischen Ereignisse und die kritische Philosophie scheinen in
dem ihm folgenden Jahrzehnt, im letzten des zu Ende gehenden Jahrhunderts, eine
Anstrengung des Geistes gefördert zu haben, der sich auch die Lyrik nicht zu entziehen
vermag, wenn sie selbst in eben diesem Zeitalter noch etwas bedeuten will. Und wenn
im Zeichen solcher Bewußtseinsvorgänge den Regungen des Unbewußten und Nai-
ven noch ein Recht bleibt, so liegt es im Durchgang durch solche Bewußtseinsstufen
auf ein Unbewußtes hin. Die in der Lyrik der Zeit allenthalben sich bezeugende
Distanz als die sie bestimmende Struktur gewahrt man einmal in dem deutlich ausge-
prägten Verhältnis von Abstraktion und Poesie, das sich mit Unterschieden bei Schil-
ler, Hölderlin und Novalis verfolgen läßt. Die Hymnen an die Nacht, weit entfernt,
bloße Erlebnisdichtung zu sein, sind der eindrucksvollste Beleg. Diese Distanz bezeugt
sich ferner - wie bei Goethe und Hölderlin - in der Zeitstruktur des Gedichts, die
schon von sich aus den Abstand zur unmittelbaren »Zeitlosigkeit« des unbewußten
Naturgefühls bewußt macht. Nicht zuletzt bedingen die erneuerten Formen antiker
Lyrik einen Abstand von der uns seit dem Sturm und Drang vertrauten Liedhaftig-
keit, die es in solcher Gestalt weder bei Hölderlin noch in der klassischen Lyrik
Goethes und Schillers gibt; und wo sie sich - wie bei Novalis in den Geistlichen
Liedern - einstellt, bleibt sie an den Zyklus gebunden, der von sich aus die unmittel-
bare Liedhaftigkeit von einst verhindert. Wie sehr diese dem Gedicht innewohnende
Distanz alle Formen der Lyrik ergreift, wird an jener Gattung sichtbar, die erst mit
dem Formprinzip der Unmittelbarkeit in die deutsche Literatur gelangt war: an der
Kunstballade, als deren Schöpfer Bürger mit Recht nach wie vor gilt. [44] Vielleicht
darf man sagen, daß die reine Lyrik seit der Straßburger Zeit weit mehr das Glück
und die Freude des unmittelbaren Gefühls gestaltet, während die Erfahrung des
Unheimlichen der Ballade vorbehalten blieb. Aber das Gefühl des Freudigen wie des
Unheimlichen hatte in der von Herder auch theoretisch begründeten Unmittelbarkeit
den ihm gemäßen Ausdruck gefunden. Noch Balladen wie Der Fischer oder Erlkönig
von Goethe sind ganz von diesem Formprinzip geprägt. Sie haben es ihrerseits vom
Motiv her mit etwas Bedrohendem zu tun. Aber noch die Bedrohung durch den
Erlkönig widerlegt nicht die letztlich beglückende Einheit von Seele und Welt, die das
lyrische Ich in der Kundgabe solcher Regungen gestaltet. Die Gedichte des berühm-
ten Balladenjahrs, die klassischen Balladen Goethes und Schillers, sind dagegen nicht
gleichermaßen unmittelbar wie vordem. Auch der Abstand zur Ballade, im spieleri-
schen Umgang mit ihr und in der Erprobung der Gattung zu artistischen Zwecken,
deuten darauf hin. Überdies hat Schiller mit seinen eigenen Balladen auf eine eigent-
lich bewundernswerte Art geleistet, was er in der Rezension an Volkstümlichkeit
gefordert hat: eine solche nämlich, die das einfache Gemüt beschäftigt und den
anspruchsvollen Geist obendrein. Mit seinen schon fast fragwürdig populären Balla-
den bewährt er sich als das große Talent, dem es gegeben ist, »mit den Resultaten des
Tiefsinns zu spielen, den Gedanken von der Form los zu machen«, wie es in der
Abhandlung über Bürger gefordert wird. Das alles nimmt die ~ Abhandlung von
102 Programmatik und Freundschaftsbund

1791 vorweg. Sie nimmt die Lyrik vorweg, die sich bei allen Unterschieden im einzel-
nen als eine in der Situation der Zeit angelegte Lyrik bezeugt. Daher gibt es in ihr
Strukturen und Formenelemente, die man ähnlich in Goethes Elegien, in den Hym-
nen an die Nacht von Novalis oder in Hölderlins weitausgreifenden Gedichten findet.
Natürlich bestehen zwischen der lyrischen Form des klassischen Goethe oder derjeni-
gen Hölderlins beträchtliche Unterschiede, die es nicht zu verwischen gilt; so wenig
wie im Vergleich von Hölderlin mit Novalis. [45] Aber auf Unterschiede dieser Art
hat man stets geachtet, weit mehr als auf die erhellende Gemeinsamkeit in der Lyrik
des ausgehenden Jahrhunderts, die sich in bestimmten Zügen ganz unverkennbar von
der Lyrik unterscheidet, die ihr vorausgeht und die ihr folgt. Schillers Abhandlung
über Bürgers Gedichte ist in der Theorie auf eine solche von der Zeit her geforderte
Lyrik gerichtet. Er erfaßt damit ihren epochalen Sinn. Die Rezension der Gedichte
Bürgers ist die vorweggenommene Theorie dieser Lyrik. Sie ist von Schiller nicht
ersonnen worden, weil er mit seiner Jugendlyrik abrechnen wollte, indem er mit der
Bürgerschen Lyrik abzurechnen für richtig hielt. Sie entsprach dem Geist der Zeit und
dem, was sie forderte. Dem auch entspricht die Resonanz; denn es kann keine Rede
davon sein, daß die Rezension der Gedichte Bürgers von den Zeitgenossen ähnlich
verworfen wurde, wie sie später im Zeichen der einzig anerkannten Erlebnislyrik
tatsächlich verworfen worden ist.
Schiller selbst berichtet im Brief an Körner vom 3. März 1791 über die Resonanz
seiner Rezension. Er schreibt: »In Weimar habe ich durch die Bürgerische Recension
viel Redens von mir gemacht; in allen Circeln las man sie vor, und es war ein guter
Ton, sie vortrefflich zu finden, nachdem Goethe öffentlich erklärt hatte, er wünschte
Verfasser davon zu seyn.« [46] Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß es sich so
verhielt. Wohl aber darf man bezweifeln, daß die öffentlichen Sympathien unverkenn-
bar sich Bürger zugewandt hätten. [47] August Wilhelm Schlegel, der sich Bürger
persönlich verbunden fühlte, ist ja noch keine Öffentlichkeit. Schon sein Bruder
Friedrich räsoniert gegen die übertriebene Bürger-Verehrung und bringt seinerseits
dem Standpunkt Schillers viel Verständnis entgegen. Er nennt August Wilhelm Schle-
gel einen Vernunfthasser und warnt ihn, mit Bürger gemeinsame Sache zu machen.
[48] Bezeichnend aber ist vor allem die Wendung im Entwicklungsgang des jungen
Hardenberg. Er hatte sich Bürger zum Vorbild erwählt. Im Mai 1789 hatte er ihn
besucht. Von seiner Verehrung zeugen die Bürger gewidmeten Gedichte. Nach dem
Erscheinen der Rezension erfolgt die Wendung. Er wird zum begeisterten Verehrer
Schillers, mit dessen Don Karlos er schon seit längerem eingehend beschäftigt war.
Novalis tritt in Briefwechsel mit dem verehrten Dichter, und es entspricht um diese
Zeit seiner sich rasch wandelnden Auffassung vom Wesen der Poesie, wenn er am
7. Oktober 1791 schreibt: »Bei Gelegenheit der Lektüre des Don Carlos habe ich
noch einmal die Rezension von Bürgers Gedichten gelesen, und sie ist mir beinah in
der Stimmung [... ] noch zu gelind vorgekommen«. [49] Wer die Zeugnisse unvorein-
genommen prüft und Schillers Abhandlung nicht um das Niveau bringt, auf das sie ein
Anrecht hat, kann sie hinfort nicht einfach als Irrtum bezeichnen, wie es zumeist
geschieht. Der Irrtum scheint sich allerdings mit dem Blick auf das um so vieles
freundlichere Urteil über die Gedichte Matthissons zu bestätigen.
Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn 103

»Aus der völligen Befangenheit in der eigenen Theorie erklärt es sich auch, daß ein
liebenswürdiger Durchschnittsdichter wie Matthisson höchstes Lob davontragen
konnte, während der ungleich bedeutendere Bürger [... ] fast so grausam abgefertigt
wurde wie einst Stäudlin«, urteilt der Herausgeber der »Vermischten Schriften« in
der Nationalausgabe, in die beide Rezensionen aufgenommen sind. [50] Das ent-
spricht weithin der communis opinio. Aber so ganz ungeprüft wollen wir auch dieses
Urteil nicht übernehmen. So völlig eindeutig hebt sich Bürger im ganzen gegenüber
Matthisson nicht heraus. Ganz unbestritten vermag sich Bürger als »Vollblutlyriker«
nicht zu behaupten, wie er im Eifer des Gefechts bezeichnet worden ist. [51] Und
Matthisson ist zum andern nicht so indiskutabel, wie es die Konvention überliefert,
Noch fehlt eine befriedigende Monographie seines Wirkens. Doch düften wir auf-
grund sehr verschiedener Zeugnisse wohl annehmen, daß man am Ende des Jahrhun-
derts viele Hoffnungen auf ihn setzte. Es sieht ganz so aus, als hätten viele Matthisson
die Erneuerung der Lyrik zugetraut, um die es in Schillers Auseinandersetzung mit
Bürger geht. Auch Hölderlin hat Matthisson geschätzt. Die Wirkungen auf die entste-
hende Stimmungslyrik der späteren Romantik bedürfen noch der genaueren Erfor-
schung. [52] Das positive Urteil über ihn ist so wenig ein eindeutiger Irrtum Schillers,
wie es die Abhandlung über Bürgers Gedichte ist. Beide Urteile verstehen sich letzt-
lich aus dem Erfordernis einer neuen Lyrik, als deren Wortführer sich Schiller mit der
Rezension von 1791 erweist.
Darin vor allem beruht die weitreichende Bedeutung, die dieser Abhandlung ge-
bührt. Mit ihr hat Schiller für seinen Teil eine erste Grundlage der deutschen Klassik
vollzogen. Daß er sich mit diesem Beitrag zugleich auf dem Weg zu Goethe'befand, ist
gar nicht zu leugnen. [53] Aber gerade mit dieser Abhandlung befand er sich überdem
auf dem Weg zu einer Klassik, die keine zeitlose Klassik ist - kein überzeitliches
Gebilde, das in konventionellen Vorstellungen sein Wesen, oder besser: sein Unwe-
sen treibt. Die Rede vom Zeitlos-Gültigen ist zumeist eine Phrase. Und nichts gegen
die Klassik ist damit gesagt, wenn man sich dagegen verwahrt; denn es ist immer
wieder diese redensartliche Überzeitlichkeit, in der man den geschichtlichen Sinn der
Epoche verfehlt. Eine Epoche im eigentlichen Wortverstand liegt aber erst dann vor,
wenn sie als diese Epoche Altgewordenes erneuert. Und dieser Vorgang ist ein Vor-
gang des lebendigen Geistes. Wer sich als Schriftsteller ihm verbunden weiß, muß
bereit sein, ihre von Zeit zu Zeit notwendigen Wandlungen zu durchdenken, ohne
verpflichtet zu sein, alle Wege mitzugehen, die der Zeitgeist erkundet. Der Vorgang
der Erneuerung ist nicht mit Neuigkeiten zu verwechseln, mit modischen Erscheinun-
gen des Tages; und das Lebensalter ist in solchen Prozessen des geschichtlichen Le-
bens für den, der daran teilzunehmen wünscht, keine Entschuldigung. Nur mit Ver-
wunderung kann man lesen, was in diesem Punkt zur Verteidigung Bürgers vorge-
bracht worden ist: »Es war jene unbewußte Grausamkeit bei Schiller am Werk, mit
der er einem Dreiundvierzigjährigen, der eben die letzte Ausgabe seiner Gedichte
herausgebracht hatte, zumutete, sich noch von Grund aus zu ändern.« [54] Eine Ände-
rung von Grund aus müßte es nicht einmal sein, aber doch die Bereitschaft zum
»neuen Leben« im literarhistorischen Sinn. Eine solche Bereitschaft war in Schiller
lebendig, als er die Rezension über Bürgers Gedichte schrieb; und er weiß die Berech-
104 Programmatik und Freundschaftsbund

tigung einer Lyrik zu rechtfertigen, die dem Geist des Zeitalters entspricht, die sich
aus der Bewußtseinslage der Zeit versteht. Schiller begreift den geschichtlichen Sinn
der Dichtung und bezieht dabei die Lyrik ein. Er bezieht sie in die umfassende Idee
des neuen Lebens ein, das er auf seine Weise, aber mit seinen Zeitgenossen in
Übereinstimmung, formuliert. Die Abhandlung über Bürgers Gedichte von 1791 als
ein Zeugnis der Klassik ist zugleich ein Zeugnis derjenigen Klassik, als die sie in
diesem Zusammenhang verstanden wird: als die zeitbedingte Antwort auf die weltge-
schichtliche Lage in der Idee des neuen Lebens.
2. Naturforschung und Deutsche Klassik
Die Jenaer Gespräche im Juli 1794

Die Sprache der Wissenschaft wandelt sich, wie sich anderes wandelt, und die Art,
in der im 19. Jahrhundert über »unsere Klassiker« gesprochen wurde, mutet uns
heute zumeist fremdartig an. Über das »glückliche Ereignis« des Jahres 1794, über die
Erste Bekanntschaft mit Schiller, wie Goethe eine autobiographische Aufzeichnung
zunächst überschrieben hatte, führte Jakob Minor seinerzeit aus: »Nichts aber kann
uns zu lauterem Preise des waltenden Glückssternes ermuntern, als die Betrachtung
des steilen und mühevollen Weges, auf dem die Beiden durch Hindernisse, Verken-
nungen, Mißverständnisse der mannigfachsten Art endlich sich zusammenfanden.« [1]
Seinen eigenen Beitrag nennt der Verfasser ein »einfaches Gedenkblatt«. Das hindert
ihn nicht, sich einer hochfeierlichen Sprache zu bedienen, wie sie dem Stil der Zeit,
der Kaiserzeit in Deutschland wie in Österreich, entsprach. Trotz gelegentlicher Diffe-
renzen auf dem Felde der Politik blieb die Klassik Goethes und Schillers das sozusagen
großdeutsche Juwel, und der Tag, an dem man sich in Jena zu gemeinsamer Wirksam-
keit verband, ein »Segenstag für die deutsche Nation«. [2] Dieser »Segenstag«, das
folgenreiche Zusammentreffen Goethes mit Schiller im Sommer 1794, wurde in der
deutschen Bildungsgeschichte ein Gegenstand der Erbauung und der nationalen An-
dacht weit mehr als der Erkenntnis. Zugleich wurden und werden in solcher »Erbau-
ung« Begriff und Kultur der deutschen Klassik eigentümlich personalisiert. Das Zu-
sammenwirken Goethes und Schillers - als seien Begriff und Programm der deut-
schen Klassik mit diesen Namen schon identisch - wird zum persönlichen Freund-
schaftskult gesteigert. Ein historischer Vorgang von weitreichender Bedeutung, der
von dem Ereignis des Jahres 1789 nicht ablösbar ist, wird vorwiegend biographisch
gedeutet; er wird eigentlich einem unsachlichen Biographismus überlassen. Das Zu-
sammentreffen Goethes mit Schiller im Juli 1794 ist aber ein Geflecht von Beziehun-
gen der verschiedensten Art. Das »Überpersönliche« daran hat uns wichtiger zu sein
als alles bloß Persönlich-Private. Wenn es sich in der Begründung der sogenannten
Klassik um ein epochales Ereignis handelt, woran nicht zu zweifeln ist, dann hat man
sie, entschiedener als bisher, aus einem bloß biographischen Denken zu lösen, damit
das Intersubjektive desto deutlicher in Erscheinung tritt. Solche Kritik an Biographis-
mus, nationalem Pathos und großen Worten ist nun freilich nicht unbesehen auf die
Klassik selbst zu übertragen, als könne diese nur noch Gegenstand einer kritischen
106 Programmatik und Freundschaftsbund

Literaturgeschichte sein. Aber kritisch sind noch einmal die Zeugnisse zu überprüfen,
die uns Näheres über die Gespräche mitteilen, die damals in Jena geführt wurden.
Goethe selbst hat die Zusammenkunft mit Schiller in diesen Julitagen des Jahres
1794 als ein glückliches Ereignis bezeichnet. Damit ist zunächst die Veranstaltung der
Naturforschenden Gesellschaft in Jena gemeint, die sie beide besucht hatten. Sie wird
auf den 20. Juli datiert, so auch das Gespräch, das man anschließend auf dem Nach-
hauseweg führte und in Schillers Wohnung fortsetzte, in die sich Goethe, wie er selbst
es ausgedrückt hat, hineinlocken ließ. Die Metamorphose der Pflanze, seit einigen
Jahren der bevorzugte Gegenstand seines Denkens, steht im Mittelpunkt, wenn man
dem Bericht Goethes folgen darf. Auf dessen offensichtlich lebhaften Vortrag erwi-
dert Schiller bekanntlich, und wie es scheint, etwas schroff: »Das ist keine Erfahrung,
das ist eine Idee.« So wörtlich lautet die Antwort, die Goethe mehr als zwei Jahrzehnte
später aufgezeichnet und veröffentlicht hat. [3] Es scheint sich um eine lediglich
persönliche Erinnerung, um eine seiner zahlreichen Niederschriften autobiographi-
schen Charakters zu handeln. Aber mitgeteilt wird sie einem daran wie immer interes-
sierten Publikum in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift. Unter dem Titel Glück-
liches Ereignis ist der Bericht über das folgenreiche Gespräch zuerst in der Zeitschrift
Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie 1817 erschienen. Schon
damit ist das bekannte biographische Faktum einem naturwissenschaftlichen Kontext
zugeordnet, einem solchen wissenschaftsgeschichtlicher Art. Aber nicht der naturwis-
senschaftliche Kontext hat sich unserem literarhistorischen Gedächtnis eingeprägt,
sondern das biographische Ereignis selbst, das man üblicherweise auf ein Gespräch
reduziert. Als das »berühmte« oder als das »große« Gespräch - zumeist mit bestimm-
tem Artikel - ist es in die Geschichte eingegangen; und so auch wird es in den
Ausgaben des Briefwechsels zwischen Goethe und Schiller kommentiert. »Kurz vor
diesem Briefe [an Schiller vom 25. Juli], zwischen dem 20. und 23. Juli, während
welcher Zeit Goethe [... ] in Jena war [... ] fand das berühmte, von Goethe [... ]
geschilderte Gespräch über die Urpflanze statt, das die Freundschaft beider Männer
definitiv begründete«. [4] Daß es ein Gespräch gewesen sei, hat man angenommen.
Aber schon hier bedürfen einige Details der Klärung. War es tatsächlich nur ein
Gespräch, an das man zu denken hat, wenn man die Entstehung einer ohne Frage
epochenmachenden Freundschaft zu beschreiben unternimmt? Und wurde schon mit
diesem Gespräch - von dem wir »zufällig« eine Aufzeichnung besitzen - die Freund-
schaft »definitiv« begründet, falls es überhaupt richtig ist, dieses von Zwecken mitbe-
stimmte Bedürfnis eine Freundschaft zu nennen? Endlich: kommt es uns zu, dasjenige
literarische Ereignis, das wir deutsche Klassik nennen, ausschließlich mit den Namen
dieser beiden Dichter zu umschreiben? Da wir das in die Literaturgeschichte einge-
gangene Faktum einer bestimmten Quelle verdanken - der Aufzeichnung Goethes -
ist eine genaue Quellenkritik unerläßlich. Über Goethes Gedächtnis muß da zunächst
gesprochen werden; man muß prüfen, ob man ihm vertrauen darf. Goethe spricht
sehr offen von dem Mißverhältnis, das ihn so lange von Schiller getrennt habe. Dieses
Mißverhältnis wird durch Briefzeugnisse beider Dichter bestätigt. Gut zwei von den
fünf Seiten dieser Aufzeichnungen sind ihm vorbehalten. Das Erscheinen des Don
Karlos, führt Goethe aus, habe daran nichts zu ändern vermocht, und die Schrift Über
Naturforschung und deutsche Klassik 107

Anmut und Würde noch weniger. Im Gegenteil: gewisse harte Stellen sei er geneigt
gewesen, direkt auf sich zu beziehen; zusammenfassend wird festgestellt: »die unge-
heuere Kluft zwischen unsern Denkweisen klaffte nur desto entschiedener.« [5] Wo-
bei zu beachten bleibt, daß es in Goethes Erinnerung Denkweisen waren, die sie
trennten und daß aufgrund dieser Trennung an eine Vereinigung nicht zu denken war.
Diese verhältnismäßig ausführlich erzählte Exposition der beiderseitigen Beziehungen
läßt die Peripetie erwarten, die alles - womöglich definitiv - zum Guten wendet. Aber
eine solche Peripetie sucht man in Goethes Bericht vergebens. Die »Mißverhältnisse«
bestimmen sichtlich noch in hohem Maße den Verlauf auch dieses so »berühmten«
wie »großen« Gesprächs; und mit Gewißheit ist dabei die Metamorphose der Pflanze
nicht der Gegenstand, der eine Annäherung der getrennten Denkweisen bewirkt. Es
bleibt alles beim Alten, wenn man nicht gar annehmen muß, daß sich die Fronten
noch verhärtet haben. Schiller schüttelt den Kopf, und Goethe seinerseits ist ver-
drießlich. Das in der deutschen Bildungsgeschichte so gefeierte Gespräch ist offen-
sichtlich nicht so verlaufen, wie sich das eine betont nationale Philologie wohl
wünschte. An dieser Stelle seines Berichts erwähnt Goethe Schillers Schrift Ueber
Anmut und Würde, indem er die Verstimmung betont, wie sie ihm in Erinnerung
geblieben ist; »der alte Groll wollte sich regen«, heißt es im Fortgang der Aufzeich-
nung. Aber Goethe weiß sich zu beherrschen. In seiner Antwort kommt es zum
Ausdruck: »Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe ohne es zu wissen und sie
sogar mit Augen sehe«. Was Goethe beschreibt, ist im ersten Teil des Berichts die
Geschichte eines Mißverhältnisses, das dem Gespräch vorausgeht, während der zwei-
te den Verlauf einer Verstimmung schildert, die das bestehende Mißverhältnis bestä-
tigt. Das geht mit Deutlichkeit aus dem folgenden Passus dieser Niederschrift hervor:
Von Goethes »hartnäckigem Realismus«, von »Anlaß zu lebhaftem Widerspruch« ist
die Rede, und wenn man mit der Bezeichnung dieses Gesprächs als eines berühmten
Gesprächs einen in jeder Hinsicht harmonischen Verlauf erwarten sollte, dann ist
diese erste Zusammenkunft das berühmte Gespräch nicht gewesen, für das man es
hält. Auf keinen Fall ist diesem autobiographischen Zeugnis zu entnehmen, daß damit
schon »definitiv« eine große Freundschaft begründet worden wäre. Wie das Ergebnis
dieser ersten Zusammenkunft einzuschätzen sei, sagt Goethe selbst sehr präzis: »Der
erste Schritt war jedoch getan«, was die Ergänzung nahelegt: und weitere Schritte
konnten folgen. Von solch einem Schritt handelt der dritte Teil, in dem der »Verfolg
eines zehnjährigen Umgangs« andeutend beschrieben wird - also das, was dem ersten
Schritt als dem glücklichen Beginnen, trotz anfänglicher Verstimmung, folgte. Es gibt
in dieser Quelle, eigentlich nichts, das auf gravierende Gedächtnislücken Goethes
hindeuten könnte. [7] Man hat allen Grund, dieser Aufzeichnung zu vertrauen.
Das gilt nun in gleicher Weise von der zweiten Quelle, dem Brief Schillers an
Körner vom 1. September 1794. Aber damit kompliziert sich die Quellenlage be-
trächtlich. Denn Schiller stellt diese »erste Bekanntschaft« sehr anders dar, und ge-
genüber Goethe ist er dem Ereignis um vieles näher. Der Brief ist sechs Wochen nach
den Jenaer Gesprächen geschrieben, wie im Brief selbst ausdrücklich gesagt wird.
Einige bedeutende Zeugnisse gehen voraus: Schillers Brief an Goethe vom 23. Au-
gust 1794, dem ein zweiter vom 31. August 1794 folgt. Im vorliegenden Bericht an
108 Programmatik und Freundschaftsbund

Körner findet sich ein Satz, der für sich selber spricht; er lautet: »Bei meiner Zurück-
kunft fand ich einen sehr herzlichen Brief von Goethe, der mir nun endlich mit
Vertrauen entgegenkommt.« [8] Um genau zu sein: es darf angenommen werden, daß
erst mit diesem Brief - also mit Goethes Brief an Schiller vom 30. August - der
Freundschaftsbund »definitiv« begründet worden ist. Darauf deutet die Zeitangabe
hin, daß dies nun »endlich« so sei. Zugleich übersendet Goethe mit diesem Brief
einige hochinteressante »Blätter«. Sie enthalten eine Stellungnahme seinerseits zu den
in Jena Ende Juli erörterten Themen. Er begleitet sie mit dem Satz: »Beiliegende
Blätter darf ich nur einem Freunde schicken, von dem ich hoffen kann, daß er mir
entgegen kommt.« [9] Wenn man das Zusammenwirken Goethes und Schillers als
einen Freundschaftsbund verstehen will und wenn man nach Belegen für seine Be-
gründung sucht, dann liegen sie hier. In diesem unauffälligen Satz ohne große Worte
verbirgt sich eine Rückhaltlosigkeit, die vergessen läßt, was es an Mißverhältnissen
und Verstimmungen gegeben hat; und welches Gewicht diesem Satz zukommt, kann
nur derjenige ermessen, der auch den Inhalt dieser Blätter kennt, über die noch zu
sprechen ist. Erst jetzt, mit der Übersendung dieser Blätter Ende August, kann die
Verbindung als »definitiv« bezeichnet werden, und wie viel dabei von einem beider-
seitigen Entgegenkommen abhing, bestätigt die Verwendung desselben Wortes in
den Briefen beider. »Beiliegende Blätter darf ich nur einem Freunde schicken, von
dem ich hoffen kann, daß er mir entgegen kommt«, heißt es in Goethes Brief; und
entsprechend äußert sich Schiller gegenüber Körner: »Bei meiner Zurückkunft fand
ich einen sehr herzlichen Brief von Goethe, der mir nun endlich mit Vertrauen entge-
genkommt«. Hochbeglückt über diese Wendung der Dinge gedenkt Schiller nun
seinerseits der Gespräche in Jena, die sie eingeleitet haben: »Wir hatten vor sechs
Wochen über Kunst und Kunsttheorie ein langes und breites gesprochen«. Aber auch
Schiller verschweigt nicht die» Verschiedenheit der Gesichtspunkte«, die sie bis dahin
trennte. Er teilt mit, daß ausgestreute Ideen bei Goethe Wurzel gefaßt hätten; und er
gibt nirgends zu erkennen, daß mit jenem »berühmten« und »großen« Gespräch über
die Metamorphose der Pflanzen etwas auch nur annähernd Definitives erreicht wor-
den war. Wenn dieser Bericht ganz auf Dur gestimmt ist und den Verstimmungen am
Anfang dieser Zusammenkünfte keine Bedeutung einräumt, so hängt das zweifellos
damit zusammen, daß die nunmehr unverhüllte Freude dem gilt, was sich im Laufe
der Wochen entwickelt hat.
Eine Differenz in den Berichten hat den Betrachtern seit je zu denken gegeben: daß
nämlich Goethe in seiner Aufzeichnung ausschließlich von der Metamorphose der
Pflanzen spricht, während Schiller - sechs Wochen später -lediglich Kunst und Kunst-
theorie in Erinnerung blieb. Dennoch hat man daraus keinen unüberbrückbaren
Widerspruch abgeleitet. Man hat diese Differenz vielmehr in der Weise erklärt, wie
sie zuerst von Otto Harnack erklärt worden ist: »Daß Goethe über Naturbetrachtung,
Schiller über Kunstbetrachtung zu berichten weiß, ist kein Hindernis. Beides war in
Goethes morphologischer Anschauungsweise eng verbunden. Goethe blieb mehr der
naturwissenschaftliche Ausgangspunkt des Gesprächs im Gedächtnis, Schiller mehr
die Übertragung auf das Kunstgebiet.« [10]
Mit dieser Deutung - denn eine solche ist es - ist ein literarhistorisches »Dogma«
Naturforschung und deutsche Klassik 109

verbunden, das sich in unserem Bewußtsein eingeprägt hat: daß es ein Gespräch
gewesen sei, auf das sich alle diese Zeugnisse beziehen. Die Wendung in Schillers
Brief an Körner - »Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst- und Kunsttheorie ein
langes und breites gesprochen« - stützt diese Version, daß es sich nur um ein Ge-
spräch gehandelt habe, keineswegs; denn »ein langes und breites« muß nicht heißen:
»ein langes und breites Gespräch«. Diese Wendung schließt mehrere Gespräche nicht
aus. Schillers überaus glücklich gestimmter Brief vom 1. September erwähnt einen
Aufsatz Goethes, »worin er die Erklärung der Schönheit: daß sie Vollkommenheit mit
Freiheit sei, auf organische Naturen anwendet.« Dieser Aufsatz galt lange Zeit als
verschollen, bis ihn Günter Schulz vor nunmehr zwei Jahrzehnten entdeckte; und er
entdeckte ihn in Weimar. [11] Bis dahin, bis zum Jahre 1953, in dem dieser Aufsatz
Goethes zuerst veröffentlicht wurde, waren wir in der Rekonstruktion der Gespräche
in erster Linie auf die unterschiedlich motivierten Aufzeichnungen Goethes und Schil-
lers angewiesen, von denen schon die Rede war. Mit der Veröffentlichung dieser
»Blätter« selbst und mit der Kenntnis ihres Inhalts wird unsere Kenntnis über den
Verlauf der Jenaer Gespräche auf hochwillkommene Weise ergänzt. Die weitreichen-
de Bedeutung, die dem Inhalt des Aufsatzes zukommt, macht es von vornherein
unwahrscheinlich, daß das alles in einem einzigen großen Gespräch verhandelt wor-
den ist. Worum aber geht es in dem glücklich entdeckten Aufsatz selbst?
Goethe wendet - wie Schiller in seinem Brief an Körner wörtlich übernimmt - die
»Idee: Schönheit sey Vollkommenheit mit Freyheit, auf organische Naturen« an. Die
Begriffe Schönheit in Verbindung mit Vollkommenheit und Freiheit sind solche des
Schillerschen Denkens. Aber ihre Anwendung auf organische Naturen ist nicht Goe-
thes Privileg. Das hatte Schiller seinerseits getan. Er selbst hatte damit Begriffe der
Kantischen Philosophie auf organische Naturen übertragen. Das ist im Kalliasbrief
geschehen, dessen Inhalt Körner am 23. Februar 1793 mitgeteilt worden war. Das
Demonstrationsobjekt für die Anwendung solcher Begriffe auf organische Naturen
sind im Falle Schillers die Vögel: »Unter den Thiergattungen ist das Vögelgeschlecht
der beßte Beleg meines Satzes. Ein Vogel im Flug ist die glücklichste Darstellung des
durch die Form bezwungenen Stoffs, der durch die Kraft überwundenen Schwere. Es
ist nicht unwichtig zu bemerken, daß die Fähigkeit über die Schwere zu siegen oft zum
Symbol der Freiheit gebraucht wird. Wir drücken die Freiheit der Phantasie aus,
indem wir ihm Flügel geben; wir lassen Psyche mit Schmetterlingsflügein sich über
das irdische erheben«. [12] Und Schiller fährt fort, seine philosophische Idee im Bild
organischer Naturen zu erläutern: »Offenbar ist die Schwerkraft eine Feßel für jedes
Organische, und ein Sieg über dieselbe gibt daher kein unschickliches Sinnbild der
Freiheit ab. Nun gibt es aber keine treffendere Darstellung der besiegten Schwere als
ein geflügeltes Thier, daß (!) sich aus innerem Leben (Autonomie des Organischen)
der Schwerkraft directe entgegen bestimmt. Die Schwerkraft verhält sich ohngefehr
eben so gegen die lebendige Kraft des Vogels, wie sich - bei reinen Willensbestim-
mungen - die Neigung zu der gesezgebenden Vernunft verhält«.
Hier werden Gedanken ausgesprochen, die mit einigen Veränderungen in Kleists
Aufsatz Über das Marionettentheater wiederkehren. [13] Aber das kann in diesem
Zusammenhang außer Betracht bleiben. Nicht zu übersehen aber ist die Wiederkehr
110 Programmatik und Freundschaftsbund

solcher Gedanken in Goethes Aufsatz, den er mit dem Brief vom 30. August an
Schiller übersendet. Die Gemeinsamkeit der Themen ist so auffallend, daß man mit
Recht geschlossen hat: Goethes Aufsatz über die Anwendung der Idee - Schönheit sei
Vollkommenheit mit Freiheit - setze die Kenntnis der Kalliasbriefe oder wesentlicher
Teile dieser Briefe voraus. Günter Schulz hat diese Folgerung in seinem Kommentar
gezogen: »Da Goethe in seinem Aufsatz Inhalte dieses Kalliasbriefes bereits benutzt
[... ], muß der Inhalt des Kalliasbriefes schon Thema des »großen Gesprächs« zwi-
schen dem 20. und 23. Juli 1794 gewesen sein.« [14] Mit dieser bemerkenswerten
Erweiterung unserer bisherigen Kenntnis - daß schon Ende Juli in Jena über den
Inhalt des Kalliasbriefes gesprochen worden sein muß - wird die Erklärung Harnacks
nicht in Frage gestellt, wonach es ein Gespräch gewesen sei, in dem sowohl über die
Metamorphose der Pflanzen wie über Kunst und Kunsttheorie gesprochen wurde.
Auch nach der Entdeckung des Goetheschen Beitrags wird Harnacks Version aus-
drücklich bestätigt: »Aus unserem wiedergefundenen Aufsatz läßt sich nunmehr zei-
gen, daß es sich in dem >großen Gespräch nach der folgenschweren Sitzung in der
Naturforschenden Gesellschaft in Jena< wirklich um Natur und Kunst gehandelt
hat.« [15] Die seinerzeitige Erklärung Otto Harnacks - sie wurde bereits zitiert - wird
damit übernommen. Ihr wird bescheinigt, daß sie überzeugend sei. [16] Diese Erklä-
rung zur Differenz der Berichte wird im Gegenteil bestätigt: Das tradierte »Dogma«,
daß es sich um ein Gespräch gehandelt habe, wird damit erhärtet. So hat man es
gelernt; und so hat es offenbar zu bleiben.
Es ist aber festzustellen an der Zeit, daß die Rede von dem einen großen Gespräch
eine ungenaue Rede ist und daß es zwischen dem 20. und 23. Juli wenigstens zwei
Gespräche gegeben hat. Das ist völlig unwiderlegbar. Dafür bürgt das Tagebuch
Wilhelm von Humboldts. Unter dem Datum vom 22. Juli ist vermerkt: »Abends aßen
Schillers und Goethe bei uns.« [17] Es ist völlig ausgeschlossen, daß man gelegentlich
einer solchen Einladung nur ißt und trinkt. Wenn nicht schon während des Essens, so
wird man wenigstens danach ins Gespräch miteinander gekommen sein; und mit
Gewißheit wird man auch und gerade über das gesprochen haben, was einem auf den
Nägeln brannte. Möglicherweise - aber hierüber gibt es keine Quellen und Belege -
war der Gesprächston weniger dezidiert als zwei Tage zuvor. Denn man befand sich
diesmal im geselligen Kreis, und daß man wußte, was man einer solchen Geselligkeit
in den Formen höflicher Rede schuldig war, kann kaum zweifelhaft sein. Anders als
zwei Tage zuvor auf dem Nachhauseweg und in Schillers Wohnung waren diesmal die
Damen zugegen: Schillers Gattin und Karoline von Humboldt als die Dame des
Hauses. Daß es Schillers Frau an der Fähigkeit nicht gefehlt hat, zu vermitteln und zu
verknüpfen, hat Goethe in seinem Bericht über die erste Bekanntschaft ausdrücklich
vermerkt: »seine Gattin, die ich, von ihrer Kindheit auf, zu lieben und zu schätzen
gewohnt war, trug das Ihrige bei zu dauerndem Verständnis«. Goethe fährt fort: »und
so besiegelten wir einen Bund, der ununterbrochen gedauert, und für uns und andere
manches Gute gewirkt hat.« [18] Von dieser »Besiegelung«, wenn man darin eine
Umschreibung für das »Definitive« des »klassischen« Freundschaftsbundes sehen
darf, wird in Goethes Bericht gesprochen, nachdem vom ersten Schritt - dem Ge-
spräch über die Metamorphose der Pflanzen - gesprochen worden war; und dabei
Naturforschung und deutsche Klassik 111
wird Schillers Gattin einbezogen. Die Besiegelung des Bundes als »glückliches Ereig-
nis« war also mit Gewißheit nicht eine Sache zu zweit. Hier waren mehrere beteiligt;
und neben Schillers Gattin ist Karoline von Dacheröden, seit einigen Jahren Hum-
boldts Frau, nicht zu vergessen, von der man gesagt hat, daß ihr ein leiser Zug von
Ritterlichkeit und Galanterie eigen war. [19] Die Gesprächsatmosphäre war diesmal
von vornherein eine andere. Dies alles - Schillers Gattin, die beiderseitigen Freunde
und das gemeinsame Frohsein - ist ganz unmöglich auf den ersten Gesprächsabend
ausschließlich zu beziehen. Aber im Hause Humboldts, im geselligen Kreis und im
Beisein der Damen, könnte wohl das Eis »definitiv« gebrochen worden sein. Dieses
zweite Gespräch, das aufgrund der Tagebucheintragung Humboldts keine Erfindung
des späteren Betrachters ist, erklärt nun auch mühelos die Differenz in den Berichten.
Nichts spricht gegen die Annahme, daß am ersten Abend auf dem Heimweg und in
Schillers Wohnung vornehmlich über Botanisches gesprochen worden ist, wie es von
der Veranstaltung der Naturforschenden Gesellschaft her nahelag, während man
allem Vermuten nach die Gespräche über Kunst und Kunsttheorie unter Einschluß
der in den Kalliasbriefen entwickelten Theorie des Schönen im Hause Humboldts
geführt hat. Es gibt jedenfalls in Goethes nachträglichem Bericht keinen Hinweis auf
das große Gespräch, in dem alles schon zur Sprache gekommen sei, was dann Ende
August - aber nicht eher - zur »definitiven« Begründung des Freundschaftsbundes
führte. Und dem scheint das zweite Gespräch mehr als das erste förderlich gewesen zu
sein.
Wilhelm von Humboldt wird in diesem Zusammenhang weder in Goethes Auf-
zeichnungen noch in Schillers Brief an Körner genannt. Aber indirekt ist er mitge-
meint, wenn Goethe bemerkt, daß die beiderseitigen Freunde über das dauernde
Verständnis froh waren; und auf eine ungewöhnliche Art war er selbst ein solcher
Freund: er stand beiden nahe und war mit Goethe bereits bekannt, ehe dieser seine
erste Bekanntschaft mit Schiller machte. Zu Schiller hatte sich ein reger Gedanken-
austausch seit dem Frühjahr 1794 ergeben. Schon im Februar dieses Jahres war
Humbold nach Jena übergesiedelt; und als Schiller im Mai aus seiner Heimat zurück-
kehrte, wohnte er bereits hier. »Hier in Jena erhielt ich Deinen Entschluß von Hum-
boldt«, heißt es im ersten Brief Schillers an Körner nach der Rückkehr von der Reise;
und an anderer Stelle desselben Briefes: »Humboldt ist mir eine unendlich angenehme
und zugleich nützliche Bekanntschaft; denn im Gespräch mit ihm entwickeln sich alle
meine Ideen glücklicher und schneller.« [20] Vor allem aber war er von Anfang an
wie kaum ein anderer in die Horen-Pläne eingeweiht. Daß er davon sehr eingenom-
men war, wird im Brief an Körner vom 12. Juni gesagt. Wie eingehend dieses reprä-
sentative Programm der deutschen Klassik zumal mit Humboldt besprochen worden
ist, kann nicht zweifelhaft sein. Das verrät derselbe Brief, in dem Körner zu baldigem
Besuch gebeten wird, damit sich der Zirkel schließen kann: »Ich hoffe jetzt um so
mehr, daß Ihr Euch zu der Hieherreise entschließen werdet, da Humboldts noch hier
anzutreffen sind. Humboldt ist ein vortrefflicher dritter Mann in unserem Zirkel«. [21]
Am 13. Juni wird sodann Goethe die Einladung zur Mitarbeit an der neuen Zeitschrift
übersandt, und unter den Namen derer, die für eine solche Mitarbeit schon gewonnen
sind, kann Humboldts Name nicht fehlen: »Hier in Jena haben sich die H. H. Fichte,
112 Programmatik und Freundschaftsbund

Woltmann und von Humboldt zur Herausgabe dieser Zeitschrift mit mir vereinigt«.
[22] Keiner war daher so wie Humboldt zur Vermittlung prädestiniert, wenn eine
solche denn gefordert war. Seit Dezember 1789 war er mit Goethe bekannt. Ein Jahr
danach war er in erfurtische Dienste getreten, und man muß wohl annehmen, daß er
Goethe in diesen Jahren kein Unbekannter geblieben ist. Dessen Interesse am Wer-
degang des naturwissenschaftlich hochgebildeten Bruders war nicht gering. Daß hier
also nicht nur ein Freundschaftsbund zu zweit geschlossen wurde, liegt anzunehmen
nahe. Bald danach beteiligt sich der »Geisteswissenschaftler« Wilhelm von Humboldt
an Goethes anatomischen Studien. Um die gleiche Zeit setzt der Briefwechsel ein, der
bis an Goethes Lebensende geführt wird. Einer der letzten Briefe Goethes ist an
Humboldt gerichtet. Es ist - wohl nicht ganz zufällig - einer der denkwürdigsten der
klassischen Literatur: »Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die
Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist und
geblieben ist womöglich zu steigern«. [23] Beide bewahren sie Schiller für ihr Leben
lang ihre Freundschaft und ihr freundschaftliches Andenken, wie es sich in der Her-
ausgabe ihrer Briefe bezeugt. Auch aus dieser Sicht ist der Bund der Klassik, der im
Sommer 1794 begründet wird, nicht nur ein Bund zwischen Goethe und Schiller. Er ist
wenigstens eine Freundschaft zu dritt. Fast gleichberechtigt gehört Wilhelm von Hum-
boldt zu diesem Bund. Es gibt dafür keinen eindrucksvolleren Beleg als an der Hum-
boldts gerichtete Brief Goethes vom 19. Oktober 1830: »Wie trostreich, in solchen
Augenblicken, mir Ihre unschätzbaren Blätter zu Händen kommen mußten, werden
Sie selbst empfinden und sich geneigtest aussprechen. Durch den entschiedensten
Gegensatz ward ich in jene Zeiten zurückgeführt, wo wir uns zu einer ernsten gemein-
samen Bildung verpflichtet fühlten, wo wir, mit unserm großen edlen Freund verbun-
den, dem faßlich Wahren nachstrebten«. [24]
Mit dieser Erweiterung ist nicht beabsichtigt, die persönlichen Beziehungen im
Sinne eines vorwiegend biographischen Denkens zu ergänzen. Solche Erweiterungen
sind nicht auf Humboldt zu beschränken. Ehe persönliche Verärgerung dazwischen-
trat, gehörte Herder - neben dem Kunstexperten Heinrich Meyer - zum nächsten
Freundeskreis. In der Vorgeschichte der deutschen Klassik hat er seinen festen Ort.
Ihre Humanitätsidee ist ohne den Anteil Herders nicht zu denken. Daß er sich allmäh-
lich zurückzog, hatte vorwiegend persönliche Gründe. Schiller hatte seinen eigenen
Freundeskreis, wie Goethe den seinen. Es sind nicht nur zwei Dichter, die sich im Juli
1794 die Hand zum Bunde reichen, um in steinernen Monumenten davon zu zeugen,
was einzig deutsche Klassik sei. Goethe und Schiller sind von jetzt an allenfalls die
Mitte, um die sich andere - Schriftsteller, Historiker und Philosophen - gruppieren;
und die Horen sind das gemeinsame Organ solcher Bestrebungen. Daß die folgenrei-
chen Gespräche im Juli 1794 geführt wurden und daß der Bund zustandekam, ist vom
Projekt der neuen Zeitschrift nicht zu trennen. Insofern spielen in jeder Phase dieser
Freundschaft Überlegungen hinein, die über die Motive einer nur persönlichen und
privaten Freundschaft hinausgehen. Daß es darum gehen müsse, von der Freund-
schaftslegende Abschied zu nehmen, hat vor Jahren Hans Pyritz ausgesprochen: »Die
Gemeinsamkeit reicht nicht in jene Region, wo das persönliche Leben seine eigensten
Bestimmungen erfährt und empfängt.« [25]Wenn mit einer solchen Feststellung einer
Naturforschung und deutsche Klassik 113

falschen Feierlichkeit entgegengearbeitet wird, ist es gut. Wenn damit das biographi-
sche Denken in seinem Anspruch noch gesteigert wird - »jene Region, wo das per-
sönliche Leben seine eigensten Bestimmungen [... ] empfängt«! - sieht man sich
gewarnt. Damit wird eine Freundschaft unter Schriftstellern nur abermals personali-
siert und ins bloß Private verlagert. Was die Nachwelt aber an solchen Freundschaf-
ten interessiert, ist das, was jenseits des bloß Privaten sich begeben hat. Die Zeit des
Freundschaftskults geht am Ende des 18. Jahrhunderts ohnehin zu Ende. Wieviel
Kalkül also in der Herstellung dieser epochalen Verbindung im Spiele war und in
welcher Weise sich dabei Schiller als der klug berechnende Diplomat erwies, ist eher
ein Pseudoproblem als ein wirkliches Problem. Das Unternehmen der Horen - daran
ist überhaupt nicht zu zweifeln - steht hinter der ersten Bekanntschaft, wie sie Goethe
beschreibt; sie steht mehr noch in seinem Bericht aus dem Jahre 1817: »Schiller, der
viel mehr Lebensklugheit und Lebensart hatte als ich, und mich auch wegen der
Horen, die er herauszugeben im Begriff stand, mehr anzuziehen als abzustoßen gedach-
te, erwiderte daraus als ein gebildeter Kantianer.« [26] Schließlich steht es so auch in
Goethes erstem Brief, ehe man sich persönlich traf: »Ich hoffe bald mündlich hier-
über zu sprechen.« [27] Damit sind die Horen gemeint. Man hatte also allen Grund,
nach dieser Einladung Schillers und nach der Antwort Goethes bei nächster passen-
der Gelegenheit aufeinander zuzugehen, was am 20. Juli 1794 geschah. Auch insofern
ist der »Freundschaftsbund« von der Sache her motiviert, und das Zusammentreffen
selbst ist weit entfernt, etwas bloß Zufälliges zu sein. Es ist im Gegenteil mit einem
Wort Goethes eine geistige Notwendigkeit. Man muß daher das, was in den Jenaer
Gesprächen des Jahres 1794 besprochen und beschlossen wurde, weder als reines
Kalkül noch als reine Freundschaft interpretieren, weder als ein bloß geschäftliches
Interesse, damit die Horen alsbald aufs beste florieren, noch als »interesseloses Wohl-
gefallen«, hinter dem nichts andetes zu suchen wäre, als daß man sich von nun an und
gegenseitig über alles schätzt. Was sich in jenen Tagen abspielt, in Schillers Wohnung
wie in Humboldts Haus, kann nicht besser umschrieben werden, als in dem schon
angeführten Brief Goethes an Humboldt vom 19. Oktober 1830, in dem er rückblik-
kend von der Verpflichtung »zu einer ernsten gemeinsamen Bildung« spricht; und in
der Sprache der Zeit ist Bildung nicht nur die beherrschende Idee des Zeitalters. Sie
ist erst recht eine sie alle verbindende Realität.
Es war also kein Zufall, daß man sich im Juli 1794 traf. Aber es war noch weniger
ein Zufall, daß man sich im Zeichen der Naturforschung traf. Sie scheint im Falle
Humboldts ohne jede Bedeutung zu sein. Der Tradition unserer Bildungsgeschichte
zufolge steht es unverrückbar fest, daß es in seinem Fall eine ausschließlich geisteswis-
senschaftliche Bildung war, die ihn auszeichnete. Er vor anderen ist der Philologe
unter den Freunden, derjenige zugleich, der seinerseits zu dem Altertumsforscher
Friedrich August Wolf in besten Beziehungen steht und die Verbindung zwischen
diesem und Goethe einleitet. Wenn Klassik dem Wortsinn nach mit der Antike und
ihrem Vorbildcharakter zusammenhängt, so kann Wilhelm von Humboldt mit eini-
gem Recht als der vielleicht tätigste Vertreter einer solchen Klassik angesehen wer-
den. Was Humboldt am Griechentum interessiert - aber dies ist durchaus Gemeinbe-
sitz der Weimarer Klassik - ist der ganze Mensch gegenüber allen vereinzelten Kräften
114 Programmatik und Freundschaftsbund

seiner Erscheinung. Der Brief an Friedrich August Wolf vom 1. Dezember 1792
bringt das programmatisch zum Ausdruck: »Es gibt außer allen einzelnen Studien und
Ausbildungen des Menschen noch eine ganz eigne, welche gleichsam den ganzen
Menschen zusammenknüpft [... ] Diese Ausbildung nimmt nach und nach mehr ab,
und war in sehr hohem Grade unter den Griechen.« [28] Dennoch ist der vielseitig
interessierte Privatgelehrte, als der Humboldt damals in Jena lebte, nicht auf einen
derart engen Begriff von Geisteswissenschaft festzulegen. Zur Naturforschung stand
er in vielfältigem Kontakt, nicht zuletzt durch den jüngeren Bruder, der bald einer der
angesehensten Naturforscher seines Zeitalters wurde. In diesem Zusammenhang ist
auch daran zu erinnern, daß Bildung als Schlüssel begriff der Zeit ein betont naturwis-
senschaftlicher Begriff war, ehe er zur »Allgemeinbildung« des 19. Jahrhunderts ver-
flachte. Mit Bildung ist in der Gedankenwelt dieser Klassik vorzüglich die Bildung
organischer Naturen gemeint - das, was sich gemäß dem innewohnenden Bildungs-
trieb vom Keim zur Frucht entwickelt. Es ist daher von der Zeitlage her in jeder
Hinsicht einleuchtend, wenn sich der kundige Altphilologe und angesehene Sprach-
forscher in jenen Jahren nicht nur theoretisch mit organischen Naturen befaßt, son-
dern sich auch praktisch in die Grundfragen der Anatomie einführen läßt. Kaum daß
der Jenaer Freundschaftsbund »besiegelt« wurde, werden Goethe wie Humboldt
nach dieser Seite hin tätig. In das Jahr 1794 hat Goethe in den Tag- und Jahresheften
solche gemeinsame Studien datiert: »Alexander von Humboldt, längst erwartet, von
Bayreuth ankommend, nötigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft. Sein
älterer Bruder, gleichfalls in Jena gegenwärtig, ein klares Interesse nach allen Seiten
hin richtend, teilte Streben, Forschen und Unterricht.« [29] Justus Christian Loder las
damals Bänderlehre - »den höchst wichtigen Teil der Anatomie« - und Goethe merkt
an, daß dieses Gebiet im akademischen Unterricht arg vernachlässigt worden sei.
Aber daß es sich dabei nicht einfach um singuläre Erkenntnisinteressen gehandelt
hat, bestätigt eindrucksvoll der folgende Passus dieser Niederschrift: »Wir Genann-
ten, mit Freund Meyern, wandelten des Morgens im tiefsten Schnee, um in einem fast
leeren anatomischen Auditorium diese wichtige Verknüpfung aufs deutlichste nach
den genannten Präparaten vorgetragen zu sehen.« [29] So eng hat man sich in dieser
Klassik die Verbindung von »Geisteswissenschaft« und Naturforschung, von Natur
und Kunst zu denken! Das eine wie das andere geht alle an, Freund Meyer, den
»Kunstmeyer«, nicht ausgenommen. Und in welchem Maße sich der Bildungsbegriff
mit der Naturforschung der Epoche im Einklang befindet, bestätigt Goethes beiläufi-
ge Erwähnung Loders in den Schriften zur Morphologie: »Später konnte ich mich, bei
meinem öftern und längern Aufenthalt in Jena, durch die unermüdliche Belehrungs-
gabe Loders, gar bald einiger Einsicht in tierische und menschliche Bildung erfreu-
en.« [30] Daß man sich in dieser Zeit Wilhelm von Humboldt nicht bloß als einen
passiven Rezipienten von anatomischen Vorlesungen denken darf, geht aus einem
Brief an Goethe hervor. So sehr nimmt die Anatomie ihn in jener Zeit in Anspruch,
daß er erwägen kann, eine Monographie über das Keilbein zustande zu bringen. Er
läßt dabei seinen Briefpartner nicht im Unklaren, was er diesem selbst verdankt: »ich
kann es Ihnen nicht beschreiben, welche Freude Sie mir durch die Erlaubniß gemacht
haben, Ihnen auf Ihrem Gange folgen zu dürfen.« [31]
Naturforschung und deutsche Klassik 115

Solcher Studien bedurfte es im Falle Schillers nicht. Er hatte sie als Student der
Medizin und als ehemaliger Regimentsmedicus längst hinter sich. Man darf anneh-
men, daß er mitreden konnte, wenn von Bildung organischer Naturen oder anderen
Gegenständen der Naturforschung die Rede war, und Naturwissenschaft war in Hof-
kreisen beliebt. »Alles mineralogisierte, selbst die Damen fanden in den Steinen
einen hohen Sinn und legten sich Cabinette an«, weiß Karl August Böttiger zu berich-
ten, der es ja wissen muß. [32] Naturforschung war ein allseits geschätztes Gesprächs-
thema, und so kann es leicht und mühelos mit anderen Themen verknüpft werden,
wie es offensichtlich in den Jenaer Gesprächen geschehen ist. Das bestätigt auch
Schillers Brief an Körner vom 1. September, der die organische Natur mit der Theo-
rie des Schönen in Verbindung bringt. Doch hatte er solche Verknüpfungen von
Kunst und Natur bereits in den Kalliasbriefen vorgenommen; und hier ist es, wie
schon bemerkt, der Flug der Vögel, der zu besserer Anschaulichkeit von Thesen und
Theorien herangezogen wird. Für seine von Kant beeinflußte Denkweise ist der Um-
stand bezeichnend, daß ihm Organisches als »Autonomie des Organischen« wichtig
ist. Zweifellos ist Goethe in diesem Freundeskreis derjenige, dem die Naturforschung
über alles geht. Aber sie ist nicht ausschließlich nur seine Sache, sondern ein integra-
ler Bestandteil dessen, was man Klassik nennt.
Erhellend in diesem Zusammenhang sind auch die Motive, die zur Gründung der
Naturforschenden Gesellschaft führten. Sie wurde am 14. Juli 1793 - am Jahrestag
der Stürmung der Bastille - gegründet. [33] Das ist ohne Frage ein symbolisches
Datum. Aber diese »Symbolik« ist ambivalent. Sie könnte auf ein Zusammengehen
von Revolution und moderner Naturwissenschaft schließen lassen, wie es vielfach
bezeugt ist, so unter anderem in der Person des Arztes Marat, der einer der führenden
Revolutionäre war. Aber man kann auch anders interpretieren, und diese »Lesart«
dürfte dem Selbstverständnis der Klassik näher sein: daß der Revolution eine Evolu-
tion entgegengesetzt wird; und mit Evolution - mit Entwicklung, Bildung und il~
dung - haben es vornehmlich die Naturwissenschaftler zu tun. Indem der Naturfor-
schung unter dem Eindruck der Zeitereignisse ein solcher Wert zuerkannt wird, wird
sie selbst ein Bildungswert, ehe die klassisch philologische Bildung ihr »Alleinvertre-
tungsrecht« im 19. Jahrhundert geltend machte. Die eindringende Befassung mit dem
klassischen Altertum war in der Zeit der deutschen Klassik ein Bildungswert kat'exo-
ehen. Aber die Beschäftigung mit Naturforschung stand dem nicht entgegen. Grie-
chentum und Goethezeit, die man gern als unlösbare Einheit versteht, schließen -
auch bei Humboldt - Naturforschung als einen Bestandteil dieser Bildung ein. Es zeugt
von der Einsinnigkeit unseres Denkens, wie sie zur Tradition gehört, daß man diese
Bindung nur als eine solche der »Geisteswissenschaften« untereinander auffaßt, ge-
wissermaßen aus dem späteren Blickwinkel Wilhelm Diltheys. Das Kapitel über Wil-
helm von Humboldt in Walther Rehms bekanntem Buch bestätigt eine solche aus-
schließlich geisteswissenschaftliche Darstellung. [34] Es ist bei Hans Pyritz nicht an-
ders: in der Beschreibung des Freundschaftsbundes wird der Anteil der Naturfor-
schung nirgends erwähnt. Da die Bereiche aber nicht beziehungslos zueinander existie-
ren, ist der Punkt ausfindig zu machen, an dem sich klassische Philologie und Natur-
forschung treffen. Der »Dilettantismus« des universal gebildeten Menschen, dem es
116 Programmatik und Freundschaftsbund

an Muße nicht fehlt, sich möglichst mit allen Künsten und Wissenschaften zu befassen,
erklärt das solcherart Zusammengehörende noch nicht. Es ist im Grunde ein ver-
wandter Bildungswert, den man im Griechentum ebenso wie in der Naturforschung
wahrnimmt, wobei man hoffen durfte, eben dadurch das Schrecknis dieses Ereignis-
ses desto besser zu »gewältigen«. Der humane Sinn in der Sicht der entstehenden
Klassik verbindet beides. Man kann das der Rede des Botanikers August earl Batsch
entnehmen, die er 1793 anläßlich der Gründung der Naturforschenden Gesellschaft in
Jena hielt. »Menschlichkeit« - wie in der Iphigenie, so scheint es - sei der Zweck
dieser Gesellschaft. Damit wird an Fortschritt erinnert, wie er sich aus dem Geist der
Aufklärung versteht. Von den Studierenden wird erwartet, heißt es im Fortgang der
Rede, daß sie »künftig den Tempel der Wissenschaft, diesen unaufhörlichen Bau,
erweitern«; und dies alles sollte geschehen, damit die »unverletzbarste Göttin, die
Vernunft« verehrt werde. [35] Da scheint vom Wortschatz her kein Unterschied zur.
Gedankenwelt der Französischen Revolution zu bestehen. Deutlicher kann die Über-
einstimmung kaum bezeichnet werden, als es hier geschieht; und es kann ja auch kaum
zweifelhaft sein, wie viele Ideen der europäischen Aufklärung in das Ereignis von
1789 eingegangen sind und dieses erst ermöglicht haben. Dennoch trennen sich seit
1793 die bis dahin gemeinsamen Wege. Die entstehende Klassik ist der epochale
Ausdruck einer solchen Trennung - um einer zu erneuernden Humanitas willen, die
sich mit den Hinrichtungen nicht einverstanden zu erklären vermag, ohne deshalb das
bestehende ancien regime zu sanktionieren. Die Enttäuschung an der Revolution, bei
manchen Übereinstimmungen mit einigen ihrer Forderungen, wirkt stilbildend. Sie
ist ein konstituierender Faktor desjenigen Stilwande1s, den wir als deutsche Klassik
bezeichnen. Auch die Naturforschung erhält dabei einen veränderten Sinn. Sie darf
gerade nicht als ein isolierter Bereich verstanden werden; ebenso wenig ist sie als eine
Tätigkeit der Geisteskräfte zu verstehen, die das Vereinzelte im Menschen fördern.
Mit anderen Worten: sie soll verbinden, nicht trennen. Aus solcher Sicht hatten sich
in Goethes Vorstellungen schon in Italien Natur, Kunst und Gesellschaft zu einer
Einheit zusammengeschlossen, in der es über alle Gegensätze des Zeitalters hinweg
um ein Drittes geht. An der italienischen Volkskomödie war es ihm aufgegangen, was
zugleich verständlich macht, daß er die Auseinandersetzung mit der Revolution so
lange im Umkreis dieser Gattung glaubte suchen zu sollen. »Das dritte, was mich
beschäftigte, waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusam-
mentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung
und Widerstand ein Drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides
zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschli-
che Gesellschaft.« [36]
Die Richtung auf ein Drittes hin ist in den Denkformen der Zeit stets die Richtung
auf ein Ganzes. Gefordert wird Synthese. Auf eigentlich allen Gebieten ist man der
Zersplitterung und Vereinzelung entgegenzuarbeiten bestrebt. Totalität wird zum
Schlüsselwort der Epoche; und die Naturforschung ist dabei in dem Maße geschätzt,
als sie solcher Totalität förderlich ist. Das hört sich seltsam an, wenn man bedenkt,
daß sich die moderne Naturwissenschaft in Richtung auf eine Exaktheit hin entwik-
kelt, die sich im Prinzip der Analyse bezeugt. Aber gerade ihr wird im Umkreis der
Naturforschung und deutsche Klassik 117

deutschen Klassik mißtraut. Fast ängstlich geht man ihr aus dem Weg, als sei sie etwas
Schädliches und Verwerfliches. In einem autobiographischen Rückblick innerhalb
der Geschichte seiner botanischen Studien führte Goethe aus: »auch im Analysieren
gewann ich etwas mehr Fertigkeit, doch ohne bedeutenden Erfolg; Trennen und
Zählen lag nicht in meiner Natur.« [37] Der Widerspruch ist evident: ohne gewisse
Fertigkeiten im Analysieren kommt man nicht aus, aber Analyse soll, wenn irgend
möglich, nicht betrieben werden. Eine solche Denkweise ist vorzüglich Goethes Ei-
gentum. Aber zunehmend erhält sie einen epochalen Sinn - den Sinn nämlich, daß
man die Natur nicht auf eine zerstückelte Art behandeln dürfe. [38] Daß solche
Erkenntnisinteressen und Denkformen den Verlauf der Jenaer Gespräche im Som-
mer 1794 bestimmt haben, hält Goethes nachträgliche Aufzeichnung aufs genaueste
fest. Es müsse doch wohl noch eine andere Weise geben, will er damals erwidert
haben, »die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend
und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen.« Ähnlich hatte
Goethe im Frühjahr 1794 an den Gründer der Naturforschenden Gesellschaft ge-
schrieben: »Wie können wir die Teile eines organisierten Wesens und ihre Wirkungen
entwickeln und begreifen, wenn wir es nicht als ein durch sich und um sein selbstwil-
len bestehendes Ganzes beobachten.« [39] Das sind Ausführungen aus der Zeit vor
den entscheidenden Gesprächen mit Schiller. Aber bei diesem deutet sich Verwand-
tes um dieselbe Zeit an. Ein auf Autonomie gerichtetes Denken macht sich bemerk-
bar; und Autonomie meint dabei vor allem die Autonomie organischer Gebilde. Sie
ist nur die andere Umschreibung eines solcherart auf die Totalität gerichteten Den-
kens; denn Autonomie ist nichts anderes als die Selbstbestimmung dessen, was sich
als eine wie immer beschaffene Ganzheit darstellt. Hier zeichnet sich Entgegenkom-
men von vornherein ab, sofern Autonomie und Totalität aufeinander bezogen sind.
Die Kalliasbriefe aber waren in diesem Punkt zur Vermittlung wie geschaffen. Als
man sich am Abend nach der Veranstaltung der Naturforschenden Gesellschaft traf,
erschien der Gegensatz zwischen Kantischer Philosophie und Goethescher Naturbe-
trachtung noch weithin unüberbrückt. An eben diesem Tage, wenn es berechtigt ist,
am 20. Juli als dem Tag des ersten Zusammentreffens festzuhalten, hatte sich Schiller
erneut in Kants Philosophie vertieft. Der Brief an Körner gibt darüber Auskunft:
»Das Studium Kants ist noch immer das einzige was ich anhaltend treibe, und ich
merke doch endlich, daß es heller in mir wird.« [40] Die Bezeichnung der Metamor-
phose der Pflanzen als einer bloßen Idee hatte Goethe ganz so - nämlich unvermittelt
zu seinem eigenen Denken - aufgenommen. Die Kalliasbriefe konnten ihn nunmehr
eines besseren belehren. Denn auch Schiller ging es mit der Autonomie um »Organi-
sches« und mithin um Totalität. Auch ihm war das Zerstückelte der Stein des Ansto-
ßes, der da zu beseitigen war. Er hatte sich in diesem Punkt schon deutlich erklärt; so
vor allem in der Rezension der Gedichte Bürgers: »Bei der Vereinzelung und getrenn-
ten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte [... ] ist es die Dichtkunst beinahe allein, wel-
che die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt [... ] welche gleich-
sam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt«. [41]
Im großen Brief an den Herzog von Augustenburg vom 13. Juni 1793 nimmt Schil-
ler diesen Gedanken wieder auf, aber nunmehr mit unmißverständlicher Wendung
118 Programmatik und Freundschaftsbund

gegen den Verlauf der Revolution. Alle Reformen, die Bestand haben sollen, so
wendet er ein, müssen von der Denkungart ausgehen; und die damit gemeinte Den-
kungsart kann in seiner Auffassung nur eine solche sein, die dem Zerstückelten und
Vereinzelten entgegenwirkt. Die einseitige Rede von Vernunft und ihrer Erhöhung
zur Göttin ist einseitige Rationalität. Diese Kultur, als diejenige der Aufklärung, sei
eine »bloß theoretische Kultur«. Es leuchtet ein, daß zur Überwindung einer derart
theoretischen Kultur diejenige Naturforschung willkommen ist, die sich nicht im
Zergliedern erschöpft, sondern aufs Ganze hin denkt. Hier ist der Punkt des beider-
seitigen Entgegenkommens zu sehen, den Schiller im Fortgang des nunmehr schriftli-
chen Gesprächs wiederholt berührt. Im Brief vom 23. August rühmt er an Goethe die
»richtige Intuition« gegenüber der mühsamen Analyse. Auch für Schiller ist Wissen
mit Scheiden verknüpft, über das man aber hinauszudenken habe: »Diese [die Phi-
losophie] kann bloß zergliedern [... ] aber das Geben selbst ist nicht die Sache des
Analytikers.« An Goethe rühmt er dessen Blick für das Ganze. Aber zugleich nennt er
damit auch das; was ihm selbst das Wichtigste ist: ein auf Totalität gerichtetes Den-
ken. Man kann Goethes Blick, »der so klar auf den Dingen ruht«, seinem ausgepräg-
ten Sinn für Objektivität zuschreiben; und man kann Schillers Interesse an Freiheit
und Selbstwillen subjektbetont nennen, so daß Goethe ihr Zusammenfinden als den
»vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen Objekt und Subjekt« inter-
pretiert. Aber die Gemeinsamkeit, die das Entgegenkommen erlaubte, liegt in dem,
was sich aller Trennung und Vereinzelung widersetzt. Weshalb es denn auch be-
stimmte Naturwissenschaften sind, die man vor anderen schätzt: die Morphologie,
die Botanik, die Anatomie und wo sonst noch organische Naturen in Frage stehen.
Die Abneigung gegenüber Analysen jeder Art nimmt im Fortgang des gemeinsa-
men Wirkens Formen an, die etwas Bedenkliches haben - als sei da eine »Ideologie«
des Organischen und der Totalität im Verzug. An Alexander von Humboldt tadelt
Schiller 1797 den nackten und schneidenden Verstand und plädiert für eine merkwür-
dig irrationale Einstellung zur Natur: sie müsse »angeschaut und empfunden« werden.
[43] Hier ist denn wohl zu fragen, ob wir es an der Schwelle zum neuen Jahrhundert,
das den exakten Naturwissenschaften gehören wird, nicht mit einem Anachronismus
zu tun haben, der in Hinsicht auf den geistigen Rang dieser Kultur etwas eigentümlich
Rückständiges zu haben scheint. In Frankreich kann sich die auf Messen, Zählen und
Analyse angewiesene Naturwissenschaft ohne Rückschläge entfalten. Aus der Sicht
einer vornehmlich am Erkenntnisprogreß orientierten Wissenschaftsgeschichte er-
scheint die Naturforschung der Weimarer Klassik dagegen eher überholt und regres-
siv. Dennoch haben sich unbeschadet des Siegeszuges, den die exakte Naturwissen-
schaft im 19. Jahrhundert antritt, die Probleme nicht erledigt, von denen sich die
Dichter und Denker in der Zeit der Klassik unablässig bedrängt fühlten. Der Fort-
gang der Wissenschaft gibt denen recht, die auf Analyse, Empirie und mathematisier-
bare Beweise insistierten. Aber die »Dichter« unter den Naturforschern werden des-
halb nicht eindeutig und ein für allemal ins Unrecht gesetzt. Analyse, Detail und
Spezialistentum sind so unerläßlich wie das vielfach nicht beweisbare Denken auf
Zusammenhänge und Synthesen hin. Ein Grund mehr, die Aporie einer jeden Wis-
senschaft ernst zu nehmen, daß das Wägbare und Unwägbare Bestandteile derselben
Sache sind und sich die Probleme nicht erledigt haben, wenn alles »nur« bewiesen ist.
3. Goethes Gedicht »Die Braut von Korinth«
Zum Balladenjahr der deutschen Klassik

Goethes Ballade Die Braut von Karinth ist ein Gedicht der deutschen Klassik. Sie
ist 1797 entstanden - in jenem Jahr, das man wegen des bevorzugten Interesses für die
Poetik der Ballade das Balladenjahr nennt. Als Ideenballaden pflegt man diese Ge-
dichte Goethes und Schillers zu bezeichnen. Aber damit werden poetische Texte auf
einen Begriff gebracht, der sehr Verschiedenartiges umfaßt. Die Braut von Karinth ist
eines der merkwürdigsten Gedichte dieser Gruppe. Seine »Klassizität« ist nicht auf
den ersten Blick erkennbar, wenn dabei an hohen Stil, Würde und Feierlichkeit
gedacht wird. Zwar ermangelt es solcher Stilmerkmale nicht völlig; seine Kunstbe-
wußtheit hat man im Gegenteil wiederholt bewundert und gerühmt. Dennoch hat der
behandelte Stoff zahlreiche Leser und Interpreten eher befremdet als angesprochen,
wie es die Geschichte seiner Rezeption bezeugt. Diese befremdlichen Züge sind zum
Teil dem Gattungscharakter der Ballade zuzuschreiben; denn das Magische, Numino-
se und Geisterhafte ist ihr wenigstens seit Bürgers Lenore gemäß. Aber bei der
Verwendung solcher Motive beläßt es Goethe ja nicht. Man sieht sich noch auf
anderes verwiesen. Sein Gedicht Die Braut von Korinth ist ein vampyrisches Gedicht,
wie er es selbst genannt hat. Vampyrsagen handeln nach altem Volksglauben von
Verstorbenen, die nachts ihrem Grab entsteigen, um Lebenden das Blut aus den
Adern zu saugen - wie es in unserem Gedicht geschildert wird. Eine Literatur, die sich
mit solchen Stoffen befaßt, ist nicht gerade das, was man sich herkömmlicherweise
unter klassischer Literatur vorstellt. Sie scheint weit mehr jenen Schriften benachbart
zu sein, die man Trivialliteratur nennt. Aber anderes kommt hinzu, an dem manche
Anstoß nehmen oder genommen haben. Die Zusammenkunft zwischen Braut und
Bräutigam - eine »richtige« Vermählung ist es ja nicht - wird mit einer Freizügigkeit
wiedergegeben; die über das noch hinausgeht, was sich Goethe in den Römischen
Elegien erlaubte. Des »Liebesstammelns Raserei« dringt bis nach außen, so daß die
Mutter unbeweglich vor der Türe verharrt, weil sie sich erst einmal von dem überzeu-
gen muß, was da vor sich geht. Zeitgenössische Zeugnisse sprechen neben »Entwei-
hungen des Christentums« von »ekelhaften Bordellszenen«; die gebotene Dezenz sa-
hen manche verletzt. Dennoch sprechen dieselben Zeugnisse auch davon, daß andere
Leser Goethes Gedicht für das vollendetste seiner kleineren Kunstwerke gehalten
hätten. Ein Text, der solcherart die Geister scheidet, kann kein beliebiger Text sein.
120 Programmatik und Freundschaftsbund

Gespenstermotive, Geistererscheinungen und Vampyrsagen haben unmittelbar mit


Geschichte und Gesellschaft wenig zu tun, und die Frage nach dem geschichtlichen
Ort wird durch ihre Teilhabe am Gedicht nicht erleichtert, sondern erschwert.
Gleichwohl gibt es in Goethes Ballade Geschichtliches in mehrfacher Hinsicht. In
gewissen Grenzen haben wir es mit einer historischen Ballade zu tun. Die Handlung
spielt in der Zeit der ausgehenden Antike und des beginnenden Christentums. Auf
diese Zeit verweist auch die Quelle: eine zur Zeit Hadrians aufgezeichnete Geschichte
des Phlegon von Tralles, die ein Schriftsteller des 17. Jahrhunderts (Johannes Praeto-
rius) in seinem Geschichtenbuch nacherzählt hatte. Auf diese geschichtliche Zeit
spielen die Verse der zweiten Strophe an:
»Er ist noch ein Heide mit den Seinen,
Und sie sind schon Christen und getauft.«
Wir haben es mit einer Zeit des Übergangs, mit einer Zeitwende zu tun, und es sind
mit den Worten des Erzählers vornehmlich solche Zeiten, in denen blinder Eifer und
Dogmatismus ins Kraut schießen:
»Keimt ein Glaube neu,
Wird oft Lieb und Treu
Wie ein böses Unkraut ausgerauft.«
Zeitwende ist ein der Klassik Goethes geläufiges Motiv, und mit gutem Grund hat
man das Märchen, das den Zyklus der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
beschließt, eine Dichtung der Zeitwende genannt. Doch erhält das Motiv in der Braut
von Korinth einen von Grund auf veränderten Sinn. Nicht das erneuerte Leben im
Strom des geschichtlichen Wandels, wie in den Unterhaltungen, ist hier das Positivum,
auf das es ankommt; vielmehr hat das Neue in der Gestalt des Christentums eine
gegenteilige Bedeutung: als etwas, das durch den Eifer, der mit dem neuen Glauben
einhergeht, der Menschlichkeit des Menschen abträglich ist. Solche Zeiten des Über-
gangs erzeugen Gegensätze und Gegnerschaft, und in dem weltanschaulichen Dualis-
mus von antiker Sinnenfreude und christlicher Askese hat man gern die »Grundidee«
dieses Gedichts erkennen wollen. In der Tat ist ein solcher Dualismus nicht zu überse-
hen; Korinth und Athen sind diejenigen Städte der Spätantike, die ihn schon mit den
ersten Versen des Gedichts ankündigen. Doch ist über seine Bedeutung und Funktion
kaum zu sprechen, ehe man nicht zuvor über die Handlung gesprochen hat.
Ein Mädchen aus christlicher Familie wird einem noch heidnischen Jüngling ver-
sprochen. Aber diese Pläne der Väter werden von der Mutter des Mädchens durch-
kreuzt. Wider den Willen der Tochter wird diese in eine stille Klause gebracht, doch
wohl in ein Kloster, wie wir annehmen sollen. Das ist deshalb geschehen, weil sich die
Mutter an ein nach einer Krankheit geschworenes Gelübde gebunden fühlt. Als der
Jüngling eines Tages in Korinth eintrifft, wird er aufs freundlichste aufgenommen.
Man hat vor, ihn mit einer Schwester der versprochenen Braut zu verbinden - bis
diese selbst zu geisterhafter Stunde im Gastzimmer erscheint. Erst im Fortgang der
Erzählung erfahren wir, daß es sich um eine Tote handelt, um eine Wiedergängerin,
die es zum Leben zurückdrängt, weil es ihr vorenthalten wurde. Sie zögert anfangs, sich
hinzugeben, bis sie schließlich dem Drängen des Jünglings nachgibt und sich dem
Goethes Gedicht Die Braut von Karinth 121

Liebesspiel überläßt. Die Vereinigung vollzieht sich ganz im Zeichen antiker Sinnen-
freude, die sich darin äußert, daß sich der Athener auf die alten Götter beruft. Die
christliche Glaubenswelt gerät in Vergessenheit, und in der Gestalt der Mutter steht
sie schließlich vor Gericht, in dem die Tochter das Wort führt. Ihre Rede ist Anklage,
die in Abrechnung übergeht. Mit dem erbetenen Feuertod - von Versöhnung rede
man nicht! - eilen beide den alten Göttern zu, wie es heißt. Daß das Mädchen im
Verlauf der Liebesnacht zur Vampyrin wird, ist der tragische Vorgang, der den Tod
des Jünglings zur Folge hat. Was geschieht, wird als Rache der Götter verstanden,
obgleich es hierfür direkte Hinweise im Gedicht nicht gibt. Daß der Triumph dieser
Götter der Zielpunkt des Gedichtes sei, ist keineswegs als erwiesen anzusehen. Es ist
nicht auszuschließen, daß der Feuertod von dem Mädchen aus Verzweiflung erbeten
wird, hatte sie doch schon zuvor der Mutter fragend entgegengehalten:
»Ihr vertreibt mich von dem warmen Orte,
Bin ich zur Verzweiflung nur erwacht?«
Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung der religiösen Gegensätze erneut.
Aber daß Goethe sein Erlebnis der Antike in diesem Gedicht gegen Christentum und
christliche Askese habe ausspielen wollen, ist eine bestreitbare Deutung. Die Idee
der Entsagung, die ihm seit der Französischen Revolution so wichtig wird, steht dem
Gedanken christlicher Askese nicht völlig fern, und auf die christliche Herkunft der
Entsagung hat man wiederholt aufmerksam gemacht. Doch macht auch der Hand-
lungsablauf des Gedichts diesen Gegensatz eher zum Nebenmotiv als zum Mittelpunkt,
in dem alle Fäden zusammenlaufen. Einer Vermählung des Jünglings mit der zweiten
Tochter steht auch in der Auffassung der Mutter nichts entgegen. Auch für sie sind
Gegensätze des Glaubens keine unüberwindlichen Hindernisse. Schließlich gibt es
Verbindendes zwischen beiden Familien. Hier wie dort werden Gelübde abgelegt;
hier wie dort wird geschworen, und zumal in diesem Motivbereich hat das bewegende
Gedicht - im Gegensatz zu den Quellen - seinen Mittelpunkt. Es handelt sich zunächst
um einen Schwur der Väter, von dem in der ersten Strophe gesagt wird:
»Beide Väter waren gastverwandt,
Hatten frühe schon,
Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam voraus genannt.«
Damit steht eine Lebenspraxis zur Diskussion, die in vermutlich allen Kulturkreisen
in bestimmten Formen nachweisbar ist: daß die Eltern hinsichtlich der Gattenwahl
ihrer Kinder diejenigen Verfügungen treffen, die sie für richtig halten. Zwischen
christlicher und nichtchristlicher Kultur gibt es in dieser Frage keine grundsätzlichen
Unterschiede. Auch in unserem Gedicht gibt es sie nicht; denn es sind die Väter aus
beiden Kulturkreisen, die sich in diesem Punkt schon einig geworden sind. Aber
damit werden Sitten und Gebräuche nicht einfach sanktioniert. Die Kritik des Erzäh-
lers gilt indirekt auch dem Verhalten der Väter. Doch gewinnt sie gegenüber dem
Tun und Denken der Mutter unverkennbar an Schärfe. Denn hier werden nicht nur
über eine Gattenwahl Verfügungen getroffen, sondern über die Natur des Menschen
einschließlich seiner geschlechtlichen Natur in einem weiteren Sinn. Hier wird Askese
122 Programmatik und Freundschaftsbund

nicht aus freiem Antrieb gewählt. Sie wird verfügt, indem man Triebe ohne Einver-
ständnis des Betroffenen unterdrückt. Indem sich Goethes Gedicht gegen eine solche
Verfügungsgewalt richtet, werden nicht das Christentum oder seine Theologie in
Frage gestellt, auch nicht Zölibat oder Askese schlechthin, wohl aber eine mit dem
Christentum verbreitete Lebenspraxis, ein frommer Eifer, der darin beruht, daß man
ein Kind der Familie - oder auch mehrere Kinder - dem Priesterstand oder dem
Klosterleben »weiht«, daß man sie hierfür vorbestimmt. Dieser Brauch - kein from-
mer Brauch! - mag heute im Schwinden begriffen sein. In jedem Fall ist damit ein
Denkprozeß bezeichnet, in den das Gedicht auf seine Weise hineinleuchtet. Der Ge-
spensterapparat wird diesem Gedankengang untergeordnet. Der kranke Wahn der
Mutter, die Natur unterdrückt, setzt einen Mechanismus in Gang, der gespenstische
Formen annimmt. Das Spukhafte solcher Erscheinungen ist nur die Folge der verge-
waltigten Natur.
Der Schwur der Väter und der Schwur der Mutter haben bei allen Unterschieden
etwas Gemeinsames. Sie haben gemeinsam, daß mit ihnen über andere Menschen
verfügt wird. Das Verhalten der Mutter zeigt nur im Extrem, was sich auch sonst zeigt:
daß man mit dem Ablegen eines Gelübdes nicht so sehr eigene Opfer zu bringen
bereit ist, sondern hierfür andere Menschen benutzt - und seien es die eigenen Kin-
der, oder gerade sie, wenn man an alte Opferbräuche denkt, von denen das Alte
Testament berichtet. Damit sieht man sich auf einen Begriff verwiesen, der nicht von
ungefähr in unser Gedicht gelangt ist: auf denjenigen des Menschenopfers. Man
meint Goethe als Erzähler der Ballade selbst zu hören, wenn er das Mädchen aus
Korinth sagen läßt:

»Opfer fallen hier


Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört.«

Hier werden nicht Tiere geopfert, wie es auch christlichen Kulthandlungen ent-
spricht. Es geht um Menschenopfer, über die wir uns entrüsten sollen - um ein Motiv,
das uns aus Goethes Klassik vertraut ist. Die Umfunktionierung des Mythos, um mit
Thomas Mann zu sprechen, beruht in der Iphigenie darin, daß Menschenopfer abge-
schafft werden; und es ist in erster Linie der taurischen Priesterin zu danken, daß es
geschieht. Mit diesem Ziel verfolgt das klassische Drama im antiken Gewand eine
eindeutig christliche Tendenz; denn die Abschaffung von Menschenopfern ist eine
zentrale Idee auch der christlichen Botschaft. Dagegen hat der Opfertod Christi einen
anderen Sinn: er ist Opfer für andere, nicht Opfer anderer Menschen wie hier. Daß es
aber eine christliche Mutter ist, der die Tochter in jener nächtlichen Stunde
Menschenopfer zum Vorwurf macht, betrifft das eigentlich unerhörte Ereignis des
Gedichts: »Menschenopfer unerhört«. Doch muß man wissen, wovon man spricht.
Hier wird ja nicht geschlachtet, und blutige Hände macht man sich nicht. Es handelt
sich um Menschenopfer im übertragenen Sinn. Gleichwohl ist es gerade diese Über-
tragung, auf die es ankommt. Sie ergibt sich folgerichtig aus dem Denkprozeß, von
dem schon die Rede war - einem Prozeß der Humanisierung. Menschenopfer, das
sind im vertieften Verständnis unseres Gedichts nicht mehr nur diejenigen, die man
Goethes Gedicht Die Braut von Korinth 123

auf den Opfertisch legt. Es sind jene nicht minder, über die man ohne Rücksicht auf
ihre Natur verfügt, indem man sie als Mittel zu eigenen Zwecken benutzt. In solchen
Fragen sind die Dichter der deutschen Klassik und die Denker des philosophischen
Idealismus Weggenossen derselben Zeit. Selbstbestimmung und Autonomie sind
Schlüsselbegriffe ihres Denkens; und daß der Mensch den Menschen niemals als
Mittel benutzen dürfe, hatte Kant seinen Zeitgenossen in seiner Schrift Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten eingeschärft: »Der Mensch aber ist keine Sache, mithin
nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen
Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über
den Menschen in meiner Person nichts disponieren.« In der Kritik der praktischen
Vernunft werden diese Probleme wiederaufgenommen und als moralisches Gesetz
bezeichnet, das heilig und unverletzlich sei. Hier auch findet sich der Begriff der
Autonomie. Daß kein Mensch einer Absicht zu unterwerfen sei, die nicht aus dem
Willen des leidenden Subjekts entspringe, liest sich wie ein Kommentar zu Goethes
Ballade. Auch Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen, zwei Jahre nach Veröf-
fentlichung der Braut von Korinth erschienen, ist in diesem Zusammenhang zu nen-
nen. Unser Gedicht ist mithin alles andere als ein zeitloses Gedicht im Sinne jener
Klassik, die es nicht gibt. Es steht im Kontext seiner Zeit und ist nur aus ihm heraus zu
erläutern.
Doch soll damit Goethes Gedicht keineswegs auf die Positionen des philosophi-
schen Idealismus festgelegt werden. Es geht seine eigenen Wege, und den ~
zeß der Humanisierung, den es beschreibt, hätte man damit nur unzureichend erfaßt.
Schon gegenüber der Iphigenie geht es in der Braut von Korinth um eine Idee von
Humanität im erweiterten Sinn. Die Priesterin von Tauris wahrt ihre Hoheit und
Erhabenheit im Drama als einer Dichtungsart der hohen und klassischen Literatur.
Von Menschenopfern wird im Dialog »gehandelt«, aber vollzogen werden sie nicht. In
die Ballade mischt sich in mehrfacher Hinsicht »Niederes« ein, und die Rede vom
Menschenopfer steht hier im Vollzug eines vampyrischen Gedichts. Dem »Niederen«
des Vampyrischen entspricht das »Niedere« einer indischen Bajadere in der zeitlich
benachbarten Ballade. Damit steht ein Begriff von Natur in Frage, der Triebhaftes
und Geschlechtliches einschließt. In unserem Gedicht spricht darüber das Mädchen
aus Korinth mit Beziehung auf ihre Mutter:

»Die genesend schwur:


Jugend und Natur
Sei dem Himmel künftig untertan.«

Dem philosophischen Idealismus entspricht ein solches Denken über die Natur des
Menschen nicht unbedingt. Kant spricht im Anschluß an die mit feierlichen Worten
definierte Autonomie von der »Erhabenheit unserer Natur« und meint damit ihre
Bestimmung, die intelligible Seite unseres Charakters. Die Natur, die sich in der
Braut von Korinth für das rächt, was ihr zugefügt wurde, hat mit Erhabenheit wenig zu
tun. Aber auch mit dem Naturmagischen in Gedichten wie Der Fischer oder Der
Erlkönig ist sie nicht zu verwechseln. Die Natur dieser Gedichte hat trotz Nacht und
Tod einen die Einheit des Seins verklärenden Sinn; sie sind pantheistisch auf ihre Art.
124 Programmatik und Freundschaftsbund

Liebe und Tod sind in den frühen Balladen Goethes tragisch versöhnt. In der Braut
von Korinth sind sie es nicht. Das Wort vom Menschenopfer wird nicht widerlegt,
sondern in Handlung überführt. Was geschieht, sollte nicht sein - und ist doch. Aber
es wird als vermeidbar angesehen, wenn sich das Denken ändert. In diesem Punkt
weist das Gedicht über die erzählte Katastrophe hinaus. Sein Erzähler steht jenseits
dieser Katastrophe als eine Person, die den Vorfall überdenkt. Damit wird aber auch
das Magische, Gespenstische und Vampyrische in seine Grenzen verwiesen. Der Er-
zähler steht zum Balladischen im überlieferten Sinn in Distanz. Er benutzt es zu seinen
Zwecken, ohne sich ihm zu überlassen. Goethe läßt sich auf »Anrüchiges« ein, um es
gleichwohl zu sublimieren; aber von Beschönigung kann keine Rede sein. Die Idee
der Humanität ist, wie unser Gedicht zeigt, eine sich ständig verändernde und erwei-
ternde Idee. In solchen Veränderungen und Erweiterungen liegt ihr geschichtlicher
Sinn.
III. Formen des nicht klassischen Dramas
1. Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein

Schillers Wallenstein-Drama hat nach übereinstimmender Auffassung seiner Inter-


preten in einem berühmten Monolog seine geheime Achse. Man zitiert ihn nicht nur,
wenn man die Wallenstein-Dichtung interpretiert, sondern führt vorzüglich diesen
Monolog an, wenn es darum geht, seine Eigenart zu erläutern. Vom Drama des
handelnden Menschen ist in solchen Erläuterungen die Rede, vom Entscheidungsdra-
ma und dem zu ihm gehörenden Monolog, in dem der Handelnde seine Lage über-
denkt. [1] Er wird sich der Alternativen bewußt, denen er sich gegenübersieht; und er
wird sich des Konfliktes bewußt, der sich in solchen Alternativen zusammendrängt.
Der berühmte Monolog - im vierten Auftritt des ersten Aufzugs von Wallensteins Tod
- wird zum Paradigma der klassischen Dramenform kat'exochen. Es sind jene Verse,
die jeder kennt, der das große Drama kennt:

»Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte?


Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte
die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht,
Nicht die Versuchung von mir wies - das Herz
Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse
Erfüllung hin die Mittel mir gespart,
Die Wege bloß mir offen hab gehalten? -
Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie.
In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; ... «
[Tod, 139-48]

Vom Doppelsinn des Lebens wird im Fortgang gesprochen, vom Ernst im Anblick
der Notwendigkeit und von tückischen Mächten, »die keines Menschen Kunst ver-
traulich macht«. Aber nicht dieser berühmte Teil des Monologs ist der Ausgangs-
punkt unserer Betrachtung. Wir richten uns auf seine letzten Passagen, die man im
allgemeinen seltener zitiert. [2] Zuvor aber vergegenwärtigen wir uns die Situation, in
der sich Wallenstein befindet.
Als der mit sich selbst Redende ist er sich seiner Stellung unsicher geworden. Er
weiß, daß er auf den Kaiser nicht mehr zählen kann. Wallenstein ist sich darüber im
klaren, daß er dessen Vertrauen nicht mehr besitzt. So hat er, seine eigene Politik
treibend, im stillen vorgesorgt. Als die Spielernatur , als die man ihn verstehen kann,
128 Formen des nicht klassischen Dramas

hat er auch mit dem Gedanken gespielt, ein zeitweiliges Bündnis mit den Schweden
könnte seine Lage verbessern. [3] Hat er mit diesem Gedanken nur gespielt? Der
Monolog läßt vermuten, daß es sich in der Tat so verhält: daß es nur ein Gedanken-
spiel war: »In dem Gedanken bloß gefiel ich mir«, heißt es. Aber gesetzt selbst, daß er
mit dem Gedanken zunächst nur gespielt hätte, so bleiben einige Fragen gleichwohl
offen. Sollte damit nur die eigene Lage verbessert werden? Geht es in Wallensteins
Denken nur um das eigene Ich, wie man seine Äußerungen oft einseitig ausgelegt
hat? Oder denkt dieser von der Macht faszinierte Egozentriker doch gelegentlich über
die eigene Person hinaus? Der Wallenstein Schillers ist eine eminent politische Per-
sönlichkeit, die es gewohnt ist, zu herrschen und zu gebieten. Seine eigene Position zu
festigen, ist Wallenstein bemüht, wo immer sich die Gelegenheit bietet. Dennoch ist
er offenbar nicht einer, der nur Machtpolitik um der Macht willen treibt. Aber sei
dem, wie ihm wolle: aus dem Gedankenspiel sind Realitäten entstanden. Die schwe-
dischen Unterhändler warten. Es ist höchste Zeit, daß etwas geschieht, wenn es nicht
schon zu spät ist. Seine Freunde - es sind sehr zweifelhafte Freunde - drängen ihn zum
Entschluß. Sie drängen ihn zur Entscheidung und zum Verrat, weil sie wissen, daß sie
für ihre Person nichts zu erwarten haben, wenn sich ihr Feldherr dem Kaiser unter-
wirft. Für sie erst recht geht es um alles oder nichts. Aber nicht nur die Freunde
locken Wallenstein in den Verrat. Auch der Kaiser selbst und seine Unterhändler
tragen durch ihre Intrigenpolitik zum Abfall bei. Sie stoßen Wallenstein förmlich in
sein Schicksal hinein - ob er es will oder nicht. Die Situation also ist klar: nur rasches
Handeln könnte die Dinge wenden. Aber Wallenstein handelt nicht. Er zaudert. [4]
Spricht das ein für allemal gegen ihn? Doch wohl nicht! Indem Wallenstein zaudert, ist
er nicht ohne weiteres der gewissenlos Handelnde, als den ihn manche Interpreten
behandeln. So gibt er denen, die ihn zur Eile drängen, die für ihn bezeichnende
Antwort: »Warte noch ein wenig.« Es ist ihm alles zu schnell gekommen. Er schickt
seinen Gesprächspartner - es ist lIlo - hinaus und überdenkt die Lage in eben dem
Monolog, den wir kennen. In Fragen und Konjunktiven spricht Wallenstein mit sich
selbst von der Möglichkeit der Rückkehr, und Rückkehr ist in diesem Drama als eine
bedeutungsvolle Metapher gemeint. Jetzt erst wird sich der zum Handeln Gedrängte
seiner Lage vollends bewußt. Er soll sich entscheiden. Aber sein Zaudern schränkt
die Entscheidung ein; und solche Einschränkungen haben Gewicht:

»O! sie zwingen mich, sie stoßen


Gewaltsam, wider meinen Willen, mich hinein.«
[Pice., 701-2]

Die Entscheidungssituation, die man gern als konstituierend für die Schillersche
Schaffensweise ansieht, ist gar keine Situation der Entscheidung. Wallensteins Wahl
ist eine Wahl des Notwendigen. Aber eine Wahl des Notwendigen ist eigentlich keine
Wahl. [5]
Das alles und anderes ist in dem berühmten Monolog enthalten; uns interessiert
sein letzter Teil. Die Bühnenanweisungen schreiben vor: »Er macht heftige Schritte
durchs Zimmer, dann bleibt er wieder sinnend stehen.« Danach heißt es:
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 129
»Und was ist dein Beginnen? Hast du dirs
Auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht,
Die ruhig, sicher thronende erschüttern,
Die in verjährt geheiligtem Besitz,
In der Gewohnheit festgegründet ruht,
Die an der Völker frommem Kinderglauben
Mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt.
Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft,
Den fürcht ich nicht. Mit jedem Gegner wag ichs,
Den ich kann sehen und ins Auge fassen,
Der, selbst voll Mut, auch mir den Mut entflammt.
Ein unsichtbarer Feind ists, den ich fürchte,
Der in der Menschen Brust mir widersteht,
Durch feige Furcht allein mir fürchterlich -
Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündigt,
Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz
Gemeine ists, das ewig Gestrige,
Was immer war und immer wiederkehrt,
Und morgen gilt, weils heute hat gegolten!
Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.
Weh dem, der an den würdig alten Hausrat
Ihm rührt, das teure Erbstück seiner Ahnen!
Das Jahr übt eine heiligende Kraft,
Was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich.
Sei im Besitze und du wohnst im Recht,
Und heilig wirds die Menge dir bewahren.«
[Tod, 192-218)

Eine erregende Argumentation! [6] Worauf läuft sie hinaus? Wallensteins Denken
ist gegen das Überlieferte gerichtet; und das Überlieferte wird von vielen Menschen
nur deshalb verehrt, weil es überliefert ist. So auch die Ordnung, die jeweils gilt.
Wallenstein wendet sich gegen sie. [7) Er erkennt sie nicht an, nur weil sie Ordnung
ist. Er wendet sich damit zugleich gegen den Kaiser, der diese Ordnung als die seine
verteidigt. Ein Verteidiger solcher Ordnung ist aber auch Octavio Piccolomini, Wal-
lensteins Gegenspieler. Piccolomini ist ein Vertreter des eigentlich erstarrten Lebens,
des Förmlichen, wie es der Brauch an Höfen ist. Wallensteins Gemahlin hat sich
vorübergehend dort aufgehalten. Sie ist jetzt zurückgekehrt und berichtet von ihren
Erlebnissen am kaiserlichen Hof. Sie beklagt den Wandel, den sie wahrgenommen
hat. Aber es ist nicht ein Wandel im Sinne des geschichtlichen Lebens, das sich von
Zeit zu Zeit erneuert. Der Wandel, der am Kaiserhof zu beobachten war, ist nicht
Fortschritt, sondern Reaktion - eine Veränderung zugunsten des erstarrten Lebens.
Die Kategorie der Zeit, zum Verständnis des Wallensteindramas von entscheidender
Bedeutung, mischt sich ein. Sie erscheint als das, was war - was immer schon so war
und ewig wiederkehrt. Wallenstein bezeichnet diese Wiederkehr des Gleichen als das
Gemeine. Er setzt es herab und bezeugt ihm seine uneingeschränkte Verachtung. Und
ein Gemeines ist auch das, was sich ewig wiederholt und nur deshalb gilt, weil es
immer gegolten hat, weil es die Menge sanktioniert. Man darf den religiösen Wort-
schatz in der Sprache Wallensteins nicht überhören:
130 Formen des nicht klassischen Dramas

»Das Jahr übt eine heiligende Kraft,


Was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich.
Sei im Besitze und du wohnst im im Recht.
Und heilig wirds die Menge dir bewahren.«
[Tod, 215-18]

Das Heilige und das Göttliche sind aber nicht im wörtlichen Sinne heilig und
göttlich. Nur aus Gewohnheit hält man es allenthalben so mit Besitz und Recht.
Wallensteins Worte sind voll der Ironie. Denn was die Menge für heilig und göttlich
erklärt, ist nichts als die Sanktionierung des Bestehenden, nur weil es das Bestehende
ist. Was die Menge solchermaßen sanktioniert, ist also nicht Sein, sondern Schein,
nicht lebendiges Leben, sondern erstarrte Form. Der Wallenstein dieses Monologs,
wenn wir seine Worte recht bedenken, gewinnt unsere Sympathien. Denn hat er nicht
eigentlich in allem recht? Was ist das für eine Macht - diese Macht der Gewohnheit?
Hat man es nicht zumeist nur mit Bequemlichkeit, Egoismus und ungeistigem Verhar-
ren zu tun, wenn diese Macht im Leben herrscht? Das ewig Gestrige wird von Wallen-
stein zitiert, und wie sehr ist in der Redewendung schon die Verachtung enthalten, die
sich mit ihr verbindet; denn das ewig Gestrige ist in unserer Sprache dubios. Es ist
eindeutig Reaktion. Wallensteins Verachtung gegenüber solchen Erscheinungen des
Lebens kennt keine Grenzen. Wer will es ihm verdenken! Der Satz, mit dem der
Monolog endet, führt den Gedankengang auf den Höhepunkt in den Formen der
ironischen Rede, die kaum noch zu überbieten ist:

»Sei im Besitze und du wohnst im Recht


Und heilig wirds die Menge dir bewahren.« [8]
[Tod, 217-218J

Der Wallenstein dieses Monologs hat andere Vorstellungen vom Recht, als sie die
Menge hat. Er denkt in allem nicht an erstarrte Formen, sondern an lebendiges
Leben. Er denkt an das lebendig Neue im Bereich der geschichtlichen Welt und will
das ewig Alte nicht anerkennen. Daß hier eine Erfahrung der Geschichtlichkeit vor-
liegt, die nicht bloß Pragmatismus bedeutet, ist unsere Überzeugung.
Von einem, der in allem nur an sich selbst denkt, haben wir uns damit weit ent-
fernt. Wenn es Wallenstein so meint, wie er es hier sagt - und im Monolog hätte die
Verstellung wenig Sinn - , dann bestimmt nicht nur der Egoismus, sondern auch das
Soziale sein Denken. Die Bewahrenden als die Besitzenden sind nicht immer die
Hüter des geistigen Lebens. Sie hüten nicht selten nur ihren Besitz. Indem sie es tun,
glauben sie sich im Recht - nur weil es immer so war und deshalb auch so bleiben soll.
Aber wie soll da noch Leben in der Geschichte sein, deren Wesen Wandel ist? Der
Wallenstein dieses Monologs in dem Geschichtsdrama Schillers, um das es sich han-
delt, ist ein Vertreter des geschichtlichen Lebens. Er will etwas Neues. Er treibt nicht
nur Politik, die sich in Taktik erschöpft, in Ränken und Intrigen. Dieser Politiker -
und das zeichnet den Staatsmann aus - hat eine Vision. Er hat Vorstellungen davon,
wie ein zukünftiges Leben aussehen könnte; und er macht sich darüber seine Gedan-
ken. Auch später noch, da sein Stern schon sinkt, ist das der Fall, wenn er in der
Vision vom Ende der spanischen Herrschaft einen Sieg des neuen Glaubens erkennt:
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 131

»Die Erfüllung
Der Zeiten ist gekommen, Bürgermeister,
Die Hohen werden fallen und die Niedrigen
Erheben sich ... « [9]
[Tod, 2604-7]

Wallenstein hat bestimmte Vorstellungen von einer Zeit, die anders als die Gegen-
wart ist. Als künftige Zeit ist es zugleich die erfüllte Zeit, die Oskar Seidlin als
eschatologische Vision des Endes und der Aufhebung alles Zeitlichen interpretiert:
»Echo chiliastischer Prophezeiung aus Vergils Viertem Hirtengedicht«. [10] Eine Vi-
sion idyllischen Lebens zeichnet sich ab. Der ihr das Wort redet, ist einer, dem Kampf
und Krieg über alles zu gehen scheinen. Doch deutet vieles darauf hin, daß Wallen-
stein den Krieg nicht um seiner selbst willen schätzt. Das Ziel seiner Pläne ist be-
stimmt von einer Idee des Friedens, von der Vorstellung eines neuen Reiches, das er
sich - wie zu den Zeiten Vergils - als ein Friedensreich erträumt. Es liegt nahe, an die
Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung zu erinnern. Die Ausführun-
gen über die Idylle sind auf ein solches Friedensreich der Zukunft bezogen. Zwar ist
diese Dichtungsart zumeist den Anfängen der Kultur zugewandt. Aber die Idylle ist
nicht minder zukunfts bezogen: Die poetische Darstellung unschuldiger und glückli-
cher Menschheit sei der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart. Weil aber solche
Unschuld mit den künstlichen Verhältnissen der Gesellschaft nicht vereinbar sei,
habe der Dichter den Schauplatz der Idylle in den einfachen Hirtenstand verlegt.
Schiller fährt fort: »Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfange der
Kultur statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall nur eine be-
stimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtet.« [11] Wie sehr Wallen-
stein in allem an sich selber denkt, an seine Macht und an seinen Besitz - einen
solchen Zustand des Friedens herbeizuführen, fühlt er sich gleichwohl berufen. Mög-
licherweise ist er der einzige unter seinen Zeitgenossen, der dazu in der Lage wäre. Es
wäre ungerecht, das alles nur als Vorwand und Heuchelei zu verdächtigen. Schiller hat
seinen Helden auch mit solchen Zügen ausgestattet - anders als in der Geschichte des
Dreißigjährigen Krieges. Der Wallenstein seines Dramas ist kein Tugendhe1d. Aber
er ist noch weniger der Verbrecher, der es verdient, daß wir ihn mit Schulbegriffen
wie Schuld und Sühne messen. Schillers Wallenstein ist zumal von diesem bedeuten-
den Monolog her gesehen ein revolutionärer Idealist, und daß man einen »Visionär
mit solchen Gesichten« mehr als ein Jahrhundert einseitig mit dem Etikett des Reali-
sten versehen hat, ist in der Tat erstaunlich. [12] Mit Max Piccolomini, dem von aller
Weltkenntnis entfernten Idealisten, dürfen wir ihn darum nicht verwechseln. Wallen-
stein unterscheidet sich von diesem durch die Kenntnis, die er von der Welt und von
der Politik in dieser Welt hat. Er unterscheidet sich auch in der Kenntnis der Mittel,
und er weiß sie zu gebrauchen. Wallenstein ist diesem Monolog zufolge ein revolutio-
närer Idealist. Von seinem revolutionären Willen zum lebendig Kraftvollen hat man
gesprochen. [13] Aber er ist zugleich der Realist des politischen Lebens, der die
Intrige kennt und sich ihrer auch, wenn es sein muß, zu bedienen weiß. An verdecktes
Planen und Handeln ist er gewöhnt. Er belehrt die Seinen, wenn sie ihn allzu einfach
und unkompliziert sehen:
132 Formen des nicht klassischen Dramas

»Und woher weißt Du, daß ich ihn nicht wirklich


Zum besten habe? Daß ich nicht euch alle
Zum besten habe? Kennst du mich so gut?
Ich wüßte nicht, daß ich mein Innerstes
Dir aufgetan - [... ]«
[Pice. 861-5]

Das sagt er zu Terzky und bezeichnet damit das aus Prinzip Hintergründige seines
Charakters. Zumal in solchen Zügen - wir denken an den Marquis Posa des Don
Karlos - ist Wallenstein der Handelnde, den man aus Schillers Dramen kennt. Im
Intrigengeflecht des politischen Lebens kennt er sich wie wenige aus. Da haben die
Idyllen des einfachen Lebens nichts mehr zu suchen. Da werden die Mittel gewählt,
die zu wählen sind. Aus den unbedenklich Handelnden werden die großen Verschwö-
rer, die wie Fiesco, Marquis Posa, Mortimer oder Demetrius ihr gewagtes Spiel
treiben. Wallenstein ist ein Idealist, wenn er sich in Gedanken an die Vision einer
besseren Zeit verliert, die er heraufzuführen hofft. Er ist Realist durch und durch,
wenn er die Mittel bedenkt, die er dafür einsetzen muß. Er ist Idealist und Realist
zugleich. Ein mit solchen Zügen ausgestatteter Staatsmann ist so rasch nicht schuldig
zu sprechen, wie es oft geschieht. Es geht in allem nicht nur um seine Person und um
die Macht, die er für sich erstrebt. Etwas Allgemeines steht in Frage: der Friede der
Zukunft und mit ihr eine neue Zeit, ein neues Leben. Von solchen Überlegungen her
ist Wallensteins Verrat nicht mehr ausschließlich als der Verrat eines Abenteurers
und Opportunisten zu interpretieren. Seine Untreue ist nicht einseitig gegen die Treue
auszuspielen, die Octavio Piccolomini dem Kaiser hält; denn was diesen an den Kaiser
bindet, ist in hohem Maße die Treue zum Gewohnten, wenigstens in Wallensteins
Sicht. Schiller hat in Wallensteins Gegenspieler keinen kleinlichen Intriganten ge-
zeichnet, und er hat ihn ausdrücklich gegenüber jenen in Schutz genommen, die ihn im
Verständnis des Dramas zum Bösewicht degradiert sehen wollen. Es habe nicht in
seiner Absicht gelegen, schreibt Schiller 1799, »daß sich Octavio Piccolomini als einen
so gar schlimmen Mann, als einen Buben, darstellen sollte.« [14] Auch Piccolomini ist
auf seine Weise im Recht, wenn er sich auf seine Treue zum Kaiser beruft. Auch er
hat in gewissen Grenzen Größe. Dennoch: wenn sie alle so denken, wie Octavio
denkt, dann würde sich alles Leben in ein Dasein verwandeln, das kein Leben mehr
ist, sondern Gewohnheit, Förmlichkeit und Zeremoniell. Die Partei des Rechts und
der Ordnung, die Octavio Piccolomini vertritt, ist mit einer Formulierung Kurt Mays
die Ordnung »einer erstarrten Konvention des staatlich-gesellschaftlich-kirchlichen
Zusammenlebens und seiner aus ehrwürdiger Tradition vererbten Gesetze.« [15]
Genau hier, da wir es mit dem Lebendigen gegenüber dem Gewohnten und Ver-
alteten zu tun haben, sind Max und Thekla einzubeziehen: der Sohn des kaisertreuen
Politikers und die Tochter des Feldherrn, der sich gegen den Kaiser stellt. Das Ver-
hältnis der jungen Menschen ist kein Verhältnis übers Kreuz. Der Sohn Piccolominis
hält zu Wallenstein, den er verehrt. Aber Wallensteins Tochter hält nicht zu Octavio
Piccolomini. Sie halten als Liebende vereint zu Wallenstein und sind aus dessen enge-
rem Lebenskreis nicht wegzudenken. Auf Wallenstein, nicht auf Octavio Piccolomini,
sind die jungen Menschen, die Vertreter blühenden Lebens, bezogen. Weil Octavio
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 133

vorwiegend ein Repräsentant des Alten ist, mit allen Rechten des Alten und Ge-
wohnten, haben die Jüngeren nicht seine Nähe, sondern die Nähe Wallensteins ge-
wählt, auch wenn vieles sie von dessen Verhalten trennt. Max wie Thekla sind Gestal-
ten des Schönen, des Ideals und eines jugendlichen Lebens. Sie sind als jugendliche
Idealgestalten Symbole des lebendigen Geistes, wie die Vision einer schöneren Zeit
der Ausdruck des lebendigen Geistes ist. Von solch zukünftigem Leben spricht Max,
indem er das vieldeutige Bild der Heimkehr verwendet:

»0 schöner Tag! wenn endlich der Soldat


Ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit,
Zum frohen Zug die Fahnen sich entfalten,
Und heimwärts schlägt der sanfte Friedensmarsch«.
[Pice. 534-7]

Heimkehr in die Menschlichkeit! Es ist ein tiefsinniges Wort, das Schiller den
jungen Piccolomini sagen läßt; und Max spricht davon in Bildern, die auch die Bilder
Theklas sind. Die häufigste Zeitform in ihrer beider Sprache ist das Futur, und daß
der panegyrische Hymnus des jungen Piccolomini auf den Frieden in vieler Hinsicht
der Ankündigung einer neuen Ordnung der Dinge durch Wallenstein entspricht,
bleibt in der Tat zu bedenken. [16] Beide, Max und Thekla, sind vorzüglich auf eine
Zukunft gerichtet, in der jedes schöne Glück und jede schöne Hoffnung blühen
sollen. Von der goldenen Zeit ist die Rede, wo jede neue Sonne die Menschen
vereint. Max sieht sie als die schon gewesene gegenüber der Wirklichkeit des Lebens
entschwinden. Er ahnt die Schwierigkeit, die darin beruht, unschuldiges Leben zu
bewahren. Auch Thekla ist von solchen Bildern erfüllt. Ihre Liebe zu Max ist der
Ausdruck ihrer Sympathie mit dem neuen Leben. Doch weiß sie zugleich, daß es sich
um eine Idee handelt, die man nicht auf die Dauer bewahren kann. Alles Hohe und
Schöne, alles Hoffnungsfreudige und blühende Leben wird in diesen Menschen Ge-
stalt. Aber sie sind gleichsam zum Tode verurteilt in einer Welt, die sich nicht mehr im
Zustand der Unschuld befindet. Was Max und Thekla wollen, bleibt Idee, und im
Grunde sind sie nur Verkörperungen dieser Idee - eines Ideals noch vor aller Wirk-
lichkeit. Max verweigert dieser Wirklichkeit in seinem Denken jedes Daseinsrecht.
Die Belehrung, die Octavio seinem Sohn hierüber erteilt, ist geboten: die Ideale,
wenn man sie ohne Wirklichkeit haben will, werden zur Illusion:

»Mein bester Sohn! Es ist nicht immer möglich,


Im Leben sich so kinderrein zu halten,
Wie's uns die Stimme lehrt im Innersten.«
[Pice., 2447-9]

Was aber haben solche Bilder eines neuen zukünftigen Lebens mit Wallenstein zu
tun? Sie haben mit ihm sehr viel zu tun; denn er ist in einem durchaus nicht oberfläch-
lichen Sinne empfänglich für sie. Auf ergreifende Art spiegelt es sich wider in der
Erinnerung an Max, den er vor anderen geliebt hat, auch wenn er ihm in der ihm
eigenen Überheblichkeit die Hand der Tochter verweigern wollte. Von ihm, dem
Dahingegangenen, spricht Wallenstein mit bewegten Worten:
134 Formen des nicht klassischen Dramas

»Doch fühl ich wohl, was ich in ihm verlor.


Die Blume ist hinweg aus meinem Leben.
Und kalt und farblos seh ichs vor mir liegen.
Denn er stand neben mir, wie meine Jugend,
Er machte mir das Wirkliche zum Traum,
Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge
Den goldnen Duft der Morgenröte webend -
Im Feuer seines liebenden Gefühls ... «
[Tod, 3442-49]

Wer so spricht, kann derjenige nicht sein, für den man ihn oft gehalten hat: »ein
Mensch ohne Liebe«. [17]
Wallenstein kennt also noch anderes als Politik und politisches Intrigenspiel, wie
notwendig diese auch im politischen Leben sein mögen. Er kennt noch anderes als
nur Berechnung, Kalkül und Rationalität. Dieser Feldherr, dem sich die jungen
Menschen, die Symbole des neuen Lebens, so innig verbunden fühlen, ist empfäng-
lich für Neues in der Welt. Er denkt über das gewohnte Leben hinaus. Er lebt und
denkt und glaubt mit den Sternen. Es ist kein Zweifel, daß der Sternenglaube Wallen-
steins nicht nur etwas Suspektes darstellt, wie Goethe zutreffend erkannte. [18] Die
Motive sind ambivalent. Sie bedeuten Vermessenheit im Berechnen und Verfügen-
wollen über die Zukunft. Der Sternenglaube Wallensteins beleuchtet eine Seite des
Irrationalen in dieser sonst auf Rationalität und Berechnung gerichteten Person.
Berechnung ist unerläßlich für jeden, der im politischen Leben bestehen will. Wer
aber nichts kennt als Berechnung, muß sich mißtrauisch zu anderen verhalten. Weil
Wallenstein auch Irrationales kennt, hat er zugleich Vertrauen bewahrt. Er vertraut
Octavio Piccolomini. Hermann August Korff hat gemeint, es sei dies der schwächste
Punkt in Schillers Tragödie. [19] Wir wollen es bestreiten. Auch das Vertrauen Wal-
lensteins ist ein Teil derjenigen Welt, die Max verkörpert. Nicht zufällig ist dieses
Vertrauen mit dem Sternenglauben verknüpft. Wenn Wallenstein seinem Gegenspie-
ler Piccolomini so unverständlich lange vertraut, so hängt das zugleich mit seiner
Astrologie zusammen. Es hängt zusammen mit der Lebensrettung, die er Octavio
verdankt, einer unbestimmten Dankbarkeit im Menschlichen, einem Moment des
Irrationalen in seiner Existenz. Daß es solche Dankbarkeit als Vertrauen gegenüber
anderen gibt, zeichnet ihn aus; daß es dabei um das eigene Leben geht, bringt zugleich
einen Zug dämonischer Selbstliebe hinein. Wallensteins Vertrauen ist verhängnisvol-
le Unkenntnis der Welt und der Menschen. Aber es ist daneben auch eine Erschei-
nungsform der Menschlichkeit, in die Max heimkehren möchte und später, wenn-
gleich um den Preis des Todes, heimkehrt. Wie immer diese Idealwelt der beiden
jugendlichen Gestalten gedeutet werden mag: sie trägt Züge des Staates, wie ihn
Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen beschreibt. Das
Lebendigste ist in den Formen des Zukünftigen da. Auf solche Formen des Zukünfti-
gen sind Max wie Thekla bezogen. Aber auch Wallenstein ist es auf seine Weise, wie
wir gesehen haben. Oskar Seidlin hat das zutreffend erkannt. Er hat erkannt, daß
Wallenstein auf ein solches Reich als auf ein Reich des Schönen blickt. Zugleich wird
zwischen der geschichtlichen Existenz, in der Wallenstein steht, und der ästhetischen,
auf die er gerichtet ist, unterschieden. Wallenstein versucht, sagt Seidlin, aus der
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 135

geschichtlichen Lage in die ästhetische Existenz überzutreten. Darin läge die Hybris,
deren er sich schuldig macht: »daß er Geschichte leben und gestalten will, als unter-
stünde sie den Wesensgesetzen des Schönen.« [20] Daß es Vermessenheit in Wallen-
steins Tun und Denken gibt, bestreiten wir nicht. Seine Absicht, dem jungen Piccolo-
mini die Hand der Tochter zu verweigern, ist als eine solche zu bezeichnen. Aber auch
sie hängt mit seiner politischen Wirksamkeit zusammen, mit Berechnungen, die ihn
von der Menschlichkeit des Menschen entfernen. Gleichwohl ist er auf Berechnungen
angewiesen, und zumal der Staatsmann kommt ohne sie nicht aus. Die Grenzen zwi-
schen dem noch Erlaubten und dem nicht mehr Erlaubten bezeichnen unmerklich die
Verfallenheit an das tragische Leben. Aus diesem Grunde erscheint uns der Begriff
der Hybris bedenklich, weil er dem Doppelsinn des Lebens nicht gerecht wird, in dem
sich der Handelnde verstrickt. Der Begriff der Hybris bleibt ähnlich problematisch
wie der in der neueren Forschung so bevorzugte Terminus der Nemesis. [21] Durch
beide Begriffe dringt das voreilig moralische Urteil in die Wallensteindeutung ein, das
es zu vermeiden gilt, wenn man auf die Tragödie sieht; denn die ist niemals identisch
mit eindeutiger Schuld, über die eindeutig moralische Urteile möglich sind. Wir
wollen daher nicht voreilig von Hybris sprechen hinsichtlich dessen, was Wallenstein
versucht. Daß er Unmögliches begehrt, mag sein. Aber erst damit beginnt die Tragik
seines Tuns, die im Versuch des Unmöglichen angelegt ist. Was denn eigentlich will
er?
WallensteiIiwill Unmögliches in vielerlei Gestalt, und daß er es will, zeichnet ihn
vor anderen aus - trotz der Irrtümer, die sich damit verbinden. Er will unter anderem
Irrationales mit den Mitteln der ratio berechnen. Mit dem Irrationalen in seiner
Vorstellungswelt ist Verschiedenes gemeint: das Zukünftige, das Schöne, das
Menschliche und das Neue nicht zuletzt. Wallenstein will derart Irrationales, weil er
sich mit dem Weltganzen verbunden weiß, während seine Gegenspieler vorzüglich an
ihre Besitztümer denken. Das Irrationale - also das Schöne, das Menschliche, das
Neue und Lebendige im weitesten Sinn - berechnen zu wollen, mag vermessen sein.
Wallenstein mag im Versuch solcher Berechnungen das Menschliche verfehlen. Aber
derjenige verfehlt es nicht minder, der sich des Irrationalen als des Schönen, Neuen
und Lebendigen nicht versichern will, der nur auf den Tag sieht - ein Taktiker des
letztlich sinnlosen, weil nur in sich kreisenden Erfolgs. Um der tragische Held zu sein,
der er von Schiller her werden sollte, muß Wallenstein die über das Irdische hinauslie-
genden Dinge wollen. Zugleich muß er das Irdische wollen: das Planen und Berech-
nen und was sonst zur rauhen Wirklichkeit gehört, wenn sie sich nicht zu Traum und
Illusion verflüchtigen soll. Wallenstein muß beides wollen: die Realität und die Ideali-
tät, das Irdische und das Überirdische, das Rationale und die Irrationalität. [22] Das
eben ist sein Schicksal. Es ist nicht das Schicksal eines Charakters, der so veranlagt
ist. Von jedem Charakterdrama sind wir weit entfernt. [23] Es ist vielmehr der Cha-
rakter der Idee, die ihm zum Schicksal wird. Wallenstein ist lebendig in menschlicher
Größe, durch die sein Heer erst das ist, was es ist. Aber er hat darum die Regungen
für die Größe des Menschlichen nicht völlig erstickt, wie man an seinem Umgang mit
Max und Thekla erkennt. Er will auch hier beides: die menschliche Größe und die
Größe des Menschlichen, den Realismus der Macht und die Idealität eines künftigen
136 Formen des nicht klassischen Dramas

Reiches. Wallenstein muß, um tragisch zu sein, bei des wollen, und muß sich damit in
das Geflecht verstricken, das ihm zum Verhängnis wird. Er ist nicht in der Lage, sich
für eine Seite zu entscheiden, weil er der anderen das gleiche Recht zugesteht. Wallen-
stein wird letztlich tragisch, weil er nicht einsinnig denkt. Er wird verklagt vom Dop-
pelsinn des Lebens. Die Einsinnigkeit der anderen ist das, was ihn von diesen trennt:
von den einsinnigen Realisten ebenso wie von den einsinnigen Idealisten. Zu den
ersteren gehört Octavio, der nur das Altgewordene kennt, die bestehende Ordnung
und die Treue zum Kaiser; ähnlich kennt die Gräfin Terzky nur die baren und öden
Realitäten, die Berechnung und die Kalkulation. Nirgends denken sie darüber hin-
aus. Aber auch Max Piccolomini ist festgelegt. Auch er gehört zu den Einsinnigen des
Dramas, dessen Tod uns ergreift, ohne daß er das volle Gewicht des Tragischen
erhielte. Sie alle können sich leichter entscheiden, weil sie sich für eine Seite im
Geflecht der Gegensätze entscheiden. Wallenstein kann das nicht:

»Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,


Das schwer sich handhabt, wie des Messers Schneide,
Aus ihrem heißen Kopfe nimmt sie keck
Der Dinge Maß, die nur sich selber richten.
Gleich heißt ihr alles schändlich oder würdig,
Bös oder gut ... «
[Tod, 779--84]
Hier nun vollends wird sichtbar, was es mit dem sogenannten Entscheidungsdrama
auf sich hat. Nicht nur ist Wallenstein der Held eines Dramas, über den schon ent-
schieden ist, wenn er sich entscheidet. Auch die klare Entscheidung derer wird pro-
blematisch, die nur einer Seite folgen. Wallenstein, weil er vieles will, ist dieser
Einseitige nicht. Er hat an beiden Reichen teil: Das Scheitern der Vereinigung, die er
versucht, ist die Folge. Wer darin in erster Linie Hybris sieht, macht das Ende des
Dramas zur moralischen Belehrung. Aber das Ende des Wallenstein-Dramas wollen
wir gerade als eine moralische Belehrung nicht verstehen. Was ist der Sinn der letzten
Szenen? Gewiß sind sie vom Walten der tragischen Ironie geprägt, und tragische
Ironie bedeutet stets, daß derjenige etwas noch nicht weiß, von dem sie bereits Besitz
ergriffen hat. Gleichwohl ist es wichtig, aus der Tragödie Schillers den Moralismus zu
entfernen, der sich eindrängen muß, wenn man entscheidende Dinge im Vorgang des
Dramas mit Begriffen wie Hybris oder Nemesis umschreibt. Welchen Sinn also hat
Wallensteins Tod?
Der Wallenstein dieser letzten Szenen weiß nicht, was ihn erwartet. Dennoch befin-
det er sich in einer ~ss i die zur Sphäre des Erhabenen gehört, wie sie
Schiller versteht. Wallenstein hat sich in das Unabänderliche geschickt, ohne seine
Sache aufgegeben zu haben, und Aufgeben würde die Verleugnung jenes neuen Le-
bens bedeuten, zu dem er sich in unserem Monolog bekannt hat. Doch ist er anders
einsichtig als zuvor. Er hat dem Sternenglauben entsagt und den Tod Max Piccolomi-
nis als eigene Schuld angenommen. Er scheint in den Bereich jener Menschlichkeit
heimgekehrt zu sein, die Max als Traum durch sein irdisches Dasein begleitet hat. Jetzt
völlig sind wir in die Zone des Tragischen eingetreten, die Scheitern, Untergang und
Katastrophe bedeutet und uns dennoch versöhnend stimmt infolge der Nähe solcher
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 137

Menschlichkeit, die Goethe zutreffend erlaßte, wenn er im Brief vom 18. März 1799
den großen Vorzug des letzten Stückes betonte, »daß alles aufhört politisch zu sein und
bloß menschlich wird«. [24] Ihrer werden wir inne, wenn wir den Todgeweihten
sprechen hören, als würde alles schon in einem Zwischenreich gesprochen, in dem
sich Sinn und Widersinn, Wissen und Nichtwissen seltsam vermischen:
»Leuchte, Kämmerling,
Du auch noch? Doch ich weiß es ja, warum
Du meinen Frieden wünschest mit dem Kaiser.
Der arme Mensch! Er hat im Kärntnerland
Ein kleines Gut und sorgt, sie nehmens ihm,
Weil er bei mir ist. Bin ich denn so arm,
Daß ich den Dienern nicht et"setzen kann?
Nun! Ich will niemand zwingen. Wenn du meinst,
Daß mich das Glück geflohen, so verlaß mich.
Heut magst du mich zum letztenmal entkleiden,
Und dann zu deinem Kaiser übergehn -
Gut Nacht, Gordon!
Ich denke einen langen Schlaf zu tun,
Denn dieser letzten Tage Qual war groß,
Sorgt, daß sie nicht zu zeitig mich erwecken!«
[Tod, 3665-79]

Zunehmend nähert sich Wallenstein einer Menschlichkeit von der Art, die uns an
Max und Thekla ergriff. Die an den Realitäten Gescheiterten sind ihm im Tod voran-
gegangen. Die einen wie die anderen sind dem Tod geweiht, und nur die Subalternen
überleben; die Vertreter der alten Ordnung, die dafür sorgen, daß alles genauso
bleibt, wie es immer war. »Mit diesen allen kann kein neues Zeitalter beginnen, noch
nicht einmal eine anständige Restauration« so kommentiert Kurt May die letzten
Szenen des großen Dramas. [25] Aber nur Wallenstein hat die tragische Einsicht des
Wissenden, auch wenn er Entscheidendes - seine Ermordung - nicht wissen kann. In
seiner Überlegenheit wird offenkundig, was Octavio und dessen Ordnung betrifft.
[26] Die ihrerseits bleibt im Recht, aber um welchen Preis! Doch nicht um die Tragik
einer Person, sondern um die Tragik der Idee ist es Schiller zu tun; und es ist die
Tragik der Idee, an dem Realisten zu scheitern, den sie braucht, wie es die Tragik des
Realisten ist, daß er sich für die Ideen und Ideale interessiert und also noch anderes
kennt als die bloße Wirklichkeit. Der eine Teil im Geflecht der Dinge benötigt den
anderen. Aber derselbe Teil schließt den anderen aus. Es sind immer wieder solche
Antinomien, deren Tragik Schiller in seinen Personen gestaltet, indem er das Schei-
tern der Idee gestaltet. [27] Auch im vorklassischen Drama, in Kabale und Liebe oder
im Don Karlos, ist das der Fall. Aber erst im Wallenstein-Drama steht die Idee des
neuen Lebens im Zentrum des dramatischen Geschehens. Da wir es mit einer Idee zu
tun haben, ist sie, wie jede Idee, zum Scheitern verurteilt. Indem sie Schiller als
Thema seiner Dramen verwendet, verwendet er keine beliebige Idee. Es ist im Ge-
genteil die bestimmende der Epoche, die wir Klassik nennen. Die Idee des Neuen ist
die Idee der Geschichtlichkeit und des Wandels der Geschichte. Ihre Entfaltung ist
seit 1790 auch im Denken Goethes deutlich zu verfolgen, ehe sie Schiller auf seine
Weise umschreibt.
138 Formen des nicht klassischen Dramas

Die Idee des neuen Lebens ist eine Grunderfahrung des europäischen Denkens seit
der Renaissance. Die Erneuerung der antiken Geisteswelt ist damit aufs engste ver-
knüpft. Das Erlebnis einer solchen Welt in einer sich wandelnden Welt des geschicht-
lichen Lebens wird Goethe erstmals in Rom zuteil. Er gibt unter dem Datum vom
3. Dezember 1786 dafür die Begründung: »denn an diesen Ort knüpft sich die ganze
Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wieder-
geburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.« [28] Die Idee des sich erneuernden
Lebens begleitet ihn fortan auf dieser Reise. Als sich der Tag jährt, an dem er sich
unbemerkt von Karlsbad wegstahl, denkt er zurück und notiert sich: »Welch ein Jahr!
und welch eine sonderbare Epoche für mich dieser Tag, des Herzogs Geburtstag und
ein Geburtstag für mich zu einem neuen Leben« [29]; ähnlich lesen wir es in der
Niederschrift aus Rom vom 2. Dezember 1786: Ȇberhaupt ist mit dem neuen Leben,
das einem nachdenkenden Menschen die Betrachtung eines neuen Landes gewährt,
nichts zu vergleichen.« [30] Jede Idee des Klassischen als einer Wiedergeburt vergan-
genen Lebens ist auf irgendeine Weise mit dieser Idee verknüpft und muß es sein:
denn die bloße Nachahmung, die nicht mit eigenem Sinn erfüllte Wiederholung wäre
der Tod. Das alte Wahre soll in einer Klassik wie der deutschen gelten. Aber die Idee
des lebendigen Neuen nicht minder. Mit Goethes italienischer Reise beginnt die
Epoche der deutschen Klassik in dem Sinn, daß im Alten ein lebendig Neues entdeckt
wird. Das besagt, daß weder das Alte der antiken Geisteswelt einseitig herrscht noch
das Neue als das bloß Revolutionäre der eigenen Zeit. Ein neuer Stil geht daraus
hervor, der den Stil des Sturm und Drang als etwas Veraltetes zurückläßt, das der Zeit
nicht mehr genügt. In seiner Rezension der Gedichte Bürgers redet Schiller einer
Erneuerung der Lyrik das Wort - keiner zeitlos klassischen, sondern einer solchen,
die mit der Zeit fortschreitet, die, wie es wörtlich heißt, »in ihrem verjüngenden Licht
der Erstarrung eines frühzeitigen Alters« entginge. Das Wallenstein-Drama ist das
erste Drama nach zehnjähriger Pause. Wie in keinem Drama zuvor werden Handeln
und Entscheidung eingeschränkt. Die Determiniertheit in der Herrschaft des Not-
wendigen ist umfassend. »Man sieht in dieser ungeheuern Empirie nichts als Natur
und nichts von dem, was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten«, schreibt
Goethe am 9. März 1802 an Schiller, und man dürfte den Satz gut und gern auf den
Wallenstein beziehen. Der Dichter der Freiheit, als den man Schiller so oft feiert, ist
ein Dichter des Notwendigen in hohem Maß. Er ist es zumal in der beginnenden
Klassik, indem er sich an der antiken Tragödie und an ihren Determiniertheiten
orientiert. [31] Aber natürlich ist er weit entfernt von einer Nachahmung dieser
Tragödie. Schiller ist sich darüber im klaren, als Deutscher geboren zu sein und
bezüglich des griechischen Geistes durch Imagination zu ersetzen, was ihr die Wirklich-
keit vorenthält, um so »gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege
ein Griechenland zu gebähren«. [32] Schiller verbindet mit dem überlieferten Alten
das Neue des antiken Dramas in vielerlei Gestalt. Im Wallenstein entfaltet es sich als
eine das ganze Drama umgreifende Idee des geschichtlichen Lebens. In dem Maße, in
dem sich der Held des Dramas als Anwalt des Neuen gegen die Macht der Gewohn-
heit und gegen das Recht der Besitzenden wendet, nur weil es ein Gewohnheitsrecht
ist, spürt man die Nähe zur Ideenwelt der Französischen Revolution. Die Idee des
Die Idee des neuen Lebens in Schillers Wallenstein 139

Neuen im Denken Wallensteins gewinnt Gestalt in einem neuen Reich, das er schaf-
fen will, um das veraltete des Kaisers abzulösen. Aber genau besehen, ist dieses Reich
selbst eine Idee, wie Schillers ästhetischer Staat auch. Sein Drama gestaltet die Anti-
nomie dieses irrational Neuen als einer Idee, die notwendigerweise an der rationalen
Wirklichkeit scheitert. Geschichte umfaßt jetzt nicht mehr nur das Herrschaftsgebiet
des politischen Handeins, der Berechnung und des Kalküls. Im Motiv des Neuen als
einer Kategorie der Zeit, die das Drama so entscheidend konstituiert, geht es zugleich
um ein Irrationales, das sich der Berechnung entzieht. Es geht letztlich um das Ge-
schichtliche selbst als einer Erscheinung des lebendigen Geistes. Der Machtstaat als
der wirkliche und der ästhetische Staat als ein solcher der Zukunft sind dialektisch
aufeinander bezogen in dem Geschichtsdrama Schillers, das wir als Drama der deut-
schen Klassik bezeichnen - aber einer Klassik, die nichts Zeitloses ist, sondern die
zeitbedingte Antwort auf die weltgeschichtliche Lage in dichterischer Form. Auf das
Ereignis von 1789 antworten Goethe wie Schiller nicht einfach mit dem Rückzug in
eine feme Vergangenheit, in diejenige der antiken Geisteswelt. Sie denken nicht
daran, ihrer Gegenwart den Rücken zu kehren. Beide sind sie keine Vertreter der
Reaktion, so wenig wie sie Anwälte der Revolution sein wollen. Was sie beide wollen,
ist ein Drittes, wie es Goethe in Italien aufgegangen war. Was wir deutsche Klassik
nennen, ist ein derart Drittes: eine »Vermittlung« zwischen Vergangenheit und unmit-
telbarer Gegenwart, zwischen den bestehenden Verhältnissen hier und den neuen
Verhältnissen dort.
2. Episches im Theater der deutschen Klassik
Eine Betrachtung über Schillers »Wallenstein«

Mit dem Recht des schöpferischen Künstlers hat Bertolt Brecht als Anwalt und
Theoretiker des epischen Theaters alles getan, seinen »Gegenspieler« als überholt
und unzeitgemäß erscheinen zu lassen. Mit diesem Gegenspieler ist kein anderer als
das klassische Drama gemeint: die Tragödie in ihrer klassischen Gestalt, wie sie zuerst
bei den Griechen hervorgetreten ist und mit unterschiedlichen Intentionen in Frank-
reich und Deutschland erneuert wurde. [1] Damit wird heute für viele Fernes und
Entrücktes berührt: Hof- und Staatstheater, in denen sich neben den Schauspielern
auch die Zuschauer in Szene setzen, wie es Jean-Paul Sartre in seiner Autobiographie
beschreibt: »Die Bourgois des letzten Jahrhunderts vergaßen niemals ihren ersten
Theaterabend, und ihre Schriftsteller übernahmen es, die Einzelheiten zu berichten.
Wenn der Vorhang aufging, glaubten die Kinder bei Hofe zu sein [... ] auf der Bühne
sahen sie einen Adel auferstehen, den ihre Großväter umgebracht hatten.« [2] Das
klassische Drama ist aufgrund solcher Verständnisse und Mißverständnisse zu einer
Art von literarischem Gespenst geworden. »Gespensterhaft deshalb«, so erläutert es
Peter von Matt, »weil es sich um eine Theorie handelt, der nie eine authentische
Produktion entsprochen hat. Die Theorie wurde aufgestellt und dann nach rückwärts
projiziert auf das Drama der klassischen Periode.« Diese Theorie, so heißt es an
anderer Stelle des Beitrags, sei ein Produkt des 19. Jahrhunderts und seines Bürger-
tums. Der Stein des Anstoßes wäre mithin weit mehr diese Theorie als der Gegen-
stand selbst: »Indem der modeme Dramatiker es als die geschichtliche Realität der
literarischen Epoche um 1800 betrachtet, kämpft er tatsächlich gegen etwas, das es
nie gegeben hat, also gegen ein Gespenst - und der Kampf gegen dieses Gespenst
bringt ironischerweise die für unser Jahrhundert lebenswichtigen Theaterwerke her-
vor.« [3]
Bertolt Brecht ist gewiß nicht der einzige unter den modemen Dramatikern, der
den Kampf gegen dieses Gespenst aufgenommen hat, aber er ist zweifellos der maß-
geblichste im deutschen Sprachbereich. Der Name, mit dem man in seiner Theorie, in
der Theorie des epischen Theaters, höchst Heterogenes von der Antike bis zur deut-
schen Klassik vereint, ist derjenige des griechischen Philosophen Aristoteles. An
seiner Poetik werden die Geister ein für allemal geschieden. Die unmittelbare Wir-
kung der aristotelischen Dramatik dort und die veränderte Haltung des Zuschauers in
der nichtaristotelischen Dramatik hier: das sind die schroffen Gegensätze, die wir uns
Episches im Theater der deutschen Klassik 141

angewöhnt haben, als unüberbrückbar anzusehen. [4] Zwar handelt es sich weder bei
Aristoteles noch bei Brecht um eine ausschließlich immanente Poetik, sondern um
eine solche, die sich nach außen hin öffnet: beide beziehen sie auf ihre Art den
Zuschauer des Dramas ein, indem sie seine Mitwirkung in Rechnung stellen. Aber
diese Mitwirkung wird höchst verschieden interpretiert. Die aristotelische Poetik ge-
braucht zur Beschreibung solcher Wirkungen die Begriffe ~ und ~ die man
mit Lessing als Furcht und Mitleid zu übersetzen pflegt; und sie verwendet für eine
bestimmte Wirkung am Ende der Tragödie den Begriff der a a ~ ~ der Reinigung
von dem, was an Leidenschaften im Drama erregt worden ist. [5]
Sofern sich die Theorie von der Wirkung der Tragödie auf diese wenigen Begriffe
der aristotelischen Poetik beschränkt - und das ist im 18. Jahrhundert vielfach der
Fall -, bleibt sie unbefriedigend. Das ist der Auslegung Lessings im allzu engen
Anschluß an Aristoteles zu attestieren. Er sieht in erster Linie das Mitleid als Wirkung
und anderes kaum. Der vielzitierte Brief an Friedrich Nicolai macht es deutlich:
»Aber das erkenne ich für wahr, daß kein Grundsatz, wenn man sich ihn recht geläufig
gemacht hat, bessere Trauerspiele kann hervorbringen helfen, als der: Die Tragödie
soll Leidenschaften erregen [... ] Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauer-
spiel für Leidenschaften erregt [... ] Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das
Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.« [6]
Die Anwälte des epischen Theaters hatten schon aufgrund einer derart einseitigen
Theorie leichtes Spiel, die Wirkungen im Verständnis der aristotelischen Dramatik
als unbestimmt zu diskreditieren. Die Kritik zielt auf das Verhalten des Zuschauers in
erster Linie. Sie gilt der »Einfühlung«, die man der aristotelischen Dramatik als etwas
bloß Irrationales unterstellt. [7] Dämmrige Unbestimmtheit und kritiklose Hinnahme
des Dargestellten im Akt der Einfühlung werden verworfen, weil sie dem Zuschauer
des wissenschaftlichen und technischen Zeitalters nicht mehr entsprechen. [8] Und
mehr noch wird die Kritik an der aristotelischen Poetik als Kritik an der Einfühlung
formuliert: »Diese Reinigung erfolgt auf Grund eines eigentümlichen psychischen
Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen, die von den
Schauspielern nachgeahmt werden. Wir bezeichnen eine Dramatik als aristotelisch,
wenn diese Einfühlung von ihr herbeigeführt wird.« [9] Der Zuschauer des klassi-
schen Dramas, der sich lediglich der »Einfühlung« überläßt, wie gesagt wird, er-
scheint in der Optik der Modeme als naiv oder bloß als Genießer. [10] Anders die
Zuschauer des epischen Theaters! Sie glauben nicht mehr an die Personen, die ihnen
vorgesetzt werden. Ihre Haltung hat sich tiefgreifend verändert: »Der modeme Zu-
schauer [... ] wünscht nicht, irgendeiner Suggestion willenlos zu erliegen und, indem
er in alle möglichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Verstand zu verlie-
ren.« [11] Daher sind der nichtaristotelischen Dramatik Vernunft, Kritik und Kon-
trolle in besonderer Weise wichtig; und sie werden am klassischen Drama vermißt.
Das neue Theater, wie es zumal Bertolt Brecht mit beredten Worten propagiert, kann
demzufolge eine »Denkstätte« genannt werden. [12] Seine »klassische Form« heißt
epische Ruhe. [13] Es ist kaum nötig zu betonen, daß in solchen Antithesen zugleich
Gegensätze zwischen Tragödie und Komödie ausgetragen werden; und da die aristote-
lische Poetik die Komödie nur am Rande erwähnt, kann es leicht geschehen, daß die
142 Formen des nicht klassischen Dramas

nach ihr benannte Dramatik mit der Poetik der Tragödie gleichgesetzt wird. Es ist nur
konsequent, wenn man in der Geschichte ihrer Rezeption den Zuschauer aus dem
Auge verliert, während ihm das epische Theater gerade eine Vorzugsstellung ein-
räumt, die der Mitwirkung des Zuschauers in der Komödie entspricht. Dieser steht
das epische Theater ohnehin um vieles näher als dem tragischen Drama. [14] Die
neuere Literaturwissenschaft hat solche Unterscheidungen bereitwillig aufgegriffen
und modifiziert. Sie versteht die klassische Tragödie als geschlossene Form des Dra-
mas und nähert deutlich die Beschreibung der offenen Form einer Beschreibung des
epischen Theaters an. [15]
Zweifellos dienen solche und verwandte Unterscheidungen der Orientierung im
weiten Feld der dramatischen Literatur; und es gibt Gründe genug, die Bezeichnun-
gen wie diese rechtfertigen. Man kann sich mit einigen Vorbehalten wohl damit
einverstanden .erklären , die Dramenkunst der deutschen Klassik als aristotelische
Dramatik zu etikettieren. Die griechische Tragödie ist in dieser Zeit als Vorbild über
alles geschätzt, und die tragische Analysis des Sophokles ist es erst recht. [16] Ihre
Aneignung ist an Goethes Tasso ebenso zu studieren wie an Schillers Wallenstein; und
vor allem ist es in diesen Jahren die aristotelische Poetik selbst, an der man Gefallen
findet. Goethe liest sie im April 1797 mit dem größten Vergnügen und übersendet
Schiller ein Exemplar zur Lektüre. Dessen Antwort läßt nicht lange auf sich warten.
Er äußert seine Zufriedenheit und verbindet mit dem Dank eine eingehende Würdi-
gung ihrer Vorzüge wie ihrer Grenzen. [17] Die Vorliebe für die Tragödie, wie sie in
der aristotelischen Poetik zum Ausdruck kommt, trifft gleichermaßen für die deutsche
Klassik zu: ihre Dramenpraxis ist mit ihrer Tragödienkunst weithin identisch. Wir sind
daher geneigt, klassische Tragödie und aristotelische Dramatik wie synonyme Begrif-
fe zu gebrauchen - ganz so, wie es die neuere Theorie des epischen Theaters nahelegt.
Im Verhältnis zwischen Figur und Zuschauer sieht man die überlieferte Theorie bestä-
tigt: es herrscht weithin Einverständnis; gleichviel, ob man es Einfühlung nennen will
oder nicht. Von Verfremdung wie im modemen Theater kann jedenfalls keine Rede
sein. Den üblich gewordenen Einteilungen stünde somit nichts im Wege.
Dennoch entzieht sich dieses klassische Drama in mehrfacher Hinsicht der Einord-
nung, die man sich ausgedacht hat. Die Tragödie der Griechen wurde nicht vorbehalt-
los übernommen; man blieb sich des historischen Abstandes jederzeit bewußt, wie
dem oft zitierten Brief Schillers an Johann Wilhelm Süvern (vom 26. Juli 1800) zu
entnehmen ist: »Ich theile mit Ihnen die unbedingte Verehrung der Sophokleischen
Tragödie, aber sie war eine Erscheinung ihrer Zeit, die nicht wiederkommen kann.«
[18] Gegenüber Aristoteles und seiner Poetik werden Vorbehalte geltend gemacht.
[19] Anders auch als diesem war für Schiller das Theatralische des Dramas stets einer
der wichtigen Gesichtspunkte seiner Praxis wie seiner Theorie. [20] Der Respekt
gegenüber der Tradition hat seine Grenzen, und zumal Schiller versteht es, sich ihr
gegenüber seine Freiheit zu wahren. Es ist keineswegs alles so »klassisch«, wie man oft
meint. Das bezeugt sein Nachdenken über die Akteinteilung im Drama. Sie gilt als ein
nahezu unverzichtbares Kriterium der geschlossenen Form. [21] Aber Schiller fühlt
sich in diesem Punkt durchaus nicht gebunden. Sein Malteser-Drama möchte er am
liebsten ohne Einteilung in Akte ausführen, wie er Goethe im Dezember 1797 wissen
Episches im Theater der deutschen Klassik 143

läßt: »Sagen Sie mir doch, woher denn die Acten Eintheilung sich schreibt, im Aristo-
teles fanden wir nichts davon und bei sehr vielen griechischen Stücken würde sie gar
nicht anzuwenden seyn.« [22] Selbst die Komödie hat im klassischen Drama, im
Wallenstein wie im Faust, ihren Ort [23]; und die Tragödie selbst, deren Gewalt und
Tiefe Schiller besser als andere kennt, ist vielfach nicht sein letztes Ziel. Sie wird von
einer Reihe untragischer oder metatragischer Strukturelemente »überhöht«. Auch
die Idylle ist eines dieser Elemente. [24] Lieder und lyrische Einlagen gelten als
Privileg der offenen Dramenform. [25] Es gibt sie gleichwohl im Faust, in der Jung-
frau von Orleans oder im Wilhelm Tell. Das Wallenstein-Kapitel in seinem Buch Die
deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbelleitet Benno von Wiese mit dem lapidaren
Satz ein: »Die klassische Tragödie der Deutschen gipfelt in zwei Höhepunkten: in
Goethes >Faust< und in Schillers >Wallenstein<.« [26] Aber beide Werke sind weit
entfernt, stilreine Muster ihrer Gattung zu sein. Es gibt Lyrisches in ihnen, aber auch
Elemente epischer Dichtung dringen ein. Schon dem Umfang nach nehmen beide
Dichtungen epische Ausmaße an. Doch geht es um den Umfang nicht nur. In der
hochdramatischen Wallenstein-Dichtung sind Strukturen epischer Distanz wahrnehm-
bar, die unseren Vorstellungen von der Stilreinheit klassischer Ästhetik widerspre-
chen. [27] Der Gegensatz zwischen klassischer Tragödie und epischem Theater er-
scheint in solchen Betrachtungen weniger schroff, als es neuere Theorien versichern.
Eine unhistorische Aktualisierung ist damit nicht beabsichtigt. Aber das Drama der
deutschen Klassik ist ein überaus komplexes Gebilde, und Theorien wie Typologien
stehen nicht selten auf einem anderen Blatt.

Mit der Entstehungsgeschichte ist ein literarisches Werk noch nicht »erklärt«. Aber
sie kann wertvolle Hinweise zu seinem Verständnis liefern. Schillers Wallenstein - die
»größte Geschichtstragödie der Deutschen«[28], »diese größte Tragödie ihres größten
Dramatikers« [29] - ist aus einem betont epischen Kontext hervorgegangen. Den
Wallensteinstoff - das gehört zu den entstehungsgeschichtlichen Fakten des großen
Dramas - hat Schiller zuerst als Erzähler behandelt; und nicht Wallenstein, sondern
der Schwedenkönig Gustav Adolf stand lange Zeit im Zentrum seiner Interessen. [30]
Der Held, für den er sich interessiert, ist der Held des alten Epos weit mehr als
derjenige eines Dramas oder einer Tragödie; gegen Ende des Jahres teilt er es seinem
Freund Körner mit: »Ich will aber darum noch nicht sagen, daß ich für Gustav
Adolph entschieden bin, aber noch weiß ich keinen Stoff, bei welchem sich soviele
Erfordernisse zum Heldengedichte vereinigen.« [31] Körner bestärkt ihn in solchen
Plänen: »Gustavs deutscher Krieg als Stoff zu einem Heldengedichte ist eine Idee, die
mir sehr einleuchtet.« [32] Aber nicht Schiller hat in der Zeit der Klassik das alte
Epos erneuert, sondern Goethe hat es mit Hermann und Dorothea getan. Entstehung
und Abschluß des Gedichts begleiten die Arbeit am Wallenstein. Davon handelt
abermals ein Brief an Körner (vom 7. April 1797): »Das epische Gedicht von Goe-
then, das ich habe entstehen sehen, und welches, in unseren Gesprächen, alle Ideen
über epische und dramatische Kunst in Bewegung brachte, hat, verbunden mit der
144 Formen des nicht klassischen Dramas

Lectüre des Shakespeare und Sophokles [... ] auch für meinen Wal1enstein große
Folgen.« [33] Unterschiede wie Gemeinsamkeiten zwischen epischer und dramati-
scher Dichtung sind das große Gesprächsthema in der Zeit, in der das Drama ent-
steht. Als Dichter des Wallenstein hat Schiller eines Tages den Eindruck, daß ihn ein
epischer Geist angewandelt habe. Das läßt an den Umfang des ursprünglich epischen
Stoffes denken, der sich der Ökonomie einer Tragödie widersetzt. Aber Schiller ver-
bindet mit dem Begriff des epischen Geistes Vorstellungen, die der Erläuterung
bedürfen: »Es kommt mit vor, als ob mich ein gewisser epischer Geist angewandelt
habe [... ] doch glaube ich nicht, daß er dem Dramatischen schadet, weil er vielleicht
das einzige Mittel war, diesem prosaischen Stoff eine poetische Natur zu geben.« [33 a]
Indem Schiller dem »prosaischen Stoff« eine »poetische Natur« entgegensetzt, stellt er
zwischen beiden Stilarten Rangunterschiede her. Dem Poetischen wird der Vorrang
zuerkannt, und eine dramatische Dichtung ist für Schiller nicht schon deshalb poe-
tisch, weil sie dramatisch ist. Sie wird erst durch einen Zusatz von Epik zum eigentlich
poetischen Werk. [34] Die Erregung, die das Drama erzeugt, wird nicht als Selbst-
zweck begriffen. Sie ist durch eine gleichsam epische Ruhe ins Gleichgewicht zu brin-
gen; und das setzt Abstand voraus, der es erlaubt, die »auf uns eindringende Wirklich-
keit von uns entfernt zu halten und dem Gemüth eine poetische Freiheit gegen den
Stoff zu verschaffen«, wie es in einem wichtigen Brief an Goethe (vom 26. Dezember
1797) heißt. Dabei wird das Dramatische dem epischen Geist deutlich untergeordnet,
wenn es heißt: »Die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe wird also immer zu dem
epischen Charakter hinaufstreben und wird nur dadurch zur Dichtung. Das epische
Gedicht wird eben so zu dem Drama herunterstreben und wird nur dadurch den
poetischen Gattungsbegriff ganz erfüllen; just das, was beide zu poetischen Werken
macht, bringt beide einander nahe.« [34a] Freiheit des Gemüts, wie sie sein soll, ist
ohne eine gewisse Gedankenarbeit nicht erreichbar. Daher der epische Charakter,
die epische Ruhe, die sich Schiller als Dichter der Tragödie »in ihrem höchsten
Begriffe« vorbehält.
Mit Gemütsfreiheit, die epische Ruhe voraussetzt, werden auch die Probleme der
Retardierung in Verbindung gebracht. Wiederholt kommt man im Briefwechsel auf
sie zu sprechen, und die Arbeit am Wallenstein wird davon beeinflußt. Wohl mit
Beziehung auf das Zögern der Hauptgestalt nennt Schiller diese retardierend. Daher
hätten die Umstände alles zur Krise beizutragen, wodurch sich der tragische Eindruck
nur erhöhe. [35] An den homerischen Epen werden Motive des Retardierens studiert,
und sie werden als spezifisch episch angesehen. So vor allem versteht sie Goethe, der
sich darüber in einem Brief vom 19. April 1797 äußert: »Eine Haupteigenschaft des
epischen Gedichts ist, daß es immer vor und zurück geht, daher sind alle retardierende
Motive episch.« Doch bleiben sie auf epische Gattungen nicht beschränkt; denn
Goethe fährt fort: »Es dürfen aber keine eigentliche Hindernisse sein, welche eigent-
lich ins Drama gehören.« [36] Eben solche Hindernisse liegen auch im Fall Wallen-
steins vor: sein Zögern ist retardierend ganz im Sinne der dramatischen Form. Aber
die höchste Stufe der Retardierung ist erreicht, wenn die dramatische Erregung in
epische Ruhe umschlägt. Das ist möglich, so formuliert es Schiller, weil der Zweck
epischer Dichtung darin beruht, »bloß das ruhige Daseyn u. Wirken der Dinge nach
Episches im Theater der deutschen Klassik 145

ihren Naturen« zu schildern. Er liegt schon in jedem Punkt der Bewegung; »darum
eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe bei jedem
Schritte.« Einzig dadurch sei es auch möglich, uns die höchste Freiheit des Gemüts zu
sichern, während uns der tragische Dichter eben diese Freiheit des Gemüts raubt. [37]
Es wird deutlich, daß epische Ruhe nicht Untätigkeit und Erschlaffung meint. Sie
schließt im Gegenteil Anstrengungen des Geistes ein, die Goethe wiederum am ho-
merischen Epos verallgemeinernd beschreibt: »Einen Gedanken über das epische
Gedicht will ich doch gleich mitteilen«, heißt es im oben angeführten Brief vom
19. April 1797. »Da es in der größten Ruhe und Behaglichkeit angehört werden soll,
so macht der Verstand vielleicht mehr als an andere Dichtarten seine Forderungen,
und mich wunderte diesmal, bei Durchlesung der Odyssee gerade diese Verstandes-
forderungen so vollständig befriedigt zu sehen.« [38] Doch ist im Sinne Schillers auch
die Tragödie in ihrem höchsten Begriff einer solchen Ruhe zuzuführen. Mit ästheti-
scher Wirkung, mit der die Tragödientheorie seit Lessing vornehmlich operiert, wird
immer nur Allgemeines bezeichnet. Die Formen der Verstandestätigkeit kommen
dabei nicht zu ihrem Recht. Schiller versteht sie niemals isoliert, sondern in Verbin-
dung von Affekterregung mit Emotionalität, man könnte auch sagen: in Verbindung
des Dramatischen mit epischen Momenten und Motiven. Auf solche Verbindungen
kommt es ihm an; und es ist wiederum der epische Dichter, an den wir solche Anfor-
derungen stellen - »Anfoderungen [... ], die in der Integrität und in der allseitigen
vereinigten Thätigkeit unserer Kräfte gegründet sind.« [39]
Freiheit des Gemüts ist die Freiheit dessen, der eine epische oder dramatische
Dichtung aufnimmt. Sie betrifft den Leser, den Zuhörer oder den Zuschauer und
damit zugleich die Vortragsarten von Dichtung und die Formen ihrer Rezeption. Es ist
eindrucksvoll zu verfolgen, wie im Briefwechsel dieser Jahre bald die innere Gesetz-
lichkeit des Werkes, bald der Erzähler und bald der Zuschauer in das Blickfeld der
Betrachtung rücken; und für den letzteren interessieren sich die Wortführer der deut-
schen Klassik auf ihre Art kaum weniger als die Anwälte des epischen Theaters. So
sehr wird dieser in die Überlegungen Goethes wie Schillers einbezogen, daß man den
Eindruck gewinnt, er habe seinen Ort im System der klassischen Ästhetik wie die
Figuren in epischer oder dramatischer Dichtung auch. [40] Dem Drama ist es vorbe-
halten, eine Unmittelbarkeit zwischen Figur und Zuschauer herzustellen, die als »Ein-
fühlung« zum Ärgernis der Modeme geworden ist, von dem schon die Rede war.
Aber da im Verständnis der deutschen Klassik auch die Tragödie in ihrem höchsten
Begriff Gemütsfreiheit anstreben soll, hat sie auf gewisse epische Züge bedacht zu
sein; sie treten um so fühlbarer hervor, als der Abstand zur vorgeführten Handlung
für den Zuschauer fühlbar wird. Das ist in besonderer Weise dort der Fall, wo die
dramatische Darbietung die geschlossene Form durchbricht - wie zum Beispiel in der
romantischen Komödie, wenn eine der Figuren aus der Rolle fällt. Auch Prologen
und Vorspielen kann eine solche Funktion zukommen, sofern sie mehr sind als nur
poetischer Schmuck.
146 Formen des nicht klassischen Dramas

Prologe sind ein vielfach nicht wegzudenkendes Strukturelement in mittelhochdeut-


schen Epen. [41] Sie leiten ein und kündigen an. Auch im Drama haben sie ihren Ort.
Es gibt sie im Fastnachtsspiel des Hans Sachs, und es gibt sie im epischen Theater
unseres Jahrhunderts. Brechts Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe beginnt mit
einem Vorspiel. Der Direktor des Theaters wendet sich - in Knittelversen! - an die
Zuschauer und sagt:
»Geehrtes Publikum, das Stück fängt an.
Der es verfaßte, ist ein weitgereister Mann.« [42]

Furcht und Elend des Dritten Reiches wird von einem Prologsprecher eingeleitet,
der sich über den Gegenstand des szenischen Geschehens äußert und es ankündigt.
Das Verhör des Lukullus eröffnet ein Ausrufer; und wiederum mit einem Vorspiel
beginnt das Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan - und so fort. Die Struktur der
Ankündigung besagt, daß zunächst über das Stück gesprochen wird, ehe die Spieler in
ihm sprechen. Der Zuschauer wird ins Bild gesetzt, er wird über das Stück orientiert
und informiert. Jede vorzeitige Identifikation zwischen Bühnenfigur und Publikum
unterbleibt. Vom Drama der geschlossenen Form sollten wir erwarten, daß es sich
allen Öffnungen versagt und die Einheit zwischen Bühne und Zuschauerraum so eng
wie möglich versteht. Das trifft auch für zahlreiche Werke der deutschen Klassik zu,
aber doch eben mit Einschränkungen, die nichts Nebensächliches sind. Als ein Mu-
ster des deutschen Klassizismus um 1800 wird gern Schillers Braut von Messina ange-
sehen. Aber die Tragödie im antiken Stil bestätigt sich nur zum Teil. Das Drama ist
auf seine Weise offen. Die Öffnung wird durch den Chor erreicht: Mit der Trennung
von Dialog und Chorpartie wird ein Abstand hergestellt, auf den es Schiller an-
kommt. [43] Es geht um Formen der Distanz, einer eigentlich epischen Distanz. Sie ist
in der Braut von Messina mit dem Handlungsverlauf unmittelbar verknüpft. In ande-
ren Dramen tragen Prologe und Vorspiele zur Öffnung des vermeintlich geschlosse-
nen Dramas bei. Wieder sind es die beiden großen Tragödien der deutschen Klassik,
die auch in diesem Punkt von der Norm abweichen, die wir ihnen so gern unterstel-
len: In Goethes Faust wie in Schillers Wallenstein geht nicht nur ein Prolog dem
»eigentlichen« Drama Fausts oder Wallensteins voraus; vielmehr haben wir es in
beiden Werken mit mehreren Prologen bzw. Vorspielen zu tun. [44] In beiden Dramen
geht es dabei um epische Strukturen, um Formen der Distanz, die eine bestimmte
Einstellung des Zuschauers vorbereiten. Das geschieht im Wallenstein nicht erst im
Vorspiel des Lagers; auch das Prolog-Gedicht übernimmt eine solche Funktion. [45]
Es ist üblich, diesen Prolog zu behandeln, als gehöre er nicht zum Werk. Der bloß
äußere Anlaß - die Wiedereröffnung des Weimarer Theaters im Oktober 1798 -
scheint eine solche Behandlung zu rechtfertigen. Auch die Bezugnahme auf die Schau-
spielkunst, mit Anspielungen auf zeitgenössische Künstler, ist geeignet, eine Ablö-
sung vom Binnendrama vorzunehmen. Aber von den insgesamt 138 Versen verweilen
nur 49 bei der Kunst des Mimen, dem die Nachwelt keine Kränze flicht. Dagegen
handeln 88 Verse, also fast zwei Drittel des Prologs, über das Drama selbst; und sie
Episches im Theater der deutschen Klassik 147

handeln über das Drama im ganzen, obgleich auch Teile des Gedichts die Aufgabe
übernehmen, das Lager anzukündigen. Wir werden nicht im Unklaren gelassen, wie
wir über gewisse Personen und Vorgänge des Dramas denken sollen, das uns erwar-
tet. Denn dieser Prologdichter verhält sich als eine Art Dramenerzähler keineswegs
wertneutral. Er nimmt im Gegenteil Partei und sagt offen und deutlich seine Mei-
nung. Unmißverständlich spricht er sich gegen den Krieg aus, der als Zeichen einer
Zersplitterung verstanden wird, die uns alle geforderte Totalität, im Politischen wie
im Menschlichen, schuldig bleibt:
»Zerfallen sehen wir in diesen Tagen
Die alte feste Form ... « (Pr.l7a-71). [46]
Um so deutlicher wird dem Frieden und den Friedenshoffnungen das Wort gere-
det. Es ist nur folgerichtig, wenn sich der Dichter dieses Prologs mit dem Frieden
zugleich für den Bürger verwendet und dessen Rechte verteidigt:
»Der Bürger gilt nichts mehr, der Krieger alles,
Straflose Frechheit spricht den Sitten Hohn,
Und rohe Horden lagern sich, verwildert
Im langen Krieg, auf dem verheerten Boden« (Pr/87-90).
Die hier als wilde Horden auftreten und das Land verwüsten: das sind die Soldaten
dieses Krieges, aber die Truppen Wallensteins vor allem. Er wird als »verwegener
Charakter« bezeichnet, des »Lagers Abgott und der Länder Geißel« (Pr/95). Auf die
Macht Wallensteins - das »Herzstück« alles geschichtlichen Lebens - werden wir
aufmerksam. Schiller nennt sie nicht dämonisch, wie Literarhistoriker zu sagen pfle-
gen; er bezeichnet sie als verführerisch. Schließlich ist vom Lager die Rede, das die
Verbrechen dieses Menschen erklärt, dem unbezähmte Ehrsucht zugeschrieben wird.
Eine solche Einführung ist wenig geeignet, uns für eine Persönlichkeit wie diese zu
gewinnen. Wir werden hellhörig gegenüber dem, was uns angekündigt wird und
verhalten uns reserviert. Der Abstand, der damit geschaffen wird, ist unverkennbar.
Wir lassen es offen, ob wir ihn als episch bezeichnen sollen; besonders dramatisch ist
er nicht. Der Einwand drängt sich auf, daß man die Trilogie auch ohne den Prolog
verstehen kann und daß er daher entbehrlich ist. Dennoch werden wir schon hier auf
bestimmte Strukturen des Dramas aufmerksam, die als eine Art epische Distanz
gegenüber dem dramatischen Geschehen zu beschreiben sind. Sie treten im Vorspiel,
in Wallensteins Lager, nur um so deutlicher hervor.
Zum Verständnis dieses Vorspiels ist es wichtig zu wissen, daß es in der Urauffüh-
rung am 12. Oktober 1798 von den übrigen Dramenteilen getrennt aufgeführt wurde.
Es füllte zusammen mit dem Prolog und einem Stück von Kotzebue (Die eorsen) einen
eigenen Abend. Das Gedicht spricht diese Trennung seinerseits aus:
»Nicht er ists, der auf dieser Bühne heut
Erscheinen wird« (Pr/IU-I12).

Die gewisse Selbständigkeit beider Teile wird damit betont; und mit Recht, denn es
handelt sich um eine von der Tragödie abweichende Struktur des dramatischen Ge-
schehens. [47] In Wallensteins Lager vermißt man eine fortlaufende Handlung. Die
148 Formen des nicht klassischen Dramas

Szenen werden nicht zur Fabel einer Tragödie verknüpft. Sie werden aneinanderge-
reiht - wie in der offenen Form des Dramas. Zwar ist das Lager in der Vielzahl seiner
Figuren, Stände und Gruppen durchaus als ein Ganzes anzusehen, in allem als ein
Produkt und Instrument Wallensteins. Aber diese Ganzheit ist eine solche der locke-
ren Bilderfolge, nicht eines streng ineinandergreifenden Handlungsablaufs. Dem epi-
schen Theater steht daher Wallensteins Lager weit näher als der klassischen Tragödie.
Das Geschehen dieses Vorspiels steht der Komödie nahe, und als eine Komödie hat
man es auch wiederholt interpretiert, so neuerdings Gerhard Kaiser. [48] Wallensteins
Lager sei die einzige große Komödie, die Schiller geschrieben habe, führt er aus, und
er kann sich dabei auf eine Bemerkung Goethes berufen: »Das erste Stück [... ]
könnte man unter der Rubrik eines Lust- und Lärmspiels ankündigen!« [49] Eine
solche Zuordnung leuchtet ein. Schon die Sprachebene, die Knittelverse einer niede-
renStillage, bestätigt die Gattungsbezeichnung, die hier vorgeschlagen wird. Wir
werden damit an einen Begriff von Komödie erinnert, wie er vor Durchbrechung der
Ständeklausel üblich war, in der Zeit also , in der unser Drama spielt. In ihr war
ausschließlich der Komödie die Darstellung niederen Lebens vorbehalten, und vor-
nehmlich mit einer Darstellung solchen Daseins haben wir es zu tun. Nirgends treten
Personen hohen Standes auf. Weder Wallenstein noch die Piccolomini noch irgendei-
nen anderen General der Armee bekommen wir zu sehen. Auch die Geistlichkeit ist
nur in ihren niedersten Chargen vertreten: in der Person des Kapuzinermönchs, der
mit der Derbheit seiner Ausdrücke die Sprachebene nicht verläßt, die für die Komö-
die bezeichnend ist. Seine Wortspiele sind so plump wie komisch; und im Zeichen von
Komik steht auch das Auftreten der Marketenderin. Ihrer freizügigen Moral entspre-
chend nennt sie das uneheliche Kind, das ihr »hinterlassen« wurde, einen Schlingel
(L/158). Der Jäger, mit dem sie darüber ins Gespräch kommt, kommentiert ihre
»Hinterlassenschaft« in Wendungen, die das Verjüngungsmotiv des Dramas vorweg-
nehmen, nur eben auf einer niederen Stufe:
»Nun, nun! das muß der Kaiser ernähren,
Die Armee sich immer muß neu gebären« (Ul60-161).

Das alles hört sich zweifellos sehr lustig und sehr munter an, und als ein lust,i.ges
Spiel hat man das Lager auch gern in alter wie in neuer Zeit aufgefaßt, sofern dieser
Teil nicht in erster Linie als eine glänzende Exposition gerühmt wurde, in der Wallen-
steins Sturz und Tod schon immer angelegt ist. [50] Wallensteins Lager also ein »heite-
rer Einakter«[51]; ein Stück, das »fröhliche Anschauung« und »ritterlich freudiges
Selbstgefühl« verbreitet[52]: »das freieste und froheste Spiel, das Schiller je geglückt
ist«[53]; schließlich eine Komödie, in der die Heiterkeit ästhetischer Freiheit verkün-
det wird! [54] Aber darf Schillers Vorspiel zu seiner eigentlich sehr düsteren Tragödie
so unbeschwert aufgefaßt werden, und ist der Begriff der Heiterkeit hier überhaupt
am Platz? [55] Die Schlußverse des Prologs von der Heiterkeit der Kunst beziehen sich
auf das Ganze der Trilogie. Damit ist die künstlerische Form gemeint, die Darstellung
- nicht das dargestellte Leben selbst, wie wir es als Zuschauer überblicken. Dieses
Leben ist von Ernst und vielfach von Grausamkeit gezeichnet. Hier wird gelogen und
betrogen. Aber Listen und Schliche, mit denen man andere hintergeht, haben nir-
Episches im Theater der deutschen Klassik 149

gends das Format der großen Welt. Sie zeugen allenfalls von Pfiffigkeit und Bauern-
schläue. Die Redeweise der Soldaten ist zumeist anzüglich, frech und brutal. »Da
trink, du Hund!« (U53) sagt der Ulan zum Bauern. Die Verkehrung allen humanen
Denkens bringt uns der Erste Arkebusier mit dem lapidaren Satz zum Bewußtsein:
»Der Bauer ist auch ein Mensch - so zu sagen« (U658).

Bauern sind auch Menschen, das ist der Sinn seiner Rede, und man spürt, daß sie
nicht als Lehre oder Sentenz des Dramas aufzufassen ist. Wallensteins Lager steht ganz
im Zeichen des Krieges, den Schiller als Dichter dieses Dramas nirgends verherrlicht.
Wie schon im Prolog spricht sich auch das Vorspiel gegen ihn aus. Aber das geschieht
nicht direkt wie in der Rede des Prologdichters, sondern in einer Darstellung, die
darauf zielt, die Aussagen der Personen zu desauvouieren. Die Soldaten, die in diesem
Lager das Leben lustig finden, weil man sich nimmt, was man braucht, berechtigen
uns daher nicht, auch das Ganze lustig zu finden. Das muntere Lagerleben ist nur die
Oberfläche, die ein weithin sinnentleertes Dasein verdeckt. Heimkehr ist in diesem
Drama Schillers ein bedeutungsvolles Wort von fast utopischer Bedeutung. Max
Piccolomini spricht es im zweiten Teil der Trilogie aus, kaum daß wir ihn kennenge-
lernt haben:
»0 schöner Tag! wenn endlich der Soldat
Ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit« (P/534-535).

Die Soldaten dieser Armee wissen von Heimkehr wenig. Sie sind heimatlose Gesel-
len. Die Fremde des Lebens hat sie geprägt. [56] Aber sie scheinen darunter kaum zu
leiden: denn es fehlt ihnen das Bewußtsein von Leid. Hier steht jeder gegen jeden:
der Soldat gegen den Bauern, die Partei des Kaisers gegen die Partei des Friedlän-
ders, der Kapuzinermönch gegen sie alle. Standesdünkel und soziale Überheblichkeit
sind an der Tagesordnung. Sie sind die Regel, die hier gilt. Man spielt Rollen, die
nicht durchschaut werden [57]; und wenn von Geist die Rede ist, verspürt man vom
Wehen des Schöpfergeistes nicht einen Hauch. [58] Es gibt keine überlegene Figur
wie sonst in der Komödie. Daher ist das Stück eine Tragikomödie weit mehr als eine
Komödie von der heiteren Art.
Solchen Auffassungen scheint das Reiterlied am Schluß des Lagers zu widerspre-
chen. Innerhalb dieser soldatischen Daseinsform ist damit sicher die höchste Stufe
erreicht. Die Beschwingtheit des Tons und die siegesgewisse Todesverachtung faszi-
nieren. Herausgelöst aus dem Kontext, aus dem es nicht herausgelöst werden darf,
könnte es von jedem Militärstaat der Welt als ideale Nationalhymne beansprucht
werden. Aber zu wörtlich sollte man auch dieses Lied nicht verstehen. Es ist nicht
anzunehmen, daß Schiller als Schöpfer solcher Gestalten glaubt, was er sie sagen läßt:
daß nur der Soldat ein freier Mensch zu nennen sei. Nichts weniger als frei sind diese
Soldaten; denn sie sind zumeist nur Kreaturen Wallensteins, dem sie mit Leib und
Leben ergeben sind. Im Reiterlied spiegelt sich, erhöht und idealisiert, eine Auffas-
sung vom Leben wider, die im Lager die übliche ist. Dieser Auffassung zufolge ist das
Leben nicht viel wert. Man spielt mit ihm; man setzt es aufs Spiel. Solcher Einsatz mag
vom Beruf des Soldaten gefordert sein, aber doch vom Beruf in einer Welt, die so
150 Formen des nicht klassischen Dramas

nicht bleiben kann, wie sie ist. Denn eigentlich ist es eine verkehrte Welt, und das
Reiterlied ist ihr faszinierendes und mitreißendes Zeugnis. Was "Sein sollte - die Be-
schwingtheit, die Furchtlosigkeit vor dem Tod, das Dasein als Spiel- ist abzulesen am
Gegenteil dessen, was wirklich ist. In diesem Lied eine Vorwegnahme ästhetischer
Freiheit im Zustand unbeschwerten Spiels zu sehen, ist nur dann berechtigt, wenn
man die Spiegelbildlichkeit in Rechnung stellt: die Vorwegnahme von Zukunft inner-
halb einer verkehrten Welt. Damit würde zweifellos auch idyllisches Dasein antizi-
piert; und da das Lager Wallensteins im Zeichen des Krieges vorgeführt wird, wäre es
eine kriegerische Idylle. [59] Aber eine kriegerische Idylle ist eine contradictio in
adiecto, ein Widerspruch per se. Diesen Widerspruch gilt es zu erkennen; und Schil-
lers Vorspiel hat es auf diese Erkenntnis abgesehen.
Der Struktur des Widerspruchs entspricht die Redeweise, die uns warnt, das Ge-
sagte wörtlich zu nehmen. Im Gegensinn liegt weit öfters die Wahrheit des Gemein-
ten. Wenn der Wachtmeister des Lagers den Krieg als Losung auf Erden proklamiert
und entsprechend seinem Fortunaglauben überzeugt ist, daß aus dem Soldaten noch
alles werden könne, so ist damit nicht die Meinung Schillers umschrieben, obschon es
keine Gestalt in diesem Vorspiel gibt, die sie zum Ausdruck bringt. Einer der Holk-
sehen Jäger behauptet, dem Namen des Friedländers keine Schande zu machen. In
Wirklichkeit erhalten wir als Zuschauer Kenntnis vom Gegenteil dessen, was er sagt:
»Wir heißen des Friedländers wilde Jagd,
Und machen dem Namen keine Schande -
Ziehen frech durch Feindes und Freundes Lande,
Querfeldein durch die Saat, durch das gelbe Kom -« (U213-216).

Der Widerspruch zwischen Tun und Denken ist hier wie sonst das Prinzip, das zu
Erkenntnis verhilft. Das wird deutlich an der Totalität, die den Wortführern der
deutschen Klassik ~ viel bedeutet. Sie wird zum Schlüsselbegriff der Epoche. In der
Betrachtung des Lagers ist sie nur im Gegensinn erkennbar: als Widerspruch gegen-
über dem, was sein sollte. Denn Wallenstein selbst ist in der Auffassung seiner
Soldaten die Totalität. Er und kein anderer hat sie zu einer Einheit »zusammenge-
schmiedet«, und wir lernen erkennen, daß es nicht die rechte Einheit sein kann, wenn
es sich so verhält. Solche Einheit ist seiner Individualität und mehr noch seiner Macht
zuzuschreiben, die das alles zustandebringt. Daher kann es auch nicht die rechte Indivi-
dualität sein, wenn sie so beschaffen ist, daß sie andere unterjocht und ihnen jedes
Selbstsein raubt, wie es geschieht:
»Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt Ihr ihm glücklich abgeguckt« (U208-209).
Als Zuschauer befinden wir uns im Akt solcher Wahrnehmungen nicht auf der
Bewußtseinsebene derer, die hier sprechen. Wir stehen darüber. [60] Auch gegen-
über Wallenstein bleiben wir in Distanz. Prolog und Vorspiel vermitteln ein wenig
günstiges Bild von ihm. Wir sehen uns gewarnt, unbekümmert den Gerüchten zu
trauen, die hier im Lager kursieren. Eine beunruhigende Zweideutigkeit liegt über
dem Ganzen. Sie findet ihren Ausdruck in den Redeformen, für die sich der Begriff
der Ironie anbietet.
Episches im Theater der deutschen Klassik 151

Ironie ist als Redeform vornehmlich eine Sache der Philologen. Doch ist ihre
Erforschung nicht deren Privileg. Auch in Theologie und Philosophie ist sie ein
vertrauter Begriff. Sie hat seit den Tagen des Sokrates nicht aufgehört, die Geister zu
beschäftigen. Kierkegaards berühmte Dissertation gibt darüber Auskunft. Doch
kommt es uns nicht auf diese Vorgeschichte an. Wir richten uns auf epische und
dramatische Ironie, auf Ironie in epischer und dramatischer Dichtung und sind uns
bewußt, daß es sie auch außerhalb der Literatur gibt: als Bestandteil der Umgangs-
sprache, deren wir uns ohne alle literarischen Absichten bedienen. Ihr Gebrauch setzt
im allgemeinen eine Überlegenheit voraus, aus der heraus gesprochen wird. [61] Die
so gebrauchte Ironie ist an einen Sprecher gebunden, der sie anderen gegenüber übt.
Auch die Person einer Erzählung kann sich ironisch gegenüber anderen Personen
äußern. Aber die eigentlich erzählerische Ironie ist von anderer Art. Sie entsteht,
wenn sich der Erzähler gegenüber einer seiner Figuren kritisch oder ironisch verhält;
wenn er sie Aussagen machen läßt, die mit seinem eigenen Bewußtsein nicht überein-
stimmen. Als Erzähler des Wilhelm Meister macht Goethe von dieser Ironie wieder-
holt Gebrauch. Er läßt seinen Helden tun und reden, was er selbst durch die Art
seines Erzählens auf eine meistens freundliche Weise desavouiert. Eine Diskrepanz
zwischen dem vom Erzähler Gemeinten und dem von seinem Helden Gesagten wird
offenkundig. Sie muß sich nicht als ironische Rede äußern. Der Erzähler kann seinen
Helden ohne jede Zwischenrede ironisch behandeln, wie es Wilhelm Meister wider-
fährt. Es wird erzählt, wie ihm in seiner Begeisterung für das Theater entgeht, daß die
geliebte Person schon eingenickt ist, der er dies alles erzählt. Das Kapitel, in dem
dieser Vorgang geschildert wird, endet mit dem ironischen Verweis, den er vom
Erzähler erhält: »es ist zu wünschen, daß unser Held für seine Lieblingsgeschichten
aufmerksamere Zuhörer künftig finden möge.« [62]
In ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion ist davon die dramatische oder tragische
Ironie zu unterscheiden. [63] Man bezeichnet damit eine eigentümliche Umschläglich-
keit oder, mit einer Wendung Wilhelm Diltheys, ein Verhältnis, »nach welchem wir
uns dann am sichersten dünken, wenn über uns von anderen Händen die Würfel
geworfen werden.« [64] Das Wesen dieser dramatisch-tragischen Ironie beruht darin,
daß mit dem Handeln einer Person etwas anderes bewirkt wird, als ursprünglich
beabsichtigt war. Etwas treibt den Menschen, wie im Falle des Königs Oidipus,
»sinnvoll zu handeln, um ihn gerade dadurch sinnlos zu vernichten«. [65] Dessen
Taten, so hat es Heinrich Weinstock beschrieben, sind »zur Zweideutigkeit der tragi-
schen Ironie verflucht, indem sie je das Gegenteil von dem bewirken, was sie beab-
sichtigten. Gerade dadurch, daß Oidipus dem ihm offenbarten Schicksal entgehen
will, läuft er ihm in die Arme, und wenn er etwas unternimmt, das ihn sichern soll, so
bringt gerade das ihn dem Abgrund näher.« [66] Aber so sehr man zu wissen meint,
worum es geht, so sehr hat man es mit einem vielfach ungeklärten und unbestimmten
Begriff zu tun, der auf sehr verschiedene Vorgänge angewandt wird. Die aristotelische
Poetik kennt ihn nicht. Allenfalls ist tragische Ironie in dem so verstandenen Sinn mit
der Peripetie verwandt, und sicher ist sie in der U!1UQ'[LU enthalten; denn eine Unwis-
152 Formen des nicht klassischen Dramas

senheit des Handelnden ist hier wie dort im Spiel. Diese dramatische Ironie der
Umschläglichkeit kann das Ansehen einer »Schicksalsironie« erhalten, einer rächen-
den Nemesis, wenn man das Drama vornehmlich als die Darstellung eines schicksal-
haften Ablaufs versteht, bei welchem der Dramendichter nicht mitredet, sondern
gleichsam zum Sprachrohr des Schicksals wird. Seine Deutung bleibt auf das imma-
nente Geschehen beschränkt und kann wie folgt umschrieben werden: »die Leitung
des ironisch-grausamen Spieles wird in der tragischen Ironie ja an eine ~ac abge-
treten, als deren Spielball das tragische Dasein sich selbst erkennen muß.« [67] Wird
dagegen das Geschehen zum Zuschauer hin geöffnet in der Weise, daß dieser mehr
weiß als die Personen des Dramas wissen oder wissen können, so haben wir es mit
einer tragischen Ironie von anderer Beschaffenheit zu tun, obgleich sie von der schon
erwähnten »Schicksalsironie« zumeist nicht unterschieden wird. Derselbe Interpret
der sophokleischen Tragödie, der die ironische Umschläglichkeit beschreibt und als
tragische Ironie bezeichnet, gebraucht für die anders beschaffene Rede-Ironie - unter
Einschluß des Zuschauers - denselben Begriff: »Alles, was Oidipus sagt, ist auf eine
unheimliche Weise doppelsinnig, indem das vom Sprecher im Sinne seiner Schein-
wirklichkeit Gemeinte zugleich die tatsächliche Wirklichkeit aussagt. Dieser vom
Sprecher und auch den anderen Menschen der Bühne ungewußte wahre Sinn ist für
den wissenden Dritten, d. h. den Zuhörer im Theater, aber deutlich vernehmbar.
Und so erfährt der Zuhörer aus dieser schauerlichen und unbewußten Zweideutigkeit
der Äußerungen menschlichen Wissens und Wollens, die man seit langem als tragi-
sche Ironie bezeichnet, in einer nicht zu überbietenden Unmittelbarkeit die Zweideu-
tigkeit der ganzen Existenz des Menschen, der da wähnt, er spreche, während es
tatsächlich durch ihn spricht.« [68] Ein solches Mehrwissen ist aber keineswegs eine
Bedingung des dramatischen Geschehens und des tragischen Vorgangs. Dem Zu-
schauer kann es vorenthalten werden; oder er kann es vergessen, weil er sich so
unmittelbar am Geschehen auf der Bühne beteiligt, daß er sich mit dem Helden des
Dramas - ganz im Sinne der aristotelischen Dramatik - identifiziert. Wo dagegen
solche Unmittelbarkeit durch ein Mehrwissen des Zuschauers eingeschränkt er-
scheint, haben wir es mit einer Ironie zu tun, die ihrer Struktur nach epische Ironie ist,
wenngleich sie durch die Darbietungsart noch immer dramatisch wirkt. Als episch
darf sie behelfsweise deshalb bezeichnet werden, weil mit dem veränderten Wissens-
stand des Zuschauers ein Abstand hergestellt wird, der sich mit dem Abstand in
epischer Dichtung vergleichen läßt: der Zuschauer befindet sich gewissermaßen in
der Rolle des Erzählers, der Anfang und Ende der Geschichte überblickt. Es ist klar,
daß wir uns vor allem für diese Art von Ironie in Schillers Wallenstein-Drama interes-
sieren, weil sie zugleich den Anteil des Zuschauers klären hilft, der uns zu besserem
Verständnis des Werkes wichtig ist.
Ironie ist den zahlreichen Interpreten des Dramas kein unvertrauter Begriff. Es ist
viel von ihr die Rede, wohin man liest. Die Ironie der Umschläglichkeit, als jene
unbekannte und rätselhafte Macht, die mit den Menschen ihr Spiel treibt, hat man
vor allem wahrgenommen. »Es geschieht nicht, was gewollt wird, oder es geschieht
anders als geplant«, so erläutert es Gerhard Storz. [69] Auch die Verkennung und
Verblendung Wallensteins wird wiederholt mit dramatischer Ironie in Verbindung
Episches im Theater der deutschen Klassik 153

gebracht oder ausdrücklich so bezeichnet. Daß man auch die durch das Mehrwissen
des Zuschauers zustandekommende Ironie beachtet oder untersucht, ist selten. Und
doch ist es gerade diese Art von Ironie, die für Schillers Wallenstein so charakteri-
stisch ist. [70] Sie bezeugt wohl auch am stärksten die Nähe zur Tragödie des Sophok-
les. Diese Ironie der Rede mit dem Wissen des Zuschauers, das dem Wissen Wallen-
steins überlegen ist, wird in einer uns ergreifenden Weise in den Schlußszenen des
großen Dramas vernehmbar, wenn Wallenstein in Unkenntnis der Mordpläne, die
gegen ihn geschmiedet werden, einen langen Schlaf zu tun gedenkt und wir längst
wissen, um welchen Schlaf es sich handelt. Aber keineswegs nur in einer Szene wie
dieser ist der für die Tragödie ic ~ Doppelsinn zu vernehmen. Er liegt
über dem Geschehen von Anfang an. Das bessere Wissen, das wir ihm voraus haben
und das die Ironie entstehen läßt, ist uns nicht zuletzt aus der Kenntnis des Lagers
zugekommen. Wir wissen, daß nur Wallenstein in seiner Person die Einheit der Ar-
mee verkörpert und daß doch bereits der Riß überall vorhanden ist, der auf den
Verfall seiner Macht vorausweist, so daß alle Beteuerungen der Macht Wallensteins
im Licht der Ironie aufzufassen sind. Vor allem aber wissen wir, welche Rolle Octavio
spielt. Wir sind längst Augenzeuge der Vorkehrungen geworden, die er getroffen hat,
um seinen Gegenspieler zu stürzen. Der erste Akt der Piccolomini wird von diesen
Vorkehrungen beansprucht. Wallenstein, der davon nichts ahnt, hält am Vertrauen
fest und behauptet gegenüber anderen, die bessere Kenntnis der Personen zu besitzen.
Er weist Terzky, der ihn vor dem schlauen Fuchs warnt, in barschem Ton zurück:
»Lehre du
Mich meine Leute kennen. Sechzehnmal
Bin ich zu Feld gezogen mit dem Alten ... « (P/886-888).

Vertrauen zu anderen Menschen ist eine Eigenschaft, die denjenigen ehrt, der sie
besitzt. Hier aber hat es das Ausmaß einer Verblendung angenommen. Mit dem
Abstand des Betrachters, der das Ganze überschaut, haben wir als Zuschauer diese
Verblendung wahrgenommen, kaum daß Wallenstein die Bühne betreten hat. Wir
wissen, daß er sich in einer solchen befindet, wenn er sich gegenüber allen anderen
für überlegen hält. Während er die Geheimnisse zu durchschauen meint, sieht er mit
der Geste der Verachtung auf Illo als einen Menschen herab, der blind im Unterirdi-
schen wühlt. Ohne Schonung der Person spricht er es aus:
»Du kannst in die Geheimnisse nicht schauen.
Nur in der Erde magst du finster wühlen,
Blind, wie der Unterirdische, der mit dem bleichen
Bleifarbnen Schein ins Leben dir geleuchtet« (P/969-972).

Daß er selbst wie ein Blinder im »Unterirdischen« befangen ist, weiß er nicht. Was
er sagt, wird von ihm im Ausmaß dessen nicht erfaßt, was es bedeutet. Daher ge-
braucht nicht er die Ironie, die den Doppelsinn solcher Redeszenen prägt. Aber der
»Dramenerzähler« verfügt über sie und weiß sie zu handhaben. Von ihm geht sie auf
den Zuschauer über. Die Unwissenheit Wallensteins und sein blindes Vertrauen
gegenüber Octavio sind der Grund unserer kritischen Distanz. Denn in Wallensteins
154 Formen des nicht klassischen Dramas

Vertrauen zu Octavio spielen Aberglaube und Irrationales hinein. Es hängt mit sei-
nem Sternenglauben aufs engste zusammen, wie er es Terzky beiläufig wissen läßt:
>)- Zudem - ich hab sein Horoskop gestellt,

Wir sind geboren unter gleichen Sternen -« (P/888-889).


Der gewisse Vorbehalt, der uns nach Kenntnis des Lagers geblieben ist, gilt diesem
Glauben vor allem.

Daß Wallensteins Sternenglaube auf eine betont kritische, ja satirische Konzeption


Schillers zurückgeht, ist in einem Brief an Goethe (vom 4. Dezember 1798) zu entneh-
men: »Ich wünschte nun zu wissen [... ] ob also die Fratze, die ich gebraucht, einen
gewißen tragischen Gehalt hat, und nicht bloß als lächerlich auffällt.« [71] Vom
Sternenglauben seines Helden - dies kann kaum zweifelhaft sein - hält Schiller zu
Beginn seiner Arbeit am Drama nicht viel. [72] Er nimmt ihn vorwiegend historisch:
als etwas, was dem Geist jenes Zeitalters entspricht. Die »Entmythologisierung«
dieses Glaubens hat er als Dichter des Dramas bereits geleistet, ehe er sich der
Schwierigkeiten bewußt wird, die sich mit der Verwendung des Motivs verbinden. Es
ist ihm in erster Linie um eine Vereinbarkeit mit dem tragischen Gehalt zu tun. Das
leuchtet ein. Denn so sehr die Tragödie einen kritischen Abstand verträgt, so sehr
sind ihr doch auch hinsichtlich solcher Kritik Grenzen gesetzt, wenn sie nicht in einem
Lehrstück enden soll. Ein Motiv, dem etwas Abgeschmacktes und Törichtes anhaftet,
stünde der tragischen Fabel im Wege. Die Aufgabe, der sich Schiller gegenübersah,
war mithin nicht leicht. Sie sah vor, den Helden (und uns) über einen Glauben als
Aberglauben zu belehren, ohne damit die Tragödie in ein Lehrstück zu verwandeln. In
Anbetracht solcher Schwierigkeiten sind ihm Goethes Hinweise hilfreich gewesen,
die einer gewissen Aufwertung des Sternenglaubens das Wort reden: »Der astrologi-
sche Aberglaube ruht auf dem dunkeln Gefühl eines ungeheuren Weltganzen. Die
Erfahrung spricht, daß die nächsten Gestirne einen entschiedenen Einfluß auf Witte-
rung, Vegetation usw. haben, man darf nur stufenweise immer aufwärts steigen, und
es läßt sich nicht sagen, wo diese Wirkung aufhört.« [73] Das ist unverkennbar Goe-
thesche Symbolik, die alles mit allem verknüpft. Die Einfügung in das Weltganze ist
der deutliche Ausdruck eines Denkens, das auf dem Glauben an eine Ganzheit als
dem Zusammenhang aller Dinge basiert. Wir wollen bestreiten, daß dem Sternen-
glauben Wallensteins in der Auffassung Schillers ein solcher Symbolwert zukommt-
trotz der Aufwertung, die das Motiv nunmehr erhält. [74] Aber diese Aufwertung
betrifft, wie ausgeführt, in erster Linie die Vereinbarkeit mit der tragischen Fabel. Sie
ist darin zu sehen, daß auch Max und Thekla, die »Symbole« einer idealischen Welt,
einem Sternenglauben zuneigen. Das Motiv erhält damit einen partiell positiven Sinn.
Aber Max und Thekla verstehen diesen Glauben als Zusammenhang mit dem Welt-
ganzen, fast im Sinne Goethes. Eben deshalb kann er für sie ein heiterer Glaube sein.
Wallensteins Sternenglaube ist ein derart heiterer Glaube nicht. Ihm wohnt etwas
Episches im Theater der deutschen Klassik 155
Dunkles und Unheimliches inne; und er ist ihm ein Mittel der Berechenbarkeit oben-
drein. Theklas Äußerung im Gespräch mit Max enthält eine Einschränkung, die sie,
unüberhörbar auch für uns, vorbringt:
»Wenn das die Sternenkunst ist, will ich froh
Zu diesem heitern Glauben mich bekennen« (P/1644-1645).
Sie ist es im Falle Wallensteins nicht, müssen wir ergänzen. Sein Glaube ist nicht
das, was sich Max und Thekla wünschten. Ihm selbst ist das Weltganze weit mehr um
der eigenen Person willen wichtig; und daß die kritische Distanz gegenüber diesem
Glauben erhalten bleibt und sich gegen Ende hin verstärkt, ist am Verlauf der Hand-
lung zu verfolgen. Auch hier bereitet das Lager auf die kritische Einstellung vor. Wir
erhalten Kenntnis von dem Gerede, in das Wallenstein aufgrund seiner Sternengläu-
bigkeit geraten ist. Man sieht in ihm einen Teufelsbündler. Von Hexenkunst und
Zaubersprüchen ist die Rede. Die mysteriösen Begleitumstände schildert der Wacht-
meister auf seine Art, aber in der Sprache des Lagers:
»Sie sagen, er les auch in den Sternen
Die künftigen Dinge, die nahen und femen;
Ich weiß aber besser, wie's damit ist.
Ein graues Männlein pflegt bei nächtlicher Frist
Durch verschlossene Türen zu ihm einzugehen,
Die Schildwachen habens oft angeschrien,
Und immer was Großes ist drauf geschehen,
Wenn je das graue Röcklein kam und erschien« (U370-377).
Die Einführung des Motivs in dieser Sprache und in solchem Kontext ist nicht
geeignet, uns für Wallenstein und seinen Glauben einzunehmen. Es wäre denkbar,
daß das Drama diese Auffassung korrigiert oder widerlegt. Aber eher das Gegenteil
geschieht. Zwar ist dieser Glaube in den späteren Teilen der Trilogie nicht mehr die
Fratze, als die er im Lager noch erscheint. Aber ebensowenig ist er ein Symbol, mit
dem wir uns auf das Weltganze verwiesen sehen. Schiller hat es gegenüber diesem
Glauben nicht an Warnungen fehlen lassen, die er irgendwelche Figuren seines Dra-
mas aussprechen läßt:
»O! du wirst auf die Sternenstunde warten,
Bis dir die irdische entflieht! Glaub mir,
In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« (P/960-962).
Er läßt es zu, daß sich die Gräfin Terzky über den astrologischen Turm lustig macht,
um später Wallenstein unumwunden wissen zu lassen, wie sie hierüber denkt:
»o! laß
Des Aberglaubens nächtliche Gespenster
Nicht deines hellen Geistes Meister werden!« (T/539-541).
Gewiß hat Schiller als Schöpfer dieser Figur (der Gräfin Terzky) wenig getan, sie
uns näherzubringen. Trotzdem behält sie recht. Das zeigt sich abermals am Motiv des
Vertrauens zu Octavio. Hier am wenigsten läßt Wallenstein mit sich reden. Glaube
und Wissenschaft werden in seiner Auffassung zu einer Einheit, wie es sie allenfalls in
mythischen und vorwissenschaftlichen Zeitaltern gegeben hat:
156 Formen des nicht klassischen Dramas

»Du wirst mir meinen Glauben nicht erschüttern,


Der auf die tiefste Wissenschaft sich baut« (T/891-892).
Wallenstein bringt zusammen, was zusammengehören sollte und doch nicht ohne
weiteres zusammengebracht werden kann in der Welt, in der wir leben. Die Einheit
von Glaube und Wissenschaft betrifft zugleich die Einheit des Menschen, seine Totali-
tät. Aber diese Einheit beruht hier auf Voraussetzungen, die der Wahrheit nicht
entsprechen. Wallenstein stellt das »Falsche« eines solchen Glaubens zwar in Rech-
nung:
»Lügt er, dann ist die ganze Sternkunst Lüge« (T/893).
Noch aber ist er von der Wahrheit der Sterne überzeugt, wenn er mit Illo darüber
spricht. Erst am Ende erfolgt die Absage; und daß es sich um eine solche handelt,
kann kaum zweifelhaft sein, wenn es heißt:
»Von falschen Freunden stammt mein ganzes Unglück,
Die Weisung hätte früher kommen sollen,
Jetzt brauch ich keine Sterne mehr dazu« (T/3611-3613).
Die dramatische (oder epische) Ironie, über die wir als Zuschauer von Anfang an
verständigt sind, hat demnach eine deutlich umschriebene Funktion, eine Erkenntnis-
funktion: sie soll als Aberglaube enthüllen, was irrtümlicherweise für Glauben gehal-
ten worden ist. Das gilt gleichermaßen für die Art, wie Schicksal im Verständnis des
Dramas erscheint - wie es im Verständnis Wallensteins erscheint. Auch in diesem
Punkt wird nicht gefordert, daß wir uns mit der Hauptfigur identifizieren, sondern daß
wir eine Art epischen Abstandes wahren.
Daß der Sternenglaube Wallensteins mit seinem Schicksalsglauben aufs engste
zusammenhängt, belegen zahlreiche Wendungen im Text, die Stern und Schicksal fast
wie synonyme Begriffe verwenden. Wallenstein sagt, er habe ein »Pfand vom Schick-
sal«, und meint damit Octavio Piccolomini (T/894), dessen Person ihn in der Überzeu-
gung bestärkt, daß Sterne niemals lügen. Später werden Sternenlauf und Schicksal
miteinander verknüpft. Dieser Zusammenhang ist von größter Bedeutung für das
Verständnis der Tragödie. Er macht deutlich, daß wir nicht unbesehen glauben sol-
len, was im Text des Dramas über Schicksal gesagt wird. Dieser Begriff wird der
Kritik nicht entzogen. Zwar wird das Wort in der Klassik noch durchaus unkritisch
gebraucht. Daß es das tragische Drama vorzüglich mit Schicksal zu tun habe, während
der Zufall im Roman gar wohl sein Spiel treiben könne, wird im Wilhelm Meister
ausgeführt. [75] Erst recht gewinnt das Wort mit der Schicksalstragödie der Romantik
an Aktualität. Auch Schiller gebraucht es oft. So zum Beispiel in der Abhandlung
Ueber das Erhabene: »Zu dieser Bekanntschaft nun [... ] verhelfen uns die patheti-
schen Gemählde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit.« [76] Daneben gibt es
die gleichsam säkularisierte, die von allen Mythen befreite Bedeutung im Sinne bloß
von Unglück, wie in der Braut von Messina [77]; ähnlich mit Beziehung auf das
Wallenstein-Drama: das eigentliche Schicksal tue noch zu wenig und der eigene Fehler
des Helden noch zu viel zu seinem Unglück. [78] Der Brief, der die berühmte Wen-
dung von der tragischen Analysis enthält, spricht sachlich und nüchtern von den
Umständen, die alles zur Krise tun und dadurch den tragischen Eindruck nur erhöhen.
[79] Gleichwohl: eines sind solche Äußerungen im vielfach ungeklärten Gebrauch der
Episches im Theater der deutschen Klassik 157

Sprache; ein anderes ist die durchdachte Bedeutung, die ihnen im Text einer Dich-
tung zukommt. Wenn Wallenstein vom Schicksal spricht, so spricht er zumeist von ihm
wie von etwas Numinosem. Er denkt da gleichsam in den Begriffen des antiken
Mythos und benennt sie als tückische Mächte (T/190) oder als Mächte des Schicksals
(T/1669), deren Eifersucht zu fürchten sei. Zwar gehört die Nemesis als Begriff nicht
zum Wortschatz des Dramas. Aber dem Sinne nach geht es um sie, wenn von Rache-
göttinnen oder verwandten Erscheinungen gesprochen wird, und es ist Wallenstein
als tragische Person vor anderen, der diesem Schicksalsglauben verhaftet bleibt. Aber
die Meinungen des Hauptcharakters oder anderer Personen sind nicht mit der »Mei-
nung« des Dramendichters zu verwechseln. »Wenn in der Trilogie das Schicksal als
geheimnisvoll waltende Macht erscheint, so kann dies nicht ohne weiteres als persön-
liches Bekenntnis ihres Autors verstanden werden«, gibt Gerhard Storz mit gutem
Recht zu bedenken. [80] Was der Dichter »meint«, hat er nicht einfach einem Prota-
gonisten auszusprechen überlassen. Auch Wallenstein wird eine solche Funktion nicht
übertragen. Der Schicksalsglaube in seiner Optik entspricht nicht der Optik des Dra-
mas. Seine »Entmythologisierung« ist im Gegenteil eine der »Erziehungsrnaßnah-
men«, die sich Schiller vorgenommen hat. Das heißt zugleich, daß wir uns als Zu-
schauer ein Urteil darüber bilden sollen, wie die Personen im Drama denken und
woran sie glauben. Zwar sollen wir uns in den Bannkreis des Dramas begeben. Aber
dem Geschehen sollen wir uns deshalb nicht blindlings überlassen. An keiner Stelle
im Verlauf der Handlung werden wir im Sinne der sogenannten aristotelischen Dra-
matik überredet, uns mit Wallenstein oder irgendeiner anderen Figur der Tragödie zu
identifizieren. Auch der junge Piccolomini gibt hierzu keine Veranlassung. Schicksal
in der Auffassung der Personen im Drama ist nicht dasselbe wie das, was das Drama
»meint«. Damit erledigen sich Bezeichnungen wie Schicksalsdrama oder Schicksal-
stragödie von selbst. [81] Vom Verständnis des Wallenstein-Dramas als einer Tragö-
die der Nemesis gilt dasselbe. [82] Mit dieser Bezeichnung wird in erster Linie.aus der
Sicht der Personen und ihrer Meinungen argumentiert. Aber die Mächte, an die man
glaubt, sind in der Optik des Dramas nicht irgendwo zu suchen, sondern in uns selbst.
Wallenstein erlaßt es, ohne zum Kern der Wahrheit zu gelangen, wenn er sowohl vom
Schicksal wie vom eigenen Herzen spricht:
»Recht stets behält das Schicksal, denn das Herz
In uns ist sein gebietrischer Vollzieher« (T/655--656).
Deutlicher läßt Schiller Illo sagen, wie es gemeint ist:
»O! du wirst auf die Sternenstunde warten,
Bis dir die irdische entflieht! Glaub mir,
In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« (P/960-962).
Dem entspricht die authentische Deutung durch den Dichter des Prologs:
»Denn seine Macht ists, die sein Herz verführt« (Pr/117).
Sternenglaube und Schicksalsglaube im Wallenstein-Drama sind keine »Weltan-
schauung«, die uns Schiller suggeriert. Sie sind Gegenstände einer Kritik, in deren
Dienst das Stilmittel der Ironie eingesetzt wird. Mehr noch sind sie Gegenstände der
Erkenntnis, die hier zu leisten ist.
158 Formen des nicht klassischen Dramas

Die dialektische Dramatik, so beschreibt Bertolt Brecht seinen Weg zum zeitgenös-
sischen Theater, löse, »betont episch, die Zustände in Prozesse auf«. [83] Wir wollen
anmerken, daß es auch in der klassischen Tragödie um Prozesse geht - um Erkennt-
nisprozesse, denen ein Zug zu epischer Besonnenheit innewohnt. Im Sturm der Sinne
und der Leidenschaften werden Affekte erregt. Erkenntnis dagegen braucht Vorbe-
reitung und Zeit. Das Wallenstein-Drama stellt in aller Dramatik, die ihm eigen ist,
einen Erkenntnisprozeß dar, eine tragische Analysis, wie Schiller vorgeschlagen hat,
Tragödien von der Art des Odipus Rex zu bezeichnen: »Alles ist schon da, und es wird
nur herausgewickelt.« [84] Aber die Kritik am Sternenglauben und am Schicksals-
glauben ist nur die »Vorderseite« der Erkenntnis, auf die es ankommt. Denn Kritik
an einer Fehlhaltung, an einem Glauben oder an einer politischen Praxis mit dem
Ziel, sie zu verändern, wenn nichts weiteres hinzutritt, könnte allenfalls Gegenstand
einer didaktischen Literatur sein, eines Lehrstückes oder einer Parabel. Mit dem
tragischen Gehalt eines Dramas verträgt sie sich schlecht. Es genügt nicht, daß Wal-
lenstein nur seinem Sternenglauben abschwört, um frei von Schuld zu sein. Doch
hindert ihn eben dieser Glaube, den eigentlichen Gegenstand der tragischen Analysis
ins Auge zu fassen, von dem er sich durch seine Astrologie immer wieder abbringen
läßt. Der Sternenglaube ist die Ursache seines Zauderns - eine Verzögerung, von der
epische und dramatische Elemente der Trilogie gleichermaßen profitieren. Verzöge-
rungen nennt man in der Sprache der klassischen Poetik Retardationen, und eine
solche retardierende Funktion hat der Sternenglaube Wallensteins im Prozeß der
Erkenntnis, sofern er Erkenntnis verdrängt. Damit sieht man sich auf die Struktur der
Zeit verwiesen, die seit je ein Privileg des Dramendichters gewesen ist. Diese uner-
. hOrte Dramatik - der besinnungslose Wirbel des Geschehens, mit dem der zweite Teil
der Trilogie einsetzt - hat in der Geschichte des deutschen Dramas nicht ihresglei-
chen. [85] Eines bedrängt hier das andere: die Schweden warten, Wallensteins Ver-
traute mahnen ihn, sich zu entscheiden, und die Gegenseite trifft ihre Vorkehrungen.
Dies alles wird nicht in einem geruhsamen Nacheinander dargestellt, sondern in einer
simultanen Zeitform, die geeignet ist, die Dramatik des Zeitablaufs noch zu steigern.
[88] In allem handelt es sich um Darstellungen, die das Gegenteil von dem sind, was
an episches Theater erinnern könnte. Wallensteins Zögern, von den astrologischen
Motiven nicht zu trennen, gewährt keine Ruhepunkte in der Rasanz der Ereignisse. Es
steigert sie nur. Der Erkenntnisprozeß dieser ersten Akte erhält seine besondere
Dramatik also dadurch, daß Erkenntnis verhindert wird, auf die es ankäme - trotz des
Zögerns, wie es für Wallenstein charakteristisch ist. Noch im dritten Akt des dritten
Teils hat er sich in seinem Verhalten kaum geändert. So bleiben zu Einsicht und
Erkenntnis nur die beiden letzten Akte, in denen das Tempo verlangsamt wird, eine
Maßnahme, die dem Erkenntnisprozeß zugutekommt. Zeitstruktur , Erkenntnis und
Tragik sind aufeinander bezogen. Aber die Frage ist offengeblieben, welches der
eigentliche Gegenstand dieser tragischen Analysis ist, wie Schiller die Tragödie des
Sophokles und sein eigenes Drama genannt hat.
Aus der Sicht des Prologs ist dieser Gegenstand das Lager, von dem gesagt wird,
Episches im Theater der deutschen Klassik 159

daß es Wallensteins Verbrechen erklärt. Daß aber diese gewaltige Geschichtstragö-


die, in der um Herrschaft und Freiheit gerungen wird, in so eindeutiger Weise auf eine
Ursache, eben das Lager, zurückgeführt wird, hört sich wenigstens merkwürdig an. In
Wirklichkeit sehen wir uns damit auf einen überaus komplexen Zusammenhang ver-
wiesen. Wallensteins Lager ist das Instrument seiner Macht, und Macht ist eine
zentrale Kategorie der geschichtlichen Welt. Mit dem Hinweis auf das Lager als der
Ursache aller Verbrechen wird die Geschichte zum Gegenstand des Erkennens in
einem erweiterten Sinn. Denn Macht ist nicht nur das, was man als ein Instrument
benutzen kann, wie es Wallenstein rücksichtslos tut. Sie ist zugleich das, was eine
Persönlichkeit aufgrund ihrer Ausstrahlungskraft darstellt. Vor allem aber ist sie das,
was als Machttrieb im Inneren des Menschen wirksam ist und ihn womöglich zu
Handlungen verführt, die sich der Kontrolle seines Gewissens entziehen. Geschichts-
kenntnis geht über in Menschenkenntnis, in Erkenntnis des Menschen und seiner
Natur. Das ist der Sinn der Sentenz, der eine so erschließende Bedeutung im Ver-
ständnis der Tragödie zukommt: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.«
Geschichte ist damit an die Stelle antiken Schicksals getreten. Ihre Verlagerung als
Trieb zur Macht in das Innere des Menschen hat Schiller in der Beschäftigung mit
Verschwörungen und Rebellionen der verschiedensten Art seit den Anfängen seiner
schriftstellerischen Wirksamkeit fasziniert. In der Verschwörung des Fiesco zu Genua
wird viel von dem vorweggenommen, was sich im Wallenstein wiederholt und vertieft.
[87] Als ein Drama der tragischen Analysis zielt es auf Erkenntnis dessen, was im
Inneren des Menschen vor sich geht, wenn er sich handelnd mit der Geschichte
einläßt. Eine solche Erkenntnis ist nicht als formulierbare Lehre einzubringen, als
müßte sie nur geleistet sein, damit es Tragödien in der Welt hinfort nicht mehr gibt.
Ihr Gegenstand bleibt vieldeutig und offen; denn es geht dabei um die Vieldeutigkeit
menschlicher Existenz. Nicht das Walten numinoser Schicksalsmächte soll erfahren
werden. Aber was im Menschen vor sich geht, wenn er sich handelnd oder nicht
handelnd in die geschichtliche Welt verstrickt, ist zu erkennen. Mit der Vorführung
des Lagers sehen wir uns in diese Richtung gewiesen. Auch Wallenstein seinerseits ist
an der Kenntnis des Menschen interessiert. Aber als der im politischen Leben wirken-
de Feldherr und Staatsmann ist ihm die Kenntnis anderer Menschen vordringlich.
Ihre Motive, Schliche und Winkelzüge sucht er zu durchschauen und zu berechnen, so
wie man auch ihn zu durchschauen und zu berechnen sucht. Aber das, was der Mensch
eigentlich ist oder sein könnte, was sich in ihm regt, wenn er handelt, gerät darüber in
Vergessenheit. Es liegt nun abermals im ironischen Sinn des Geschehens beschlossen,
daß die Kenntnis des eigenen Selbst in dem Maße vernachlässigt wird, in dem sich
alles Trachten auf die Kenntnis anderer richtet. Auch insofern ist Wallenstein eine
tragische Person.
Als denjenigen, der sich nicht in die Karten sehen läßt und über das Innere anderer
Bescheid zu wissen meint, lernen wir ihn kennen. Hinsichtlich solcher Menschen-
kenntnis läßt er seine Vertrauten fühlen, wie sehr er sich ihnen überlegen weiß:
»Und woher weißt du, daß ich ihn nicht wirklich
Zum besten habe? Daß ich nicht euch alle
Zum besten habe? Kennst du mich so gut?
160 Formen des nicht klassischen Dramas

Ich wüßte nicht, daß ich mein Innerstes


Dir aufgetan ...
Es macht mir Freude, meine Macht zu kennen« (P/861-868).
Solches Verbergen ist politischer Praxis gemäß. Octavio verhält sich nicht anders.
Nach der berühmten Maxime Kants soll der Mensch dem Menschen Zweck und
niemals Mittel sein. Im politischen Leben ist es oft unvermeidlich, daß man andere als
Mittel zu politischen Zwecken benutzt - daß man sein Spiel mit ihnen treibt. Eben dies
hält Terzky seinem Feldherrn vor:
»So hast du stets dein Spiel mit uns getrieben!« (P/871).
Damit sieht man sich auf eine Dialektik von Politik und Menschlichkeit verwiesen,
die uns von Schillers Dramen her vertraut berührt. [88] Aber nicht so sehr auf sie
kommt es in unserem Drama an als vielmehr auf ihren Ort im Inneren des Menschen.
Von hier aus nimmt die Tragödie der Unwissenheit ihren Ausgang: die Unkenntnis
des eigenen Selbst und die Kenntnis der eigenen Macht im Wissen, über sie zu verfü-
gen: »Es macht mir Freude, meine Macht zu kennen.« Später, in der Unterredung mit
Questenberg, vergleicht er sich mit dem Kaiser und führt aus:
»Vom Kaiser freilich hab ich diesen Stab,
Doch führ ich jetzt ihn als des Reiches Feldherr,
Zur Wohlfahrt aller, zu des Ganzen Heil,
Und nicht mehr zur Vergrößerung des Einen!« (P/1180--1183).
Wallenstein bezeichnet sich gegenüber dem Abgesandten des Kaisers unumwunden
als des Reiches Feldherr und deutet an, daß er in Hinsicht auf das Reich - als sei es
ihm nur um dieses zu tun - noch ganz anderes im Schilde führen könnte, wenn es denn
sein muß. Die Dialektik seiner Argumentation zielt auf das Ganze des Reiches und auf
den Einen, den Kaiser. Indem Wallenstein gegen ein Regierungssystem aufbegehrt,
in dem das Ganze vernachlässigt wird und alles nur auf den Einen ankommt, der alle
beherrscht, hat er das Recht der Geschichte auf seiner Seite. Aber daß er sich selbst
an die Stelle dieses Einen setzen könnte, indem er vorgibt, nur für das Ganze zu sein,
ist nicht auszuschließen. Dem Verhältnis zwischen dem Einen und dem Ganzen ent-
spricht das Verhältnis legitimer Macht gegenüber jener Macht, die zu selbstherrlichem
Genuß verführt. Im Übergang von dieser zu jener, von einem zum anderen lauern die
Gefahren der Verführung, die alles so unheimlich erscheinen lassen. Für diese Über-
gänge hat Max Kommerell den Blick der Interpreten geschärft. Über Schiller als
Psychologen führt er aus: »Er weiß nicht bloß von dem kräftesteigernden und verhee-
renden Machttrieb, und von dessen Bändigung, die ein feinerer Machttrieb ist - er
weiß, wie sich das Gute und das Böse teilt in der Faszination, welche die wichtigste
Kunst des geschichtemachenden Menschen ist; er kennt die Übergänge der Arten
ineinander, und die Übergänge der Momente ... « [89] Der Doppelsinn des Lebens,
von dem Wallenstein spricht, liegt solchen Übergängen zugrunde. Er ist nicht einfach
dasselbe wie die Ambivalenz der Dinge: daß eine Sache wie die Macht im politischen
Leben diese oder jene Bedeutung erhalten kann. Er bedeutet weit mehr, daß wir
selbst nicht immer wissen, welche Bedeutung einer Sache zukommt, wenn wir sie wie
die Macht als etwas gebrauchen, das in uns herrscht, obgleich wir sie zu beherrschen
meinen.
Episches im Theater der deutschen Klassik 161

Wenn wir über die Triebe im Inneren des Menschen keine genaue Kenntnis erhal-
ten - ist dieses gemeint oder jenes? -, so stünde zu hoffen, daß wir im Monolog
Genaueres erfahren. Von den Monologen im Drama Schillers nehmen wir an, daß
der Konflikt von den betroffenen Figuren auf einer hohen Bewußtseinsstufe erkannt
und durchschaut wird. Das Drama Schillers wird in solchen Auffassungen zum Ent-
scheidungsdrama - als wäre es so! [90] Der große Monolog in Wallensteins Tod, der
mit den Versen beginnt: »Wärs möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte?«
widerlegt solche Erwartungen nicht völlig. Wallenstein wird sich ohne Frage über
vieles im klaren - auch darüber, daß man unter Umständen etwas tun muß, nur weil
man es gedacht hat. Und zu klären sucht er erneut das Verhältnis zu Kaiser und Reich.
Er nimmt Anstoß daran, daß am Hof in Wien die Macht der Gewohnheit herrscht
und daß man sich dort jeder Erneuerung widersetzt. Abermals hat er in solchen
Überlegungen das Recht des geschichtlich denkenden Menschen auf seiner Seite;
auch wohl das Recht des Revolutionärs, wenn anders kein Wandel der Verhältnisse
herbeizuführen ist. In solchem Drang nach Verjüngung und Erneuerung stimmt er mit
den Symbolen jugendlichen Lebens, mit Max und Thekla, überein. Solches Aufbe-
gehren ist nicht einfach als Vorwand abzutun. Sein Eintreten für die Sache des neuen
Lebens ist glaubwürdig motiviert. Indem Wallenstein den Gegensatz von altgewohn-
ter Ordnung und verjüngtem Dasein überdenkt, vergleicht er sich erneut mit dem
Kaiser, indem er die eigene, ihm wichtige Sache verteidigt: keine andere als den
Frieden des Reiches! In diesem Zusammenhang heißt es:
»Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft,
Den fürcht ich nicht. Mit jedem Gegner wag ichs,
Den ich kann sehen und ins Auge fassen,
Der, selbst voll Mut, auch mir den Mut entflammt.
Ein unsichtbarer Feind ists, den ich fürchte ... « (T/199-203).
Der Feind ist in Wallensteins Auffassung das ewig Gestrige:
»Was immer war und immer wiederkehrt,
Und morgen gilt, weils heute hat gegolten!« (T/209-210).

Vom unsichtbaren Feind ist die Rede, und doch ist zugleich ein sehr sichtbarer
Feind damit gemeint; denn der Vertreter dessen, was immer war und immer wieder-
kehrt, ist der Kaiser selbst, Wallensteins Widersacher und Gegenspieler. Wir wissen
nicht genau, was da in ihm vorgeht: begehrt er nur gegen die Macht der Gewohnheit
auf oder nicht in erster Linie gegen die konkrete Macht am Hofe zu Wien? Er meint,
es mit einem unsichtbaren Feind draußen und außerhalb seiner Person zu tun zu
haben. Aber an den unsichtbaren Feind in der eigenen Brust, an die Macht, die das
Herz des Menschen verführt, denkt er nicht. Daß es zu einer solchen Verführung
kommt, ist nicht zu leugnen: Wallenstein setzt seine Macht nicht nur um des großen
Ganzen willen ein, wie er im Monolog vorgibt. Er überläßt sich über solchen Absich-
ten auch dem Genuß der Macht - dem, was diese in ihm will. Das zeigt sich deutlich in
der Art, in der er die Werbung des jungen Piccolomini höhnisch zurückweist. Solches
Verhalten vor allem, als Hybris oder als Mißbrauch der Macht, hat ihm die harten
Urteile seiner Interpreten eingetragen, die zumeist moralische Urteile sind [91]; »bru-
162 Formen des nicht klassischen Dramas

tal, als närrische Anmaßung, tut er die Möglichkeit ab, daß der junge Graf Piccolomi-
ni um seine Tochter werben könnte«, heißt es selbst bei Gerhard Storz, der morali-
schen Verrechnungen im allgemeinen wenig gewogen ist. [92] Von der Maßlosigkeit
der Macht spricht Hermann August Korff: »Freilich diese Furcht gilt bei genauerer
Überlegung keineswegs der Macht als solcher, sondern der Macht in der Hand eines
so dämonischen Menschen, der keine innere Grenze kennt und zu dessen Wesen
darum die Maßlosigkeit gehört.« [93] Es folgt der nationalpolitische Vergleich mit
Napoleon, so daß von beiden »dämonischen« Herrschernaturen gesagt werden kann:
))Moralisch betrachtet ist die Grenzenlosigkeit ihres Strebens freilich nichts anderes
als [... ] Gewissenlosigkeit.« [94] Legitimitätsgläubige Interpreten schließen den Ab-
fall von Kaiser und Reich in ihre moralische Urteilsbildung ein. Und insofern Wallen-
stein all das tut, was er nicht hätte tun sollen, kann seinem Tun die Nemesis auf dem
Fuße folgen. Der Deutung nach dem Schema Schuld und Sühne stehen Tür und Tor
offen. Aber Schiller hat alles getan, die Eindeutigkeit solcher Urteile zu erschweren.
Denn indem Wallenstein den unsichtbaren Feind gerade dort nicht sucht, wo er zu
suchen wäre - in der eigenen Brust -, handelt er in Unkenntnis und Unwissenheit, die
ihn, wie den König Odipus, partiell von Schuld dispensiert. Solcher Unwissenheit und
Unkenntnis ist es zuzuschreiben, daß es den Konflikt - zwischen Pflicht und Neigung,
zwischen Freiheit und Notwendigkeit oder wie man es sonst zu bezeichnen pflegt -
nicht eigentlich gibt. [95] Das klassische Drama entspricht auch hier nicht den Vor-
stellungen, die man mit Begriffen wie diesen verbindet. Konflikte setzen voraus, daß
man sich ihrer bewußt wird, während sich Wallensteins Handeln mit einer Wendung
aus Kleists Amphitryon als »unwillkürliche Schuld« versteht, die deswegen nicht den-
jenigen von Verantwortung entbindet, den sie betrifft. Die Erkenntnis also des eige-
nen Selbst als vielleicht der schwersten aller Erkenntnisarten ist der eigentümliche
Sinn der tragischen Analysis, die Schiller aus der Tragödie der Griechen in das
Geschichtsdrama seiner Zeit »übersetzt«. Die Struktur dieser Analysis - »Alles ist
schon da, und es wird nur herausgewickelt« - ist an die Darbietungsform der klassi-
schen Tragödie nicht gebunden. Als Dichter des Zerbrochnen Krugs hat sie Kleist in
einer Komödie angewandt. Sie setzt nicht einmal die dramatische Vortragsart voraus,
sondern wäre auch auf epische Dichtungsarten übertragbar. Hier wie dort ist sie nicht
das Muster einer dramatischen Dramatik, die nur Unmittelbarkeit, Identifikation und
Einfühlung kennt. Sie bezeichnet in epischer oder dramatischer Dichtung eine Er-
kenntnisleistung, die sich nicht auf das Momentane von Affekten und Emotionen
einschränkt. Sie betrifft, um mit Brecht zu sprechen, nicht Zustände, sondern Prozes-
se, man nenne sie episch oder nicht.
Doch ist der Prozeß der tragischen Schuld im Wallenstein damit nicht hinreichend
beschrieben. Denn Wallenstein selbst als die eigentlich tragische Person bleibt nicht
hoffnungslos in Unkenntnis und Unwissenheit befangen. Er kommt der Wahrheit
zunehmend auf die Spur, ohne sie freilich in ihrem ganzen Ausmaß, was das eigene
Selbst betrifft, zu erfassen. Wallenstein will aufgrund seines berechnenden Verhaltens
als politisch handelnder Mensch und aufgrund seines falschen Glaubens an Sterne
und Schicksal genau das, worauf es ankommt: des Menschen Kern entdecken. Er will
in die innere Welt, in den Mikrokosmos des Menschen, eindringen; und diesen Mi-
Episches im Theater der deutschen Klassik 163

krokosmos sieht er nicht vom Zufall regiert - »wie Meeres blind bewegte Wellen« (TI
954):
»Hab ich des Menschen Kern erst untersucht,
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln« (T/959--960).
Abermals denkt er dabei ausschließlich an den Kern anderer, aber der Wahrheit
des Menschen kommt er in solchen Betrachtungen um vieles näher. In Wallensteins
Auffassungen vom Kern des Menschen, der nicht vom Zufall regiert wird, zeichnet
sich eine Anthropologie ab, die das Vermögen der Willensfreiheit beträchtlich ein-
schränkt - zugunsten einer weitreichenden Determinierung alles Tuns. Die Ironie in
diesem Erkenntnisprozeß beruht abermals darin, daß er an anderen erkennt, was ihm
an der eigenen Natur verborgen bleibt - um schließlich an sich selbst zu erkennen, wie
es um den Menschen und seine vielgerühmte Freiheit steht. Das geschieht dort vor
allem, wo er sich in die Enge gedrängt sieht, wo er keinen Ausweg mehr zu sehen
vermag:
»Zeigt einen Weg mir an, aus diesem Drang.
Hilfreiche Mächte! einen solchen zeigt mir,
Den ich vermag zu gehn ... « (T/521-523).
Der Handelnde hört auf, Subjekt des Handeins zu sein; er muß sich zunehmend als
Objekt erkennen, mit dem gehandelt wird. [96] Aber unter den Personen des Dramas
ist zuletzt doch Wallenstein der einzige, der diesen Notzwang der Begebenheiten illu-
sionslos durchschaut und unserer eigenen Erkenntnis damit am nächsten kommt:
»Wir handeln, wie wir müssen« (T/833). Wallenstein wird in diesen letzten Szenen
sehend; wenigstens ahnt er, wohin die Dinge treiben.
In der Art, wie er sich auf dieser letzten Wegstrecke in das Gegebene schickt,
gewinnt er jene Größe, die Schiller das Erhabene nennt. [97] Damit ist ein Zustand
gemeint, der nicht im Momentanen eines Affekts beruht, sondern in einer Fassung,
die über den bloßen Affekt hinausführt. Daß Wallenstein als tragische Person der
Tragödie nicht auf den Stufen der Verkennung und Verblendung verharrt, in denen
wir ihn in den ersten Teilen kennengelernt haben, ist keine Frage. Dafür spricht die
Klage über den Verlust des jungen Piccolomini - die Art, wie der Notzwang der
Begebenheit durchschaut wird, und schließlich die Verabschiedung der Astrologie.
Es zeichnet ihn aus, daß er solche Stufen der Einsicht erreicht, was immer auch sonst
gegen ihn vorzubringen ist. Spätestens hier, in diesen letzten Teilen der Trilogie, hat er
unsere mitfühlende Anteilnahme gewonnen. Das nötigt uns, noch ein Wort über
denjenigen »Mitspieler« zu sagen, der an der Struktur der Tragödie so maßgeblich
beteiligt ist: kein anderer als der Zuschauer, über den schon wiederholt zu sprechen
war. Das Drama Schillers sieht ihn nicht als einen bloß passiv aufnehmenden Kunst-
liebhaber vor; denn erst aufgrund seiner Mitwirkung kommt der tragische Vorgang
im Theater zum Abschluß.
164 Formen des nicht klassischen Dramas

Anteilnahme am »Schicksal« des Helden gibt es in epischer und dramatischer Dich-


tung; in der Tragödie so gut wie in Roman, Novelle oder Ballade. Sie gehört in
fiktionalen Texten zu den selbstverständlichen Begleiterscheinungen jeder Rezeption.
Der Reiz der Identifikation oder der Aversion, der Parteinahme für oder der Ausein-
andersetzung mit den Personen der Dichtung ist nicht selten der Anlaß zu Diskussio-
nen, die wir über sie führen. Das epische Theater der Moderne bringt in diesem
Punkt nichts grundsätzlich Neues. Allenfalls dem Grade nach ist die Verfremdung im
Ausmaß der kritischen und womöglich feindseligen Einstellung gegen irgendeinen
Herrn Puntila ein Novum in der Geschichte des Dramas. Aber kritische Einstellun-
gen gegenüber bestimmten Personen auf der Bühne gibt es seit je: in der Komödie
ohnehin, aber auch aus Trauerspielen mit ihren Tyrannen, Intriganten und Bösewich-
tern aller Art sind sie uns vertraut. Gleichwohl sind solchen Einstellungen im tragi-
schen Drama Grenzen gesetzt. Sie beziehen sich zumeist auf Personen der Tragödie,
die keine tragischen Personen sind. Doch müssen wir auch mit diesen nicht in allem
einverstanden sein. Nur käme der tragische Vorgang ohne eine gewisse Anteilnahme
nicht zustande. Sie kann sich als Sympathie, als Einfühlung - das Wort in Ehren! -, als
Verstehen, auch wohl als Mitleid äußern. Anteilnahme am Schicksal eines Helden
muß auch nicht ausschließlich als etwas Emotionales verstanden werden. Sie kann
sich mit rationalen Denkformen verbinden. Nicht einmal vom Akt wissenschaftlichen
Erkennens muß sie ausgeschlossen sein; sie kann sich hier als Liebe zur Sache äußern,
als Philologie; oder als Verstehensbereitschaft wie in Geschichtswissenschaft, Psycho-
logie und Medizin. Es macht sie für die Tragödie in besonderer Weise geeignet, daß
Rationales und Emotionales sich miteinander verbinden, so daß ein Zusammenspiel
verschiedener Kräfte im Menschen möglich wird, für das sich Schiller um der Totali-
tät des Menschen willen immer erneut interessiert. In der Vorrede zur Braut von
Messina spricht er es aus: »Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüths in
dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.« [98] Die Dramen des Sturm und Drang,
deren Verfasser gern ihre Gegnerschaft zum Regelwerk des Aristoteles herauskehren,
sind in diesem Punkt Musterbeispiele aristotelischer Dramatik: sie fordern zur Identi-
fizierung mit den meisten jugendlichen Helden nachgerade heraus. [99] Egmont, Kar!
Moor oder der Marquis Posa sind zu solcher Anteilnahme wie geschaffen. Zumal in
Schillers Jugenddramen ist sie ausgeprägt. [100] Solche Sympathie für die Protagoni-
sten seiner Dramen hat er wiederholt betont. So enthusiastisch in einem Brief an
Reinwald aus der Bauerbacher Zeit. Er spricht in ihm nicht so sehr über Karlos,
sondern für ihn: »Ich stelle mir vor - Jede Dichtung ist nichts anderes, als eine
enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unseres
Kopfes.« Die Geburten der dichterischen Phantasie werden verstanden als Ausdruck
des dichterischen Selbst, so daß es im Fortgang des Briefes heißen kann: »Das ist
unstrittig wahr, daß wir die Freunde unserer Helden seyn müssen, wenn wir in ihnen
zittern, aufwallen, weinen und verzweifeln sollen - daß wir sie als Menschen außer uns
denken müssen, die uns ihre geheimsten Gefühle vertrauen, und ihre Leiden und
Freuden in unsern Busen ausschütten.« [101] Für die klassischen Dramen sind solche
Episches im Theater der deutschen Klassik 165

Einstellungen - des Dramendichters wie des Zuschauers - nicht mehr selbstverständ-


lich vorauszusetzen. Diese Dramen sind abermals weniger »aristotelisch«, als man
gemeinhin annimmt. Wir haben es mit einem Stilwandel im eigentlichen Sinn zu tun.
Das ist am Wallenstein-Drama besser als an anderen Dramen zu zeigen.
Schiller ist sich während der Arbeit an seinem Drama der kühlen Reserve gegen-
über dem Hauptcharakter deutlich bewußt. Er handelt darüber in einem Brief an
Goethe vom 28. November 1796: »Es will mir ganz gut gelingen, meinen Stoff außer
mir zu halten [... ] Beynahe möchte ich sagen, das Sujet interessiert mich gar nicht,
und ich habe nie eine solche Kälte für meinen Gegenstand mit einer solchen Wärme
für die Arbeit in mir vereinigt.« Der Hauptcharakter, also Wallenstein, werde mit der
Liebe des reinen Künstlers traktiert, lediglich mit dem jugendlichen Helden, mit Max
Piccolomini, verhalte es sich etwas anders. Wir werden an den Verfasser der Jugend-
dramen erinnert, wenn über ihn gesagt wird: »bloß für den nächsten nach dem Haupt-
charakter , den jungen Piccolomini, bin ich durch meine eigene Zuneigung interes-
siert«. [102] Die gewisse Distanz zur Hauptfigur mag zum Teil der vorausgegangenen
Arbeit am Geschichtswerk des Dreißigjährigen Krieges zugeschrieben werden. Die
ersten Bücher wahren nicht nur Abstand zur Person des Herzogs von Friedland; sie
machen auch kein Hehl aus der kritischen Einstellung ihm gegenüber. Wallenstein
bleibt noch lange im Schatten Gustav Adolfs - bis sich gegen Ende des Werkes sein
Bild zum Positiven hin verändert. Schon hier zeichnen sich Züge einer tragischen
Persönlichkeit ab. Man gewinnt den Eindruck, als sei die sich deutlich bezeugende
Anteilnahme gegen das Ende hin das Ergebnis eines tieferen Eindringens in den
Stoff wie in die Seele des handelnden Menschen, den es zu verstehen gilt. [103]
Dieser Wandel des Wallenstein-Bildes wird von der zeitgenössischen Historiographie
her verständlich. Sein Charakterbild schwankte nicht nur in der Geschichte; es war
mehr noch von ihr verdunkelt worden. Die gewisse Aufwertung, die Schiller in sei-
nem Geschichtswerk vorgenommen hatte, kam der Tragödie zustatten. Doch war mit
einer solchen Aufwertung bei den Zuschauern nicht von vornherein zu rechnen. Sie
war daher im Drama selbst einsichtig zu machen, in einem Verfahren mithin, für das
es in der überlieferten WirkungSästhetik der Tragödie keine Begriffe gibt. Der verste-
hende Historiker und der verstehende Tragödiendichter arbeiten hier Hand in Hand;
denn ohne Verstehen - man kann es auch ohne alle Ängstlichkeit als Einfühlung
bezeichnen - kämen weder Geschichtswerke noch Tragödien zustande. [104]
Daß diese Anteilnahme erst nach und nach sich entwickelt, wurde bereits am
Prolog und am Vorspiel gezeigt. Noch die ersten Akte der Piccolomini vermitteln ein
distanziertes Bild der Hauptgestalt. Aus der Sicht qieser Teile könnte man meinen,
man habe es mit einem Verbrecher, einem Verräter oder einem Teufelsbündler zu
tun. Aber die distanzierte Einstellung ändert sich nicht nur über der Arbeit am ge-
schichtlichen Stoff; sie ändert sich auch im Drama selbst. Schon mit Wallensteins
Erscheinen werden Erwartung und Voreingenommenheit korrigiert. [105] Noch sein
Zögern und seine Unentschiedenheit nehmen uns für ihn ein. Er hört damit auf, für
den Zuschauer bloß der Haudegen zu sein, als der er aus der Sicht des Lagers erschei-
nen konnte. Die Art, wie Max und Thekla ihm ihre Verbundenheit bezeugen, verbin-
det ihn mit uns. Als der Anwalt des sich erneuernden Lebens, als der er auftritt,
166 Formen des nicht klassischen Dramas

nehmen wir für ihn Partei; und gegenüber den subalternen Figuren seiner Umgebung
zeigt er Rang und Größe noch dort, wo wir ihn rücksichtslos handeln. sehen. Wallen-
stein gewinnt menschlich in dem Maße, in dem er handelnd verliert; in dem sich der
Spielraum seines Handeins zunehmend einengt. Seine Sterne beginnen in der Tat erst
zu strahlen, wenn es Nacht um ihn wird. Erst in der Not, in die er gerät, wird
erkennbar, mit welchem Menschen wir es zu tun haben. An drei Stationen seines
Weges in solche Enge wird es deutlich: wo er den jungen Piccolomini zum Bleiben
bittet- »Max! Bleibe bei mir. - Geh nicht von mir, Max!« (T/2142); wo er den Verlust
des jungen Freundes beklagt - »Die Blume ist hinweg aus meinem Leben« (T/3443) -
und schließlich in der Schlußszene, in der Unterredung mit dem Kammerdiener, die
nicht nur Erhabenheit bezeugt, sondern auch schlichte Menschlichkeit in der Anteil-
nahme am Dasein anderer:
»Der arme Mensch! Er hat im Kärntnerland
Ein kleines Gut und sorgt, sie nehmens ihm ... « (T/3668-69).
Zutreffend hat Goethe bemerkt, das letzte Stück habe den großen Vorzug, »daß
alles autbört politisch zu sein und bloß menschlich wird, ja das Historische selbst ist
nur ein leichter Schleier, wodurch das Reinmenschliche durchblickt.« [106] Es genügt
also nicht, nur von den ästhetischen Wirkungen der Tragödie zu sprechen, von den
Affekten, die sie erzeugt oder reinigt. Wir haben es mit einem gestuften und differen-
zierten »System« des Abstands und der Anteilnahme zu tun. Sie führt von den harten
Urteilen über den Hauptcharakter im Prolog über das ungünstige Bild aus der Sicht
des Lagers bis zu diesen Szenen, in denen uns Wallenstein in der Menschlichkeit
überzeugt, in die er heimzukehren im Begriff ist. Hier, in der Grenzsituation des
Todes, sind wir ihm am nächsten, und was sich das Drama vorgenommen hat, ist die
Darstellung eines solchen Weges, einer Anteilnahme in aufsteigender Linie. [107] So
auch wird es im Prolog angekündigt:
»Doch euren Augen soll ihn jetzt die Kunst,
Auch eurem Herzen, menschlich näher bringen« (Pr/l04-105).
So geschieht es in der Tat. Schillers Wallenstein ist nicht ein Drama der Identifika-
tion, in dem Held und Zuhörer zu unlösbarer Einheit verschmelzen. Den tragischen
Vorgang der Tragödie erfassen wir in dem Maße, in dem unsere Anteilnahme am
»Schicksal« der Hauptgestalt wächst, so daß wir uns ihr im Prozeß dieses Näherbrin-
gens verbunden fühlen - es handle sich um Mitleid, Sympathie oder Einfühlung. Aber
noch in den Szenen größter menschlicher Nähe bleibt ein geringer Abstand erhalten
durch die Ironie, in die Wallenstein gerückt wird - dadurch, daß wir hinsichtlich
seiner bevorstehenden Ermordung wissen, was er selbst nicht weiß. Die Erkenntnis
des Menschen - die Abhängigkeit von den Regungen in seinem Inneren, die Ge-
schichte als Macht - wird von ihm nicht als Erkenntnis eingebracht. Wir sind es, die
solchen Szenen Wahrheit zuerkennen. Das aber heißt, daß der tragische Vorgang über
den Bewußtseinsstand der dramatischen Personen, auch der Hauptfigur, hinausreicht
und daß er erst durch die Mitwirkung des Zuschauers zu Ende gedacht wird. Das mag
vielleicht für alle Tragödien zutreffen. Aber in keinem Drama wird es so deutlich wie
hier.
Episches im Theater der deutschen Klassik 167
Diese Mitwirkung im Prozeß des Denkens ist an einem Begriff zu erläutern, der zu
den zentralen im Denken Schillers gehört: am Begriff des Spieles. In allen Teilen der
Trilogie wird er gebraucht in jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Spiel gibt es auf
der untersten Ebene der Komödie als Würfelspiel und Glücksrad, als Fortunaglaube
und als leichtfertigen Umgang mit dem Leben, das man aufs Spiel zu setzen gewohnt
ist. Spiel erhält dabei die Bedeutung von unbeschwerter Todesvergessenheit wie im
Reiterlied; aber es kann auch heißen, daß andere im Spiel betrogen werden. Mit
Verachtung blickt Wallenstein auf einen seiner Generäle herab, der nichts anderes als
solches zu kennen scheint:

»Er folgt dem Gott, dem er sein Leben lang


Am Spieltisch hat gedient ... « (T/1623-1624).

Auf einer etwas höheren Ebene treibt die Gräfin Terzky ihr Intrigenspiel und
versteht politisches Handeln vorwiegend so. Wallenstein wird vorgeworfen, mit ande-
ren Menschen zu spielen. Das spricht gegen ihn und gegen den Begriff von Humani-
tät, wie ihn die Klassik versteht. Doch bleibt anzumerken, daß die anderen kaum
anderes tun. So mit Menschen umzugehen, gehört zum »Geschäft« der Politik; Spiel
also auf einer etwas höheren Ebene, das dennoch, so betrieben, bedenklich bleibt.
Als Spielzeug eines grillenhaften Glücks versteht sich Butler, der das Seine zur Ermor-
dung Wallensteins »beisteuert« (P/201O). Es ist die andere Seite der Sache: wo es
diejenigen gibt, die mit anderen Menschen spielen, gibt es auch die Opfer und Objek- .
te, mit denen gespielt wird. Dagegen handelt es sich um einen Spielbegriff anderer
Art, wenn sich Wallenstein über die »Präexistenz« des jungen Piccolomini ausläßt:

»Sanft wiegte dich bis heute dein Geschick,


Du konntest spielend deine Pflichten üben ... « (T/719-720). [108]

Der Begriff des Spiels erhält hier die geschichtsphilosophische Bedeutung, die man
aus Schillers ästhetischen Schriften kennt. Spielend seine Pflichten zu üben: das weist
zurück auf eine Einheit, die ehedem war, während für den derzeitigen Zustand Spal-
tung, Trennung und Vereinzelung kennzeichnend sind. Die Tragödie ist ihr geschichts-
philosophiseher Ausdruck. Einen Zustand aber zu erreichen, in dem die Vereinigung
von Spiel und Pflicht wieder möglich wird, und wäre es nur in einem Zustand ästheti-
scher Freiheit, bleibt anzustreben. Aber das zu erreichen, führt bereits über die Bin-
nenhandlung des Dramas hinaus und ist nur vom Zuschauer zu leisten, in dessen
Betrachtung Spaltung und Trennung überwunden werden. Daher kommen dem
Spielbegriff wiederholt Bedeutungen zu, die nicht mehr die Personen des Dramas
angehen, sondern uns selbst, die wir das im Theater Vorgeführte zu Ende denken.
Von der Bühne des Krieges kann demzufolge gesprochen werden. Auch das Rollen-
spiel erhält einen Süm, der das Bewußtsein der Figuren übersteigt. Der junge Piccolo-
mini gebraucht den Begriff in einer Unterredung mit seinem Vater:

»Wenn du geglaubt, ich werde eine Rolle


In deinem Spiele spielen, hast du dich
In mir verrechnet ... « (P/2601-2603).
168 Formen des nicht klassischen Dramas

Was er sagt, ist aus dem Verlauf der Handlung heraus zu erläutern: Max weigert
sich, an einem Spiel dieser Art beteiligt zu werden; es ist ihm, wie letztlich jeder
politische Handel, suspekt. Zugleich will er, entschiedener als andere, er selbst sein
und nicht in Rollen seine Selbstbestimmung versäumen. Darüber hinaus hat das
Rollenspiel einen Sinn, den nur wir als die Betrachter des Dramas erfassen - diesen
nämlich, daß es sich schließlich nur um Rollen und um ein Spiel auf der Bühne
handelt. Indem die Tragödie Rollenspiel und Theaterspiel thematisiert, wird uns zum
Bewußtsein gebracht, wo wir uns befinden, damit wir uns nicht an das Spiel verlieren.
Abermals übernimmt es der Prolog, auf Einstellungen vorzubereiten, die für die
Struktur des Dramas aufschlußreich sind:
»Das heutige Spiel gewinne euer Ohr ... « (Pr/124),
heißt es. Und zugleich werden wir auf ein Spiel im höheren Sinn verwiesen - dadurch,
daß wir im Durchdenken der Tragödie jener Gemütsfreiheit innewerden, die Schiller
als ein Spiel in der höchsten Bedeutung des Begriffes beschreibt: »Der sinnliche Trieb
will, daß Veränderung sey, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die
Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sey [... ] der Spieltrieb also würde dahin
gerichtet seyn, die Zeit in der Zeit aufzuheben ... « [109] Eben dies, die Zeit in der
Zeit aufzuheben, hat auch Wallenstein versucht; er ist daran gescheitert, wie es in der
Tragödie zu geschehen hat. [110] Ästhetische Freiheit ist mithin nicht in der Tragödie
erreichbar, sondern in der abstandhaltenden Reflexion über sie. Dem Spielbegriff
analog wird der Begriff der Heiterkeit gebraucht: als Motiv in der Tragödie, wie als
Reflexion über sie. Wallenstein spricht von den hellgebornen und heiteren Joviskin-
dern und denkt dabei an sich selbst (P/985). Thekla beschreibt ein Traumbild, das
Bild des Vaters:
»Ein heitrer Mann, mit einer Königsstirn ... « (P/1616),
und zugleich oder schon vorher bezieht der Prolog das Heitere auf das Spiel im ganzen,
auf das Drama, das den Zuschauer erwartet:
»Ja danket ihrs, daß sie das düstre Bild
Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst
Hinüberspielt ...
Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« (Pr/133-138). [111]
Aber damit 4ört der Zuschauer des Dramas auch auf, nur der Vertraute des Dra-
mendichters zu sein, wie es das Mehrwissen in der Ironie mit sich bringt. Er wird zu
demjenigen, dem ästhetische Erziehung zugewendet wird, der durch anschauende
Tragik gebildet werden soll.

Damit ist zugleich die Frage nach dem Ort der Tragödie im System der ästhetischen
Erziehung gestellt; denn wie ausgeprägt der Kunstsinn und das Bewußtsein von Kunst
in diesem Zeitalter auch sein mögen - Kunst, als l'art pour l'art, ist nirgends ihr letzter
Episches im Theater der deutschen Klassik 169

Sinn. Die unverkennbar pädagogische Absicht, mit Kunst und durch sie auf Men-
schen - schon gebildete in erster Linie - zu wirken, ist ein nicht wegzudenkender
Bestandteil im Programm der deutschen Klassik. [112] Ästhetische Erziehung des
Menschen ist etwas anderes als die Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts oder die
Tradition der Rhetorik, der Schiller mißtraut. [113] Erziehung hat es mit Wirkung und
Wirkenwollen zu tun. Aber ästhetische Erziehung im Verständnis der deutschen Klas-
sik ist damit nicht umschrieben. Der Begriff »Wirkung« bleibt unbestimmt gegenüber
dem, was diese Erziehung will. Sie ist von dem Begriff nicht zu trennen, der die
Epoche prägt: von demjenigen der Bildung. Bildung aber geht nicht auf in Didaktik,
Rhetorik oder lehrhafter Moral; und mit moralischen Urteilen ist auch die Tragödie
als Kunstform nicht vereinbar. Schon in der vorklassischen Schrift aber den Grund
des Vergnügens an tragischen Gegenständen hat es Schiller zum Ausdruck gebracht:
»Die wohlgemeinte Absicht, das Moralischgute überall als höchsten Zweck zu verfol-
gen, die in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte und in Schutz nahm,
hat auch in der Theorie einen ähnlichen Schaden angerichtet.« [114] Es ist keine
Frage, daß damit Kritik an bestimmten Entwicklungen der Aufklärungsphilosophie
geübt wird und daß für Schiller die Wirkung des tragischen Dramas am wenigsten im
Lehrhaften und Moralischen ihre Begründung erhalten kann. Das Vergnügen an
tragischen Gegenständen soll von der Moral unabhängig bleiben; denn die Kunst -
jede Kunst! - würde in der Auffassung Schillers ihre ästhetische Freiheit verlieren,
wenn sie moralischen Zwecken folgen sollte: »aber nur indem sie ihre völlige Freyheit
ausübt, kann sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllen.« [115]
Ästhetische Erziehung und klassische Tragödie sind demnach nicht selbstverständ-
lich aufeinander bezogen. Sie scheinen im Gegenteil sich in mancher Hinsicht im
Wege zu sein. Denn Bildung als Schlüsselbegriff der Epoche hat es mit der Entfaltung
des Menschen zu tun; mit dem, was sich in ihm wie der Keim zur Frucht entwickelt. Sie
bleibt stets auf das Glück des Menschen gerichtet, von dem in der wohl repräsentativ-
sten Dichtung der Zeit, in Goethes Wilhelm Meister, am Ende noch einmal die Rede
ist: »ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit
nichts in der Welt vertauschen möchte.« Bildung ist lebensfreundlich, und der ge-
nannte Bildungsroman ist es erst recht. Nicht zufällig sind in ihm die Gestalten tragi-
schen Schicksals - Mignon wie der Harfner - an den Rand gedrängt. »Gedenke zu
leben!« ist eine der bestimmenden Maximen der großen Dichtung. Aber diese Maxi-
me des Wilhelm Meister ist Schiller als Dichter der Tragödie nicht weniger wichtig;
denn die Tragödie soll uns nach seinem Wort nicht vorbereiten, würdig zu sterben,
sondern würdig zu leben. Es ist bezeichnend, daß eine solche »Lebensfreundlichkeit«
gerade dort herausgekehrt wird, wo es nur um Todesverfallenheit, Mord und Verbre-
chen zu gehen scheint: im Wallenstein und in der Braut von Messina. Von Wallenstein
hat kein Geringerer als Hegel den Sinn der Tragödie wegen ihrer düsteren Fatalität in
Frage gestellt: »Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des
Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodicee [... ] Aber es steht nur
Tod gegen Leben auf; und unglaublich! abscheulich! der Tod siegt über das Leben!
Dieß ist nicht tragisch, sondern entsetzlich!« [116] Dieser Deutung ist gewiß zu wider-
sprechen. Aber sie hat den Vorteil, daß sie jene zurechtweist, die über dem Idealis-
170 Formen des nicht klassischen Dramas

mus der Freiheit den tragischen Gehalt des Dramas verkennen. Hegel hätte solchen
Auffassungen von Tragik entsprechend über die Braut von Messina kaum anders
urteilen können. Aber gerade an diesen Tragödien und ihren Vorreden erläutert
Schiller seine Auffassung von der Heiterkeit der Kunst: im Prolog zum Wallenstein
mit der Versicherung, »das düstre BildlDer Wahrheit in das heitre Reich der Kunst«
hinüberzuspielen; in der Vorrede Über den Gebrauch des Chors im Trauerspiel Die
Braut von Messina mit der einzigartigen Rechtfertigung des tragischen Dramas -:
»Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere
Aufgabe, als die Menschen zu beglücken.« [117]
Diese Spannweite vom düsteren Bild zur Heiterkeit der Kunst, die in der Aufnah-
me des klassischen Dramas zu leisten ist, ist bezeichnend für die Art, wie hier gedacht
wird: in Graden und Stufen nämlich, die Aufstieg gewährleisten, bis die höchste Stufe
erreicht ist. Ein solches Denken in Graden und Stufen ist der deutschen Klassik
gemäß, und die Tragödie macht keine Ausnahme. Sie soll ihrerseits im Vollzug der
Rezeption einen solchen Aufstieg anschaulich vorführen, wie es in der Wallenstein-
Trilogie idealiter geschieht. Ähnlich wie im gleichzeitigen Erzählzyklus der Unterhal-
tungen deutscher Ausgewanderten, in dem der Weg von der anspruchslosen Gespen-
stergeschichte zum anspruchsvollen Kunstmärchen hinaufführt, führt Schillers Drama
vom niederen Dasein in der Komödie zur höheren tragischen Form. Die Gattungen
und Dichtungsarten sind nicht unmittelbar zu Gott; sie haben ihren festen Ort im
System. Dem Drama, und das heißt in erster Linie: dem Drama in einer tragischen
Form, ist eine der höchsten Stufen vorbehalten; fast so, wie es Hegel in seiner Aesthe-
tik beschreibt: »Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach zur
vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst
überhaupt angesehn werden.« [118] Das scheint in Einklang mit Schillers Denken zu
sein, wenn er seinerseits von den höchsten Stufen tragischer Kunst handelt: »Aber auf
der höchsten und letzten Stufe welche der moralisch-gebildete Mensch erklimmt; und
zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann, lößt sich auch dieser [ein unauflösli-
cher Knoten], und jeder Schatten von Unlust verschwindet mit ihm.« [119] Dennoch
ist da eine Differenz nicht ganz zu übersehen, und eigentlich erscheint uns die spätere
Aesthetik Hegels klassizistischer als das klassische Drama selbst, so wie es Schiller
versteht und im System seiner ästhetischen Erziehung vorsieht. Denn die höchste und
letzte Stufe soll das Drama als Erschütterung, Leidenschaft oder tragische Katastro-
phe nicht sein. Die letzte und höchste Stufe ist eine solche, in der sich Dramatik und
Tragik auflösen - zugunsten dessen, was Schiller bald Harmonie, Idylle oder auch
Gemütsfreiheit nennt. Hier soll das Tragische in epische Ruhe übergehen, damit
Besonnenheit und Reflexion zu ihrem Recht kommen: »Nun ist aber der Mensch so
gebildet, daß er immer von dem Besondern ins Allgemeine gehen will, und die
Reflexion muß also auch in der Tragödie ihren Platz erhalten.« [120] Das Dramatische
soll zum Epischen hinaufstreben, wie es Schiller im Briefwechsel mit Goethe in der
Zeit formuliert, in der er an seinem Wallenstein arbeitet. Die letzte und höchste Stufe
im klassischen Drama ist also nicht »dramatisch«. Sie liegt darüber hinaus, sie sei
lyrisch (wie bei Goethe), episch, idyllisch oder wie man es sonst bezeichnen will. Für
das rechte Verständnis der Tragödie Schillers hängt viel davon ab, daß die »Überwin-
Episches im Theater der deutschen Klassik 171

dung« des Dramatischen und Tragischen nicht zu früh angesetzt wird, so daß man nur
Idyllik oder Idealismus der Freiheit wahrnimmt. Ihnen allen, die es tun, ist entgegen-
zuhalten, was Goethe über die Arbeit an seinem Trauerspiel Die natürliche Tochter
eines Tages nicht zufällig dem Dichter des Wallenstein mitteilt: »Im ganzen ist es der
ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von
vielen Höhen und aus vielen Tälern gegeneinander stürzen und endlich das Überstei-
gen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrunde
geht, wer sie vorgesehen hat so gut als der sie nicht ahndete.« [121] Aber auch zu spät
ist diese »Überwindung« nicht anzusetzen, damit nicht die versöhnende Schicht ver-
kannt wird, die über Tod und Katastrophe hinausweist. Unter den Mißverständnis-
sen, die dem klassischen Drama in der unglücklichen Geschichte seiner Rezeption
widerfahren sind, sind die Abschwächungen, die voreiligen Festlegungen auf Idylle
oder Idealismus der Freiheit sicher die bedenklicheren, weil sie den geschichtlichen
Abstand unnötig vergrößern und den eigentlich bildenden Wert des tragischen Vor-
gangs verkennen. Dieser bildende Wert wird nur erfaßt, wenn man das Geschehen in
der Unauflöslichkeit seiner Paradoxien hinnimmt und ihm keine Lehre für das näch-
stemal zu entnehmen trachtet. Solches Absehen von jedem lehrhaften Fazit setzt eine
Mündigkeit des Betrachters voraus, die der geforderten Mündigkeit im lehrhaften
Drama der Moderne nicht nachsteht. Denn die Gemütsfreiheit ist, wie ausgeführt,
nicht in der Tragödie zu suchen, sondern in der Reflexion über sie. [122] Die Proble-
matik des Tragischen im Drama Schillers gibt es also in der Tat. Aber es gibt sie
anders, als sie seinerzeit gemeint war. [123] Darüber ein letztes Wort.
Als Schiller seinen Wallenstein am Ende des 18. Jahrhunderts als tragische Persön-
lichkeit der Geschichte auf die Bühne brachte, hatte er die Erwartungen des Publi-
kums gegen sich. Sein Drama hat nicht wenig zum Wandel unseres Wallenstein-Bildes
beigetragen. Gut ein Jahrhundert später wurden unsere Erwartungen von diesem
Feldherrn und Staatsmann in gleichsam umgekehrter Richtung durchbrochen: in AI-
fred Döblins historischem Roman gleichen Titels. Die Persönlichkeit dieses Romans
wird abgewertet und herabgesetzt; mit ihr die Geschichte selbst, sofern man sie als
Geschichte verstanden hat, die von Männern gemacht wird. Vom Tragischen der
Gestalt und des geschichtlichen Lebens bleibt wenig übrig. Darin vor allem beruhen
Rang und Größe des Romans: daß er ein klischeehaft gewordenes Bild von Geschich-
te, Tragik und großen Männern destruiert. Die Problematik des Tragischen wird hier
thematisch; sie wird es um 1910 in vielfacher Weise - auch insofern, als die forcierte
Erneuerung der klassischen Tragödie hoffnungslos scheitert. Für ihre Metaphysik
hatten sich Persönlichkeiten wie Samuel Lublinski, Paul Ernst, Wilhelm von Scholz
oder der junge Georg von Lukacs nachhaltig eingesetzt. Aber im Grunde war Tragik
als Denkforrn und als künstlerische Struktur schon mit den Wahlverwandtschaften in
die Epik »emigriert«. Auch dort ist ihr keine bleibende Heimstatt geworden. Das hat
viele Gründe, die einen sozialgeschichtlichen Traktat erforderlich machten. Über den
nicht mehr glaubwürdigen Helden, über die Rolle der Individualität wie über soziale
Prämissen menschlichen Leides wäre zu sprechen. Es muß aber gesagt werden, daß
eine solche Problematik nicht so sehr in der Tragödie der deutschen Klassik enthalten
ist, sondern dieser folgt. Wir haben es mit Sozialgeschichte und Rezeptionsgeschichte
172 Formen des nicht klassischen Dramas

des 19. Jahrhunderts zu tun. Und eigentlich ist es diese Problematik, die den Weg des
modernen Theaters vorgezeichnet hat. Sofern es sich als episches Theater versteht
und der Tradition widerspricht, scheint es lediglich um Stiltrennung des (nur dramati-
schen) Dramas dort und um Stilmischung des eben epischen Theaters hier zu gehen.
In Wirklichkeit ist nichts oberflächlicher als die so konstruierte Konfrontation. Keine
der polemischen Etikettierungen entspricht der historischen Wirklichkeit, wenn man
sie nicht lediglich aus der verfälschten Geschichte ihrer Rezeption betrachtet. Es ist in
der Tat erstaunlich, wie aus einem derart falschen Bild der historischen Wirklichkeit
ein so bedeutendes Gebilde wie das epische Theater hervorgehen konnte. Selten
haben Mißverständnisse so produktive Folgen gehabt wie hier. Denn was da als
Konfrontation zum Zwecke der eigenen Produktivität aufgebaut worden ist, liegt gar
nicht in unterschiedlichen Auffassungen von epischer und dramatischer Dichtung. Es
liegt in der Differenz zum Tragischen weit mehr - einer Differenz, die historisches
Verständnis ebenso beanspruchen darf wie die klassische Tragödie auch. Wenn der
überhitzten Polemik gegenüber der »Einfühlungsästhetik« ein Hauch von Berechti-
gung zugestanden werden soll, so sieht man sich auf die Struktur des tragischen
Vorgangs verwiesen, der ohne ein gewisses Maß an Einfühlung nicht zustandekommt.
Denn tragisch ist eine Person nur dann, wenn man nicht nur gegen sie Stellung
nimmt; wenn erkannt wird, daß sich nicht alles in eindeutige Lehre, Didaktik und
Moral auflöst. Diese Struktur als eine Denkform verstanden, die wie anderes auf
zeitgemäße »Einkleidungen« angewiesen bleibt, hat in der modernen Literatur keine
Heimstatt mehr. Das epische Theater hat ihr vor allem den Prozeß gemacht, samt
»Einfühlung«, »Schicksal« und was sonst noch ins Feld zu führen war. Die klassische
Tragödie, so viel steht fest, ist historisch geworden. Aber das betrifft die »Einklei-
dung«, die Schale, nicht den Kern. Dieser aber, der tragische Vorgang als Handlung
und als Wirkung, ist unveraltet. Er geht uns um so mehr etwas an, als er im literari-
schen Leben der Gegenwart nicht mehr in Erscheinung tritt. Auf diesen Vorgang,
veraltet oder nicht, hat man zu sehen, wenn man Unterschiede in der Geschichte des
ernsten Dramas zwischen der sogenannten klassischen und der modernen Ästhetik
ermitteln will. Die Gegensätze zwischen epischer und dramatischer Dichtung haben
ihre Starre nicht erst in der Moderne verloren. [124] Schon in der Zeit der Klassik
geht es letztlich nicht um sie, um Gattungen und Dichtungsarten, sondern um ästheti-
sche Bildung über allem und in ihr um Einheit und Totalität des Menschen: um »die
Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte«. [125]
3. Komik und Komödie in Goethes Faust

Goethes Faust - wir wollen nicht sicher Verbürgtes in Frage stellen - ist eine
Tragödie. Erst die folgenreichen Mißverständnisse seit dem 19. Jahrhundert haben
die Gattungsbezeichnung in Vergessenheit geraten lassen; und daran ist die Vorstel-
lung in hohem Maße schuld, daß in der Gestalt Fausts die Entwicklung eines Men-
schen dargestellt sei, der von Stufe zu Stufe wie der Held des großen Bildungsromans
aufsteigt, um am Ende der höchsten Humanität teilhaft zu werden. Solcher Aufstieg
bis zur Selbsterlösung des Menschen aus der Anlage seines strebenden Bemühens
heraus, solcher Glaube an die menschliche »Perlektibilität« ist mit irgendeiner Art
tragischen Glaubens nicht vereinbar. Allen Harmonisierungen ist deshalb der Unter-
titel »Eine Tragödie« entgegenzuhalten: »ein Umstand, der vordeutend darauf hin-
weist, daß es sich hier eben gerade nicht um den Aufstieg eines Menschen zur Selbst-
vollendung, sondern um einen Menschenweg handelt, der bis ans Ende im Zwielicht
zwischen Glauben und Verzweiflung bleibt.« [1] Die zweifellos bedenklichste Variante
in der Geschichte solcher Mißverständnisse beruht in der Verbindung des bezeichne-
ten Aufstiegs mit der gründerzeitlichen Vorstellung von deutscher Tüchtigkeit, die das
Faustische zu jener deutschen Ideologie degradierte, deren Genesis Hans Schwerte
eingehend beschrieben hat. Daß die Geschichte dieser Verfälschung des Faustischen
ins Deutsche und Tüchtige mit einer Enttragisierung Hand in Hand geht, wird aus-
drücklich vermerkt [2]; so auch andernorts, wenn es heißt: »Lange wurde Goethes
Faust als Verklärung einer menschlichen Haltung gefeiert, die man die »faustische«
nannte. Das konnte nur geschehen, weil man die Dichtung als Tragödie nicht ernst
nahm.« [3] Daß Goethes Faust eine Tragödie sei, ist eine Einsicht der neueren For-
schung, die sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hat. Doch
waren bestimmte Einschränkungen von Anfang an damit verbunden. Sie ergeben sich
aus der Eigenart der dramatischen Form. Wir hätten keinen Grund, am Ernst der
Bezeichnung des Faustdramas als einer Tragödie zu zweifeln, stellt Benno von Wiese
fest und fährt fort: »Aber für das Ganze reicht sie dennoch nicht aus.« [4] Schon der
Prolog im Himmel weise auf das Mysterienspiel hin, in welches das Ende des Dramas
wieder einmündet. Doch bleibt zu fragen, ob mit der unhistorischen Rede vom Myste-
rienspiel - als befänden wir uns noch im Mittelalter und nicht in einer von der
Aufklärung geprägten Welt! - das hinreichend erlaßt ist, was neben der Tragödie
besteht und über sie hinausdeutet. Wir behaupten, daß es in hohem Maße die Komö-
174 Formen des nicht klassischen Dramas

die ist - diese im weitesten Sinn des Begriffs verstanden -, die sich inmitten der
Tragödie behauptet. Das würde noch kaum den Versuch rechtfertigen, über Goethes
Faust im Zusammenhang der deutschen Komödiengeschichte zu handeln - wenn da-
mit nicht zugleich das Verhältnis von Klassik und Komödie in Frage stünde. Goethes
Beitrag zur Geschichte dieser Gattung nimmt sich bescheiden aus, und die Revolu-
tionskomödien aus dem Anfang der neunziger Jahre bestätigen diese Aussage. [5] Die
fast um die gleiche Zeit entstandenen Teile des Faust vermitteln indessen ein anderes
Bild. Doch wollen wir zunächst mitteilen, inwiefern der Text der Dichtung ein so
abwegiges Thema wie das unsere nahelegt. In einer temperamentvoll formulierten
These hat Oskar Seidlin nachzuweisen versucht, daß Goethes Vorspiel auf dem Thea-
ter nicht für den Faust konzipiert wurde, sondern erst nachträglich als eine Art Fremd-
körper hineingeraten sei. Es wird als eine »ganz in sich abgeschlossene Dichtung«
bezeichnet, die nicht in einem organischen Zusammenhang zum nachfolgenden »Pro-
log im Himmel« steht; und zumal der unterschiedliche Ton in beiden Vorspielen stelle
alle Verbindungskünste in Frage: »Daß von jenem witzig-satirischen Ton des Vor-
spiels kein Weg zum Schöpfungslobgesang der Erzengel führt, ist ja wohl nur allzu
deutlich - und vom Ton ganz abgesehen, wo fände sich eine logische Verbindung
zwischen dem mokanten lever de rideau und dem großen Menschheitsdrama?« [6] Es
kann aber kaum zweifelhaft sein, daß im Himmel nicht nur von den unbegreiflich
hohen Werken die Rede ist. Wir bekommen noch sehr anderes zu hören. Die Art, wie
Mephistopheles sich mit dem höchsten Herrn der Schöpfung unterhält, entfernt sich
von der Feierlichkeit des erhabenen Menschheitsdramas beträchtlich. Das Pathos
brächte den Teufel zum Lachen, gesteht dieser selbst. Daher spricht er - trotz der
Knittelverse - in einer Prosa, die ganz seiner Absicht entspricht, im Menschen die
Schöpfung Gottes herabzusetzen. [7] Er bedient sich dabei einer umgangssprachlichen
Redeweise, die es in den ernsten Dramen herkömmlicherweise nicht gibt:
»Und läg' er nur noch immer in dem Grase!
In jeden Quark begräbt er seine Nase« (V. 291/92).
Wenn schon im Himmel so gesprochen wird, dürfen wir uns über die Erde nicht
wundern, in der sich Mephistopheles zu Hause fühlt. Die Tragödie des Menschen
ergreift uns im ersten wie im zweiten Teil. Aber das schließt nicht aus, daß es eine
Vielzahl von Szenen gibt, die man nach den Regeln der klassischen Stiltrennung der
Komödie vorbehalten müßte. Der Eingangsmonolog hat uns die tragische Situation
zum Bewußtsein gebracht, in der sich Faust befindet. Aber den Gelehrten in Schlaf-
rock und Nachtmütze interessiert das Tragische nur als Buchgelehrsamkeit und Philo-
logie:
>>Verzeiht! ich hör' Euch deklamieren;
Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel?« (V. 522/23).

Wagner, der uns nach diesem Eingangsmonolog zugemutet wird, möchte etwas in
dieser Kunst profitieren. Er hat es öfters schon gehört: »Ein Komödiant könnt' einen
Pfarrer lehren.« Der Kontrast ist offenkundig. Er kommt durch die Komik der Situa-
tion zustande. Zur Komik aber gehört zumeist die komische Figur, eine solche des
Komik und Komödie in Goethes Faust 175

reduzierten Bewußtseins, die wir mit dem Abstand und dem besseren Wissen des
Zuschauers betrachten. Das ergibt in der Vielzahl solcher Bezüge einen sehr weit
gespannten Bereich innerhalb des Faustdramas; eine Komödienwelt eigener Art. Es
ist weithin die von Mephistopheles beherrschte Welt. Er ist in ihr derjenige, der
gelegentlich selbst zur komischen Figur wird; wie er es zugleich versteht, andere in das
Licht der Komik zu setzen. [7 a] So etwa in der Unterredung mit dem Schüler, die er
überlegen inszeniert. Die Studienberatung nimmt ganz den Verlauf, den Mephisto
vorgesehen hat. Die Fakultäten, über die schon Faust in eine an Tragik grenzende
Verzweiflung geraten war, werden herabgesetzt. Dabei kommt die Medizin noch am
besten weg. Doch bringt Mephisto recht unlautere Motive ins Spiel. Er regt die
Sinnlichkeit des unerfahrenen Jünglings an - hier wird Goethes Faust zum erstenmal
vergleichsweise obszön -, indem er es auf die weiblichen Patienten eines künftigen
Arztes abgesehen hat:

»Versteht das Pülslein wohl zu drücken,


Und fasset sie, mit feurig schlauen Blicken,
Wohl um die schlanke Hüfte frei,
Zu sehn, wie fest geschnürt sie sei« (V. 2033/36).

Solche Berufsberatung leuchtet unserem zukünftigen Studiosus ein: »Das sieht


schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.« Worauf Mephisto die Antwort gibt,
die man aus dem Zitatenschatz des deutschen Volkes kennt: »Grau, teurer Freund, ist
alle Theorie« (V. 2038).
In den angeführten Szenen kommen Wissenschaft und Universität nicht sehr gut
weg. Ihre Vertreter werden - von Faust abgesehen - zu Karikaturen einer verstaubten
Büchergelehrsamkeit degradiert. Sie erscheinen im Licht der Satire - einer Universi-
tätssatire, die in Auerbachs Keller an Schärfe nur noch gewinnt. Die Derbheiten des
Zechgelages spiegeln eine Komödienwelt niedersten Stils, die sich mit der nachfol-
genden Szene in der Hexenküche ins Tierische verwandelt. Die Tragödie Fausts ent-
schwindet unserem Blick. Das ist erst recht der Fall, wenn das Theaterfeuerwerk der
Walpurgisnacht abgebrannt wird. Da geben sich die Hexen auf dem Brocken ihr
Stelldichein, deren Chor nichts mit dem ehrwürdigen Chor der alten Tragödie zu tun
hat. Schon zuvor hatte sich die Liebestragödie zu entwickeln begonnen. Sie bleibt vor
der teuflischen Magie nicht bewahrt, die Mephisto hineinzumischen versteht. Aber
das hat tragische Folgen, während die Liebesgeschichte der Frau Marthe Schwerdt-
lein im Raum der Komödie spielt. Wieder ist Mephisto die überlegene Figur. Die
lustige Witwe geht ungeniert auf ihr Ziel los, und wie sie nach dem nächsten Ehe-
mann Ausschau hält, ist so erheiternd, wie es komisch ist, wenn Frau Marthe bei dem
neuen Liebhaber auf den Busch klopft: »Ich meine, ob Ihr niemals Lust bekommen?«
Worauf Mephisto listig ausweichend antwortet: »Man hat mich überall recht höflich
aufgenommen.« Die ohne Zweifel verliebte Person muß noch deutlicher werden:
»Ich wollte sagen: ward's nie Ernst in Eurem Herzen?« Aber Mephisto will nicht
verstehen und weicht abermals aus: »Mit Frauen soll man sich nie unterstehn zu
scherzen« (V. 3157/60). Das ist reinste Ironie; denn natürlich scherzt Mephisto gewal-
tig mit Frau Marthe Schwerdtlein, ohne daß diese die Scherze durchschaut. Während
176 Formen des nicht klassischen Dramas

uns die Komik des Dialogs amüsiert, die das Frivole streift, gehen Faust und Gret-
chen vorbei und führen ein Liebesgespräch sehr anderer Art. Der Wechsel in der
Tonlage ist unüberhörbar, wenn der Gelehrte das einfache Mädchen fragt:

»Du kanntest mich, 0 kleiner Engel, wieder,


Gleich als ich in den Garten kam?« (V. 3163/64).

Hier wie sonst bestätigt sich die Ambivalenz der Dinge: eine Liebe, die in allem
Scheitern zum höchsten Dasein führt, wie sie in die Niederungen der Sinnlichkeit
hinabreicht - einer Sinnlichkeit, die alles Seelische vermissen läßt. Die Beziehungen
zwischen Mephisto und Frau Marthe Schwerdtlein bleiben folgenlos. Im Verhältnis
zwischen Faust und Gretchen dagegen wird die Komödie der Verführung zum Aus-
gangspunkt der tragischen Katastrophe. Das eine geht aus dem anderen hervor. In
der Optik des Teufels stellt sich das als etwas Sinnloses und Absurdes dar, als eine Art
Tragikomödie, wie man heute sagen würde.
Im Faust II stehen der erste, der zweite und der vierte Akt weithin im Zeichen der
Komödie. Ein Herold kündigt eingangs an, daß uns ein heiteres Fest erwartet. Es ist
italienische Komödie, die im Spiel der Masken und Allegorien die miserable Lage
vergessen macht, in der sich das Reich des an Unterhaltung interessierten Kaisers
befindet. Mephistopheles hat die Stelle des Hofnarren eingenommen. Flammenzau-
ber und Papiergeldszene fügen sich als Teile organisch in die Komödie ein, um die es
sich handelt. Zu Eingang des zweiten Aktes wird Faust ein Heilschlaf verordnet,
während sich Mephisto in der engen Stube von einst zu schaffen macht. Es gelüstet
ihn, die Studierzimmerszene zu wiederholen, die wir aus dem ersten Teil bereits ken-
nen. Aus dem Schüler ist ein selbstbewußter Baccalaureus geworden. Daß er seiner-
zeit vom Teufel verulkt worden war, zahlt er diesem nunmehr heim. In seiner Grob-
heit ist er bedenkenlos, was Mephisto zu der Bemerkung veranlaßt, die man wieder-
um aus dem unverwüstlichen Zitatenschatz des deutschen Volkes kennt: »Im Deut-
schen lügt man, wenn man höflich ist.« Wenn es sich in der Tat so verhält, wie der
Teufel sagt, so sagt unser forscher Baccalaureus seinem Gesprächspartner die reine
Wahrheit ins Gesicht:

»Des Menschen Leben lebt im Blut, und wo


Bewegt das Blut sich wie im Jüngling so?
Das ist lebendig Blut in frischer Kraft,
Das neues Leben sich aus Leben schafft.
Da regt sich alles, da wird was getan,
Das Schwache fällt, das Tüchtige tritt heran.
Indessen wir die halbe Welt gewonnen,
Was habt Ihr denn getan? genickt, gesonnen,
Geträumt, erwogen, Plan und immer Plan.
Gewiß! das Alter ist ein kaltes Fieber
Im Frost von grillenhafter Not.
Hat einer dreißig Jahr vorüber
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär's, euch zeitig totzuschlagen« (V. 6776/89).
Komik und Komödie in Goethes Faust 177

Das ist ein sehr frischer Wind, der hier weht; vielleicht etwas zu frisch und nicht ganz
ungefährlich für diejenigen, die das dreißigste Lebensjahr zu erreichen gedenken.
Daß der Baccalaureus etwas von dem ausspricht, was uns Faust - den Faust des ersten
Teils - so gewogen machte, gilt es zu sehen. Das faustische Streben scheint Früchte zu
tragen. Das Tätige hat sich durchgesetzt. Das gibt dem Vertreter allen jugendlichen
Lebens das Recht, mit Verachtung auf jene herabzusehen, die in der Zwischenzeit nur
genickt und geträumt haben. Doch der Schein trügt. Unser Baccalaureus hat sich zwar
etwas Faustisches angeeignet. Aber es ist das Faustische des ersten Teils: die Adap-
tion einer Lebensstufe, die für den Faust des zweiten Teils längst der Vergangenheit
angehört. Daher dürfen wir nicht wörtlich nehmen, was hier gesagt wird, wo es sich
um Komik handelt. Was er als neues Leben bezeichnet, ist so viel nicht wert; denn zum
Totschlagen ist er rasch bereit. Die zum Baccalaureus gewordene Schülergestalt er-
weist sich als ein Vertreter des Originalgenies von einst. Indem er gegenüber dem
ewig alten Mephistopheles seine Jugendlichkeit hervorkehrt, scheint er der Überlege-
ne zu sein. In Wirklichkeit ist Mephisto dem Baccalaureus überlegen, wenn er dessen
Auftritt verächtlich kommentiert: »Original, fahr hin in deiner Pracht!« (V. 6807).
Die frühe Stufe der eigenen Werdezeit wird hier thematisch in der Weise, daß im
späteren Teil dasjenige als komisch erscheint, was im früheren das Pathos der Jugend-
lichkeit für sich hatte. Fausts Gedankenwelt im ersten Teil wird zum Anachronismus
dieser Gedankenwelt im zweiten. Das Frühere wird vom Späteren parodiert. Faust I
wird in solchen Wiederholungen ein Gegenstand der Parodie in Faust II. Was einmal
etwas Lebendiges war, kann Anachronismus werden. Um diesen zu bezeichnen, bietet
sich die Parodie als literarische Darstellungsform an. Parodie aber ist eine Erschei-
nungsform der komischen Dichtung. An der klassischen Walpurgisnacht interessieren
uns die Freiheiten, die sich die Komödie seit den Tagen des Aristophanes nimmt,
indem sie die Illusion des Spiels desillusioniert. Den Figuren wird erlaubt, aus der
Rolle zu fallen. Die Geschlossenheit des Handlungszusammenhangs wird damit durch-
brochen. Die Klassik dieser Walpurgisnacht ist die Antike der mythologischen Perso-
nen und die der klassischen Philologen des 18. Jahrhunderts zugleich. Das bringt
Chiron unübertrefflich zum Ausdruck. Er spricht von Helena als einer »mythologi-
schen Frau« und hält ironischen Abstand. Mephisto dagegen hat sich in die Land-
schaft der damaligen Zeit verirrt. Er verwechselt sie mit der Landschaft der Gegen-
wart, die von reisenden Briten heimgesucht wird:
»Mit vielen Namen glaubt man mich zu nennen -
Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel« (V. 7117/21).
Daß die Komik solcher Parodierungen und Desillusionierungen vielfach in Humor
übergeht, wundert uns nicht. Denn was mit Mephistopheles in dieser denkwürdigen
Nacht geschieht, macht ihn nun wirklich zur unverwechselbar komischen Figur, die
der humoristischen Nachsicht bedarf. Max KommereIl hat von einem der »größten
Gestaltwitze des dramatischen Humors« gesprochen. [8] Antike Sinnennähe ist ganz
und gar nicht nach dem Geschmack des Teufels, dem alles Lebendige unbehaglich ist.
178 Formen des nicht klassischen Dramas

So reagiert er auf das bewegte Treiben dieser Nacht mit einer Prüderie, die wir bisher
an ihm nicht kannten:
»Und wie ich diese Feuerchen durchschweife,
So find' ich mich doch ganz und gar entfremdet,
Fast alles nackt, nur hie und da behemdet:
Die Sphinxe schamlos, unverschämt die Greife,
Und was nicht alles, lockig und beflügelt,
Von vorn und hinten sich im Auge spiegelt [... ]« (V. 7080/85).
Ältere Kommentatoren haben sich an das gehalten, was man aus Faust I kennt. Sie
haben solche Äußerungen als diejenigen eines lüsternen Geschlechtswesens gedeutet.
Es kann aber kein Zweifel sein, daß den Teufel das Unbehemdete befremdet. Aus
dem lüsternen Geschlechtswesen, das mit Hexen aller Art auf obszöne Weise umzuge-
hen liebte, ist der prüdeste Geselle geworden, den man sich denken kann. In solcher
Verächtlichkeit der Antike muß Mephistopheles zugleich zu einem Verächter des
Schönen werden. Seine Verwandlung in eine der häßlichsten Phorkyaden kann erfol-
gen. Er kann sich damit der Welt, in die er wohl oder übel geraten ist, assimilieren.
Das Häßliche wird humoristisch traktiert. [9] Soweit der vielfach schon gedeutete
Befund. Er ist um die Feststellung zu ergänzen, daß nicht erst Goethe Faustmotivik
und Komödienwelt zusammengebracht hat. Ungeachtet der neuzeitlichen Tragik, die
schon im Faustbuch von 1587 angelegt ist, gibt es im Stil des schwankhaften Volksbu-
ches auch jene Teile, die einem komödienhaften Spektakelstück näher stehen als dem
ernsten Drama der späteren Zeit. Dem Stoff selbst hat nach mancherlei Entstellun-
gen als erster Marlowe die tragische Würde zurückgegeben. Aber auch in der Tragical
history seiner Faustdichtung gibt es die Komik in jener Vermischung mit dem Tragi-
schen, wie man sie aus dem Drama Shakespeares und des elisabethanischen Theaters
kennt. Schon bei Marlowe gibt es die von der Tragik der Handlung vorübergehend
sich entfernenden Unterredungen zwischen Wagner und dem Studenten. Es gibt die
Rüpel, Philister oder Narren, die den Ernst des tragischen Vorgangs unterbrechen.
Im Theater des 17. Jahrhunderts behielt das Komödiantische dieser Teile zumeist die
Oberhand. So konnte es geschehen, daß der tragische Gehalt erneut entstellt wurde,
als die englischen Komödianten den Stoff nach Deutschland zurückbrachten. Die
Komödienfigur des Hans Wurst behauptete neben Faust und anderen Figuren ihr
Recht. Sie hat sich aus der Geschichte der Faustdichtung so rasch nicht wieder verlo-
ren. In Joseph Stranitzkys Leben und Tod Fausts (1715) lebte sie ähnlich fort wie in
AdolfBäuerles Märchenstück Doktor Fausts Mantel (1817). Die in die Geschichte der
deutschen Komödie hineinführende Geschichte der Faustsage in Deutschland ist von
der Tradition des Puppenspiels nicht zu trennen. [10]
Den Zauber dieser Spiele, den sie einmal auf Kinder und jugendliche Menschen
ausgeübt haben, hat Theodor Storm im Pole Poppenspäler einprägsam geschildert.
[lOa] Ohne Kasperle, Komiker und komische Figur zugleich gäbe es den Zauber
kaum, der dazu führte, daß jugendliche Gemüter am Puppenspiel von Doktor Faust
immer wieder Gefallen fanden. Die Komik der Situationen ist mit seinem Auftreten
verbunden; und das Geld - ein in Komödien seit je beliebtes Motiv - trägt nicht wenig
zu solcher Komik bei. Szenen tragischer Verzweiflung im Gericht über Faust wechseln
Komik und Komödie in Goethes Faust 179

noch am Ende des Spiels mit Auftritten einer ungebrochenen Komik, wenn Kasperle
auf der Bühne des Puppentheaters erscheint. Er ist Nachtwächter geworden und hat
im bürgerlichen Leben sein Unterkommen gefunden. Seine Frau schimpft gelegent-
lich so laut mit ihm, daß er die Schläge der Uhr überhört. Und nachdem Faust, arm
und verachtet, gerichtet worden ist, erhält Kasperle das letzte Wort - wie es sich
gebührt. Der zanksüchtigen Frau werden noch einige Schläge verabreicht, ehe er mit
ihr den Kehraus tanzt und die Bühne verläßt. Spätmittelalterliche Moralität, tragische
Verzweiflung und bürgerliche Tragikomik sind bunt miteinander vermischt in einem
Wechsel der Stilebenen, die jeder ästhetischen Einheit spotten. Aber gerade solche
Lässigkeiten zogen das jugendliche Publikum an. Das hat Goethe wiederholt bezeugt.
Die Tragödie von Doktor Faust wurde ihm zuerst durch die Komödienwelt der Pup-
penspiele vermittelt. Noch über der Arbeit an den Helena-Szenen blieb sich Goethe
dieses Ausgangs bewußt. [11]
Es war die Großmutter, die im Hause am Hirschgraben für eine solche Unterhal-
tung sorgte. Das einleitende Kapitel der Theatralischen Sendung handelt von ihr. Sie
hat Geschenke für die Enkelkinder besorgt: »eine Anzahl spannenlanger, artig geklei-
deter Puppen.« Der Vater des jungen Wilhelm Meister ist damit nicht recht einver-
standen. Er hält es als Kaufmann lieber mit nützlichen Dingen. Aber seine Mutter
belehrt ihn, indem sie ihn an dessen eigene Kindheit erinnert: »laß es nur gut sein, sie
werden eine rechte Freude haben, es ist so hergebracht bei mir, und das weißt du
auch, und ich lasse nicht davon [... ] ich habe ihnen Puppen geputzt und habe ihnen
eine Komödie zurechte gemacht, Kinder müssen Komödien haben und Puppen.« [12]
Der Faustfabel wird später im Zusammenhang der Puppenspielmotive noch mehrfach
gedacht, so 1826 im Entwurf einer Ankündigung der Helena. In Dichtung und Wahr-
heit wird davon gesprochen, daß es Herder gegenüber mancherlei zu verbergen galt.
Es waren das Götz von Berlichingen und Faust; und von dem letzteren wird gesagt:
»Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir
wieder. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf
die Eitelkeit desselben hingewiesen worden.« [13] Das bezieht sich auf die Straßbur-
ger Zeit, auf die Epoche der literarischen Bewegung, die man als Sturm und Drang
bezeichnet. In ihr wird Goethes Faustdrama konzipiert. Den Anteil des erlebten Pup-
penspiels an dieser Konzeption hat man nie geleugnet. Mit diesem Anteil ist aber
zugleich der Anteil der Komödie zu bestimmen: ein gewisses Nebeneinander von
Komik und Tragik, das schon in der Tradition des Puppenspiels angelegt ist. Ein
solches Nebeneinander ist aber auch für das Drama des Sturm und Drang bezeich-
nend. Das betrifft die Dramenform der Faustdichtung Goethes im Stadium ihrer
Entstehung.
Von Büchner her haben wir am deutlichsten zwischen einem Drama mit der Rich-
tung zur Moderne und einem solchen der klassischen Dramenform zu unterscheiden
gelernt. [14] Über Lenz als Büchners bewundertes Vorbild führt die Vorgeschichte
dieses modernen Dramas in den Sturm und Drang zurück. Der Dramentypus dieser
Epoche ist so beschaffen, daß man oft zwischen Tragödie und Komödie kaum noch
unterscheiden kann. Die Bezeichnung Tragikomödie bietet sich an. An die Soldaten
oder den Hofmeister von Lenz mag man dabei denken. Solchen Abweichungen vom
180 Formen des nicht klassischen Dramas

aristotelischen Gesetzbuch entspricht die zumeist lockere Szenenfolge , wie wir sie auch
im Urfaust vorfinden. Ein scheinbar unverbundenes Nebeneinander der Motive wie
der Stillagen herrscht vor. Göttliches im Erkennen des Höchsten und Teuflisches in
Verbindung mit Magie sind in demselben Gelehrtenturn angelegt, das die entgegen-
gesetzten Phänomene umfaßt. Auch in der Liebestragödie des gefallenen Mädchens,
das zur Kindsmörderin wird, sind die Szenen nur lose miteinander verknüpft. Schon im
Urfaust deuten die Liedeinlagen auf die für den Sturm und Drang bezeichnende
Dramenform hin, die Shakespeare in der für sein Drama charakteristischen Vermi-
schung des Komischen mit dem Tragischen verpflichtet bleibt. Verwandte Beziehun-
gen zwischen dem Urfaust und älteren Dramen im Anteil ihrer Komik betreffen die
Vorliebe für Hans Sachs und das Unverbrauchte seiner Knittelverse. Daß Goethes
eingehendere Kenntnis dieses altdeutschen Poeten für den Herbst 1772 anzusetzen ist,
haben neuere Forschungen erhärtet. [15] Das alles trug dazu bei, daß diese Dichtung,
wie Emil Staiger bemerkt, eigentümlich zwischen den Gattungen steht. [16] In aller
Vielfalt der Formen ist der Stilwechsel im Urfaust selbst der Stil. Und daran hat sich
in der Faustdichtung Goethes nichts Grundsätzliches geändert. Das größte Drama der
deutschen Klassik, so dürfen wir beiläufig feststellen, ist kein Drama der klassischen
Dramenform. Dabei stehen Komödie und Tragödie schon im Sturm und Drang nicht
durchaus gleichberechtigt nebeneinander. Zwar scheint ein Dichter wie Lenz dem
tradierten Pathos der alten Tragödie nicht mehr recht zu trauen. Doch verschließt er
sich ihr in seiner Theorie nicht in jedem Betracht. Nur ist sie ihm nicht mehr unmittel-
bar, sondern höchstens über den Weg der Komödie noch erreichbar, wie der Rezen-
sion des Neuen Menoza zu entnehmen ist: »Komödie ist Gemälde der menschlichen
Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden
[... ] Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zu-
gleich schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben [... ] ein solcher Mischmasch
von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist. So erschafft der komische
Dichter dem Tragischen sein Publikum.« [17] Daß der komische Dichter dem Tragi-
schen sein Publikum schaffe, bestätigt auch das Faustdrama Goethes. Tragisches geht
stets aus den Niederungen des Komischen hervor: die Tragödie Fausts ist der von
Mephistopheles beherrschten Komödienwelt an Rang und Würde überlegen. In der
Zeit der Klassik wird diese Rangfolge der Dichtungsarten feierlich sanktioniert, so im
Vorspiel Was wir bringen. Die Entwicklung des Dramas führt von der bürgerlichen
Komödie in die Prosa bis zur Tragödie in Versform hinauf. In ihrer Nähe erscheint die
Musik, die vielfach für Goethe das Höchste in der Rangordnung der Werte bedeutet.
[18] Wir haben es mit einem verhältnismäßig wenig erforschten Gebiet in seiner
geistigen Welt zu tun. Das Verhältnis von Klassik und Komödie steht in Frage, und
dabei ist von vornherein zwischen einer Komödie niederen Stils und einer solchen zu
unterscheiden, die Goethe als Symbol der höchsten Kunst verstand.
Daß es zwischen Klassik und Komödie ein engeres Verhältnis nicht gibt, nimmt
man allgemein an. Eine überzeugende Dichtung liegt nicht vor, und das gelegentliche
Eintreten für die Komödie in der Theorie kann die fehlende Dichtung nicht ersetzen.
Doch darf uns die Theorie nicht gleichgültig sein, wie beiläufig sie sich auch äußern
mag. In ihr wird der Komödie die höchste Stellung in der Poetik zuerkannt. Es ist
Komik und Komödie in Goethes Faust 181

Schiller, der dies mehrfach und schon früh ausgesprochen hat. In dem Mannheimer
Vortrag Was kann eine Schaubühne wirken? ist davon andeutend die Rede. [19] In
den späteren Schriften zur Theorie der Dichtung erkennt Schiller den Vorzug der
Komödie in einer Gemütsfreiheit, die durch keinerlei Affekte gestört wird: »Wenn
also die Tragödie von einem wichtigem Punkt ausgeht«, heißt es in der Abhandlung
über Naive und sentimentalische Dichtung, »so muß man auf der andern Seite geste-
hen, daß die Comödie einem wichtigem Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie
es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen.« [20] Vollends in dem
aus dem Nachlaß veröffentlichten Fragment Tragödie und Comödie wird die Rang-
ordnung der Werte zugunsten der letzteren unmißverständlich umschrieben: »Unser
Zustand in der Comödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder thätig noch
. leidend, wir schauen an und alles bleibt außer uns; dieß ist der Zustand der Götter,
die sich um nichts menschliches bekümmern, die über allem frei schweben, die kein
Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt.« [21]
Fast wörtlich kehrt die in der Komödie sich bezeugende Gemütsfreiheit in Goethes
Schriften wieder, wenn es heißt: »Das Sittliche aber so wie das Pathetische macht
immer ernsthaft, und jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts, welche in
uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie ist, läßt sich nur durch eine abso-
lute moralische Gleichgültigkeit erreichen, es sei nun, daß der Gegenstand selbst
schon diese Eigenschaft habe, oder daß der Dichter die Kunst besitze, die moralische
Tendenz seines Stoffs durch die Behandlung zu überwinden.« [22] Die Revolutions-
komödien der neunziger Jahre scheinen solcher Theorien zu spotten. Dennoch hängt
das Mißlingen mit der bezeichneten Theorie von der höchsten Gemüstfreiheit aufs
engste zusammen, wie Fritz Martini am Groß-Cophta nachzuweisen suchte. Es war die
ursprüngliche Absicht, den Stoff durch die Behandlung zu überwinden; es war die
Absicht dieser zur opera buffa tendierenden Komödie, mit der Entlarvung trügeri-
schen Spiels eine Spielebene zweckfreier Heiterkeit zu erreichen, die den Notwendig-
keiten der politischen Welt überlegen sein könnte. Wenn diese in die Oper einmün-
dende Spielform mißlang, so waren es die Schwere und der Ernst des Gegenstandes,
die sich der so verstandenen Komödie versagten: »Die Zeit verweigerte ihre Verzau-
berung in Sang und Klang! Sie meldete ihr eigenes, ernstes Gewicht an.« [23] Die
Bewältigung eines Ereignisses wie der Französischen Revolution muß dem Trauer-
spiel vorbehalten bleiben. In der Natürlichen Tochter wurde sie versucht, wie Goethe
selbst bestätigt hat. [24] Aber das spricht im Sinne Goethes nur gegen die Revolution
als das schrecklichste aller Ereignisse, das zu »gewältigen« war - nicht gegen die
Komödie selbst als einer höchsten Möglichkeit dichterischer Aussage. Goethe scheint
sich solcher Möglichkeiten während seiner italienischen Reise innegeworden zu sein.
Darüber geben die Aufzeichnungen vielfache Auskunft. Unter dem Datum des 4. Ok-
tober 1786 wird über den Aufenthalt in Venedig bemerkt: »Gestern war ich in der
Komödie, Theater Sankt Lukas, die mir viel Freude gemacht hat; ich sah ein extem-
poriertes Stück in Masken, mit viel Naturell, Energie und Bravour aufgeführt [... ]
Mit unglaublicher Abwechslung unterhielt es mehr als drei Stunden. Doch ist auch
hier das Volk wieder die Base, worauf dies alles ruht, die Zuschauer spielen mit, und
die Menge verschmilzt mit dem Theater in ein Ganzes.« [25] Daß in solchen Auffüh-
182 Formen des nicht klassischen Dramas

rungen alles natürlich und ohne Prunk zugeht, spricht ihn an. [26] Vor allem ist es die
Ganzheit, die dem Erlebnis der italienischen Komödie zugrunde liegt. Goethe erkennt
in ihr die erstrebte Synthese von Natur und Kunst. Das Volk, als Zuschauer und
Mitspielerzugleich, ist selbst Natur. Kunst und Volk leben nicht unverbunden neben-
einander. Sie bilden ein Ganzes. Mit unseren geläufigen Vorstellungen von Klassik als
Feierlichkeit und Erhabenheit scheint sich das alles kaum zu vertragen; und doch ist es
unumgänglich, einen bestimmten Begriff des Volkes mit Goethes Klassik in Verbin-
dung zu bringen. Denn es ist höchstes Lob, das dem italienischen Volk, als Spieler wie
als Zuschauer, gezollt wird, wenn es in den Aufzeichnungen der Italienischen Reise
heißt: »Aber auch so eine Lust habe ich noch nie erlebt, als das Volk laut werden ließ,
sich und die Seinigen so natürlich vorstellen zu sehen. Ein Gelächter und Gejauchze
von Anfang bis zu Ende [... ] Großes Lob verdient der Verfasser, der aus nichts den
angenehmsten Zeitvertreib gebildet hat. Das kann man aber auch nur unmittelbar
seinem eignen lebenslustigen Volk.« [27] Die Volksverbundenheit - man wolle das
nicht mißverstehen - wird zum belebenden Motiv in Goethes entstehender Klassik,
sofern es darum geht, das Klassische der Antike als etwas Lebendiges zu erneuern.
Das führt uns zum Faustdrama und den damals, in der Zeit der Klassik, entstandenen
Szenen zurück. Der Osterspaziergang stammt aus dieser Zeit. Er ist ganz aus dem Geist
einer Klassik heraus entstanden, zu der eine Volksverbundenheit von der Art gehört,
wie sie hier dargestellt erscheint.
Zur Kunst - diese Erfahrung war in Italien gemacht worden - gehört Einheit und
Ganzheit in jedem Betracht: eine ideale Gemeinsamkeit, die Dichter und Volk ver-
bindet. Faust aber ist im ersten Teil als Gelehrter ein »Geistesmensch«, wie der
Künstler auch. Sein Einverständnis mit den einfachen Menschen, die er auf seinem
Osterspaziergang trifft, bezeichnet das Gegenbild der monologischen Existenz, mit der
die Tragödie beginnt. Die Volksverbundenheit im Gelehrtentum ist der symbolische
Ausdruck einer Ganzheit, die den Gebildeten mit dem Ungebildeten vereint: »hier
bin ich Mensch, hier darf ich's sein«, sagt Faust bezeichnenderweise von sich selbst.
Auch die Szene »Vor dem Tor« mit den Spaziergängern aller Stände, dem anschließen-
den Tanz und Gesang unter der Linde und dem im Kreis versammelten Volk, das dem
beliebten Arzt Gesundheit und langes Leben wünscht, ist Darstellung einer heiteren
Welt: einer solchen höchsten Sinnes, die nicht zufällig von Musik umrahmt wird. Aber
nur als Vorahnung sind solche Möglichkeiten höchsten Daseins zu verstehen. Sie
entsprechen dem Strukturprinzip der Vorwegnahme, das der Faustdichtung zugrunde
liegt. Doch die Wirklichkeit bringt sich als unabänderlich tragische Daseinsform in
Erinnerung: wie dem Osterspaziergang die auf Selbstmord gerichtete Verzweiflung
vorausgegangen war, so folgt tiefe Niedergeschlagenheit nach allem Frohsinn dieser
Szenen:
»0 glücklich, wer noch hoffen kann
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen« (V. 1064/67).
Die Musik, als Tanz und Gesang der Bauern unter der Linde, hat nicht zufällig in
dieser Szene als einer Vorahnung höchstens Daseins ihren Ort. Stets spielt sie in den
Komik und Komödie in Goethes Faust 183

belebenden Umgang mit der italienischen Komödie hinein. Oft sind Komödie und
Oper identisch, so in den Eintragungen vom Oktober 1786 in Venedig: »Gestern
abend Oper zu Sankt Moses [... ] nicht recht erfreulich! [... ] Heute dagegen sah ich
eine andere Komödie, die mich mehr gefreut hat [... ] Der eine Advokat war alles,
was ein übertriebener Buffo nur sein sollte.« [28] Die Komödie höchsten Ranges als
eine solche mit Musik bedeutet in Goethes Klassik höchste Heiterkeit des Geistes
jenseits von Sprache und Tragik. Es hat daher seinen guten Sinn, wenn ihn in dieser
Zeit wiederholt der Plan einer Fortsetzung der Zauberf/öte in Anspruch nimmt, der
erst nach Jahren aufgegeben wird. [29] Eine Stufenwelt von niederer Komödie, Tra-
gödie und einer darüberstehenden Kunst, die das Komische wie das Tragische gleich-
sam opernhaft »transzendiert«, zeichnet sich ab. Auf dem Hintergrund einer solchen
Vorstellungswelt sind das Vorspiel auf dem Theater und der Prolog im Himmel zu
erläutern. Sie sind in dieser Zeit entstanden wie das Gedicht Zueignung, mit dem die
Faustdichtung Goethes beginnt. [30] Welche Bedeutung der Musik als einem Symbol
höchster Kunst im Faustdrama zugedacht ist, nimmt die Zueignung vorweg. Das in
unbestimmten Tönen schwebende Lied des Dichters wird mit der Äolsharfe vergli-
chen; und wenn nach der furchtbaren Tragödie des ersten Teils ein neues Leben
beginnen soll, so ist es Musik, die es ermöglicht. Es ist der von Äolsharfen begleitete
Gesang Ariels, den wir vernehmen, ehe die Handlung im zweiten Teil ihren Fortgang
nimmt. Das Gedicht Zueignung klingt aus, indem es an Musik erinnert. Eine Einheit
der Gegensätze deutet sich an: das strenge Herz fühlt sich weich. Die Musik ist das
Symbol einer Versöhnung, die in sich das Gegensätzliche zu vereinen weiß. Auch in
dem schroffen Ende der Trilogie der Leidenschaft- »Mir ist das All, ich bin mir selbst
verloren« - ist der Musik innerhalb des Zyklus diese Aufgabe der Aussöhnung zuge-
dacht. Wenn aber im Gedicht Zueignung die Gestalten der Vergangenheit vom lyri-
schen Ich beschworen wurden, so setzt das Vorspiel auf dem Theater nunmehr die
Gegenwart dieser Gestalten in der Gegensätzlichkeit voraus, die ihrerseits nach Ein-
heit verlangt.
Der Dichter und der Theaterdirektor sind die Vertreter derart gegensätzlicher Be-
reiche. Der empfindsame Poet möchte am liebsten überhaupt nicht an die irdische
Welt denken, und der auf Kassenerfolge bedachte Praktiker des Theaters interessiert
sich für sie allein. Das Neue wird ihm - wie später Mephisto - zur bloßen Neuigkeit,
während der wirklichkeitsferne Dichter nur die Ewigkeit gelten läßt:
»Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,
Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren« (V 73/74).

Zwei extreme Auffassungen stehen sich gegenüber. Mehr noch hat man es mit zwei
völlig verschiedenen Stillagen zu tun. Der Dichter spricht in feierlichen Stanzen und ist
auf Pathos und hohen Stil bedacht. Der Theaterdirektor spricht in Knittelversen. Er
bedient sich eines betont umgangssprachlichen Tons. Was in der Sprache des Dichters
Himmelsenge heißt und mit einem paradiesischen Bereich in Verbindung gebracht
wird, nennt der Direktor eine Gnadenpforte. Aber damit ist nur der Andrang des
Einlaß begehrenden Publikums vor der Kasse gemeint. Schon damit stellt sich vom
Dialog dieses Vorspiels her die Frage, wie die Teile zur Ganzheit werden können; und
184 Formen des nicht klassischen Dramas

dabei denkt der Direktor ähnlich wie später Mephistopheles nur an die Teile, als ob
es einer Ganzheit gar nicht bedürfe:
»Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!
Solch ein Ragout, es muß Euch glücken;
Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.
Was hilft's, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht,
Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken« (V. 99/103).
Demgegenüber ist dem Dichter durchaus das Ganze wichtig. Aber er stellt es nicht
her, weil er jede Erscheinungsform der Dichtung von sich weist, die eine Verbindung
mit der Welt des Theaterdirektors haben könnte. Genau an diesem Punkt wird uns
die lustige Person des Vorspiels wichtig. Kein Zweifel, daß sie aus der Welt der
Commedia dell'arte stammt. Welche Aufgaben sie im Streit der Gegensätze zu über-
nehmen hat, ist damit noch nicht ausgemacht. Mit schöner Selbstverständlichkeit hat
Emil Staiger entschieden: »Der Narr kann nur Mephisto sein. Der Künstler, der den
Teufel spielt, spielt auch die >lustige Person<, des Amüsements gewiß, das er dem
Publikum bereiten wird.« [31] Wenn es aber einen Gedanken gibt, den Mephisto
niemals gedacht haben könnte, so ist es der, den die lustige Person ausspricht und der
auch von Faust ausgesprochen werden könnte:
»Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein« (V. 182/83).
Die Fehldeutungen haben darin ihren Grund, daß die lustige Person in der Tat der
Sprache des Theaterdirektors angenähert erscheint. Das hängt damit zusammen, daß
sie vermittelt, so daß sie an den beiden Welten teilhaben muß: an derjenigen des
Theaterdirektors und an derjenigen des Dichters, den nur das gleichsam Spirituelle
seiner Dichtung interessiert. Nicht zufällig ist die lustige Person eine dichterische
Person, eine Person der commedia dell'arte. Sie ist ein Symbol der Vermittlung, das
über das Pathos ebenso hinausweist wie über die einseitig irdische Komödienwelt.
Der Direktor dagegen hat mit Mephistopheles mancherlei gemeinsam. Beide reden
sie den Teilen das Wort und machen damit das Drama zur Komödie, zu einer solchen
von relativ niederem Niveau. Die lustige Person - wir denken sie uns als eine überle-
gene Person - deutet auf die Einheit der Teile hin. Das alles - der Osterspaziergang,
die Erfahrung der italienischen Komödie als einer Ganzheit, die Prologe zum Binnen-
drama und anderes mehr - bezeichnen den Anteil der Komödie in der Epoche der
Klassik. Mit Goethes später Dichtung geht es um eine dritte Epoche seines Schaffens,
die in die Faustdichtung eingegangen ist. Die Klassik von 1800 ist jetzt nicht mehr nur
der Stil, den man an den Szenen erkennt, die in dieser Zeit entstanden sind. Sie wird
selbst ein Thema der Dichtung.
Es geht um die den späten Goethe bewegende Frage, die ihn jetzt um 1826 beschäf-
tigt, wie damals um 1800 eine Klassik von der Art der deutschen entstehen konnte.
Wie kann etwas längst Vergangenes - die Schönheitswelt der griechischen Antike - zu
neuem Leben erweckt werden? Welche Voraussetzungen müssen vorhanden sein,
damit neuzeitliche Renaissancen entstehen? Und ferner: wie kann es zur Höchstform
von Schönheit und Kunst kommen, die es schon einmal gegeben hat? Die ersten Akte
Komik und Komödie in Goethes Faust 185

des zweiten Teils in der Wiedergeburt des Schönen mit dem Erscheinen der Helena
sind die dichterische Antwort auf solche Fragen. Es geht weniger - aber das sollte
sich von selbst verstehen - um eine individuelle Entwicklung Fausts als um Bildungs-
vorgänge allgemeiner Art: um ein Weltspiel ohne Charaktere, mit Max Kommerell zu
sprechen. [32] Es geht um Bildungsvorgänge in Natur und Kunst, wie sie Wilhelm
Emrich in seinen Studien so überzeugend erläutert hat. [33] In diesem Zusammen-
hang wird Goethe das Erlebnis der italienischen Komödie und des römischen Karne-
vals erneut wichtig. [34] Daß es von der Klassik um 1800 nicht abzulösen ist, wird
rückblickend in einer Niederschrift aus dem Jahre 1822 festgehalten, die von Natur,
Kunst und Gesellschaft als den drei großen Weltgegenden handelt. [35] Metamorpho-
se ist dabei der über alles wichtige Zentralbegriff, der diese Bereiche auf ein Drittes
hin verbindet. [36]
Die drei großen Weltgegenden Natur, Kunst und Gesellschaft sind das bestimmen-
de Thema in der Mummenschanz des ersten Aktes. Daß es sich um ein Spiel im Spiel
handelt, ist deutlich; nicht weniger deutlich ist der Schauplatz der Handlung bezeich-
net. Wir befinden uns in Italien, wie der Ankündigung des Herolds zu entnehmen ist:
»Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen
Von Teufels-, Narren- und Totentänzen;
Ein heitres Fest erwartet euch.
Der Herr, auf seinen Römerzügen,
Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen,
Die hohen Alpen überstiegen,
Gewonnen sich ein heitres Reich« (V. 5065171).
Die ältere Forschung hat mit der merkwürdigen Maskerade mitten im Mensch-
heitsdrama der Faustdichtung wenig anzufangen gewußt. Und wenn sie darin nicht ein
Nachlassen der schöpferischen Potenz eines alt gewordenen Dichters erkannte, so hat
sie das Maskenspiel dieser Akte ausschließlich negativ gedeutet: als Satire auf die
geschichtlich-politische Welt, wie sie in der Kaiserhofhandlung dargestellt er-
scheint. Diese negativen Züge sind ohne Zweifel vorhanden. Sie deuten gleichwohl
auf etwas Höheres voraus: auf eine Vereinigung von Natur und Kunst, die sich aus
der niederen Komödienwelt entwickelt und später mit der Wiederkehr Helenas in
Erscheinung tritt. Unter den Gestalten der Mummenschanz treten der Parasit der
alten Komödie und die Pulcinella der commedia dell'arte auf. Auch die Parzen und
Furien der ernsten Tragödie mischen sich ein. Aber eine echte Vereinigung des
Komischen mit dem Tragischen kommt nicht zustande. Auch das einfache Volk ist am
Geschehen kaum beteiligt. Die höchste Vereinigung ist in Goethes Vorstellungswelt
das Heitere. In den Versen der Mummenschanz ist davon zwar häufig die Rede. Aber
die Herstellung der Vereinigung will noch nicht gelingen. Die Einheit der Dinge im
Bereich der Mummenschanz bleibt Schein, und die Allegorie ist einer solchen Darstel-
lung gemäß. Sie bringt ihrerseits etwas zusammen. Aber die rechte Vereinigung ge-
lingt ihr nicht. Die gelingt im Sinne Goethes einzig dem Symbol. Die dargestellte
Komödie auf einer ohne Zweifel höheren Stufe.
Vereinigung des Gegensätzlichen ist auch hier das große Thema dieser denkwürdi-
gen Nacht. Vereinigt wird mancherlei, so beispielsweise die Gedankenwelt der Nep-
186 Formen des nicht klassischen Dramas

tunisten mit derjenigen der Vulkanisten, über die sich Thales und Anaxagoras im
Beisein des Homunculus unterhalten; so ferner Tragödie und Komödie im Auftreten
bestimmter Gestalten, die fraglos diesem oder jenem Bereich zuzuordnen sind. Die
niedere Komödienwelt wird von einem Gewimmel komischer, grotesker und gespen-
stischer Figuren bevölkert, während an den Ernst des Tragischen Gestalten wie
Erichtho oder Manto erinnern. Aus der Vereinigung der Gegensätze geht nach dem
Gesetz der Steigerung durch Polarität ein Drittes hervor. Goethe hat dieses Dritte in
der Zeit, als er den Helena-Akt beendete, in Erinnerung an sein Erlebnis der italieni-
schen Komödie und des römischen Karnevals beschrieben: als eben jene Einheit, die
weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist. Das »Dritte« der klassischen
Walpurgisnacht ist eine heitere, gesellige Welt, die erstrebt wird und im Meeresfest
am Ende der klassischen Walpurgisnacht ihren symbolischen Ausdruck findet. In den
höchsten Formen geht solche Kunst in einen dramatischen Humor über, den auch
eine Symbolgestalt wie diejenige des Homunculus nicht verleugnet. Sofern er vermit-
telt und als die auf Hellas bezogene Entelechie zum überlegenen Führer in die klassi-
sche Walpurgisnacht werden kann, führt er zugleich über die niedere Welt hinaus. Die
Humorgestalt des Homunculus weist auf die Höchstform von Schönheit und Kunst
voraus, die mit Helena erscheint. Aber alles Erscheinende, wenn es in unser Dasein
eintritt, nimmt den Weg der Tragödie. Daß sie nicht das Letzte sein soll, beweist der
Fortgang des Dramas über die Tragödie der Schönheit hinaus.
Stets ist das Erreichte die Voraussetzung einer höheren Stufe, ohne daß wir dabei
an eine immer höhere Entwicklung Fausts im Sinne einer individuellen Bildung den-
ken dürfen. Es geht um höhere Daseinskreise mit einer Welt als Ziel, in der das
Getrennte wieder zur Einheit werden kann. In solchen Steigerungen von Stufe zu
Stufe ist die Tragödie der Helena die Voraussetzung eines neuen Lebens. Aus der
niederen Welt der Komödie geht die höhere Tragödie hervor, und erst aus der höhe-
ren Tragödie kann das Dritte in der denkwürdigen Vereinigung der Gegensätze ent-
stehen. Mephisto, bald Ironiker und bald komische Figur, ist nötig, damit Höheres
geschieht; und die Tragödie Fausts ist die Voraussetzung in der Erscheinung des
Höchsten. Ein sich wiederholender Weg zeichnet sich ab, der selbst das Teufelswerk
als etwas zuletzt noch Sinnvolles erscheinen läßt, sofern vom Ende her alles Vorausge-
hende gerechtfertigt erscheinen kann. Dieser Weg ist derjenige einer dramatischen
Theodizee. »Es erinnert an Leibniz, wenn das Böse im großen Haushalt gerechtfertigt
wird. Gott setzt den Teufel; nicht sich selbst, aber dem Leben zur Belebung. Damit
Farbe sei, bedarf es der Mithilfe des Finsteren«, formuliert Max KommereIl. [37]
Tragödie als Theodizee besagt, daß Untergang sein muß, wenn wir der Katharsis
teilhaftig werden sollen. Aber auch die Komödie ist eine solche Theodizee, wie Hof-
mannsthai in einer Betrachtung über die Ironie der Dinge ausgeführt hat, indem er
an ein Fragment von Novalis erinnert: »Nach einem unglücklichen Krieg müssen
Komödien geschrieben werden«; und Hofmannsthai verbindet damit die grundsätzlich
gemeinte Bemerkung: «Daß es aber die Unterliegenden sind, denen diese ironische
Macht des Geschehens aufgeht, ist ja ganz klar. Wer an das bittere Ende einer Sage
gelangt ist, dem fällt die Binde von den Augen, er gewinnt einen klaren Geist und
kommt hinter die Dinge, beinahe wie ein Gestorbener.« [38]
Komik und Komödie in Goethes Faust 187

Eine dramatische Theodizee - der Tragödie wie der Komödie - ist zumal der Prolog
im Himmel. Er ist das höchste Bild innerhalb des Faustdramas, in dem das Ganze
vorweggenommen wird, ehe die Binnenhandlung in diese Ganzheit zurückkehren
kann. Eine nicht genug zu bewundernde Verklammerung aller Teile! Dieser Prolog
läßt uns auf die Erde hinabsehen, ehe die Handlung erneut in den Himmel führt. Weil
es sich um ein vorwegnehmendes Bild des Ganzen handelt, sind die verschiedenen
Stillagen zu unterscheiden, die aus den Teilen eine Einheit bilden. Wie Mephistophe-
les die Erde beschreibt und wie er vom Menschen spricht, stellt er sich als derjenige
vor, der die Welt als eine Art Tragikomödie zu denunzieren trachtet. Von dieser
Stillage des ohne Zweifel rüden Tons hebt sich der Gesang der Erzengel in der
Feierlichkeit seiner Verse ab:
»Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebene Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke.
Wenn keiner sie ergründen mag;
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag« (V. 243/50).

Die coincidentia oppositorum wird besungen in einer Musik, die jenseits von Tra-
gödie und Komödie ertönt. Hier sind viele Gegensätze zur Einheit geworden: die
Bewegung wie der Zustand, die höchste Ruhe wie die Unruhe der Planeten, die sich
erneuernde Zeit wie die Statik der Ewigkeit, die Stille und die Donnerstärke. Die
Welt verläuft in einem Kreislauf, in dem es Zeit, Bewegung und Getöse gibt; und sie
kehrt in die Ruhe des Seins zurück, die im Herrn des Himmels beschlossen liegt.
Wenn uns Faust in der Binnenhandlung des Dramas als ewig Unbehauster begegnen
wird,so ist er damit ein Teil des Ganzen, der Tragödie heißt. Aber das Ganze ist diese
Tragödie nicht, neben der die Komödie ihr gewisses Recht behält. Die beiden Dich-
tungsformen zeichnen sich hier schon im Dialog zwischen dem Herrn und Mephisto-
pheles ab. Faust ist der Gegenstand ihrer Gespräche. Das deutet auf die Tragödie
hin, die beschlossen wird. Denn alles, was Faust als Schuld angerechnet werden
könnte, wird eingeschränkt durch die Abmachungen, die der höchste Herr des Him-
mels mit dem Teufel trifft. Welche Ungeheuerlichkeit wird uns vorzustellen zugemu-
tet! Die Schuld Fausts wird eingeschränkt, da es ja beschlossene Sache ist, daß Me-
phisto Macht über ihn gewinnen darf. Zugleich wird erst dadurch das Faustdrama zur
Tragödie des Menschen in einem abgründigen Sinn. Denn verantwortlich zu sein für
das, wofür wir uns in der Freiheit des Willens entschieden haben, ist keine
Tragik im eigentlichen Sinn. Tragische Schuld entsteht erst dort, wo wir für etwas
verantwortlich sind, das wir nicht wollten. Etwas dieser Art geschieht hier. Der Herr
und Mephistopheles beschließen im Grunde Fausts Tragödie, obgleich sie als eine
solche nicht bezeichnet wird. Der Teufel würde sie nicht begreifen, und der Herr
blickt offensichtlich über die hinaus. Er ist die völlig überlegene Person wie im Lust-
spiel der höchsten Art und macht auch dadurch den Teufel zur komischen Figur. Der
Herr geht eine Wette mit dem Teufel ein, wie wenn es eine Wette wäre. In Wirklich-
188 Formen des nicht klassischen Dramas

keit weiß er voraus, welchen Gang die Dinge nehmen. So kann der Dialog in die
Sprachsphäre des Humors übergehen, wenn Mephisto, der sein Spielchen schon ge-
wonnen glaubt, das letzte Wort behält:
»Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern,
Und hüte mich, mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen« (V. 350/54).
Das ist mit den Augen des Herrn, der das Wissen besitzt, das dem Teufel fehlt, eine
Lustspielatmosphäre höchsten Grades; eine weltüberlegene Heiterkeit im schönen
Bild der ganzen Welt, die an Goethes Erlebnis der italienischen Komödie erinnert.
Der Prolog im Himmel wird zum Symbol des Dramas in seiner höchsten Gestalt: eine
Art göttlicher Komödie als die Einheit der Dinge, aus der sich erst auf der Erde die
Einzelteile ablösen, die wir unsererseits als Komödie oder Tragödie unterscheiden.
IV. Gegenklassische Wendungen
1. Hölderlins Ode Dichterberuf
Zum schriftstellerischen Selbstverständnis um 1800

Über Aufgabe und Stellung des Dichters im Verständnis Hölderlins, über Gedichte
Wie wenn am Feiertage oder DichterberuJ, ist in der Vergangenheit vielfach gespro-
chen worden, als hätte man es ausschließlich mit Religion, Priestertum oder Mythos
zu tun. Von seiner Sendung ist die Rede, die man zur Göttersendung stilisiert, von
seinem Dichterturn, das man sich immer nur als Seherturn und Prophetie vorzustellen
vermag. Der Beruf des Dichters wird in solchem Verständnis eins mit der Berufung
zum Dichter: indem man davon spricht, wird Heiliges beschworen: »Und eben das
gibt diesem Werk seine einzigartige Stellung innerhalb der großen deutschen Dich-
tung, daß sich in ihm eine Berufung mit stetig wachsender Deutlichkeit zu erkennen
gibt und daß diese Berufung eine heilige ist«, heißt es in einem oft zitierten Beitrag
über die Berufung des Dichters (von Walther F. Otto). Als sei der Blick in Absehung
von der eigenen Zeit des Dichters einzig und allein auf die griechische Götterwelt zu
lenken, kann gesagt werden: »Aber die griechischen Gestalten fesseln ihn nur, weil
die Heiligkeit der Welt sich in ihnen am lebendigsten geoffenbart hat. Das Göttliche
selbst ist der verzehrende Glanz, von dem er den Blick nicht abwenden kann.« [1] Es
heißt die Verdienste Norbert von Hellingraths um Hölderlin nicht schmälern, wenn
man feststellt, daß er vor anderen es war, der - wie ähnlich George und Gundolf - in
dieser Tonart zu reden begonnen hat [2], und wenn Martin Heidegger über Hölderlin
handelt, so steht er noch immer in dieser Tradition. Schon vor Jahrzehnten wurde vor
derart einseitiger Sicht gewarnt . [3] Heute ist es an der Zeit, das Unbehagen in
solcher Kultur noch etwas deutlicher zu artikulieren. Wenn sich Geistesgeschichte, die
nichts Verachtenswertes sein muß, sondern etwas sehr Schätzeswertes sein kann, nicht
gänzlich um ihren Kredit bringen will, dann hat sie gegenüber Redeformen wie die-
sen, die mit einem Wegsehen von allen politischen und sozialen Bezügen einhergehen,
hellhöriger zu sein als bisher. Andererseits ist der hoch im Kurs stehenden Sozialge-
schichte der Literatur nicht unbesehen zu folgen. Wenn man über Autorenhonoraren,
Literaturmärkten und Distributionszentren das »Geistige« eines literarischen Werkes
aus dem Blick verliert, so zeigt sich darin nur das andere Extrem einer Betrachtungs-
art, die gleichermaßen ihr Bedenkliches hat.
Einseitige Betrachtungsweisen zu vermeiden, wenn vom Beruf des Dichters im
Verständnis Hölderlins gesprochen wird, hat man allen Grund: schon der Sprachge-
brauch in der Wortbildung »Dichterberuf« gibt zu denken. Mit wenigstens zwei Be-
192 Gegenklassische Wendungen

deutungsebenen hat man es zu tun: mit Beruf bezeichnet man in der deutschen Spra-
che eine Tätigkeit, die dem Lebensunterhalt dient, aber sich darin nicht erschöpft. Sie
schließt handwerkliche Ausbildung oder akademisches Studium ein; und sie schließt
eine gewisse Befriedigung ein, die in solcher Tätigkeit erfahren wird. Es ist diejenige
Bedeutung, die man ohne Schwierigkeit in andere Sprachen übersetzen kann; hin-
sichtlich einer zweiten Bedeutung handelt es sich sehr viel mehr um eine Eigentüm-
lichkeit unserer Sprache, die an das schwer übersetzbare Wort »Bildung« erinnert.
Auf dieser Ebene sprechen wir davon, daß ein Gelehrter einen Ruf erhalten oder eine
Berufung angenommen hat; daß jemand zum Künstler berufen ist oder daß sich ein
anderer berufen fühlt, den Arztberuf zu ergreifen. Mit dieser Bedeutung ist die Vor-
stellung von der Würde des Dichters und von der Berufung in sein »Amt« untrennbar
verknüpft. Sie wurde in Deutschland vor allem durch das Wirken Klopstocks erneuert
und befestigt. [4] Wenn aber im 18. Jahrhundert das Wort Dichterberuf in Gebrauch
kommt, so handelt es sich nicht einseitig nur um diese Bedeutung. Schon vom Wort
her ist eine doppelte Blickrichtung angezeigt: eine solche nach oben hin und eine
solche gleichsam nach unten, in Richtung auf das, was im Praktischen zu tun bleibt.
Die Berufung des Dichters, wie sie Walther F. Otto beschrieben hat, läßt an einen
feierlichen Vorgang denken, an Würde und Heiligkeit. Im Gebrauch des Wortes
Beruf, denkt man dabei an die Tätigkeit des Dichters, sind solche Bedeutungen nicht
auszuschließen, aber auch die andere nicht, die in erster Linie den Schriftsteller ~ i
seine Unabhängigkeit wie die materielle Basis seiner Existenz. [5] Im Dichterberuf
treffen beide Bedeutungen aufeinander. Das Wort selbst hat Schiller in seiner Ab-
handlung Über naive und sentimentalische Dichtung gebraucht. Er spricht hier sehr
kritisch über einige Romane Voltaires. Dieser Schriftsteller, heißt es, könne uns
"zwar als witziger Kopf belustigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen"; und Schil-
ler fügt hinzu: "seinem Spott liegt überall zu wenig Ernst zum Grunde, und dieses
macht seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig". [6] Schon im Blick auf die Persön-
lichkeit Voltaires denkt man nicht unbedingt an Würde und Heiligkeit des Dichter-
tums. In demselben Abschnitt, in dem mit Beziehung auf Voltaire das Wort, ,Dichter-
beruf' gebraucht wird, spricht Schiller außerdem vom Schriftsteller Voltaire. Die
Berufung zum Dichter (im feierlichen Sinn) und die Fähigkeit des Schriftstellers ein-
schließlich seiner materiellen Basis sind nicht als unüberbrückbare Gegensätze aufzu-
fassen. Das sagt etwas aus über bestimmte Wandlungen im späten 18. Jahrhundert.
Wir werden darauf aufmerksam, daß man beginnt oder begonnen hat, dichterische
Tätigkeit als Beruf auszuüben. Ein zweifacher Sinn wird also im Dichterberuf erkenn-
bar.
Hölderlin selbst ist diese doppelte Blickrichtung keinesfalls fremd. Daß man im
Verständnis seiner Gedichte von einer Art Theologisierung des Dichterberufs spre-
chen kann, wird nicht bestritten. Aber die konkrete Situation dieses Berufs, ihre
sozialgeschichtliche Seite, ist deswegen nicht zu übersehen. Sie wird in seinen Briefen
wiederholt zur Sprache gebracht. Eben diese Seite, die ökonomische, ist ihm die
Wurzel allen Übels, wie er dem Bruder darlegt: »Ich möchte der Kunst leben, an der
mein Herz hängt, und muß mich herumarbeiten unter den Menschen, daß ich oft so
herzlich lebensmüde bin. Und warum das? Weil die Kunst wohl ihre Meister, aber den
Hölderlins Ode Dichterberuf 193

Schüler nicht nährt« (VI/264). »Durch Schriftstellerarbeit und sparsame Wirtschaft


mit meiner Besoldung hab' ich mir in den letzten anderhalb Jahren meines Aufent-
halts in Frankfurt 500 fl. zusammengebracht«, teilt er im September 1798 der besorg-
ten Mutter mit (VI/283); und schriftstellerische Arbeit schließt in seinem Verständnis
eine Tätigkeit im lebenspraktischen Sinne stets ein, wie er sie dem Bruder zu ergreifen
anrät: »Ist es Dein Ernst, als Schriftsteller auf den deutschen Karakter zu wirken und
diß ungeheure Brachfeld umzuakern und anzusäen, so wollt' ich Dir rathen, es lieber
in oratorischen, als poetischen Versuchen zu thun[ ... ] Dir liegen politische und mora-
lische Gegenstände im Vaterlande besonders nah, z. B. Zünfte, Stadtrechte, Com-
munrechte p. p .. Zu geringfügig sind derlei Objecte gewiß nicht, und Du bist durch
Deine Lokalkenntniß dazu berufen, wenigstens für den Anfang« (VI/263). Und
gleichviel nun, ob man von Schriftstellerarbeit oder Dichterberuf spricht - um Ver-
langen nach Unabhängigkeit geht es in jedem Fall. Die Stellung im Hause des Bank-
herrn Gontard in Frankfurt war eben deshalb unhaltbar geworden, und nicht weil es
die Würde des Dichters gebot, sondern weil er sich in seiner Menschenwürde verletzt
fühlte, hat Hölderlin sie aufgegeben. Sogleich im ersten Brief aus Homburg kommt er
darauf zu sprechen: »Nöthig war es schlechterdings, mich irgend einmal in einer
unabhängigern Lage für mein künftiges Fach vorzubereiten«, heißt es in diesem Brief
(VI/284); und was mit dem künftigen Fach gemeint ist, das im Fortgang des Briefes
als seine künftige Bestimmung bezeichnet wird, kann nicht zweifelhaft sein: »Ich er-
klärte Herrn Gontard, daß es meine künftige Bestimmung erfodere, mich auf eine
Zeit in eine unabhängige Lage zu versezen, ich vermied alle weitren Erklärungen, und
wir schieden höflich außeinander« (VI/286). Aber auch gegenüber dem ersten Beam-
ten am Homburgischen Hof, gegenüber dem Freund Isaak von Sindair, gilt es Unab-
hängigkeit zu wahren. Der Übersiedlung dorthin hatte Hölderlin nicht ohne Beden-
ken zugestimmt: »Ich wandte ihm vieles ein, unter anderem auch, daß ich auf diese
Art in eine gewisse Dependenz von ihm geriehte, die Freunden nicht anständig wäre«
(VI/283). Der Homburger Aufenthalt im ganzen wird als die große Chance angese-
hen, endlich einmal unabhängig als Schriftsteller zu wirken, und der Plan, eine eigene
Zeitschrift herauszugeben, dient diesem Ziel. Hölderlin sucht Schelling hierfür als
Beiträger zu gewinnen und schreibt (im Juli 1798): »Ich habe die Einsamkeit, in der
ich hier seit vorigem Jahre lebe, dahin verwandt, um unzerstreut und mit gesammel-
ten, unabhängigen Kräften vielleicht etwas Reiferes, als bisher geschehen ist, zu Stan-
de zu bringen« (VI/346). Vor allem aber erweist es sich als unerläßlich, solche Unab-
hängigkeit um der eigenen Bestimmung willen gegenüber der Mutter geltend zu ma-
chen; und zumal in diese Auseinandersetzung mischt sich auch Theologisches ein.
Aber in der Sicht der Mutter geht es nicht um feierliche Berufungen, sondern vor
allem um schwäbische Pfarrhausidylle, die eine ordentliche Versorgung verbürgt.
Diese Auseinandersetzung wird vor allem im Brief geführt, weniger im Gedicht. Aber
Gedichte sind immer nur partiell aus sich selbst zu verstehen. Mit erweitertem »Hin-
tergrundwissen« lesen wir sie anders als zuvor[7]; und etwas von solchem Hinter-
grundwissen hat man vorauszusetzen, wo immer Hölderlin in seiner Dichtung vom
Beruf und von der Würde des Dichters handelt.
Auf die Mahnung der Mutter, doch ja an die Versorgung zu denken, antwortet
194 Gegenklassische Wendungen

Hölderlin lange Zeit sehr ausweichend; zunächst wird der Erzieherberuf dem Predigt-
amt vorgezogen; »Und dann fühl ich auch mich tüchtiger zum Erzieher als zum Predigt-
amt«, schreibt er im Januar 1797 aus Frankfurt; und auch dabei wird die materielle
Lage nicht verleugnet: «Sie hätten an meinem ökonomischen Zustand Freude gehabt.
Das können Sie auch jezt und mehr!« (VU233). Aber die Abneigung zum Predigerbe-
ruf wächst; und bald läßt seine Sprache in diesem Punkt nichts mehr zu wünschen
übrig. Mit einer Entschiedenheit wie nie zuvor äußert er sich im Januar 1799 über den
Stand der Theologen, die aufhorchen läßt: »Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer
unserer Zeit, die aus der heiligen lieben Bibel ein kaltes, geist- und herztödtendes
Geschwäz machen, die mag ich freilich nicht zu Zeugen meines innigen, lebendigen
Glaubens haben « (VU309).Derselbe Brief enthält eines der denkwürdigen Bekennt-
nisse in der Genese seines schriftstellerischen Selbstverständnisses. Die Mutter hat
GelIert als Beispiel eines Dichters genannt, der zugleich einen bürgerlichen Beruf
ausgeübt habe, womit sie hatte sagen wollen, daß das eine recht gut mit dem anderen
vereinbar sei. Aber der Sohn bezeichnet beide »Ämter« als schlechterdings unverträg-
lich: »Es hat es mancher, der wohl stärker war, als ich, versucht, ein großer Ge-
schäfftsmann oder Gelehrter im Amt, und dabei Dichter zu seyn. Aber immer hat er
am Ende eines dem andern aufgeopfert und das war in keinem Falle gut, er mochte
das Amt um seiner Kunst willen, oder seine Kunst um seines Amts willen vernachläs-
sigen; denn wenn er sein Amt aufopferte, so handelte er unehrlich am andern, und
wenn er seine Kunst aufopferte, so sündigte er gegen seine von Gott gegebene natür-
liche Gaabe, und das ist so gut Sünde und noch mehr, als wenn man gegen seinen
Körper sündigt.« Der wohldurchdachten Argumentation wird der lapidare Satz hinzu-
gefügt: »Der gute GelIert, von dem Sie in Ihrem lieben Briefe sprechen, hätte sehr
wohl gethan, nicht ~ss in Leipzig zu werden« (VI/312). Von einer Theologisie-
rung des Dichterberufs kann man sprechen, wenn Hölderlin seine dichterischen Fä-
higkeiten als eine Gabe Gottes versteht und es als Sünde ansieht, sie nicht auszuüben.
Aber solche Auffassungen sind nicht ablösbar von der konkreten Lebenssituation.
Trotz zahlreicher Anfechtungen während des ersten Homburger Aufenthaltes hat sich
gegen Ende dieser Zeit das dichterische Selbstbewußtsein gefestigt, und mit ausglei-
chender Geste kann er der Mutter nunmehr versichern: »Ich bin mir tief bewußt, daß
die Sache, der ich lebe, edel, und daß sie heilsam für die Menschen ist, sobald sie zu
einer rechten Äußerung und Ausbildung gebracht ist«; und er fügt hinzu: »daß also in
keinem Falle mein Daseyn ohne eine Spur auf Erden bleiben wird« (VI/372).
Die theologischen Aspekte im literatursoziologischen Kontext sind um Hinweise
anderer Art zu ergänzen: um diejenigen seiner politischen Gedankenwelt. Sein
schriftstellerisches Selbstbewußtsein hängt mit ihr aufs engste zusammen. Es geht
zunächst um den Kreis derer, an den sich seine Lyrik richtet. Seine herausragenden
Gedichte sind Widmungsgedichte. Sie werden - wie Heimkunft - den Verwandten
zugeeignet oder Freunden wie Christian Landauer, Siegfried Schmid und Isaak von
Sinclair. Brod und Wein mit der Widmung »An Heinze« ist dem älteren und verehrten
Verfasser des Ardinghello zugedacht. Wie sehr auch in späterer Zeit das eigene Dich-
teramt in seiner Einsamkeit erfahren wird - die Dichtung selbst bleibt dennoch und
von Anfang an auf Gemeinschaft und Gemeinsinn gerichtet, auf Verbundenheit im Ge-
Hölderlins Ode Dichterberuf 195

spräch, wie es die letzten großen Gedichte in unverwechselbarer Sprache zum Aus-
druck bringen - in Friedensfeier mit den herrlichen Versen:
»Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch;«(VI/536)

»Die Psyche unter Freunden, das Entstehen der Gedanken im Gespräch und Brief
ist Künstlern nöthig«, teilt Hölderlin seinem Freund Böhlendorff in einem der späten
Briefe, nach der Rückkehr aus Bordeaux, mit (1I1/433); und nahezu allen Freunden
weiß er sich im Politischen als Gleichgesinnten verbunden. Zweimal in dieser Zeit
sieht sich Hölderlin nach dieser Seite hin als Dichter in besonderer Weise bestätigt:
durch die Teilnahme am Rastatter Kongreß im Herbst 1798 und durch die Einladung
nach Regensburg im Herbst 1802, die es erlaubt, den dichterischen Auftrag mit der
politischen Tätigkeit des Landgrafen von Homburg zu vereinen. Die Widmung des
großen Gedichts gilt ihm. Daß beide Aufenthalte Isaak von Sinclair verdankt werden,
macht deutlich, wie sehr Dichtung und Politik in der Tätigkeit beider Freunde aufein-
ander bezogen sind, obgleich sich Hölderlin wiederholt gedrängt sah, auf seiner Unab-
hängigkeit zumal gegenüber diesem Freunde zu bestehen. [8] Die Sinngebung, die
dem Dichterberuf im Spätwerk zuerkannt wird, versteht Hölderlin religiös und poli-
tisch, aber politisch doch eben auch. Das ist an der zweistrophigen Ode An unsre
großen Dichter gut zu zeigen, die der späteren Ode Dichterberuf vorausgeht.
Die Erinnerung an den Weingott Bacchus und an seinen Indienzug, mit der das
Gedicht beginnt, enthält eine unverkennbar politische Aussage, diese nämlich, daß
die Völker aus dem Schlaf geweckt wurden; und so wie Bacchus sollen es auch die
Dichter tun: die Völker vom Schlummer zu wecken, die jetzt noch schlafen (1/261). In
der unabgeschlossenen Hymne Wie wenn am Feiertage, die gleichfalls vom Beruf des
Dichters handelt, kehrt diese Wendung wieder:
»Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs
Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern ... « (1111118).
Daß man an politische Geschehnisse in der Zeit, auch an kriegerische Auseinan-
dersetzungen zu denken hat, bestätigt der kraftvolle Einsatz der dritten Strophe:
»Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen ... «.
Danach der ganz unmißverständliche Vers:
»Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht ... «.
Es gebe keinen Zweifel, hat Werner Kirchner bemerkt, »daß die Hymne das revo-
lutionäre Kriegsgeschehen feiert.« [9] Derselbe Interpret hat das gleichfalls unabge-
schlossene Gedicht, den Entwurf Die Völker schwiegen, schlummerten, von eben
diesem Kriegsgeschehen her erläutert: Dieser Entwurf sei als verherrlichende Deu-
tung des Revolutionskrieges in Hölderlins Schaffen »einzig, in seiner Zeit unerhört«,
heißt es hier. [10] Auf die in Frage stehenden Gedichte, die ihrerseits das Bild von
den schlafenden Völkern kennen, die eines Erweckers bedürfen, wird aufmerksam
gemacht. [11] Wo Kriege geführt werden, bleiben Eroberungen nicht aus. Damit ist
196 Gegenklassische Wendungen

ein zweites Wort aus dem Bereich der politischen Semantik genannt: dasjenige der
Eroberung. In beiden Oden wird es auf den Freudengott Bacchus bezogen, der als
»allerobernd« bezeichnet wird; und beidemal sind mit der Eroberung Einschränkun-
gen verbunden, die Beachtung verdienen; denn nicht jeder hat das Recht zur Erobe-
rung, sondern nur die Dichter, Gesetzgeber und Heroen, wie in der Kurzode gesagt
wird. Diese Einschränkung gilt generell. Daran lassen die abschließenden Verse kei-
ne Zweifel: »ihr nur habt der Eroberung Recht, wie Bacchus.«
Das kann im Blick auf die Zeitereignisse nur heißen, daß Revolutionskriege nicht
ohne weiteres als Eroberungszüge gerechtfertigt sind. Aber es heißt auch, daß man sie
bejahen muß, wenn sie »rechtens« sind. Wie sehr Hölderlin Recht und Rechtswissen-
schaft geschätzt hat, ist im Brief an den Bruder aus der Frankfurter Zeit (vom 10.
Januar 1797) eindrucksvoll bezeugt, in der die Mathematik als die einzige Wissenschaft
bezeichnet wird, die der Vollkommenheit des Naturrechts an die Seite zu setzen sei. In
diesem Zusammenhang heißt es: »Ich beschäfftige mich jezt häufig mit dieser herrli-
chen Wissenschaft, und finde, um es noch einmal zu sagen, daß diese - und die
Rechtlehre, wie sie werden kann und muß, die einzigen, in diesem Grade vollkomme-
nen reinen Wissenschaften sind im ganzen Gebiete des menschlichen Geistes « (VII
231). [12] In einem Brief aus späterer Zeit wünscht der Bruder ausgeliehene Land-
tagsschriften zurückzuerhalten, und wie wir wissen, handelt es sich um eine Schrift
über das Petitionsrecht der württembergischen Landstände, die sich Hölderlin ausge-
liehen hatte und die man noch bei seinem Tod in seiner Bibliothek vorgefunden hat.
[13] Das Interesse an den Rechten ist bestimmt vom Interesse an den Menschenrech-
ten und am Naturrecht generell, das auch der oben genannte Brief als den eigentli-
chen Kern aller Rechtslehre ausdrücklich nennt: »Ich will besonders mündlich mich
sehr viel gegen Dich über das Naturrecht, und dann auch über die Parallele, in die ich
es gesezt habe, erklären.« Solche Rechte aber sind so gut eine Sache der Gesetzgeber
wie der Dichter. Es wird verständlich, weshalb beide schon in der Kurzode nicht nur
nebeneinander genannt werden, sondern nachgerade als identisch zu denken sind.
Einer derjenigen aber, der Dichter und Gesetzgeber in einer Person war, ist kein
anderer als Rousseau. Er ist hier zweifellos mitgemeint. In der Ode Dichterberufwird
die Bezeichnung auf ihn, als eine mögliche unter anderen, durch die Anrede an den
Meister ersetzt. Daß auf solche Weise Rousseau zugleich dem Freudengott Bacchus
angenähert wird, überrascht nicht. [14] In der Hymne Der Rhein wird er ausdrücklich
den Halbgöttern zugeordnet (»Halbgötter denk' ich jezt ... «); und auch hier wird der
namentlich genannte und gefeierte Rousseau mit Bacchus verglichen: »aus heiliger
Fülle I Wie der Weingott« (11/146). Der um diese Zeit entstandene Entwurf der Ode
Rousseau steht in deutlicher Nähe unseres Gedichts: die eng begrenzte Tageszeit dort
verweist auf den Engel des Tages hier. In beiden Tätigkeiten, in derjenigen des
Gesetzgebers wie in derjenigen des Dichters, ist Sprache das, worauf es vor allem
ankommt. »Zum erstenmal«, heißt es in einer Erläuterung des Fragments Rousseau
(von Paul de Man) entsteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Rousseau, dem
inneren Bewußtsein, das die Zeit in sich birgt und der Sprache. Ständig wird Rous-
seau mit Verhaltensweisen in Beziehung gebracht, die der Sprache eigentümlich sind:
er nennt (V.9), er erscheint immer als Redender, der die Sprache der Einsamen
Hölderlins Ode Dichterberuf 197

spricht [... ] er ist derjenige, der die Sprache der Götter vernimmt, versteht und
deutet.« [15] Das Wort siegen, hier als Imperativ gebraucht, ist das dritte Wort, das
auf politisch-militärische Vorgänge verweist und doch wohl vor allem auf die Revolu-
tionskriege jener Jahre. Aber in welchem Sinn?
Von einer Einschränkung, die gegenüber Eroberungen geltend gemacht wird, war
schon die Rede. Diese Einschränkung entscheidet über das Verständnis des kurzen
Gedichts. Wer sie übersieht, verfehlt seinen Sinn. Das ist gleichermaßen der Fall,
wenn man die zweite Strophe wörtlich versteht: als hätte man sich die Dichter zugleich
als Eroberer zu denken. [16] Wie und in welchem Sinne können aber Dichter Erobe-
rer sein, dem Weingott vergleichbar? Man behilft sich damit, daß man ihre Eroberun-
gen bloß metaphorisch versteht. Einer solchen Metaphorik entsprechend wird Ge-
sang als ein Mittel verstanden, mit dem Eroberungen gemacht werden: »Erst über
und durch die heldische Daseinsgestalt wird dem Gesang die aufrufende, befreiende
Gewalt zugemessen, die Gewalt der Eroberung ... « [17] Und um eine metaphorische
Deutung handelt es sich gleichermaßen, wenn man die Eroberungen in unserem
Gedicht als geistige Revolutionen deutet, die von Dichtern gemacht und bewirkt
werden. [18] In beiden Versionen hat man das Gedicht entpolitisiert, ehe man seinen
politischen Gehalt ernst genommen hat: im ersten Fall dadurch, daß man die Erober-
ungen nicht besonders zu fürchten hat, die von Dichtern ausgeführt werden; denn was
können sie schon anrichten! Im zweiten insofern, als man an ein politisch-kriegeri-
sches Geschehen offensichtlich nicht mehr denken muß. Wir hätten es vielmehr mit
geistigen Revolutionen zu tun, vergleichbar mit denjenigen, die Thomas S. Kuhn
beschrieben hat. Es ist aber ein Unterschied, ob man von geistigen Revolutionen
spricht und dabei in erster Linie - im übertragenen Sinn - an Philosophie, Wissen-
schaft und Kunst denkt, oder ob von einer wirklichen Revolution die Rede ist, die ihr
geistiges Fundament in einer Gesetzgebung hat, die sie rechtfertigt. Doch wohl an
eine solche hat man im Falle unseres Gedichts zu denken. Der Geist, der einer
Revolution wie der Französischen zugrunde liegt, ist aus Hölderiins Denken nicht
wegzuinterpretieren, so wenig wie die Geschehnisse der Revolutionskriege, wenn sie
um der Menschenrechte willen geführt werden. Hölderlin war um die Zeit, als die
Kurzode entstand· , vom rechtmäßigen und gerechtfertigten Vorgehen der Revolu-
tionsheere unter Napoleon überzeugt. Das bestätigt ein Gedicht wie Buonaparte ganz
ohne Frage. Es ist um 1797 entstanden. Die Dichter werden hier im Bild heiliger
Gefäße gedacht, in denen sich der Geist der Helden aufbewahrt. Auch der zwischen
1797 und 1799 entstandene Entwurf Dem Unbekannten läßt von der Ausdrucksweise
her an den Allerobernden der Kurzode denken. Erst recht bezeugen die Briefe dieser
Zeit die Übereinstimmung mit der Sache der Franzosen. »Dir, mein Karl« , heißt es im
August 1796 in einem Brief an den Bruder, »kann die Nähe eines so ungeheuren
Schauspiels, wie die Riesenschritte der Republikaner gewähren, die Seele innigst
stärken« (VI/215). Gelegentliche Kritik am »militärischen Despotismus« der Franzo-
sen wie in Mainz ändert nichts daran, daß Hölderlin auf die französische Sache als eine
solche des Republikanismus seine Hoffnungen setzt. [19] Erst vom 16. November
1799 ist das Postscriptum im Brief an die Mutter datiert, das eine Wende ankündigt:
»Eben erfahre ich, daß das französische Directorium abgesezt, der Rath der Alten
198 Gegenklassische Wendungen

nach St. Cloux geschikt, und Buonaparte eine Art von Dictator geworden ist« (VII
374). Es fällt schwer, diese vermeintlich beiläufige Bemerkung nicht als eine erste
Distanzierung von Napoleon aufzufassen. [20] Von einer solchen kann in der Zeit, in
der die Kurzode entstand, nicht die Rede sein.
Daher ist es ein Mißverständnis zu meinen, nur Bacchus und den Dichtem würde
das Recht auf Eroberungen zugestanden. Es kommt nicht so sehr auf einzelne Perso-
nen oder Personengruppen an, sondern auf einen Vorgang der Vereinigung, der sich
im Zeichen des Weingottes auf Dichter, Gesetzgeber und Heroen gleichermaßen
bezieht. Die Eroberungen, die im Namen des Weingottes gerechtfertigt werden, sind
solche, die Freude bringen. Er selbst ist allerobernd, auf alle gerichtet, denen er als
Eroberer nicht Unterdrückung, Gewalt und Willkürherrschaft bringt, sondern deren
Beseitigung. Dichter, Gesetzgeber und Heroen haben schon deshalb ein solches
Recht, weil hier nichts Ungesetzliches vorliegt. Ihrem Tun liegt im Gegenteil ein Akt
der Gesetzgebung zugrunde; und wenn aus dem Geist gedacht wird, aus dem heraus
der Freudengott, die Dichter und die Gesetzgeber handeln, so können sich ihnen die
Heroen gern zugesellen. Der damalige Buonaparte wird nicht genannt; aber er ist
auch nicht auszuschließen als einer derjenigen, an die man zu denken hat. Das Recht
auf Eroberung, das die Kurzode in ihrer epigrammatischen Prägnanz begründet, steht
zum Freudengott nicht in Widerspruch. Denn alle Eroberungen und Revolutionskrie-
ge sind nur die Vorstufe dessen, worauf alles gerichtet ist: sie sind eine Vorstufe des
Friedens, den Hölderlin noch 1801 auf eine so denkwürdige Art im Gedicht feiert.
Dagegen steht die weitausgreifende Ode Dichterberuf, die erst 1802 veröffentlicht
wird, in mehrfacher Hinsicht auf einem anderen Blatt. Denn nunmehr hat man mit
veränderten politischen Auffassungen zu rechnen - bei Hölderlin wie im Kreis seiner
Freunde. Gerhard Kurz hat sie wie folgt beschrieben: »Sinclair wird später unter dem
Eindruck der napoleonischen Kriege >konservativ<, wie Varnhagen von Ense berich-
tet [... ] Sein Freund in Homburg, Franz Wilhelm Jung, der 1798 in Mainz in französi-
sche Dienste trat, legt 1802 >enttäuscht und angewidert< sein Amt nieder [... ] Von
Ebel berichtet Strauß, daß er das >Frankreich Napoleons< haßte.« [21]Ebels Bericht
aus Paris, der Enttäuschungen nicht verschweigt, ist Hölderlin, wie er selbst gesteht,
sehr nahe gegangen; er hat ihn beunruhigt (VII378). Die Veränderungen seines Den-
kens wie seiner dichterischen Vorstellungswelt müssen nicht als abgeschlossen ge-
dacht werden, wenn die Ode Dichterberuf begonnen wird. Das Gedicht selbst ver-
deutlicht diesen Prozeß.
Der freudige Ton der Kurzode kann als Eingang übernommen werden. Von den
Heroen ist nun nicht mehr die Rede. An ihre Stelle tritt der Meister. Der Anteil des
Dichterturns wird verstärkt. [22] Schon in der Kurzode kam es auf eine Vereinigung
des Griechischen mit dem Heutigen an. Im ausgeführten Gedicht wird sie noch deutli-
cher zum Ausdruck gebracht; in religiöser Hinsicht mit der Nennung eines Engels und
in politischer Hinsicht mit dem Verweis auf das Zeitliche, auf den Tag. Dichtung und
Gesetzgebung, die Eroberungen zu rechtfertigen vermögen, stehen in weitesten Bezü-
gen ihrer Geltung von der Antike bis zur Gegenwart. Ging es in der Kurzode um eine
Vereinigung von Dichter, Gesetzgeber und Heroen im Vergleich mit Bacchus, so geht
es nunmehr und vor allem um die Stellung des Dichters in griechischer und heutiger
Hölderlins Ode Dichterberuf 199

Welt; und erst jetzt erscheint der Beruf des Dichters über den Vergleich mit dem
Weingott hinaus in einer unverkennbar religiösen Dimension. Mit der Anrede an
einen Engel wird ein Bild der christlichen Vorstellungswelt evoziert, und mit absichtli-
cher Unbestimmtheit wird vom Höchsten gesprochen, von dem gesagt wird, daß die
Dichter ihm »geeignet« sind, ihm also zugehören und zugewandt bleiben, damit sie
von ihm singen. Diese Bestimmung des Dichterberufs als eines göttlichen Auftrags
wird nicht mit unbeirrter Selbstsicherheit vorgebracht, sondern in einer Darbietung,
die deutlich Spannung verrät. Zwei adversative Wendungen des Sprechers bezeugen
sie, wie sie der in dem Wort Sorge enthaltene Doppelsinn bezeugt. Sorge ist zum einen
Daseinsfürsorge und Versorgung mit der zweckhaften Absicht, den Unterhalt des
eigenen Daseins - »Im Haus und unter offenem Himmel« - zu sichern, wie sie dem
Manne zukommt, der dies als Soldat oder als Landmann verrichtet. Ein derartiges
Tun wird keineswegs beargwöhnt. Es muß sein, aber es darf nicht ausschließlich sein:
»denn es gilt ein anders«, wird in einer betont adversativen Ausdrucksweise gesagt;
was denn wohl heißen soll, daß noch eine andere Sorge in Frage steht. Es ist die Sorge
der Dichter, an die auch die abschließenden Verse in der Elegie Heimkunft erinnern:
»Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele
Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.« (II199)[23]

Die anders beschaffenen Sorgen der Dichter gegenüber den ganz zweckhaften Sor-
gen der Daseinsfürsorge heben diese aus der Vielzahl der Menschen heraus, dem
Priester vergleichbar, dem sich die Stellung der Dichtenden in diesem Punkt annähert
- »Wie des Weingotts heilige Priester« (11/94). Aber es hieße die dem Gedicht inne-
wohnende Spannung verkennen, wenn man seinen Sinn lediglich darin sehen wollte,
daß den Dichtern die Verkündigung des Göttlichen aufgetragen wird, als sei damit ihr
Auftrag schon hinreichend beschrieben. Gegen eine solche Beruhigung richtet sich
das Dennoch der fünften Strophe, die zweite adversative Wendung der Strophen-
gruppe.
Gegenüber dem göttlichen Auftrag, von dem die vierte Strophe in begeisternder
Rede handelt, bringt sich der politische Auftrag im Aufbau der folgenden Strophen-
gruppen auf eine beunruhigende Art in Erinnerung. Diese bis in den Satzbau spürbare
Beunruhigung bleibt bis zum Ende der elften Strophe vernehmbar, und sie findet
ihren Ausdruck in einer Vielzahl sprachlicher Formen: in Fragen, Ausrufen oder
Anreden, die etwas Zurechtweisendes haben. Rede wird zur Scheltrede in lyrischer
Form. Abermals werden Spannungen erzeugt, solche zwischen dem religiösen Auftrag
einerseits und dem politischen zum andern. Es handelt sich um eine Spannung, die das
ganze Gedicht übergreift: vom Triumph des Freudengottes bis hin zu »Gottes Fehl«.
In der fünften Strophe kündigt sie sich im »Dennoch« des Eingangs an. Dem Sprecher
des Gedichts wird bewußt, daß es nicht genügen kann, sich in der Verkündigung des
Göttlichen zu beruhigen. Aber kaum daß es ausgesprochen ist, wird es noch einmal
zurückgedrängt zugunsten begeisternder Rede über zwei Strophen hin, die an die
Anfänge des hymnisch-dithyrambischen Stils im Sturm und Drang erinnert. [24] Der
Hymnus dieser Strophen hat sein Schwergewicht in der Feier der Natur als dem Ort
einer Erleuchtung. Sie gilt dem Vorgang einer Berufung zum Dichter durch den
200 Gegenklassische Wendungen

schöpferischen Genius. Altgriechische Dichterwürde wird beschworen, und daß der


Vorgang auf die Geburt des Dionysos verweist, darf angenommen werden. [25] Aus
dem Mythos seiner Geburt und dem Tod seiner Mutter Semele, die vom Blitz getrof-
fen wurde, versteht sich das wiederkehrende Bild im Akt der Berufung: der Blitz, der
Strahl, die Flamme. Die Erscheinungen sind auf den Dichter zu beziehen, <;tber er wird
von ihnen nicht versengt und aufgezehrt. Das ist in der benachbarten Feiertagshymne
ausgeführt:
»Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen ... « (111119).
Bis in die briefliche Mitteilung hinein bleibt das Bild lebendig. So im bewegenden
Böhlendorff-Brief vor dem Aufbruch nach Bordeaux: »0 Freund! die Welt liegt
heller vor mir, als sonst, und ernster. Ja! es gefällt mir, wie es zugeht, gefällt mir, wie
wenn im Sommer >der alte heilige Vater mit gelassener Hand aus röthlichen Wolken
seegnende Blize schüttelt< Denn unter allem, was ich schauen kann von Gott, ist
dieses Zeichen mir das auserkorene geworden« (VI/427). Im erwähnten Brief ist es
überschattet von der Vorstellung, daß es ihm ergehen könnte wie Tantalus, »dem
mehr von Göttern ward, als er verdauen konnte.« Nicht so in unserem Gedicht, in
dem das Bild von Freudigkeit erfüllt bleibt, vom Triumph der Eingangsstrophen noch
nicht zu weit entfernt:
»Wo wunderbar zuerst, als du die
Loken ergriffen, und unvergeßlich
Der unverhoffte Genius über uns
Der schöpferische, göttliche kam ... «
Aber alle verklärende Rede ist doch nur Erinnerung an etwas, das einmal war, und
der Sprechende soll sich an Erinnerungen wie diese nicht verlieren; denn alle Rede
von Gott und Genius ist nur die eine Seite des Auftrags. Mit der Wendung von den
»ruhelosen Thaten in weiter Welt« treffen religiöser und politischer Auftrag erneut
und beunruhigend aufeinander. Sie sollen offensichtlich miteinander in Einklang ge-
bracht werden, und dieser Einklang stellt sich gegenüber der Kurzode um vieles
schwieriger dar.
Wie sehr auch politisches Geschehen (in Übereinstimmung mit den Eingangsstro-
phen) als ein göttliches aufgefaßt wird, verdeutlicht die Wendung von der reißenden
Zeit,
»wenn der Gott
Stillsinnend lenkt, wohin zorntrunken
Ihn die gigantischen Rosse bringen ... «

Die früheren Fassungen hatten hier sehr viel froher und freudiger gesprochen; dem
Einsatz vom Triumph des Freudengottes entprechend. Sie hatten den Sturm und die
ruhelosen Taten in weiter Welt als etwas verstanden, das vorübergeht, ja schon
vorüber ist:
Hölderlins Ode Dichterberuf 201

Und 0 ihr Friedenstage, wenn izt der Sturm


Vorüber ist« (II/478).

Mit solchen Aussageformen stimmt überein das Tun und Denken des Gottes, der
die Stunden zählt und die gigantischen Rosse zum Ziele hinlenkt; wir dürfen ergänzen:
zum Ziel des Friedens. Ein solches Zählen und Lenken kann mit Frohlocken verbun-
den sein, und tatsächlich wird das für den späten Hölderlin wichtige Wort in einer der
früheren Fassungen gebraucht:
»wenn der Gott
Die Stunden zählt, indeßfrohlockend
Zum Ziele lenkt ... « (11/478).

Nichts ist davon im vollendeten Gedicht noch vernehmbar. Nirgends ist vom Frie-
den die Rede, und die Wendung von den trunknen Rossen ist in das Zorntrunkene
übergegangen. Jochen Schmidt hat dem Begriff des Zorns im Spätwerk eine erhellen-
de Untersuchung gewidmet. Die entschiedene Abwendung von jeder klassizistischen
Ästhetik um 1800 wird betont; ein veränderter Ton des sprachlichen Ausdrucks sei
damit verbunden, besonders im Übersetzungswerk der Tragödien: »Nicht die klassizi-
stisch gedämpfte Gefühlsäußerung, sondern der elementare Ausdruck von Freude
und Schmerz, Zorn und Wahn bestimmt das Pathosgemälde.« [26] Vollends in den
Anmerkungen zum Ödipus sei Zorn zum Leitmotiv geworden: die Tragödie stelle ein
vielfältiges Zorngeschehen dar, dessen geometrischer Ort die Gestalt des Helden
selber sei, heißt es im Fortgang der Untersuchung. [27] Die in Frage stehende Strophe
unseres Gedichts wird in diesem Zusammenhang zitiert und erläutert: »Die zorntrun-
kenen Rosse verkörpern die reißende Zeit, durch die sich der Gott als eine in der
Geschichte gewaltig wirkende Gottheit der Zeit offenbart.« [28] Auf einen der späten
Entwürfe, der von den Titanenkämpfen bei der Wiederkehr der Götter hätte handeln
sollen, wird aufmerksam gemacht. [29]
Unversehens sind wir mit solchen Hinweisen in die Nähe des Tragischen geraten.
Eine Entfernung vom Freudigen, vom Triumph des Freudengottes, von dem die
Eingangsstrophe gesprochen hatte, zeichnet sich ab. Das politische Zeitgeschehen
wird jetzt offensichtlich anders gedeutet als zuvor. Es ist deutlich von neuen Erfahrun-
gen her bestimmt. Die zweite Strophe handelt vom Gesetzgeber, der mit dem Dichter
zusammen genannt wird und eins mit ihm zu werden scheint. Demgegenüber scheint
die Zeit, von der die beunruhigenden Strophengruppen sprechen, nicht gebracht zu
haben, was erhofft worden war. Daher die zornerfüllte Rede dessen, der hier spricht.
Im Erfahrungshorizont der späteren Zeit gibt es nicht nur den Gesetzgeber, der mit
Bacchus verglichen werden kann, sondern auch denjenigen, der wie Kreon nichts als
Gesetze kennt. [30] Die Kurzode war von der Einheit ausgegangen, von der Vereini-
gung des Dichters, Gesetzgebers und Heroen wie ihrer Nähe zu Bacchus. Diese Ein-
heit versteht sich im Fortgang des Gedichts nicht mehr von selbst. Sie erscheint in
Frage gestellt. In solchen Zeiten sind auch die Dichter zur Verantwortung zu ziehen,
wenn sie ihrerseits an der Einheit des Göttlichen und des politischen Zeitgeschehens
nicht festhalten. So geht denn die Anrede an »unsre großen Dichter«, die Verbunden-
heit bezeugte, in eine Art Scheltrede über, die den scheinheiligen Dichtern gilt. [31]
202 Gegenklassische Wendungen

Zeitkritik wird erkennbar als Dichterkritik. Die achte bis elfte Strophe mit dem
gedachten Ende des Dichters durch Todesgeschosse ist davon bestimmt. Die schein-
heiligen Dichter sind diejenigen, die das Zeitgeschehen verschweigen, den Ernst der
Stunde nicht begreifen und sich zu Scherz oder Spott verführen lassen. Es sind diejeni-
gen zugleich, die bloß spielen. Davon war bereits im großen Neujahrsbrief an den
Bruder (vom 1.1.1799) die Rede gewesen. Daß der Anspruch der Poesie nicht begrif-
fen werde und daß man ihren Ernst verkenne, wird hier ausgeführt: »man nahm sie
für Spiel, weil sie in der bescheidenen Gestalt des Spiels erscheint, und so konnte sich
auch vernünftiger weise keine andere Wirkung von ihr ergeben, als die des Spiels,
nemlich Zerstreuung, beinahe das gerade Gegenteil von dem, was sie wirket, wo sie
in ihrer wahren Natur vorhanden ist« (VI/30S). Es ist sicher wichtig, daß man hin-
sichtlich einer solchen Dichterauffassung auf Klopstock verweist, denn auch Hölder-
lin bezieht sich auf ihn:

»Die Dichter, die nur spielen,


Die wissen nicht, was sie und was die Leser sind,
Der rechte Leser ist kein Kind,
Er will sein männlich Herz viellieber fühlen, als spielen.«[32]

Doch sollte man in solchen Hinweisen nicht ausschließlich an seraphisches Seher-


turn, an Prophetie und Verkündigung denken, sondern die Verbindung des Poeti-
schen mit dem Politischen beachten - bei Hölderlin so gut wie bei Klopstock. Ein
zweiter Vorwurf wird den scheinheiligen Dichtern gemacht, die keine wahren Dichter
sind: der Vorwurf der Dienstbarkeit. Sie werden getadelt, weil sie den Geist zu
Diensten brauchen, zu Zwecken also, die im Bereich bloßer Daseinssicherung liegen.
Das Zweckfreie, das sich im Geist der Dichtung bezeugt, wird damit vertan. Deutli-
cher noch als im ausgeführten Gedicht wird in den Entwürfen erkennbar, was alles
solche Dienstbarkeit bedeuten kann. Mit dem Vorwurf eines bloß spielerischen Tuns
wird Gewinnsucht gerügt: »damit die Knaben auf uns wiesen und die Unverständigen
uns die Hände füllten mit schnödem Gold?« (II/480) . Das betrifft die ökonomische
Basis einer jeden schriftstellerischen Existenz. Auch Hölderlin muß als Dichter sehen,
wie er wirtschaftlich zurechtkommt; er bleibt auf Verdienst angewiesen. Aber Ver-
dienst kann Dienstbarkeit bedeuten, bloße Daseinssicherung, die nichts anderes
mehr kennt. Der Geist der Dichtung, der hier für das steht, was mehr und anderes ist
als Spiel und Gewinn, ist zugleich als jene Unabhängigkeit zu erläutern, die Hölderlin
über alles wichtig war, wie es seine Briefe wiederholt zum Ausdruck bringen. Auf
Unabhängigkeit in ökonomischer Hinsicht war er stets bedacht, wie schon ausgeführt,
aber auf Unabhängigkeit gegenüber Sinclair nicht minder, der die Dichtung des
Freundes vermutlich gern anders zu politischen Zwecken benutzt hätte, als es Hölder-
lin lieb war. Wenn es zutrifft, daß eine 1799 auf den Kongreß von Rastatt gedichtete
Ode eines Freundes von Sinclair die Anregung zu Hölderlins Gedicht gegeben hat, so
könnte der Vorwurf der Dienstbarkeit zu politischen Zwecken auch auf ihn, den
Verfasser dieses Gedichts, bezogen werden. [33] In jedem Fall geht es um das, was
man Autonomie nennt, die heute bekanntlich vor Mißverständnissen zu schützen ist.
Im Übergang von der Aufklärung zur klassisch-romantischen Literatur und ihrer Äs-
Hölderlins Ode Dichterberuf 203

thetik ist sie zweifellos eine Errungenschaft, der ein Prozeß der Emanzipation voraus-
gegangen ist; und gewiß ist sie kein zeitloses, sondern ein geschichtliches Phänomen-
aber doch im Sinne jener Errungenschaften, die nicht einfach umkehrbar sind. Denn
Autonomie - Unabhängigkeit, Absehen von Dienstbarkeit zu anderen Zwecken -
bedeutet ja nicht, daß man Poesie gegen Politik ausspielt oder umgekehrt. An der
inneren Einheit ist festzuhalten. An ihr hält auch Hölderlin und hält die Ode Dichter-
beruffest; nur eben mit der Forderung, daß sich politisches Geschehen nicht von dem
lösen dürfe, was hier als »der Geist« oder als »alles Göttliche« verstanden wird. Als
Verfasser dieses Gedichts dichtet Hölderlin auf seine Weise politische Lyrik, aber er
wahrt in jedem Punkt die Rechte des Dichters und gibt sie nicht preis.
Das Dienstbare wird zunehmend in der Vielfalt seiner Bezüge erkennbar, und wie
hier mit der Mehrdeutigkeit der Sprache gearbeitet wird, gilt es zu sehen. Dienst steht
in Verbindung mit Sorge, und Sorge kann als Daseinsfürsorge verstanden werden
(»des Menschen Geschick und Sorg' / ym Haus und unter offenem Himmel«). Sie ist
aber auch zu verstehen als Sorge der Dichtenden. Mit dem Dienst verhält es sich nicht
anders: er ist nach »unten« hin zu üben und nach oben hin als Dienst am Göttlichen
oder als Gottesdienst von Dichtem wie von Priestern. Aber die Dichter können als
scheinheilige Dichter den echten Dienst verfehlen, wenn sie anderem dienstbar wer-
den, sich abhängig machen und sich gleichsam verdingen. Dienst, so verstanden, geht
dann auf im Interesse an Gewinn und Verdienst. Das Zweckfreie wird aufgezehrt von
einem Denken, für das nur gilt, was man berechnen, zählen und beweisen kann. Das
betrifft auch die Wissenschaft, wenn sie sich damit begnügt, dienstbar zu sein. Daß
von ihr als etwas letztlich Zweckdienlichem schon in der dritten Strophe gesprochen
werden sollte, die von der Sorge im Haus und unter offenem Himmel spricht, geht aus
den Lesarten hervor. »Denn nicht was sonst, des Menschen Geschik' und Sorg' und
Tugend ist, / Nicht Wissenschaft« (11/477) heißt es hier. Der Unterschied zwischen der
Sorge des Dichters und der Sorge im Haus (als Daseinssicherung) wiederholt sich als
Unterschied zwischen dem Beruf des Dichters und dem »Beruf der Wissenschaft«.
Der letzteren gegenüber ist der Auftrag des Dichters abermals das, wovon gesagt
wird: »denn es gilt ein anders.«
Die nun einsetzende Strophen-Trias, die mit der Wendung von der Dienstbarkeit
alles Göttlichen spricht, erhält mit der Einbeziehung der Wissenschaft eine neue
Dimension, und daß es nunmehr um diese geht, kann nicht zweifelhaft sein. Das
Wortfeld, in dem beide Bereiche zusammentreffen - der Dienst am Göttlichen und
das Dienstbare alles Göttlichen- ist derjenige des Himmels. Von den Himmelskräf-
ten, die man verscherzt und verbraucht, spricht die erste dieser Strophen, von den
Sternen des Himmels die zweite. Die dritte dringt auf Ehrfurcht, weil sich der Himmel
durch keine Gewalt bezwingen läßt. Gewarnt wird zugleich vor dem, was man als das
Wilde in seiner Vieldeutigkeit zu belassen hat - ein Wildes jedenfalls, das der Höch-
ste, der Vater, nicht liebt. Die Wissenschaftskritik, die das Gedicht übt, gilt jenen vor
anderen, die über dem Zählen und Benennen der Sterne wie über dem Gebrauch
ihrer Instrumente alle Himmelskräfte vergessen, und natürlich steht hier die Astrono-
mie für Wissenschaft überhaupt. Nicht genug damit, wird die Wissenschaftskritik
unseres Gedichts in der folgenden Strophe fortgeführt mit dem Vers: »Noch ists auch
204 Gegenklassische Wendungen

gut, zu weise zu seyn.« Das ist auf keinen Fall als eine Art Vorwegnahme jener
Wissenschaftsfeindlichkeit aufzufassen, die mit der Rechtfertigung einfachen Lebens
einhergeht. Der Geist wird nicht zum Widersacher der Seele degradiert. Denn dieser,
der Geist, ist es ja gerade, den man verfehlt, indem man ihn zu Diensten gebraucht,
ihn also nur ins Zweckhafte einschränkt. Der Akzent der zeitkritischen Aussage liegt
auf dem Zuviel von Weisheit, Wissen und Wissenschaft, auf einer vorweggeahnten
Verabsolutierung, könnte man meinen, die an spätere Wissenschaftsgläubigkeit den-
ken läßt. Zu solcher Sorge berechtigt die Entwicklung, wie sie sich um 1800 abzuzeich-
nen beginnt: daß man über dem Gebrauch von Instrumenten den Sinn dessen ver-
stellt, was man mit ihnen ermitteln will- in heutiger Sprache ausgedrückt: daß man
sich im geforderten Umgang mit ihnen einem bloß noch instrumentellen Denken
überläßt. [34] Solche Sorge, die Hölderlin zu einem Thema seines Gedichts ac ~ hat
er mit Goethe gemeinsam. Die Maximen und Reflexionen sprechen in diesem Punkt
eine sehr deutliche Sprache. »Es wird eine Zeit kommen, wo man eine pathologische
Experimentalphysik vorträgt und alle jene Spiegelfechtereien an's Tageslicht bringt,
welche den Verstand hintergehen, sich eine Überzeugung erschleichen und, was das
Schlimmste daran ist, durchaus jeden praktischen Fortschritt verhindern. Die Phäno-
mene müssen ein- für allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen
Marterkammer vor die Jury des gemeinen Menschenverstandes gebracht werden«,
heißt es in einer dieser Maximen. [35] Und natürlich muß nicht umständlich ausge-
führt werden, daß der einzigartige Aufstieg der exakten Naturwissenschaft im 19.
Jahrhundert niclit ohne Gebrauch von Instrumenten zu denken ist, die Goethe ja auch
nicht abschaffen will. Auch er - wie Hölderlin - warnt vor einem Zuviel, vor der
Verabsolutierung einer Methode als der einzigen, die man gelten läßt, weil damit
Schädigungen verbunden sein können, die den Menschen betreffen. Goethe zeigt es
am Beispiel der Mathematik: sie sei als Wissenschaft hoch zu ehren, aber ihr seien
dort Grenzen zu setzen, wo sie nichts zu suchen hat - »als ob alles nur dann existierte,
wenn es sich mathematisch beweisen läßt«, wie in einem Gespräch gesagt ist, das
Eckermann aufgezeichnet hat. [36] Hölderlins Wissenschaftskritik als eine Kritik am
Zuviel und an der Vernachlässigung dessen, was Goethe das Unerforschliche nennt,
scheint Ähnliches zu meinen. Sie gilt dem Sehrohr, dem Zählen und dem Benennen
der Sterne - mithin einer Wissenschaft, die sich im Gebrauch von Instrumenten, in
mathematischen Beweisen und in der eigenen Begriffssprache erschöpft. Eine solche
Wissenschaft hat sich im Verständnis Hölderlins vom Göttlichen entfernt. Der »Beruf
der Wissenschaft«, die nur die Sterne des Himmels zählt und benennt, ohne an die
»Himmelskräfte« zu denken, kann dem Dichterberuf nicht genügen. Was als Geist in
der zehnten Strophe aufgerufen wird, ist das »obere Leitende« und in jedem Fall mehr
und and.eres als Wissenschaft, welche es auch sei.
Der Kontrast zur begeisterten Rede über Mathematik und Rechtswissenschaft in
dem schon erwähnten Brief an den Bruder kann kaum deutlicher ausfallen, als es hier
geschieht. Das ist gleichermaßen an der Astronomie zu zeigen, die Hölderlin in unse-
rer Ode zum Gegenstand seines kritischen Fragens macht. Gut zehn Jahre zuvor hatte
er über sie ganz anders geurteilt. »Sonst hab' ich noch wenig gethan«, teilt er am 28.
November 1791 seinem Freund Neuffer mit; »vom großen Jean Jacque mich ein wenig
Hölderlins Ode Dichterberuf 205

über Menschenrecht belehren lassen, und in hellen Nächten mich an Orion und
Sirius, und dem Götterpaar Kastor und Pollux gewaidet, das ists all! Im Ernst, Lie-
ber! ich ärgere mich, daß ich nicht bälder auf die Astronomie gerathen bin. Diesen
Winter soll's mein angelegentlichstes sein« (VI/70). [37] Aber es ist nicht der einzige
Vorbehalt, der gegenüber früheren Auffassungen gemacht wird, wie sie noch der
Kurzode An unsre großen Dichter zugrunde lagen. Die Zeitkritik in der Ode Dichter-
beruf erweitert sich gegen Ende des Gedichts beträchtlich. Sie schließt nun auch
Politik und militärische Herrschaft ein, wenn sie nicht so verstanden werden, wie es in
den beiden Eingangsstrophen ausgeführt worden war: als Vereinigung nämlich von
Gesetzgeber, Dichter und Feldherr. Jetzt, in der letzten Strophe, werden Politik und
militärische Herrschaft als Kräfte gedacht, zu denen der Dichter in Gegensatz tritt. Sie
werden in Frage gestellt. »Und keine Waffen brauchts und keiner Listen«, lautet der
vorletzte Vers der letzten Strophe. [38] Der Weg von den Eingangsstrophen zu den
Schlußstrophen ist der Weg von der Einheit geistiger Tätigkeiten in die Vereinzelung,
der sich der Dichter gegenübersieht; denn er steht einsam vor Gott. Die Veränderung
vom Freudigen zum Tragischen, von der schon die Rede war, ist immer weniger zu
übersehen. Die Einstellung zum politischen und kriegerischen Zeitgeschehen ist da-
von betroffen. Denn solange Kriege, Eroberungen und Revolutionskriege als etwas
verstanden werden konnten, auf das alsbald der Friede folgt und folgen muß, ist der
Beruf des Dichters mit Versen wie »Beruf ist mirs, zu rühmen Höhers« am besten
umschrieben. Geschehnisse wie diese können um des Friedens willen gerechtfertigt
werden, und wie er zu feiern ist, sagt das Gedicht Friedensfeier auf seine Art: herrlich
und groß, wie nie bezweifelt wurde, seit das Gedicht bekannt ist. Die Ode Dichterbe-
rufhat ihren Ort jenseits solcher Erwartungen. Die Veränderung ist deutlich an den
Schlußstrophen abzulesen.
Man muß bedauern, daß sie, in ihrer ersten Fassung, lediglich in den Lesarten zu
finden sind; denn man könnte geneigt sein, ihnen das Recht eines eigenen Gedichts
zuzugestehen. Es handelt sich um die folgenden Verse:
»Anbetungswürdig aber und ewig froh,
Lebst du Natur, den Deinen und einig sind
Im GJanze deines Lichts, in deinem
Geiste die Sterblichen, die dich lieben;
Wohin sie gehn, die goldne Wolke folgt
Erheiternd, und befruchtend, beschirmend auch
Und keiner Würden brauchts, und keiner
Waffen, so lange der Gott uns nah bleibt« (11/485).
Verändert hat sich im ausgeführten Gedicht unter anderem das Verhältnis von
Göttern und Menschen. In der frühen Fassung wird von der Nähe des Gottes gespro-
chen, und solange es diese Nähe gibt, bedarf es keiner Würden und Waffen. In der
zweiten Fassung ist Götterferne vorausgesetzt, und die Schärfe der Zeitkritik erklärt
sich nicht zuletzt aus der veränderten Situation. Götterferne wird nunmehr »Gottes
Fehl« genannt. Damit ist ein Zustand bezeichnet, der es unnötig macht, daß man bei
konstruierten Deutungen Zuflucht sucht oder ein Fehlen Gottes gar nicht wahrhaben
will. [39] Sogar von Ironie ist gesprochen worden, die dem außerordentlichen Ernst
206 Gegenklassische Wendungen

des Gedichts, auch als schmerzliche Ironie, kaum gerecht würde; und statt diesen
außerordentlichen Ernst zu verdeutlichen, hat man im Zeichen des Dichterberufs
auch hier erhöht und verklärt. »Diese Ode ist uns vor andern ein Zeichen, daß
Hölderlin damals, in jenem Stuttgarter Sommer, seines Dichterberufs recht inne
geworden ist ... Er wird zu sich selbst geführt in dem gesegneten Stuttgarter Sommer
vor 150 Jahren.« Der Unterschied zwischen der ersten Wendung (»solange der Gott
uns nah bleibt«) und der zweiten (»bis Gottes Fehl hilft«) sei lediglich der, daß die
letztere mit einem Anflug von Ironie an die Stelle der ursprünglichen gesetzt sei. [40]
Aber gerade damit wird der entscheidende Wandel von möglicher Götternähe zu
faktischer Götterferne verkannt. Er betrifft den Dichter in besonderer Weise. Ihm
kommt es zu, mit entblößtem Haupt auszuharren, wie es in der schon genannten
Feiertagshymne heißt: er soll einsam vor Gott solange stehen, bis Gottes Fehl hilft-
bis die Ferne der Götter ihre Wirkung tut und die Menschen sich ihnen wieder
zuwenden. [41]
Daß dieses Gedicht von Götterferne handelt und die Aufgabe des Dichters in einer
dadurch veränderten Welt zu bestimmen sucht, hat man wiederholt betont. Aber zu
wenig wurde gesehen, daß unser Gedicht diesen Weg in die Götterferne zu seinem
Thema macht; und auch dabei wirkt Politisches ein, worauf die Wendung von den
Waffen und den Listen verweist, deren es nicht bedarf. Daß sie ganz auf den Dichter
zu beziehen ist, bleibt fraglich. [42] Vielmehr geht es um veränderte politische Kon-
stellationen, die zu einem Überdenken des eigenen Standorts und der eigenen Aufga-
be führen. Von Sendung muß nicht die Rede sein. Vor allem aber sollte das mythi-
sche Bild von der Ferne der Götter, wenn man es so bezeichnen will, nicht ohne
Zeitbezug aufgefaßt werden. Martin Walser hat in seiner Hölderlin-Rede von 1970 auf
die Art, wie man dieses Bild zu gebrauchen pflegt, etwas unwirsch reagiert: »Was hat
man davon, wenn man weiß, Hölderlin habe in einer Zeit der Götterferne den Boden
bereitet für die Rückkehr der Götter!« [43] Man sollte ihm dafür dankbar sein. Er
kann damit nur die Philologen gemeint haben, die sich des Bildes allzu selbstverständ-
lich bedienen. Äußerungen des Unmuts wie diese nötigen uns, daß wir uns deutlicher
erklären; und aus dem, was schon »erklärt« worden ist, sollte erkennbar geworden
sein, daß das Bild der Götterferne von Zeitgeschichte angereichert ist, und daß man
den religiösen Gehalt des Gedichts verfehlt, wenn man die Zeitgeschichte ausspart.
Das Bild der Götterferne ist von höchst aktuellen Sorgen bestimmt. Sie gelten der Art
und dem Verlauf der politischen Geschichte ebenso wie der Entwicklung der Wissen-
schaften. Der Standort des Dichters gegenüber der politischen Gedankenwelt der
Kurzode war nunmehr neu zu bestimmen. Das ist hier geschehen. Aber damit hat sich
nun auch das Bild des Dichters geändert. Man ist versucht zu sagen: es hat sich von
Grund auf verändert.
Eine Deutung, die nur nach oben blickt und in erster Linie Erhöhung des Dichter-
berufs wahrnimmt, entspricht dieser Standortbestimmung nicht entfernt. [44] Ein
solches Bild mögen die ersten Teile des Gedichts vermitteln. Aber sie sind Vergan-
genheit, die einmal war. Das Dichterverständnis der letzten Zeile als Ergebnis eines
Erkenntnisweges ist anders beschaffen. Hier schon gar nicht geht es um denjenigen,
der auf den Höhen der Menschheit einhergeht und mit Göttern wie mit seinesgleichen
Hölderlins Ode Dichterberuf 207

spricht. [45] Der Dichter, der seinen Standort gegen Ende des Gedichts mit künstleri-
schen Mitteln beschreibt, sieht sich nicht so, sondern anders. Er bleibt bescheiden
gegenüber denjenigen, die zu weise sind; auch scheut er sich nicht, Einfalt als sein Teil
zu nennen. Sein Zorn über die »Dienstbaren« schließt die eigene Demut nicht aus.
Das kommt zumal in der Feiertagshymne deutlich zum Ausdruck: im Bild des Dich-
ters, der entblößten Hauptes unter Gottes Gewittern steht. Solche Demut läßt an
verwandte Auffassungen im Dichterverständnis um 1900 denken: an Hofmannsthais
Bild vom Dichter, dem auferlegt ist, unter der Stiege seines eigenen Hauses uner-
kannt zu wohnen - unter der Treppe, »wo nachts der Platz der Hunde ist«. [46] Auch
an die» Wirklichkeitsdemut« Rilkes, wie man sie bezeichnet hat, mag man denken.
[47] In Hölderlins Gedicht An eine Verlobte nennt sich der Sprecher als Dichter -
»träumend und selig und arm« (I/32). Das ist noch eine von Harmonie geprägte
Aussageweise. Der Schluß unseres Gedichts spricht eine andere Sprache. Als Dichter
ist er auf die anderen angewiesen, auf Geselligkeit und Gespräch, damit die eigene
Dichtung vernommen wird. Umso schmerzlicher hat man aufzufassen, was im ab-
schließenden Bild vernehmbar wird. »Wie kurz und vorsichtig der letzte Vers auch
gefaßt ist, es umweht ihn die Eiseskälte der Einsamkeit«, hat man gesagt. [48] Dem
ist kaum zu widersprechen. Das führt noch einmal zu dem zurück, was man in solchem
Verständnis dichterischen Tuns als tragisch bezeichnen kann. Dieser Begriff hat sich
schon einmal aufgedrängt, als vom Zorn im Spätwerk zu sprechen war. Auf die Nähe
zum Tragödienwerk der späten Zeit wurde verwiesen. [49] Aber schließlich hat Höl-
derlin selbst diesen Begriff auf die Odenform angewandt. Er spricht im Grund zum
Empedokles von der tragischen Ode, die im höchsten Feuer anfängt, um in eine
bescheidenere Innigkeit einzumünden: »denn die ursprünglich höhere göttlichere
kühnere Innigkeit ist ihr als Extrem erschienen, auch kann sie nicht mehr in jenen
Grad von übermäßiger Innigkeit fallen, mit dem sie auf ihren Anfangston ausgieng,
denn sie hat gleichsam erfahren, wohin diß führte« (IV/149). Unser Gedicht ist eine
Ode dieser Art, und daß man auf den aus der griechischen Kultur kommenden
Begriff des Tragischen nicht gänzlich verzichten kann, um bestimmte Konstellationen
in dichterischer und biographischer Hinsicht auszudrücken, bleibt anzumerken. Die
neuere Hölderlinforschung kommt ohne diesen Begriff kaum aus, wenn sie Werk und
Leben als eine Einheit zu verstehen sucht. Von Hölderlins tieftragisch gewordener
Situation, schon in Frankfurt, hat Adolf Beck gesprochen[50], und die Wendung vom
späten Widerruf des Dichters, die Jochen Schmidt als Titel gebraucht, deutet glei-
chermaßen auf ein solches Geschehen hin. Auf das Tragödienwerk und auf das, was
es ihm persönlich bedeutet hat, ist abermals hinzuweisen. Daß Hölderlin sich der
tragischen Form zuwendet, weil sie der eigenen »Lebensform« - seiner schwierig
gewordenen Lebenssituation - entgegenkam, ist gelegentlich bemerkt worden; und
daß er den Sophokles nicht übersetzt habe, um die deutsche Übersetzungsliteratur zu
bereichern, »sondern um sein eigenes Woher und Wohin besser zu begreifen«, hat
Wolfgang Binder betont. [51] Hölderlin selbst hat einen solchen Zusammenhang
zwischen tragischer Form und eigener Dichterexistenz in einem Brief an Schiller (vom
September 1799) beglaubigt. Er spricht von den Dichtungsformen, die der eigenen
Sinnesart am nächsten liegen und gesteht: »Ich glaube jenen Ton, den ich mir vorzüg-
208 Gegenklassische Wendungen

lich ZU eigen zu machen wünschte, am vollständigsten und natürlichsten in der tragi-


schen Form exequiren zu können« (VI/364). Nicht wenig von solcher Sinnesart ist in
die Ode Dichterberuf eingegangen. Sie hat nicht sehr viel zu tun mit jenem »moder-
nen« Klassizismus, der im Bild vom Dichter als Führer, Seher und Verkünder kulmi-
niert, der über seine Zeit hinausschaut, die Zukunft verkündet und heraufbeschwört.
Hölderlins dichterisches Selbstverständnis, wie an der Ode Dichterberuf als einer
tragischen Ode zu zeigen war, entspricht nicht diesem Bild; so wenig wie dasjenige,
das man in historischer Betrachtung von seinem Lebenswerk und dem Zeitalter ge-
winnt, dem es abgerungen wurde.
2. Kleists Penthesilea im Kontext
der Deutschen Klassik

Kleists Penthesilea hat nicht wenige Zeitgenossen entsetzt, und zum Vorlesen bei
Kerzenschimmer im literarischen Salon eignete sich das Drama denkbar schlecht. Aus
dem Hause Körners sind schrille Töne zu vernehmen. »Seine Penthesilea ist ein
Ungeheuer, welches ich nicht ohne Schaudern habe anhören können«, schreibt die
Schwägerin Dora Stock im April 1808 nach der Veröffentlichung des Fragments im
ersten Phöbus-Heft[l]; und in einer betont gehässigen Art sind die ersten Rezensio-
nen verlaßt. Kleist beleidige den Geschmack, heißt es in einer Kritik des Dramas, die
vermutlich den Schweizer Schriftsteller Heinrich Zschokke zum Verlasser hat; er em-
pöre »das Zartgefühl, wo er nur das Entsetzen hervorbringen wollte«. [2] Wie sehr mit
diesem Drama Erwartungen von Dichtung durchbrochen wurden, wird deutlich,
wenn der Rezensent lapidar erklärt: »Das Ekelhafte ist niemals Objekt der schönen
Kunst.« Selbst unter denjenigen, die sich bewundernd über Kleists Dichterturn geäu-
ßert hatten, fehlt es nicht an Stimmen der Ablehnung und des Befremdens. Noch im
Mai 1807 war Friedrich von Gentz von Kleists Amphitryon aufs höchste entzückt
gewesen: »Das Kleistsche Lustspiel«, schrieb er an Adam Müller, »hat mir die ange-
nehmsten, und ich kann wohl sagen, die einzigen rein angenehmen Stunden geschaf-
fen, die ich seit mehreren Jahren irgendeinem Produkt der deutschen Literatur ver-
danke.« [3] Aber mit der Tragödie der Amazonenkönigin weiß er nichts anzufangen
und spricht - wiederum gegenüber Adam Müller - von der ihm »ewig verhaßten [... ]
Penthesilea.« [4] Gemessen an solchen Wendungen des Entsetzens hört sich Goethes
Brief noch höflich und diplomatisch an, in dem er sein Befremden zum Ausdruck
bringt: »Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem
so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region daß ich mir
Zeit nehmen muß mich in beide zu finden.« [5] Mit ebendiesem Schreiben hatte
Goethe auf jenen bewegenden Brief Kleists geantwortet, in dem der denkwürdige
Satz zu lesen war: »Es ist auf den >Knieen meines Herzens< daß ich damit vor Ihnen
erscheine; möchte das Gefühl, das meine Hände ungewiß macht, den Wert dessen
ersetzen, was sie darbringen.« [6] An der Aufrichtigkeit dessen, was hier ausgespro-
chen wird, besteht kein Grund zu zweifeln. Aber die Beziehung, um die es geht, ist in
ihren Motiven wie in ihrem Scheitern höchst vielschichtig; und sie ist es auf beiden
Seiten.
210 Gegenklassische Wendungen

Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation war vor-
ausgegangen, als Kleist sein Trauerspiel auszuarbeiten begann. Es war eine Zeit des
Umbruchs und der Umorientierung auf nahezu allen Lebensgebieten. Das gilt für
Kleist wie für Goethe gleichermaßen; denn auch für Goethe war die Welt eine andere
geworden, und der Tod Schillers hatte das Seine zu einer Krise beigetragen, die
keineswegs bewältigt war, als die Beziehungen zu Kleist mit der Übersendung der
Penthesilea ihren Tiefpunkt erreichten. Mit dieser Krise gewinnt Goethe zunehmend
Abstand von der Epoche, die wir als die Zeit seiner Klassik bezeichnen. In ihr war
noch vor der Revolution die Iphigenie entstanden, von der sich Kleists Penthesilea
wie das Geschöpf aus einer anderen Welt unterscheidet. [7] Von der Zeit einer
gegenklassischen Wandlung im Leben Goethes hat man gesprochen. [8] Auch Wand-
lungen im Verständnis der Antike sind damit verknüpft. In der Pandora erscheint das
Dasein des Schönen gefährdet und vom Scheiden überschattet. Das Individium sieht
sich Entwicklungen gegenüber, die sein Selbstsein bedrohen; und einem ganz von
Harmonie bestimmten Weltbild entspricht kein Werk Goethes aus dieser Zeit. Den-
noch lag die zum Gedächtnis Winckelmanns veröffentlichte Schrift Winckelmann und
sein Jahrhundert erst zwei Jahre zurück, als ihn Kleist mit einem so gänzlich anderen
Bild der Antike bekannt machte. In dieser Schrift war noch einmal ein Bild des
Menschen sichtbar geworden, das die Nähe zu Winckelmanns Klassizismus nicht ver-
leugnet. [9] In dem Abschnitt »Antikes« wird die gesunde Natur des Menschen gefei-
ert, wenn er als ein Ganzes wirkt - »wenn er sich in der Welt als in einem großen,
schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt.« [10] Mit dem Bild der ganzen Welt
bleibt Goethes Bild der Antike eng verknüpft. Dagegen nun die entfesselten Leiden-
schaften einer Antike, in der nicht die gesunde Natur des Menschen im Zentrum
steht! Hier geht es um Pathologisches nicht nur, aber doch auch; um Ekstase und
Exzesse, die alles in den Schatten stellen, was bis dahin auf den Bühnen der Goethe-
zeit zu sehen war. Doch ist die Darstellung antiker Welt in Kleists Drama weit mehr
Mittel zum Zweck. Sie ist ihm nicht um ihrer selbst willen wichtig, auch nicht als
il ~ l is in moderner Sicht. Die Äußerung Adam Müllers gegenüber Gentz
ist sicher als eine authentische Wiedergabe dessen aufzufassen, was Kleist selbst dach-
te und meinte. »Kleist ist gemütsfrei«, schreibt Adam Müller, »also weder die antike
noch die christliche Poesie des Mittelalters hat ihn befangen. Sie werden in der
Penthesilea wahrnehmen, wie er die Äußerlichkeiten der Antike, den antiken Schein
vorsätzlich beiseite wirft [... ] Demnach ist Kleist sehr mit Ihnen zufrieden, wenn Sie
von der Penthesilea sagen, daß sie nicht antik sey.« [11] Um vieles näher als dem
Klassizismus Winckelmanns steht dem Dichter der Penthesilea die Tragödie der Grie-
chen als Kunstform; und was er den Zeitgenossen zumutet, die sich an den sanften
Gesetzen der edlen Einfalt und der stillen Größe gebildet hatten, war so wenig nicht.
Es war aber auch nicht so unantik, wie ihm damals und später oft vorgeworfen wurde.
[12] Szenen der Grausamkeit gibt es auch im antiken Theater. Daß Menschen von
Hunden gehetzt oder von Pferden zu Tode geschleift, daß sie zerrissen und zerstückelt
werden, wird in den Bakchen des Euripides berichtet oder gezeigt. [13] Auch ein
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 211

anderes Drama, der Hippolytos des Euripides, ist in diesem Zusammenhang zu nen-
nen und genannt worden. [14] Kleist hat sich an einige Szenen dieser Dramen ange-
schlossen. Das betrifft vor allem die Motive und Metaphern der Jagd, die das drama-
tische Geschehen leitmotivisch begleiten. [15] Sie sind nicht frei erfunden, sondern
stehen in einer Tradition. Aber es sind doch in erster Linie die Darbietungsformen
und Techniken, die Kleist übernimmt, um sie umzuformen und seinem dichterischen
Weltbild einzufügen. Die Götter und die Mythen bedeuten ihm wenig oder nichts,
und der Unterschied zu Hölderlin ist in diesem Punkt offenkundig. [16] In jedem Fall
ist dieses in seinen Ausmaßen gewaltige Drama jedem beruhigten Bild der Antike
schroff entgegengesetzt. Von harmonischem Behagen, von dem Goethes Schrift über
Winckelmann handelt, kann bei Kleist nicht entfernt die Rede sein. Seine Tragödie
widerspricht jeder Idee von Bildung, die sich in Besitz zu verlieren droht; und die Welt
der Griechen, wie sie hier erscheint, ist weit entfernt davon, etwas Vorbildliches und
Musterhaftes zu sein.
Das zeigt sich sogleich an der Gestalt des Odysseus. Mit seiner Rede wird das
Drama eröffnet, nachdem er von einem der Könige des Griechenvolkes kurz begrüßt
worden ist. In den Homerischen Epen ist Odysseus der listenreiche Held.lm Drama
Kleists ist er fast zu einer Figur dieser typenhaften Gestalt geworden. Ausführlich
erstattet er Bericht über das, was er nach dem Einbruch des Amazonenheeres gehört
und gesehen hat. Nicht zufällig wird er in diesem Zusammenhang als der »erfindungs-
reiche Larissäer« angeredet. Mit Odysseus in erhöhtem Maße wird die »Kultur«
dieses griechischen Staates dargestellt. Es ist, mit Schiller zu sprechen, eine »bloß
theoretische Kultur.« [17] Für Odysseus, wie im Grunde für alle seine Landsleute, gilt
nur, was sich hinreichend begründen läßt, was man logisch und kausal berechnen
kann. Berechnet aber wird vornehmlich das Verhalten der anderen, die mit Klugheit,
Taktik und List in Fallen gelockt werden, damit man sie gegebenenfalls vernichten
kann. An der Sprache, am Gebrauch bezeichnender Wörter ist unschwer abzulesen,
wie man denkt:
»Wir werden mit verstelltem Rückzug sie
In das Skamandrostal zu locken suchen,
Wo Agamemnon aus dem Hinterhalt
In einer Hauptschlacht sie empfangen wird.« (524-527)
List ist Kriegslist, und Krieg ist das Resultat solchen Denkens. Wenn von Achill
später gesagt wird, er grüße die Amazonen »mit ewgem Frieden« (1157), so zeigt diese
an Kant erinnernde Wendung nur an, wie weit er sich von dem Griechenvolk schon
entfernt hat. Die Kultur dieses Volkes ist einseitig vom Diskursiven bestimmt und
geprägt: »Vernunft keilförmig, mit Gelassenheit,/Auf seine rasende Entschließung
setzen« (230f.), ist die Devise, die hier gilt. Es ist eine Denkart, in der man mit
»rednerischer Kunst« zu erreichen versucht, was man erreichen will. [18] Solches
Denken ist immer zugleich auf Macht, Besitz und Herrschaft gerichtet, und noch bei
Achill schlägt es trotz der Entfernung von seinen Landsleuten durch, wenn er Penthe-
silea als seine Königin auf den Thron seiner Väter zu setzen hofft. Denken als Planen,
Berechnen und Beschließen ist zur Gewohnheit geworden, und was sich in das Sche-
ma nicht einordnen läßt, macht die Griechen fassungslos - wie das Erscheinen des
212 Gegenklassische Wendungen

Amazonenheeres und ihrer zu wilder Wut entbrannten Königin. So kann denn Odys-
seus nur mit Bedauern feststellen: »Hierauf unwissend jetzt,lWas wir von diesem
Auftritt denken sollen« (105 f.). Kommunikation unter Menschen hat sich auf Infor-
mation reduziert, auf das rein Zweckhafte, und darauf vor allem kommt es in diesem
Staat an. Es ist eine öde gewordene Kultur, wie man erkennt, ein im Schema erstarr-
tes Denken. [19]
Die Frage stellt sich, ob man es hinsichtlich des Amazonenstaates nicht mit etwas
qualitativ anderem zu tun hat, mit einem Staat höherer Ordnung und einem Mehr an
Menschlichkeit obendrein. Dafür scheint manches zu sprechen. Wenn die Frauen
dieses Staates miteinander reden, so reden sie in einer gesetzten und gemessenen
Sprache, rücksichtsvoll und mit dem Ton einer gewissen Herzlichkeit, den man bei
den Griechen vermißt. Was sich Penthesilea zuschulden kommen läßt, indem sie
'Achill zerreißt, widerspricht den Gesetzen dieses Staates, wie nicht zweifelhaft sein
kann. Daß der Amazonenstaat gegenüber dem Staat der Griechen einen Fortschritt
bedeutet, ist zuzugeben, sieht man auf die Stellung der Frau bis zur Gründung des
Staates: Die Herrschaft der Männer über die Frauen hat hier ein Ende gefunden. Sie
sind in ihren eigenen Rechten und in ihrer Würde anerkannt. Sie sind Angehörige
eines mündigen Staates. [20] Man hat an Auffassungen Johann Jakob Bachofens wie
die folgende erinnert: »Das Amazonenturn bezeichnet trotz seiner wilden Entartung
eine wesentliche Erhebung der menschlichen Gesittung.« [21] Andererseits besteht
im Verständnis des Dramas weithin Übereinstimmung darin, daß man das Bild dieses
Staates als ein Negativbild aufzufassen hat und daß er einer unnachsichtigen Kritik
ausgesetzt wird. Von seinem Wert bleibt nicht viel übrig, wenn sich seine Königin am
Ende von ihm lossagt. Es ist daher bedenklich, von heiligen Gesetzen zu sprechen, die
Penthesilea an ihr Volk binden sollen, weil damit ein Konflikt konstruiert wird, um
den es bei Kleist gar nicht geht. [22] Es wäre dies ein Konflikt von der Art, wie ihn
Hegel in die Antigone hineininterpretiert. Er deutet den Gegensatz zwischen Antigone
und Kreon als die Kollision gleichberechtigter Mächte und Individuen und erläutert
sie in den Vorlesungen zur Ästhetik: »Der Hauptgegensatz, den besonders Sophokles
nach Äschylus Vorgang aufs schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen
Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlich-
keit .« [23]
Spricht man mit Beziehung auf Kleists Penthesilea von heiligen Bindungen an ihr
Volk und an die Gesetze dieses Staates, so hätte man es - im Sinne Hegels - mit einer
Kollision gleichberechtigter Mächte zu tun, die in der Person der Amazonenkönigin
ausgetragen werden. Aber gerade um eine solcherart gleichberechtigte Geltung bei-
der Bereiche handelt es sich nicht; denn Penthesilea soll sich im Prozeß des Erken-
nens, der ihr aufgegeben ist, nicht im Sinne einer Alternative für den Staat oder für
ihre noch lange unbegriffene Liebe zu Achill entscheiden. Sie soll erkennen, daß die
Gründung des Amazonenstaates trotz des berechtigten Anlasses ein Irrweg war, wie es
ja auch geschieht. Vor jeder Aufwertung des Amazonenstaates sieht man sich daher
gewarnt. Um eine solche aber handelt es sich, wenn man annimmt, der Amazonen-
staat bedeute den Idealstaat der Aufklärung - »eine kühne dichterische Verwirkli-
chung jener Utopie, um deren Durchführung die französische Revolution vergebens
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 213

gerungen hatte.« [24] Aber um eine Aufwertung dieses Staates handelt es sich auch,
wenn man, wie neuerdings Gerhard Kaiser, in der Gründung des Frauenstaates einen
Fortschritt auf dem Wege zu einem Staate der Humanität erkennt. Die Unnatur und
Unnatürlichkeit wird in dieser vielfach bestechenden Argumentation nicht bestritten.
Aber sie erhält einen unverkennbar dialektischen Sinn. In einer Art Dialektik der
Aufklärung wird das Negativbild des Amazonenstaates zuletzt nun doch ins Positive
gewendet, wenn wir lesen, daß im Amazonenstaat eine Tendenz zur Humanität vor-
liegt: »Wie die Amazonen den Griechen vernunftlos und unmenschlich erscheinen
müssen, gerade weil diese Frauen eine höhere Richtung auf Menschheit genommen
haben, so muß Penthesilea den Amazonen um so wilder erscheinen, je mehr in ihr die
Tendenz auf Humanität widerspruchsvoll durchbricht [... ].« [25 ] Eine solche Rich-
tung auf Humanität, die dem Amazonenstaat eine qualitativ höhere Ordnung zuer-
kennt, ist eine Deutung im Akt des Interpretierens, die es zu überprüfen gilt. [26] Sie
unterstellt dem Dichter der Penthesilea den »Glauben« an einen vernünftigen Staat,
aber ein solcher Glaube ist nicht recht erkennbar, weil in beiden Staaten das Unzu-
längliche dominiert, im Amazonenstaat womöglich noch in gesteigertem Maß. Wenn
Penthesilea nach der furchtbaren Tat die Asche der Tanals in die Luft streut, ist der
Staat gerichtet, in dem die Oberpriesterin als eine Person zurückbleibt, die nichts
begriffen hat. Nirgends im Spielraum des Dramas gibt es denjenigen Staat, der sich
als idealer Staat empfiehlt - wie später in Prinz Friedrich von Homburg. Der Amazo-
nenstaat ist mithin nichts prinzipiell anderes als der Staat der Griechen auch. Der eine
ist nur der mit Notwendigkeit sich ergebende Gegensatz des anderen, und Krieg ist
hier wie dort die Regel- ein Kampf der Geschlechter, der deshalb entbrennen muß,
weil schon im Männerstaat der Griechen alles auf Kampf und Beherrschung anderer
angelegt ist, hier vor allem auf Beherrschung des anderen Geschlechts. Im Staat der
Amazonen ändert sich an diesen Prinzipien nichts: wie die Griechen über die Frauen
verfügen, so verfügen die Amazonen über die Männer, die sie sich ohne jeden perso-
nalen Bezug einfangen, damit die Zeugungen stattfinden können. Auch Penthesilea
ist von einem Denken geprägt, wie es für die Griechen bezeichnend ist. Noch in der
Szene, die einer wirklichen Liebeszene am nächsten kommt, macht es sich bemerkbar:

»Nun denn, so grüß ich dich mit diesem Kuß,


Unbändigster der Menschen, mein! Ich bins,
Du junger Kriegsgott, der du angehörst;
Wenn man im Volk dich fragt, so nennst du mich.« (1805-08)

Die besitzanzeigenden Pronomen erklären sich selbst, und das Angehören des jun-
gen Kriegsgottes zur Königin hat aus ihrer Sicht einen unverkennbaren possesssiven
Sinn. Achill versteht das Angehören in derselben Szene ein wenig anders, und hier ist
er es einmal, der das Besitzdenken vorübergehend zu vergessen scheint. Er drängt in
diesem Gespräch entschiedener als Penthesilea zur Personwerdung hin und nimmt die
Rede vom Angehören auf, um sie anders zu wenden: »Wie nenn ich dich, wenn meine
eigne Seele / Sich, die entzückte, fragt, wem sie gehört?« (1812f.). Die Verse sind
aufschlußreich, und gewiß sind sie durchdacht. Seele und physische Gestalt werden
hier nicht als selbstverständliche Einheit aufgefaßt. Sie können voneinander getrennt
214 Gegenklassische Wendungen

sein, so daß sich die Frage stellt, wem die Seele zugehört. Diese Szene der Namens-
nennung bleibt indessen einseitig: Penthesilea nennt sich selbst und gibt damit Ant-
wort auf die Fragen Achills; aber sie fragt nicht ihrerseits, wie der Geliebte heißt.
Wenn er sagt: »Ich bins«, so sagt er, daß er der Pelide sei, wie ihn Penthesilea nennt.
Die Szene hat eine Parallele in der Familie Schroffenstein. Auch dort gibt es den Akt
der Namensgebung, eine Art erneuter Taufe, die Ottokar vollzieht. Beide Szenen
richten sich kritisch gegen das Unpersönliche, Anonyme und Typische. Sie üben
Kritik an den Institutionen Familie und Kirche; in der Penthesilea wird vor allem der
Staat zum Gegenstand der Kritik, hier freilich in Verbindung mit dem institutionali-
sierten Glauben, den die Oberpriesterin hütet.
Dieser Staat der Amazonen erscheint in mythische Ferne gerückt, wenn Penthesilea
über seine Entstehung Auskunft gibt; und Mythos bedeutet im Prozeß des Erkennens
das, was es als Vorurteil, Legende oder als gleichsam »falsches Bewußtsein« aufzuklä-
ren gilt. [27]. Aber wie es fraglich ist, dem Staat der Amazonen eine qualitativ höhere
Stufe zuzuerkennen, so ist es erst recht fraglich, den Mythos in ein solches Verfahren
der Aufwertung einzubeziehen. Auch von mythischer Qualität sollte man nicht spre-
chen[28], weil Mythen im Raum dieses Dramas von Kritik nicht verschont bleiben.
Hier wird im Gegenteil kräftig »entmythologisiert«, und die Rede vom Gott der
Erde, von dem sich Achill wünscht, daß ihn Penthesilea gebiert, ist kein neuer My-
thos, 'sondern ein Ausdruck der Weltlichkeit, Wirklichkeit und Unmittelbarkeit im
Verhältnis von Mensch zu Mensch. Das Heilige, von dem Penthesilea in ihrem Bericht
über die Gründung des Staates spricht, ist vom Ende her gesehen nur der Schein des
Heiligen - nicht mehr; und wie der Mythos im ganzen, so werden die Gesetze des
Staates in die Kritik - Kleists Kritik! - einbezogen, wenn er Penthesilea auf Achills
Frage, woher denn dieses Gesetz stamme, antworten läßt:

»Fern aus der Urne alles Heiligen,


o Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder
Den unbetretnen, die der Himmel ewig
In Wolkenduft geheimnisvoll verhüllt.« (1905-08)

Alles hängt davon ab, wie wir den Wolkenduft und das geheimnisvoll Verhüllte
verstehen sollen. Aber wiederum ergibt sich aus dem Prozeß der Erkenntnis, den das
Drama in Gang setzt, daß wir die poetischen Umschreibungen nicht für bare Münze
nehmen dürfen, sondern daß Vorbehalte angemeldet werden, für die vor anderen
Penthesilea interessiert werden soll. Solche Vorbehalte gelten zugleich der Geschichte
und allem Tradierten, wenn es nur noch mittelbar erfahren wird und jeder personale
Bezug fehlt. Der ersten Mütter Wort hat nach Penthesileas Bericht über die Gesetze
des Staates entschieden, und dabei ist es geblieben - bei Stagnation, Entwicklungslo-
sigkeit und unveränderten Verhältnissen. Geschichte aber bedeutet Wandel, und
Wandel bedeutet zumeist auch Annäherung an unmittelbare Natur, ihre Wiederher-
stellung, wo Unnatur entstanden war. Aber solche Wiederherstellungen sind nicht in
den Verfassungen der Staaten angelegt, sondern in der Natur des Menschen. Die
radikale Kritik am Staat, wie sie Kleist in einem 1801 in Paris geschriebenen Brief zum
Ausdruck bringt, gilt weiterhin. »Ein Staat kennt keinen andern Vorteil als den er
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 215

nach Prozenten berechnen kann. Er will die Wahrheit anwenden [... ] Er will das
Bequeme noch bequemer machen ... den raffiniertesten Luxus noch raffinieren«,
schreibt er an Wilhelmine von Zenge (II/681). Soll es menschlichere Verhältnisse
geben, dann müssen Unnatur, Konvention und Anonymität durchbrochen werden.
Eine solche Richtung wird erkennbar in der personalen Beziehung Penthesileas zu
ihrer Mutter Otrere; denn deren Vermächtnis - »Du wirst den Peleiden dir bekrän-
zen« (2138) - gilt entgegen den Gesetzen dieses Staates einer individuellen Person,
obgleich der Name Achills noch nicht genannt wird. [29] Das Vermächtnis der Mutter
Penthesileas ist auf Mutterschaft gerichtet: »Werd eine Mutter, stolz und froh, wie
ich« - (2139). Wie stark dieses Vermächtnis nachwirkt, bezeugt die erste Begegnung
mit Achill, über die Odysseus gleich eingangs berichtet. [30] Diesem Bericht zufolge
soll Penthesilea ausgerufen haben: »solch einem Mann, 0 Prothoe, ist Otrere, meine
Mutter, nie begegnet!« (89f.). In diesem Vermächtnis nicht zuletzt beruht die Kritik
an einem Staat, der aus besten Motiven heraus zu einer Art Ideologie geworden ist,
gegen die sich das Drama richtet. Das gilt mit Unterschieden auch für den Staat der
Griechen. Beide Staaten verhalten sich zueinander wie Satz und Gegensatz, wie Teil
und Gegenteil. Sie kennen nichts Drittes. Auf dieses Dritte aber kommt im Verständ-
nis des Dramas sehr viel an.

Die Kategorie des Dritten ist der deutschen Klassik und der idealistischen Philoso-
phie ein vertrauter Begriff. Die vor allem der Hegeischen Philosophie geläufigen
Termini heißen Thesis, Antithesis und Synthesis; und Synthese als das Dritte, in dem
die Gegensätze vereinigt und aufgehoben sind, ist auch Goethe wichtig. Die Gegen-
standsbereiche, denen immer erneut sein Interesse gilt, heißen Natur und Kunst; das
Dritte, das ihn beschäftige, seien die Sitten der Völker, heißt es in den Schriften zur
Morphologie: »An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendig-
keit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes
hergeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und
zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.« [31] Auch
im Denken der Romantik sind Strukturen wie diese ausgeprägt. »Lieber, Sie sind
kein Chymist«, schreibt Novalis, »sonst würden Sie wissen, daß durch ächte Mischung
ein Drittes entsteht, was beydes zugleich und mehr als Beydes einzeln ist.« [32] Im
Denken Kleists hat das »Dritte« noch einen anderen Sinn. In seinem dichterischen
Weltbild ist es mit der inneren Wirklichkeit des Menschen und dem seelischen Ge-
schehen in Raum und Zeit verknüpft. Das Dritte ist für Kleist jener Bereich, der sich
den Vorstellungen entzieht, in denen Satz und Gegensatz, Teil und Gegenteil gelten.
In der Penthesilea wird dieses Dritte gleich zu Eingang des Dramas benannt, und es ist
bezeichnenderweise der auf das diskursive Denken eingeschworene Odysseus, für den
es von seinen Voraussetzungen her das schlechthin Unfaßbare und Unbegreifliche
bedeutet: »So viel ich weiß, gibt es in der Natur I Kraft bloß und ihren Widerstand,
nichts Drittes« (125 f.), heißt es, scheinbar beiläufig, in seinem Bericht. Er bezieht
216 Gegenklassische Wendungen

dieses Dritte auf Penthesilea, kaum daß er ihrer ansichtig geworden ist. Nach den
Gewohnheiten seines Denkens gibt es Freund und Feind, es gibt die Griechen und die
Trojer, und wer sich sonst am Kampf noch beteiligen will, muß sich nach seiner
Auffassung für eine der beiden Parteien entscheiden. Gerade das tut Penthesilea
nicht: sie kämpft mit dem Heer der Amazonen gegen beide Gegner. Insofern ist sie
dieses Dritte gleichsam in Person, die Verkörperung einer Denkform, die das Den-
ken der Griechen übersteigt. Aber solches Anderssein ist nicht ausschließlich aus der
Eigenart des Staates zu erklären, über den sie herrscht: denn auch den Amazonen
bleibt vieles - wenn nicht das meiste - von dem unverständlich, was sie denkt und tut.
Sie ragt aus der Schar der Amazonen heraus wie Achill aus dem Volk der Griechen.
Beide entfernen sich in solchem Herausragen von den Denkweisen, die in ihren
Staaten die üblichen sind. In solchen Entfernungen vor allem sind sie sich ebenbürtig,
bei allen Unterschieden sonst, die es zweifellos gibt. [33] Doch kommt es bezüglich
dieses Dritten nicht so sehr auf Personen an, sondern weit mehr auf Unterschiede in
der Sache: auf die in Gesetzen geordnete Welt einerseits und auf eine nach Gesetzen
nicht berechenbare Welt seelischen Geschehens andererseits.
Von Gesetzen wird im Text des Dramas vor allem mit Beziehung auf den Amazo-
nenstaat gesprochen. Seine Erhaltung, die Art, wie man für Fortpflanzung sorgt und
das heilige Rosenfest gestaltet - all dies und anderes ist in Gesetzen geregelt:

»Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt,


Ein Frauenstaat, den fürder keine andre
Herrschsüchtige Männerstimme mehr durchtrotzt,
Der das Gesetz sich würdig selber gebe.« (1957-60)

Daß auch der Staat der Griechen ein nach Gesetzen geordnetes Staatswesen ist,
versteht sich. Aber hier handelt es sich noch um Gesetze anderer Art: um solche des
Denkens, des logischen Schließens und Folgerns. Was geschieht, muß kausal erklär-
bar sein. Es sind mithin die Gesetze der physikalischen Welt, und es fällt auf, daß in
der Bildsprache Kleists wiederholt eine solche Beziehung hergestellt wird. Die Wen-
dung von »des Gedankens Senkblei« läßt an die Schwerkraft in der Mechanik den-
ken. Ihr wird im Aufsatz Über das Marionettentheater das Antigrave entgegengesetzt.
Damit ist eine Schwerelosigkeit gemeint, wie sie sich im Tanz bezeugt; und daß Pen-
thesilea als tanzend geschildert wird, deutet abermals auf jenen anderen Bereich des
»Dritten« hin. Zwei für Kleists Dichtung so bedeutende Figuren wie Penthesilea und
Käthchen werden als Figuren einer ganz anderen, nämlich seelischen Welt mit mathe-
matischen Zeichen bedacht: sie verhielten sich zueinander wie das Plus und Minus der
Algebra, so lesen wir es in einem der Briefe. [34] Auch im Sinnbild der Eiche, in den
Bildern des Stehens und Sinkens - »Sinke nicht, / Und wenn der ganze Orkus auf dich
drückte!« (1347f.) - sind Vergleiche mit der Mechanik enthalten. Das ist gleicherma-
ßen der Fall, wenn Prothoe ein seelisches Verhalten des Menschen im Bild des
Gewölbes zu verdeutlichen sucht, indem sie Penthesilea ermahnt: »Steh, stehe fest,
wie das Gewölbe steht, / Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!« (1349 f.). Der Zusam-
menhang mit den Würzburger Erlebnissen ist evident. In einem Brief an die Braut,
der diese Erlebnisse rekapituliert, wird das Bild zum erstenmal gebraucht: »Warum,
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 217

dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht,
antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen« (II/593). Wiederholt
werden im Aufsatz Über das Marionettentheater Bilder verwandt, die auf die physikali-
sche Welt verweisen. Von den Puppen wird gesagt, sie hätten den Vorteil, »daß sie
antigrav sind.« Sie wüßten nichts von der Trägheit der Materie, »weil die Kraft, die
sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt« (11/342). Viel-
fach auch wird von der eigenen Situation her ein Zusammenhang zwischen der klassi-
schen Physik und dem seelischen Geschehen hergestellt, wenn es in einem Brief aus
der Zeit des Suchens und Zweifelns heißt: »Denn nichts als Schmerzen gewährt mir
dieses ewig bewegte Herz, das wie ein Planet unaufhörlich in seiner Bahn zur Rechten
und zur Linken wankt, und von ganzer Seele sehne ich mich, wonach die ganze Schöp-
fung und alle immer langsamer und langsamer rollenden Weltkörper streben, nach
Ruhe!« (II/643).
Diese häufig wiederkehrenden Bezüge zwischen physikalischer Welt und psychi-
scher Welt sind viel zu auffällig und zahlreich, als daß man sie übersehen könnte. In
jedem Fall bedürfen sie einiger erklärender Hinweise. In der Art, in der hier be-
stimmte Bilder und Begriffe im eigentlichen Sinne des Wortes von der physikalischen
auf die psychische Welt des Menschen übertragen werden, wird keineswegs die AI-
leingültigkeit der ersteren behauptet. Vielmehr geht es um einen Zusammenhang
von Bereichen je eigenen Rechts: was dort gilt, gilt hier nicht gleichermaßen, aber
beide Bereiche sind nicht losgelöst voneinander zu denken. Daher das berechtigte
Verfahren des Vergleichs und der Übertragung! Der Bereich des Dritten als ein
solcher des Antigraven ist nicht nach Gesetzen zu regeln und im vorhinein zu berech-
nen. Die seelische Welt des Menschen entzieht sich der Verfügung eindeutig geltender
Gesetze, wie sie für das Staatsleben und die Naturwissenschaft bestimmend sind. Die
gelegentliche Bemerkung Prothoes ist zum Verständnis des Dramas von zentraler
Bedeutung, wenn sie sagt: »Es läßt sich ihre Seele nicht berechnen« (1536). Berech-
nen aber ist das, was man im Staat der Griechen wie der Amazonen vor anderem tut;
denn auch im Frauenstaat wird mit Berechnungen der verschiedensten Art operiert.
Es gibt sie unter anderem dort, wo es sie nicht geben sollte: im Bereich seelischen
Geschehens. Die Königin, belehrt Penthesilea den Geliebten, will dem Staat »nach
jährlichen Berechnungen« ersetzen, was ihr der Tod entraffte (2033). Was im Bereich
beider Staaten selbstverständlich ist - daß man etwas beschließt und ergründet - ,
verliert in der psychischen Welt seine Geltung. So kann Penthesilea den Griechen als
eine rätselhafte Sphinx erscheinen, weil der Mensch in seiner seelischen Wirklichkeit
in der Tat ein rätselhaftes Wesen ist - wie wiederum Prothoe zu bedenken gibt: »Und
jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel« (1286). [35] Das Wort »Seele« erhält in diesem
Bereich seine erschließende Bedeutung. Prothoe spricht vom Reichtum der Seele,
Achill von der eigenen Seele, die fragt, wem sie angehört; und wie sehr seelisches
Geschehen als elementares Naturgeschehen zu verstehen ist, bezeugt der Ausdruck
»meiner Seele Donnersturz« (637). Zahlreiche Ausdrücke dieser Art wären anzufüh-
ren. Dieser Bereich des seelischen Geschehens ist der zentrale Bereich des Dramas. In
ihm sind Umschwünge und Umschläge im Verhalten und Reagieren abermals das,
was sich nicht in Gesetzen festlegen läßt. Der jähe und vielfach unvermittelte Um-
218 Gegenklassische Wendungen

schlag von einem Zustand zum anderen wirkt hochdramatisch. Aber das Dramatische
wird nicht durch Handeln bewirkt, obgleich im Hin und Her der Kämpfe mancherlei
geschieht. Dennoch ist Handeln nicht eigentlich der Zweck des Geschehens. Alle
Kampfhandlungen, selbst die aufregendsten, sind nur Mittel zur Darstellung seeli-
scher Vorgänge, damit sich an ihnen und durch sie Unberechenbares im Seelenleben
des Menschen zeigen kann. [36] Anders im Drama Schillers. Hier setzt sich der Han-
delnde seine zumeist hohen Ziele. Er ist von Ideen erfüllt, die er zu realisieren sucht.
Um nichts dergleichen geht es im Drama Kleists. Befragt, was Penthesilea denn
vorhabe, was sie wolle, redet sie Unsinn und spricht von unmöglichem Tun: den Ida
wolle sie auf den Ossa wälzen (1375). Aber dann sagt sie doch, was sie eigentlich will:
»Ich will ihn ja, ihr ewgen Götter, nur / An diese Brust will ich ihn niederziehn!«
(119lf.). Und natürlich meint sie damit keinen anderen als Achill. Aber hohe Ziele
wie der Kampf um das Reich in Schillers Wallenstein oder die Freiheit der Niederlan-
de im Don Kar/os sind es gewiß nicht. So sind denn auch die Umschläge am wenigsten
solche des militärischen und politischen Kalküls, sondern des seelischen Betroffen-
seins; und nicht selten gewahrt man dabei den jähen Wechsel von einem Extrem ins
andere. Derselbe Bericht, den Odysseus erstattet, spricht vom finsteren Blick der
Amazonenkönigin. Bald danach ist von ihrem trunkenen Blick die Rede. Das Wort
»plötzlich« ist zur Darstellung solcher Vorgänge eines der am häufigsten gebrauchten
Zeitadverbien des Dramas. Vom funkelnden Antlitz Penthesileas wird gesprochen,
mit dem sie die Wand mißt, die sie erklettern will. Darin bezeugt sich das wilde, fast
tierhafte Gebaren dieser unvergleichlichen Person. Aber unmittelbar danach verneh-
men wir Verse wie diese:

»Drauf plötzlich jetzt legt sie die Zügel weg:


Man sieht, gleich einer Schwindelnden, sie hastig
Die Stirn, von einer Lockenflut umwallt,
In ihre beiden kleinen Hände drücken.« (288-291)

Eben noch hat sie die ihr treu ergebene Prothoe von sich gewiesen und verstoßen,
als sie sich ihr bald danach liebevoll zuwendet: »Du Bessere, als Menschen sind!«
(876) sagt sie zu ihr; und sie sagt: »Wir heide oder keine« (878). Sie verliert jedes
menschliche Maß, indem sie die Hunde auf denjenigen hetzt, den sie über alles liebt,
und bekennt fast in demselben Augenblick, daß sie ihn an ihre Brust niederziehen
will. Ungeheuerlich kommt uns der Umschlag in den Schlußszenen vor: den Zahn hat
sie derart in die Brust Achills geschlagen, daß ihr Blut von Mund und Händen troff;
so im 23. Auftritt. Aber schon im nächsten streicheln dieselben Hände sanft die
Wange der Vertrauten, wie es die Bühnenanweisungen vorschreiben.
Die Darstellung solcher Umschläge im seelischen Verhalten ist nicht im Sinne eines
Charakterdramas zu interpretieren. Um ein individualpsychologisches Geschehen
handelt es sich keineswegs. Solche Umschläge sind für die psychische Welt im ganzen
charakteristisch, während man in der physikalischen Welt Teil und Gegenteil wie
Schwarz und Weiß auseinanderhalten kann. Hier dagegen vollzieht sich alles in Über-
gängen; die Phänomene erweisen sich als ambivalent - halb Furie und halb Grazie,
wie von Penthesilea gesagt wird. Wenn ihr Gesicht aufflammt, so weiß man nicht, was
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 219

sie bewegt - »wars Wut, wars Scham« (97). Stets liegen die Dinge gefährlich neben-
einander, und von einem Extrem zum andern braucht es oft nur einen Schritt. Das ist
der Sinn des »bloßen Versprechens«, wie es sich Penthesilea enthüllt: »So war es ein
Versehen, Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, /Kann schon
das eine für das andre greifen« (2981-83). [37] Für die Oberpriesterin sind Versehen
bloße Versehen und weiter nichts - also Bagatellen, über die man rasch hinweggehen
kann. Für die erkennende Penthesilea haben sie das Gewicht der Bedrohlichkeit, die
immer auch in der Sprache sich verbirgt; denn sie ist nur der Spiegel einer überaus
gebrechlichen Welt, wie sie Penthesilea - ganz in Übereinstimmung mit Kleist -
nennt. Daß dieselben Wörter unserer Sprache einen mehrfachen Sinn haben können,
weiß vor allem AchilI. Er kommt als einer, der seine Waffen abgelegt hat, und ist ein
Entwaffneter in jedem Sinn, weil er im Innersten getroffen ist. Auch an dem Wort
Gefangenschaft scheint ein solcher Doppelsinn durch. »Er wär gefangen mir?« fragt
Penthesilea unsicher und im Konjunktiv; und Achill gibt ihr die Antwort: »In jedem
schönren Sinn, erhabne Königin!« (1611). Aber Penthesilea versteht das Wort nicht
im schöneren, sondern im realen Sinn und sieht sich getäuscht, weil die Sprache
täuscht. Für die Griechen ist die Sprache in erster Linie ein Mittel, mit dem man
etwas erreichen kann. Ihr Sprachvertrauen stimmt mit ihrem Vertrauen in die Rheto-
rik überein. Wenn sie nicht recht weiter wissen, sind sie bestrebt, ihre Rednerkunst
aufzubieten: »Versuchs, 0 Antiloch, wenns dir beliebt, / Und sieh, was deine redneri-
sche Kunst, / Wenn seine Lippe schäumt, bei ihm vermag« (226-228). [38] Dagegen
werden die Grenzen der Sprache in dem Maße erkennbar, in dem es um Darstellung
seelischen Geschehens geht. Die Blicke Penthesileas sind oft wichtiger als das, was sie
sagt; das gilt auch weithin für AchilI. Daher erhält das Mimische als Gebärde der
Sprachlosigkeit eine zentrale Funktion. Die Szene unmittelbar nach dem Tod Achills
geht fast in eine Pantomime über. Von Penthesilea selbst hören wir kein Wort; wir
vernehmen nur, was über sie berichtet wird. Sie winkt und schaut; danach trägt sie die
Leiche Achills vor die Oberpriesterin, indem sie fortwährend auf sie blickt - »Fest
und unverwandt, / Als ob sie durch und durch sie blicken wollte« (2737). Dann
betrachtet sie den Pfeil, den sie dreht und vom Blute säubert. Im Drama, so sind wir
es gewohnt, geschieht alles, was geschehen kann, durch Sprache. Das ist auch in
dieser Szene der Fall. Es sind die umstehenden Personen, die wir vernehmen. Den-
noch ist es im Blick auf Penthesilea eine Szene der Wortlosigkeit. Die Sprache hat
auch hier ihre bestimmte Funktion: sie soll mit epischen Mitteln sprachloses Gesche-
hen darstellen. Was aber im Inneren des Menschen vor sich geht, ist immer nur von
außen her, daher ungenau und fehlerhaft, zu erfassen. »Was in ihr walten mag, das
weiß nur sie«, sagt Prothoe von Penthesilea (1285). Aber weiß sie es wirklich, und
erfahren wir zuverlässig, daß sie es weiß? Das betrifft die Vorgänge des Unbewußten,
die Schwerpunkte in der Dramatik Kleists bis hin zu seinem letzten Drama, dem
Prinzen von Homburg.
Darstellungen des Unbewußtseins sind im klassischen Drama der geschlossenen
Form eher die Ausnahme als die Regel. [39] Besonders auf Dramen dieses Formtyps
trifft zu, was Erich von Kahler in seiner geistvollen Studie über Untergang und Über-
gang der epischen Kunstform vom Drama generell behauptet: »Handlung geht vom
220 Gegenklassische Wendungen

Willen aus und spielt sich auf dem Felde des Bewußtseins, zumindest auf der Schwelle
des Bewußtseins ab. In das Unbewußte kann das Drama daher, wenn überhaupt, so
nur seicht hinabrühren.« [40] Aber weder das Drama der Moderne noch dasjenige
Kleists hat man angemessen mit solchen Bestimmungen erfaßt, und es sind vor allem
die Traumszenen und die Traumspiele wie diejenigen Strindbergs, die uns in diesem
Punkt eines besseren belehren. Im Drama der Penthesilea haben wir es mit einer
weitgespannten Skala vielfältiger Formen des Bewußtseins wie des Unbewußten, des
Erkennens wie des Verkennens zu tun. Abermals erweisen sich die Übergänge als'
bedrohlich und gefahrvoll. Es gibt sie als solche zwischen Traum und Wirklichkeit,
aber auch zwischen Wirklichkeit und Wahn. Hier wie dort ist es Penthesilea, an der sie
gezeigt werden. Nachdem sie Achill im Kampfe unterlegen ist, flüchtet sie in den
Traum, um in ihm - fast im Sinne Sigmund Freuds - die Erfüllung ihrer Wünsche zu
finden. Aber offensichtlich wird ihr eine solche Wunscherfüllung nicht zuteil. Viel-
mehr hat sie erlebt, was wirklich geschehen ist - aber als Traum. Sie hat einen
entsetzensvollen Traum geträumt, so daß sie sich beglückt fühlt, wieder erwacht zu
sein: »Wie süß ist es, ich möchte Tränen weinen, / Dies mattgequälte Herz, da ich
erwache,lAn deinem Schwesterherzen schlagen fühlen (1557-59)«. Kleist kennt kei-
neswegs nur die romantischen Träume von der Art, wie sie im Käthchen von Heil-
bronn geträumt werden. Er kennt auch die entsetzensvollen Träume, die auf Strind-
berg vorausweisen, der in einer Anmerkung zum Traumspiel das Erwachen aus sol-
chen Träumen ähnlich rühmt, wie es in Kleists Penthesilea geschieht: »Und weil der
Traum meist schmerzlich ist, und nur selten froh, geht ein Ton von Wehmut und
Mitleid mit allem was lebt durch den vorwärts schwankenden Bericht. Der Schlaf, der
Befreier, ist oft grausam, doch wenn die Pein am heftigsten ist, kommt das Erwachen
und versöhnt den Leidenden mit der Wirklichkeit, die, wie qualvoll sie auch sein mag,
in diesem Augenblick doch eine Erleichterung ist, verglichen mit dem schmerzhaften
Traum.« [41] Im Falle Penthesilea bleibt es jedoch keineswegs bei der Süße des
Erwachens. Sie sieht sich von der schmerzlichen Frage nach dem behelligt, was Traum
und Wirklichkeit voneinander unterscheidet, weil sich die Übergänge auf eine gefahr-
volle Art als fließend darstellen: »Du hörsts, es war ja nur ein Traum, es ist nicht -/
Wie! Oder ist es? Ists? Wärs wirklich? Rede! -« (1596f.). Im Fortgang der Szene wird
Penthesilea in der zweideutigen Redeweise ihrer Gesprächspartner - es sind Prothoe
und Achill- in eine traumhafte Situation hineingelockt . Sie wird in der Illusion ihres
Sieges bestärkt und erfährt in ihr vorübergehend das Glück der Liebe. Die konjunkti-
vische Situation des Als-ob ist ambivalent: sie bedeutet Verfehlung der Wahrheit und
Vorwegnahme einer besseren Wirklichkeit zugleich.
Gleichermaßen beunruhigend wie das manchmal ununterscheidbare Ineinander
von Traum und Wirklichkeit ist der Übergang von der Wirklichkeit zum Wahn. [42]
Keine Frage, daß es Psychopathologisches im Verhalten Penthesileas gibt und daß ihr
Verhalten in einigen Szenen so auch verstanden werden soll. Motive wie diese müssen
einer Dichtung nicht abträglich sein, und aus moderner Literatur sind sie ohnehin
nicht mehr wegzudenken. Mit ihr, mit Hofmannsthais Elektra zum Beispiel, hat man
Kleists »Hysterien«, wie sich Gundolf ausdrückt, verglichen. [43] Aber nicht in jedem
Punkt muß man im Umgang mit dem Werk Kleists vorausblicken. Er steht auch
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 221

hinsichtlich solcher Motive in einer Tradition, und dargestellter Wahnsinn ist in der
Tragödie der Griechen nichts Seltenes. In den Bakchen des Euripides ist es Agaue,
deren Wahnsinnstat uns an diejenige Penthesileas erinnert. [44] Im Text Kleists wird
ihr Tun und Verhalten wiederholt als krankhaft bezeichnet. Prothoe spricht vom
Irrgeschwätz ihrer Königin (1486); ihre Tat versteht sie als eine Tat des Wahnsinns,
wenn sie ausruft: »O! Sie ist außer sich -!«; und die Oberste fügt hinzu: »Sie ist
wahnsinnig!« (2427). Aber auch Penthesilea selbst hat ein Bewußtsein von dem, was
ihr wiederfahren ist, von ihrem Außersichsein im Vollbringen der schrecklichen Tat.
Sie spürt, daß die Eumeniden fliehen. Später schränkt sie den wahnhaften Zustand
ein, in dem sie sich befand, als sie die Tat ausführte:»Ich war nicht so verrückt, als
es wohl schien« (2999). Sie wird fähig, Verantwortung im Sinne der tragischen Schuld zu
übernehmen, wie es am Ende geschieht. Die Wahnsinnsmotive des Dramas bezeich-
nen fraglos gefahrvolle Seiten im Gebiet des Unbewußten, im Fall der Penthesilea
eine ans Tierische grenzende Wildheit und Raserei, die man als Katatonie bezeichnen
müßte, wenn man sie psychiatrisch bestimmen wollte. Aber nicht darauf kommt es
an, sondern auf die seelischen Bewegungen, die in der Perspektivik des Dramas den
Menschen auszeichnen. Das Wahnhafte in der Tat der Penthesilea ist nur die unselige
und tragische Folge eines seelischen Geschehens, in dem sich für Kleist das Bild des
Menschen erfüllt. Zur positiven Seite der zahlreichen Unbewußtheiten, die es in
seinem Werk gibt, gehören die Abwesenheiten, in denen seine Figuren wiederholt
gezeigt werden. Achill wie Penthesilea - und auch darin deutet sich »Ebenbürtigkeit«
an - bekennen von sich, im Innersten getroffen zu sein; und in dem Maße, in dem sie
es sind, wird ihnen ihre Umgebung nebensächlich und fremd. Dem Tode oder der
Gefangenschaft noch eben entronnen, bekundet Achill wenig Interesse für das, was
seine Landsleute tun und denken. Auch in dieser Szene wird Wesentliches im sprach-
losen Verhalten zum Ausdruck gebracht: »Achilles [... ] hält den Helm in der Hand
und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Zwei Griechen ergreifen, ihm unbewußt,
einen seiner Arme, der verwundet ist, und verbinden ihn« (492). Seine Rede macht
deutlich, wie weit er sich von der Denkweise der Griechen entfernt hat: »Was ist?
Was gibts?« (493) sagt er, ohne recht bei der Sache zu sein. Der Dialog verläuft
stockend, eine Kommunikation kommt kaum noch zustande; und während seine
Landsleute reden und Pläne schmieden, fällt sein Blick auf die Pferde, und er be-
merkt, daß sie schwitzen. Das Unbewußte als Entferntsein von der Denkweise der
Griechen bezeugt sich im Einklang mit der Kreatur; was sie verbindet, ist Schweiß,
den man an Achill wie an seinen Pferden wahrnimmt. Hier ohne Frage geht es um
eine Art des Unbewußten im Menschen, das ihn erhöht und zu sich selbst bringt, in
den Schwerpunkt der eigenen Person. So auch geschieht es im Falle Penthesileas.
Kaum daß sie Achills ansichtig geworden ist, wendet sie sich an die Griechen mit der
Frage, was sie zu ihr führte. Odysseus hat die Hoffnung, die Amazonenkönigin für
seine Sache zu gewinnen. Er redet auf sei ein; er redet und redet - und muß schließlich
zur Kenntnis nehmen, daß sie ihn nicht hört:
»Ich jetzt, wie wir Argiver hoch erfreut,
Auf eine Feindin des Dardanervolks zu stoßen;
Was für ein Haß den Priamiden längst
222 Gegenklassische Wendungen

Entbrannt sei in der Griechen Brust, wie nützlich,


So ihr, wie uns, ein Bündnis würde sein;
Und was der Augenblick noch sonst mir beut:
Doch mit Erstaunen, in dem Fluß der Rede,
Bemerk ich, daß sie mich nicht hört.« (77-84)
Ihre Abwesenheit in der Art, wie sie nicht hinhört, ist der Ausdruck seelischen
Bewußtseins. Aber noch eben zuvor hatte Odysseus eine völlige Ausdruckslosigkeit
an ihr beobachtet - »Hier diese flache Hand, versichr' ich dich,lIst ausdrucksvoller als
ihr Angesicht« (66f.). Sie ist offensichtlich ihrem Reflektieren zuzuschreiben, womit
sie sich - wenigstens für einen Augenblick - den Denkweisen der Griechen annähert:
»Gedankenvoll, auf einen Augenblick,lSieht sie in unsre Schar, von Ausdruck leer«
(63f.). Die Leere ihres Ausdrucks und die Abwesenheit während der Rede des
Odysseus sind deutbar wie das Plus und Minus der Algebra im Gebiet seelischen
Geschehens. Das sind die Fragen, die im Aufsatz Über das Marionettentheater erörtert
werden, und welche Erhöhung, welche Auszeichnung dem Unbewußten dort zu-
kommt, ist an der Puppe wie am Tier abzulesen - an jenen Figuren also, die ihren
Schwerpunkt in sich selbst haben. Die zentrale Bedeutung dieses Begriffs steht außer.
Frage; und zum Verständnis des Textes ist er unerläßlich. Es heißt: »Jede Bewegung,
sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu
regieren« (11/339). Auch hier haben wir es mit der für Kleist bezeichnenden Metapho-
rik zu tun: mit einer Übertragung von Begriffen und Bildern der physikalischen Welt
auf die psychische Welt des Menschen.

Es sollte deutlich geworden sein: nicht im Gegensatz zwischen dem Amazonenstaat


und dem Staat der Griechen beruht demnach der Antagonismus, der die Dramatik
erzeugt, auch nicht in den Kämpfen, die sich Griechen und Amazonen liefern. Die
Gegensätze und Widersprüche, aus denen sich die Tragik des dramatischen Gesche-
hens entwickelt, brechen in jedem der beiden Staaten auf, und gegenüber dem vor-
dergründigen Gegensatz zwischen Griechen hier und Amazonen dort, entsteht die weit
erregendere Dramatik in der Art, wie Penthesilea und Achill zu ihrer Umgebung in
Widerspruch geraten. Beide werden sie exponiert und isoliert. Sie werden herausra-
gende Einzelne in einem tragischen Sinn, und sie wären schon aufgrund solcher Über-
einstimmung füreinander bestimmt, um die Gegensätze gemeinsam zu bestehen. Daß
sie auf eine so entsetzliche Weise wiederholt gegeneinander antreten, daß Kampf ist,
wo Liebe sein sollte, ist nicht ausschließlich aus dem Gegensatz zwischen Frauenstaat
und Männerstaat zu erklären. Vielmehr ist dieser Gegensatz selbst nur der sichtbare
Ausdruck einer gespaltenen Welt. Die Natur hat die Geschlechter füreinander be-
stimmt, aber die »Kultur« - der Staat und seine Gesetze - haben getrennt und gespal-
ten. Aufgrund solcher Spaltungen vor allem kann das dramatische Geschehen in die
Tragödie einmünden. Von ihnen ist der Mensch in seinem Denken wie in seinem
Fühlen betroffen. Der Wunsch des Dorfrichters im Zerbrochnen Krug ist symptoma-
tisch für die Lage des Menschen und die gebrechliche Welt, wie sie sich Kleist darstel-
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 223

len. »Ich will von ungespaltenem Leibe sein« (1232) sagt er, scheinbar beiläufig, in
einem Dialog mit dem Gerichtsrat. Auch im Text der Penthesilea wird bezeichnender-
weise von Spaltung gesprochen, und nicht zufällig mit Beziehung auf Penthesilea
selbst. Sie rennt kämpfend mit ihrem Heer gegen die Griechen an - »Als wollte sie
den ganzen Griechenstamm / Bis auf den Grund, die Wütende, zerspalten« (146f.).
Von der Möglichkeit des gespaltenen Menschen spricht Prothoe, und sie mahnt Pen-
thesilea, trotz solcher Möglichkeiten nicht zu wanken und festzustehen:

»Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich,


Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft!
Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
Nicht aber wanke in dir selber mehr ... « (1351-54)

Aber was Prothoe als Möglichkeit in ihre Mahnung einbezieht, ist im Grunde die
Wirklichkeit, der sich Penthesilea, wie ähnlich Achill, gegenübersieht, ohne sie schon
in ihrer Beschaffenheit zu durchschauen. Die zerreißenden Widersprüche und Parado-
xien, die den tragischen Vorgang begleiten und vertiefen, sind nur der Ausdruck
solcher Spaltungen, die das innerste Gefühl nicht verschonen. Nicht wenige Interpre-
ten Kleists stimmen darin überein, daß dem Drama Erfahrungen wie diese zugrunde
liegen. Die unzugängliche Schroffheit der Amazonenkönigin, hat man gesagt, ent-
wachse einer inneren Spaltung und Verwirrung, über die sie nicht mehr Herr werde;
mit gespaltener Seele versuche sie das Unmögliche. [45] Von einer Spaltung der
Identität ist die Rede, von tragisch gespaltener Wirklichkeit oder von tiefer Gespal-
tenheit des Amazonenwesens, »dessen verborgene Sehnsucht und Naturbestimmung
es ist, sich selbst ad absurdum zu führen.« [46] Der in Penthesilea verborgene Wider-
spruch, so urteilt Benno von Wiese, löse die Einheit ihres Wesens auf; das Ich werde
in zwei entgegengesetzte Hälften auseinandergerissen: »In dieser tragischen Selbst-
Zerreißung gerät der Mensch in jenen Zustand des Wahnsinns [... ]. Solcher Wahn-
sinn ist wie ein Zerbrechen der bisher gelebten Einheit, weil es die gefolterte und in
die Extreme von Ober- und Unterbewußtsein gespaltene Seele nach einer Wahrheit
verlangt, die beides durchdringt.« [47] Der Prozeß solcher Spaltungen wird mit der
Gründung des Amazonenstaates fortgesetzt und vertieft. Ein von Männern beherrsch-
ter Staat hat die Gründung dieses Frauenstaates verschuldet. Wenn daher von Pen-
thesileas gespaltener Seele oder von einer tiefen Gespaltenheit des Amazonenwesens
gesprochen wird, so vor allem deshalb, weil sie vor anderen Gestalten des Dramas in
besonders tragischer Weise davon betroffen ist. Aber auch für Achill trifft dies zu, und
das zeigt abermals an, daß der entscheidende Punkt nicht im Amazonenstaat, sondern
in den Voraussetzungen liegt, die zu seiner Gründung führten. Im Grunde sind beide
Hauptfiguren außerstande, unverfälscht auszusprechen, was sie im Innersten bewegt
und wonach es sie verlangt. Achill spricht von Kampf, Sieg und Unterwerfung, wenn
er sein Liebesverlangen zu artikulieren sucht. So kommt es zu jenen Exzessen sprachli-
chen HandeIns, das die schneidenden und entsetzlichen Widersprüche hervortreibt.
Der Sprache wird Äußerstes zugemutet; in hochpoetischen Redeformen wird
Schreckliches mitgeteilt: »Brautwerber schickt sie mir, gefiederte,lGenug in Lüften
zu, die ihre Wünsche/ Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen« (596-598). Das Thea-
224 Gegenklassische Wendungen

ter der Grausamkeit ist kaum noch zu überbieten, wenn er Penthesilea zu seiner Braut
zu machen gedenkt, um sie - »die Stirn bekränzt mit Todeswunden« (614) - durch die
Straßen zu schleifen. Die von entsetzlichen Widersprüchen geprägten Bilder finden in
der Redeweise Penthesileas ihr Analogon. Auch sie spricht von Kampf und Sieg und
Unterwerfung, wenn sie sich nach Liebe sehnt: »Die Lust, ihr Götter, müßt ihr mir
gewähren,!Den einen heißersehnten Jüngling siegreich! Zum Staub mir noch der
Füße hinzuwerfen« (844-846). Was Kleist auszusprechen gelingt, ist in seiner Zeit auf
diese Weise kaum versucht worden. Seine Sprachkraft ist ohne Vergleich; denn auch
Entsetzliches, von dem wir als Leser und Zuschauer Kenntnis erhalten, verhindert
nicht die Poesie, die oft in schwelgerischen Bildern das Geschehen übertönt. Da wird
Penthesilea eine Todumschattete genannt, von Todeswunden spricht Achill, indem er
an sie denkt. Ihn wiederum will eine der Amazonen den Kuß des Todes schmecken
lassen, und wenn er von der Amazonenkönigin endlich erfahren hat, wie sie heißt,
wird seine Erwiderung zur reinsten Poesie: »Mein Schwan singt noch im Tod: >Penthe-
silea«< (1829). Das Schöne ist hier wirklich des Schrecklichen Anfang, und das
Schreckliche findet sein Ende im Schönen. Das eine liegt dicht neben dem andern: die
blühenden Wangen neben dem Kot, aus dem sie stammen (1246). Das Poetische
behauptet immer erneut sein Recht gegenüber allen Schrecken. Aber zugleich sind die
Bilder der Spiegel eben jener Welt, die man sich im dichterischen Weltbild Kleists als
eine gespaltene und gebrechliche zu denken hat. [48] Das zeigt vor anderem die nicht
selten kühne und gewagte Metaphorik, die wiederholt, vor allem in neuerer Zeit, das
Interesse der Interpreten fand. [49].
Die wiederkehrenden Bilder in der Metaphorik der Penthesilea sind die Tierbilder
mit Beziehung auf die handelnden Personen. Wo es entfesselte Leidenschaften auszu-
drücken gilt, geschieht es zumeist mit Hilfe solcher Bilder: »Hetzt alle Hund' auf ihn!
Mit Feuerbränden / Die Elefanten peitschet auf ihn los!« (1170f.). Penthesilea vor
anderen wird mit Tieren in Verbindung gebracht. Sie evozieren elementare Wildheit
wie das gefleckte Tigerpferd, von dem sie Achill herunterreißen soll. Sie selbst wird
von den Griechen mit einer hungerheißen Wölfin verglichen. Die Tierbilder münden
in eine vielschichtig entwickelte Jagdmetaphorik ein. Die Entartungen des Denkens,
daß es Menschen sind, die sich wie Tiere jagen und hetzen, werden hier in besonderer
Weise offenkundig. Doch werden Metaphern wie diese nicht nur auf Penthesilea und
Achill bezogen. Sie werden auf alle angewandt, die hier agieren. So gleich eingangs,
wenn wir hören, daß die beiden Heere »Wie zwei erboste Wölfe sich umkämpfen« (5).
Das Gegenbild ist mit Achills Anteilnahme an den schwitzenden Pferden gegeben. Sie
deuten Einklang und Einvernehmen an. Demgegenüber werden den Bildern aus der
Raubtierwelt entgegengesetzte Funktionen übertragen: solche eben der Trennung
und der Spaltung. Daß Personen mit anderem in Beziehung gesetzt und verglichen
werden, mit Tieren und Dingen, zeigt an, daß sie mit dem Verglichenen nicht iden-
tisch sind, daß Abstand und Trennung zwischen ihnen liegen: »Sie fliegt, wie von der
Senne abgeschossen: lNumidsche Pfeile sind nicht hurtiger!/Das Heer bleibt keu-
chend, hinter ihr, wie Köter« (399- 401). Die zahlreichen Als-ob-Konstruktionen
haben dieselbe Funktion. »Ists nicht,!Als ob sie, heiß von Eifersucht gespornt,! Die
Sonn im Fluge übereilen wollte« (1059--61), sagt eines der Amazonenmädchen und
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 225

meint damit Penthesilea. Die Redeform - als ob etwas so wäre - beschreibt wieder-
holt extreme Handlungen und Verhaltensweisen bis zum Unmöglichen hin, denn eine
Unmöglichkeit ist es ohne Frage, wenn man die Sonne im Flug übereilen will. Die
Bildstruktur ist stets die gleiche: die im Als-ob verglichenen Dinge bezeichnen ein
Außersichsein des Menschen, das es ihm verwehrt, mit dem Verglichenen identisch zu
sein. [50] Daher ist es verfehlt, weil begrifflich ungenau, von Symbolik bei Kleist zu
sprechen. Sie setzt im Sinne Goethes und der Goethezeit das Vorhandensein eines
Weltganzen voraus, ein Zusammenfallen des Besonderen im Allgemeinen; und wo es
eine solche Ganzheit gibt, da ist auch Glück. Der glückliche Mensch ist in der Schrift
über Winckelmann und sein Jahrhundert derjenige, der als ein Ganzes wirkt und der
sich in der Welt »als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt.«
Ein derart glücklicher Mensch war Kleist sicher nicht. Klassische Symbolkunst war
offensichtllich nicht mehr seine Sache. Die Vorstellung einer gebrechlichen und ge-
spaltenen Welt verhindert das Symbol. Im Bild der gespaltenen Welt oder der Ge-
spaltenheit des Menschen beruht vielleicht die größte Differenz zur antiken Tragödie.
Wenn in ihr das nicht selten schreckliche Geschehen sein Ende in der Katastrophe
gefunden hat, weiß sich der Zuschauer noch immer einem übergreifenden Zusam-
menhang - der Polis oder der Götterwelt - eingefügt. Der modemen Tragödie sind
solche Zusammenhänge nicht mehr selbstverständlich vorgegeben. Sie macht daher
gern die Gespaltenheit zum Grund des tragischen Geschehens - nicht zufällig dort, wo
Gestalten der griechischen Tragödie auf der Bühne des modemen Theaters wieder-
kehren. Hans Henny Jahnns Medea ist eine solche Tragödie der Gespaltenheit. Die
weiße Rasse steht gegen die schwarze, die Welt des Mannes gegen die Welt der Frau.
»Wir sind gespalten«, sagt eine Figur des Dramas, indem sie das Geschehen kommen-
tiert; ähnlich an anderer Stelle:

»Die Götter haben


den Fall dieses Hauses beschlossen. Grün
brennt die Flamme, in vier Teile gespalten,
das Feuer des heiligen Herdes.« [51]

Näher liegt es, in diesem Zusammenhang auf HofmannsthaIs Elektra hinzuweisen.


Auch hier verbindet sich das Bild gespaltenen Menschentums mit einer ähnlichen
Tiermetaphorik wie in der Penthesilea. In einer Aufzeichnung HofmannsthaIs findet
sich der Satz: »Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte Welt sehnt
sich nach Einheit. Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden.« [52] Das hört sich
an, als hätte man es mit einem Mythos der Modeme zu tun, eben demjenigen der
zerstückelten und gespaltenen Welt. Auch Kleists Bild der Welt, seine Vorstellung
vom unseligen Reflektieren und vom gestörten Bewußtsein , läßt an einen um 1800
neuartigen und modemen Mythos denken, an denjenigen des Sündenfalls; und sofern
man dabei an einen geschichtslosen Mythos denkt, könnte ein zeitloses Schicksal
daraus abgeleitet werden. Die physikalische Welt, die Welt der Gesetze, stünde
schicksalhaft gegen jenes »Dritte« als dem Bereich seelischen Geschehens, so daß im
Hinblick auf die Penthesilea (mit Gerhard Fricke) gefolgert werden könnte: »Kein
Hauch des den Dichter immer stärker beanspruchenden Zeitgeschehens ist darin
226 Gegenklassische Wendungen

spürbar.« [53] Aber hier gilt es innezuhalten und zu überprüfen, in welchem Ausmaß
das eigentlich schicksalhaft ist, was hier geschieht. Das führt zugleich zur Frage nach
dem tragischen Sinn des Geschehens.
Tragisch ist dieses Geschehen insofern, als Penthesilea und Achill von der so
beschaffenen Welt nichts wissen und auch kaum wissen können. Dennoch ist solche
Unwissenheit nicht unabänderlich und schicksalhaft. Es ist von den Denkgewohnhei-
ten der Welt bzw. der Staaten geprägt, aus denen die Gestalten des Dramas kommen
und von denen sie sich nur schwer zu lösen vermögen. Die Denkgewohnheiten, die so
maßgeblich das Geschehen bestimmen, sind mit anderen Worten solche der Men-
schen. In der Denkweise der Griechen wie der Amazonen sind Natürlichkeit, Unmit-
telbarkeit und Gefühl verkümmert. Das weite Land der Seele ist zu einer Terra
incognita geworden. Sie bleibt unbekannt und unerkannt, aber nicht unerkennbar. Es
gibt Stationen auf dem Weg zu Einsicht und Erkennen. Achills Bedenken gegenüber
dem Amazonenstaat ist ein erster Schritt. Das Gesetz, das diesem Staat zugrunde liegt,
nennt er unweiblich und unnatürlich, dem Geschlechte der Menschen fremd. Keines-
wegs ist ihm bei solchem Verhalten Unverständnis vorzuwerfen. Seine Kritik ist viel-
mehr Teil der tragischen Analysis. Auch in Penthesilea bereitet sich in mehreren
Schritten die Einsicht vor, die am Ende zur Lösung vom Amazonenstaat führt. »Denk
ich bloß mich, sinds meine Wünsche bloß,IDie mich zurück aufs Feld der Schlachten
rufen?« (682f.) fragt sie; und die Antwort kann nur lauten: Es liegt nicht nur an ihr,
daß sie diese Tat auf sich geladen hat. Es ist nicht allein oder am wenigsten ihre
Schuld, wenn sie eine Greueltat wie diese begehen konnte. Ihre Frage: »Ists meine
Schuld, daß ich im Feld der SchlachtJUm sein Gefühl mich kämpfend muß bewer-
ben?« (1187 f.) besteht zu Recht. Es ist nicht allein ihre Schuld, daß menschliches
Gefühl so unselig mit Kämpfen und Bewerben verknüpft wird, wie es geschieht. Hier
handelt es sich auch um die Schuld derer, die wie die Oberpriesterin und andere
Verantwortliche des Amazonenstaates nicht zum Bewußtsein ihres falschen Bewußt-
seins gelangen. Penthesilea bleibt in einer solchen Verkennung nicht befangen, wenn
sie sich isoliert und von diesem Staate zunehmend entfernt. Das heißt zugleich, daß sie
Verantwortung für das Geschehene übernimmt. Die Bewußtseinsprobleme, um die
es geht, sind kompliziert; vor allem sind sie paradox. Menschliches Gefühl als ein
Bereich des Unbewußten soll unverstellt von Berechnung, Kampf und Bewerbung
verstanden werden. Im Akt des Bewußtwerdens gilt es Unbewußtes in seinem Wert zu
erkennen. Den eigentümlich dialektischen Erkennungsprozeß, der hier vorliegt, hat
Kleist in dem Prosastück Von der Überlegung beschrieben, das er nicht ohne Grund
eine Paradoxe nennt. In einer fiktiven Mahnrede an den eigenen Sohn führt das Ich
dieser Prosa aus: »Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher
nach als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung
selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem
herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken; dagegen sich
nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen läßt, zu
welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen [... ] bewußt
zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren« (1I/337). Genau
dies geschieht im Drama der Penthesilea: Ihr »herrliches Gefühl« wird von Überle-
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 227
gungen und Reflexionen überlagert. Es wird verwirrt, gehemmt und unterdrückt.
Aber Überlegung und Reflexion sind nicht einfach auf einen abstrakten und zeitlosen
Mythos zu reduzieren. Sie verstehen sich aus der Zeit heraus: in Hinsicht auf den
Staat, wie er nun einmal ist. Insoweit kann von Schicksal kaum die Rede sein; denn es
sind die Denkgewohnheiten innerhalb dieser staatlichen Welt, die ihrerseits das seeli-
sche Verhalten der Menschen regulieren; und daß sie »reguliert« werden können,
heißt: daß sie veränderbar sind. Die innerhalb des Dramas entwickelte Gesellschafts-
kritik macht alle Schicksalsmythen hinfällig. [54] Hier ist Veränderung denkbar -
aber eine solche, für die in erster Linie der einzelne zu gewinnen ist.

Denn Kleists Penthesilea ist unbeschadet der radikalen Gesellschaftskritik zugleich


eine Tragödie der Individualität in mehr als einem Sinn. Sie ist es zunächst als Tragö-
die, aber das gilt für diese Kunstform weithin und generell. Keine Gattung der Litera-
tur, von bestimmten Formen der Lyrik allenfalls abgesehen, ist derart auf Individuali-
tät bezogen wie das tragische Drama; besonders dann, wenn es um Prozesse des
Erkennens geht, die der tragischen Person aufgegeben sind. Tragische Analysis und
Psychoanalyse haben diese Bezogenheit auf Individualität gemeinsam. Aber im Dra-
ma kommt ein weiteres hinzu: nichts Geringeres als jene tragische Schuld, die nur von
einer individuellen Person angenommen werden kann. Schuld, welche immer es sei,
ist niemals kollektivierbar. Sie setzt Verantwortung voraus, die in Kleists Drama
Penthesilea übernimmt. In diesem Sinn ist Individualität eine Frage der dramatischen
Form und der Struktur der Tragödie. Im Drama der Penthesilea ist sie es auf beson-
dere Art. Wenn sie eine Art Vereinigung mit Achill vollzieht, indem sie sich den Tod
gibt, ändert sich am staatlichen und gesellschaftlichen Leben unmittelbar nichts. [55]
Die Gesellschaftskritik, die mit dem Ende des Dramas bekräftigt wird, bleibt ohne
sichtbaren Erfolg. Dennoch ist damit nichts Unabänderliches geschehen. Aber was
sich verändern soll, muß vom einzelnen ausgehen und bewirkt werden - wie es
ähnlich in Schillers Konzeption der ästhetischen Erziehung des Menschen vorgesehen
ist. Die offensichtlich erfolglose Gesellschaftskritik wird aufgewogen von der Art, wie
innerhalb des Dramas der tragische Vorgang gedeutet wird. Diese Deutung wird in
erster Linie der Vertrauten Penthesileas übertragen. Weithin in Übereinstimmung
mit dieser ist Prothoe innerlich an dem beteiligt, was am Schluß geschieht; sie erhält
auch das letzte Wort. Es sind jene herrlichen Verse, in denen nicht nur verstehend
nachvollzogen wird, was sich soeben ereignet hat, sondern auch der Sinn im schein.bar
Widersinnigen erkannt und verkündet wird; denn darauf läuft hinaus, was Prothoe
abschließend sagt:
"Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.« (3040-43)
228 Gegenklassische Wendungen

Es ist nötig, sich zu vergegenwärtigen, was diese Deutung innerhalb der Tragödie
bedeutet. Die »versöhnende Schicht«, die es in der Ästhetik der Tragödie geben muß,
erweitert sich über das hinaus, was die tragische Person tut und spricht. [56] Nicht nur
durch Reden und Handeln Penthesileas wird Sinn erschlossen. In Prothoes Wort wird
das tragische Geschehen Thema und Motiv. Dies geschieht mit Hilfe der Eiche als
eines Sinnbildes, dem fraglos leitmotivische Bedeutung zukommt. [57] Mit diesem
Bild ist die Mahnung verknüpft, im Sturm zu stehen, auch wenn alles ringsumher
wankt oder zu stürzen droht. Damit ist ein tragischer Glaube verbunden, der über alles
Berechenbare, Begreifbare und Augenfällige hinausweist. Vom »Augenfälligen« her
müßte das Gewölbe stürzen. Aber es steht, nicht obwohl - sondern »weil seiner
Blöcke jeder stürzen will!« (1350). Der Sinn, daß etwas steht, weil alles stürzen will, ist
im Paradox formuliert; und das gilt gleichermaßen für einen weiteren Sinnbezug im
Bild der Eiche: daß das Kraftvolle und Gesunde so leicht stürzt, weil es dem Sturme in
stärkerem Maße ausgesetzt ist als das schon Abgestorbene - es seien Eichen oder
Menschen. In beiden Deutungen geht es um einen Sinn, den die faktische Wirklich-
keit zu widerlegen scheint. Es ist unschwer abzusehen, wie das stolze und kräftige
Blühen auf den Fall der Penthesilea zu beziehen ist. Das Pathologische ihrer Hyste-
rien, wenn man es mit Gundolf so bezeichnen will, ist nur die ins Extrem umgeschla-
gene Folge seelischer Fülle und seelischen Reichtums. Das schon abgestorbene Leben
ist eines solchen Außersichseins nicht fähig. [58] Es sind vor allem Paradoxien wie
diese, die Adam Müller im Auge hat, wenn er den Freund Friedrich von Gentz für
Kleists Tragödie zu gewinnen sucht: »Sie mein Freund, reden unserm ökonomischen
Vortheil das Wort, und mißrathen uns die Paradoxien, z. B. die anscheinende der
Penthesilea. Wir dagegen wollen, es soll eine Zeit kommen, wo der Schmerz und die
gewaltigsten tragischen Empfindungen, wie es sich gebührt, den s~ gerüstet
finden, und das zermalmendste Schicksal von schönem Herzen begreiflich, und nicht
als Paradoxie empfunden werde. Diesen Sieg des menschlichen Gemüths über kolos-
salen, herzzerschneidenden Jammer hat Kleist in der Penthesilea als ein ächter Vor-
fechter für die Nachwelt im Voraus erfochten.« [59] Der tragische Glaube, der sich in
dieser Deutung äußert, ist unverkennbar zukunftsorientiert; und er zielt, nicht weniger
unverkennbar, auf den einzelnen, damit er sich denkend verändert und im Lebens-
kampf gegenüber dem zermalmendsten Schicksal besteht, wenn alles um ihn her
wankt. Ein solches an der Zukunft orientiertes Menschenbild ist mit Schillers Pro-
gramm einer ästhetischen Erziehung vergleichbar. Aber gegenüber Schiller und seiner
Philosophie des Schönen fällt in Adam Müllers Deutung auf, wie diesem - und doch
wohl auch Kleist - anderes wichtig ist: der Schmerz, das zermalmende Schicksal, der
herzzerschneidende Jammer.
Schließlich hat die Beziehung auf Individualität in Kleists Penthesilea einen unver-
kennbar autobiographischen Aspekt. Er beruht in der deutlich ausgesprochenen Nei-
gung, sich selbst mit dem tragischen Geschehen zu identifizieren. Will man diese
Neigung an Personen verdeutlichen, so wäre Prothoe mit wenigstens demselben
Recht zu nennen wie Penthesilea. Denn sie vor allem spricht aus, was alles Kleist auf
seinem Weg zur Dichtung in den Briefen dieser Jahre ausgesprochen hat. Auch das
Schlußwort ist hier bereits, mit nur geringfügigen Veränderungen im Wortlaut, zu
Kleists Penthesilea im Kontext der deutschen Klassik 229

finden. »Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende
stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann« (111678), heißt es in einem Brief aus dem
J abre 1801. Dieser Zusammenhang zwischen Biographie und dramatischem Werk gibt
dem Drama das Gewicht einer dichterischen Selbstaussage, die der Erläuterung be-
darf. [60] Sie bestätigt sich in jenem bewegenden Brief an Marie von Kleist, dessen
Wortlaut bekanntlich umstritten ist: »Unbeschreiblich rührend ist mir alles, was Sie
mir über die Penthesilea sagen. Es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin, und Sie
haben es wie eine Seherin aufgefaßt: der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner
Seele«; so hat Ludwig Tieck den Text des Briefes überliefert. [61] Daß hier Dichtung
der eigenen Existenzgewinnung und Existenzsicherung dient und dienen kann wie
ähnlich im Falle Hölderlins, ist kaum zu übersehen. Sie wird zum Halt in einer Welt, in
der alles zu stürzen droht - fast zum einzigen: » Wenn ich dichten kann«, teilt Kleist
eines Tages seinem Verleger Cotta mit, »d. h. wenn ich mit jedem Werke, das ich
schreibe, so viel erwerben kann, als ich notdürftig brauche, um ein zweites zu schrei-
ben; so sind alle meine Ansprüche an dieses Leben erfüllt« (111814); und betont
lapidar gegenüber dem Freund Rühle von Lilienstern: »Ich dichte bloß, weil ich es
nicht lassen kann« (111769).
Im Blick auf das, was hier geschieht und was selbst der heutige Zuschauer womög-
lich als Zumutung auffassen könnte, falls er das Drama einmal auf der Bühne zu sehen
bekommt, stellt sich die goethezeitliche Frage, was Humanität hier noch eigentlich
heißt oder heißen kann. Denn von Iphigenie und Helena, diesen Verkörperungen
deutscher Klassik, hat sich Kleist mit seiner Penthesilea denkbar weit entfernt. [62]
Dazwischen liegen weltgeschichtliche Ereignisse, die nicht wenige seiner Zeitgenossen
aus ihrer Bahn geworfen haben. Die von Grund auf veränderte Situation wird in
einem Brief aus dem Jahre 1805 umschrieben, ehe das Drama der Penthesilea ausge-
arbeitet wurde: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu
wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben« (111
761). Man blickt in ein Niemandsland, in dem die alte Ordnung nicht mehr gilt, aber
eine neue noch nicht in Geltung ist. Es sieht ganz so aus, als würden von Kleist auch
die Lehren und Ideen der deutschen Klassik dieser alten Ordnung zugerechnet; als
hätten sie für ihn nur noch wenig zu bedeuten. Wenn sich Penthesilea zu fassen
versucht und versichert, es mit Grazie tun zu wollen, so bedient sie sich eines uns aus
der Klassik geläufigen Begriffs. »Es sind Worte eines angelernten Vernünftigseins«,
hat man zutreffend gesagt. [63] So überrascht es nicht, wenn man feststellt, daß sich
das Wort Humanität, das in der Zeit der Aufklärung und der Klassik eine Art Schlüssel-
begriff gewesen war, in diesen Schriften nirgends findet. Aus den Schriften Lessings,
Herders oder Goethes ist es nicht wegzudenken. Gelegentlich wird von Kleist das
Adjektiv >human< gebraucht, aber bezeichnenderweise als ein Zitat Mirabeaus. [64]
Die Begriffe >menschlich< und >Menschlichkeit< wie ihre Gegenbegriffe gibt es durch-
aus; sie finden sich an markanten Stellen seiner Erzählungen. Daß der Junker von
Tronka die Pferde des Michael Kohlhaas zur Feldarbeit benutzt hat, empört den
Roßhändler außerordentlich. Er stellt ihn zur Rede und setzt hinzu, »ob das wohl
menschlich wäre?« (II/14). In der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo widersetzt
sich Toni der eigenen Mutter mit den Worten: »Die Unmenschlichkeiten, an denen
230 Gegenklassische Wendungen

ihr mich Teil zu nehmen zwingt, empörten längst mein innerstes Gefühl« (11/177). Daß
uns solche Wendungen im Zusammenhang einer konkreten Erzählsituation begegnen,
ist kein Zufall. Aber Situationen wie diese zu definieren oder auf einen Begriff zu
bringen, lag Kleist sehr fern. Vielleicht war auch das Wort >Humanität<, als Begriff
und Idee, in seinem Verständnis schon zur Lehre geworden, zum Bildungsbesitz, der
das ursprünglich Gemeinte verstellt und verfälscht. Dennoch kann es nicht zweifelhaft
sein, daß seinem Denken und Dichten ein Bild des humanen Menschen zugrunde
liegt, das ihn leitet. Die zentralen Begriffe sind ihm Natur, natürliche Grazie, Unmit-
telbarkeit und vor allem jenes herrliche Gefühl, von dem in dem Prosatext Von der
Überlegung gesagt wird, daß es verwirrt, gehemmt und unterdrückt werden kann. Es
sind die Bereiche des Seelenlebens und des seelischen Ausdrucks, die im Verständnis
Kleists den Rang des Menschen verbürgen; und wenn er von Seele spricht, so meint
er in der Hierarchie der Werte zumeist einen der höchsten. Damit werden Vernunft,
Bewußtsein und Geist nicht zu Widersachern der Seele erklärt. Aber die Einheit des
Unbewußten mit dem Bewußtsein erscheint auf vielfache Weise bedroht. Die Mächte
und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, die das »herrliche Gefühl« unter-
drücken oder verwirren, werden Gegenstände einer vielfach radikalen Kritik, und der
Antagonismus zwischen gesellschaftlichem Leben und seelischem Leben wird zumeist,
wie in der Penthesilea, tragisch gedeutet. Die Idee der reinen Menschlichkeit, die alle
menschlichen Gebrechen sühnt, ist einem anderen Bild des Menschen gewichen, wie
es die letzten Verse zum Ausdruck bringen, wenn er eine der Figuren sagen läßt:
»Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!« (3037)
3. Brentanos naive und sentimentalische Poesie [1]

Der Schwierigkeiten, denen sich die Lyrik in unseren aufgeklärten Zeiten gegen-
übersieht, war sich Schiller deutlich bewußt. Davon handelt die Rezension der Ge-
dichte Bürgers. In ihr ist vom philosophierenden Zeitalter die Rede, das anfange, mit
Gleichgültigkeit auf die Spiele der Musen herabzusehen. Die dramatische Dichtung
wie ähnlich die erzählende bleibe noch immer mit der »Einrichtung des gesellschaftli-
chen Lebens« im Bund; dagegen sei der >>Verfall der lyrischen Dichtkunst« offenkun-
dig in dem Maße, in dem sie unverbindliche Gesellschaftskunst zu werden droht.
Dennoch erkennt ihr Schiller in diesen »so unpoetischen Tagen« eine würdige Be-
stimmung zu. In der arbeitsteiligen Welt, in der wir leben, - »die Absonderung der
Berufsgeschäfte« - sei es die Dichtkunst beinah allein, und man darf ergänzen: die
Lyrik in besonderer Weise, »welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder-
herstellt.« Die Wiederherstellung menschlicher Totalität ist ein zentraler Gedanke in
Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung und ein geschichts-
philosophischer Gedanke zugleich, der die Einseitigkeit des »philosophierenden Ver-
standes« einschränkt. Mit solchen Bestimmungen der Lyrik - so sieht es Schiller -
könne ihrem Verfall entgegengewirkt werden; dazu wäre es aber erforderlich, »daß
sie selbst mit dem Zeitalter fortschritte, dem sie diesen wichtigen Dienst leisten soll.«
[2] Schiller denkt entschieden historisch. Er dringt auf Bewußtseinswandel, und eine
Kunst derart historisch, derart mit dem Zeitalter fortschreitend zu verstehen, kann
nur heißen, daß sie mehr und anderes zu sein hat als nur der Ausdruck persönlicher
Gefühle. Alles nur Persönliche und womöglich Private ist nicht in Schillers Sinn.
Auch davon handelt die Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung: statt dem
Objekt und dem Werk den Vorrang zu geben, sei es üblich geworden, »in dem Werke
den Dichter zuerst aufzusuchen, seinem Herzen zu begegnen.« [3]
Es sind aber vornehmlich solche Auffassungen von Lyrik, die sich bei uns eingebür-
gert haben; und neben derjenigen des jungen Goethe ist es zumal die romantische
Lyrik, die zum Paradigma lyrischer Dichtung überhaupt wurde. In Clemens Brentano
sah man den Typus einer solchen Poesie, die man gewissermaßen im Zeitlosen und
Weltlosen ansiedelt, als habe sie mit Geschichte ein für allemal nichts zu tun. Und da
sie als eine vorwiegend persönliche Dichtung verstanden wird oder verstanden wurde,
konnte es nicht ausbleiben, daß man häufig die Person tadelte, wenn man an ihren
Schöpfungen mancherlei auszusetzen fand. Von »Untugenden« und »Unarten« Bren-
232 Gegenklassische Wendungen

tanos ist da die Rede, und das betrifft den Dichter so gut wie seine Poesie.[4] Daß er
sich gar mit dem Volkslied eingelassen habe, wurde ihm noch in jüngster Zeit als eine
seiner »Unarten« vorgehalten: »Darum ist es aber auch nicht zu verwundern, daß die
Lyrik Brentanos [... ] die Unarten des Volksliedes teilt [... ] Was aber war Brentano
damit anderes als der reinste Typus jenes dilettantischen Spielmanns, den wir auch als
den idealen Schöpfer der alten Volkslieder betrachten und der sich in dem modernen
Romantiker noch einmal wiederholt?«[5] Ein derart mangelhaftes Verständnis ist nun
der jüngeren Brentano-Forschung gewiß nicht nachzusagen. Man hat begriffen, was
man an dieser Dichtung haben kann; und daß Brentano unter allen Lyrikern deut-
scher Sprache am meisten Musik im Leibe habe, wie Nietzsehe gesagt hat, wird ihm
seit längerem bereitwillig zugestanden. [6] Aber der Prototyp jener romantischen Ly-
rik, als einer gleichsam zeit- und weltlosen Poesie, ist er zum Teil bis zum heutigen Tag
geblieben. Diesen Auffassungen zufolge kommt dem lyrischen Dichter kein besonde-
res Verdienst zu an dem, was er tut. Der lyrische Dichter leistet nichts; so steht es in
den Grundbegriffen der Poetik. [7] Brentanos Lyrik entspricht ganz diesem Bild. Auch
von ihr wird gesagt, daß ihm alles nur so zufalle. »Die Zunge, die diese Sprache
spricht, hat nichts zu bewältigen.« [8] Seine Leistung beruhe lediglich darin, daß er
den Zauber, der seiner Sprache innewohnt, nicht stört: »So ist man denn versucht zu
sagen: er verfügt nicht über die Sprache, sondern die Sprache verfügt über ihn.« [9]
Der Satz steht in dem programmatischen Buch Die Zeit als Einbildungskraft des
Dichters, das mit einer subtilen Interpretation des Gedichts Auf dem Rhein beginnt.
Die Struktur seiner Lyrik wird mit dem Terminus der reißenden Zeit umschrieben.
Sie bedeutet Mangel an Umsicht und Besonnenheit. Eine Dichtung mithin des Unbe-
wußten in jedem Sinn! »Der Besinnung, die den Satz zusammenhalten muß, wird nie
die geringste Mühe zugemutet«[lO]; und deutlicher noch heißt es an anderer Stelle
desselben Buches: »Brentanos Verfahren ist ganz naiv ... « [11] Solche Naivität wird
mit Hinweisen auf das Loreley-Gedicht als Gefühlslyrik definiert: »Alle Momente des
Lyrischen: Musik, Verflüssigung, Ineinander, hat Brentano im Mythus von der Lore-
ley zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut.« [12] Ähnlich hat Wal-
ther Killy die Gedichte Brentanos gedeutet. Alles an ihnen bleibe träumerisch, weich
verschwebend. »Alles, auch das Geschichtliche, geht auf in dem Alkahest des TQtal-
gefühls, welches die Erscheinungen auflöst im poetischen Zaubertrank.« [13] Vor
anderen Gedichten bietet sich das Lied der Spinnerin zu solchen Definitionen roman-
tischer Lyrik an. »Dies ist kein schwieriges Gedicht«, stellt Richard Alewyn fest, »Es
verlangt keinerlei Bemühung des Gedankens oder des Gefühls. Es gleitet mühelos ins
Ohr, so gewaltlos, daß die Aufmerksamkeit eher eingeschläfert wird als angestrengt.«
[14]
Daß man Brentanos Lyrik in den letzten Jahren auch anders zu sehen gelernt hat,
wurde schon gesagt. [15] Noch ehe sich das Bild vom fahrenden Sänger und dem über
seine Laute gebeugten Poeten verfestigte, hat es Paul Böckmann in einem gewichti-
gen Aufsatz korrigiert. [16] Die Korrektur beruht vornehmlich im Herausarbeiten
jener Linien und Tendenzen, die Brentano als Dichter mit der Jenaer Romantik und
ihrer Philosophie verbinden. Dabei werden die gedanklichen Züge seiner Lyrik be-
tont. Vom romantischen Selbstbewußtsein und der Wachheit dieses Selbstbewußt-
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 233

seins ist die Rede. Eine überzeugend beschriebene Spannung VOn Bewußtsein und
Imagination zeichnet sich ab, die unsere geläufige Vorstellung von der Vorherrschaft
des Gefühls beträchtlich differenziert. Auf eine gegenüber der Überlieferung recht
unbefangene Art hat sich Hans Magnus Enzensberger über Brentano geäußert; und er
hat sich dabei mit manchen Auffassungen Paul Böckmanns berührt. [17] Um das
dichterische Bewußtsein gegenüber dem zumeist einseitig betonten Gefühl ist es En-
zensberger zu tun. In diesem Zusammenhang ist vom radikalen Artisten die Rede -
eine Wendung, die vielleicht den Bogen der Aktualisierung ein wenig überspannt,
aber die veränderte Blickrichtung doch recht deutlich bezeichnet. [18] Obgleich mit
dem VOn Böckmann abgesteckten Rahmen aufs beste vertraut, ist Enzensberger an
den spezifisch historischen Problemen nicht sonderlich interessiert. Sie sind demge-
genüber in vorliegender Betrachtung die leitenden Gesichtspunkte. Daß bei Brenta-
nO alles, auch das Geschichtliche, sich im Totalgefühl auflöse, stellen wir in Frage. Es
wird sich im Gegenteil darum handeln, seine Lyrik mit der eigenen Zeitlage wieder in
Verbindung zu bringen, aus der man sie unberechtigterweise herausgelöst hat. Das
Geschichtliche in solchen Frage betrifft den Zusammenhang VOn jüngerer und älterer
Romantik nicht nur. Es geht zugleich um Verbindungen zwischen Dichtung und Phi-
losophie, auch um solche zwischen Dichtung und Dichtungstheorie. Es geht um den
historischen Textsinn im ganzen. Und daß auch Clemens Brentano dem »philosophie-
renden Zeitalter« zugehört, wie der Terminus in Schillers Rezension der Gedichte
Bürgers lautet, wird zu zeigen sein.
Von einem verhältnismäßig wenig bekannten Gedicht, VOn dem Gedicht Der Jäger
an den Hirten, gehen wir aus. Es stammt aus der frühen Zeit und ist in mehreren
Fassungen überliefert. Der Interpretation legen wir die Fassung zugrunde, in der es
Brentano 1803 einem Brief an Achim VOn Arnim beigefügt hat. Der Wortlaut ist
dieser:

»Durch den Wald mit raschen Schritten


Trage ich die Laute hin,
Freude singt, was Leid gelitten,
Schweres Herz hat leichten Sinn.
Durch die Büsche muß ich dringen
Nieder zu dem Felsenborn,
Und es schlingen sich mit Klingen
Durch die Saite Ros' und Dorn.
In der WildniS wild Gewässer
Breche ich mit kühner Bahn,
Klimm ich aufwärts in die Schlösser,
Schaun sie mich befreundet an.
Weil ich alles Leben ehre,
Scheuen mich die Geister nicht,
Und ich spring in ihre Chöre,
Wie ein irrend Zauberlicht.
Haus' ich nächtlich in Kapellen,
Stört sich kein Gespenst an mir,
234 Gegenklassische Wendungen

Weil sich Wandrer gern gesellen,


Denn auch ich bin nicht von hier.
Geister reichen mir den Becher,
Reichen mir die kalte Hand,
Denn ich bin ein guter Zecher,
Scheue nicht den glühen Rand.
Die Sirene in den Wogen
Hätt' sie mich im Wasserschloß,
Gäbe, den sie hingezogen,
Gern den Fischer wieder los.
Aber ich will fort nach Thule
Suchen auf des Meeres Grund
Einen Becher, meine Buhle
Trinkt sich nur aus ihm gesund.
Wo die Schätze sind begraben,
Weiß ich längst, Geduld, Geduld!
Alle Schätze werd ich haben,
Zu bezahlen meine Schuld.
Während ich dies Lied gesungen
Nahet sich der Waldesrand,
Aus des Laubes Dämmerungen
Trete ich ins offne Land.
Aus den Eichen zu den Myrthen
Aus der Laube in das Zelt
Hat der Jäger sich dem Hirten
Flöte sich dem Horn gesellt.
Daß du leicht die Lämmer hütest
Zähm' ich dir des Wolfes Wuth,
Wenn du fromm die Hände bietest
Werd ich deines Herzens Gluth.
Und willst du die Arme schlingen
Um dein Liebchen zwei und zwei
Will ich dir den Baum schon zwingen,
Daß er eine Laube sei.
Du kannst Kränze schlingen, singen
Schnitzen, spitzen Pfeile süß;
Ich kann ringen, klingen, schwingen
Schlank und blank den Jägerspieß.
Gieb die Pfeile, nimm den Bogen
Ich bin Ernst und du bist Scherz;
Hab die Sehne ich gezogen,
Du gezielt: so trifft's ins Herz!« [19]
Es handelt sich um eines der frühen Gedichte Brentanos, dem eingehendere Inter-
pretationen bisher kaum zuteil wurden. [20] In den gängigen Anthologien findet es
sich nicht; ebensowenig wird man es in älteren oder neueren Lesebüchern entdecken.
Für Thomas Mann war es offensichtlich kein unbekanntes Gedicht. Im Doktor Fau-
stus wird es unter den Brentano-Gesängen erwähnt, die Adrian Leverkühn vertont
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 235

hat: Es spricht alles dafür, daß es sich um keine zufällige Erwähnung handelt und daß
Thomas Mann an Brentano ein Verständnis von Kunst wahrgenommen hat, das sein
eigener Roman thematisiert. [21] Entstanden ist das Gedicht im Sommer 1803. In
einem Brief aus dieser Zeit wird es zum erstenmal erwähnt. Brentano hatte Marburg
verlassen und sich nach Weimar begeben, um Sophie Mereau nahe zu sein, die bald
danach seine Frau wurde. Sie, Bettina und Arnim sind vor anderen die Menschen,
denen er sich in Freundschaft und Liebe verbunden weiß. Solches Verbundensein läßt
den Weimarer Sommer 1803 als einen verhältnismäßig glücklichen Abschnitt im Le-
ben dieses allzeit unruhigen Dichters erscheinen. [22] Die Göttin Freude ist jetzt
häufiger zu Gast als sonst. Unser Gedicht verdankt einer solchen Zeit der Freudigkeit
seine Entstehung. In diesem Punkt unterscheidet es sich vom Lied der Spinnerin, was
den Ton betrifft, beträchtlich. Im Juli 1803 wird es an Bettina übersandt, und Brenta-
no läßt die Schwester nicht im Unklaren darüber, was er selbst von seinem neuen
Gedicht hält: »Heut' hab' ich ein Liedehen an Arnim gemacht und eine schöne
Melodie dazu [... ] Das Liedehen ist das beste, das ich gemacht habe. Mir ist ordent-
lich wie dem Jäger.« [23] Im August desselben Jahres übersendet er die Verse -
wiederum in einem Brief - an Achim von Arnim, dem sie in mehr als einem Sinn
zugehören, wie es die poetisch-biographische Anspielung bestätigt: »Ich habe wieder
mehrere Lieder gedichtet«, heißt es im August 1803, »unter andern eins, worin ich an
Dich und mich gedacht habe, aber es paßt nicht ganz, denn ich bin der Jäger und Du
der Hirt, und doch sind wir beides.« [24] Da es ungewiß war, ob dieser Brief auch den
Freund erreicht (tatsächlich hat ihn Arnim erst zwei Jahre später erhalten), schickt
Brentano das Gedicht mit geringfügigen Änderungen erneut an Arrnin, und was er
ihm bedeute, wird mit überschwenglichen Worten zum Ausdruck gebracht: er habe
noch nie einen Menschen so geliebt wie ihn; Brentano fügt hinzu, »daß es mir noch nie
neben einem Menschen so ruhig, so wahr und so glücklich geworden ist, als neben Dir
am Rhein!« Als Arnim zu Weihnachten 1803 in London eintrifft, findet er den Brief
des Freundes vom Oktober vor und erwidert ihn unverzüglich. Diesem Brief fügt
Arnim seinerseits ein Gedicht als Antwort auf die Verse Brentanos bei. Arnim
schreibt: »Ich bin drei Monate herumgereist; das ist die Ursache meines langen
Schweigens. Ich bin herumgehetzt worden wie ein Wilddieb, den man an einen Hirsch
angeschmiedet durch die Wälder jagt; ich möchte dies an Dein herrliches Jägerlied
anhängen, das Dir gleichsam von der Seele gerissen ist, wenn ich die Kraft dazu
hätte.« Es folgt das Gedicht selbst, dem Arnim die Überschrift Der Wilddieb gegeben
hat.

»Weil die Hirschin ich gefangen


Mit der Laute hellem Klang,
Hat der Jagdherr eingefangen
Mich, geschmiedet an den Fang.
Meinte einst, so weit die Klänge,
Reiche auch der Sänger Reich;
Fühle nun im Qualgedränge,
Daß auf Erden nicht ihr Reich.
236 Gegenklassische Wendungen

Durch der Eichen liebe Aeste


Reißt sie mich und meint zur Gunst,
Denn es wartet ihr im Neste
Glüh des Hirsches helle Brunst.
Und ich kann es ihr nie klagen,
Schon die Laute brach sie mir,
Und mit freiendem Behagen
Bricht sie auch das Herze mir.
Mich ihr Hirsch wird grimmig rächen,
Lieg ich kalt ein Geist auf ihr,
Wird sie mit Geweih durchstechen,
Eifersucht nur glüht im Thier.« [25]
Ein solcher Gedankenaustausch, der vom Austausch eigener Gedichte begleitet
wird, ist für Brentanos Korrespondenz charakteristisch. Er ist erst recht charakteri-
stisch für den Lyriker Brentano, der für seine Gedichte eine Umgebung benötigt, in
die sie als Verseinlage eingefügt werden können. Denn nur selten handelt es sich um
ganz und gar isolierte Gebilde. Alle diese Texte haben ihren Kontext - es sei dies eine
Erzählung, ein Drama oder ein persönlicher Brief.
Das Gedicht Der Jäger an den Hirten wird später in einer Variante vom Oktober
1803 in die Einsiedler-Zeitung eingerückt. Dies geschieht durch Arnim im Jahre 1808.
Es ist zu Lebzeiten Brentanos die einzige Veröffentlichung, die es gibt. An der Druck-
legung war Brentano vermutlich nicht beteiligt. [26] In der Zeit der religiösen Um-
kehr, aber vermutlich noch einige Jahre vor dieser Zeit, beginnt er an dem Gedicht
fortzudichten. Auf 31 Strophen schwillt es nunmehr an; und so auch wird es von
Christian Brentano in die Ausgabe der Gesammelten Schriften übernommen. Rudolf
Borchardt hat für seine Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie die späte Fassung
gewählt - mit selbstherrlichen Veränderungen, die philologisch auf keinen Fall zu
rechtfertigen sind. Er gibt dem Gedicht einen neuen Titel und nennt es völlig unnötig
Schicksalslied. Werner Vordtriede folgt seinem Beispiel, indem er Kontaminationen
aus verschiedenen Fassungen herstellt. Das so entstandene Gedicht des Herausgebers
mit Versen Brentanos ist in einen Band der Insel-Bücherei eingegangen. [27] Habent
sua fata libelli: so gesehen, nämlich philologisch, ist das Lied nun in der Tat ein
»Schicksalslied« geworden. Es hat dennoch mit den handschriftlichen Fassungen des
Jahres 1803 einen gewissen Abschluß erreicht. Unter diesen ist die Fassung des Au-
gustbriefes als eine authentische anzusehen. Die späteren Fassungen mit den Auf-
schwellungen von 31 Strophen ergeben ein neues Gedicht mit dem alten als ihrem
Thema. Eine Interpretation der im Jahre 1803 an Arnim übersandten Verse kann
zugleich als ein Beitrag zu Brentanos früher Lyrik verstanden werden, die man gern als
jene Gefühlslyrik definiert, von der eingangs die Rede war. Daß es zwischen den
frühen Gedichten und der späteren »Konversionslyrik« eine strukturelle Einheit gibt,
hat die neuere Forschung erhärtet. [28] Karl Vietor hatte hierzu mit einem denkwürdi-
gen Aufsatz die Wege geebnet. [29] Es muß also durchaus nicht so sein, daß man ein
gänzlich neues Bild von Brentanos Lyrik erhält, wenn man diese in erster Linie vom
frühen Werk oder vom Spätwerk her zu beschreiben sucht. Schon die frühe Lyrik, dies
sollte mit Deutlichkeit gesagt werden, ist nicht das, wofür man sie gehalten hat. Schon
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 237

hier ist unser Bild von Brentanos Lyrik zu korrigieren, wie es die neuere Forschung
schon vielfach getan hat.
Das Gedicht selbst verführt mit seinem unüberhörbaren Klangzauber dazu, daß
man ihm sich ganz überläßt und nach einem faßbaren Sinn nicht fragt. An die in der
neueren Poetik häufig zitierten Sätze von Novalis fühlt man sich erinnert: »Gedichte-
bloß wohlklingend und voll schöner Worte - aber ohne allen Sinn und Zusammen-
hang - höchstens einige Strophen verständlich ... « [30] Für Ernst Beutler sind Zeug-
nisse wie diese nichts anderes als die Ȇbertragung und Steigerung des Briefes, seiner
Gefühle, seiner Stimmung in ein Bild, in eine höhere Tonart und gebundene Spra-
che.« Auch die balladenartigen Gedichte - das vorliegende ist ein solches - sind für
ihn »nur scheinbar Balladen, sind subjektiv, spiegeln Persönlichstes.« [31] Doch wird
man mit solchen Kennzeichnungen dem Gedicht kaum gerecht. Man mag damit den
klanglichen Zauber erfassen - den gedanklichen Reiz verfehlt man durchaus. Der
Jäger an den Hirten ist aber insofern ein typisches Gedicht Brentanos, als es nicht nur
um bloße Spiegelungen subjektiven Erlebens geht. Auch als Ballade ist es nicht
hinreichend charakterisiert. Dagegen sind gewisse Anspielungen zur Balladendich-
tung unverkennbar. Sie lassen uns von einem balladenartigen Gedicht sprechen, in
dem es zwar keine erzählbare Handlung gibt, aber doch Züge einer solchen. Es sind
vor allem Balladen Goethes, die das Gedicht in Erinnerung bringt. Die nunmehr
räumliche Nähe Brentanos zu dem verehrten Dichter mag einer der Anlässe gewesen
sein.
Auf Goethes naturmagische Ballade Der Fischer spielt die siebente Strophe des
Gedichts an, die von der Sirene im Wasserschloß spricht, - und daß die Meerfrau in
Goethes Gedicht in diesem Sinn verstanden werden darf, hat Heinz Politzer in einer
geistvollen Betrachtung über Das Schweigen der Sirenen ausgeführt. [32] Sirenen sind
Wesen, die sich des Gesangs zum Zweck einer Verführung bedienen; und in welchem
Maße solche auf Kunst gerichtete Wesen bei Brentano zum Personal seiner balladen-
artigen Gedichte gehören, ist durch fast alle Schaffensperioden bezeugt. Gedichte wie
Auf dem Rhein, Der Schiffer im Kahne, Lore Lay oder Der Schiffer und die Sirene
variieren das Motiv. Aber die Anspielung auf Goethes Ballade Der Fischer ist nicht
die einzige. Auf den Schatzgräber spielt die neunte Strophe an. Diejenige Gestalt aber
aus Goethes Bilderwelt, die Brentano über alles liebte, war Der König in Thule. Ernst
Beutler hat in seinem Essay dargelegt, was sie ihm bedeutet hat. Brentano habe
besonders den Fischer und das Heideröslein geliebt, führt er aus; »über alles aber
liebte er den >König in Thule<. Diese Ballade war ihm mehr als ein Gedicht. Sie war
ihm ein Symbol.« [33] In der Chronica eines fahrenden Schülers, in den Romanzen
vom Rosenkranz wie in der Vorrede zum Gockelmärchen wird sie erwähnt. Aber das
denkwürdigste Zeugnis solcher Liebhaberei ist der Brief an Arnim aus dem Jahre
1801: »Ich war mit Savigny am Rhein [... ] und werde den Frühling mit ihm im
Schlosse der Gisella wohnen, wir sind die innigsten Menschen. Als ich oben auf dem
Punkte der Aussicht stand, war mein Herz bewegt [... ] und ich sang mit Andacht:
>Ich bin ein König in Thule<.« [34] Daß um die gleiche Zeit eine Parodie auf dasselbe
geliebte Gedicht entsteht und entstehen kann, ist für Brentanos »Mutwillen« bezeich-
nend. [35] An der Verehrung und an der Vorliebe ändert das nichts.
238 Gegenklassische Wendungen

Unser Gedicht verteilt die Anspielungen auf mehrere Strophen. Aber zugleich
kehrt es den Sinngehalt der todesdunklen Thule-Ballade in ihr Gegenteil um. Das
Todessüchtige in Goethes naturmagischen Balladen wird ins Lebensfreundliche ver-
wandelt:
»Aber ich will fort nach Thule,
Suchen auf des Meeres Grund
einen Becher, meine Buhle
trinkt sich nur aus ihm gesund. « [36]
Dies vor allem verbindet die Strophen Brentanos mit den balladischen Gedichten
Goethes, auf die sie anspielen: daß sich bestimmte Bilder in ihr Gegenteil verkehren.
Das Balladendunkel mit seinen düsteren Geistererscheinungen lichtet sich. Brenta-
nos Gedicht beschreibt den Weg aus dem Dunkel in eine lichtere Welt:
»Aus des Laubes Dämmerungen
Trete ich ins offene Land.«
Während die naturmagische Ballade seit Bürger dem Tode zueilt, wird hier der
Weg ins Leben gesucht, nicht ohne daß dabei die Gefahren in solchen »Krankheiten
zum Tode« gebannt werden. Die verwunschenen Schlösser schauen den Jäger be-
freundet an, und die Geister scheuen ihn so wenig, wie die Gespenster ihn nicht in
nächtlichen Kapellen schrecken. Schließlich bestätigt sich das Strukturprinzip der
Umkehr in der Gestalt des Jägers selbst. Der seinem Beruf entsprechend zum Töten
verpflichtet ist, ehrt das Leben. Ein Brief an Savigny macht auf die Umkehrung der
Motive aufmerksam: »Der Held ist ein Jäger, der das Jagen nicht lassen kann und
doch den Mut nicht hat zu schießen.« [37] Solche Lebensfreundlichkeit ist ganz dazu
angetan, einem Lustspiel zugute zu kommen, und einem solchen - mit dem Jäger als
Helden - dachte Brentano sein Gedicht als Verseinlage einzufügen.
Daß alle diese Anspielungen von satirischer Absicht frei sind, ist keine Frage. Sie
sind freundlich gemeint, wie andere Äußerungen aus derselben Zeit es bestätigen. So
im Urteil über Goethes Drama Die natürliche Tochter, das ein vortreffliches Werk
genannt wird, und Brentano fügt hinzu: »überhaupt erscheint er mir [... ] als der
einfachste edelste reinste Mensch, und von Stolz und Kälte sprechen nur die Schafs-
köpfe.« [38] Selbst Schiller, zu dem die Romantiker nicht immer die besten Beziehun-
gen unterhielten, wird nicht nur geschont, sondern obendrein in das Geflecht der
freundlich gemeinten Anspielungen einbezogen. Daß es mehr als Anspielungen sind
und daß verwandtschaftliche Züge in der Denkform sichtbar werden, ist die vielleicht
überraschendste Feststellung im Gang dieser Betrachtung. An eine bekannte Ballade
Schillers, an den Alpenjäger, fühlt man sich erinnert, wenn man die zwölfte Strophe
hört: »Daß du leicht die Lämmer hütest / Zähm' ich dir des Wolfes Wuth.« Schillers
Gedicht erschien zwar erst 1804 im Druck. Aber es dürfte in demselben Sommer im
Zusammenhang des Tell-Dramas entstanden sein. Daß Brentano über Sophie Me-
reau, die zu Schiller in guten Beziehungen stand, davon gehört haben könnte, wäre
denkbar. Die idyllische Welt, die Schillers Drama sucht, klingt jedenfalls im Alpenjä-
ger an. Auch unser Gedicht sucht eine solche Welt und verwendet aus diesem Grund
das Motiv im Sinn der voraufgegangenen Strophen. Aus dem rücksichtslosen Alpen-
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 239

jäger in Schillers Gedicht, der erst am Ende eines Besseren belehrt wird, ist bei
Brentano von vornherein ein Jäger geworden, der das Leben ehrt und die Wölfe
zähmt. Wenn diese Anspielung auf Schillers Gedankenwelt nicht hinreichend begrün-
det erscheint, so ist nun freilich eine briefliche Äußerung, die der Forschung bisher
nicht bekannt war, höchst aufschlußreich und kaum zu mißdeuten. Es handelt sich
noch einmal um den Brief Brentanos vom August 1803, der die Übersendung des
Gedichts begleitet. Reinhold Steig hat ihn in seiner nicht immer zuverlässigen Brief-
sammlung veröffentlicht. Aber wie er zahlreiche Stellen ausgelassen hat, so hat er
auch den Passus ausgelassen, der uns von größter Wichtigkeit ist. Brentano teilt in
diesem Brief dem Freund seine Dramenpläne mit. Er wolle ein Trauerspiel schreiben,
das den Titel Klinge und Heft erhalten soll. Ein geplantes Lustspiel soll heißen: Jakob
und Esau oder der sentimentale Jäger und der naive Hirte. [39] Das sind literarische
Bezüge in mehrfacher Hinsicht. Sie betreffen zunächst mit den erwähnten Namen eine
biblische Tradition. Ihr zufolge gelten die Brüder Jakob und Esau als »Typus des
rauhen Jägers neben dem friedlichen Kleinviehhirten«, wie es in einem theologischen
Lexikon erläutert wird. [40] Die zweite Anspielung läßt mit Bestimmtheit an Schillers
große Abhandlung Ober naive und sentimentalische Dichtung denken. Daß Brentano
die Schriften Schillers kannte, ist mehrfach belegt. [41] Auch in anderen seiner Ge-
dichte hat man Spuren Schillers erkannt oder erkennen wollen. Noch 1801 schreibt
Brentano an Böhlendorff, Hölderlins Freund: »Glauben Sie, daß ich Schiller so ganz
für das Ideal der Dichter und auch für den größten Tragiker halte.« [42]
Mit der Motivik des Naiven und Sentimentalischen werden wir an die antitheti-
schen Denkformen erinnert, und antithetisch ist auch der Aufbau unseres Gedichts.
Gleich die erste Strophe macht es deutlich: »Freude singt, was Leid gelitten, / Schwe-
res Herz hat leichten Sinn.« Hell und Dunkel, Wildnis und Freundlichkeit, Lämmer
und Wölfe, Scherz und Ernst sind weitere Gegensatzpaare im Gefüge des Ganzen; und
antithetisch erst recht sind die Titelgestalten gemeint. Im Sinne der Lebensfreundlich-
keit, von der die Rede war, hat unser Gedicht die Aufgabe, solche Gegensätze als
Auffassungsformen des Getrennten zu überwinden, damit Einheit, Gemeinschaft und
Geselligkeit sei. Es ist der tätige, bewegliche und das Leben ehrende Jäger, der diese
Aufgabe vollzieht. Er ist zugleich derjenige, der die Laute trägt. Zum sentimentali-
schen Jäger gesellt sich Kunst. Sie ist ihrerseits sentimentalisch wie derjenige, der sie
ausübt: nicht aus der Einheit lebend, sondern diese suchend. Zwar ist auch der Hirte
nicht ohne Kunst zu denken. Sein Instrument ist die Flöte. Aber von Antithesen wird
er weniger behelligt. Er ist - wie Arnim, könnte man versucht sein zu sagen - der
ruhende Pol des Gedichts, auf den dieses in der Gestalt des Jägers zugeht. Hirtenda-
sein ist Archaik, Bukolik und Idylle. In Schillers Begriffen sind solche Formen naiv.
Sie gehören einer Vergangenheit an, denn die modemen Zeiten sind anders. Aber
Schiller kennt auch die sentimentalische Idylle der modemen Literatur, die (in seinen
Worten) nach Elysium führt, weil sie nach Arcadia nicht mehr zurückführen kann.
Der Charakter einer solchen Idylle bestünde in seiner Auffassung darin, daß aller
Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Idealen aufgehoben sei. Wörtlich führt er aus:
»Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine ungetheilte
Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbständiges und vollendetes Ganze zu seyn
240 Gegenklassische Wendungen

und die Menschheit, ihrem vollen Gehalt nach, in der Wirklichkeit darzustellen. Dem
sentimentalischen hat sie die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb
eingeprägt, jene Einheit, die durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich
selbst wieder herzustellen.« [43]
Es ist nicht unsere Absicht, in einem Gedicht Brentanos lediglich »Einflüsse«
Schillers zu ermitteln. Es geht hier in erster Linie um bestimmte Denkformen, die
solche eines ganzen Zeitalters sind. Schiller hat sie, die Moderne vorbereitend, am
prägnantesten formuliert. Sie finden sich auch andernorts, und sie sind gemeinsamer
Besitz im »geistigen Haushalt« der Zeit. Die Einheit von Natur und Geist, die als
Philosophie der Identität vornehmlich auf Schelling zurückgeht, war im Grunde stets
die Einheit, die man sucht; und was zurückliegt, wird begriffen als ein Zustand, »in
welchem wir eins waren mit der Natur.« [44] Romantik ist verlorene Identität; und
Schiller, der »Klassiker«, denkt nicht anders. Rückhaltlos spricht Brentano es in
einem Brief an Runge aus: »daß das Leben der Kunst wahrlich verlohren ist, indem
der Künstler sich umsehen muß in sich selbst, um das verlohrene Paradies aus seiner
Notwendigkeit zu konstruieren.« [45] Das aber heißt, indem wir noch einmal zu unse-
rem Gedicht zurückkehren, daß dieses nicht aus der Einheit einer Stimmung lebt,
sondern diese erst im Vollzug des Gedichts erreicht. Auf eine in jedem Sinn beglük-
kende Weise ist diese Einheit der Zielpunkt des Gedichts. Beglückend vor allem ist
sein Sprachzauber , der allen faßbaren Sinn überspielt, aber an Bedeutung nur noch
gewinnt, wenn man erkennt, daß er etwas bedeutet. Jäger und Hirte vereinigen sich,
wobei sich zuletzt der Bogen der Lebensfreundlichkeit und des lustspielhaften Über-
muts fast ein wenig überspannt; Ernst und Scherz, Liebe und Tod werden ein Ganzes,
damit nur in allem Einheit und Aufhebung der Gegensätze sei. Nicht also in einer
schon immer vorfindbaren Stimmung, die nur darauf wartet, verlautbart zu werden,
beruhen Glanz und Herrlichkeit des Gedichts. Sie bezeugen sich im Vollzug: in der
Einheit, deren Entstehung und Herstellung das Gedicht förmlich feiert. Alle Anfech-
tungen der Kunst, alle Leiden an ihr als Leiden am Bewußtsein, läßt der Jäger hinter
sich, um einer neuen Naivität zu huldigen, einem neuen Paradies nach seinem Verlust.
[46] Die Kunst als Ausdruck des Getrennten - getrennt von der Natur, von der
Religion, vom Denken - kann Wohlklang und Einklang werden, weil sie sich selbst
aufzugeben bereit ist in der Idee einer Einheit, die keinerlei Trennung mehr kennt.
Was übrigbleibt, wenn wir nach vollzogener Interpretation alle Erläuterungen wieder
vergessen, mag man Stimmung nennen. Nur ist es nicht mehr die Stimmung im
geläufigen Sinn. Denn eine solche, wie ausgeführt, liegt dem Gedicht nicht voraus.
Das Gedicht stellt sie allenfalls her. Dieser Unterschied ist fundamental. Denn wie
häufig unser Gedicht auch auf Goethe anspielt, den Schillers Abhandlung gelegent-
lich einen naiven Dichter nennt -, Clemens Brentano gibt sich als ein sentimentali-
scher zu erkennen. Er ist darin mit der Gestalt des Jägers zu vergleichen, in dem er sich
selbst ein wenig porträtiert hat, ohne daß man sich als Interpret deswegen zum Biogra-
phismus verführen lassen darf, zu dem Gedichte Brentanos herausfordern.
Derart veränderte Auffassungen von seiner Lyrik mit Beziehung auf sentimentali-
sches Dichterturn sind nichts Singuläres. Auch das Gedicht selbst stellt nichts Verein-
zeltes dar. Was gezeigt wurde, ist ähnlich an nahezu jedem seiner Gedichte zu zeigen.
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 241

Der Spinnerin Lied ist ein Musterbeispiel, wie man es sich besser kaum wünschen
kann. Denn auch dieses in seiner Liedhaftigkeit betörende Gedicht ist weit entfernt,
die naive Poesie zu sein, wie man es so lange angenommen hat. Darauf ist mit einigen
erläuternden Hinweisen noch einzugehen. Es sei eines der traurigsten Gedichte unse-
rer Sprache, hat Richard Alewyn gesagt; und eines der schönsten Gedichte sei es
deshalb, weil es eines der einfachsten und eines der kunstvollsten Gedichte zugleich
sei. [47] Das ist nun freilich keine ganz selbstverständliche, weil in sich widersprüchli-
che Aussage. Denn das Einfache einerseits und das Kunstvolle zum andern sind
Gegensätze, von denen man meinen sollte, sie schließen sich aus. Doch sind wir damit
abermals einer Antithese auf der Spur; und eine antithetische Struktur ist in der Tat
auch dem Lied der Spinnerin eigen. In Brentanos Lyrik, sagt man, gebe es keine
Scheidung zwischen Traum und Wachen, zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen
Innen und Außen. [48] Solche Einheitlichkeit wird aber durch Antithesen gestört, die
stets auf Trennung hinarbeiten. Antithetisch und aufeinander bezogen sind im Lied
der Spinnerin zum ersten die Zeitformen, die einen Tempuswechsel erzeugen. Diese
antithetische Struktur der Zeitbezüge ist ganz dazu angetan, Stimmung zu stören, nicht
Stimmung zu stiften. Hier ist es nicht Einklang zunächst, sondern Dissonanz, die es
wahrzunehmen gilt. Mit dem Wechsel der Zeitformen ist ein Wechsel im Zustand der
Sprechenden verbunden. Situationen der Vereinigung wechseln mit solchen des Ge-
trenntseins. Die Spinnerin, die in unserem Gedicht das Wort hat, denkt an einen
Zustand des Zusammenseins mit dem Geliebten, der war. Sie erinnert sich dessen aus
einem Zustand des Getrenntseins heraus, der ist. Weit entfernt, bloß dem Gefühl
überlassen zu sein, ist ihre Reflexion die Voraussetzung ihres Sprechens. Hier herrscht
Bewußtsein weit mehr vor als Gefühl; hier wird gedacht: »So oft der Mond mag
scheinen, / Gedenk ich dein allein«, heißt es in der vierten Strophe; und ähnlich in der
fünften: »Ich denk bei ihrem Schall, / Wie wir zusammen waren.« Die Spinnerin ist
eine Wissende, und es ist der Wechsel im Tempus als ein solcher von Vereinigung und
Getrenntsein, der sie zur Wissenden macht. Die bezeichneten Unterschiede werden
von der Sprecherin des Gedichts erfahren, so daß diesem eine Bewußtheit zukommt,
die zugleich der Grund der Traurigkeit ist. Es ist die Traurigkeit aufgrund eines
Wissens. Die Spinnerin weiß, daß etwas nicht mehr so ist, wie es war. Aber damit ist
noch keineswegs alles über die Antithetik unseres Gedichts gesagt; denn auch das
Singen wird davon berührt.
Eine Antithese liegt dabei insofern vor, als im Singen der Nachtigall an ein Singen
anderer Art erinnert wird als im Lied der Spinnerin. Der Gesang der Nachtigall war
der Ausdruck eines glücklichen Zusammenseins. Vom Gesang der Spinnerin unter-
scheidet er sich durch das Unschuldige und Natürliche, das keine Trennung durch
Denken kennt. Das Lied der Nachtigall war reine Natur; das Lied der Spinnerin ist
Kunst, die aus dem Wissen kommt; und sie ist im Ausdruck solchen Wissens nicht
mehr naiv. Wir haben es mit sentimentalischer Kunst zu tun und mit einem Zustand
der Einsamkeit obendrein. Wer wollte bezweifeln, daß es eine sehr neuzeitliche Ein-
samkeit ist! Aus alten Volksliedern ist uns die Situation der verlassenen Geliebten
vertraut. Bei Brentano hat das Getrenntsein einen anderen Sinn. Im Bild der Nachti-
gall erinnert es an einen Zustand der kunstlosen Kunst, der naiven Natur und der
242 Gegenklassische Wendungen

Einheit, die einmal war. Die jetzige Kunst, auf die Situation der Spinnerin bezogen, ist
diese Einheit nicht mehr, weil es sich um einen Zustand des Getrenntseins handelt,
der zur Voraussetzung des Singens geworden ist. Wenn an etwas wie goldene Zeit zu
denken ist - der Begleitbrief Brentanos gebraucht die Metapher mit Beziehung auf die
Kunst - so liegt sie zurück oder voraus: als Erinnerung an eine ferne Zeit, die der
Vergangenheit angehört, oder als Hoffnung auf eine Zukunft der Wiedervereinigung
mit religiösem Sinn. [49] Das liedhafte Gebilde kann sich dem Gebet annähern; »Gott
wolle uns vereinen ... « Die Schwermut des Gedichts hat demnach weniger in einer
persönlichen Stimmung ihren Grund als darin, daß die Kunst der Ausdruck eines
Getrenntseins ist - eines Weltalters, das die Einheit nicht mehr hat, sondern eine
solche sucht. Das Einfache ist nicht Zustand, sondern Richtung auf etwas hin, das im
Gebet erstrebt wird; und erstrebt wird Harmonie. Es ist ein künstliches Paradies, ein
Paradies durch Kunst, das jenes verlorene ersetzen muß, von dem der Gesang der
Nachtigall kündet.
Erst von hier aus wird einsichtig, welche Bewandtnis es mit der volksliedhaften
Schlichtheit in Brentanos Lyrik hat. Ihren Anachronismus - den Anachronismus
einer solchen Schlichtheit generell - hat Erich von Kahler in einem seiner Essays
erläutert: »Das> Volkslied< ist die Aussprache einfacher Menschen aus einer einfache-
ren Zeit und daher die Aussage einfacher, undifferenzierter Seelenzustände. In der
komplexen Welt unserer technischen Zivilisation entstehen keine echten Volkslieder
mehr, und wenn einer sie machen will, so sind sie nicht wahr. Sie bleiben weit hinter
dem Stand unsrer Realität zurück [... ] Die echten Lieder, die heute noch hie und da
entstehen, die Einfachheit, die ein Dichter unsrer Epoche erreichen mag, das alles ist
von ganz anderer Art: es hat hinter sich Gründe und Abgründe von Bewußtsein [... ]
Legen wir ein Lied wie das aus >Des Knaben Wunderhorn<: >Die Welt geht wie im
Springen< [ ... ] oder >Es ist ein Schnitter, der heißt Tod< neben etwa das Georgesche
>Sieh, mein Kind, ich gehe< [... ] oder etwa >Die Beiden< von HofmannsthaI, die alle
an Einfachheit nichts zu wünschen übrig lassen, so spüren wir den tiefen Unterschied
der Seelemäume, aus denen die einen und die andern hervorgegangen sind.« [50]
Brentano gehört zu den »anderen«. Seine Einfachheit, seine »Naivität« ist in der Tat
von anderer Art. Man würde sie durchaus mißverstehen, wenn man sie als bare
Münze nehmen wollte. Eben das ist sie nicht. [51] Sie ist das Erzeugnis einer höchst
bewußten Kunst. Das kann kaum zweifelhaft sein, wenn man das Volksliedhafte in
Der Spinnerin Nachtlied »durchschaut«. Zwar nimmt sich die vierzeilige Strophe so
kunstlos aus, wie Volkslieder kunstlos sind, aber doch nur auf den ersten Blick. Vom
Formprinzip der Wiederholung wird über das Reimschema hinaus in vielfacher Weise
Gebrauch gemacht. Kunstvolle Korrespondenzen in der Wiederaufnahme von Vers-
zeilen aus vorangegangenen Strophen entstehen, wodurch sich eine Zweiteilung er-
gibt, die der Antithetik der Zeitebenen entspricht. Es wiederholen sich die Reime der
ersten, dritten und fünften Strophe, die zusammen eine Strophengruppe bilden, von
der sich die aus den Reimen der zweiten, vierten und sechsten Strophe gebildete
Gruppe abhebt. [52] Nicht genug damit ergeben sich aus der Reduzierung auf nur
wenige Reime vielfache Verknüpfungen, die in der refrainartigen Schlichtheit eine
durchdachte Anordnung verraten. Die Klangformen wirken einfach und kunstvoll
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 243

zugleich. Das bestätigt die eigentümliche Monotonie des Gedichts. Sie erweist sich als
eine für Brentano bezeichnende Tonlage, der die Interpreten im allgemeinen wenig
Beachtung schenken. Sie sind weit mehr an der Klangfülle interessiert, an seiner
Lautsymbolik und Lautmalerei. Die Musikalität seiner Sprache führt man gern auf sie
zurück. [53] Aber es gibt im lyrischen Werk Brentanos eine Vielzahl von Gedichten,
die nicht der Klangfülle, sondern der Klangeinfachheit huldigen - einer Monotonie,
die in ihren Wiederholungsformen an die Manieriertheit des Barock erinnert. Wenn
der lahme Weber träumt ist mit dem Narkotikum seiner suggestiv wirkenden Wieder-
holungen ein solches Gedicht, wie vorhandene Interpretationen bestätigen. [54] In
Der Spinnerin Nachtlied - aber ähnlich auch in anderen Gedichten - ist die Monoto-
nie das ideale Darstellungsrnittel, in dem Einfachheit und Künstlichkeit zusammen-
treffen. Nicht, daß schon damit die Einheit im Sinn von Stimmung bezeichnet wäre,
die man meint, wenn man von Stimmungslyrik spricht. Es ist Gesang inmitten der
Trauer: »Ich sing und möchte weinen.« Und widerspruchsvoll erst recht ist der naive
Ton bei so viel Kunst. Wir sehen uns gewarnt, Clemens Brentano als einen naiven
Dichter zu bezeichnen. Er gibt sich uns weit mehr als ein sentimentalischer Dichter des
Naiven zu erkennen.
Der Spinnerin Nachtlied ist jedenfalls das schlichte Gedicht nicht, als das man es zu
interpretieren liebt. Es gestaltet einen Vorgang und gibt nicht einfach eine Stimmung
wieder. Soviel ist einer auf das Gedicht beschränkten Interpretation zu entnehmen.
Sie bestätigt sich, wenn man das Gedicht im Zusammenhang der Erzählung interpre-
tiert, in der es zuerst veröffentlicht wurde: in der Erzählung Aus der Chronika eines
fahrenden Schülers. [55] Und nicht nur wurde es dort viele Jahre später, nämlich
1818, veröffentlicht. Es wurde von Anfang an als Verseinlage einer Erzählung konzi-
piert, wie es einem Brief Brentanos an Arnim (vom 6.IX.1802) zu entnehmen ist: »Ich
schreibe jetzt an einem Buch, der alte Ritter und die Seinigen, es sind einfache
fromme Geschichten aneinandergereiht [... ] Weil ich aber weiß, daß in der Ferne
auch der kleinste Ton der Liebe wohltut, so schreibe ich Dir hier ein kleines Lied her,
es ist das erste in meinem Ritter und die Seinigen.« [56] Es folgt das bekannte Gedicht
im Wortlaut. Sein Textsinn ist nur zu erschließen, wenn man - wie meistens bei
Brentano - dem Kontext die Beachtung schenkt, die diesem zukommt. [57] Daß
bedeutende Gedichte Brentanos zumeist von Prosa umgeben sind, ist zum Verständnis
ihrer Struktur von größter Wichtigkeit. In der älteren Forschung wurden solche Kon-
textprobleme vielfach mit einer Nebensächlichkeit behandelt, die zur Verzeichnung
des Bildes beigetragen hat, das so lange das geläufige war; und mit wenigen aus dem
Kontext herausgelösten Gedichten wurden meistens auch die gängigen Anthologien
versorgt. Wieweit es aber berechtigt ist, den Kontext auf sich beruhen zu lassen, wird
man von Fall zu Fall entscheiden müssen. Im allgemeinen ist bei Brentano der Kon-
text eines Gedichtes so wichtig wie der Text selbst; das gilt zumal für das Lied der
Spinnerin. Die es singt, wird in der Chronika eines fahrenden Schülers durch die
Prosaumgebung zur fiktiven Gestalt einer erzählten Geschichte; und wenn man ange-
nommen haben sollte, daß es sich um ein von ihrem Geliebten verlassenes Mädchen
handelt, die singend klagt, so werden wir im Lesen der Geschichte eines Besseren
belehrt. Die Trennung ist unwiderruflich geworden durch den Tod des Mannes; und
244 Gegenklassische Wendungen

es ist ein Ritter gewesen, mit dem sie verbunden war. Über die Lebensschicksale der
frommen Frau erfahren wir mancherlei. Die Spinnerin ist die Mutter des fahrenden
Schülers, dessen Beziehungen zur Kunst die Erzählung leitmotivisch begleiten. Seine
Kindheit war ein Leben in der Unschuld der Natur - bis eines Tages das Erwachen
folgte. Zum erstenmal erfährt der aus seinem unschuldigen Dasein gerissene Sohn
etwas von jener Traurigkeit, von der die Mutter erfüllt ist. Es geschieht das in dem
Augenblick, in dem er eines Nachts - »der Mond schien hell und klar« - deren Lied
hört, das Nachtlied der Spinnerin. Die Mutter ist beunruhigt vom Erwachen des
Sohnes: »du hast aber sonst nie gewacht, wenn ich zu dir kam, und wußtest du es
nicht.« [58] Der fahrende Schüler, als der Sohn der Spinnerin, ist damit ein Wissender
geworden. Die Kunst hat ihn aus der Unschuld der Natur gelöst; mit dieser Erfahrung
ist Traurigkeit verbunden, von der die Mutter ein Lied zu singen weiß. Ehe sie sich am
folgenden Tag mit dem Sohn auf den Weg macht, wird sie ihn darüber belehren: »Du
hast mich auch gestern abend gefragt, warum ich weinte, da ich vor deinem Bettlein
stand, aber ich habe dir keine Antwort gegeben und habe mit dir gebetet, damit wir
ruhig schlafen möchten. Aber nun will ich dir auch nichts mehr verschweigen, denn
ich glaube, es wird gut sein, wenn du früh weißt, wie auf Erden viel Traurigkeit ist
und im Himmel allein die Freude.« [59] Die Motivik des verlorenen Paradieses ist
unschwer zu erkennen. Zugleich geht die von wissender Traurigkeit erfüllte Kunst in
Religion über. In den Ausdrucksformen unseres Gedichts bedeutet das den Übergang
des Liedes in die Formen des Gebets. Gebet und Gesang verweisen aufeinander, wie
dem fahrenden Schüler später aufgeht: »Da habe ich oft über Gebet und Gesang
nachgedacht und habe gefunden, daß Gebet und Gesang wohl Schwestern sein mö-
gen, die sich einander herzlich lieben und nie sich voneinander ganz trennen können.«
[60] Schließlich der altertümelnde Ton der Erzählung im ganzen! Man hätte ihn miß-
verstanden, wenn man darin den Ausdruck historisierenden Denkens erkennen woll-
te, wie es später für Meinhold, Storm und zum Teil noch für Fontane bezeichnend ist.
Brentanos Archaisierung entspricht der Einfalt und Schlichtheit, die seine Poesie
erstrebt. Sie ist das Erzeugnis einer dichterischen Phantasie. Die widerspruchsvolle
Situation des Einfachen und des Künstlichen zugleich, von der wir ausgegangen sind,
ist die Situation des Gedichts, die sich im erzählten Vorgang erläutert. Nirgends
deutlicher als im kommentierenden Wort des fahrenden Schülers, unmittelbar nach-
dem die Spinnerin das Lied beendet hat: »Besonders traurig aberkam es mir vor, daß
der Vogel und meine Mutter zugleich sangen und doch nicht recht miteinander.« [61]
Im Sinne Brentanos dürfen wir ergänzen: das Paradies wäre wiedergefunden, wenn
das Lied der Nachtigall und das Lied der Spinnerin Gesang würden, der zusammen-
klingt - wenn es ein in jeder Hinsicht gemeinsamer Gesang würde. Noch aber muß die
Spinnerin singen und möchte gleichwohl weinen. Die volksliedhafte Schlichtheit in
unserem Gedicht ist daher auch nicht erreichte Naivität, die sich beruhigen könnte.
Noch weniger ist es ursprüngliche Naivität oder kunstlose Kunst, wie wir sie in Volks-
liedern zu vernehmen meinen. Diese Lyrik ist in hohem Grade sentimentalisch, und
das Naive an ihr ist bloß Idee - Hinweis, was sein könnte, wenn alles wieder würde,
wie es war.
Solche Bezugnahme auf Schillers berühmte Abhandlung, auf die Clemens Brentano
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 245

in dem zitierten Brief expressis verbis anspielt, wird aus der Zeitlage heraus verständ-
lich. Aber damit werden auch gewisse Eigentümlichkeiten der romantischen Lyrik
wie volksliedhafte Schlichtheit, Einfalt und Einfachheit verständlich. Doch handelt es
sich dabei nicht nur um Eigentümlichkeiten der Heidelberger Romantik. Auch in
Hölderlins Dichten und Denken trifft man auf sie. »Denn alles gefällt jezt, /Einfältiges
aber am meisten«, heißt es im Text der Friedensfeier. [62] Vor allem sein Bild der
Natur ist geprägt von Einfalt und Einfachheit, wie es der Brief an die Schwester vom
23. Februar 1801 andeutet: »Ich mag die nahe oder die längstvergangene Zeit be-
trachten, alles dünkt mir seltne Tage, die Tage der schönen Menschlichkeit, die Tage
sicherer, furchtloser Güte, und Gesinnungen herbeizuführen, die eben so heiter als
heilig, und eben so erhaben als einfach sind.« [63] Das Erhabene ist ein Grundbegriff
in der Ästhetik des deutschen Idealismus wie in Schillers Dichtungstheorie. Aber
auch Einfachheit, Einfalt und Simplizität sind Begriffe von zentraler Bedeutung,
Grundbegriffe, wenn man sie so nennen will. Mögen sie durch Rousseau in erster
Linie vermittelt worden sein - Schillers Abhandlung aber naive und sentimentalische
Dichtung macht sie einem geschichtsphilosophischen Verständnis von Kunst dienst-
bar. Gleich die einleitenden Sätze handeln vom »Anblick der einfältigen Natur«.
Einfalt ist »kindliche Einfalt«, wie Einfachheit etwas ist, dem Bewunderung zu-
kommt. [64] Schiller spricht von Drangsalen der Kultur und führt aus: »Solange wir
bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frey gewor-
den, und haben beydes verloren.« [65] Einfalt und Einfachheit sind das, was es
wiederzugewinnen gilt, und letztlich ist nur der sentimentalische Dichter hierzu in der
Lage. Als solche hat man auch die Dichter der deutschen Romantik zu verstehen.
Ihnen allen hat Schiller die Zunge gelöst. Aber im Grunde ist er mit seiner Abhand-
lung aber naive und sentimentalische Dichtung weit mehr als nur ein Wegbereiter der
Romantik oder ein Ahnherr gewisser Vorstellungen, die in das »Weltbild« des euro-
päischen Symbolismus eingehen werden. Dieser »Klassiker« - törichtes Wort! - ist
einer der maßgeblichen Ahnherren moderner Literatur überhaupt. »Schiller ist der
Kolumbus der aesthetischen Moderne«, so hat es Karl Schmid in der Einführung zum
Briefwechsel mit Goethe formuliert, »mit ihm tritt innerhalb der deutschen Dichtung
jene Reflexion des modernen Schriftstellers über sich selbst zum erstenmal, und gleich
auf der bedeutendsten Höhe, auf, die sich im 19. und 20. Jahrhundert so öfters
wiederholte.« [66] Als einen solchen Ahnherrn hat ihn auch Edgar Lohner vorge-
stellt: in seiner Betrachtung Schillers Begriff des Scheins und die moderne Lyrik. [67]
Gedankengänge Gautiers, de Vignys, de Mussets und Baudelaires werden von ihm
mit dem Satz kommentiert: »Das sind Schillersche Gedankengänge, gleichviel ob sie
direkt von Schiller übernommen sind oder nicht.« [68] Kunst als Thema der Kunst ist
ein Leitmotiv der Moderne: »Alle diese Dichter sprechen vom Lied, von der Macht
des Gesanges, in irgendeiner Form von der überwältigenden Bedeutung der Kunst
[... ] Sie wissen wie Schiller, gleichviel ob sie ihn gelesen haben oder nicht, daß der
>erborgte Schein< die Trostlosigkeit des Lebens verkleidet.« [69]
Was aber in Schillers Theorie bloß Theorie blieb, hat keiner auf so faszinierende
Weise wie Clemens Brentano in reinste Poesie umzusetzen vermocht; zugleich hat kein
Dichter der Romantik so wie er seine späteren Interpreten in die Irre geführt - mit
246 Gegenklassische Wendungen

der Meinung nämlich, die Poesie dieses Poeten sei naiv. Daß wir solche Meinungen
definitiv verabschieden, wird höchste Zeit. Damit entfallen auch weithin die wie
immer geistvollen Versuche, zwischen romantischer Lyrik und Symbolismus schroff zu
scheiden. Denn im Grunde handelt es sich um Konstruktionen, welche die Gedicht-
wirklichkeit verfehlen. »Für den Symbolisten«, so hat es Heinrich Henel seinerzeit
formuliert, »ist der Mensch das Gesuchte, und er befragt die verläßlichen und erkenn-
baren Dinge bei der Suche nach sich selbst. Er glaubt nicht mehr an die gottgegebene
Harmonie von Mensch und Natur.« Dagegen sei für die Romantiker der Mensch das
Verläßliche und Bekannte: »Dem Romantiker geht es um Erlebnisse, er ist von der
Natur ergriffen und erlebt das Wunder.« [70] Daher sei die Ichform die gegebene
Form jener Lyrik, die als Erlebnislyrik von derjenigen des Symbolismus zu unterschei-
den gesucht wird. Mögen solche »Definitionen« für einige Poeten der späteren Ro-
mantik zutreffen - im Falle Brentanos (wie ähnlich im Falle Eichendorffs) befriedigen
sie nicht. Mehr noch verstellt man sich mit ihnen den Weg zu seiner Poesie als einer
solchen höchsten Ranges, die sich in der Geschichte unserer Lyrik neben Goethe und
Hölderlin zu behaupten vermag. Man muß verlernen, was man gelernt hat. Das sind
wir dem Dichter Clemens Brentano schuldig.
Die Ichform, mit der die romantische Lyrik so gern behaftet wird, ist nur selten
Brentanos Sache. Er redet in Figuren und versteckt sich in Rollen. Der lahme Weber,
die Spinnerin, die Lore Lay, der Schiffer oder die lustigen Musikanten sind solche
Gestalten seiner dichterischen Einbildungskraft. Daß die Natur als Ganzes gesehen
werde, trifft nicht zu; wie es denn mit der sogenannten Naturlyrik Brentanos seine
eigene Bewandtnis hat. Das Wort »Natur« komme bei Brentano nicht vor, hat Claude
David einmal lakonisch festgestellt. [71] Brentanos Natur ist verlorene Natur, und als
diese ist sie kunstvoll und künstlich zugleich. Die Nachtigall unseres Gedichts ist nicht
Symbol einer natürlichen Poesie, sondern der Kunst. Der Wald, der im Jägergedicht
mit raschen Schritten durchmessen wird, ist nicht der gemüthafte deutsche Wald, den
man in Heimatliedern besingt. Er ist ein überaus literarischer Wald, der für etwas
steht: für ein Dunkel nämlich, das sich lichten soll. Die Landschaft im ganzen ist eine
solche der Literatur, mit Lauben, Flöten und verwandten Bildern bukolischen Le-
bens. Erst recht ist Thule nicht so sehr ein geographisch fixierbares Land, sondern ein
solches in Goethes Poesie, das um dieser Poesie willen geliebt wird und ins Gedicht
gelangt. Hier nun vollends geht uns der Unterschied zwischen dem Goetheschen
Symbol und der Art der Symbolik auf, wie sie für Brentanos Lyrik kennzeichnend ist.
Das erstere ist aus der Natur abgeleitet, und noch im Spätwerk basiert es auf Grund-
lagen, die mit seiner Naturwissenschaft im Einklang stehen. Brentanos Symbole in
dem von uns interpretierten Gedicht sind zumeist Symbole aus Goethes dichterischer
Welt. Es sind Symbole des Symbols. Das gilt am Ende auch von den Figuren, die in
unseren Gedichten so deutliche Beziehungen zu Arnim und Brentano verraten und die
den einen der Dichter als Jäger und den andern als Hirten erscheinen lassen. Die
Verführung, sich in der biographischen Deutung zu beruhigen, ist groß. In Wirklich-
keit wird in Weltaltern gedacht, wenn man sich mit dem einen oder anderen Typus,
dem Jäger oder dem Hirten, in Beziehung setzt. Es sind geschichtsphilosophische
Symbole, die auf Paradiese verweisen. Von den Romantikern, hat Hans Mayer ge-
Brentanos naive und sentimentalische Poesie 247

sagt, seien in mächtiger Gegenströmung seit 1830 die Gegenbewegungen ausgegan-


gen, »die zur Schaffung und Verherrlichung künstlicher Paradiese führen sollten.« [72]
Wer auch nur einige Kenntnis von Brentanos Dichtungen hat, wird wissen, daß die
von ihm geschaffenen und verherrlichten Paradiese solche Paradiese sind und daß
noch Gebet, Frömmigkeit und Frömmelei im Zusammenhang einer solchen Anstren-
gung gesehen werden müssen: der Anstrengung, sie mit den Mitteln der Kunst wieder
zu erreichen. Es ist kaum nötig zu betonen, daß eine solche Dichtung in die Zukunft
weist. Von Regression kann nicht die Rede sein.
Die Geschichte dieser neuen Naivität, die Schiller am klarsten formuliert und
welche die Romantik in Poesie umzusetzen weiß, ist ein zentrales Kapitel in der Ge-
schichte des menschlichen Bewußtseins. Sie muß sich im Fortgang des 19. Jahrhun-
derts zunehmend mit den sozialen Fragen befÜhren und sich damit in Bedeutung und
Zielsetzung verändern. In der Zeit der Romantik sind solche Fragen als soziale Fragen
noch kaum relevant. Einfalt und Einfachheit sind in erster Linie vom Bewußtsein her
definiert: als Leiden am Bewußtsein, als »Amfortas-Wunde des Intellekts«, deren
Geschichte Thomas Manns Doktor Faustus erzählt. [73] Die Figuren in Brentanos
Chronika eines fahrenden Schülers, auf die das Lied der Spinnerin sich bezieht, sind
nicht ihrer sozialen Bedeutung wegen interessant. Soziales selbst ist ein Ausdruck des
Getrenntseins, das dadurch überwunden wird, daß die Mutter des fahrenden Schülers
als ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen einen Ritter geheiratet hat. Aber zu-
gleich ist sie in ein fernes Mittelalter entrückt. Sie ist ihrerseits eine durch und durch
literarische Gestalt, wie wir sie bei Goethe, Johann Heinrich Voß und anderen antref-
fen. [74] Dennoch ist dieses Gedicht trotz solcher Geschichtsferne keine geschichtslo-
se, keine »weltlose« Poesie. Diese Gedichte haben allesamt ihren Ort in der Ge-
schichte des Bewußtseins. Sie sind schon deshalb weit davon entfernt, etwas nur
Persönliches oder Privates zu sein. Niemals kann Lyrik derartiges sein, wenn sie uns
als eine Erscheinungsweise objektiver Kunst etwas angehen soll. Die Dichotomie
zwischen dem Persönlichen und Privaten hier und der Frage nach dem Verhältnis von
Lyrik und Gesellschaft dort sollte sich mit der Zeit wieder erledigen. Noch im ver-
meintlich Persönlichen eines Liebesgedichts wird eine bestimmte bewußtseinsge-
schichtliche Situation artikuliert, ein bestimmtes Weltalter oder eine bestimmte Ein-
stellung zur Welt, deren Ausdruck sie sind. »Gedichte«, da kann man Gottfried Benn
unbesehen folgen, »sind keine private, vielmehr eine universale Sache. Für jedes
neue Gedicht braucht man eine neue Orientierung, jedes neue Gedicht ist eine neue
Balance zwischen dem inneren Sein des Autors und dem äußeren, dem historischen,
dem sich mit dem Heute umwölkenden Geschehen.« [75] »Die höchste Lyrik ist
entschieden historisch«, stellt Goethe fest. Sie so zu verstehen, heißt nicht, sie von uns
entfernen. Aber das, was sie dem »philosophierenden Verstand« in unseren aufge-
klärten Zeiten bedeuten kann, ist damit besser umschrieben. [76]
V. Spätwerk und Altersstil
1. Goethe und das Problem seiner Alterslyrik [1]

Von der Jugend des ersten Weltkrieges wird gesagt, daß sie den Faust im Tornister
getragen habe. Die Jugend, die nach dem zweiten Weltkrieg in die Hörsäle drängte-
ohne Tornister, wie sich versteht - war vorzüglich vom alten Goethe fasziniert: vom
Dichter der Wahlverwandtschaften, des West-östlichen Divan und der Wanderjahre.
Und sie war in besonderem Maße aufgeschlossen für die Alterslyrik bis zu den Dorn-
burger Gedichten hin. Diese Vorliebe erklärt den einigermaßen paradoxen Umstand,
daß sich junge und angehende Doktoren in die Altersweisheit Goethes vertieften;
daß sie die Spruchform im Spätwerk erforschten und daß die ansprechende Studie
über die Entsagung nicht, wie man vermuten könnte, von einem emeritierten Profes-
sor geschrieben wurde. Dem allzeit jugendlichen Herman Nohl erschien solche Fixie-
rung auf Altersstil und Altersweisheit ein wenig bedenklich, und er sprach es in seiner
Zeitschrift offen aus. [2] Daß es sich dabei zugleich um eine Warnung des besorgten
Pädagogen handelte, bestätigte ein persönlicher Brief, in dem es hieß: »Daß meine
Schändung des alten Goethe Ärgernis erregen würde, wußte ich natürlich gut und war
auch fast beabsichtigt. Ich weiß selbstverständlich, daß heute alle von dem Alten
fasciniert sind, daß Beutler das in London bejaht hat, daß das gute Buch meines
Freundes Flitner sehr gewirkt hat.« [3] Aber eine Verengung des Lebens, wohl auch
eine fast krankhafte Hingabe der jungen Generation an etwas im Grunde doch Altes
sei damit verbunden, meinte Nohl. Der Brief war zugleich die Antwort auf einen
Beitrag, den er damals mit Zustimmung, aber gewiß nicht ohne die bezeichneten
Vorbehalte in seine Zeitschrift aufnahm. Dieser Beitrag war dem Gedenken des in
München auf tragische Weise ums Leben gekommenen Paul Hankamer gewidmet
und seinem Goethebuch in bevorzugter Weise. [ 4] Schon 1943 war Hankamers Spiel
der Mächte in erster Auflage erschienen - mit einigen Passagen überdies, die zum
Kühnsten gehören, das in der Tyrannis des vermeintlich tausendjährigen Reiches
veröffentlicht worden ist. Hier war zugleich Goethes Altersstil in einer Weise charak-
terisiert, die umso überzeugender wirkte, als sie sich in glänzenden Formulierungen
darbot. Problematische Züge von Gewicht waren dieser Charakteristik nicht eigent-
lich zu entnehmen. Als problematisch erschien allenfalls die Art, wie sich die ältere
Goetheforschung über den Rang dieser Alterskunst hinweggesetzt hatte; denn diese
ältere Forschung war fast ausschließlich am Bild des jungen Goethe orientiert. Sie
war daher geneigt, die Altersdichtung als eine Dichtung des Verfalls zu werten. Heute
252 Spätwerk und Altersstil

drängen sich im genaueren Überdenken dieser Epoche in Goethes Leben einige


Fragen auf, die sich damals nicht sogleich stellten. Was man als Alterskunst zu be-
zeichnen pflegt, ist vielleicht nicht ganz mit der Selbstverständlichkeit so zu bezeichnen,
mit der es vielerorts geschieht. Die in Frage stehenden Probleme sind an der Lyrik
mit besonderer Deutlichkeit aufzuzeigen; denn die Vorstellung, daß die Lyrik ein
Vorrecht der Jugend sei, ist verbreitet. Und mit der Alterslyrik, mit dem Zyklus der
Sonette, hatte es auch das Buch Paul Hankamers zu tun.
Der Verfasser beschreibt die Zeitspanne von 1805 bis etwa 1810, jene Lebens-
augenblicke, in denen der Dichter und Mensch aus seinem Mannesalter heraustritt -
»in welchem er jene Gestalt anzunehmen begann, die durch das landläufige Wort >der
alte Goethe< andeutungsweise bezeichnet wird.« [5] Die Krankheit und die in jener
Zeit erfahrene Todesnähe werden geschildert. Daß der Tod unversehens nicht ihn,
sondern den Freund hinwegraffte, ist in dem bekannten Brief an Zelter ausgespro-
chen: »Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in
demselben die Hälfte meines Daseins.« [6] Von Schauern der Endstimmung ist in
diesem Zusammenhang die Rede, denen Goethe die Form des Sonetts entgegenge-
stellt habe; wörtlich heißt es: »aus ihr [d. h. aus dieser Zeit] stammt das Erlebnis des
Alters rein als eines Abschieds von Jugendfülle und Mannestat ... « [7] Eine tiefgrei-
fende Wandlung - »die letzte Wandlung seiner menschlichen Lebensart« - war damit
verbunden. Die alte Form des Sagens, so lesen wir, verging mit ihrem Gehalt. Die
neue aber mußte erst errungen werden. Zu den neuen Erfahrungen auf dem Hinter-
grund einer jäh aufflammenden Leidenschaft gehört das Dämonische - aber nunmehr
in veränderter Gestalt, wenn man dabei in erster Linie an die Dichtung des Egmont
denkt. Als ein Spiel der Mächte wird dieses Dämonische gefaßt, dem einzig die
Dichtung zu antworten vermag. In dieser Antwort Goethes prägt sich sein Altersstil
am deutlichsten aus. Seine Lyrik verwandelt sich in der Bewältigung des Dämoni-
schen in der Alterslyrik, als die wir sie bezeichnen. Das ironisch wissende Spiel und
die zyklische Form sind wesentliche Elemente des neuen Stils. Seine literarhistorische
Bedeutung faßt Hankamer so zusammen: »Was mit den Sonetten anhebt, das dich-
tungsgeschichtliche Ereignis der letzten schöpferischen Sprachverwandlung Goethes,
ist eine der rätselhaftesten Erscheinungen unserer Sprach- und Geistesgeschichte.
Die deutsche Dichtung, die mit ihm jung geworden und gewesen war, wurde nun mit
ihm alt.« [8]
Aber Hankamers Buch war nur der Auftakt. Alterstil und Alterslyrik wurden von
nun an die bevorzugten Gegenstände der jüngeren Forschung. Das also Erforschte
geht, wie es zu geschehen pflegt, in die repräsentativen Handbücher ein. Daß die neue
Auflage des Goethe-Handbuches je einen Artikel der »Alterslyrik« und dem »Alters-
stil« eingeräumt hat, ist ein sichtbares Zeichen dieser Entwicklung. [9] Beide Artikel
stammen von Erich Trunz, dem verdienstvollen Herausgeber der Hamburger Ausga-
be. Ausdrücklich wird das eigene Unternehmen in diesem Zusammenhang erwähnt,
das sich nach dem zweiten Weltkrieg die Aufgabe gestellt habe, »die goetheschen
Alterswerke besonders ausführlich zu kommentieren [... ] und dabei auf die Eigenar-
ten des A[ltersstil]s hinzuweisen.« [10] Die gedrängte Überschau, die hier gegeben
wird, ist souverän und perspektivenreich. Sie faßt zusammen und weist darüber hin-
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 253
aus. Die Bereicherung ist unbestreitbar. Daß dabei das landläufige Wort vom alten
Goethe nicht mehr nur andeutungsweise genommen wird, versteht sich aus dem
Charakter des Werkes, das vorzüglich der Wissenschaft dient. Die Erörterung ver-
wandter Probleme in der neueren Kunstgeschichte wird daher mit Bedacht einbezo-
gen. Auf die Spätwerke großer Meister von A. E. Brinckmann oder auf das Tizianbuch
von Theodor Hetzer wird aufmerksam gemacht. Es liegt nahe, auch den Anteil der
Psychologie in Rechnung zu stellen, wie es geschieht. Die Psychologie des Jugendal-
ters (im Sinne Eduard Sprangers) korrespondiert in solchen Forschungen zumeist mit
einer Psychologie des alten Menschen. Es handelt sich dabei zugleich um Korrespon-
denzen eines je unterschiedlichen Stils. Daß in solchen Forschungen die Alterskunst
nicht mehr als Verfall gedeutet und gewertet wird, wie es lange Zeit zum Beispiel dem
Spätwerk Theodor Fontanes ergangen war, ist der unschätzbare Gewinn. [ 11] Wie
jede geschichtliche Epoche nach einem Wort Rankes unmittelbar zu Gott ist, so nicht
minder jede Epoche im individuellen Leben des Menschen. Das Eigenrecht eines
solchen Altersstils hatte denn auch Hankamer bereits geltend gemacht: »Goethes
Alter verlangt mit dem gleichen Recht wie seine Jugend zunächst als eine bestimmte
und gestalthafte, naturgewollte Lebensform betrachtet und verstanden zu werden.«
[12] Es sind im Grunde nur die Konsequenzen der historischen Betrachtungsweise, die
sich hier gleichsam zum Biologischen hin erweitern.
Die Gliederung, deren sich Trunz in seiner Übersicht über Goethes Alterslyrik
bedient, ist einleuchtend. Es werden unterschieden: die Sprüche in Versen, die Ge-
dichte an Personen, die weltanschaulichen Gedichte, endlich die reine Lyrik, ein-
schließlich des West-östlichen Divan. Von den Sprüchen wird gesagt, sie seien be-
trachtend, belehrend. Auch an den weltanschaulichen Gedichten wird das Belehrend-
Einprägsame betont. Von Betrachtung überhaupt ist hier wiederholt die Rede. Im
Hinblick auf den Zyklus der Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten wird ge-
sagt: »Er [Goethe] schuf sich hier die Muße der Betrachtung, er führte ein Leben mit
den Pflanzen seines Gartens ... « [13]; und es wird gesagt: »Die Gelassenheit der
Betrachtung äußert sich vor allem als Klang.« [14] Das Gesagte wäre leicht mit
Goethes eigenen Worten zu bestätigen und zu ergänzen. Von der Betrachtung heißt es
mit Beziehung auf das Alter in den Noten und Abhandlungen: »Alles hat seine Zeit!
[... ] Denn wenn dem früheren Alter Tun und Wirken gebührt, so ziemt dem späteren
Betrachtung und Mitteilung.« [15] Betrachtung also ist ein Element dieses Stils. Die
Neigung zum Zyklus ist ein anderes. Jeweils weisen die Einzelmotive über sich hinaus:
»In der Lyrik wird der Divan zum großen Zyklus, dem sich kleinere Zyklen anschlie-
ßen.« [16] Wir erinnern uns abermals der Sonette und der Bemerkungen Hankamers
in diesem Zusammenhang. Aber die Neigung zur Großform der Lyrik und Trilogie
wird begleitet, so lesen wir in unserem Handbuch, von einer betonten Vorliebe für
kurze und kürzeste Gedichte. Solche Gebilde begünstigen den Tiefsinn des Symbols,
und das Symbol gehöre zu allen Gedichten der späten Lyrik, wird ausdrücklich her-
vorgehoben. Ähnlich wird es andernorts gesagt: »So sehr die späte Lyrik von An-
schauung und von Symbolik erfüllt ist, am Ende wird alles zu Geist.« [17] Der Geist,
der alles verinnerlicht, ist überhaupt das prägende Element der Goetheschen Alters-
kunst. Auch davon sprechen die Noten und Abhandlungen wiederholt: »Der höchste
254 Spätwerk und Altersstil

Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwal-
tende des oberen Leitenden [ ... ] Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer
alternden Weltepoche. Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Ta-
lente finden wir in allen Dichtern des Orients.« [18]
Solche und andere Bestimmungen sind zu ergänzen durch einen Aufsatz, der im
Gedenkjahr 1932 erschien. Er liest sich noch heute, als wäre er gestern geschrieben.
Wir meinen die vorzügliche Studie über Goethes Altersgedichte von Karl Vietor. [19]
Sie behandelt mit Absicht nur den Teil der Alterslyrik, der dem Divan unmittelbar
folgt. Die hohe Symbolik dieser Gedichte, ihre Lichtwelt und ihre nächtlichen Phäno-
mene werden gedeutet. Dem begreifenden Geist in der Überschau des Weltwesens
wird mit feinster Einfühlung nachgespürt, und immer wieder gelangt das Bild der
Natur in das Blickfeld der Betrachtung. Eine gelegentlich geäußerte Bemerkung ist
uns von größter Wichtigkeit. Vietor schreibt: »Es ist schon so, daß Goethes Farben-
lehre ein vorzüglicher Kommentar für die Deutung seiner Altersgedichte zu sein ver-
mag.« [20] Aber von Alterslyrik und Altersgedichten wird hier nicht im strengen Sinn
des wissenschaftlichen Begriffs gesprochen. Da man weiß, worum es geht, erübrigen
sich die näheren Bestimmungen. Versteht man indes den Altersstil in einem spezifi-
schen Sinn, in Richtung gleichsam auf die neue Wissenschaft der Gerontologie, so
gewahrt man das Problem, das sich stellt. Es läßt sich mit Vietors eigenen Worten
umschreiben, wenn er einleitend bemerkt, daß man geneigt war, »anzunehmen, der
ins Patriarchenalter eintretende Dichter sei nach der wiederholten Pubertät der Di-
van-Jahre nun aus dem Bereich des schöpferischen Austausches mit der sinnlichen
Natur übergetreten in den des Geistes, der aus sich selbst lebt. Die letzten Gedichte
von reiner lyrischer Art zeigen, daß es nicht so ist.« [21 Die letzten Gedichte von rein
lyrischer Art zeigen - daß es gar keine Altersgedichte sind, so möchte man ergänzen.
Sie sind es allenfalls in Erinnerung an das Biographische, in Erinnerung an die biolo-
gischen Tatsachen des Lebensalters. Aber gerade dieser Bezug ist für die künstleri-
sche Gestalt nicht entscheidend. Eine Unstimmigkeit der Bezeichnungen wird sicht-
bar, eine solche zwischen dem faktischen Alter einerseits und zwischen einer zweiten
Pubertät zum andern. Das Problem, das sich ankündigt, läßt sich vorläufig dahin
formulieren: in Anbetracht wirklicher Kunst tritt anderes in den Vordergrund als das
Alter, dem man im Künstlerischen einen eigenen Stil zuzusprechen geneigt ist. Die
Frage ist am Ende nicht so nebensächlich, ob für derartige Dichtungen der Begriff des
Alters wichtiger ist oder derjenige der wiederholten Pubertät.
Aber Unstimmigkeiten gewahren wir noch in einem anderen Betracht. Der Histo-
riker sieht sich gewarnt, Beginn oder Ende einer Epoche auf das Jahr genau zu
fixieren. Sprechen wir von Goethes Alterslyrik, so wäre es wenig sinnvoll, ein be-
stimmtes Jahr für den Beginn dieser Lyrik zu ermitteln. Wenn der Begriff gelten soll,
so gilt er in einer gewissen Unbestimmtheit ohne Zweifel. Aber in irgendeiner Weise
sind nun dennoch Einschnitte zu setzen. Vietor versteht als Altersgedichte diejenigen,
die dem Divan unmittelbar folgen, ohne dabei den Begriff im strengen Sinn zu ver-
wenden. Erich Trunz ist dagegen an näheren Bestimmungen durchaus interessiert,
und bestimmt wird hier wie folgt: »Diese späte Lyrik beginnt mit dem> West-östlichen
Divan<, dessen meiste Gedichte 1814 bis 15 entstanden, doch kamen in den Jahren
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 255

1819-20 noch weitere hinzu. Im Vergleich mit der Lyrik der Jahre davor zeigt sich hier
eine neuartige Verbindung von Fülle und Geist, von Leidenschaft und Ironie, von
Unbekümmertheit und Verhüllung, die den Beginn des Altersstils erkennen läßt.«
[22] Ähnlich hatte aber bereits Hankamer den Altersstil am Beispiel der Sonette von
1807 beschrieben: aus dem Schmerz der Entsagung, heißt es dort, kam allen diesen
Dichtungen »der Ton der wissenden Ironie zu, die hier in allen Lagen erklingt ... «
[23] Auch im Sonettenzyklus, werden wir zugeben müssen, gibt es die Verbindung von
Fülle und Geist, von Unbekümmertheit und Verhüllung. Es gibt das Lebensgefühl,
dem die Gefährdung »nicht jene Freiheit des Spiels nehmen kann, die aus der Freiheit
des überschauenden Geistes entwächst«, wie wiederum Hankamer formuliert. [24]
Und mit Beziehung auf die zyklische Lyrik führt Wilhelm Flitner aus: »In der Spätzeit
vollends wurde die Zyklenform bevorzugt. Es entwickelte sich seit 1807 ein neuer
IYJ:ischer Stil.« [25]
Angeregt durch derart geistreiche Formulierungen, die sich auf die mit den Sonet-
ten oder auf die mit dem Divan einsetzende Alterslyrik beziehen, sind wir zu erwägen
geneigt, ob hier nicht einige Erweiterungen statthaben dürfen. Die Frage erhebt sich,
ob wir den Beginn dieser Alterslyrik nicht eigentlich noch früher anzusetzen haben, ob
das alles nicht ähnlich schon für die Römischen Elegien gilt. Das Symbolische wurde
als ein Kennzeichen des Altersstils hervorgehoben. Aber die Bedeutung dessen, was
gekennzeichnet werden soll, wird nicht gemindert, wenn wir die Epoche der hohen
Klassik in unsere Überlegungen einbeziehen. Das Symbolische wird in dem Trauer-
spiel Die natürliche Tochter so sehr beherrschend, daß es gelegentlich befremdet.
Auch das Thema der Entsagung, das dann so volltönend in den Wahlverwandtschaf-
ten und in den Wanderjahren erklingt, ist hier schon das beherrschende Motiv. [26]
Kehren wir zur Lyrik zurück - zu den Römischen Elegien, der Metamorphose der
Pflanzen, den Gedichten wie Euphrosyne oder Alexis und Dora -, so sind die Ge-
meinsamkeiten mit der späten Lyrik gar nicht zu übersehen. Nicht so sehr das fällt ins
Auge, was diese Gedichte ihrer Form nach von den späteren trennt. Weit mehr, so
will uns scheinen, drängt sich das Trennende zur Lyrik der früheren Zeit vor. Das wird
am deutlichsten in dem, was für Goethe in jenen Jahren Betrachtung bedeutet. Damit
ist vorzüglich die stets spürbare Neigung zur Gegenständlichkeit gemeint. [27] Die
Dinge werden in der gehörigen Muße nach allen Seiten hin überschaut, wobei der
Betrachtende ungeachtet der liebevollen Nähe zu den Gegenständen noch immer den
Abstand wahrt, der sich schon im Gegenüber des Gegenstandes bezeugt. Niemals
handelt es sich dabei um ein bloßes, gar flüchtiges Anblicken: »Denn das bloße
Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein
Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so
kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoreti-
sieren«, heißt es im Vorwort zur Farbenlehre. [28] Wenn Betrachtung ein Merkmal
der späteren Lyrik sein soll, so hat es gewiß nichts weiter zu bedeuten, wenn wir
entsprechende Züge auch in früheren Lebensabschnitten vorfinden. Aber damit ist
der Sachverhalt nicht zutreffend erfaßt. Schon wer sich an den Wortschatz hält, beob-
achtet die ungewöhnliche Häufigkeit im Gebrauch des Wortes »Betrachtung« seit der
italienischen Reise. Betrachtung ist eines der Kernworte Goethes seit dieser Zeit. Es
256 Spätwerk und Altersstil

ist eines der Kernworte in der autobiographischen Schrift der Italienischen Reise
selbst. Unter dem Datum des 6. September 1786 werden die Eindrücke gelegentlich
des kurzen Besuchs in München aufgezeichnet: »Hier steht auch das vornehme Spiel-
werk, die Trajanische Säule, in Modell. Der Grund Lapislazuli, die Figur verguldet.
Es ist immer ein schön Stück Arbeit, und man betrachtet es gern.« [29] Und wie sich
die Betrachtung auf die Gegenstände der Kunst bezieht, so erst recht auf diejenigen
der Natur: »Ich füge noch einige Bemerkungen hinzu über die Witterung, die mir
vielleicht eben deswegen so günstig ist, weil ich ihr so viele Betrachtungen widme.«
[30] Alles, was ihn umgibt, wird wahrgenommen, verglichen und überdacht, so auch
Sitte und Gewohnheit der Menschen: »Ich betrachtete heut auf mancherlei Wegen
durch die Stadt die Tracht und die Manieren besonders des Mittelstandes«, notiert er
sich während des Aufenthalts in Verona. [31] Auch die Erinnerung, die Vergegen-
wärtigung des Gewesenen wird als Betrachtung bezeichnet: » Heut abend setzt' ich
mich in einen Winkel und hatte meine stille Betrachtung.« [32] Es ist kein Zweifel,
daß hier in Italien die Ursprünge dieses Betrachtens liegen, die wir von nun an bis in
die späten Dichtungen hinein verfolgen können. Buch der Betrachtungen heißt eines
der Bücher des Divan, und in den Noten wird gesagt: »denn alles ist dort [im Orient]
Betrachtung, die zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen hin und her wogt.« [33]
Das alles aber sind nur Variationen einer Auffassungsform, die nicht erst mit dem
Divan beginnt und nicht erst mit dem Zyklus der Sonette. Sie erscheint in der Lyrik
voll entfaltet, die der italienischen Reise unmittelbar folgt. In der herrlichen Elegie
Euphrosyne ist der Sprechende ein Wanderer, der die Phänomene der ihn umgeben-
den Natur beobachtet, betrachtet und bestaunt. Von stiller Betrachtung wird gespro-
chen; oder es heißt: »Und so, liebliches Kind, durchdrang mich die tiefe Betrach-
tung.« Erst recht aber ist das Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen von 1798 ein
Gedicht der Betrachtung:
»Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stenge!,
Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.« [34]

Wenn die Farbenlehre ein vorzüglicher Kommentar zu den Altersgedichten sein


kann, so werden wir die Aussage erweitern müssen, um sie auf die Naturwissenschaft
überhaupt zu beziehen. Sie ist im Gesamt ihrer Gebiete von Goethes Lyrik hinfort
nicht zu trennen, und das betrachtende Verhalten zu den Dingen ist der sichtbarste
Punkt, an dem sich beide Bereiche berühren. Die Hinwendung zur Natur in den
Formen der wissenschaftlichen Erforschung und in den For.men der »lyrischen« Be-
trachtung macht das Ganze aus. Sie gibt in dieser Art dem Schaffen Goethes seit der
Rückkehr aus Italien das Gepräge.
Auch die lehrhaften Züge finden sich bereits hier: sowohl in den großen Gedich-
ten, die sich an der Tradition der antiken Lehrgedichte orientieren, wie auch in den
gnomischen Versen, die das Riesenreich der Spruchlyrik bilden, das seit der italieni-
schen Reise wächst und wächst. [35] Diese vermeintlich so unscheinbaren Gebilde,
die man lange Zeit als bedeutungslose Nebenprodukte behandelt hat, werden ansehn-
licher dadurch, daß man sie in Gruppen zusammenfaßt. Sie drängen von sich aus zum
Zyklus hin. Aber bevorzugt wird die zyklische Form seit der italienischen Reise "ijber-
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 257

haupt: davon zeugen die Römischen Elegien, die Venetianischen Epigramme, die Xe-
nien und die Zahmen Xenien - von den späteren Zyklen ganz zu schweigen. Goethes
Jugendlyrik ist aus der Gelegenheit, aus dem Augenblick hervorgegangen. Die spä-
tere Lyrik verbindet die Fülle der lyrischen Momente zum Ganzen, zum Zyklus. Sollen
wir nun sagen, diese Neigung zum Zyklischen sei das untrügliche Symptom des nun-
mehr erreichten Alters, das sich entsprechend im Stil äußert? Oder wäre nicht eher
die Behauptung zu wagen, daß wir hier eine lyrische Sprache des Andersgewordenen
vernehmen, eine Verjüngung der lyrischen Form? Indessen ist die Häufigkeit der
Zyklen noch von anderen Überlegungen her erhellend. In dem Buch von Clemens
Heselhaus (Deutsche Lyrik der Moderne) ist den lyrischen Zyklen bei Nietzsche,
George und Rilke, bei Mombert, zur Linde und Däubler ein umfangreiches Kapitel
gewidmet - mit Recht, denn in Zyklen zu sprechen, ist moderner Lyrik gemäß, nicht
bloß in Deutschland, um nur an T. S. Eliot und Ezra Pound zu erinnern. [36] Gewiß
wird die Lyrik Goethes in solchen Vergleichen nicht eins mit moderner Lyrik, denn es
gibt die lyrischen Zyklen in der Literatur der Antike nicht minder. Und gewiß bleibt
auch die Eigenart Goethes durchaus gewahrt, wenn er sich dergestalt an eine Tradi-
tion bindet, die von der Antike bis in die Moderne reicht. Wir werden sogar in der
Betonung des Eigenen noch weiter gehen müssen. Der Hinweis liegt nahe, daß das
Zyklische, die Zusammenschau des Polaren auf höherer Stufe, seinem Denken in
besonderer Weise gemäß war:
»Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt ist offenbar
Das was zu Ende bleibt und anfangs war.« [37] .
heißt es im West-östlichen Divan, der die zyklische Form recht eigentlich zu einer
Bedingung des Inhalts macht. Im Buch des Paradieses schließt sich der Kreis, den die
Hegire so machtvoll eröffnet. Was sich vollzieht, ist mit einem Wort aus dem Brief an
Zelter vom 11. Mai 1820 zu umschreiben, das rnutatis mutandis auf alle Zyklen Goe-
thes bezogen werden darf: »Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen
Gottes, heiterer Überblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkeh-
renden Erdetreibens, Liebe, Neigung, zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale
geläutert, sich symbolisch auflösend.« [38] Aber wie sehr es auch berechtigt sein mag,
die Neigung zum Zyklus aus der Denkform Goethes herzuleiten, so gibt es anderer-
seits Züge, die auf das Gattungshafte solcher Zyklen verweisen: in der antiken Litera-
tur, in der Lyrik Goethes wie in der Lyrik der Moderne. Das Verbindungsglied ist das
obere Leitende, der Geist, die hohe Bewußtheit. Wir werden sie der modernen Lyrik
nicht vorenthalten, so wenig wie der antiken Dichtung. Aber diese Bewußtheit ist von
anderen Voraussetzungen her auch das prägende Element im Goetheschen Gedicht-
im Gedicht seit der italienischen Reise, wie wir ergänzen wollen. Die Verse des
jungen Goethe - »Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde / Es war getan, kaum eh'
gedacht«/ - sind so sehr dem Gefühl verhaftet, daß sie aus dem Unbewußten hervor-
zuquellen scheinen. Die neue Lyrik gibt dem Bewußtsein im lyrischen Wort eine
Bedeutung, an die man sich in Deutschland bis zum heutigen Tage noch nicht recht
gewöhnt hat, weil man gern die Jugendlyrik mit dem Wesen der Lyrik verwechselt.
258 Spätwerk und Altersstil

Der dichterische Ausdruck dieser Bewußtheit ist unter anderem ein Motiv, das
abermals die Gedichte von den Römischen Elegien bis zur Marienbader Elegie verbin-
det. Das in Frage stehende Motiv dieser Dichtungen ist die Dichtung selbst: der
humoristische Umgang mit den antiken Versmaßen in den Römischen Elegien, die
überlegene Distanz zum Sonett inmitten der Sonettenwut; endlich die Dichtergestalt in
den immer neuen Verwandlungen, wie vor allem im Divan. Dichtung als Gegenstand
der Dichtung ist ein Ausdruck der Selbst besinnung , der Reflexion auf das eigene Tun
in dem, was die Dichtung vermag und was ihr obliegt. Der sogenannten Stimmungsly-
rik ist solche Bewußtheit fremd. Wo die Stimmung über sich selbst reflektiert, ist es
um sie geschehen. Ggethes Lyrik seit der italienischen Reise entfernt sich hingegen
immer deutlicher von den Möglichkeiten stimmungshafter Aussage. Die Dichtung
wird der bevorzugte Gegenstand des Gedichts in dem Maße, in dem sie an Bewußtheit
gewinnt. Ein solches Selbstbewußtsein des Dichterischen bezeugt sich in der Elegie
Euphrosyne von 1797. Es bezeugt sich vor allem in der hohen, feierlichen Rede, wie
sie dem Totengesang gebührt. Nicht zufällig wird dabei die tragische Kunst aufgeru-
fen; denn sie ist im Reiche der Dichtung eine der kunstbewußtesten Formen zugleich.
Die Kunst soll in unserem Gedicht vollenden, was die Natur offen läßt. Das setzt ein
Bewußtmachen der eigenen Leistung und ihrer Möglichkeiten voraus. Die Vergegen-
wärtigung des Dahingeschiedenen im Rühmen des Dichters, im Totengesang, ist eine
ihrer höchsten Leistungen immer wieder seit Orpheus' Tagen:
»Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod.
Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias
Reiche, massenweis, Schatten vom Namen getrennt;
Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet,
Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.«
heißt es am Ende des Gedichts. [39] In den Römischen Elegien gibt sich das Selbstbe-
wußtsein des Dichterischen bisweilen in der heitersten Laune: »Froh empfind ich
mich nun auf klassischem Boden begeistert«, beginnt die fünfte der Elegien, in der
die Freuden der Liebe auf fast gewagte Weise mit den Mühen der Versmaße kontra-
stieren:
»Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf den Rücken gezählt ... « [40)

Im Zyklus der Sonette von 1807 wird sogleich das erste der Gedichte mit dem
Motiv des neuen Lebens eingeleitet:
»Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;
Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken
Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.«

Das zweite Sonett variiert das Motiv in Hinsicht auf die Geliebte, die neues Leben
verheißt:
»Auf einmal schien der neue Tag enthüllet:
Ein Mädchen kam, ein Himmel anzuschauen.« [41)
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 259

Das Unversehene, das Unvermittelte, das was plötzlich, was auf einmal geschieht,
wird betont. Es sind im Grunde nur andere Umschreibungen des neuen Lebens. Man
kann gewiß auch biographisch deuten: im Sinne der Liebe zu Minchen Herzlieb, einer
Leidenschaft, die das Leben vom Dämonischen her gefährdet und erneuert zugleich.
Aber das neue Leben ist auch ein literarisches Motiv. Es deutet auf Dante hin, auf die
Vita nuova, und damit im weiteren auf Petrarca, auf die zyklische Lyrik und das
italienische Mittelalter, dem das Sonett verdankt wird. [42] Eigentlich ist jedes dieser
Sonette zugleich ein Bewußtmachen des Sonetts, eine Vergegenwärtigung seiner Lei-
stung aufgrund der strengen Form. Auf höchst geistreiche Weise wird das alles durch-
gespielt. Aber um ein unverbindliches Spiel handelt es sich dabei nicht. Die Nötigung
zum Spiel mit Klängen, Reimen und Rhythmen liegt im Ernst des neuen Lebens
selbst. Und im Sinne dieses Selbstbewußtseins antwortet dem unbefangenen, naiven
und ganz gefühlshaften Wollen des Mädchens der Dichter, der die künstlerische Form
will: die Bewältigung der Leidenschaft durch den Geist. Der aber vor allem ist im
Bewußtsein des Dichterischen gegenwärtig - wie in nahezu jedem der Divan-Gedich-
te. Die Äußerungsformen reichen hier von hoher Feierlichkeit bis zu Freisinn und
Übermut:
»Alles weg, was deinen Lauf stört!
Nur kein düster Streben!
Eh er singt und eh er aufhört,
Muß der Dichter leben.« [43]
Und er lebt wirklich, wer wollte wagen zu widersprechen! Da gibt es Vergleiche des
Dichters mit den Mächtigen dieser Erde, die wahrhaft nichts zu wünschen übrig
lassen:
»Was ist denn Hoheit? Mir ist sie geläufig!
Du schaust mich an, ich bin so groß als er.« [44]
Aber die Verbindung von Unbekümmertheit und Verhüllung, die nach Trunz den
Beginn des Divanstils erkennen läßt, bemerken wir nicht erst hier; nicht erst im Divan
oder im Zyklus der Sonette. Sie gilt - noch einmal- seit der italienischen Reise. Mit
ihr ist der tiefe Einschnitt im Denken und Dichten Goethes gegeben. Er selbst war
sich dessen am besten bewußt, wenn er gelegentlich von der großen Kluft sprach, die
durch die Reise nach Italien gemacht wird. [45] Es geht um Korrekturen in Fragen
der Alterslyrik : ihren Beginn nämlich um wenigstens fünfzehn Jahre zurückzudatieren.
Aber wir hüten uns, indem wir es tun, noch von Alterslyrik im strengeren Sinne des
Begriffs zu sprechen. Was sich uns im Blick auf jenen Einschnitt darbietet, ist ein
tiefgreifender Wandel der lyrischen Form, ein veränderter Bewußtseinsgrad der lyri-
schen Aussage, die sich immer spürbarer von der Dominanz des Gefühls entfernt.
Doch suchen wir die Gründe für diesen Wandel nicht so sehr im Faktum des biologi-
schen Alterns. Wir suchen sie weit mehr in den Verhältnissen der Zeit. Die Französi-
sche Revolution - nicht nur bei Goethe - ist eine der Ursachen, die zu derart hoher
Geistbewußtheit herausfordert. Quod esset demonstrandum!
Der Begriff des Alters und des Alterns enthüllt sich in seiner Problematik, je mehr
wir uns aus der Umklammerung der ungeschichtlichen Psychologie lösen. Die Ent-
260 Spätwerk und Altersstil

scheidung wird unumgänglich, ob wir uns vorzüglich der biologischen oder der histori-
schen Betrachtungsweise anvertrauen sollen. Die Symbolik, die Geistbewußtheit, die
Ironie, das Lehrhafte, die Spruchform, der lockere Satzbau, die neuen Wortprägun-
gen, die formelhaften Wendungen - das alles sind ja ganz unbezweifelbar die Merkma-
le der späteren Lyrik, des sogenannten Altersstils. Aber wer sagt eigentlich, daß sie
vorzüglich oder ausschließlich dem Alter zugehören? Vielmehr: worin beruht denn die
Evidenz solcher Deduktionen? Die Geistbewußtheit ist unter den Jüngeren der mo-
dernen Lyrik nicht geringer als in den Versen des alten Goethe. Im lockeren Satzbau
lassen sie sich von ihm nicht übertreffen. An neuen Wortprägungen fehlt es ihnen
nicht. Und die Ironie beherrschen Dichter wie Brecht, Kästner oder Enzensberger auf
ihre Weise überzeugend. Wissendes Dichterturn soll Goethes Altersgedichte auszeich-
nen, sagt man oft. Das leugnen wir nicht. Aber die Verse des jungen Hofmannsthai
oder des jungen Rilke sprechen aus einem Wissen heraus, das uns sehr leicht über die
Lebensjahre täuscht. Reichtum an Erfahrung und Lebensweisheit sind gewiß Vorzüge
des Alters - obgleich es auch Alterstorheiten gibt. Aber Erfahrungen dieser Art sind
vorab nur Materialien des Inhalts. Es fehlt ihnen noch das Signum der Gestalt. Wenn
die Überschau, wie im Lied des Türmers, eines der Gestaltungsmittel ist, in dem sich
die Lebensweisheit verdichtet, so ist damit noch nicht ausgeschlossen, daß es Formen
der Überschau und des Wissens gibt, die sich schon im frühen Lebensalter bezeugen.
In jedem Fall ist die entscheidende Frage die, ob den neuen Erfahrungen des älter
gewordenen Dichters die neue Form entspricht, die ihre künstlerische Bewältigung
verbürgt. Uns interessiert in erster Linie, ob diese künstlerische Bewältigung gelingt,
ob sie noch gelingt. Wo das geschieht, da wird die Frage des Alters eigentümlich
belanglos; und nicht mehr dem Alter gilt unsere Aufmerksamkeit, sondern dem
Neuen der künstlerischen Gestalt, die eine Antwort auf neue Erfahrungen enthält. Es
sind im Künstlerischen die Erneuerungen, es sind die wiederholten Pubertäten, auf
die es ankommt. Von ihnen hat Goethe mit deutlicher Beziehung auf den West-
östlichen Divan gesprochen, Eckermann gewahrt im Gespräch eines Abends das
Feuer der Augen - »als wäre er [Goethe] von einem frischen Auflodern seiner besten
Jugend durchglüht«; und die Art, wie Goethe der Jugend das Wort redet, veranlaßt
Eckermann, für das Alter Partei zu ergreifen, für jene Männer, denen im hohen Alter
die nötige Energie nicht fehlt. Darauf dann Goethe: »Solche Männer und ihresglei-
chen [... ] sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben
eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind. Jede Entele-
chie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen
Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. - Ist diese Entelechie geringer Art, so
wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, viel-
mehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und
hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der
Fall ist, so wird sie, bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers, nicht allein auf
dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch, bei
ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu
machen suchen. Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen
auch während ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Produktivität
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 261

wahrnehmen; es scheint bei ihnen einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzu-
treten, und das ist es, was ich wiederholte Pubertät nennen möchte [... ] Als mich vor
zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach den Befreiungskriegen, die Gedichte
des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft an einem Tage zwei
bis drei zu machen ... « [46] Das Element der Verjüngung erweist sich hinsichtlich
jeder Alterskunst paradoxerweise als die eigentliche Voraussetzung ihres Stils, wenn
es sich denn um wirkliche Kunst handelt. Und die Verjüngung, diejenige der Sprache
wie der literarischen Form, ist eine der Grundtatsachen des literarischen Lebens.
Erneut befinden wir uns im Einklang mit der Betrachtungsweise, wie sie dem Histori-
ker gemäß ist. Nicht daß wir in Dingen der Kunst nur dem Neuen das Wort reden,
und schon gar nicht den sich überbietenden Avantgardismen, dem Neuen um jeden
Preis. Aber die Stilerneuerungen von Zeit zu Zeit halten wir für unerläßlich. Das
ehedem Neue verbraucht sich und veraltet. Der Wahrheitsgehalt schwindet dahin.
Die deutsche Dichtung, die mit Goethe jung gewesen war, wurde nicht alt mit ihm,
wie Hankamer meint. Sie verjüngte sich im Gegenteil in seinem Werk immer erneut.
In ihren Erneuerungen beruht die Größe der Goetheschen Lyrik. Der Wandel ist ihr
innerstes Gesetz, und die Wandlungen setzen uns in Erstaunen umso mehr, wenn wir
das Lebensalter in Betracht ziehen. Zum Altern in der Natur und im Menschenleben
gehören Wachstum, Reife und Verwelken, gehören bestimmte Alterssymptome orga-
nischer Art, über die uns die Medizin orientiert. [47] Zum Leben der Kunst gehört die
Verjüngung, wenigstens von Zeit zu Zeit; und Verjüngung zu betonen, ist zum Ver-
ständnis dessen gefordert, was man gemeinhin als Altersstil bezeichnet.
Eine solche Verjüngung ist schon die Verskunst der Straßburger Zeit. Fast zwei
Jahrzehnte dichtet Goethe mit geringen Veränderungen in diesem Stil, bis sich zum
ersten Male der tiefgreifende Wandel vollzieht. Wir haben uns bezüglich dieses Ein-
schnitts zu vergegenwärtigen, daß es sich dabei nicht nur um einen individuellen
Vorgang handelt. So wie Goethe nach der Rückkehr aus Italien zu dichten beginnt, in
Abwendung nämlich von der vorwiegend volksliednahen Lyrik, so dichten ähnlich
Schiller, Hölderlin oder Novalis - bei allen Unterschieden der individuellen Form.
Schiller vor anderen erlaßt, worum es geht. Der deutlichste Ausdruck ist seine Rezen-
sion der Gedichte Bürgers. [48] Die Gedichte Bürgers, die ihrer Entstehung nach um
einige Jahrzehnte zurücklagen, erschienen gesammelt erstmals 1789 - im Jahre der
Französischen Revolution. Die Tendenzen der Epoche drängten aber damals über das
hinaus, was der Sturm und Drang erreicht hatte. Die ungestüme Begeisterung aus der
Fülle des Herzens war um 1770 ein Gebot der Stunde. Um 1790 erweist es sich als
eigentümlich überholt. So spricht es denn Schiller aus: »Begeisterung allein ist nicht
genug; man fordert die Begeisterung des gebildeten Geistes.« [49] Und Goethe, mit
Bürger ehedem befreundet, entfernt sich immer weiter von ihm - im Menschlichen
wie im Künstlerischen. Er hat sich nirgends gegen Schillers Rezension gewandt. Dem
Gebot der Erneuerung verschließt auch er sich um jene Zeit nicht, wobei geschieht,
was oft zu geschehen pflegt: daß im Neuen immer zugleich auf Altes zurückgegriffen
wird. So geschah es in der Jugendlyrik Goethes mit dem Rückgriff auf die volkslied-
nahen Formen. Und so geschieht es nun: der aus Italien zurückkehrende Goethe
erneuert seine Lyrik am Vorbild der Alten, an Properz, Tibull und Catull. Das sicht-
262 Spätwerk und Altersstil

barste Ergebnis dieser Erneuerung sind die Römischen Elegien. Daß sich die Hinwen-
dung zur Lyrik der Antike vorzüglich aus dem Erfahrungshorizont des Italienaufent-
halts versteht, ist nicht eigens zu betonen. Und daß der Aufenthalt dort als eine
Verjüngung ohnegleichen erfahren worden ist, bestätigt das Zeugnis dieser Reise
wiederholt. Die Idee des neuen Lebens ist wohl nirgends so eindrucksvoll umschrie-
ben worden wie hier: »Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes
Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man
das Ganze mit Augen sieht ... « [50] Diese Idee, die vermutlich jeder Reise zugehört,
ist mit den Gegenständen der alten Welt aufs innigste verbunden. Daher der immer
wieder durchbrechende Hymnus auf Rom: »denn an diesen Ort knüpft sich die ganze
Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wieder-
geburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.« [51] Es ist, als wären Kunst und Literatur
der Neuzeit mit der Idee der Wiedergeburt, der Renaissance im weitesten Sinn des
Wortes verbunden. So entspricht denn auch der Verjüngung in Italien die Verjün-
gung der künstlerischen Form.
Der nächste folgenreiche Einschnitt ist fraglos mit Schillers Tod gegeben. Die
Mauern des alten Reiches sind zusammengestürzt. Napoleon steht auf dem Gipfel
seiner Macht. Von den verschiedensten Seiten her erfährt Goethe die Grenzen des
Klassischen in der hohen Stilisierung der vorausliegenden Epoche. Die Begegnung
mit Minchen Herzlieb bedeutet eine so nicht erwartete Bedrohung der eigenen Exi-
stenz, auf die Goethe schöpferisch zu antworten pflegt, wie eben jetzt mit dem Zyklus
der Sonette. Und abermals ist die Verjüngung das Strukturgesetz der neuen Lyrik.
Auf das Motiv des neuen Lebens wiesen wir hin. Dem neuen Leben aber entspricht
die für Goethe neue Form des Sonetts. Zwar war es schon zuvor vereinzelt erprobt
worden. [52] Aber im Zyklus wird sie jetzt zum erstenmal verwandt - nicht ohne die
Einwirkung Jüngerer, nicht ohne Einwirkung vor allem eines romantischen Dichters
wie Zacharias Werner. Das biologische Alter im Gegensatz zu solchen Verjüngungen
der künstlerischen Form ermißt man abermals an einem Jugendfreund, der die Unbe-
weglichkeit gegenüber den Bewegungen der Zeit bis zur Altersstarrheit steigert. Der
knorrige Johann Heinrich Voß ist gemeint. Er verteidigt in seiner Heidelberger Burg
die Klassizität wie eine mittelalterliche Festung. Aber das Mittelalter selbst ist ihm
verhaßt bis in den Tod. Daher verfolgt er das mittelalterliche und damit katholische
Klinggedicht des Sonetts mit seinem Haß. Züge des Komischen mischen sich in diese
Altersstarrheit ein, und ein wenig ins Komische entgleitet auch die Warnung, die er
Goethe gegenüber in Form eines Sonetts erteilt. Die Veröffentlichung erfolgt im
Morgenblatt für gebildete Stände, dem Organ der antiromantischen Partei. Der Sonet-
tenkrieg ist damit eröffnet, den die Heidelberger höchst geistreich und überlegen
führen. Auf das Streitobjekt der Sonetts anspielend, schreibt Görres in der Zeitung
für Einsiedler: »Der schwarze König hörte das nicht gern, denn er hatte längst schon
einen Haß auf die kleinen Tönnchen geworfen, und meinte, sie seien alle tieckisch,
und da konnte er sie in der Seele nicht leiden, weil er selbst bekanntlich antikisch ist.«
[53] Goethe verfolgt mit Gleichmut diesen Streit, der sich an seiner Person entzündet
hatte. Dennoch steht er als der Ältere nicht dem älteren Jugendfreund Johann Hein-
rich Voß näher, sondern den Dichtern der jüngeren Romantik. Voß aber konnte
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 263
nicht ahnen, daß sich Goethe eben um diese Zeit nicht nur vereinzelt der verhaßten
Gattung bediente, sondern sich überdies anschickte, einen ganzen Zyklus von Sonet-
ten zu dichten. Aber endgültige Formen der lyrischen Aussage waren auch damit nicht
gemeint. Die Lyrik des Divan leitet eine erneute Verjüngung ein.
Die Unproduktivität des Lyrischen nach Abschluß der Sonette ist oft beschrieben
worden. [54] Goethe hatte die Sechzig inzwischen überschritten. Wenn im Dichteri-
schen noch etwas zu erhoffen war, so am wenigsten vom Gedicht. Aber das Unerwar-
tete geschieht: die Lyrik des Divan entsteht, die alles Erreichte zurückzulassen scheint,
indem sie zu einer so nicht dagewesenen Freiheit des dichterischen Wortes aufbricht.
Eine Verjüngung ohnegleichen findet statt; und wenn es zutrifft, daß der Altersstil
seiner Lyrik mit diesen Gedichten einsetzt, so mag sich die Aussage aus der Kenntnis
der biographischen Fakten ergeben. Die Dichtung selbst spricht anders zu uns. Sie ist
von einer Jugendlichkeit, die alles übertrifft , was wir von Goethe kennen. Ein
beglückend freier und frischer Ton prägt sich dem Ohre und dem Gedächtnis ein, wie
sogleich im Eingangsgedicht der Hegire:

»Nord und West und Süd zersplittern,


Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen
Soll dich Chisers Quell verjüngen.« [55]

Damit ist das Thema angeschlagen, das Thema der Verjüngung, das sich so vielfäl-
tig mit den verschiedensten Motiven verschlingt. Eine Variation dieses Motivs ist die
Reise. Es ist im Divan eine Reise im Doppelsinn der Verjüngung: eine solche ins
Westliche, in das Land der eigenen Jugend; und eine solche ins Östliche, in die Poesie
des Orients. Und hier vor allem geht uns das eminent Poetische im Motiv der Reise
auf. Ȇberhaupt ist mit dem Leben, das einem nachdenklichen Menschen die Be-
trachtung eines neuen Landes gewährt, nichts zu vergleichen«, hatte Goethe schon in
der Italienischen Reise ausgeführt, und wie wenn es zugleich auf den späteren Divan zu
beziehen wäre, heißt es an anderer Stelle: »Ich freue mich auf das Neue, das unaus-
sprechlich schön sein soll, und hoffe in jener paradiesischen Natur wieder neue Frei-
heit und Lust zu gewinnen.« [56] Das Neue ist ein Wesensmerkmal jeder Reise. Aber
das Neue - von Zeit zu Zeit - ist auch ein Wesensmerkmal der Poesie. Seit dem
Beginn der Neuzeit wird das immer deutlicher. Dichtung und Reise sind, so betrach-
tet, im Grunde nur verschiedene Erscheinungsformen desselben Phänomens, des
Neuen in vielerlei Gestalt. »Der Dichter betrachtet sich als ein Reisender«, heißt es in
einer Erläuterung zur Hegire. [57] Dichter und Reisender werden eins, so besonders
in Frohsinn, Überschwang und Übermut. Das Selbstbewußtsein des Dichterischen
kennt keine Grenzen, wir deuteten es an. Und es ist der Übermut der Jugend, der sich
äußert. Er darf sich äußern, weil sich im Wesen des Dichterischen selbst etwas Ju-
gendlich-Verjüngendes bezeugt. Der Abstand zwischen der Idee der Verjüngung und
der Wirklichkeit des biographischen Alters wird daher nicht geleugnet. Er wird im
Gegenteil ein Strukturelement dieser Lyrik selbst. Der Wirklichkeit des Lebens wird
264 Spätwerk und Altersstil

das dichterische »Doch« entgegengesetzt. Das weist über die Tatsachen hinaus - ins
Land der Poesie:
»Im Nebel gleichen Kreis
Seh ich gezogen,
Zwar ist der Bogen weiß,
Doch Himmelsbogen,
So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben,
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.« [58]

Und was in der Vielfalt der Motive angeschlagen wird, was sich verzweigt und
verschlingt, das erhält seine prägende Mitte im Motiv der Liebe, dem eigentlichen
Sinnbereich der Verjüngung. Wie die Dichtung, so ist das liebende Herz seinem
Wesen nach fast alterslos; und wo das Wesen der Liebe erfahren wird, da ist auch das
Wesen der Jugend gegenwärtig:
»Nur dies Herz, es ist von Dauer,
Schwillt in jugendlichstem Flor;
Unter Schnee und Nebelschauer
Rast ein Ätna dir hervor.« [59]
Das sind Verse, tragisch getönte Verse, die deshalb den Übermut geistreicher
Verhüllung nicht verleugnen, insofern nämlich, als der Name Hatem eingesetzt wird,
wo der Reim einen anderen Namen verlangt:
»Du beschämst wie Morgenröte
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sommerbrand.«

Das Geistreiche steht dieser Liebeslyrik nicht im Wege, sondern erhöht ihren Reiz.
Eine Atmosphäre der Geselligkeit wird im Vers lebendig, eine Freude am Spiel, die
den Ernst nicht verleugnet, sondern voraussetzt. [60] So kann denn auf dem Hinter-
grund tragischer Konstellationen, mit dem Ernst des Alters selbst noch gespielt wer-
den - geistreich, wissend und ironisch zugleich. Die Idee der Verjüngung wird die
zentrale Idee des ganzen Zyklus. Das Selbstbewußtsein des Dichterischen begreift sich
in einer äußersten Kühnheit, je mehr der biographische Abstand erfahren wird.
Gerade. weil sich das Alter im Biographischen und Biologischen so gebieterisch in
Erinnerung bringt, ist die Dichtung zu letzter Bewußtheit genötigt. Sie hat Anlaß, sich
gegenständlich zu nehmen, um das Wesen der Dichtung im Wesen der Verjüngung zu
deuten.
Daß sich zugleich und abermals auch eine Verjüngung der dichterischen Formen
vollzieht, ist oft hervorgehoben worden. Der Umgang mit den Elementen des Ge-
dichts, den sich Goethe dabei gestattet, der Umgang mit Versmaß, Reim und Stro-
phenbau, läßt hier und dort an Unbekümmertheit nichts zu wünschen übrig. Man hat
das gelegentlich als Versagen der dichterischen Gestaltungskräfte verstanden. Aber
es ist mit Gewißheit anders. Eine Rückkehr zur vorwiegend liedhaften Form erfolgt,
Goethe und das Problem seiner Alterslyrik 265

eine Rückkehr in das Land der Jugend. Im Divan wird noch in der Liebeslyrik eine
gesellige Liedhaftigkeit möglich, die an die Anakreontik erinnern könnte, wenn sie
sich nicht auf einer völlig neuen Stufe darböte. In dem gleichen Maße aber, in dem
diese Divanlyrik in gewisser Weise Vergangenes erneuert, deutet sie voraus. Was
Hankamer von den Sonetten sagt, gilt vom Divan erst recht: »In seiner selten einmal
durchbrochenen Einsamkeit nahm Goethe dabei mehr als ein Jahrhundert der künfti-
gen Dichtung seines Volkes vorweg und entfaltete persönlich, goethisch die deutsche
Sprache zu Formen, die zum mindesten bei den antiken Völkern ihre Entsprechung
erst in der letzten schöpferischen Kulturzeit haben.« [61] Der Weg zum Sozialen, den
Hofmannsthai ging, indem er sich von der Lyrik trennte - hier wird er in sublimster
Weise vorausgeahnt und im lyrischen Wort gestaltet. Der Vergleich mit den jüngeren
Dichtern unter den ~i ss mit den Lyrikern der Spätromantik, nimmt sich
von solchen Überlegungen her höchst reizvoll aus. Denn der etwas ketzerische Gedan-
ke ist doch wohl auszusprechen erlaubt - der Gedanke nämlich, ob die Verskunst des
alten Goethe nicht eine weit jugendlichere Lyrik darstellt als beispielsweise die ein
wenig alte Lyrik des jungen Uhland. Die künstlerische Bewältigung der schwierigen
Probleme, die dem 19. Jahrhundert aufgegeben ist, erscheint jedenfalls vom Divan
her sehr wohl denkbar. Aber von hier aus erscheint auch die Vorliebe für den alten
Goethe in einem veränderten Licht, die nach dem zweiten Weltkrieg vor allem die
jüngere Generation so durchgehend bekundete. Skepsis und Enttäuschung waren
dieser Jugend wohl vertraut. Aber die Freude an solcher Alterskunst war alles andere
als ein Zeichen des Müdeseins oder gar der Degeneration. Eher war es die Überra-
schung, daß sich in diesem Alterswerk ein Dichter bezeugte, den man so nicht erwar-
tet hatte. Es war mehr oder weniger deutlich die Einsicht, die wir hier denn auch
aussprechen möchten: daß es gar nicht das Alte dieser Dichtung war, das man liebte,
sondern eine Jugendlichkeit der dichterischen Ausssage, die ebenso auf manche Aus-
drucksformen der Moderne vorausdeutet, wie sie zugleich den Rang großer Dichtung
verbürgt:
»Nun töne Lied Iilit eignern Feuer!
Denn du bist älter, du bist neuer.«
2. Goethes Gedicht Der Bräutigam
Ein Beitrag zur Form seiner Alterslyrik [1]

Im Vorwort seiner Studie über die Struktur der modernen Lyrik gesteht Hugo Fried-
rich freimütig, daß ihm bei Goethe wohler sei als bei T. S. Eliot. [2] Aber im Nach-
wort der genannten Schrift wird von der Abneigung des Verfassers gegenüber einer
Literaturwissenschaft gesprochen, die an dem unglücklichen Prinzip Erlebnis und
Dichtung krankt. [3] Das Erlebnis und die Dichtung war der Titel jener Aufsatzsa:mm-
lung, die Wilhelm Dilthey zuerst 1905 veröffentlichte. »Erlebnis und Dichtung«, so
lautete zugleich die Überschrift eines Kapitels im Goethe-Essay dieses Buches. [4]
Und in der Tat: das unglückliche Prinzip, von dem Hugo Friedrich spricht, ist mit dem
Namen Goethes aufs engste verknüpft. An seinen Versen zumal hat sich die Vorstel-
lung gebildet, als sei das Wesen der Lyrik mit dem Wesen der Goetheschen Lyrik
identisch; als müsse große Dichtung immer Erlebnisdichtung sein. [5] Die Vorstellung
ist noch heute verbreitet. Aber weite Bereiche der europäischen Lyrik widersprechen
ihr. Was immer bei Gryphius oder Hölderlin, bei Baudelaire oder Valery »erlebt«
sein mag: - um Erlebnislyrik handelt es sich nicht. Sind wir indessen berechtigt, den
Erlebnisbegriff unreflektiert und ohne Einschränkung auf Goethes Lyrik im ganzen
anzuwenden? Trifft er nicht weit mehr auf die Verse des jungen Goethe zu als auf
seine Alterslyrik? Dergleichen Vorüberlegungen sind nicht nebensächlich, weil jeder
Gedichtinterpretation immer zugleich eine bestimmte Auffassung vom Wesen der
Lyrik zugrunde liegt. Das wird beispielhaft deutlich an eben jenen Versen, die wie
keine im Umkreis der Goetheschen Alterslyrik das Interesse der Liebhaber und
Forscher erregten. Wir meinen das Gedicht Der Bräutigam, dem allein in den letzten
Jahren so einläßliche Betrachtungen gewidmet wurden, daß wir uns der Verpflich-
tung enthoben sehen, die Auslegung noch einmal Vers für Vers und Silbe für Silbe zu
wiederholen. [6] Will es doch ohnehin scheinen, als sei die »Kunst der Interpretation«
vielerorts in Gefahr, den Kontakt mit echter Forschung und den Sinn für geschichtli-
che Zusammenhänge zu verlieren.
Die wiederholte Beschäftigung mit unserem Gedicht ist kein Zufall. [7] Es sei das
dunkelste, das Goethe je geschaffen hat, meint Hermann August Korff [8]; und gewiß
ist es eines der rätselhaftesten Gebilde. Denn rätselhaft ist an diesem Gedicht nahezu
alles: wann es entstand, auf wen es sich bezieht, was es mit der Überschrift auf sich hat
und warum es nicht in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen wurde. Ohne Namens-
nennung war es 1829 in der von Goethes Schwiegertocher herausgegebenen Zeit-
Goethes Gedicht Der Bräutigam 267

schrift Chaos erschienen. Daß es unmittelbar zuvor auch entstanden sei, nahm man
gemeinhin an. In den meisten Ausgaben wurde es daher unter die Dornburger Ge-
dichte vom Sommer 1828 eingereiht. [9] Gleichwohl wurde diese Einordnung mehr-
fach in Frage gestellt. [10] Die vorgeschlagenen Datierungen liegen innerhalb eines
Zeitraums von nur fünf Jahren. Aber selbst innerhalb eines so eng begrenzten Zeit-
raums war noch jedesmal mit einer neuen Datierung eine neue Deutung verbunden.
Das hängt mit dem Erlebnishintergrund des Gedichts zusammen und mit der Frage,
an welche Frauengestalt wir zu denken haben. Die Ansicht ist noch neuerdings geäu-
ßert worden, daß ein Gedicht wie die Marienbader Elegie ganz aus sich selbst zu
verstehen sei, während der Bräutigam nur durch einen biographischen Rekurs ver-
ständlich werde. [11] Von der Datierung erwartete man immer zugleich Auskünfte
biographischer Art. An solchen Auskünften hat es nicht gefehlt: Goethes Frau Chri-
stiane, Lili Schönemann, Charlotte von Stein und Ulrike von Levetzow traten in das
Blickfeld der Interpreten. An Entlegenes wurde gedacht, aber Naheliegendes wurde
übersehen. Und nahe liegt die Handschrift, nämlich in Leipzig. [12] Das Verdienst,
daran erinnert zu haben, gebührt Lieselotte Blumenthal. Ihr verdanken wir die Klä-
rung zahlreicher Vorfragen - abgesehen davon, daß ihre behutsame und konziliante
Auslegung als beispielhaft zu bezeichnen ist. Man erfährt, was man bisher nicht wußte:
daß die letzte Strophe in der ersten Niederschrift anders ausgesehen haben muß und
daß mit der Umänderung dieser Strophe auch der Titel des Gedichts eingefügt wurde.
[13] Die Feststellung ist deshalb wichtig, weil über diesen Titel mancherlei Vermutun-
gen geäußert wurden. [14] Und sie ist umso überraschender, als uns die Weimarer
Ausgabe mitteilt, daß die Überschrift in der handschriftlichen Fassung fehle. [15] Es
erhöht nicht eben den Ruhm einer historisch-kritischen Ausgabe, wenn sich die Inter-
preten auf Auskünfte verlassen, die sich als irrtümlich erweisen. Und bisweilen - die
Entfernungen sind groß - muß man sich darauf verlassen können.
Unter allen bisherigen Datierungsversuchen ist derjenige von Lieselotte Blumen-
thai zweifellos der gewichtigste. Wir müssen es uns versagen, die Beweisführung
Schritt für Schritt zu wiederholen. Ihr zu folgen gereicht jedem zur Freude, der sich
nicht nur dem Geist, sondern gleichermaßen dem Buchstaben der Dichtung verpflich-
tet weiß. Im Zusammenhang mit den auf der Rückseite verzeichneten Lynkeusversen
aus dem dritten Akt von Faust II wird gefolgert, daß eine Reinschrift unseres Ge-
dichts spätestens Anfang 1825 angefertigt wurde. Besonders dieser Teil der Beweis-
führung, äer das Gedicht aus der unmittelbaren Nähe der Dornburger Lyrik entfernt,
wird so leicht nicht zu widerlegen sein. [16] Ungeachtet dieser Datierung beansprucht
Walter Hof das Gedicht weiterhin als ein Requiem auf Frau von Stein; und er stellt
uns dabei vor recht grimmige Alternativen, sofern man entweder den von ihm »ge-
führten Beweis als Indizienbeweis anerkennen oder auf das vollkommene Verständnis
eines der schönsten und erschütterndsten Gedichte in deutscher Sprache verzichten
muß.« [17] Im Gegensatz zu dieser Deutung gelangt Lieselotte Blumenthai in der
näheren Bestimmung der Entstehungszeit in den Umkreis der Marienbader Elegie.
[18] Das ist im zweiten Teil ihrer Beweisführung deutlich ausgesprochen. Dabei wer-
den vorwiegend biographische Zeugnisse herangezogen. [19] Diese Materialien sind
in stärkerem Maße miteinander zu kombinieren, als es im ersten Teil erforderlich war.
268 Spätwerk und Altersstil

Aber überraschend ist nun doch das Resultat: die Nähe unseres Gedichts zur Marien-
bader ELegie. Daß der Bräutigam in seiner seelischen Verfassung mit dem Mittelteil
der Trilogie der Leidenschaft verwandt sei, wird ausdrücklich hervorgehoben. [20]
Aber zum »Kunstgebild der echten Art« gehört es, daß es in sich unerschöpflich ist
und daß neue Antworten neue Fragen aufgeben. [21] Sind beispielsweise die anspre-
chenden Deutungen, die wir Karl Vietor und Paul Stöcklein verdanken, als überholt
zu betrachten, weil bei ihnen dieser Nähe mit keinem Wort gedacht wird? Beide
Interpreten legen auf den Erinnerungscharakter des Gedichts Wert. [22] Er müßte aber
fühlbar zurücktreten, wenn sich das Gedicht auf eben Gewesenes, auf die Erlebnisse in
Marienbad, beziehen sollte. Lieselotte Blumenthai spricht davon, daß die ersten Stro-
phen aus der leeren Gegenwart in die erfüllte Vergangenheit führen: »Das von Liebe
erfüllte Herz findet tags und nachts keine Ruhe, sondern kennt nur schmerz-
liches Entbehren.« [23] Erhält die Eingangsstrophe damit nicht ein Gepräge, das um
einige Grade zu dunkel anmutet? Karl Vietor gewahrt hier noch hellere Töne [24], und
Paul Stöcklein spricht von der Transparenz der Mitternacht, von der eigentümlichen
Zeit der Umwendung. »Mitternacht [... ] ist der Augenblick, in dem der Gedanke, neu
belebt, Vergangenes und Zukünftiges zu verbinden weiß ... «, heißt es an anderer
Stelle. [25] An die Mitternacht als die Stunde der Wiederbelebung in der Braut von
Korinth wird erinnert. [26] Das berührt zugleich die Frage, ob das Gedicht einer
Abgeschiedenen gewidmet ist. Man muß Walter Hof nicht unbedingt folgen, wenn er
versichert: die Schwelle der letzten Strophe ist das Grab - nämlich dasjenige der Frau
von Stein. [27] Doch wird auch in der Auslegung Paul Stöckleins die Möglichkeit
angedeutet, daß hier einer Toten gedacht wird. Nur wird diese Möglichkeit weit
behutsamer formuliert: »Ob wirklicher Tod der Geliebten Voraussetzung ist, lassen
drei Strophen dunkel, und die letzte macht es nur wahrscheinlich, nicht sicher.« [28]
Die Nähe zur Marienbader Elegie lenkt den Blick unvermeidbar auf eine noch leben-
de Geliebte. Der kunstvolle Doppelsinn, daß Schlaf und Tod, Leben und Ewigkeit
beziehungsvoll ineinandergreifen, könnte leicht beeinträchtigt werden. Endlich die
Motive der zweiten Strophe: das Ausruhen am kühlen Abend, die Vereinigung nach
der Trennung des Tages! Was besagen sie im Hinblick auf die Marienbader Situation?
Gewiß wird auch in der Elegie der Verlust einer erfüllten Gegenwart beklagt. Vom
Tag, der die raschen Flügel regte, wird gesprochen; vom Abendkuß als einem »treu
verbindlich Siege!.« Aber vom erquickten Leben nach der Glut der heißen Stunde
vernehmen wir nichts. In diesem Punkt bleibt uns der konkret biographische Rekurs
Walter Hofs die Antwort nicht schuldig: »Kam der Tag, so war ihm, als ob es nachte,
denn nun war er durch Amt und Arbeit von ihr [nämlich Charlotte von Stein] ge-
trennt. In Gedanken an sie ertrug er des Tages Last. « [29] WeIche Erinnerungen im
Blick auf Ulrike von Levetzow könnten es sein, die eine Wendung wie »emsig Tun
und Streben« rechtfertigen? Dieser zweiten Strophe muß unsere besondere Aufmerk-
samkeit gelten, gerade weil sie sich fast mühelos erläutert, wenn man sie auf Frau von
Stein bezieht. Ernst Beutler hat unser Gedicht in dem reizvollen Essay behandelt, der
Lili Schönemann gewidmet ist. Er nennt ihn zutreffend WiederhoLte SpiegeLungen. [30]
Aber es sind Spiegelungen ferner Vergangenheit, nicht solche des eben gelebten
Lebens. Die mit der Erinnerung gegebene Weite läßt an ein Schauen denken, wie es
Goethes Gedicht Der Bräutigam 269

auch sonst der Alterslyrik eigen ist. Es gibt kein eindrucksvolleres Beispiel als das
Lynkeuslied aus dem fünften Akt von Faust II :
»Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!«

Die innere Nähe zur letzten Strophe unseres Gedichts fällt auf, obwohl es nicht
diese Verse, sondern die Lynkeus-Verse aus dem dritten Akt sind, die sich auf der
Rückseite der handschriftlichen Fassung finden. Beziehungen zu den Handschriften
und Paralipomena der Faustdichtung sind überhaupt sehr zahlreich. Die Vermutung
wäre nicht völig abwegig, ob etwa das Gedicht Der Bräutigam ursprünglich als
Verseinlage in den Faust aufgenommen werden sollte. [31] Es gibt keine deutlichen
Belege, daher wollen wir die Vermutung auf sich beruhen lassen. Würden wir aber
den Erlebnishintergrund mit gleicher Deutlichkeit zu bestimmen uns bemühen, wenn
zunächst an eine Verseinlage gedacht war? Es sind die den Erlebnisgehalt berühren-
den Fragen, mit denen wir es immer wieder zu tun haben.
Karl Vietor schränkt den Erlebnischarakter in bemerkenswerter Weise ein. Er
weist darauf hin, daß die Eingangswendung auf das Hohelied Salomonis (Kapitel
V,2) zurückgeht, wo es heißt: »Ich schlafe, aber mein Herz wacht.« Er führt andere
Dichtungen Goethes an, in denen die Wendung variiert wird, und bemerkt: »Wenn
eine Prägung so auffallender Art in Goethes Altersdichtung mehrfach vorkommt, so
hat sie den Charakter eines Topos.« [32] Wir möchten stattdessen lieber von einem
Motiv sprechen und die symbolische Bedeutung dieses Motivs betonen. Im symboli-
schen Sinn ist die bezeichnete Wendung aus dem Hohenlied auch jenem Abschnitt
eingefügt, der in Dichtung und Wahrheit die Verlobungszeit mit Lili Schönemann
schildert. Es handelt sich um die Erzählung der im Freien verbrachten Nacht. Die
motivische Verwandtschaft mit unserem Gedicht ist unverkennbar. [33] In Dichtung
und Wahrheit heißt es: »Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: >ich
schlafe, aber mein Herz wacht<; die hellen wie die dunkeln Stunden waren einander
gleich; das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen, und die
Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage.« [34] Die Anklänge an
unser Gedicht sind nicht minder vernehmbar, wenn die Schilderung mit den Sätzen
schließt: »Da verharrt' ich bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das
Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder sehen sollte,
und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie, die noch Schlafende, umgab.«
[35] Vom Stand des Bräutigams wird hier in der Symbolsprache der Dichtung gespro-
chen. Diese Erzählung war im älteren Schema des siebzehnten Buches verzeichnet.
Später wird am Rand ausdrücklich vermerkt: »Bräutigams Stand«. [36] Das sei ein
Gedanke von 1824, bemerkt Lieselotte Blumenthai mit Recht, und wir unsererseits
halten fest, daß der Bräutigamsstand 1824 mit einer Wendung aus dem Hohenlied
Salomonis umschrieben wird. Wenn Goethe wiederholt auf diese Prägung zurück-
greift, wird man annehmen dürfen, daß er sie im Sinne seiner Vorlagen verwendet.
Werfen wir zunächst einen Blick auf ältere Gedichte, die das Motiv kennen, auch
270 Spätwerk und Altersstil

wenn sie mit Gewißheit als Vorlagen Goethes nicht in Betracht kommen. Bei Hein-
rich Mühlpfort, einem Lyriker des 17. Jahrhunderts, lesen wir:
»Ach Bräutigam,
Mein Hertze klopfft nach dir und meine Seele wacht.« [37]

Ähnlich begegnet die Wendung bei einem anderen Dichter des deutschen Barock,
bei Caspar Gärtner:
»Mein Hertze klopfft nach dir, und meine Seele wacht;
Es küsse mich doch nur ein Kuß von deinem Munde.« [38]

Kein Zweifel, daß es sich hier um Topoi handelt. Die wachende Seele ist auf
Vereinigung mit Christus gerichtet. Sie befindet sich im Zustand der Sehnsucht, und
das Gedicht Mühlpforts gar ist ein Leichencarmen. Insofern klingen dunklere Töne
an. Aber die helleren Töne werden darum nicht überdeckt. Sie haben hier, im 17.
Jahrhundert, im christlichen Glauben ihren Grund. Es ist daher kein Zustand nächtli-
cher Verlorenheit, der toposartig bezeichnet werden soll. Indessen hatte, wie schon
gesagt, Goethe von solchen Auslegungen unmittelbar keine Kenntnis. Doch besteht
kein Zweifel, daß ihm beispielsweise bekannt war, was Herder darüber geschrieben
hatte. Die erwähnte Wendung aus dem Hohenlied erläutert er mit den folgenden
Worten: »Der Anfang des Stücks hat einen so außerordentlichen stillen Naturreiz,
daß ich etwas darüber zu sagen verstumme.« [39] Die dunkleren und die helleren
Töne vermischen sich, auch in unserem Gedicht. Eben deshalb beginnt es »um Mit-
ternacht«. Doch bleiben die Anklänge aus dem Hohenlied nicht auf die Eingangsver-
se beschränkt. Was im Eingang allenfalls beiläufig anklingt, wird in der zweiten Stro-
phe zum deutlich ausgeführten Motiv. .
Man erinnert sich, wie sehr Goethe die Motive in einem Gedicht schätzte. [40] Von
Eckermann ist das bekannte Gespräch vom 18. Januar 1825 überliefert. Dort heißt es:
»Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will
[... ] Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den
Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch
Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch
Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln.« [41] Das
Gespräch vom 18. Januar 1825 war von der Übersetzung serbischer Volkslieder ausge-
gangen, die Therese Albertine Louise von Jakob unter dem Pseudonym Talvj kurz
zuvor veröffentlicht hatte. [42] Goethe nahm die Lieder begeistert auf und widmete
ihnen unverzüglich eine eingehende Besprechung. Sie erschien im zweiten Heft der
Zeitschrift Über Kunst und Alterthum, Anfang 1825. Von Lieselotte Blumenthai ist in
anderem Zusammenhang ausgesprochen worden, daß Goethe das Gedicht Der Bräu-
tigam möglicherweise in eben dieses Heft habe einrücken wollen. [43] Wir haben
Anlaß, diese Vermutung zu erhärten, wie noch zu zeigen ist. In seiner Rezension rühmt
Goethe die Mannigfaltigkeit der Motive und Wendungen, »welche wir an den serbi-
schen Volksliedern bewundern.« [44] Er vermittelt dem Leser eine Vorstellung von
der Fülle der Motive, die er stichwortartig verzeichnet. Von einem der Lieder heißt
es: »Liebevolle Rast nach Arbeit! sehr schön! es hält Vergleichung aus mit dem hohen
Goethes Gedicht Der Bräutigam 271

Lied. « [45] Auch im Gespräch mit Eckermann wird auf das Hohelied angespielt:
»Die Gedichte sind vortrefflich! Es sind einige darunter, die sich dem Hohen Liede an
die Seite setzen 1assen, und das will etwas heißen.« [46] Sogleich nach der Lektüre
hatte er an die Übersetzerin geschrieben: »Zu dem kurzen Lied, das ich bezeichnete
[... ] möchte wohl der beste Kommentar zu finden seyn: Hohes Lied Salomonis,
zweytes Kapitel, der sechste Vers.« [47] Die Art, wie Goethe sich an das Hohelied
erinnert fühlt, wenn von der serbischen Poesie die Rede ist, fällt auf. Sie zeugt von der
außerordentlichen Hochschätzung, mit der er diese slavischen Lieder der Liebe auf-
nahm. In den Vergleichen mit dem Hohenlied kommt diese Hochschätzung unmiß-
verständlich zum Ausdruck. Aber die Freude an der serbischen Volkspoesie hat ihre
Geschichte, die wenigstens einiger Hinweise bedarf. [48] Nicht zum erstenmal war
Goethe um 1824-25 mit serbischer Liebeslyrik bekannt geworden. Bereits 1815 hatte er
von dem Slowenen Bartholomäus Kopltar dessen Übertragungen erhalten. Kopitar
seinerseits hatte den 1813 nach Wien geflüchteten Vuk Stephanovic KaradZic zur
Sammlung slavischer Volkspoesie angeregt. Daß sich Goethe seit 1823 erneut - und
nunmehr intensiver - mit dieser Poesie beschäftigte, war vor allem Jacob Grimm zu
danken. Um dieser Poesie willen lernt Jacob Grimm serbisch und ist überzeugt, daß
sein Beispiel Schule machen wird: »dieser Lieder wegen, glauben wir, wird man jetzt
slavisch lernen«, lesen wir 182-6 in den Göttingisehen Gelehrten Anzeigen, darin er
selbst die Übertragungen des Fräulein von Jakob gewürdigt hatte, die vorzüglich
durch ihn auf diese Zeugnisse slavischer Poesie aufmerksam geworden war. [49] Mit
Goethe teilt Jacob Grimm die Hochschätzung dieser Lieder, wenn er 1823 an den
alternden Dichter schreibt: »Unter allen heutigen Slaven erfreuen die Serben sich der
reinsten, wohllautendsten Mundart, ihre Nationalpoesie reicht an Fülle und Gemes-
senheit meiner Meinung über alles, was mir in dieser Art bekannt ist.« [50] Und wie
sich Goethes Hochschätzung immer wieder in den Vergleichen mit dem Hohenlied
Salomonis bezeugt, so geschieht es ähnlich bei Jacob Grimm, wenn wir in der erwähn-
ten Rezension von 1826 lesen: »wir WÜsten nicht, welches andere Volk einen so
trefflichen Schatz von Liebesliedern aufzuzeigen hätte, ausgenommen das heilige hohe
Lied Salomonis.« [51] Doch sind auch zwischen Goethe und Grimm die Unterschiede
in der Aufnahme dieser Poesie nicht zu verschweigen: Jacob Grimm schätzt die Ge-
dichte ohne Einschränkung, während Goethe die epischen Gebilde als barbarisch
bezeichnet; er hält sich ausschließlich an die Liebeslyrik. [52] Dennoch sieht er die
Volkspoesie nicht mehr mit den Augen von ehedem. Weit mehr interessiert ihn jetzt
das Menschheitlich-Allgemeine. Es gehe darum, heißt es: »das poetische Talent in
allen Äußerungen anzuerkennen und es als integranten Teil durch die Geschichte der
Menschheit sich durchschlingend zu bemerken.« [53] Hinter Goethes Beschäftigung
mit serbischer Volkspoesie und hinter den Vergleichen dieser Poesie mit dem Hohen-
lied steht bereits der Gedanke der Weltliteratur, wie er zwei Jahre später dann pro-
grammatisch formuliert: »Ich sehe immer mehr [... ] daß die Poesie ein Gemeingut
der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber
Hunderten von Menschen hervortritt [... ] Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen,
die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese
Epoche zu beschleunigen.« [54].
272 Spätwerk und Altersstil

Wir haben Anlaß, nach diesem Ausflug zu unserem Gedicht zurückzukehren - zu


seiner zweiten Strophe. Wenn wir sie, Goethes Beispiel folgend, ähnlich stichwortar-
tig verzeichnen wollten, so könnte es kaum besser geschehen als durch eben jenes
Motiv, das Goethe in seiner Rezension der serbischen Volkslieder heraushob, indem
er es mit dem Hohenlied verglich: »liebevolle Rast nach Arbeit!« Dem gemeinsamen
Ausruhen, dem erquickten Leben am kühlen Abend geht die Arbeit, die Glut der
heißen Stunde voraus. Aber damit sehen wir uns vertrauten Motiven von weltliterari-
scher Prägung gegenüber, die auf das Hohelied ebenso hindeuten wie auf die antike
Bukolik. In der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ist die Aneignung der
Schäferdichtung mit der Auslegung des Hohenliedes aufs engste verknüpft, wie es
sogleich Martin Opitz bezeugt. [55] In der Dedicatio seiner Übertragung der cantica
canticorum verweist er auf Vergil: »Der Virgilianische Corydon sucht in der Mittags-
hitze seinen Alexis«, heißt es. [56] Es sind die Verse der zweiten Ekloge, auf die er
anspielt: im Haine ertönen die Geräusche der Zikaden unter brennender Sonne -
»sole sub ardenti.« In der Übertragung selbst werden die entsprechenden Motive
variiert:
»Was ist besser alB daß ich
Wann mich brennt die Sommerhitze
Seiner Frucht gebrauche mich /
Vnter seinem Schatten sitze?«

Bis dann die ersehnte Erfüllung zuteil wird:


»Er hat seine linke Hand
Vnter meinem Häupte liegen !
AlB der wahren Liebe Pfand
Und mein eusserstes genügen;
Vnd vmb meinen leib vnd mich
Schlegt er mit der Rechten sich.« [57]
Gewiß ist von hier aus nicht unmittelbar eine Brücke zu Goethes Gedicht zu schla-
gen. Aber die Tradition war noch eine gemeinsame, und den Traditionszusammen-
hang der Motive haben wir im Auge. Doch ist die literarisch bestimmte Prägung
dieser Motive in unmittelbarer Umgebung Goethes weit deutlicher zu belegen. Wir
meinen Herders Paraphrase des Hohenliedes, von der andeutend bereits die Rede
war.
Unter dem Titel Lieder der Liebe hatte Herder die cantica canticorum 1778 veröf-
fentlicht. [58] Daneben findet sich im Nachlaß eine Studie aus dem Jahre 1776, in
der die einzelnen Stücke in Reimverse übertragen sind. [59] Goethe kannte Herders
Veröffentlichung, aber auch das Unveröffentlichte war in seine Hände gelangt. [60]
In dieser handschriftlichen Fassung wird das uns beschäftigende Motiv schon in der
Überschrift bezeichnet. »Tagwerk des Geliebten« hat es Herder genannt, und die
Verse seiner Übertragung lauten:

»Mein Geliebter. Er ist mein


ich bin sein!
Er der unter Blumen weidet
Goethes Gedicht Der Bräutigam 273

bis sich Tag und Kühle scheidet


bis die Schatten lang sich ziehn
und verfliehn,
denn 0 denn, denn seh ich ihn.« [61]

Wichtiger noch in unserem Zusammenhang ist die Umschreibung in Prosa, die


Herder jedem dieser Stücke beifügt. Von den erwähnten Versen und dem entspre-
chenden Kapitel des Hohenliedes wird gesagt: »Der Geliebte ist fern und doch der
Ihre, sie, doch die Seine. Jetzt ist er an seinem Werk, unter Lilien und Rosen, im
Stral des Tages. Noch muß sie ihm entfernt leben, sich die Einsamkeit mit seinem
Bilde versingen; Abends aber, wenns kühl wird, wenn sich die Schatten längen, wird
er ihr, auf den kleinen Bergen schnell, wie ein Hirsch, wie ein fliegendes Reh erschei-
nen: das Wiedersehen wird die Länge des Tags belohnen. - So nährt sich die Liebe
durch Entfernung.« [62] Daß in unserem Gedicht die Rollen vertauscht sind, daß
es der Bräutigam ist, dessen Liebe sich durch Entfernung nährt, kann über die Motiv-
anklänge nicht hinwegtäuschen. Bis in einzelne Wendungen hinein sind sie zu verfolgen.
Von der »Glut der heißen Stunde« wird in unserem Gedicht gesprochen; vom» Stral
des Tages« ist bei Herder die Rede. »Abends, wenns kühl wird«, so lesen wir es bei
Herder; vom »erquickten Leben am kühlen Abend« spricht unser Gedicht. »Das
Wiedersehen wird die Länge des Tages belohnen«, so in Herders Paraphrase; »loh-
nend war's und gut«, so klingt es bei Goethe nach. Vom Bräutigamsstand, vom
Traum, der die Entfernung besiegt, spricht Herder wiederholt. [63] Mit den Träumen
der Liebe beginnt es, aber Erfüllung steht am Ende: »Wahre Liebe, sie ringt, stark
wie der Tod, sie hält und läßt nicht, vest wie die Arme des Grabes und Schattenrei-
ches«, so deutet er ihr Wesen, das alle Entfernungen überwindet. [64] Motivische
Anklänge sind in der dritten Strophe mit gleicher Deutlichkeit wohl nicht wahrzuneh-
men. Aber abwegig wäre es nicht, die Zuversicht des Gedichts, dieses »hoffe nur, sie
kommt zurück«, mit verwandten lyrischen Momenten im Hohenlied in Beziehung zu
setzen; denn fast leitmotivisch durchzieht solche Hoffnung das Hohelied. »Kehr um, 0
kehre wieder [... ] daß wir dich schaun!«, so umschreibt Herder diese Hoffnung.
[64a] Auch in der Erläuterung zum »Tagwerk des Geliebten« klingt sie an: »Er weidet
unter Blumen [... ] Fern von ihr; aber er wird wiederkommen, mit der Kühle des
Tages, mit den längern Schatten.« [65] Bezieht man auch diese Wendung ein, so sind
es drei Strophen, die mehr oder weniger deutlich von lyrischen Momenten des Ho-
henliedes geprägt werden. Die vierte nimmt von der Entstehung her ohnehin eine
Sonderstellung ein, wie wir durch Lieselotte Blumenthai wissen. [66]
Wie sehr Goethe das Hohelied Salomonis in allen Epochen seines Lebens schätzte,
ist bekannt. Unabhängig von Herders Veröffentlichung hatte er es, noch vor seiner
Übersiedlung nach Weimar, aus dem Hebräischen übertragen. [67] Zahlreich sind in
seinem Werk die Spuren, die eine innige Vertrautheit mit diesem biblischen Buch
verraten. [67a] Ausführlich beschäftigt er sich im West-östlichen Divan mit ihm. In
dem Abschnitt Hebräer der Noten und Abhandlungen wird der Bemühungen Herders
namentlich gedacht [68]; und vom Hohenlied selbst wird gesagt: »Wir verweilen
sodann einen Augenblick bei dem hohen Lied, als dem Zartesten und Unnachahm-
lichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmutiger Liebe zugekommen.«
274 Spätwerk und Altersstil

[69] Im Jahre 1820 erscheint das Buch des Heidelberger Theologen Umbreit mit dem
Titel Lied der Liebe, das älteste und schönste aus dem Morgenlande. Goethe zeigt es
unverzüglich an und schreibt: »Bei ihm ist sie im Wachen und Träumen, und der
Geliebte sehnt sich nach ihr [... ] Die sich wiederfindenden Liebenden besiegeln den
Bund ewiger Treue ihrer Herzen [... ]« [70] Die eigene Verlobungszeit wird, wie wir
ausführten, in der symbolischen Überhöhung des Hohenliedes gesehen. Schlaf und
Paradies gehen ineinander über. Auch Herders Paraphrase ist hier nicht auf Schei-
dungen bedacht, und die religiöse Symbolik gibt seiner Deutung das Gepräge. [71]
Wir beobachten Verwandtes in Goethes Gedicht.
Man wolle uns nicht mißverstehen. Wir reden keiner mystisch-allegorischen Ausle-
gung das Wort. Die für das Mittelalter und noch weithin für das 17. Jahrhundert
gültige interpretatio des Hohenliedes, die im Bräutigam Christus und in der Braut die
Kirche Christi sah, herrscht im 18. Jahrhundert nicht mehr vor. [72] Herder selbst hat
nicht wenig dazu beigetragen, die Zeugnisse morgenländischer Poesie von Allegorese
und mystischem Rankenwerk zu befreien. Um die konkret faßliche Liebe, um ihre
Schönheit und Leidenschaftlichkeit, geht es ihm allererst. Immer wieder verbürgt er
sich für den Wortverstand, den »Ausleger aller Ausleger«. [73] Ohne Vorbehalt
macht sich Goethe solche Auffassungen zu eigen. Im Tone sichtlichen Unbehagens
schreibt er 1830 an Zelter über die wackeren Geistlichen, »welche das hohe Lied
Salomonis auf das heilige Verhältniß Christi zu seiner bräutlichen Kirche deuten.«
[74] Dennoch ist das wörtlich verstandene Buch noch immer ein biblisches Buch. Daß
das hohe Lied der Liebe der Heiligen Schrift zugehört, ist symbolisch für die Heiligung
des Gegenstandes, von dem es handelt. Herder läßt daran keine Zweifel. Und von
hier aus darf auch der Bräutigamsstand, der Titel unseres Gedichts, in seiner zugleich
relgiösen Symbolik verstanden werden. [75] Menschliches, in religiöse Bereiche sich
ausweitend, ist dem Altersstil Goethes gemäß. [76] Die Schwelle, wo die Geliebte
ruht, ist - wie nahezu alles - nicht eindeutig zu nehmen. Sie ist beides zugleich:
Schwelle zur Kammer der Geliebten wie Schwelle zum Paradies. [77] Mit den Motiv-
anklängen des Hohenliedes gehören die religiös-symbolischen Momente untrennbar
zum Bild des Gedichts. Auch der abschließende Vers in seiner Spruchhaftigkeit, das
viel und oft zitierte »Wie es auch sei das Leben es ist gut«, verleugnet gewisse
biblische Anklänge nicht. »Und Gott sah, daß es gut war«, so wird es in der Schöp-
fungsgeschichte überliefert. »Denn alles ist gut. Drauf starb er«, so spricht es Hölder-
lins Patmos-Hymne aus. [78] »Alles muß kommen, wie es kömmt. Alles ist gut«, heißt
es im Thalia-Fragment des Hyperion. [79] Deutlicher noch ist dieser religiöse Hori-
zont des Guten in Goethes Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters von 1821
erkennbar:
»Alles ist dem Gott geraten,
Alles ist am Ende gut.« [80]

Die vom Hohenlied her erhellten Zusammenhänge, im Hinblick auf die serbische
Volkspoesie wie auf den Passus in Dichtung und Wahrheit, führen in einen Lebensab-
schnitt, der durch die Datierung Lieselotte Blumenthais umgrenzt worden ist. Wir
haben sie, gegenüber den früheren Datierungen, zu bestätigen - mit geringen Modifi-
Goethes Gedicht Der Bräutigam 275

kationen zum Ende des Jahres 1824 hin oder darüber hinaus, als die Rezension der
serbischen Volkslieder im zweiten Heft der Zeitschrift Über Kunst und Alterthum
erschien. Das schließt eine behutsame Distanz zur Marienbader Elegie ein. Daß in
dem Zeitraum vom Sommer 1824 bis zum Anfang des Jahres 1825 auch die eigene
Verlobungszeit mit Lili Schönemann im Zeichen des Hohenliedes symbolisch über-
höht wird, kann uns nur abermals daran erinnern, eine zu konkret biographische
Deutung zu vermeiden. Alles in diesen Jahren, mehr als je zuvor, ist Dichtung und
Wahrheit zugleich. Die eigene Verlobungszeit ist aber auch der Lebensabschnitt, in
dem Goethe das Hohelied übersetzte. Vom 7. Oktober 1775 ist der Brief an Johann
Heinrich Merck datiert: »Ich habe das Hohelied Salomons übersezt, welches ist die
herrlichste Sammlung Liebeslieder die Gott erschaffen hat.« [80a] Und als ob Faust
und Hoheslied damals wie nunmehr in einer nicht ganz zufälligen inneren Nähe zuein-
anderstünden, fährt Goethe in demselben Briefe fort: »Ich bin leidlich. Hab am Faust
viel geschrieben.« [81] Fast auf das Jahr genau ist es ein halbes Jahrhundert, das hier
erinnert wird. Nicht um die Vieldeutigkeit des Gedichts zurückzunehmen, nicht um es
eindeutig auf einen bestimmten Lebensabschnitt festzulegen, weisen wir darauf hin,
sondern einzig deshalb, weil erst in der Weite des überschauten Erinnerungsraumes
die Symbolik ihre gültige Prägung erhält. Auch in dem anderen Mitternachtsgedicht
(aus dem Jahre 1818) werden ferne Zeiten gelebten Lebens überschaut. In beiden
Gedichten wird Vergangenes vergegenwärtigt. Im Bräutigam wie im Mitternachtsge-
dicht von 1818 ist es der Gedanke, der sich um Vergangenes wie um Künftiges
schlingt. Die Erinnerung ist die das Gedicht bestimmende Struktur und ein charakte-
ristischer Zug der Goetheschen Alterslyrik überhaupt. Als eine Zeit der vertieften
Erinnerung ist in besonderem Maße der Lebensabschnitt zu bezeichnen, der den Ma-
rienbader Erlebnissen folgt. Nicht nur der Fortgang der Arbeit an Dichtung und
Wahrheit und die Wiederaufnahme des Faust nach fast fünfundzwanzigjähriger Pause
deuten darauf hin. Alles Tun steht nunmehr im Zeichen der Rekapitulation des
eigenen Lebens. Der Briefwechsel mit Schiller beschäftigt ihn zunehmend. »Ich selbst
fahre an einer sogenannten Chronik meines Lebens fort«, heißt es in einem Brief
vom 3. Juli 1824. [82] Auch mit WiIIemers werden in jenen Monaten wiederholt
Briefe gewechselt. [83] Nähere und fernere Vergangenheit wird in der Erinnerung
überschaut, und die Weite der Überschau ist kennzeichnend für Goethes AItersstiI.
Sie ist auch kennzeichnend für unser Gedicht. Nicht so sehr unmittelbar gelebtes
Leben, so scheint uns, wird hier gestaltet. Die Erhebung über das wie und wann
immer Erlebte macht das Gedicht zum Gedicht. Überblick über das Leben als ein
Ganzes: das ist die Quintessenz der späten Lyrik Goethes. In der religiös sich auswei-
tenden Symbolik treten die konkret biographischen Züge zurück. Der Erlebnishinter-
grund wird von Symbolik überspielt. Und mit der Frage nach der Erlebnisform dieser
Lyrik kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück.
Einigkeit darüber, was Erlebnislyrik denn eigentlich sei, besteht noch kaum. Emil
Staiger hat einige charakteristische Züge herausgehoben und auf das Wesen des
Lyrischen übertragen: die Unmittelbarkeit, der fehlende Abstand, die Inspiration,
die Einsamkeit des lyrischen Ich, das Unbewußte im Ausdruck der Seele. [84] In
bemerkenswerter Weise hat Heinrich Henel solche Bestimmungen unlängst präzisiert
276 Spätwerk und Altersstil

und dabei betont, daß Erlebnisdichtung nicht »mit gewissen Ereignissen im Leben des
Dichters gleichzusetzen« sei. Er führt aus: »Ich-Form, der Dichter als gerührter, hin-
gegebener, empfindlicher Mensch, die Natur als Ganzes gesehen, verschleiert und
vorzugsweise bei Nacht, der Mangel an beobachtetem Detail, der sparsame Gebrauch
von Redefiguren und das Überwiegen der Melodie über das Metrum - das wären so
ziemlich die Kennzeichen.« [85] Aber schon im Umgang mit der klassischen Lyrik
Goethes geraten wir mit solchen Bestimmungen in Verlegenheit. Das lyrische Ich
distanziert sich in den Formen der Betrachtung, der Überschau und einer gleichsam
lyrischen Meditation. Ein Gedicht wie die Elegie scheint auf den ersten Blick noch
einmal, überraschend genug in diesem Alterswerk, in die Unmittelbarkeit des Erle-
bens zurückzuführen. Bei näherer Betrachtung gewahrt man die Kennzeichen der
späten Lyrik auch hier. [86] Erst recht bezeugt sich in der Veröffentlichung die objek-
tivierende Form: die Elegie wird in einen Zyklus eingefügt, und in ihm erscheint das
am frühesten entstandene Gedicht an letzter Stelle. Die Verlorenheit wird durch
Kunst gebannt, durch die von oben kommende Form. [87] Im gelebten Leben ver-
nimmt man öfters in diesen Jahren dunklere Töne. In der Wirklichkeit des Gedichts
sind sie in die Heiterkeit der Kunst verwandelt. Wir kennen es vom Divan her. [88]
Daß das Erlebnis im späten Gedicht Goethes nicht uneingeschränkt gilt, ist mehrfach
ausgesprochen worden. Dennoch ist das Verhältnis von Erlebnisdichtung und Alters-
lyrik nicht hinreichend erhellt. Karl Vietor entfernt sich zu weit vom Erlebnisbegriff,
wenn er in der Deutung unseres Gedichts von toposartigen Wendungen spricht. Aber
sein Schüler Walter Hof bleibt ihm zu nahe, wenn er sich zum Verständnis einzig auf
den biographischen Rekurs verwiesen sieht. Biographisch nennen wir die Auslegung,
die einzelne Momente und Motive eindeutig vom gelebten Leben her erläutert. Je
eindeutiger dabei verfahren wird, umso mehr muß der Symbolcharakter leiden. Zwar
schließt die symbolische Kunst Goethes den Erlebnisanlaß nicht aus. Fraglich er-
scheint uns nur die Bestimmtheit des Erlebten: die Fixierung einer bestimmten Situa-
tion oder Person. Daß die Gestalt Lili Schönemanns in den Umkreis unseres Gedichts
gehört, haben wir zu bestätigen; und daß Ulrike von Levetzow aus diesem Umkreis zu
verbannen sei, sprechen wir nicht aus. »Vielleicht hat die Liligestalt in dieser Zeit
Züge Ulrikes angenommen«, so formuliert es behutsam Liese10tte BlumenthaI. [89]
Solche Gesinnung im Methodischen bleibt dem Gedicht nahe, weil sie sich ihm nicht
zu deutlich nähert. Unserer Erkenntnis sind in dergleichen Fällen Grenzen gesetzt, und
es gibt einen Punkt, an dem die Genauigkeit des Philologen zur Ungenauigkeit ver-
pflichtet wird. Vielleicht hat Lili die Züge Ulrikes angenommen, vielleicht auch liegt
ein bestimmter Erlebnisanlaß überhaupt nicht vor, weil die Liebe im Alterswerk
Goethes schon immer erlebt ist. Im Blick auf die serbische Volkspoesie und das
Hohelied Salomonis wagen wir es, die Möglichkeit wenigstens anzudeuten, daß es sich
um einen literarischen Anlaß handeln könnte. Das Gedicht wäre am Ende - sit venia
verbo - »gemacht«. Aber es könnte ja auch sein, daß der Anlaß, er sei erlebnishafter
oder literarischer Art, für den Dichter selbst im Unbewußten versank.
Vom unbewußten Ausdruck der Seele reden wir darum nicht. Im Gegenteil: die
künstlerische Gestaltung der Motive zeugt von höchster Bewußtheit. In diesem Punkt
folgen wir der Deutung Paul Stöckleins nicht, wenn er ausführt: »Dabei handelt es
Goethes Gedicht Der Bräutigam 277

sich hier (im Bräutigam) nicht um bewußt mit dem Kunstverstand geschaffene Bezie-
hungen und Gebilde.« [90] Warum solche Scheu vor der hohen Bewußtheit des alten
Goethe? Sie enthüllt uns das Wesen »reiner Lyrik« nur von einer anderen, einer fast
unerwarteten Seite her. Und in diesem Punkt, im Hinblick auf den hohen Bewußt-
seinsgrad, bedarf es einer letzten Abgrenzung. Wie bewußt Goethe Motive durch-
dringt und zum Symbol erhöht, sollte deutlich geworden sein. Wo indessen das Sym-
bol mit Wissen und Willen verwandt wird, haben wir Anlaß, von Symbolismus zu
sprechen, meint Emil Staiger. [91] Und Heinrich Henel, der in geistvoller Weise den
Symbolismus der neueren Lyrik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Naturauf-
fassung der neueren Naturwissenschaft in Beziehung setzt, kennt ähnliche Bestimmun-
gen. »Bei den neueren Dichtem dagegen ist der Prozeß des Symbolisierens ein höchst
bewußter«, sagt er. [92] Auch Goethes Alterslyrik ist ja nicht einfach aus dem Natur-
gefühl der frühen Epoche abzuleiten. Sie ist im Gegenteil von der Naturforschung
nicht abzulösen, wie er sie versteht und betreibt, auch wenn wir es mit der empirischen
Naturwissenschaft des späteren 19. Jahrhunderts noch nicht zu tun haben. Doch ver-
binden wir mit echter Erlebnislyrik ein Naturgefühl, das bei Goethe zunehmend hin-
ter die Formen seiner Naturbetrachtung zurücktritt. Und wie er früher die volkslied-
haften Elemente ganz ausdruckhaft und erlebnisunmittelbar ins Gedicht verwob, so
ist es nunmehr, wie im Fall der serbischen Volkspoesie, das Menschlich-Allgemeine,
dem sein Interesse gilt. Zwischen Unmittelbarkeit und Distanz, zwischen Erlebnis-
dichtung und Symbolismus gewinnt Goethes Alterslyrik im Überschauen, Erinnern
und Betrachten eine eigene Freiheit der dichterischen Aussage. Das Wissen, wie es
sich in den letzten Zeilen unseres Gedichts spruchhaft äußert, ist bestimmender als
das bloße Gefühl. Im Blick auf die Entwicklung der deutschen Lyrik in der Folgezeit
kann man das Erreichte nicht hoch genug einschätzen. Goethes Alterslyrik ist eine
Lyrik ohne unmittelbare Nachfolge. Vor der unverbindlich gewordenen Naturemp-
findung der Spätromantik, die noch immer unsere Auffassung von Lyrik belastet,
bleibt sie bewahrt, und nicht im Erlebnis, sondern in der Distanz vom Erlebten beruht
ihre Größe. »Immer ist es derselbe Abstand,. der in lyrischer Dichtung fehlt«, so
formuliert es Emil Staiger in den Grundbegriffen der Poetik. [93] Wir halten dem
entgegen: immer ist es derselbe Abstand, der die Altersgedichte Goethes auszeichnet.
Weil es sich so verhält, ist es methodisch geboten, das Erlebte anzudeuten, um es im
Symbol zu vergessen. Wie es freilich auch ratsam sein mag, um der außerordentlichen
Schönheit des Gedichts willen, alle Deutungen zu vergessen - die eigene eingeschlos-
sen.
3. Goethes Maximen und Reflexionen
Denkformen und Bewußtseinskritik [1]

Die Maximen und Reflexionen, wie man seit Max Heckers verdienstvoller Ausgabe
das Textcorpus der Goetheschen Aphorismen nennt und wie Goethe selbst es gele-
gentlich genannt hat, wohl im Anschluß an La Rochefoucauld, sind kein geschlosse-
nes Werk wie der Wilhelm Meister oder der Faust. Sie sind vielfach Teile eines
größeren Ganzen. Dennoch sind sie komponiert und mit anderem verknüpft. Sie
-bilden Gruppen, Reihen, Ketten und sind nach bestimmten Prinzipien geordnet. Ei-
genes und Angeeignetes stehen nebeneinander, und ob wir es mit Gedanken oder
Zitaten Goethes zu tun haben, sieht man ihnen nicht sofort an; man muß es ermitteln.
Gegenüber den uns vertrauten Dichtungsarten - Lyrik, Drama, Roman - tritt die
künstlerische Form zurück hinter das, was inhaltlich mitgeteilt werden soll. Formen
der Erkenntnis, des Denkens und der Bewußtseinskritik haben Vorrang vor den
Klangformen der Sprache. Gleichwohl sind sprachliche Kunst und literarische Form
keine nebensächlichen Gesichtspunkte. Doch erst im Blick auf das Ganze ist die
Eigenart dieser Texte zu erfassen; und was sich als Einzelheit darbietet, läßt unvermu-
tet Zusammenhang erkennen. Weil es dem Aphorismus auf Prägnanz ankommt, sind
an Goethes Maximen und Reflexionen die Eigentümlichkeiten seines Denkens um
vieles deutlicher abzulesen als an anderen Texten. Eine dieser Eigentümlichkeiten
zeigt sich in der Art seiner Vorwegnahmen und »Vorahnungen«, wenn man auf die
heutige Bewußtseinslage sieht. [2] Goethes Aphoristik bezeugt auf eindringliche Wei-
se seinen divinatorischen Sinn für Weltgeschehen und Bewußtseinswandel. Das ist
zunächst nicht mehr als eine Behauptung. Wie sie zu verstehen ist, soll in fünf Fragen-
kreisen erörtert werden, in die wir das weitgespannte Thema gliedern wollen.

1. Der Roman als Kontext

»Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in
ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird«, lautet eine Notiz Robert Musils mit
Beziehung auf seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften. [3] Damit wird auf die
gewisse Nebensächlichkeit der Fabel angespielt, wie sie für den modemen Roman
charakteristisch ist. Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre ist nicht ein Ro-
Goethes Maximen und Reflexionen 279

man dieser Art. Aber er bereitet ihn vor und nimmt manche seiner Strukturmerkmale
vorweg. So die Handlungsarmut und die Art, den Erzählzusammenhang zu durchbre-
chen, die uns an die Montagetechnik des modemen Romans erinnert. Goethes letzter
Roman wird auf solche Weise zum Gefäß des Verschiedenartigen. Novellen, Briefe,
Tagebuchaufzeichnungen und Gedichte sind Einlagen, die den Erzählfluß aufhalten-
Digressionen der Erzählstruktur , aber doch von gänzlich anderer Art, als man sie aus
dem Werk Jean Pauls kennt. Mit den Maximen und Reflexionen wird vor allem der
Anteil der Pädagogik am Romangeschehen betont. [4] Ihnen vor allem kommt es zu,
den sittlichen Bezug zu verdeutlichen, und ohne diesen sei das Wirkliche gemein, heißt
es in einer der Maximen (30). Zwei gewichtige Gruppen beanspruchen Raum: die
Betrachtungen im Sinne der Wanderer und die Spruchsammlung Aus Makariens Ar-
chiv. Die Frage nach dem Zusammenhang des Verschiedenartigen ist damit gestellt.
Doch sind Unterschiede zum modemen Roman nicht zu übersehen: in diesem ist das
Disparate zumeist ein Spiegel unserer disparaten Welt. Im Roman Goethes ist der
Zusammenhang trotz Einlagen und Unterbrechungen nicht ernstlich bedroht. In einer
zunehmend unübersehbar werdenden Welt erhält das auf Zusammenhang gerichtete
Denken Vorrang vor anderen Denkweisen. Diesen Zusammenhang sucht der Roman
bewußt zu machen und aufzuzeigen. Doch nicht erst im Spätwerk der Wanderjahre
erhält die Aphoristik ihren Ort im Kontext der Romane. Ihre Anfänge, sieht man von
den wenigen Maximen aus der Zeit der italienischen Reise ab, sind mit dem Abschluß
der Lehrjahre aufs engste verknüpft. Mehrere in ihrer Thematik wichtige Sprüche,
die in den Roman nicht aufgenommen wurden, gehen voraus. Sie handeln von der
Gleichheit der Menschen in der Gesellschaft, von Gesetzgebern und Revolutionären.
Es liegt daher nahe zu folgern, daß die Entstehung dieser Aphoristik - wie ähnlich die
Entstehung der Novellistik - vom Ereignis der Französischen Revolution beeinflußt
wurde. Die hier in Frage stehenden Aphorismen sind im April 1795 entstanden, und
daß Goethe die Arbeit am bewußten Aufbau ganzer Spruchreihen in eben diesem
Jahr begonnen habe, hat Wilhelm Flitner in seiner Studie über die Spruchsammlung
Aus Makariens Archiv mit Nachdruck betont. [5] Dieses Jahr ist im Denken Goethes
ein Jahr der Umorientierungen. Das Blickfeld erweitert sich, und neben den durch
die Ereignisse in Frankreich herbeigeführten Veränderungen werden Amerika und
die amerikanische Revolution in ihrer Bedeutung erkannt. [6] Die Reformbestrebun-
gen Lotharios sind deutlich an den Errungenschaften der Neuen Welt orientiert.
Solche Umorientierungen des Denkens spiegeln sich vor allem in den letzten Büchern
der Lehrjahre wider. Sie stehen zu den ersten in deutlichem Gegensatz. Die Poesie der
ersten Teile mit ihren zahlreichen Verseinlagen ist nunmehr einer prosaischen Nüch-
ternheit gewichen, wie Novalis zutreffend erkannte und aus seiner Sicht rügte. Solcher
Nüchternheit entspricht das Eindringen spruchhaft-didaktischer Elemente. Zwar
nimmt. sich in den Lehrjahren ihr Anteil noch bescheiden aus. Doch wird schon hier
eine eigentümliche Spannung erkennbar, die sich aus Goethes Romankunst nicht
mehr verlieren wird. Sie läßt sich beschreiben als ein Widerspiel von Bildung und
Lehre. Beide Begriffe bedeuten nicht ein und dasselbe; es sind keine Synonyma.
Aber sie schließen sich auch nicht gegenseitig aus, sondern sind aufeinander bezogen.
Der Lehrbrief schließt mit der Maxime: »Der echte Schüler lernt aus dem Bekann-
280 Spätwerk und Altersstil

ten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister« (123). Dieser· Satz
enthält einen Begriff des Lernens, von dem man viel lernen kann. Denn Lernen heißt
hier auf keinen Fall, daß etwas bloß nachgesagt wird, was andere vorgesagt haben. Es
heißt vielmehr, daß aus dem Bekannten etwas Unbekanntes - etwas Neues und
Eigenes - hervorgehen soll. Nur im Prozeß solcher Aneignungen sind überlieferte
Lehren etwas wert. Sie sind als diese tradierbar - wie Spruchsammlungen auch; und
sie werden uns als etwas vorläufig Abgeschlossenes gegeben. Von solchen Gegeben-
heiten der Lehre unterscheidet sich Bildung, wie sie im Roman entwickelt wird. Sie
erreicht keinen Abschluß, gelangt an kein Ziel und ist grundsätzlich offen - wie der
Roman auch, so daß er eines Tages mit den Wanderjahren fortgesetzt werden kann.
Die Maxime über das Verhältnis von Lehrer und Schüler ist die letzte innerhalb des
Lehrbriefs. Eingeleitet wird er mit einem auf Hippokrates zurückgehenden Satz. Er ist
geeignet, uns daran zu erinnern, daß Dichtkunst und Heilkunst im Denken Goethes
eine wohldurchdachte Einheit bilden. Der Held des Romans wird zum Wundarzt
ausgebildet, und in der Nähe Makariens befindet sich neben dem Astronomen auch
ein Arzt. Damit dringt mit den Aphorismen dieser Spruchsammlungen noch anderes
als nur Künstlerisches im engeren Sinn in den Roman ein. Es sind dies vor allem
naturwissenschaftliche Themen und Denkformen. Alle Romane Goethes seit den
Lehrjahren sind auf ihre Art naturwissenschaftliche Romane, und die Maximen und
Reflexionen dienen unter anderem dazu, Roman und Naturwissenschaft miteinander
zu verknüpfen.

2. Der Anteil der Naturwissenschaft

Aphorismos bedeutet seinem Wortsinn nach im Griechischen vielerlei: Definition,


Sentenz, Weisheitsspruch. Aber die Bedeutung im Sinne eines medizinischen Lehrsat-
zes in der Tradition seit Hippokrates hat sich durchgesetzt. [7] Es ist gewiß nicht nur
der Etymologie zuzuschreiben, wenn sich in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens
Aphoristik und Naturwissenschaft auf vielfältige Weise berühren. Wir denken an
Bacon in England, an Pascal in Frankreich und in Deutschland an Lichtenberg.
Goethe stellt sich in diese Tradition. In die Lehrjahre wie in die Wanderjahre sind
Weisheitssätze aufgenommen, die auf Hippokrates zurückgehen; und in der Art, wie
sich hier Aphoristik ~ Naturwissenschaft noch einmal verbinden, geht eine große
Tradition ihrem Ende entgegen, könnte man meinen; denn die exakte Naturwissen-
schaft des 19. Jahrhunderts kennt Verbindungen dieser Art nicht. Schopenhauer, der
mit seinen Aphorismen zur Lebensweisheit die Tradition fortführt, ist der Naturwis-
senschaft klassischen Stils nicht zuzurechnen. Dennoch handelt es sich bezüglich der
Goetheschen Maximen und Reflexionen nicht ausschließlich um einen Abschluß,
sondern um Vorwegnahmen auch hier, die es zu erläutern gilt. Wir sind uns bewußt,
daß er die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts mit der klassischen Physik als
ihrem beherrschenden Paradigma nicht eigentlich begriff oder begreifen wollte; und
wir unterstellen auch nicht, daß diese Entwicklung eine Fehlentwicklung war. Viel-
mehr ist sie es gewesen - so hat es Walther Gerlach einmal formuliert -, die »seit
Goethes Maximen und Reflexionen 281

Galilei Schritt für Schritt bis zur Physik der Atomkerne und der Spiralnebel, zur
Dynamomaschine und zum Uranreaktor führte, welche die Beherrschung der chemi-
schen Reaktionen in der Retorte und im lebenden Organismus brachte.« [8] Doch
sind Einseitigkeiten zu Tage getreten, die wir deutlicher wahrnehmen als frühere
Generationen. Goethe denkt hier in mehrfacher Hinsicht über solche Entwicklungen
hinaus und nimmt bisweilen von den Voraussetzungen seines Denkens her heutige
Bewußtseinslagen vorweg. Das betrifft vor allem die Beherrschung der Natur: von
Beherrschung chemischer Reaktionen ist ja auch im genannten Vortrag Walther
Gerlachs die Rede.
In einem bemerkenswerten, schon 1941 veröffentlichten Aufsatz hat Werner Hei-
sen berg diese Differenz zur Entwicklung im 19. J.;:lhrhundert aufgezeigt. Er zitiert Goe-
the, nicht ohne Verständnis für ihn, wenn dieser kritisiert, daß der Physiker sich zum
Herrn über die Erscheinungen mache. Aber Beherrschung durch mathematisch faß-
bare Gesetze, führt Heisenberg aus, sei das seit Newton geltende Prinzip, wobei
schwer anzugeben sei, ob sie von Anfang an intendiert war. Doch kann bezüglich
dieser Differenz gesagt werden, daß die beiden Farbenlehren im Grunde von ganz
verschiedenen Schichten der Wirklichkeit handelten. [9] Eine zweite Differenz, und
als diese wurde sie oft erörtert, betrifft die Eliminierung der Sprache im Mitteilen und
Beschreiben des Erforschten. »Ich bin auf Wort, Sprache und Bild im eigentlichen
Sinne angewiesen und völlig unfähig, durch Zeichen und Zahlen, mit\velchen sich
höchst begabte Geister leicht verständigen, auf irgendeine Weise zu operieren«, hat
Goethe freimütig eingeräumt. [10] Damit steht das nicht selten gespannte Verhältnis
zur Mathematik in Frage. [11] Für die moderne Naturwissenschaft, und nicht erst seit
dem 19. Jahrhundert, ist sie die Grundlage schlechthin, wie jeder weiß. Goethe
beschimpft sie zumal in den Maximen und Reflexionen wiederholt, urid hier - wenn
irgendwo - dringt Polemik und ungerechte Parteilichkeit in sein Denken ein, die seine
Aphoristik im allgemeinen vermeidet. Gleichwohl erweist sich solche Polemik dort
als bedenkenswert, wo sie Verabsolutierungen entgegenwirkt, der Auffassung zum
Beispiel, daß als Wissenschaft nur gilt, was mathematische Wissenschaft ist - »als ob
alles nur dann existierte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt«, wie 1826 in
einem Gespräch mit Eckermann gesagt wird. In Makariens Archiv wird ein ähnlicher
»Denkzettel« verwahrt: »Eben so ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr, was
sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen
Experiment bringen läßt« (138). Daß vieles wahr ist, was sich nicht berechnen läßt, ist
damals wie heute im Namen Goethes jenen entgegenzuhalten, die mit mathemati-
schen Methoden auch dort operieren, wo sie nicht am Platze sind. In diesem Punkt ist
Goethe wahrhaft ein Visionär. Er ist tief durchdrungen von der Überzeugung, daß
den Phänomenen Unrecht widerfährt, wenn man sie nur mathematisch oder mecha-
nisch erfaßt. So entlädt sich denn gelegentlich sein Unmut in einer Entrüstung, die
auch sprachlich aufhorchen läßt, wenn es heißt: »Die Phänomene müssen ein- für
allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen Marterkammer vor die
Jury des gemeinen Menschenverstandes gebracht werden« (89). Gegenüber der so
verfahrenden Experimentalphysik dringt er beharrlich und hartnäckig auf Einbezie-
hung des Beobachters, des beobachtenden Menschen: »Der Mensch an sich selbst, in
282 Spätwerk und Altersstil

so fern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikali-
sche Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuern
Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und
bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie
leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will« (138); ähnlich in einer anderen
Maxime: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelös't, vielmehr in die Indi-
vidualität verschlungen und verwickelt« (208). Hier ist an die durch den Beobachter
bedingte Unbestimmtheitsrelation zu denken, wie sie die moderne Physik kennt.
Gewisse Annäherungen zwischen Goethe und solchen Entwicklungen, obschon von
gänzlich anderen Voraussetzungen her, hat wiederum Werner Heisenberg angedeutet.
Die strikte Scheidung zwischen einer Objektwelt und dem Subjekt, wie sie dem 19.
Jahrhundert selbstverständlich war, sei heute nicht mehr gerechtfertigt: »Die Natur-
wissenschaft handelt nicht mehr von der Welt, die sich unmittelbar darbietet, sondern
von einem dunklen Hintergrund dieser Welt«; und aus ihr ist der Beobachter nicht
wegzudenken. [12] Wir behaupten nicht, Goethe habe die Entwicklung der Physik so
detailliert vorausgeahnt. Aber die Verbindung von beobachteter Objektwelt und
beobachtendem Subjekt läßt analoge Bewußtseinslagen vermuten, eine gewisse Rela-
tivierung der Auffassung, daß Objekt und Subjekt getrennte Welten sind.
Verbindungen wie diese sind für Goethes Denken bezeichnend. Sie gelten generell,
und sie schließen Gewissen und Sittlichkeit ein. In seinem Verständnis von Wissen-
schaft - und hier geht es um Naturwissenschaft in erster Linie - sind Empirie und
Ethik aufeinander bezogen. Wo er die letztere vermißt, wird er deutlich und entschie-
den. In diesem Punkt versteht er keinen Lichtenbergschen Spaß: »In der Naturfor-
schung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen; nur bedenke
man, daß man dadurch nicht am Ende, sondern erst am Anfang ist« (116). Nicht
einmal die Mathematik wird von solchen Forderungen dispensiert; sie wird vielmehr
kritisiert, weil es ihre Vertreter am Gewissen vielfach fehlen ließen: »Was hat denn
der Mathematiker für ein Verhältniß zum Gewissen, was doch das höchste, das wür-
digste Erbtheil der Menschen ist, eine incommensurable, bis in's Feinste wirkende,
sich selber spaltende und wieder verbindende Thätigkeit? Und Gewissen ist's, vom
Höchsten bis in's Geringste. Gewissen ist's, wer das kleinste Gedicht gut und vortreff-
lich macht« (233). Wir dürfen folgern: die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat
den Bezug von Empirie und Ethik weitgehend verdrängt. Erst unter dem Eindruck
neuartiger Entwicklungen in Atomphysik, Humangenetik oder Ökologie hat dieser
Bezug an Aktualität gewonnen. Und wer wollte sie heute noch bestreiten!
Solche Bezüge herzustellen, ist Goethes Denken fortwährend bestrebt. Das kann im
unsystematischen Aphorismus sehr viel besser gelingen als in der wissenschaftlichen
Abhandlung mit der Verpflichtung zum Beweisen und Begründen. Von derartigen
Voraussetzungen her verstehen sich auch Art und Bedeutung seiner Kritik. Sie gilt der
Wissenschaft vom Nichtwissenswerten und jener Wissenschaft, die sich als Staatsglied
im Staatskörper fühlt, also die ihr zukommende Freiheit verspielt. [13] Vor allem aber
gilt sie der Wissenschaft, die isoliert und sich dem Interesse bloß am einzelnen über-
läßt. »Ein Phänomen, Ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer
großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt«, heißt es in einer gegen Newton
Goethes Maximen und Reflexionen 283
gerichteten Maxime (43). Goethe übt unablässig Kritik an jeder Wissenschaft, die
nicht in Zusammenhängen denkt und die Verschiedenartiges miteinander nicht zu-
sammenzubringen weiß. Zusammenhang wird fast zum Schlüsselbegriff im Verständ-
nis dessen, was Wissenschaften vorzÜglich leisten sollen: »Denn sie sind eigentlich
Compendien des Lebens: sie bringen die äußern und innern Erfahrungen in's Allge-
meine, in einen Zusammenhang« (135). Daher sind für ihn Wissenschaft und Kunst
zwar verschiedene, aber gerade deshalb miteinander zu verbindende Phänomene.
Auch das Schöne ist ihm nicht nur eine Sache der Kunst, es ist gleichermaßen eine
Sache der zu erforschenden Natur. Zumal dem Symbol kommt es zu\ solche Verknüp-
fungen vorzunehmen. Es ist kein Zufall, daß sich Goethe hierüber wiederholt in den
naturwissenschaftlichen Schriften wie im naturwissenschaftlichen Teil der Maximen
und Reflexionen geäußert hat: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das
Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-
augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen« (67), so lautet eine dieser Maxi-
men. Hier auch findet sich eine der wichtigen und oft zitierten Unterscheidungen
zwischen Allegorie und Symbol. [14] Seine Bewußtseinskritik ist in hohem Maße
Wissenschaftskritik. Aber Wissenschaftskritik heißt nicht einfach Kritik ihrer Metho-
den und Resultate, sondern heißt - gegebenenfalls - Kritik ihrer Grundlagen. Eine
solche Kritik hat die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht eigentlich hervorge-
bracht.Wo es sie gibt, ist sie zumeist neueren Datums.
Was von der Wissenschaftskritik zu sagen war, trifft auch für die Wissenschaftsge-
schichte zu. Auch sie gibt es im 19. Jahrhundert nur in Ansätzen. Deutlicher tritt sie als
Ruhmesgeschichte hervor, als eine solche des jeweiligen Faches oder einzelner Ge-
lehrter. Die Wirkungsgeschichte von Dichtern und Künstlern hat man lange Zeit
ähnlich aufgefaßt. Niemand wird bezweifeln, daß die Entwicklung der Wissenschaften
im 19. Jahrhundert ein historischer Vorgang von großer Tragweite ist, aber ihre
Vertreter haben sich selbst nicht historisch verstanden, sondern »absolut«. Sie ver-
standen ihre eigene Wissenschaft als Wissenschaft schlechthin, der gegenüber alles
Frühere lediglich die Bedeutung einer Vorgeschichte erhielt. Erst dort, wo man Me-
thoden und Theorien in ihrer Geschichtlichkeit erkennt, kann sich Wissenschaftsge-
schichte entfalten. Nicht zufällig ist einer der angesehensten Wissenschaftshistoriker
in unserer Zeit - Thomas S. Kuhn - ein Historiker der Physik. Seine aufsehenerre-
gende Schrift »The structure of scientific revolutions« wird heute in aller Welt disku-
tiert. Leistungen, die wissenschaftlichen Gemeinschaften eine Zeitlang als Grundlage
dienten, werden hier Paradigmata genannt; in diesem Zusammenhang heißt es: »Die-
se Umwandlungen der Paradigmata [... ] sind wissenschaftliche Revolutionen, und
der fortlaufende übergang von einem Paradigma zu einem anderen auf dem Wege der
Revolution ist das übliche Entwicklungsschema einer reifen Wissenschaft.« [15] So
kann gedacht werden, weil die Paradigmata des 19. Jahrhunderts nichts Absolutes
mehr sind. Klassische Physik wie Historismus sind historisch gewordene Phänomene.
Eben dadurch ist der Weg zu einer Wissenschaftsgeschichte frei geworden - zu einer
solchen, in der wir viele Stimmen vernehmen, wie in einer Maxime der Wanderjahre
in hochpoetischer Ausdrucksweise gesagt wird. »Die Geschichte der Wissenschaften
ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein
284 Spätwerk und Altersstil

kommen« (110). Goethes »Vorahnungen« zu einer Wissenschaftsgeschichte der ver-


5chiedensten Wissenschaften - die Maximen und Reflexionen enthalten eine Vielzahl
von Gedanken zu ihrer Ausbildung - sind insofern mit heutigen Auffassungen ver-
gleichbar, weil er seinerseits jeder Verabsolutierung mißtraut und eben dadurch die
Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Methoden und Modelle erkennt. [16] Dem Indi-
viduum wird im historischen Prozeß, wie ihn Goethe versteht, eine herausragende
Bedeutung zuerkannt. Der Faden, der sich durch das Gewebe des Wissens und der
Wissenschaft fortzieht, werde durch Individuen durchgeführt, heißt es: »Sie stehen
nämlich mit der Menge im Gegensatz, ja im Widerstreit« (243); und Gegensatz, Wi-
derstreit oder Konflikt sind die Kräfte, die den geschichtlichen Prozeß voranbringen.
»Der Konflikt des Individuums mit der unmittelbaren Erfahrung und der unmittelba-
ren Überlieferung, ist eigentlich die Geschichte der Wissenschaften« (245).

3. Geschichtsdenken

Wie Goethe die Anfänge der exakten Naturwissenschaft erfaßte, so hat er auch die
Geschichtswissenschaft in Deutschland heraufkommen sehen, die wir als Historismus
bezeichnen. Mit diesem Phänomen verbinden ihn manche Züge seines eigenen Ge-
schichtsdenkens: das Interesse an großen Individuen, das er mit Hegel teilt; seine
Hochschätzung alles Überlieferten, wie sie sich in einem spruchhaften Gedicht des
West-östlichen Divan einprägsam bezeugt:
»Wer nicht von drei tausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib' im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.«
Schließlich sein Sinn für das, was es am anderen zu verstehen gilt. An der sich
entwickelnden Hermerieutik seiner Zeit ist Goethe nicht vorübergegangen; und die
Maximen und Reflexionen tragen nicht wenig zu einer solchen Lehre des Verstehens
bei. Dennoch ist er nicht bereit, die Phänomene und Epochen nur verstehend zu
betrachten. Sein Geschichtsdenken dringt auf Unterscheidung und Wertung, und auf
eine fast apodiktische Art, die so nur im Aphorismus möglich ist, spielt er immer
erneut das Wahre gegen das Falsche aus, als könne es überhaupt keine Frage sein,
was man jeweils als das Wahre und Falsche zu bezeichnen habe. Solche Unterschei-
dungen wird er nicht müde, dem Historiker einzuschärfen: »Pflicht des Historikers,
das Wahre vom Falschen, das Gewisse vom Ungewissen, das Zweifelhafte vom Ver-
zweifelten zu unterscheiden« (65), heißt eine dieser Maximen, die nach der Lektüre
zeitgenössischer Geschichtswerke niedergeschrieben wurde. Sein Geschichtsdenken
dringt, wo es nötig wird, auf Kritik, und was für die Naturwissenschaften gilt, gilt für
die Geschichtswissenschaft gleichermaßen: eine solche Kritik als Kritik ihrer Grund-
lagen hat der deutsche Historismus nicht eigentlich entwickelt. Diese Geschichtskritik
geht vielfach in Kulturkritik über. Vor allem die Deutschen, seine Landsleute, be-
kommen es zu hören. Gefahren des Nationalcharakters - »sich mit und an seinen
Goethes Maximen und Reflexionen 285

Nachbarn zu steigern« - werden erkannt. Es wird gewarnt. Auch hier handelt es sich
um Vorgänge der Trennung und Isolierung, die Goethe in ihrer Problematik erkennt.
Er schwimmt gegen den entstehenden Strom des Nationalismus, ehe dieser zum rei-
ßenden Strom wird, der sich auch an Kunst und Wissenschaft vergreift. Nationale
Philologie und nationale Ethik sind einige ihrer Resultate, gegen die Goethe seine
Idee der Weltliteratur setzt; und abermals gibt ihm der Aphorismus die Möglichkeit,
seine Kritik mit der wünschenswerten Deutlichkeit vorzutragen und zu sagen, was
nicht sein soll und nicht sein darf: »Es gibt keine patriotische Kunst und keine patrio-
tische Wissenschaft. Beide gehören wie alles hohe Gute der ganzen Welt an ... « (135).
Die Überzeugung steht hinter solchen Aussagen, das Menschliche werde durch das
Vaterländische verdrängt. Man sieht, daß es sehr wohl darauf ankommen kann, mit
dem Zeitgeist nicht unbedingt in Übereinstimmung zu sein, sondern auch Unzeitgemä-
ßes zu vertreten, wenn es angezeigt ist.
Vom Historismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich Goethe auch insofern, alser
die Kategorie der Zukunft kennt, die der Historismus weithin verdrängt. Vor allem
verweigert sich Goethe jeder prinzipiellen Trennung von Natur und Geschichte. Die
beiden Bereiche sind für ihn nichts grundsätzlich Verschiedenes: »Es ist mit der Ge-
schichte wie mit der Natur« (170), kann es bezeichnenderweise heißen. Geschichtsdeu-
tungundPflanzenentwicklungwerdenzueinanderinBeziehunggesetzt. [17] Man könnte
an Oswald Spengler denken, aber man muß es nicht. Geschichte ist in der Auffassung
Goethes eine Hervorbringung der Natur; sie basiert auf der Natur des Menschen und
seinen Verhaltensweisen. Was sich in ihr wiederholt, hat darin seinen Grund. Von
hier aus erklärt sich auch sein Interesse an den Motiven: »Was man Motive nennt,
sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und
wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweis't« (183). Die·
sich entwickelnde Geschichtswissenschaft wird gemahnt, sich nicht mit dem Beweis-
baren zu begnügen: »Der Historiker kann und braucht nicht alles aufs Gewisse zu
führen; wissen doch die Mathematiker auch nicht zu erklären, warum der Komet von
1770 [... ] sich zur bestimmten Zeit noch nicht wieder hat sehen lassen« (170). Daher
sind Ahnung und Sinn für das Unerforschliche Elemente auch seines Geschichtsden-
kens und mehr noch sind sie Elemente seiner Auffassung von Wissenschaft über-
haupt. Er weiß Bescheid über ihre Grenzen und weiß erst recht darüber Bescheid, daß
auch diejenigen Bereiche ihr Recht fordern, die jenseits solcher Grenzen liegen - wie
Glaube, Religion oder Transzendenz. Das corpus der Maximen und Reflexionen ist zu
einem guten Teil auch als ein religiöses Buch zu lesen. [18] So wundert es uns nicht,
daß Goethe jeder Form von Wissenschaftsgläubigkeit mißtraut, wie sie sich im 19.
Jahrhundert vielerorts entwickelt. Aber auch vor dem wird gewarnt, was unter keinen
Umständen sein darf: »Weder Mythologie noch Legenden sind in der Wissenschaft zu
dulden« (113). Sie können entstehen, weil nicht selten schon mit der Umsetzung einer
Idee in die Realität Verfälschungen einhergehen: »Eine jede Idee tritt als ein fremder
Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisiren beginnt, ist sie kaum von
Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden« (153). Wir nennen das dadurch Ent-
standene in unserer Sprache Ideologie - ein Begriff, den Goethe gelegentlich ge-
1?raucht, um jenes Anderssein der Idee gegenüber der Realität zu bezeichnen: »Dieß
286 Spätwerk und Altersstil

ist es, was man Ideologie im guten und bösen Sinne genannt hat, und warum der
Ideolog den lebhaft wirkenden praktischen Tagesmenschen so sehr zuwider war«
(153). In solchen Vorgängen geht es stets auch um das, was sich sprachlich abnutzt
und verbraucht. Ein solcher Verbrauch menschlicher Gefühle und Schicksale hat zur
Folge, daß sich Gehalt und Sprache erschöpfen; und so geschieht es denn, »daß nun
jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen und
Bequemlichkeiten bedienen kann« (249). Der in diesem Textcorpus so häufig wieder-
kehrende Begriff des Wahren stellt für Goethe keine feste Größe dar, sondern etwas,
das an historische Situationen gebunden bleibt. Zum Akt der Aneignung von Tradi-
tionen gehört es, daß man den Weg noch einmal geht, der im Angeeigneten beschlos-
sen liegt: »Alles Gescheidte ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es
noch einmal zu denken« (93). Es ist eindrucksvoll zu erkennen, wie Goethe von der
Wissenschaft fernhält, was in ihr nichts zu suchen hat; und wie er zugleich ihre Reich-
weite und ihre Grenzen bestimmt, damit noch andere, vor allem religiöse Denkfor-
men, ihr Recht behalten. Religiöser Sinn im Erfahren des Unerforschlichen und
Religionskritik im Erfahrungsbereich des Erforschbaren schließen sich nicht aus. Sie
sind in seinem Geschichtsverständnis gleichberechtigte Teile des Weltganzen.

4. Lebensstufen und Altersstil

Die Verbindung von Natur und Geschichte in Goethes Denken kommt einem
Lebensbereich zustatten, den er in seiner Eigengesetzlichkeit recht eigentlich entdeckt:
denjenigen des hohen Lebensalters und der zu ihm gehörenden Nähe des Todes.
Damit sind Situationen besonderer Art gegeben - Grenzsituationen menschlichen Da-
seins, die sich von anderen Lebensstufen unterscheiden. [19] In der Nähe des Todes ent-
stehen Denkformen besonderer Art, die im hohen Alter als Glück erfahren werden.
Davon handelt ein Brief an Zelter vom 29. 4. 1830: »Und dann darf ich Dir wohl
ins Ohr sagen: ich erfahre das Glück, daß mir in meinem hohen Alter Gedanken
aufgehen, welche zu verfolgen und in Ausübung zu bringen eine Wiederholung des
Lebens gar wohl wert wäre.« [20] Das in jeder Hinsicht denkwürdige Beispiel einer
solchen Thematik ist der Aphorismus, der Madame Roland gewidmet wird. Ihr Name
ist uns aus der Geschichte der Französischen Revolution in Erinnerung. Sie war die
Gattin des Girondistenführers Roland. Ihre 1820 erschienenen Memoiren waren Goe-
the bekannt. Hingerichtet wurde sie im Jahre 1793. Im Aphorismus geht es um
diesen gewaltsam herbeigeführten Tod; die feierliche Sprache, die so ernsten Situa-
tionen angemessen ist, ist kaum zu überhören: »Madame Roland, auf dem Blutgerü-
ste, verlangte Schreibzeug, um die ganz besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr
auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, daß man's ihr versagte, denn am Ende
des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbar; sie sind wie
selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen«
(58). Der besondere Stil, der im Andrang der »ganz besondern Gedanken« entsteht,
ist als Spätstil oder Altersstil »naturbedingt«. Aber geschichtliches Denken spielt
hinein, sofern es der jeweils denkende Mensch ist, der durch Erinnerung Anfang und
Goethes Maximen und Reflexionen 287

Ende seines Lebens verknüpft und in einen Zusammenhang bringt - in einen Lebens-
zusammenhang. Die Maximen und Reflexionen enthalten eine Fülle von Aussagen
dieser Art, denen solche der Spruchlyrik an die Seite zu stellen sind. Sie rechtfertigen
den Aphorismus - oder den Spruch - als literarische Form auch deshalb, weil am
ehesten in solchen Versuchen auf einen Bereich hin gedacht werden kann, der als
System einer Wissenschaft - als Gerontologie, wie wir ihn heute nennen würden -
noch gar nicht existiert. Die Eigengesetzlichkeit der Jugend als einer Lebensstufe mit
eigenen Rechten ist weithin anerkannt, und der sogenannte Sturm und Drang im
Werdegang Goethes beweist es. Dagegen ist die Lebensstufe des hohen Alters nicht
gleichermaßen geschätzt. Für sie sind Begriffe wie Verfall, Degeneration oder Erstar-
rung in Gebrauch, und natürlich sind sie nicht unberechtigt in Gebrauch. Aber alle
diese Begriffe sind auch zu Vorurteilen degeneriert, und sofern es sich um solche han-
delt, muß es darum gehen, sie zu durchschauen und abzubauen. Auf ein solches Tun
zielt eine im Nachlaß überlieferte Maxime: »Die schwer zu lösende Aufgabe streben-
der Menschen ist, die Verdienste älterer Mitlebenden anzuerkennen und sich von
ihren Mängeln nicht hindern zu lassen« (160). Die Menschenrechte einer Gruppe von
Menschen gilt es zu sichern, und tatsächlich wird der ehrwürdige Begriff (der Men-
schenrechte) in diesem Zusammenhang gebraucht: »Der Alte verliert eines der größ-
ten Menschenrechte: er wird nicht mehr von seines Gleichen beurteilt« (75). Auch in
der Spruchlyrik wird das Thema wiederholt angeschlagen, hier zumeist im heiteren
und lässigen Ton:
»Das Alter ist ein höflich Mann:
Einmal übers andre klopft er an,
Aber nun sagt niemand: Herein!
Und vor der Türe will er nicht sein.
Da klinkt er auf, tritt ein so schnell,
Und nun heißt's, er sei ein grober Gesell.« [21]
Doch werden die Rechte der Jugend deshalb nicht vernaChlässigt. Von ihnen han-
delt ein anderes Spruchgedicht:
»Laßt mir die jungen Leute nur
Und ergetzt euch an ihren Gaben!
Es will doch Großmama Natur
Manchmal einen närrischen Einfall haben.« [22]

Goethes Eintreten für alte Menschen ist eine Konsequenz seines humanen Den-
kens. Davon handelt ein Brief aus den letzten Lebensjahren, an den Physiker und Arzt
Thomas Johann Seebeck vom 3.1.1832: »Und so bleibt denn im höchsten Alter uns
die Pflicht noch übrig, das Menschliche, das uns nie verläßt, wenigstens in seinen
Eigenheiten anzuerkennen und uns durch Reflexionen über die Mängel zu beruhi-
gen.« [23] Reflexionen über das Alter dienen der Beruhigung. Sie sind eine Art
Diätetik der Seele. Aber zugleich ist das Alter die Bedingung ihres Entstehens. Man
muß sich zum Bewußtsein bringen, was mit solchen Reflexionen vorweggenommen
wird. Noch im 19. Jahrhundert hat ein so namhafter Ästhetiker wie Friedrich Theo-
dor Vischer dem Spätwerk Goethes, besonders der Lyrik, jedes Verständnis versagt.
288 Spätwerk und Altersstil

Im Namen des Naturgefühls, ja der Naturwidrigkeit, kämpfe er gegen diesen seinen


Altersstil. [24] Die Aufwertung der Alterskunst ist in der Goetheforschung ein Vor-
gang der letzten Jahrzehnte. [25] Aber nicht nur ist Goethes Alterswerk dasjenige
Werk, an dem im Bereich der Literatur am nachdrücklichsten eine solche Altersfor-
schung entwickelt wurde; vielmehr hat er selbst der späteren Forschung auf seine
Weise vorgearbeitet. Seine Maximen und Reflexionen - wie seine Spruchlyrik - sind
nicht nur Alterskunst. Sie handeln auch von ihr, sehr im Unterschied zur Spruchlyrik
des 17. und noch des 18. Jahrhunderts. In zahlreichen Gedichten dieser Zeit wird das
Alter herabgesetzt, weil es »drückt« oder »steift«. Als ein Zustand der nachlassenden
Kräfte und vor allem der Impotenz, bemerkt Wolfgang Preisendanz, sei es bis zu
Lessing hin immer wieder Anlaß zu scharfsinniger Verächtlichkeit. [26] Es sind auch
zumeist junge Schriftsteller, die sich derart verächtlich über Alter und alte Menschen
äußern. Spruchdichtung ist im 17. Jahrhundert eine epochenspezifische Gattung; und
wie die Aphoristik um 1800 wird sie von jungen Schriftstellern geübt. Dagegen zeich-
net sich bei Goethe ein Zusammenhang von Spruchweisheit, Altersthematik und
Altersstil ab, der seinerseits traditionsbildend gewirkt hat. Es gibt ihn ähnlich bei
Fontane, Brecht, Eich oder Canetti. Dieser Zusammenhang ist neu, und Goethe war
sich dessen auch früh bewußt. Davon handelt ein schon 1801 geschriebener Brief (an
Rochlitz) [27]; man wisse, heißt es hier »nicht eher als nach einem längern Lebenslauf,
was ächte Maximen [... ] für einen hohen Werth haben.«

5. Sprache und Gespräch

Der Aphorismus ist sprachliche Kunst auf engstem Raum. Er muß Erfahrungen,
womöglich eines langen Lebens, in einen Satz oder in wenige Sätze zusammendrängen.
Das setzt erhöhtes und geschärftes Sprachbewußtsein voraus, das sich in zahlreichen
Reflexionen über Sprache äußert. Sprachskepsis ist in nahezu allen Aphorismengrup-
pen erkennbar. Im Reflektieren über Sprache sei er sich, schreibt Goethe 1816, ihrer
Unzulänglichkeit nur allzu gewahr geworden. [28] Aber schon in der Maximensamm-
lung des Lehrbriefs wird Skepsis gegenüber der Sprache und ihrem Vermögen zum
Ausdruck gebracht: »Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste
wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.«
[29] Eine Eigentümlichkeit des Wortes sieht Goethe darin, daß es sich verändert und
bewegt. Aber solche Veränderungen führen seiner Auffassung nach oft zum Schlech-
teren hin: »Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von
seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher in's Schlechtere als in's Besse-
re, in's Engere als Weitere, und an der Wandelbarkeit des Worts läßt sich die Wan-
delbarkeit der Begriffe erkennen.« (175). In den Maximen und Reflexionen wird
wiederholt der Erlernung fremder Sprachen das Wort geredet, und die Deutschen
werden von Schelte verschont, wenn sie es in diesem Punkt an nichts fehlen lassen.
Vor allem aber werden Wert und Bedeutung der mündlichen Sprache betont: »Über
die wichtigsten Angelegenheiten des Gefühls wie der Vernunft, der Erfahrung wie
.des Nachdenkens soll man nur mündlich verhandeln« (164), heißt es in einer der
Goethes Maximen und Reflexionen 289

Maximen aus dem Nachlaß. Sprache wird einem Spannungsfeld von Leben und Tod
zugeordnet. Sie ist idealiter lebendige Sprache, aber das ausgesprochene Wort kann
sofort tot sein, wenn es nicht durch ein folgendes am Leben erhalten wird. Eine ihrer
wichtigen Aufgaben aber ist es, das alte Wahre in die Gegenwart zurückzuholen
dadurch, daß es neu formuliert wird. In Goethes Aphoristik ist das Wahre einer der
zentralen Begriffe, von Sprache nicht zu trennen: »Der Irrthum wiederholt sich im-
merfort in der That, deswegen muß man das Wahre unermüdlich in Worten wieder-
holen« (65).
Nicht wenige dieser Reflexionen zielen auf das Gespräch, und auf das gesellige vor
allem. Bildung ist in Goethes Aphoristik vorzüglich gesellige Bildung. Schon in den
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten war es der Fall. Sie benötigt das Gespräch,
damit sie sich entfalten kann. So ist denn wiederholt von schlechten Gesprächen oder
guten Gesellschaften die Rede. Die Aphorismen Goethes sind ein Element geselliger
Bildung. Daher haben sie auch im Roman vielfach das Gespräch zum Thema. In den
Wahlverwandtschaften erscheinen sie als Aufzeichnungen, die sich Ottilie in ihrem
Tagebuch macht. In monologischer Form wird über Dialog, Mitteilung und Verste-
hen reflektiert. Vor allem aber können Aphorismen wissenschaftlichen Inhalts Ge-
genstand solcher Gespräche werden. Damit erweitert sich der Kreis des Publikums.
Der Aphorismus wird zur Mitteilungsform, die nicht nur Fachgelehrte zusammen-
führt; und daß die Resultate einer Wissenschaft verbreitet werden, damit sie zur
allgemeinen Bildung beitragen, ist Goethe wichtig. Wenn Fachgelehrte hierzu nicht in
der Lage sind, wird es kritisch vermerkt, so daß es heißen kann: »Die Deutschen, und
sie nicht allein, besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen« (118).
Auf Zugänglichkeit also, auf Öffentlichkeit und auf Verständlichkeit kommt es an.
Sein Mißtrauen gegenüber jeder Metasprache der Wissenschaft, wie wir heute sagen
würden, hängt damit zusammen. Auf Wort, Sprache und Bild sei er angewiesen, aber
nur mit diesen Ausdrucksformen, wird man einwenden, wäre die exakte Naturwissen-
schaft des 19. Jahrhunderts nicht zu betreiben gewesen. Solche Vorbehalte Goethes
zeugen, wie schon ausgeführt, von Grenzen seines Verstehens, über die man nicht
hinwegsehen kann. Hier - wenn irgendwo - hat ihn die Geschichte widerlegt, könnte
man meinen. Aber doch nur zum Teil. Denn die Kommunikationsprobleme der mo-
dernen Wissenschaft, die so hartnäckig zur Sprache gebracht werden, haben sich nicht
erledigt. Sie haben ein Ausmaß erreicht, das beunruhigt. Man hat den Eindruck, es
kann so nicht bleiben. Eine durchaus Goethesche Maxime!
Über die Eigenart dieser Maximen und ihren Ort in der Geschichte der europäi-
schen Aphoristik wäre zu sprechen. Es ginge dabei vor allem um sein Verhältnis zu
den französischen Moralisten, aber auch zu den deutschen Zeitgenossen, die sich in
dieser Gattung ausgesprochen haben. Das sind vor anderen Lichtenberg, Novalis und
Friedrich Schlegel. Goethes Aphoristik ist trotz der Gemeinsamkeiten, die der Gat-
tung zuzuschreiben sind, ein Werk sui generis. Es gibt Maximen, die in allgemeingülti-
ger Diktion formuliert werden und ohne die Ichform auskommen. Aber es gibt auch
andere, die sehr persönlich sprechen und eigene Erinnerungen ins Spiel bringen. Sie
bestätigen in solchen Formen den Anteil des Persönlichen, den Franz Mautner als ein
Merkmal aphoristischer Literatur ansieht. [30] Die eine wie die andere Gruppe haben
290 Spätwerk und Altersstil

einen im ganzen sehr ernsten Ton gemeinsam - im Gegensatz zur eigenen Spruchlyrik,
die das Lässige, Saloppe und Unfeierliche liebt. Das Textcorpus der Maximen setzt
eine andere Stilebene voraus. Lichtenbergsehe Späße, witzige Pointen und brillante
Wortspiele fehlen weithin; und nicht zufällig wird Humor nicht sonderlich geschätzt,
so wenig wie Polemik und gesellschaftskritische Schärfe. Was diese Aphoristik vor
allem auszeichnet, ist die ethische Komponente ihres Denkens, der sittliche Bezug -
gleichviel, ob es um ein kleines Gedicht geht oder ob es sich um ein physikalisches
Experiment handelt. Für das eine wie das andere ist ein »Verhältnis zum Gewissen«
gefordert, dem >'>würdigsten Erbtheil der Menschen«. Solche Forderungen werden als
Grundwahrheiten aufgefaßt und entsprechend ausgesprochen, nicht selten in einem
Ton der Entschiedenheit, der Widerspruch in diesem Punkt nicht gelten läßt. In einer
der herrlichsten Maximen Goethes wird es prägnant formuliert: »Wir wissen von
keiner Welt als im Bezug auf den Menschen: Wir wollen keine Kunst, als die ein
Abdruck dieses Bezugs ist« (187).
Anmerkungen

Zitiert werden Goethes Werke im allgemeinen nach der Artemisgedenkausgabe der Werke,
Briefe und Gespräche, hg. von Ernst Beutler. Zürich 1949 (= GA); die entsprechenden Belege
in der Hamburger Ausgabe (= HA), hg. von Erich Trunz, Hamburg 1949, werden beigefügt.
Die Weimarer Ausgabe (= WA) wird dort zitiert, wo es sich als notwendig erweist.

Einleitung

1 Vgl. Heinrich Dunkhase: Würzburg als Sitz der Deutschen Nationalversammlung 1919. In:
Versammlung des 33. Historikertages 1980 in Würzburg, S. 21-28.
2 Willibalt Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung. München 1964, S. 53/54.
3 Friedrich Ebert: Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Zweiter Band. Dresden 1926, S. 155/
56.
4 Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus. Stuttgart 1905 ff.
5 Berliner Anfänge, in: Bühne und Welt, Jg. XVIII, Heft 10 (1910).
6 Wege nach Weimar 1/2-3; 27.
7 Neue Ideale. Leipzig und Berlin. 1901, S. 265.
8 Bd. U38ff.
9 Bd. 1V/155.
10 Bd. I/55.
11 Zitiert nach Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis. Münster 1971, S. 82.
12 Bayreuther Blätter, Jg. 1890, S. 99/100.
13 Ebda, 1902, S. 274.
14 Wege nach Weimar, Bd. III/29.
15 Rudolf Eucken: Zur Sammlung der Geister. 4. und 5. Tsd. Leipzig 1914, S. 15.
16 Ebda, S. 66.
17 Ebda, S. 48; S. 106.
18 "So wird durch geistige Kraft eine volle Harmonie der Welten erreicht, aber sie wird
innerhalb des Geisteslebens erreicht" (Ebda, S. 49).
19 Vgl. Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. 1963, 2. Auf!. 1974.
20 Die Klassik-Legende. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt 1971, S. 7.
21 Hans Robert lauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partiali-
tät der rezeptions ästhetischen Methode. In: Rezeptionsästhetik. Hg. von Rainer Warning.
München 1975, S. 374.
22 Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962,
S. 11/12.
23 Egon Erwin Kisch: Gesammelte Werke. Hg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Bd. V.
BerlinlWeimar 1974, S. 401 ff.
24 Schriften zum Theater I. 1918-1933. Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, VII, S. 176.
292 Anmerkungen

25 Hierzu Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-


revolutionärer Schriftsteller. NeuwiedlBerlin 1971; bes. S. 48. Zu verweisen ist ferner auf
den von Peter Ludz herausgegebenen Band ausgewählter Schriften und auf die Einleitung
dort: Georg Luktics: Schriften zur Literatursoziologie. Neuwied 1961.
26 P. Ludz: Lukacs, Schriften zur Literatursoziologie, S. 122. - Vgl. auch Helga Gallas: Marxi-
stische Literaturtheorie. Neuwied 1971, S. 135.
27 Vgl. H. Gallas: ebda, S. 170; Rolf Günter Renner: Aesthetische Theorie bei Georg Lukacs.
Bern 1976, S. 169ff.
28 Schriften zur Literatursoziologie, S. 146.
29 Vgl. hierzu auch Elisabeth Plessen: "Er fordert symbolische ,dichterische Wirklichkeit'
[... ], Gelegenheit zur Einführung, zum Erhöht- und Erhobenwerden des Lesers [... ] -
Kurzum alles, was Brecht auf seinem eigenen Feld mit dem epischen Theater bekämpfte"
(Fakten und Erfindungen. Zeitgenössische Epik im Grenzgebiet von fiction und nonfiction.
München 1971, S. 11).
30 Georg von Luktics: Die Seele und die Formen. Essays. Berlin 1911.
31 Ebda, S. 190.
32 Ebda, S. 138.
33 Ebda, S. 325-373.
34 Ebda, S. 350-352.
35 Hierzu Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann und die Neuklassik. ,Der Tod in Venedig' und
Samuel Lublinskis Literaturauffassung. In: Jb. d. dt. Schillergesellschaft XVII (1973), S.
432-454.
36 Wilhelm von Scholz: An 11m und Isar. Lebenserinnerungen. Leipzig 1939, S. 115.
37 Von Karl August Kutzbach in dem von ihm herausgegebenen Buch "Paul Ernst am Schau-
spielhaus Düsseldorf und die neuklassische Bewegung um 1905" (1971/72) ausführlich ge-
schildert.
38 Hugo von HofmannsthalfHarry Graf Keßler: Briefwechsel 1898-1939. Hg. von Hilde Bur-
ger. Frankfurt 1968, S. 44.
39 Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Berlin 1904. - Der Ausgang der Moderne.
Dresden 1909. - Beide Texte hat Gotthart Wunberg in der Reihe "Deutsche Texte" (Max
Niemeyer Tübingen) 1974 und 1976 neu herausgegeben.
40 Hierzu Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Dichtung, Sprache, Gesellschaft. Hg. von
Victor Lange und Hans-Gert Roloff. Frankfurt 1971, S. 439-455.
41 Ernst Toller: Prosa, Briefe, Dramen, Gedichte. Reinbek 1961, S. 46.
42 Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Berlin 1963. Bd. VI, S. 732/33.
43 Ebda, S. 737.
44 Briefe 1889-1936. Frankfurt 1961, S. 40.
45 Gesammelte Werke. Frankfurt 1960. Bd. XII1787. - Zum Thema ist auf eine Schrift von
Hans Mayer zu verweisen: Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Litera-
tur. Frankfurt 1971.
46 GW VIIII450: "Zehn Jahre später hatte er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu reprä-
sentieren, seinen Ruhm zu verwalten".
47 An earl Maria Weber vom 4.7.1920 (Briefe 1/177).
48 Ebda, S. 176.
49 Über die Kunst Richard Wagners (GW X/842).
50 Ebda, S. 842.
51 Vgl. Hans R. VagetlDagmar Barnouw: Studien zu Fragen der Rezeption. BernlFrankfurt
1975; ferner der schon genannte Beitrag von Vaget in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-
Gesellschaft 17 (1973), S. 432-454.
52 GW XIII466.
53 Ebda, S. 287.
54 Der Sozialdarwinismus, der dem Italiener "angedichtet" wird, ist unverkennbar, wenn es
heißt: "Nach Settembrini's Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um
die Welt: die Macht und das Recht" (GW 111/221). Man denkt an Rudolf von Iherings
Anmerkungen 293

bekannte Schrift. Später verteidigt Settembrini den Krieg auf eine sophistische Art: ",Der
Krieg', rief Settembrini, ,selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen
müssen'" (GW 111/531). Mit einem solchen Sozialdarwinismus hat Heinrich Mann nichts zu
tun, der in dem gleichzeitig veröffentlichten Roman "Der Kopf" damit abrechnet.
55 GW 1111310: ",Krankheit und Verzweiflung', sagte Settembrini, ,sind auch oft nur Formen
der Liederlichkeit'''.
56 Ebda, S. 686.
57 Vgl. Helm Stierlin: Eltern und Kinder im Prozeß der Ablösung. Familienprobleme in der
Pubertät. Frankfurt 1975.
58 Claude David: Stefan George. München 1961, S. 282.
59 Georg Simmel: Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Auf-
sätze. Potsdam 1922, S. 85.
60 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte
seit 1890. Berlin 1930, S. 159/60.
61 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916, S. 1.
62 Ebda, S. 5.
63 Ebda, S. 4.
64 Ebda, S. 1, S. 2, S. 313.
65 Der Gedenkaufsatz ist am 15. Juli 1931 in der Vossischen Zeitung erschienen und auszugs-
weise abgedruckt im Marbacher Ausstellungskatalog (1968), dort S. 358.
66 Tage und Taten. Berlin 1925, S. 71.
67 Särntl. Werke. Vierter Bd. München/Leipzig 1916, S. XII.
68 Tage und Taten, S. 71.
69 Vierter Bd., S. XlXIXX.
70 Vgl. besonders S. 52: "Und wenn ich von Hölderlins Leben Ihnen reden will, dann ist der
Wahnsinn nicht nur das Ziel, worein das Leben mündet, der Wahnsinn ist das Geheimnis,
das als rätselhaft anlockt und als unverständlich wegstößt" (Hölderlin. Zwei Vorträge. 2.
Aufl. München 1922)
71 Ebda, S. 70: "Er selbst [... ] ahnt, daß kein neuer Bogenaufstieg kommen wird [... ] Die
Gedichte, worin er diese beiden Gefühle in unwahrscheinlicher Vollendung festgehalten
hat, sind". Es folgt der Text des Gedichts "Hälfte des Lebens".
72 Friedrich Hölderlin: Historisch-kritische Ausgabe, hg. von D. E. Sattler. Frankfurt 1975, S.
17.
73 Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Frankfurt 1949, S. 159.
74 Gundolf: Goethe, S. 525/6.
75 Das Jahrhundert Goethes (1902), hier zitiert nach der 4. Aufl. Düsseldorf und München, S.
7.
76 Goethe, S. 482.
77 Hierzu Friedrich Gundoll Romantiker. Berlin 1930. - Romantiker. Neue Folge. Berlin
1931.
78 Der Kleist-Preis. 1912-1932. Eine Dokumentation. Hg. von Helmut Sembdner. Berlin
1968.
79 Friedrich Gundoll Heinrich v. Kleist. Berlin 1924, S. 93.
80 Ebda, S. 109.
81 Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1953, S. 20.
82 Friedrich von der Leyen: Deutsche Dichtung in neuer Zeit. Jena 1922, S. 230-232.
83 Deutsche Realisten, S. 48.
84 Max Nordau: Entartung. 2. Bd. Berlin 1893 (in 2. Aufl.). Jens Malte Fischer hat sich in
neuerer Zeit mit diesem seinerzeit verbreiteten Werk energisch auseinandergesetzt: Deka-
denz und Entartung - Max Nordau als Kritiker des Fin de Siede, in: Fin de Siede, hg. von
Roger Bauer u. a. Frankfurt 1977, S. 93-111.
85 Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Frankfurt 1974, S. 53.
86 Günter Kunert: Pamphlet für K. In: Sinn und Form 27 (1975), S. 1091-1097, jetzt auch in:
Die Aktualität Kleists. Darmstadt 1982, S. 229-231.
294 Anmerkungen

87 Vgl. Max KommereIl: Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt 1943.
88 Geist der Goethezeit. H. Teil. Leipzig 1930, S. 7.
89 Goethe, S. 786.
90 Geist der Goethezeit. Leipzig 1953. IV. Teil, S. 703-753.
91 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie.
München 1960, S. 139.
92 Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (GW IX/298).
93 Ebda, S. 31617.
94 Ebda, S. 330.
95 Karl Vietor: Goethes Altersgedichte (Euph. 1932), jetzt in: Geist und Form. Bern 1952, S.
144-193.
96 Else Buddeberg: Gottfried Benn. Stuttgart 1961, S. 71. - Anders Jürgen Schröder in seinem
Buch: Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation. Stuttgart 1980. Eine ausführliche Begrün-
dung solcher von der neueren Forschung abweichender Auffassungen enthält ein mehrfach
gehaltener Vortrag über diesen Essay Benns, der demnächst erscheinen soll.
97 Vgl. GW IV, S. 997, wo es heißt: »Der Realitätszerfall seit Goethe geht so über alles Maß,
daß selbst die Stelzvögel, wenn sie ihn bemerkten, ins Wasser müßten: der Erdboden ist
zerrüttet von purer Dynamik und reiner Relation«.
98 An Oelze vom 28.8.1949 (Briefe an F. W. Oelze. München 1979. 2. Bd. S. 237).
99 Auf diesen wissenschaftsgeschichtlichen Unfug hat Ludwig Marcuse in seiner Autobiogra-
phie dankenswerterweise aufmerksam gemacht (Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 143).
100 Jb. der Goethe-Gesellschaft 19 (1934) S. 265.
101 Walter Laqueur: Weimar. Die Kultur der Republik. Berlin 1977, S. 62.
102 Literatur im Klassenkampf. Zur proletarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919--1923.
Hg. von W. Fähnders und M. Reetar. München 1971, S. 71.
103 Gesammelte Schriften Bd. 6, 1924, S. 157. - Jochen Schulte-Sasse, der diesen Passus in
seiner Schrift »Literarische Wertung« (2. Auf!. 1976, S. 75) zitiert, sieht meine eigenen
Darlegungen über das Verhältnis von geschichtlichen und übergeschichtlichen Normen von
diesen Ausführungen Diltheys bestimmt. Ich kann versichern, daß ich sie nicht kannte, als
ich mit der Ausarbeitung meiner Schrift (Probleme der literarischen Wertung, 1965) befaßt
war. Auch habe ich invariante Strukturen in solchen Normensystemen als relative Invarianz
verstanden, weil fraglich bleibt, ob die Natur des Menschen in Fragen der Ästhetik als eine
Invariante aufzufassen ist; vermutlich nicht.
104 Vgl. dagegen: Die Geschichtlichkeit der Moderne. Festschrift für Ulrich Fülleborn, hg. von
Theo Elm. München 1982. Hier wird der Begriff etwas anders gebraucht: im Sinne der
Vorgeschichte oder Einbettung in die geschichtliche Welt.
105 Vgl. Walther Gerlach: Die Fortentwicklung der klassischen Physik, in: Propyläen Weltge-
schichte, 9. Bd., Berlin 1960, S. 472.
106 GW IV/158.
107 Von Benn in dem obengenannten Essay so zitiert: 1/167. Es geht um die 1882 erschienene
Schrift »Goethe und kein Ende«.
108 Hierzu Benns Nachwort: IV/405.
109 GA XI1/258. - HA X/206.
110 Vgl. Walther F. Otto: Die Berufung des Dichters. In: Hölderlin-Gedenkschrift. Hg. von
Paul Kluckhohn. Tübingen 1944, S. 203-223.
111 Karl Kereny: Hölderlins Vollendung. In: HJb 1954, S. 25.
112 Stuttgarter Ausgabe Bd. V1/290.
113 StA V1/426. - Zur »Überwindung des Klassizismus« vgl. Peter Szondi: Überwindung des
Klassizismus. Der Brief an Boehlendorff vom 4. Dez. 1804. In: Hölderlin-Studien. Frankfurt
1970, S. 95-118.
114 Karoline von GÜnderrode. Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnis-
se von Zeitgenossen. Hg. von Christa Wolf. DarmstadtlNeuwied 1979, S. 5/6.
115 Vgl. Max L. Baeumer: Der Begriff »klassisch« bei Goethe und Schiller. In: Reinhold
Grimm/ Jost Hermand: Die Klassik-Legende. Frankfurt 1971, S. 17-49.
Anmerkungen 295

116 Schillers Briefe. Hg. von F. Jonas o.J. VI/175. NA XXXl177.


117 GA XIII423. - HA X/361.

Deutsche Klassik und Französische Revolution

1 Zuerst veröffentlicht in der Schrift »Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sie-
ben Studien«. Göttingen 1974, S. 39-62. Über Entstehung und Vortragsformen infor-
miert die erste Fußnote in der bezeichneten Veröffentlichung aus dem Jahre 1974. Sie wurde
hier nur geringfügig überarbeitet. Der inzwischen erschienene Band »Deutsche Klassik und
Revolution. Texte eines literaturwissenschaftlichen Kolloquiums«, hg. von Paolo Chiarini
und Walter Dietze, Rom 1978, auf den hier verwiesen wird, wurde nicht mehr eingearbei-
tet.
2 Der Frage nach Hölderiins Republikanertum ist Adolf Beck in vorbildlicher Behutsamkeit
nachgegangen - der Frage vor allem, ob wir es mit einem Jakobiner oder einem Girondisten
zu tun haben. Um eine letztlich biographische Frage handelt es sich auch hier, wenn man sie
nicht als eine solche der allgemeinen Geschichtswissenschaft ansehen will. Daß die ent-
scheidenden Auskünfte aus der Dichtung selbst, aus den Gedichten Hölderlins, zu erhoffen
wären, deutet Beck gegen Ende seines Beitrags an: »Wir denken aber nicht daran, den
Dichter nun als >Girondisten< anzurufen. Es geht hier weder um den >Jakobiner< noch um
den >Girondisten< Hölderlin. Es geht um den Republikaner - und die Art seines Republika-
nerturns, d. h. um dessen Verhältnis zu seinem Dichterturn« (Adolf Beck: Hölderlin als
Republikaner, in: Hölderlin-Jahrbuch 1967/68, S. 47). So ist es in der Tat! Aber gerade in
diesem Punkt bleibt uns Pierre Bertaux nahezu alles schuldig. Er argumentiert bloß biogra-
phisch und auf einer Reflexionsstufe, die dem heutigen Stand der Literaturwissenschaft
kaum entspricht. Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, in: Hölderlin-
Jahrbuch 1967/68, S. 6: »Von Hölderlins drei großen Erlebnissen, dem Wesen der Grie-
chen, der Liebe zu Susette Gontard und der Revolution, ist das letztere das entscheidende
gewesen ... «.
3 Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich u. Freiburg 1963, S. 9.
4 Vgl. Maurice Boucher: »et, c'est cette complexite qui fait I'interet du cas Schiller« (La
Revolution de 1789, vue par les ecrivains allemands, ses contemporains. Paris 1954, S. 95).
5 Georg Lukacs: Goethe und seine Zeit, Beriin 1950, S. 45.
6 Hans Mayer: Das Ideal und das Leben, in: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955, hg. von
Bernhard Zeller. Stuttgart 1955, S. 173.
7 Paul Böckmann: Politik und Dichtung im Werk Friedrich Schillers, in: Schiller. Reden im
Gedenkjahr 1955, S. 196; wieder abgedruckt in: Formensprache. Zur Literarästhetik und
Dichtungsinterpretation. Hamburg 1966, S. 268-282.
8 Benno von Wiese: Schiller und die Französische Revolution, in: Der Mensch in der Dich-
tung. Studien zur deutschen und europäischen Literatur. Düsseldorf 1958, S. 152.
9 Es geht dabei, mit anderen Worten, um das Verhältnis von Theorie und Praxis, das Joachim
Müller vielleicht zu harmonisch sieht, wenn er 1955 in seiner Schiller-Rede ausführt: »Was
Schiller in seinen Dichtungen von den >Räubern< bis >Don Carlos< forderte, das war, aus der
geschichtlichen Notwendigkeit geboren, das gleiche, was kurz danach für Frankreich durch
die Revolution von 1789 konkretisiert wurde« (Schiller-Reden 1955, S. 217). Aber das
gleiche war es gewiß nicht - schon deshalb nicht, weil sich bezüglich der Konkretisierung die
Geister schieden.
10 Zitiert von Victor Zmegac in dessen Einleitung zu dem Sammelband: Marxistische Litera-
turkritik. Frankfurt/M. 1970, S. 14.
11 An Körner vom 8. Februar 1793 (Schillers Briefe, hg. v. Fritz Jonas. Bd. II1, S. 246).
12 Vgl. »Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort« (GA XV1/881; HA XlIII
39); vgl. ferner »Kampagne in Frankreich«, wo es heißt: »so ergriff mich nunmehr die
Revolution selbst als die gräßlichste Erfüllung« (GA XIII420; HA X/358).
13 Tag- und Jahreshefte, 1789 (GA X1/622; HA X/433).
296 Anmerkungen

14 GA XII/418; HA X/356.
15 GA XVIII/601.
16 Die Grundlagen der deutschen Klassik, in: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850.
Stuttgart, 1965, S. 92.
17 Vgl. Gonthier-Louis Fink. Das Märchen. Goethes Auseinandersetzung mit seiner Zeit, in:
Goethe, NF. 33/1971, S. 98: »Allen diesen Werken liegt schließlich eine patriarchalische
Auffassung zugrunde, die mehr oder weniger deutlich dem ,Ancien Regime< das Wort
redete ... «
18 H. W. Bruford: Kultur und Gesellschaft im klassischen Weimar. 1775-1806. Deutsche Aus-
gabe, Göttingen 1966. - Vgl. auch: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit.
Weimar 1936.
19 Zitiert von Bruford ohne nähere Angaben (Die gesellschaftlichen Grundlagen, S. 44).
20 An Johann Caspar Lavater vom 19. Februar 1781 (GA XVIII/567).
21 Goethes »Italienische Reise«, in: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S.
58; ähnlich Willy Andreas in seinem Beitrag »Goethes Flucht nach Italien«, in: DVjs, 35.
Jg. 1961, S. 344--362.
22 An Knebel vom 17. April 1782 (GA XVIII/659f).
23 Gespräche mit Eckermann (GA XXIV/549f).
24 Tag- und Jahreshefte, 1789 (GA X1/623f; HA X/434).
25 Ebda (GA XI/623; HA X/434).
26 Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (GA XIII/68; HA XII/32).
27 HA XII/577.
28 Schicksal der Handschrift (GA XVII/84; HA XIII, S. 102).
29 GA XVII/85; HA XIII/102.
30 Vgl. Tag- und Jahreshefte, 1789 und 1790.
31 Tag- und Jahreshefte, 1790 (GA X1/626; HA X/436).
32 Hierzu jetzt die von mir angeregte Arbeit von Klaus H. Kiefer: Wiedergeburt und Neues
Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise. Bonn 1978.
33 »Die Erfüllung aber [... ] ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der
Begriff von Polarität und von Steigerung.« heißt es in dem Beitrag »Erläuterung zu dem
aphoristischen Aufsatz ,Die Natur«<. (HA XIII/48).
34 Über die aesthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (Schillers Werke.
Nationalausgabe XX, Weimar 1962. S. 318).
35 Ebda, S. 326.
36 Vgl. NA XXl353: »Derjenige Trieb also, in welchem beyde verbunden wirken [... ] der
Spieltrieb also würde dahin gerichtet seyn, die Zeit in der Zeit aufzuheben ... «
37 Vgl. Paul Böckmann: Politik und Dichtung (Reden im Gedenkjahr 1955, S. 270/71).
38 Vgl. Karl Berger: Schiller. Sein Leben und seine Werke. München 1914. Bd. 11, S. 123.
39 Das Ideal und das Leben (Reden im Gedenkjahr, S. 167).
40 An Gottfried Körner vom 8. Februar 1793 (Jonas III, S. 246).
41 Kritische Schriften, hg. von W. Rasch, München 1956, S. 46.
42 Carl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. Leipzig 1790. 1. Brief S. 3/
39; erste Veröffentlichung: Der Teutsche Merkur, August 1786, S. 97/127.
43 Hölderlin: Sämtliche Werke VI/I, hg. v. Adolf Beck, Stuttgart 1959, S. 229.
44 An den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg vom 13. Juli 1793 (Jonas III, S. 330).
45 Ebda, S. 335.
46 Ebda, S. 334.
47 Sämtliche Werke VI/I, S. 304.
48 Vom 4. November 1795 (Jonas IV, S. 315).
49 Briefe über die aesthetische Erziehung (NA XX, I. Teil, S. 320).
50 An Göschen vom 14. Oktober 1792 (Jonas III, S. 220); vgl. Benno von Wiese, Schiller und
die Französische Revolution, in: Der Mensch in der Dichtung, S. 149.
51 Ebda.
52 Historische Schriften I. Hg. von Karl-Heinz Hahn. NA, XVII. Bd. S. 7.
Anmerkungen 297

53 NA, VIII. Bd. S. 185. - Hierzu mein Aufsatz »Die Idee des neuen Lebens. Eine Betrachtung
über Schillers Wallenstein.« In: The Discontinuous Tradition. Studies in German Literature
in honor of Ernest Ludwig Stahl, edited by P. F. Ganz, Oxford 1971; wieder abgedruckt in:
Schillers Wallenstein, hg. von Fritz Heuer und Werner Keller (Wege der Forschung Band
CCCCXX) Darmstadt 1977, dort S. 364-385; vg!. auch vorliegenden Band S. 127-139.
54 GA XII/423f; HA Xl361. Vg!. hierzu auch den Beitrag von Claude David in: Deutsche
Klassik und Französische Revolution. Göttingen 1974, besonders S. 78.
55 GA XII/253; HA Xl201.
56 GA Xl841; HA Xl176f.
57 GA XV1/881; HA XII1/39.
58 Vg!. NA XX, S. 446.
59 NA XXI, S. 92 f.
60 Hierzu jetzt Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der
Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977.
61 GA XIl84; HA XII77.
62 Vgl. Gerhard Kaiser: Idylle und Revolution. Schillers »Wilhelm Tell« In: Deutsche Klassik
und Französische Revolution, S. 87-128.
63 NA XX, S. 473.
64 Schriften, hg. v. R. Samuel, H.-J. Mähl und G. Schulz, Stuttgart 2. erw. Aufl. 1965, 11,
S.666f.
65 Goethe und Reinhard. Briefwechsel in den Jahren 1807-1832. Wiesbaden 1957, S. 108.

Cagliostro und die Vorgeschichte der deutschen Klassik

Veröffentlicht in der Festschrift für Richard Brinkmann: Literaturwissenschaft und Geistesge-


schichte. Tübingen 1981, S. 136-163. Der Beitrag erscheint im Darstellungsteil unverändert.
Nachträge haben erhalten die Anmerkung 57 (mit einem für den Gedankengang wichtigen
Beleg in den Schriften Andreas B. Wachsmuths) und die Anmerkung 84 mit Verweis auf die
neue Ausgabe von Jakob Burckhardts berühmtem Werk in der Edition von Peter Ganz. In
seinem Buch »Arbeit am Mythos« (Frankfurt 1979) geht Hans Blumenberg auf die »gemeinen
Künste« des Cagliostro ein, wie sie Goethe mit Beunruhigung registriert. Er macht hier überzeu-
gend auf eine geologische Bildlichkeit aufmerksam: auf die Doppelung von faktischem Erdbe-
ben und dem Bewußtsein von der Unsicherheit des Bodens, dort S. 480. (Für den Hinweis danke
ich Friedrich Ohly.)
1 In den »Tag- und Jahresheften« für das Jahr 1789 heißt es: »Schon im Jahr 1785 hatte die
Halsbandgeschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittli-
chen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulich-
sten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht los werden konnte,
wobei ich mich so seltsam benahm, daß Freunde, unter denen ich mich eben auf dem Lande
aufhielt, als die erste Nachricht hievon zu uns gelangte, mir nur spät, als die Revolution
längst ausgebrochen war, gestanden, daß ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen
sei« (GA X1/622; HA Xl433).
2 Die Ausführungen über Goethes Verhältnis zu Cagliostro sind in allem den Behauptungen
von E. M. Butler entgegengesetzt, sozusagen Satz für Satz. Mag man Cagliostro aufwerten,
aus welchen Gründen auch immer - die gern über das Ziel hinausschießende Germanistin
tut es in einem Maße, daß man sich nur wundern kann. Schwerer wiegt der Einwand, daß
sie Entfernungen Goethes von Magie und Alchimie nicht recht wahrzunehmen bereit ist
(Goethe and Cagliostro, in: Pub!. of the English Goethe Society. XVI (1946), S. 2-28.
3 GA XVIII/60l.
4 In einem 1864/65 in der Baltischen Monatsschrift von J. Eckhardt veröffentlichten Aufsatz
»Cagliostro in Mitau« führt dieser aus: »Dieser Zusammentritt einflußreicher, geachteter
und helldenkender Personen machte ebensowohl in Mitau als auch in Petersburg das größte
298 Anmerkungen

Aufsehen; von nun an war Cagliostro's Ruf im ,Norden< begründet. Sein Aufenthalt in
Mitau ist aber schon deshalb von besonderer Bedeutung, weil die später veröffentlichten
Bekenntnisse Elisens von der Recke der Welt eine Aufklärung vorgeführt haben, wie
solche sonst nirgends über das Treiben dieses berüchtigten Abenteurers auf unsere Zeit
gekommen ist« (S. 325).
5 Der Titel der Veröffentlichung Elisens von der Recke lautet: »Nachricht von des berüchtig-
ten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von'dessen magischen Operationen,
von Charlotte Elisabeth Constantie von der Recke geb. Gräfin v. Medern. Berlin und
Stettin bei Friedrich Nicolai.« - Dokumentarisches Material, einschließlich der Berichte der
Frau von der Recke hat J ohannes von Guenther zusammengetragen: »Der große Erzzauberer
Cagliostro. Die Dokumente über ihn nebst zwölf Bildbeigaben. München 1919.« Nach
dieser Ausgabe die Zitate aus der angeführten Schrift. Der Verfasser möchte Cagliostro
nicht einfach als einen Schwindler betrachten. In der Heilkunde sei er bisweilen auch
erfolgreich gewesen. Das mag wohl sein.
6 Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Hg. von Heinrich Funck. Weimar 1901, S.
152-153 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft, 16. Bd.).
7 Lavater an Goethe vom 16. August 1781: ,Mit derselben Post [... ] wird mir geschrieben,
daß, was auch Calliostros sittlicher, medizinischer, chymischer Charakter seyn möge - seine
Divinazion, oder Geisterseherey reell und gar keinem Zweifel ausgesetzt sey« (Goethe und
Lavater, S. 190). - E. M. Butler zitiert S. 21 ihres Beitrags den folgenden Passus aus Lava-
ters »Rechenschaft an seine Freunde« (1786): »Cagliostro, ein Mann, und ein Mann wie
wenige, an den ich aber nicht glaube. 0, daß er einfältig und demütig wäre wie ein Kind,
daß er Sinn hätte für die Einfalt des Evangeliums und für die Hoheit des Herrn. Wer wäre
größer als er?«
8 Brief vom 18. März 1781 (Goethe und Lavater, S. 162).
9 Goethe und Lavater, S. 184 (GA XVIII/601).
10 Goethe und Lavater, S. 149 (GA XVIIII567).
11 Goethe und Lavater, S. 192-193.
12 Daß Goethe schon damals die geschichtliche Bedeutung der Affäre erkannte, kann kaum
zweifelhaft sein. Anders Hans Mayer (Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt
1973, S. 34): »Goethe beschäftigte sich sogleich, wie seine späteren dramatischen Bemü-
hungen um diesen Stoff beweisen, mit der ungeheuerlichen Affäre; allein ihre geschichtli-
che Bedeutung ist ihm wohl erst später, nach Ausbruch der Revolution, bewußt geworden.«
Sicher nicht!
13 Vgl. Heinrich Funck: Lavater und Cagliostro, in: Nord und Süd. 83. Bd. (1897), S. 42.
14 GA XIII418; HA X/356.
15 GA XII/326; HA X/270.
16 Vgl. den von J. v. Guenther herausgegebenen Dokumentationsband, dort S. 39. - Über die
Cagliostro-Teile in Goethes »Italienischer Reise« ist jetzt die von mir angeregte und be-
treute Dissertation von Klaus Kiefer zu vergleichen, die viel Neues beibringt und vieles
weiterführt, das im Rahmen dieser Veröffentlichung nicht ausführlich zu behandeln war:
Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer
Reise. Bonn 1978.
17 Vgl. hierzu die Erläuterungen in der Hamburger Ausgabe XII63l.
18 GA XII280; HA XI/256.
19 GA XIX/18l.
20 Positionen und Traditionen der europäischen Aufklärung in Goethes »Iphigenie« hat neu-
erdings Wolfdietrich Rasch herausgearbeitet (Goethes ,Iphigenie auf Tauris< als Drama der
Autonomie. München 1979). Einer der abschließenden Sätze lautet: »,Iphigenie< repräsen-
tiert den gegen das Verhalten der Götter im Mythos und im Kult sich durchsetzenden
Glauben an den absolut guten, kein Unrecht, keine Gewalttätigkeit vom Menschen verlan-
genden Gott, der in der Vorstellung Goethes und der gesamten europäischen Aufklärung
lebendig ist« (188).
21 GA XXIV/317.
Anmerkungen 299
22 Emil Staiger: Goethe. 1786-1814. Zürich 1956, Bd. II, S. 90.
23 Vgl. den Artikel »Halsbandaffäre« bei Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart
1962, S. 235-236; ferner Edmund Heier: J. C. Lavater und der russische Zarenhof, in:
Schweizer Monatshefte XLV (1965/66), S. 831-850.
24 GA X1/534; HA XIl485.
25 GA XVIII85; HA X1II1102.
26 GA XIX/159.
27 Auf die ägyptische Herkunft der Freimaurerei und auf ägyptische Motive macht Lieselotte
Blumenthal aufmerksam: Goethes »Großkophta«, in: Weimarer Beiträge VII (1961), S. 18.
28 Mit dem Phänomen hat sich die ältere Goetheforschung wiederholt befaßt. Zu nennen sind
Gotthold Deile: Goethe als Freimaurer. Berlin 1909; Hans Christian Freiesleben: Goethe
als Freimaurer. Seine Bedeutung für die königliche Kunst. Hamburg 1949; und vor allem
Ferdinand Josef Schneider: Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in
Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Prolegomena zu einer Geschichte der deut-
schen Romantik. Prag 1909. Wichtige neuere Veröffentlichungen: Richard van Dülmen:
Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung. Analyse. Dokumentation. Stuttgart 1975;
mit ihm setzt sich auseinander Ernst-Otto Fehn: Die Wiederentdeckung des Illuminatenor-
dens. Dieser Beitrag findet sich in dem von Peter Christian Ludz herausgegebenen Sam-
melband: Geheime Gesellschaften. Heidelberg 1979. Hier auch der Aufsatz von Wolfgang
Martens: Geheimnis und Logenwesen als Elemente des Betrugs in Goethes Lustspiel »Der
Großcophta«, S. 325-333. - Daß sich die Weimarer Loge, der Goethe angehörte, damals in
einer Krise befand, führt Lieselotte Blumenthal aus: Goethes »Großkophta«, S. 6.
29 GA Vl/622.
30 Ebda, S. 623.
31 Ebda, S. 634.
32 Die hier gebrauchte Formel geht auf van Helmonts medizinisches System zurück. Rolf
Christian Zimmermann führt sie an in seinem Buch: Das Weltbild des jungen Goethe.
Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. München 1969, S. 193,
indem er aus einer älteren Schrift von Karl Kiesewetter (Geschichte des neueren Okkultis-
mus, 2. Aufl. Leipzig 1909, S. 239) zitiert. Dieses Zitat lautet: »Die Krankheiten und
Gedankenbilder welche dem Lebensgeist eingeprägt sind [... ] Dieser Gedanke beherrscht
das ganze medizinische System van Helmonts, welcher in seinem Aufsatz >De virtute magna
in verbis, herbis et lapdibus< den Grundsatz aufstellt, daß der durch krankhafte Bilder alte-
rierte Lebensgeist gesund gemacht werde durch Erweckung entgegengesetzter Bilder ... «
33 Johann Kaspar Lavater: Rechenschaft an seine Freunde, 1784 (erstes Blatt); vgl. Hans-
Wolfgang Freiherr von Löhneyssen, in: Goethe-Handbuch. 2. Aufl. Bd. I (1961), Sp. 711.
34 GA XVII1/852.
35 »Du erkennst die höchste Realität an, welches der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf
alles übrige ruht, woraus alles übrige fliest. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn
ist Gott« (Ebda, S. 851).
36 Als die weitaus ergiebigste und bedeutendste Studie, die Goethes verkanntem Lustspiel
gewidmet wurde, ist die schon mehrfach genannte Studie von Lieselotte Blumenthal anzuse-
hen. Auf den Passus mit der magischen Formel »in verbis, herbis et lapidibus« geht sie
ausführlich ein - mit der erläuternden Bemerkung: »Wem fiele dabei nicht Goethes Be-
kenntnis ein: [Ich] suche das göttliche in herbis et lapidibus« (Goethes »Großkophta«, S.
22).
37 Über Lavaters »Aussichten in die Ewigkeit« hat neuerdings Karl Pestalozzi gehandelt:
Lavaters Utopie, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wil-
helm Emrich. Berlin 1975, S. 283-301.
38 An Charlotte von Stein vom 7. Dez. 1779 (GA XVIII/470).
39 So Heinrich Funck in seinem Beitrag: Johann Caspar Lavater zur hundertsten Wiederkehr
seines s a ~ Zürich 1902, S. 328.
40 An Charlotte von Stein vom 21. 7.1786 (GA XVIII/941).
41 Vgl. Heinrich Funck: Lavater und Goethe, S. 328; ferner F. Götting: Die Christusfrage in
300 Anmerkungen

der Freundschaft zwischen Goethe und Lavater, in: Goethe. NF XIX (1957) S. 45. - Hans
Felix Pfenninger: Die Freundschaft zwischen Goethe und Lavater, in: Schweizer Monats-
hefte XLV (1965/66), S. 850--860. Zum Titel der Schrift vgl. Ausgew. WIe hg. von E.
Staehelin. Zürich 1943. II1, S. 79.
42 H. Funck: J. C. Lavater, S. 336. - Vgl. auch Ernst Benz: Swedenborg und Lavater. Über
die religiösen Grundlagen der Physiognomik, in: ZfKirchengesch. 3. Folge VIII (1938), S.
153-216. Benz sieht den Ursprung der Physiognomik bei Swedenborg vorgeformt, der Lava-
ter aufs stärkste beeinflußt habe. Lavaters Physiognomik, so der Verfasser an anderer
Stelle, sei letztlich Theologie.
43 Der Erzzauberer, S. 210.
44 GA XIV/I64.
45 Der Wortlaut ist unmittelbar nicht überliefert. Lavater erwähnt die Wendung als ein Zitat
Goethes in einem seiner Briefe aus dem Jahre 1773 an diesen und fügt im Tone des
Enthusiasmus hinzu: »Einen Kuß auf die Lippe, die dieß flüsterte - die Hand, die es schrieb
- u. die Stirn - nein, die Brust, die ihn zeügte« (Goethe und Lavater, S. 7).
46 GA XVIl391; HA XIV178 - hier mit der kommentierenden Bemerkung, S. 299: »Fand sich
Goethe zunächst durch die echten Gefühle angezogen [ ... ] so offenbart sich an dieser Stelle
der Geschichte der Farbenlehre deutlich sein Widerspruch und seine wissende Kritik an den
Bestrebungen der Alchemisten.« Diese Kritik und damit verbunden die Distanz vom Natur-
glauben des jungen Goethe vermag Ronald D. Gray (Goethe the Alchemist. London 1952)
nicht einzusehen. Zur Kritik an solchen Auffassungen vgl. Rolf Christian Zimmermann:
Goethes Verhältnis zur Naturmystik am Beispiel seiner Farbenlehre, in: Epochen der Na-
turmystik, hg. von A. Faivre und R. C. Zimmermann, Berlin 1979, S. 338.
47 Diese auf das Praktische und Nützliche gerichteten Interessen betont mit Nachdruck Doro-
thea Kuhn: Empirische und ideelle Wirklichkeit. Studien über Goethes Kritik des französi-
schen Akademiestreites. Neue Hefte zur Morphologie, Heft 5. GrazlWienlKöln 1967, bes.
S. 17ff.
48 Vgl. GA XVIIl67 ff. - Über Goethes Linne-Studien im Zusammenhang seines naturwissen-
schaftlichen Denkens vgL auch H. B. Nisbet: Goethe und die naturwissenschaftliche Tradi-
tion, in: Goethe und die Tradition, hg. von Hans Reiss. Frankfurt 1972, S. 212-24l.
49 Daß die »folgerechte naturwissenschaftliche Forschung« nach einigen Tastversuchen um
1780 beginne, betont Emil Staiger (Goethe. Bd. I, S. 498); ähnlich Andreas B. Wachsmuth
(Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken. Berlin und
Weimar 1966, S. 65): »Vom Naturforscher kann man erst am Ende seines dritten Lebens-
jahrzehnts sprechen. Seit 1780 trat er neben dem Künstler hervor«. - Über die Beschäfti-
gung mit Linne in dieser Zeit heißt es im oben genannten Beitrag H. B. Nisbets: »Einer der
ersten Naturforscher, den er in Weimar studierte, war der berühmte Linne, dessen botani-
sche Schriften er schon vor 1780 zu erwerben begann« (Goethe und die naturwissenschaftli-
che Tradition, S. 215).
50 GA Xl818; HA XII56.
51 Vgl. die Aussage in »Dichtung und Wahrheit«: »Wer eine Synthese recht prägnant in sich
fühlt, der hat eigentlich das Recht zu analysieren« (GA Xl817; HA XII55).
52 GA XVIIII761.
53 In den »Physiognomischen Fragmenten« heißt es: »daß ich auf die Beschaffenheit, die Form
und Wölbung des Schädels [... ] mehr achte, als meine Vorgänger alle«, zitiert von Hans
Meier (Lavater als Philosoph und Physiognomiker, in: Denkschrift 1902, S. 431). Hierzu die
kommentierende Bemerkung, S. 435: »das Knochensystem ist immer Fundament der Phy-
siognomik«. Hinzuweisen ist hier auf die Arbeit von Kurt Werner Peukert: Physiognomik in
Goethes Morphologie zu entwickeln (DVjs 47. Jg. 1973, S. 400-419). Freilich wird hier
Physiognomik als Begriff in einem generösen Sinne gebraucht - von Aristoteles bis Rudolf
Kaßner. Die spezifische Physiognomik Lavaters droht in allgemeiner Begrifflichkeit zu ver-
schwinden. Aber Goethes Ungenügen an ihr wird zutreffend beschrieben: »Goethe mißfiel
das nicht Nachprüfbare daran, das zu wenig Exakte, die zu schmale Grundlage der Intuition
und des Gefühls« (S. 404).
Anmerkungen 301

54 GA XII 403; HA X/342. Daß Lavater selbst auf Kenntnisse in der Knochenlehre Wert
legte, ist ihm zuzugestehen; vgl. die oben erwähnte Arbeit von H. Meier, S. 431.
55 GA XII/344; HA X/286.
56 Dieses gewiß verwunderliche Nebeneinander von Zwischenkieferknochen und Halsbandaf-
faire vermag Wilhelm Mommsen nicht recht einzusehen. Er urteilt ein wenig vordergründig,
wenn er Goethe hinsichtlich der Vorgeschichte der Revolution unterstellt, Ursache und
Anlaß verwechselt zu haben - »so gerade auch darin, daß er allezeit die Bedeutung der
>Halsbandgeschichte< überschätzte« (Die politischen Anschauungen Goethes. Stuttgart
1948, S. 92).
57 Rudolf Virchow: Göthe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller. Berlin
1861; vgl. besonders S. 23: »Trotzdem sind die langjährigen Forschungen über Licht und
Farbe, über Gewölk und Gebirge keine verlorene Arbeit. War ihre Methode nicht vollkom-
men, so war sie doch eine streng beobachtende und experimentirende.«
58 GA XII/H.
59 GA XII/382; HA X/322.
60 Vgl. »Kampagne in Frankreich«: »Hiedurch gewinne man nun in jedem Fach neue Ansich-
ten, unterschieden von der Lehre der Schule und von gedruckten Überlieferungen« (GA
XII/259; HA X/207).
61 GA XII/344; HA X/287.
62 Ganz im Sinne Goethes wendet sich Batsch, der Begründer der Naturforschenden Gesell-
schaft in Jena, gegen Geheimgesellschaften und verwandte Institutionen in der Wissen-
schaft: »Unsre kranke Zeit, die von geheimen Gesellschaften, Weltreformatoren und Stür-
mern, hermetischen Weisen, Propheten und Schwarzkünstlern in eben demselben Grade
strotzt [... ] in dieser kranken Zeit [... ] muß jeder redliche Mann das Seinige [... ] beytra-
gen um dieser Seuche Einhalt zu thun« (Versuch einer historischen Naturlehre der cörperli-
chen Grundstoffe. Für Naturfreunde entworfen. Halle 1789, S. XI/XII).
63 GA XIl775; HA X/486.
64 GA X/775; HA X/486.
65 Vgl. Grete Schaeder: Gott und Welt. Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung. Hameln
1947, S. 290: »Die Einheit der Gott-Natur war von früh an Goethes philosophisch-religiöse
Grundüberzeugung gewesen [... ] Aber Goethe weiß, daß die Aneignung dieser ungeheuren
Lebenseinheit nur auf dem Weg der Analyse und kritischen Unterscheidung möglich ist«.
66 GA XVII/480; HA XIII1255. - Vgl. H. B. Nisbet (Goethe und die naturwissenschaftliche
Tradition, S. 212): »Die grundlegendste Überzeugung, auf der Goethes naturwissenschaftli-
che Schriften beruhen, ist wahrscheinlich sein Glaube an die Einheit der Natur und - da für
Goethe die Natur den Menschen mit einschließt - an die Einheit von Mensch und Natur.
1784 kann er deswegen erklären, >Daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusam-
menhange stehen<.«
67 Goethe. 1. Bd. S. 487; das Fragment in: GA III/273-283.
68 Goethe und Lavater, S. 8.
69 GA XXl660. - Friedrich Meinecke verweist im Goethe-Kapitel seines Buches über die
Entstehung des Historismus auf eine Stelle im Text der »Italienischen Reise« und zitiert sie
(S. 508): »Gegenwärtig ruht in meinem Gemüt die Masse des, was der Staat war, an und für
sich; mir ist es, wie Vaterland, etwas Ausschließendes. Und ihr müßtet im Verhältnis mit
dem ungeheuren Weltganzen den Wert dieser einzelnen Existenz bestimmen.«
70 Karl Musäus: Physiognomische Reisen (1778/79); Georg Christoph Lichtenberg: Über Phy-
siognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschen-
kenntnis (Schriften und Briefe. München 1972, III, S. 256-295).
71 GA XXIV/190.
72 GA VI/41; HA V/295. - Friedrich Meinecke führt diese Stelle an und ergänzt sie um die
monologische Rede Eugeniens. - »Die zum großen Leben 1Gefugten Elemente wollen sich 1
Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft 1 Zu stets erneuter Einigkeit umfangen«. Diese
Grunderfahrung der Zersplitterung und des Auseinanderfallens ist gemeint, wenn es in
diesem Zusammenhang heißt: »Vielleicht enthält die edelste der Dichtungen, mit denen
302 Anmerkungen

Goethe sich von dem Druck der Revolution poetisch zu befreien suchte, die Natürliche
Tochter, - so wenig sie dem geschichtlichen Gesamtphänomen gerecht zu werden ver-
mochte, - doch das prägnanteste Bekenntnis dessen, was für ihn der Sinn, vielmehr der
Unsinn der Revolution war« (Die Entstehung des Historismus, S. 513). Meinecke schreibt
»gefügte Steine« und »gefügte Elemente«; es muß in beiden Fällen »gefugt« heißen.
73 Weimarer Ausgabe 1. Abtl. 53. Bd. S. 386.
74 GA XII/420, 249; HA Xl358, 198.
75 »Calliostro - viel Lärm um nichts«, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. 22. Bd. hg. von
Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 65-66.
76 Über eine neue Schätzung und Wertung der Erzählung handelt Fritz Martini: Erzählte Szene,
stummes Spiel, in: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von
Wiese. Berlin 1973, S. 36 ff. Der Beitrag ist Benno von Wiese gewidmet, auf dessen Kapitel
über Schillers Erzählung hier mit Nachdruck hinzuweisen ist. Über Cagliostro, Freimaurerei
und Geheime Gesellschaften als Symptome von Aufklärung im negativen Sinn wird einlei-
tend gesprochen (Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 315 ff).
77 NA XVI/106.
78 Ronald Laing: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und
Wahnsinn. Hamburg 1976. Unter dem Titel »The Divided Self. An Existential Study in
Sanity and Madness« zuerst 1960 in London erschienen.
79 NA XXII/245.
80 Schillers Briefe. Hg. von Fritz Jonas. III, S. 334-335.
81 Ebda, S. 333.
82 Hier zitiert nach einem Neudruck: München 1975, S. 357 (3. Teil, 7. Kapitel).
83. NA XXl473.
84 Vgl. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. von R. Stadelmann. Tübin-
gen 1949, S. 26: »Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und
Vorstufe zu uns als Entwickelten; - wir betrachten das sich Widerholende, Konstante,
Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches«. Eine Neuausgabe des Textes hat
P. F. Ganz im Verlag C. H. Beck (München 1981) vorgelegt.

Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt

Als Vortrag anläßlich der Hundertjahrfeier des Wiener Goethe-Vereins im Oktober 1978 in
Wien gehalten; zuerst veröffentlicht in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Bd. 81/82/83 -
1977/1978/1979. Wien 1979, S. 159--184.
1 Wörtlich heißt es: »Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt [ ... ] es besitzt wenig
Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker: aber an Selbständigkeit, Festigkeit,
Tapferkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zäheit sucht es seinesgleichen. Es ist das
beharrlichste Volk der Erde« (GA VIII/174. - HA VIII/159).
2 Anhänger der Schwenckfeld-Leute, der Herrnhuter, Lutherische und Reformierte hatten
sich seit den Anfängen des 18. Jahrhunderts vor allem in Pennsylvania angesiedelt; vgl.
Franz Löher: Geschichte und Zustände der Deutschen in Amerika. Göttingen 1855, S. 70. -
Über die religiöse Prägung der amerikanischen Revolutionsperiode vgl. Hans-Christoph
Schröder: Die amerikanische und die englische Revolution in vergleichender Perspektive,
in: 200 Jahre amerikanische Revolution und modeme Revolutionsforschung. Hg. von
Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1976, S. 27 (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für
historische Sozialwissenschaft. Sonderheft 2).
3 Hierzu die zutreffende Bemerkung von Hans Joachim Schrimp! in seinem Beitrag »Gestal-
tung und Deutung des Wandermotivs bei Goethe«, in: Wirkendes Wort (3. Jg.) 1952/3,
S. 15: »Für die Vorstellung des Wanderns begibt sich damit bei Goethe eine eigentümliche
Verschiebung. Mit der Französischen Revolution wird das Wandern zum politisch-geschicht-
lichen Problem, von der neuzeitlichen Wirklichkeit gestellt [... ]«.
Anmerkungen 303

4 Tag- und Jahreshefte zum Jahr 1795: »Schlosser wandert aus und begibt sich, da man nicht
an jedem Asyl verzweifeln konnte, nach Ansbach, und hat die Absicht daselbst zu verblei-
ben« (GA XI/656).
5 Die Briefe der Frau Rath Goethe. Hg. von Albert Köster. Neuausgabe 1956, S. 59.
6 Über diese sich verzweigenden Motive im Bedeutungsfeld des Wanderns vgl. jetzt Gerhard
Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen
Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977.
7 GA XII/326. - HA Xl270.
8 GA XIXl201.
9 GA XIXl202.
10 WA 4. Abt. Xl3!.
11 GA XI/632. - HA Xl439.
12 Daß es sich um ein der Spätzeit zugehörendes Werk handelt, betont mit Nachdruck Gustav
Roethe, der freilich die Differenz zwischen Erfahrung und Niederschrift auch unnötig vergrö-
ßert (Goethes Campagne in Frankreich 1792. Eine philologische Untersuchung aus dem
Weltkriege. Berlin 1919).
13 An C. L. F. Schultz vom 12.6.1822 (WA 4. Abt. XXXVI/67).
14 Joachim Müller hat in seiner wichtigen Studie das Kontrastprinzip überzeugend herausgear-
beitet (Goethes »Campagne in Frankreich«. Epochenkritik, Umweltanalyse und Kontrast-
struktur . Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philolo-
gisch-historische Klasse, Bd. 117, Heft 3. Berlin 1974).
15 An C. G. Voigt vom 15.10.1972 (GA XIXl202).
16 Schillers Werke. Nationalausgabe. Briefwechsel, hg. von N. Oellers. Weimar 1969, Bd.
XXVIII, S. 190.
17 GA XII/239. - HA Xl188.
18 GA XII/240. - HA Xl189.
19 GA XII/239. - HA Xl188.
20 GA XII/409. - HA Xl348.
21 »Hier wollen sie nun in die Beute und in die Last sich teilen; aber welch ein Anblick! Aus
jedem zerschlagenen Kasten fällt eine Unzahl Kartenspiele hervor, und die Goldlustigen
trösten sich im wechselseitigen Spott durch Lachen und Possen« (GA XII/334. - HA Xl
277).
22 GA XII/283. - HA Xl229.
23 GA X1I/262. - HA Xl21O.
24 GA XII/264. - HA Xl212.
25 GA X1I/423. - HA Xl361.
26 WA XVIII/375: »Es ist das Zeitfieber, sagte der Fremde, das einige auch das Fieber der
Zeit nennen und glauben sich noch bestimmter auszudrücken; andere nennen es das Zei-
tungsfieber [... ] Es ist eine böse ansteckende Krankheit ... «.
27 Ebda, S. 372.
28 GA X1I/369. - HA Xl31O.
29 Vgl. Elisabeth Frenzel: Inseldasein, in: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1976, S. 397.
30 WA XVIII/365.
31 WA XVIII/80.
32 GA IXl288. - HA VI/133.
33 GA XXJ42.
34 GA IXl286. - HA VI/132.
35 GA IXl279. - HA V1/125.
36 Die angekündigte Enthaltsamkeit in politischen Fragen erörtert Joachim Müller in seiner
eindringlichen Untersuchung über die Rahmenhandlung der »Unterhaltungen«: Zur Ent-
stehung der deutschen Novelle. Die Rahmenhandlung in Goethes >Unterhaltungen deut-
scher Ausgewanderten< und die Thematik der Französischen Revolution, in: Gestaltungsge-
schichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Stu-
dien, hg. von H. Kreuzer. Stuttgart 1969, besonders S. 154ff. Aber auch Schiller, der die
304 Anmerkungen

»Briefe über die aesthetische Erziehung des Menschen« in das erste Stück der »Horen«
einrückte, mußte sich sagen oder sagen lassen, daß damit Politisches zur Sprache gebracht
wurde. Gemeint war vor allem, daß Parteimeinungen zu verbannen seien, und deren
»Transzendierung« zugunsten einer geselligen Bildung ist das erklärte Ziel der »Unterhal-
tungen deutscher Ausgewanderten«, die das Nebenwerk keineswegs sind, für das man es
gemeinhin hält oder gehalten hat. So auch J. Müller Anm. 5, S. 154f: »Es kann keine Rede
davon sein, daß [... ] die >Unterhaltungen< ein Nebenwerk Goethes und bloße Unterhal-
tungsliteratur seien.« Die Auffassung vom Verzicht auf Parteinahme in der Ausübung des
Schriftstellerberufs ist nicht Goethes Eigentum, sondern entspricht, wohl als ein der Auf-
klärung gemäßes Denken, dem Geist des 18. Jahrhunderts. Friedrich Wilhe1m Laukhard,
der in seinen Briefen über den Feldzug seine Sympathie für den Republikanismus nicht
verleugnet, legt großen Wert darauf, sich als Schriftsteller aller Parteinahme zu enthalten;
vgl. Bd. I, S. 5: »Der Verfasser steht in preußischen Diensten, aber er weiß doch recht gut,
was er der Wahrheit und dem Publikum schuldig ist.« Deutlicher noch S. 13: »Freilich bin
ich als Preuße, der gerade gegen die Franken zu Felde liegt, nicht unparteiisch; aber als
Schriftsteller- will ich in meinen Nachrichten über sie und uns durchaus unpartheiisch seyn«
(Briefe eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig
gegen die Neufranken im Jahre 1792. Germanien, 1794. 2. Aufl.); und Schiller will aus
seiner Zeitschrift »Die Horen« alles verbannt sehen, »was mit einem unreinen Parteigeist
gestempelt ist« (Nationalausgabe, Bd. XXII, S. 106).
37 GA IX/318. - HA VII161.
38 Vgl. Gerhard Fricke: Zu Sinn und Form von Goethes >Unterhaltungen deutscher Ausge-
wanderten<, in: Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Ham-
burg 1964. Hier heißt es S. 275: »Wenn Schillers >Horen< die deutschen Gebildeten zu einem
Gespräch über alle Fragen der Kultur und des Geistes zu verbinden strebten, so war Goe-
thes Beitrag bestimmt, auf eine anmutig versteckte, amüsante und geistreiche Weise erken-
nen zu lassen, wieviel schon die rein gesellige Kultur zu wünschen übriglasse.«
39 GA IX/623. - HA X1II380.
40 GA IX/283. - HA V1/129.
41 GA IX/346. - HA V1/188.
42 GA IX/393. - HA V1/233. Hierzu Erich Trunz im Kommentar der Hamburger Ausgabe,
S. 609: »Am Ende steht das große Opfer der Schlange und das helfende Miteinander aller
anderen.«
43 GA VIII/54. - HA VIII/47.
44 GA IX/342. - HA V1/185. - Zum Thema der Entsagung in den »Unterhaltungen« vgl. J.
Müller, Zur Entstehung der deutschen Novelle, S. 168.
45 Pau! Stöcklein in der Einführung zu Bd. IX der Gedenkausgabe, dort S. 734: »Diese Dich-
tung stellt, unter dem psychologischen Gesichtspunkt gesehen, die Geschichte einer be-
stimmten Lebenswende [... ] dar«. - Friedrich Ohly, Römisches und Biblisches in Goethes
»Märchen«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. 91. Bd. 1961/62;
hier heißt es S. 150: »Es ist das Märchen einer Zeitenwende«. In den Anmerkungen wird
gesagt, daß »das Märchen vom Epochenwechsel« handle. Gegenüber der individualpsycho-
logischen »Lebenswende« hat die Deutung des Märchens als einer Erzählung der Zeiten-
wende für sich, daß damit der geschichtliche Sinn im Kontext der Revolutionszeit deutlicher
zum Ausdruck gebracht wird.
46 Goethes Märchen als »konservativ« (so G.-L. Fink, Das Märchen. Goethes Auseinander-
setzung mit seiner Zeit, in: Goethe N.F. 33/1971, S. 9fr-122) zu bezeichnen, besteht kein
Grund.
47 Göckings »Ausführliche Historie« ist 1732 im Verlag von J. M. Teubner in Leipzig erschie-
nen. E. Staiger geht in seinem Goethebuch ausführlich auf die hier infrage stehende Episo-
de ein (Goethe. 178fr-1814, Zürich 1956, Bd. 11, S. 235 ff.).
48 Vgi. Gerhard Kaiser, Wandrer und Idylle, S. 40ff.
49 GA 111/168 und 206. - HA 111439 und 477. Hierzu Eberhard Mannack: Der Roman zur Zeit
der Klassik. »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (aber mit Bezug auf »Hermann und Dorothea«):
Anmerkungen 305

»Indem er aktuelle Begebenheiten mit einem biblischen Geschehen kommentiert, macht er


im einmaligen historischen Ereignis die ahistorische Konstante im Sinne seines Symbolver-
ständnisses sichtbar« (Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hg. von Karl Otto Conrady.
Stuttgart 1977, S. 220).
50 GA III/170. - HA 11/442.
51 GA III/201. - HA II/472.
52 Emil Staiger, Goethe 11, S. 261.
53 GA 111/207. - HA 11/478.
54 GA III/209. - HA II/480.
55 Eine ausgezeichnete Übersicht über das Interesse an Amerika seit dem Unabhängigkeits-
krieg bietet Ursula Wertheim: Der amerikanische Unabhängigkeitskampf im Spiegel der
zeitgenössischen deutschen Literatur, in: Weimarer Beiträge III (1957), S. 429-470. - Der
Beitrag von Horst Dippel (Die Wirkung der amerikanischen Revolution auf Deutschland
und Frankreich, in: 200 Jahre amerikanische Revolution, S. 101-121 berücksichtigt die
>hohe< Literatur der Zeit nur am Rande.
56 C. D. Ebeling, Erdbeschreibung und Geschichte von Amerika. Hamburg 1793-1816. Bd. I,
S. VIII; zitiert bei H. Dippel, ebda, S. 119.
57 H. Dippel, ebda, S. 119, Anm. 88. Es handelt sich um einen Brief vom 30. Juli 1795.
58 Frankreich und die Freistaaten von Nordamerika. Vergleich beider Länder. Ein Versuch
von E. A. W. Zimmermann. Berlin 1795. Die Wendung über die unglücklichen Folgen der
Französischen Revolution findet sich in der Widmung zum 2. Band, der 1795 bei Carl
Reichard in Braunschweig erschien.
59 Hierzu Ernst Beutler: »Goethe hat die gewaltige Tragweite dieses Ereignisses sehr wohl
erkannt« (Von der IIm zum Susquehanna. Goethe und Amerika in ihren Wechselbeziehun-
gen, in: Essays um Goethe. 2. Auf!. Leipzig 1941. S. 449).
60 GA Xl771. - HA Xl114. - Vgl. U. Wertheim, Der amerikanische Unabhängigkeitskampf,
S.68.
61 WA 1. Abt. XXXIII/377; J. Müller geht in seiner Analyse der »Kampagne in Frankreich«
auf diesen nicht veröffentlichten Passus ein; dort S. 5/6.
62 6. Buch, 11. Kap. - GA V1I1/864.
63 GA VI1/282. - HA VII/263.
64 Zur Ironie in Goethes »Wilhelm Meister« vgl. vor allem Hans-Egon Hass in: Der deutsche
Roman, hg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1963. Bd. I, S. 132-210; ferner Ursula
Cillien: Die Ironie in Goethes Wilhelm Meister, in: Neue Sammlung 5 (1965), S. 258-264.
65 GA VII/464f. - HA VII/43lf.
66 Hierzu Stefan Blessin: Die radikal-liberale Konzeption von »Wilhelm Meisters Lehrjahren«
in: DVjs 49. Jg. (1975), Sonderheft S. 190--225; Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft
und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil
der Weimarer Klassik. Kronberg 1977.
67 Zitiert von Hans-Christoph Schräder: Die amerikanische und englische Revolution in ver-
gleichender Perspektive, in: 200 Jahre amerikanische Revolution, S. 31, Anm. 82.
68 An Schiller vom 12.7.1796: »Ihr heutiger Brief deutet mir eigentlich auf eine Fortsetzung
des Werks, wozu ich denn auch wohl Idee und Lust habe« (GA XXl217).
69 Eine Ausgabe der ersten Fassung hat Max Hecker herausgegeben: Wilhelm Meisters Wan-
derjahre oder die Entsagenden. Ein Roman von Goethe. Berlin 1921. - Zum Vergleich
beider Fassungen ist zu verweisen auf Eberhard Sarters Bonner Dissertation: Zur Technik
von Wilhelm Meisters Wanderjahren. Berlin 1914 (Neudruck Hildesheim 1973); vgl. ferner
Hans Reiss: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Weg von der ersten zur zweiten Fassung,
in: DVjs, 39. Jg. (1965), S. 34-57.
70 WA I. Abt. Bd. XXV/2, S. 29. - Vgl. H. Reiss: ebda, S. 45.
71 So Max Hecker in der obengenannten Ausgabe; vgl. H. Reiss, S. 44.
72 Vgl. E. Beutler, S. 472: »Schon 1817 hatte Cogswell festgestellt, daß Goethe über Amerika
in einer Weise spräche, die zeigte, wie gründlich er sich mit dem Lande [... ] beschäftigt
hätte ... «.
306 Anmerkungen

73 Reisen Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Ameri-


ka in den Jahren 1825 und 1826. Hg. von H. Luden. Weimar 1828, 2. Bd. - Das Buch von
H. L. L. Gall »Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten in Nord-Amerika, im
Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimat im Winter 1820«, Trier 1822, ist erst
nach Veröffentlichung der ersten Fassung erschienen. Goethe zeigte es 1827 in einer Bespre-
chung an (WA 1. Abt. Bd. 4112, S. 296 f). Allen wahren Liberalen gewidmet, warnt es
gleichwohl vor Illusionen und enthält vielfach ernüchternde Berichte über die Schicksale
der dorthin ausgewanderten Deutschen.
74 Vgl. E. Staiger (Goethe III, S. 131): »Nicht so leicht findet man sich damit ab, daß in der
letzten Fassung das Ziel der Haupthandlung verschoben wird. 1821 war es auf währende
Wanderschaft abgesehen. 1829 läuft es auf Auswanderung [... ] hinaus.« Davon ausgehend
H. Reiss S. 45: »ein Wanderer- und noch kein Auswandererroman.«
75 GA VIII/486. - HA VIII/454.
76 GA VII1I342. - HA VIII/318.
77 Vgl. Arthur Henkel (Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954, S.
22): »Und in die adlige und sichere Gestalt des Lenardo projiziert Goethe wohl auch seine
Neigung zum Uranfänglichen ... «.
78 Daß Auswanderung hier zu einem Existenzproblem geworden sei, betont Hans Joachim
Schrimpl Das Weltbild des späten Goethe. Überlieferung und Bewahrung in Goethes
Alterswerk. Stuttgart 1956, S. 137.
79 A. Henkel, S. 56: »Lenardo verzichtet nicht radikal auf das Glück. Er entsagt vorläufig.«
80 GA VIII/342. - HA VIII/318.
81 GA VIII/263 f. - HA VIII/243.
82 Nachwort zur Ausgabe der »Wanderjahre« in: dtv, Bd. 18, S. 230.
83 GA VIII/43. - HA VIIII37.
84 GA VIII/BI. - HA VIII/119.
85 GA VIII/419. - HA VIII/390f.
86 GA 11364. - HA 1/112.
87 Vgl. hierzu vor allem A. Henkels mehrfach genanntes Buch; ferner H. J. Schrimpf" Das
Weltbild, S. 243 ff.
88 In seinen Ausführungen über die Entsagungsidee der »Wanderjahre« heißt es bei H. J.
Schrimp! (Das Weltbild, S. 257): »Es ist die Bewahrung des wesentlichen Menschseins
unter Aufopferung minder wichtiger schöner Möglichkeiten.« Daß dabei der für Goethe
zentrale Begriff gebraucht wird, ist kein Zufall.
89 GA VII/465. - HA VII/432. Hierzu D. Borchmeyer, der zutreffend auf den weltlichen Sinn
der ursprünglich religiösen Idee hinweist (Höfische Gesellschaft, S. 167).
90 Der Nebensatz ist ein Zitat; sein Verfasser ist H. J. Schrimpl Das Weltbild, S. 133.
91 GA XII/289. - HA X/235. Daß das berühmte Wort nicht nachträglich erfunden wurde,
betont mit Nachdruck Gustav Roethe, der auf eine verwandte Äußerung des Generals
Massenbach eingeht und bemerkt: »Da haben wir die >Epoche< und die Freude, dabei
gewesen zu sein. Es handelt sich um eine Goethes historischem Denken dauernd gemäße
Anschauungsform, die mit Massenbach nichts zu schaffen hatte« (Goethes Campagne in
Frankreich 1792. Berlin 1919, S. 168). Goethes berühmter Spruch beweist sicher mancher-
lei. Anders Hans Mayer: »Das berühmte Zitat aus der >Campagne in Frankreich< beweist
nicht allzuviel« (Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt 1973, S. 35). In der
genannten Akademieabhandlung Joachim Müllers ist der Ausspruch über das epochema-
chende Ereignis der Kanonade von Valmy das bestimmende »Leitmotiv« seiner Untersu-
chung.
92 GA XIX/199; vgl. auch G. Roethe, S. 168.
93 Zitiert nach den von Momme und Katharina Mommsen herausgegebenen Dokumentenbän-
den: Die Entstehung von Goethes Werken. Akademie Verlag Berlin 1958. Bd. 11, S. 27.
94 »Dieser Feldzug wird als eine der unglücklichsten Unternehmungen in den Jahrbüchern der
Welt eine traurige Gestalt machen« (GA XIX/202).
95 GA XII/428. - HA X/365.
Anmerkungen 307

96 Vgl. das 12. Buch des dritten Teils in »Dichtung und Wahrheit«: »Glücklich ist immer die
Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauchen«
(GA X/588. - HA IX/537). Vgl. zum Wortgebrauch das separat veröffentlichte Sachregister
der Hamburger Ausgabe (1964), dort S. 21.
97 GA IX/346. - HA V1/188.
98 Vgl. den Passus in der »Italienischen Reise«: »Ich raffe alles mögliche zusammen, um
Ostern eine gewisse Epoche, wohin mein Auge nun reicht, zu schließen« (GA X1/527. - HA
XI/478).
99 Vgl. F. Ohlys Auslegung des Märchens als einer Dichtung der Zeitwende.
100 Über die dem deutschen Historismus fehlende Kategorie der Zukunft vgl. Walter Schulz:
Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1973. S. 567ff.

Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn

Der vorliegende Beitrag ist 1964 in dem Buch »Formenwandel. Festschrift für Paul Böckmann«
erschienen, dort S. 294-318. Er ist seither in der wissenschaftlichen Literatur wiederholt zitiert
und diskutiert worden. Auch aus diesem Grund wird er unverändert übernommen. Aus der
Sicht Bürgers geht Gerhard Kluge mehrfach auf ihn ein (in dem Beitrag für den von Benno von
Wiese herausgegebenen Band »Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts«. Ihr Leben und Werk.
Berlin 1977). Der von mir nicht unproblematisch gebrauchte Begriff der Unmittelbarkeit wird in
dieser besonnenen und umsichtigen Studie noch weiter problematisiert, und gewiß nicht ohne
Grund. Dagegen ist es mir offensichtlich nicht gelungen, den Verfasser davon zu überzeugen, daß
man von Begriffen absehen möge, die Unmenschliches bezeichnen, und schon vollends sollte
sich der Begriff »Hinrichtung« verbieten, auch als Metapher (»öffentliche Hinrichtung durch die
Kritik Schillers«). Hinrichtungen sind etwas Abscheuliches, wo immer sie getätigt werden; aber
sie sind doch etwas sehr anderes als das, was Schiller schreibend getan hat.
In der Festschrift für Herman Meyer (Wissen aus Erfahrungen. Tübingen 1976) hat sich Klaus
F. Gille zu demselben Thema geäußert: Schillers Rezension >Über Bürgers Gedichte< im Lichte
zeitgenössischer Bürger-Kritik«, dort S. 174-191. Dem Verfasser geht es darum nachzuweisen,
daß Schiller ein Neuansatz mit Beziehung auf ein Programm der Klassik nicht zuzuerkennen sei,
da die Popularkritik der Aufklärung und der Spätaufklärung dies alles ihrerseits vorbringe und
vorgebracht habe. Was der Biographismus - Schillers Krise und die »kritische Exekution« [sic!]
- damit zu tun haben soll, sehe ich nicht ein. Hinsichtlich der Gleichsetzung von Popularkritik vor
dem Sturm und Drang und Schillers Kritik nach »absolviertem« Sturm und Drang bin ich der
Meinung, daß hier zu unreflektiert gleichgesetzt wird. Mit dem Verweis auf die aufklärerische
Tradition ist es im Falle Schillers nicht getan, ist nichts getan. »Wie Schiller begründet Nicolai«,
heißt es S. 179. Dieses Wie ist bestreitbar. »Der künstlerische Mangel liegt für Schatz wie für
Schiller«, heißt es S. 189. Dieses Wie ist bestreitbar nicht minder. Und wer sind schon Schatz und
jener Anonyme? Es ist das Mißliche aller Rezeptionsforschung, daß sie sich bei so viel Mißli-
chem aufzuhalten hat. Da lobt man sich doch Schiller - und Bürger! -, die wenigstens prägnant zu
sagen vermögen, was sie meinen - im Gegensatz zu jenem Anonymus (S. 181), den man doch
vielleicht lieber auf sich beruhen läßt. Daß ein romantischer Dichter wie Novalis von Bürger zu
Schiller »überläuft«, beweist doch wohl zur Genüge, daß damit nicht ein Überlaufen zur alten
Aufklärung (die es denn doch gibt) gemeint sein kann. Es scheint progressiv zu sein, Schillers
ästhetischer Erziehung die historische Würdigung abzusprechen, die ihr m. E. gebührt. Aber das,
was den Aufsatz Schillers so faszinierend macht, die Analyse der anthropologischen Situation des
Menschen aufgrund eines ausgeprägten historischen Denkens, sein Bewußtsein von der Verein-
zelung der menschlichen Kräfte und von der Notwendigkeit des ganzen Menschen, der kein
geteiltes Selbst sein solle - diesen Entwurf einer neuen, nicht bloß theoretischen Kultur kann ich
bei den mehr oder weniger anonymen Rezensenten der Spätaufklärung nicht entdecken. Sie sind
von dem Geschichtsbewußtsein mit keinem Hauch berührt, aus dem heraus Schiller spricht.
Sodann aber konnte nicht ausbleiben, daß der Beitrag von einem Forschungsgebiet her an
Interesse gewann, das vorübergehend zu außerordentlichem Ansehen gelangte. Es ist dasjenige
308 Anmerkungen

der Trivialliteratur; und es kann ja keine Frage sein, daß die Erforschung solcher Provinzen im
Lande der Literatur ihre Berechtigung hat. Aber eines ist das Eindringen in sie, ohne daß man
deswegen die Qualitätsmaßstäbe vergißt, die im allgemeinen gelten; ein anderes sind die Sympa-
thisanten - diejenigen, die um jeden Preis erwarten und verlangen, daß Literatur volkstümlich,
volksfreundlich und plebejisch zu sein habe. Armer Robert Musil! Denn da im vorhinein diskre-
ditiert ist, was als Elite bezeichnet wird, ist es um solche Autoren schon geschehen, ehe etwas mit
ihnen geschieht. Um Schiller auch! Die Rede ist von dem Beitrag »Volkstümlichkeit ohne Volk?
Kritische Überlegungen zu einem Kulturkonzept Schillers« (in: Popularität und Trivialität, hg.
von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt 1974, S. 50--75). Sein Verfasser ist Klaus L.
Berghahn. Alles was an unhistorischer Klassik-Kritik aufgeboten werden kann, ist in diesen
Beitrag eingegangen und mit entsprechenden Abwertungen versehen: die böse Autonomie, die
verächtliche Elite und die fragwürdige Ästhetik obendrein, die es wagt, über das Politische zu
dominieren. Insofern wäre dieser Text fast klassisch zu nennen, wenn mit diesem Wert nicht
doch zu fühlbar an Zeitüberdauerndes erinnert würde. Daß Schiller, nach solchen Maßstäben
beurteilt, nicht bestehen kann, überrascht gewiß nicht. Aber daß dem Verfasser als Gegenent-
wurf nichts anderes einfällt als die Parteinahme für den in Grenzen schätzenswerten Gottfried
August Bürger, ist doch wenigstens enttäuschend zu nennen. In diesem Punkt hat unser Autor
auch die Vertreter der marxistischen Literaturwissenschaft, die sich zu diesem Thema geäußert
haben (Lore Kaim-Kloock, Richard Dau), nicht auf seiner Seite. Was Schiller sich in dieser-
natürlich »berüchtigten«! - Rezension ausgedacht habe, das münde in ästhetischen Utopismus-
ais hätte es eine Schrift mit dem Titel »Geist der Utopie« nie gegeben! Dies eben und dies alles
habe verhängnisvolle Folgen gehabt: »für die Entwicklung der Literatur wie der Bildungspoli-
tik«. Was das wohl heißen soll! Daß in Schillers Denken nach 1789 die Vorstellung seines
Publikums weniger eine Rolle gespielt haben soll als vorher, wie behauptet wird, trifft nicht zu-
es sei denn, man hat die Briefe an den Herzog von Augustenburg nicht gelesen. Wie volkstüm-
lich aber kann eine Literatur - um 1800 wie um 1900 - eigentlich in Anbetracht eines Denkens
sein, das vom Geist des wissenschaftlichen Zeitalters geprägt und gezeichnet ist? So einfach
sollte man es sich im Umgang mit Volkstümlichkeit, plebejischen Massen und beargwöhnter
Literatur einer Elite nicht machen! Das Mißlichste sei am Schluß dieser hoffentlich deutlichen
Abgrenzung vorgebracht. Es betrifft nichts mehr und nichts weniger als unser geschichtliches
Bewußtsein, das nichts Affirmatives zu sein hat. Gegen Ende dieses Beitrags heißt es: »Schillers
kulturkritische Diagnosen und idealistische Lösungsversuche mögen als historisch bedingte Ant-
worten auf die Anfänge der modernen Massengesellschaft verständlich sein. Aber sein zeitbe-
dingtes Kulturkonzept unserer Epoche als Muster aufzudrängen, hieße doch wohl, unsere Pro-
bleme auf geradezu klassische Weise verfehlen.« Wenn das historisch Verständliche nur gezeigt
worden wäre! Vollends abwegig, ja absurd ist die Behauptung, ein zeitbedingtes Kulturkonzept
würde unserer Epoche aufgedrängt. Wer da wohl der Aufdrängende ist? Und wie steht es mit
Gottfried August Bürger? Ist sein Konzept weniger zeitbedingt? Wenn an Schillers Rezension
ihre hervorragend geschichtliche Bedeutung zu betonen ist, so in einem zweifachen Sinn: daß er
aus einer veränderten geschichtlichen Situation heraus denkt und schreibt, wie wir ihn unserer-
seits - und das gilt für die Klassik im ganzen - in einer Geschichtlichkeit sehen, die immer nur
eine partielle sein kann: nicht als etwas ganz und gar Vergangenes; denn sonst ginge uns Vergan-
genes überhaupt nichts an. Nein, wenn mich ein Beitrag nicht dahin bringen kann, den eigenen
umzuschreiben oder zu widerrufen, so ist es dieser.

Nach mancherlei Erwägungen über den Gegenstand, der dem verehrten Lehrer und Jubilar
zu widmen wäre, fiel die Wahl auf Schiller- in der Überzeugung, daß eine erneute Beschäfti-
gung mit ihm besonders sinnvoll ist. Die dankbare Erinnerung an so manche Schrift Paul
Böckmanns, die für jeden dankbare Gegenwart ist, der sich mit Schiller befaßt, spricht
dabei vor allem mit. Die als Hamburger Dissertation verfaßte Schrift über »Schillers Gei-
steshaltung als Bedingung seines dramatischen Schaffens« und die zahlreichen Aufsätze über
Schillers Dramenstil sind damit gemeint. Auch die eigene Arbeit, die zu einer Dissertation
über die Jugenddramen gedieh und mit der Briefedition ihre Fortsetzung fand, ging von
Schiller aus. Sie begann in einem Oberseminar über den »Don Karlos« im Sommer 1946,
Anmerkungen 309

das zumal den aus dem Krieg Zurückgekehrten unvergessen sein dürfte. Als ein Zeichen des
Dankes und als ein Zeichen der nun seit längerem schon gemeinsam betriebenen Schiller-
forschung möge der Beitrag über die Kontroverse mit Bürger verstanden werden, der sich
mit der Wendung vom geschichtlichen Sinn auf die Forschungsweise Paul Böckmanns im
ganzen bezieht.
2 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Wissenschaftliche Abhandlung und Reden zur Philoso-
phie, Politik und Geistesgeschichte. H. VIII, 3. Aufl. Berlin 1930.
3 Hans Mayer: Schillers Gedichte und die Tradition deutscher Lyrik. In: Jahrbuch der Deut-
schen Schillergesellschaft, 4. Jg. 1960, S. 79-80.
4 Über Bürgers Gedichte. Schillers Werke. Nationalausgabe, XXII. Hg. von Herbert Meyer.
Weimar 1958, S. 245-264.
5 Herbert Cysarz: Schiller. Halle 1934, S. 136.
6 Herbert Meyer: Nationalausgabe, a.a.O., S. 344.
7 So von Otto Harnack in dem nicht weiter bedeutenden Beitrag »Zur Rezension von Bürgers
Gedichten«, in: Euph. VI, 1899, S. 541: »Schiller hat in jener Recension eben doch trotz
aller ästhetischen Detailkritik Bürger nach moralischem Maßstabe beurteilt.«
8 Ebda, S. 540.
9 Albert Bettex: Der Kampf um das klassische Weimar. 1788--1798. Antiklassische Strömun-
gen in der deutschen Literatur vor dem Beginn der Romantik. Basler Beiträge zur deut-
schen Literatur- und Geistesgeschichte. Zürich und Leipzig 1935, S. 112: »seine in übertrie-
benem Eifer für die neue Sache der Klassik verfasste Besprechung«.
10 Eugen Kühnemann: Schiller. 4. Aufl. München 1911, S. 336.
11 Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Schillers Weg zu Goethe. Tübingen und Stuttgart
1949, S. 42.
12 Richard Benz: Die Zeit der deutschen Klassik. Kultur des achtzehnten Jahrhunderts.
1750--1800. Stuttgart 1953, S. 504.
13 Melitta Gerhard: Schiller. Bern 1950, S. 170.
14 Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Schillers Weg zu Goethe. Tübingen und Stuttgart
1949, S. 43.
15 Herbert Meyer in der Einführung der >>Vermischten Schriften«. Schillers Werke. National-
ausgabe, a.a.O., S. 344.
16 Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 429. Solche Äußerungen sind in der
wissenschaftlichen Literatur eher Ausnahme als Regel. Sie entsprechen nicht der Konven-
tion der Urteile, die man allenthalben wiederholt. Auch Franz Schultz folgt nicht einfach
dieser Konvention, sondern behält sich sein eigenes Urteil vor. Er gewahrt in der Rezension
Schillers die für die neuere Forschung bezeichnende Verflechtung von Klassik und früher
Romantik, findet Goethes positives Urteil begreiflich und charakterisiert die für die Situa-
tion der Literatur bedeutende Abhandlung mit dem Satz: »Dann aber folgen doch strenge
Grenzziehungen. Mit ihnen hat er eine Frage aufgeworfen, die das ganze romantische Zeital-
ter in Atem hielt und als ein Hauptanliegen des neu herausgekommenen Geistes einen
kaum zu erschöpfenden Gegenstand der Auseinandersetzung hergab« (Klassik und Roman-
tik der Deutschen. II. Teil. Wesen und Form der klassisch-romantischen Literatur. 3. Aufl.
Stuttgart 1959, S. 203).
17 So Reinhard Buchwald in seiner Biographie: Schiller. 2. Bd. Neue, bearbeitete Ausgabe.
Wiesbaden 1954, S. 151.
18 Benno von Wiese, a.a.O., S. 429.
19 GA X/536. - HA IX/490.
20 Auf die Bemerkungen im »Tagebuch« Max Frischs sei in diesem Zusammenhang verwie-
sen: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt 1958, S. 221 ff.
21 NA XXVl252.
22 Max Morris: Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden. Bd. VI, Leipzig 1909/12,
S.220.
23 Briefe von und an Gottfried August Bürger. Hg. von Adolf Strodtmann. Berlin 1874, Bd. I.
S.122.
310 Anmerkungen

24 Vgl. Christian Janentzky: G. A. Bürgers Ästhetik. Berlin 1909.


25 »Zuerst muß ich Ihnen also, wenn es auf Erfahrung und Autorität ankommt, sagen, daß
Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks« (Herders
Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan. Bd. V. Berlin 1891, S. 186).
26 Bürgers sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang von Wurzbach. Leipzig o. J., Dritter Teil, S.
11.
27 Ebda, S. 7.
28 Ebda, S. 12.
29 Deutsche Balladen. Hg. von Hans Fromm. München, 3. Auf!. 1961.
30 Sämtl. Werke, III, S. 10.
31 Ebda, S. 20.
32 Ebda, S .. 9.
33 Herders Sämmtl. Werke. Hg. von B. Suphan. XIII/47.
34 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Ges. Wke., X, Hamburg 1827, S. 405.
35 Vgl. Sämtl. Werke, XXX, S. 83ff.
36 Vgl. Kar! Viiftor: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur. In: Geist und Form.
Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 234-266.
37 Nationalausgabe, XXII, S. 189.
38 Vgl. Adolf Becks grundlegenden Beitrag: Hölderlin und Friedrich Leopold Graf zu Stol-
berg. Die Anfänge des hymnischen Stiles bei Hölderlin. In: Iduna. Jb. der Hölder!in-Ges.
1944, S. 88-114. - Die hymnische Lyrik, besonders der schwäbischen Poeten um Hölderlin,
behandelt Paul Böckmann in seinem Beitrag »Eighteenth century German hymnic verse.
In: Colston Papers, Vol. XV, S. 121-135.
39 Philos. Schriften. Nationalausgabe, XX, S. 105; hierzu die Anmerkungen des Herausgebers
in XXI, S. 149.
40 Hierzu die aufschlußreiche Erläuterung Benno von Wieses zum Begriff der Veredlung:
»Spricht hier (im »Brief eines reisenden Dänen«) aus den veredelnden Künsten des Alter-
tums der Wunsch der Griechen, ihre Menschen den Göttern zu nähern, so zielt die Vered-
lung später immer stärker auf den Menschen und auf das Individuelle im Generischen«.
Nationalausgabe, XXI, S. 149.
41 Darauf macht Edgar Lohner in einer bemerkenswerten Abhandlung aufmerksam, die dem
Begriff des Scheins in seiner Bedeutung für die modeme Dichtung gewidmet ist: »Schillers
Begriff des Scheins und die modeme Lyrik«, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überliefe-
rung. Bern und München, IV, 1961, S. 131-181. Über den Abgrund bei Nietzsche, der vom
Schein überdeckt wird, ebda, S. 146.
42 »Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer verschwindet, fehlt auch zwischen
dem Dichter und dem, wovon er spricht«, heißt es in den »Grundbegriffen der Poetik«,
Zürich 1946, S. 58; und ähnlich an anderer Stelle (S. 62): »Immer ist es derselbe Abstand,
der in der lyrischen Dichtung fehlt.«
43 Sämtl. Werke, I, S. 62.
44 Trotz der Vorbehalte, die Wolfgang Kayser seinerzeit in seiner »Geschichte der deutschen
Ballade« zugunsten Höltys angemeldet hatte; demgegenüber hält auch Emil Staiger mit
vollem Recht an Bürger als dem eigentlichen Schöpfer der deutschen Kunstballade fest:
»Zu Bürgers >Leonore<, Vom literarischen Spiel zum Bekenntnis«, in: »Stilwandel. Studien
zur Vorgeschichte der Goethezeit«, Zürich 1963, S. 75-119; vgl. besonders S. 85: »So unbe-
stimmt dies ausgedrückt ist, man fühlte sich daraufhin legitimiert, in Höltys Schaffen komi-
sche von ernsten Balladen reinlich zu scheiden und ihn demgemäß sogar als den Begründer
der ernsten deutschen Kunstballade herauszustreichen«.
45 Die auf einem solchen Vergleich basierende Untersuchung von Hans Peter Jaeger ist wenig
befriedigend ausgefallen: »Hölderlin - Novalis. Grenzen der Sprache«. Zürcher Beiträge zur
deutschen Sprach- und Stilgeschichte. Zürich 1949.
46 Jonas III, S. 135-136.
47 So Richard Benz, a.a.O., S. 503.
48 Briefe an August Wilhelm Schlegel, hg. von O. Walzei, Berlin 1890, S. 191.
Anmerkungen 311

49 Novalis, Briefe und Werke. Hg. von E. Wasmuth, Heidelberg 1943. Bd. I: S. 52.
50 Bd. XXII, S. 344.
51 Von Karl Berger in dessen Schillerbiographie: Schiller. Sein Leben und seine Werke. Mün-
chen 1906, I, S. 92.
52 Wichtige Hinweise bei Richard Erny: Lyrische Sprachmusikalität als ästhetisches Problem
der Vorromantik. In: Jb. d. Schiller-Ges. 11, 1958, S. 114-144.
53 So Wentzlaff-Eggebert, a.a.O.; ähnlich Bettex in dem genannten Buch über den »Kampf
um Weimar«.
54 R. Benz, a.a.O., S. 504.

Naturforschung und deutsche Klassik


Die Jenaer Gespräche im Juli 1794

Der Beitrag wurde unter diesem Titel zuerst in der Festschrift für Benno von Wiese veröffent-
licht: »Untersuchungen zur Literatur als Geschichte«, hg. von Vincent J. Günther, Helmut
Koopmann, Peter Pütz und Hans Joachim Schrimpf. Berlin 1973, S. 61-78. Er wird hier in der
Sache unverändert übernommen; stilistische Änderungen in geringem Umfang sind zu vermer-
ken. Nachgetragen wird der umfangreiche Aufsatz von Emil von Skramlik: Die Naturforschende
Gesellschaft zu Jena und ihre Beziehungen zu Goethe. In: Goethe. NF des Jahrbuchs der Goethe-
Gesellschaft 17. Bd. (1955), S. 274-301. Zum Freundschaftsbund ist auf die umsichtige Untersu-
chung von Michael Böhter zu verweisen: Die Freundschaft von Schiller und Goethe als literatur-
soziologisches Paradigma. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Litera-
tur, hg. von Georg Jäger, Alberto Martino und Friedrich Sengle. 5. Bd. (1980), S. 33-67. Dem
Verfasser geht es darum, weder Legenden fortzusetzen, was die Verklärung von Freundschaft
angeht, noch darum, mit der Zerstörung von Legenden die Sache selbst zu treffen. Vor allem
aber ist er daran interessiert, wie schon im Titel zum Ausdruck kommt, die sozialgeschichtlichen
Grundlagen dieser Freundschaft zu erfassen und zu beschreiben. Das steht dem hier unternom-
menen Versuch nicht so fern, das Intersubjektive stärker herauszuarbeiten als das nur Persönli-
che und Private. Auch die Grundthese des vorliegenden Beitrags war und ist am wenigsten
persönlich gemeint. Es ist diese, daß es nicht nur ein Gespräch gegeben hat, und daß ein zweites
im Hause Humboldts geführt worden ist. Über die Tagebucheintragung hinaus sind Briefe aus
diesen Tagen als weitere Belege nicht beizubringen. Inzwischen liegt das Verzeichnis von Hum-
boldts Briefwechsel vor (bearbeitet von Philipp Mattson, Heidelberg 1980). Außer einem Brief
an Friedrich August Wolf vom 25.7.1794 sind weitere Briefe aus dieser Zeit nicht angeführt:
weder vom Juli noch vom August des Jahres. Da Humboldts Brief an Wolf in den Anmerkungen
nicht genannt wurde, sei er nachträglich zitiert; denn er ist ganz dazu angetan, den Anteil Hum-
boldts an dem »Dreierbund«, wie er hier behauptet wird, zu bestätigen. Humboldt schreibt:
»Dafür aber habe ich täglichen Umgang an Schiller, meinem alten Freunde, von dem ich schon
ein Paar Jahre getrennt lebte, und dessen Wiedersehen ich nun um so mehr genieße. Wir sind
alle Abende zusammen und leben äußerst glücklich mit einander« (Gesammelte Werke Bd. V,
1846, S. 115; zitiert in »Schillers Persönlichkeit«, hg. von Julius Petersen, 1919. 3. Teil, S. 9).
1 J. Minor: Zum Jubiläum des Bundes zwischen Goethe und Schiller. Geschichte ihrer Bezie-
hungen bis 1794. In: Preußische Jahrbücher 37. Bd. 1894, S. 1. Zur biographischen Auf-
zeichnung Goethes GA XII/619 ff. - MA X/538 ff.
2 J. Minor: Ebda: »Einen Segenstag für die deutsche Nation« hat man den Tag vor vierzig
Jahren genannt, und er soll auch heute nicht ohne ein einfaches Gedenkblatt vorübergehen.
3 GA XIII622. - HA X/540.
4 Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Hg. von Albert Leitzmann. Leipzig 1955.
Bd. I1I, S. 2.
5 GA XIII621. - HA X/540.
6 GA XII/623. - HA X/541.
312 Anmerkungen

7 Um einen solchen Nachweis hatte sich Heinrich Düntzer seinerzeit bemüht, dem es darum zu
tun war, das Gespräch über die Metamorphose auf den 31. Oktober 1790 zu datieren.
(Heinrich Düntzer: Zu Goethe's Bericht über seine Anknüpfung mit Schiller. In: Goethe-
Jahrbuch. Hg. von L. Geiger. 2. Bd., 1881, S. 168).
8 Schillers Briefe. Hg. von Fritz Jonas, o. J., Bd. IV, S. 2. - Jetzt auch: Schillers Werke. NA,
Bd. 27. Hg. von Günter Schulz. 1958, S. 34.
9 Der Briefwechsel. Bd. I, S. 10.
10 Otto Harnack: Der Zeitpunkt der entscheidenden Annäherung Goethes und Schillers. In:
O. H.: Zur Schillerforschung. In: Euphorion. Bd. VI (1899), S. 542.
11 Günter Schulz: In wiefern die Idee: Schönheit sey Vollkommenheit mit Freyheit, auf orga-
nische Naturen angewendet werden könne. In: Goethe. NF des Jahrbuchs der Goethe-
Gesellschaft, 14./15. Bd., 1952/53, S. 143-157.
12 Schillers Briefe. Hg. von F. Jonas. Bd. 111, S. 272.
13 Darauf hat Benno von Wiese aufmerksam gemacht: Das verlorene und wieder zu findende
Paradies. Eine Studie über den Begriff der Anmut bei Goethe, Kleist und Schiller. In:
Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen. Hg. von
H. Sembdner. Berlin 1967, S. 206.
14 Ebda, S. 150.
15 Ebda.
16 Ebda, S. 149: »Erst Otto Harnack formuliert überzeugend ... «
17 Auch Leitzmann teilt diese Notiz Humboldts in seinem Kommentar expressis verbis mit:
Ebda, Bd. III, S. 2.
18 GA XIII623. - HA Xl541.
19 Otto Harnack: Goethe und Wilhelm von Humboldt. In: Vierteljahrsschrift für Literaturge-
schichte. 1. Bd. (1888), S. 227.
20 Jonas, Bd. III, S. 438. - NA 27. Bd. S. 1.
21 Jonas, Bd. III, S. 453. - NA 27. Bd. S. 11.
22 Ebda, S. 13.
23 An Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832. GA XXI/I043.
24 Ebda, S. 939.
25 Hans Pyritz: Der Bund zwischen Goethe und Schiller. Zur Klärung des Problems der
sogenannten Weimarer Klassik. In: H. P.: Goethe-Studien. Hg. von Ilse Pyritz. Köln 1962,
S.40.
26 GA XIII622. - HA Xl541.
27 Der Briefwechsel ... , Bd. I, S. 4.
28 Zitiert von O. Harnack: Goethe und Wilhelm von Humboldt, S. 228.
29 GA XI/637. - HA Xl441.
30 HA X1I1/62. - GA XVII/20.
31 Wilhelm von Humboldt an Goethe (Ende Januar 1795). In: Goethe-Jb., 8. Bd. (1887),
S.63.
32 Zitiert in: Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie. Hg. von Kar! S.
Bruhn, I, S. 188.
33 Vgl. Heinrich Düntzer: Zu Goethes Bericht ... , S. 180.
34 Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Leipzig 1936, S. 240.
35 Zitiert bei J.Minor, a.a.O., S. 46.
36 HA XII1/102. - GA XVII/85.
37 HA XII1/155. - GA XVIII70.
38 Ebda, Bd. Xl540.
39 An Batsch; HA II/175.
40 Jonas, Bd. III, S. 470. - NA 27. Bd. S. 23.
41 NA 23. Bd. S. 245.
42 NA XXVII/25.
43 Jonas, Bd. V, S. 234.
Anmerkungen 313
Goethes Gedicht »Die Braut von Korinth«
Zum Balladenjahr der deutschen Klassik

Der Beitrag wurde in einer von Walter Hinck herausgegebenen Sammlung von Interpretationen
balladischer Gedichte veröffentlicht: »Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen (Pro-
testlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik).« Frankfurt 1979, S. 74-86; = ed. Suhrkamp 721. Dem
Darbietungsstil dieser Ausgabe entsprechend, sind die hier versammelten Beiträge ohne Belege
und Verweise. Daran soll nichts geändert werden. Literaturhinweise, die sich auf das Notwen-
digste beschränken sollten, wurden am Schluß angefügt. Sie werden hier übernommen.
Zitiert wird nach GA 1/152-157.
Literaturhinweise
Stefan Hock, Die Vampyrsagen und ihre Verwertung ~ der deutschen Literatur. Berlin 1900, S.
66-71.
Max KommereII, Gedanken über Gedichte. Frankfurt 1943, S. 361-364.
Hermann August Korff, Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. Leipzig 1958. Bd. 11, S. 58-70.
Hans-Günther Thalheim, Goethes Ballade »Die Braut von Korinth«. In: Goethe, NF des Jahr-
buchs der Goethe-Ges. 20. Bd. (1958), S. 28-44.
Ernst Feise, Die Gestaltung von Goethes »Braut von Korinth«. In: Mod. Lang. Notes 76 (1961),
S.49-58.

Die Idee des neuen Lebens in Schillers »Wallenstein«

Zuerst veröffentlicht in: The Discontinuous Tradition. Studies in German Literature in honor of
Ernest Ludwig Stahl. Edited by P. F. Ganz. Oxford 1971, dort S. 79-98. Fritz Heuer und Werner
Keller haben ihn aufgenommen in ihren Band: Schillers Wallenstein. Wege der Forschung Bd.
CCCCXX. Darmstadt 1977, S. 364-385, in beiden Publikationen unter dem Titel: Die Idee des
neuen Lebens: Eine Betrachtung über Schillers »Wallenstein«. Aus gegebenem Anlaß merke
ich an, daß der Aufsatz zwar nach 1970 veröffentlicht, als Vortrag aber bereits im März 1966 in
Oxford gehalten wurde, danach an verschiedenen Universitäten in Österreich, Frankreich und
den Vereinigten Staaten. Über den Zusammenhang mit dem zweiten »Wallenstein«-Beitrag und
über die Diskussion, die durch beide Beiträge ausgelöst wurde, handeln die Anmerkungen zum
nächsten Beitrag über denselben Text.
1 So etwa bei Paul Böckmann (Stilprobleme in Schillers Dramen. Jetzt in: Formensprache.
Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg 1966, S. 226): »Seine
Dramen sind konzipiert von der Krisis des Geistes aus, von jenem geheimen Einheitspunkt
her, wo ein Volk, eine Menschengruppe, ein Einzelner sich in die vieldeutigen Möglichkei-
ten des Lebens gestellt sieht und wo mit Notwendigkeit eine Entscheidung gefällt werden
muß.«
2 In seiner »Wallenstein«-Auslegung gibt Benno von Wiese das Zitat in vollem Umfang
wieder. Aber eine eingehendere Analyse dieser bedeutungsvollen Aussage verbindet sich
damit nicht (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, sHamburg 1955, S. 237).
Ähnlich in: Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 660.
3 Die Spielernatur Wallensteins ist Clemens Heselhaus wichtig: Wallensteinisches Weltthea-
ter. In: Deutschunterricht, 1960, Heft 2, S. 65.
4 Daß solches Zaudern mit dem Zaudern Hamlets nicht zu verwechseln sei, hat die neuere
Forschung wiederholt betont; so Max KommereII: »Es ist ein anderes Zaudern als das
Zaudern Hamlets, dem alles Handeln schal und willkürlich wird, weil ihn das Sein, das
Rätsel des Seins anstarrt. Wallenstein zaudert, weil das Wesen der Tat ihn anrührt« (Schiller
als Gestalter des handelnden Menschen. Jetzt in: Geist und Buchstabe der Dichtung, 31944,
S. 147). Eine geistVOlle Deutung dieses Zauderns hat Oskar Seidlin gegeben: »Wallensteins
Zögern ist nicht zu fassen als Charakterzug [ ... ] Sein Zögern entspringt nicht einem inneren
Konflikt [... ] sondern es ist die magistrale Geste eines Menschen, der sich stemmt gegen
314 Anmerkungen

das unerbittliche und unaufhaltsame Abrollen der Zeit« (Wallenstein: Sein und Zeit. Jetzt
in: Von Goethe zu Thomas Mann, Göttingen 1963, S. 122).
5 Ähnlich Kurt May: »Der erste, auch nur halbe Schritt war frei, der zweite ist es nicht mehr.
Dann spielt es gar keine Rolle mehr, wie einer gesinnt ist, die Freiheit der Entscheidung ist
genommen« (Friedrich Schiller. Idee und Wirklichkeit im Drama, Göttingen 1948, S. 110).
6 Die Argumente, die Kurt May beibringt, uns diese Äußerungen Wallensteins als unmora-
lisch zu verdächtigen, überzeugen nicht (Friedrich Schiller, S. 131). Es ist überhaupt auffäl-
lig, wie selbstverständlich deutsche Literarhistoriker bereit sind, Wallenstein zu verurteilen,
weil er es an Respekt vor der etablierten Ordnung fehlen läßt - einer Ordnung, die es
offenbar schon deshalb anzuerkennen gilt, weil sie ist.
7 Zutreffend spricht Clemens Heselhaus von einer »Entwertung der Institution, der Legalität,
selbst des positiven Gesetzes in Schillers Dichtungen«, (ebda, S. 46).
8 Daß Wallenstein damit »in Wahrheit« - aber was heißt hier Wahrheit! - ein Vernichtungs-
urteil über sich selber spreche, wie Wolfgang Wittkowski behauptet, halte ich wenigstens
für »unbewiesen«, von den hier obwaltenden Interpretationsinteressen ganz zu schweigen:
Octavio Piccolomini. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 5 (1961), S. 32.
9 Vgl. K. May, ebda, S. 130; O. Seidlin, S. 122.
10 O. Seidlin, ebda, S. 123.
11 Über naive und sentimentalische Dichtung. (Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, hg.
von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 467).
12 Im Sinne Oskar SeidIins (Wallenstein: Sein und Zeit, S. 123).
13 Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie, S. 238.
14 An Böttiger vom 1. März 1799 (NA XXXl33). - Zur Interpretation des Briefes vgl. auch
C. Heselhaus, ebda, S. 44.
15 Kurt May: Friedrich Schiller, S. 124.
16 In Übereinstimmung mit O. SeidIin, S. 127.
17 K. May (Friedrich Schiller, S. 125): »Wallenstein ist ein Mensch ohne Liebe.« In der Kom-
mentierung der in Frage stehenden Szene selbst wird das schroffe Urteil beträchtlich modifi-
ziert: »Auch das Machtmenschentum dieses Mannes ist aus einer breiteren Menschlichkeit
heraus zu beherrschender Größe entwickelt« (S. 144).
18 Vgl. Goethes Brief vom 8. Dezember 1798: »Der astrologische Aberglaube ruht auf dem
dunkeln Gefühl eines ungeheuren Weltganzen [... ] Diesen und ähnlichen Wahn möchte ich
nicht einmal Aberglaube nennen.«
19 Hermann August Kortf: Geist der Goethezeit, Bd.2, S. 258.
20 Wallenstein: Sein und Zeit, S. 124.
21 Vgl. zur Nemesis-Problematik vor allem: Clemens Heselhaus (Die Nemesis-Tragödie. In:
Der Deutschunterricht, 1952, Heft 5). Ernil Staiger: Schiller: Agrippina. Jetzt in: Die Kunst
der Interpretation, 2. Auf!. Zürich 1957, S. 132-160. - Wolfgang Wittkowski: Octavio
Piccolomini. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 5 (1961), S. 10-11. Auch Kurt
May (Friedrich Schiller, S. 129) spricht von einem »nemesisartigen Vorgang«. Zu kanoni-
schem Ansehen des problematischen Begriffes hat Benno von Wiese in seinen neueren
Arbeiten über Schiller das meiste beigetragen.
22 Hinsichtlich der Begriffe Idealism(us) und Realism(us) in »Walllenstein« ist die aufschluß-
reiche Äußerung gegenüber Humboldt vom 21. März 1796 zu vergleichen; hierzu auch Wolf-
gang Binder: Die Begriffe »Naiv« und »Sentimentalisch« und Schillers Drama. In: Jahrbuch
der Deutschen Schillergesellschaft, 4 (1960), S. 155. - Das Ineinander von Idealismus und
Realismus hat man in der neueren Schillerforschung mit wechselnder Zielsetzung öfters
betont, so Friedrich Sengle (Das deutsche Geschichtsdrama, Stuttgart 1969, S. 56): »Ist
sonst das Stück ein stark realistisches Geschichtsdrama, so springt es in der Lösung um so
deutlicher ins idealistische Drama über.« Ähnlich Kurt May: »Im Wallenstein-Drama sind
demnach [... ] zwei Tragödien ineinandergelagert [... ] in deren Mitte je ein Repräsentant
des dämonischen Realismus und des ethischen Idealismus steht« (S. 168).
23 In Übereinstimmung mit O. SeidIin: »aber es geht eben nicht um Charakterologisches« (S.
123).
Anmerkungen 315
24 GA XXl691. - Zum Dualismus des Menschlichen im Denken Goethes vgl. Wolfgang Paul-
sen: Goethes Kritik am Wallenstein. In: DVjs. 28 (1954), S. 79.
25 Ebda, S. 164.
36 Hierzu Herbert Singer: Dem Fürsten Piccolomini. In: Euph. 53 (1959), S. 301.
27 Clemens Heselhaus: Wallensteinisches Welttheater, S. 46.
28 Italienische Reise. GA XI/I60. - HA XI/147.
29 GA X1/433. - HA Xl1393.
30 GA Xl/159. - HA XI/146.
31 GA XXl885. - Vgl. Benno von Wiese (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel,
3Hamburg 1955, S. 222): »aber gerade seine Tragödie entwickelt sich seit dem Wallenstein
immer stärker in Aneignung einer von den Griechen, von Sophokles und Euripides gelern-
ten tragischen Analysis, die den poetischen Stoff in eine tragische Fabel verwandelt«.
32 An Goethe vom 23. August 1794 (NA XXVIl/26).

Episches im Theater der deutschen Klassik


Eine Betrachtung über Schillers »Wallenstein«

Der Aufsatz ist 1976 im 20. Band des Jahrbuchs der deutschen Schillergesellschaft erschienen
und Lieselotte Blumenthai gewidmet. Da beide Wallenstein-Aufsätze eine etwas überhitzte De-
batte ausgelöst haben, wurde von Veränderungen im Inhalt abgesehen, obgleich vor allem der
hier in Frage stehende Beitrag eine Straffung sehr gut vertragen hätte. Die Diskussion, die es
gegeben hat, wurde durch mehrere Beiträge und durch eine rege Fußnotentätigkeit Wolfgang
Wittkowskis in Gang gebracht und in Bewegung gehalten. Es begann mit einer Attacke, wie man
den Aufsatz »Theodizee oder Nemesistragödie« wohl bezeichnen darf. Das von Detlev Lüders
herausgegebene Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts hat ihn 1980 publiziert. Die Polemik,
die es an Emotionen und Unterstellungen nicht fehlen läßt, wurde fortgeführt mit dem Beitrag
»>Der Übel größtes aber ist die Schuld<. Nemesis und politische Ethik in Schillers Dramen«
(Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen 1982, S.
295-309). Inhalt und Tonführung der lautstark vorgetragenen Gesinnungsaufsätze hat Helmut
Koopmann in seinem umfassend orientierenden Forschungsbericht (Schiller-Forschung
1970--1980. Ein Bericht. Marbach 1982) charakterisiert. Die Diskussion, heißt es hier, (S. 97),
sei für die Schiller-Forschung »bei allem Unbehagen über den Stil der Auseinandersetzung [ ... ]
von der Sache her [... ] ein Glücksfall«. Mit dem Unbehagen sind einige Passagen in Wolfgang
Wittkowskis Kritik gemeint, die in der Tat jedes Maß vermissen lassen. Von einer Einarbeitung
der seither erschienenen Literatur wurde abgesehen. In seiner Deutung des »Wallenstein« setzt
sich Walter Hinderer wiederholt mit den hier entwickelten Auffassungen auseinander; es ist
sicher die bedeutendste im Schrifttum der letzten Jahre, die auch neuere Literatur reichhaltig
verzeichnet (Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1979). Auch eine Auseinander-
setzung mit den Diskussionsbeiträgen Wittkowskis im einzelnen ist nicht beabsichtigt - schon gar
nicht in seinem Stil.
Wenn dennoch an dieser Stelle ein Wort in eigener Sache und zur Sache hinzugefügt wird, so
in erster Linie deshalb, weil sich die Aufnahme von zwei Aufsätzen über denselben Text in dieses
Buch nicht von selbst versteht. Es hätte nahe gelegen, den späteren zu bringen und den voraufge-
gangenen auf sich beruhen zu lassen, zumal er inzwischen an anderer Stelle erneut gedruckt
worden ist. Aber bei allem Sinn für wissenschaftlichen Wandel kann ich die Betrachtung über
die Idee des neuen Lebens in Schillers »Wallenstein« nicht als überholt und erledigt ansehen. Da
in allen Beiträgen dieses Bandes versucht wird, einem ungeschichtlichen Verständnis der deut-
schen Klassik entgegenzuarbeiten, sollte der vorliegende am wenigsten fehlen, der das Ge-
schichtsbewußtsein ihrer Wortführer auf eine so eindringliche Art bezeugt: den Sinn für Erfah-
rungen neuen Lebens, für Verjüngung, Reformierung und Wiedergeburt. Und natürlich gehö-
ren auch Revolutionen in die Semantik solcher Vorgänge; natürlich ist auch von ihnen zu
sprechen, wenn von neuem Leben in Staat und Gesellschaft die Rede ist; und nicht erst mit dem
Jahre 1789 sind Revolutionen in die Weltgeschichte gelangt. Was nicht heißen kann, daß wir es
316 Anmerkungen

im Falle der »Wallenstein«-Trilogie mit einem Revolutionsstück zu tun haben, womöglich mit
einer Parteinahme für die Revolution seitens Schillers oder seitens seiner Hauptfigur. Nirgends
ist das behauptet worden. Lediglich von der Thematik geschichtlichen Wandels her, so wird hier
ausgeführt, spürt man die Nähe zur Revolution; und daß man sich dabei auf den Prolog berufen
kann, ist wohl nicht zu bestreiten. Diese Thematik ist in Schillers Dramen keineswegs neu.
Aufstände, Verschwörungen und Rebellionen sind das, wofür er sich als Dramatiker von An-
fang an interessiert; und mehr noch interessiert ist er an ihrem tragischen Scheitern. Schon damit
erledigt sich jede eindeutige Parteinahme. Eben weil es dem Dichter verwehrt bleibt, Partei zu
ergreifen, wie Goethe am Ende der »Kampagne in Frankreich« erläutert, müsse er sich ent-
schließen, die Zustände beider kämpfender Teile tragisch zu endigen. In dem hier in Frage
stehenden Aufsatz über die Idee des neuen Lebens als einer tragisch an der Wirklichkeit schei-
ternden Idee bleibt das Verständnis der Dramatik Schillers noch sehr stark der Sicht Max
Kommerells verpflichtet, wie sie sich höchst eindrucksvoll in seinen Betrachtungen über »Schil-
ler als Gestalter des handelnden Menschen« und über »Schiller als Psychologe« bezeugt. Daß
Max KommereIl ganz Entscheidendes an Schillers Dramen gesehen hat und daß in der neueren
Forschung das Verdienst solcher Einsichten sehr zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, -
davon bin ich auch heute noch überzeugt. Der Kerngedanke seiner Einsichten, die deutlich
machen, daß es niemals nur um Personen geht, ist in den folgenden Sätzen ausgeprochen:
»Wenn Schiller von Idee handelt, handelt er von Tat, wenn er von Tat handelt, wird er die Idee
nicht los. Er begreift den Geist als wirkend auf den Weltstoff hin, sich selbst ebenso. Die
Unversöhnlichkeit von Idee und Tat, und die Bedingung der Idee: Tat werden zu müssen, dies ist
das Schneidende in Schillers Resignation. Die Idee, die sich verschiedenen Denkern verschieden
geoffenbart hat, offenbarte sich ihm als Entwurf zur Tat. Diese Erfahrung der Tat ist tragisch«
(»Geist und Buchstabe der Dichtung.« 3. Auf). 1943, S. 135/36). Was hier beschrieben wird; ist
eine dramatische, eine in die Gestalt des Dramas umgesetzte Antinomie. Zum ersten eine solche
der Mittel zum Zweck, wie sie in der Frage enthalten ist, die im »Don Karlos« die Königin an
Posa stellt. »Und kann die gute Sache schlimme Mittel adeln?« fragt sie diesen. Zum zweiten
eine solche zwischen »Idealismus« und »Realismus«, die in der neueren Forschung häufig ge-
brauchten Begriffe im idealtypischen Sinne verstanden; und natürlich, so ist aus gegebenem
Anlaß zu ergänzen, gibt es trotz Sternenglaube, Vertrauensseligkeit und Verblendung auch eine
realistische Komponente in diesem von der Parteien Haß und Gunst verwirrten Charakter, wie
der Vergleich zu den »reinen«, aber darum auch untragischen Idealisten deutlich macht. Man
kann das, was hier beschrieben wird, durchaus im »Grundgesetz« der Hegeischen Tragödien-
theorie umschrieben sehen, wonach die Kollision gleichberechtigter Mächte - der Familie und
des Staates - das tragische Geschehen bestimmt; eine Kollision freilich, die am »Wallenstein«
weit besser als an der »Antigone« hätte erläutert werden können. Aber auch mit dieser Theorie
kommt man an der Feststellung nicht vorbei, daß es mit den Antinomien, die Kollisionen
verursachen, immer zugleich um die tragische Person im Gegensatz zu den Personen der Tragödie
geht. Wo wir es aber mit einer solchen zu tun haben, ist in jedem Fall eine HöhersteIlung oder
Herausstellung die Folge. Hegels Versuch, Kreon aufzuwerten, damit den gleichberechtigten
Mächten genügt wird, hat nichts daran zu ändern vermocht, daß Antigone die eigentlich tragi-
sche Person dieser Tragödie bleibt und Kreon überragt. Als eine Person der Tragödie - nicht als
tragische Person - wird Kreon von der Nemesis eingeholt, wenn man das so ausdrücken will.
Aber eine Nemesistragödie kommt deswegen nicht zustande. Nirgends in der Geschichte der
abendländischen Tragödie klassischen Stils gibt es eine solche - außer in der neueren »Wallen-
stein«-Diskussion. Andererseits darf Antigone in einem solchen Verständnis der Tragödie die
tragische Person nur sein, wenn sie als eine nicht völlig schuldlose Person anzusehen ist. So oder
so geht es um Schuld - um tragische Schuld, versteht sich. Faßt man Schillers zur Sentenz
geronnenen Vers »Der Übel größtes aber ist die Schuld« moralisch in Richtung auf eine Art
Bestrafung im juristischen Sinne auf, so kann kaum ausbleiben, daß man mit solchen Auffassun-
gen früher oder später an das öde Schema von Schuld und Sühne gerät, zu dem das 19. Jahrhun-
dert die Tragödie verkommen ließ; und wenn man die Debatte noch einmal aufnehmen will, von
Emotionen und Unterstellungen hoffentlich befreit, so muß endlich einmal gesagt werden,
welche Geltt,mg man der ollaQ'tLa einzuräumen gedenkt, die Schiller aus seiner Zeit zu verstehen
Anmerkungen 317

sucht. Daß dieser zentrale Begriff in der hier in Frage stehenden Diskussion nirgends aufge-
taucht ist - soweit ich sehe -, ist wenigstens merkwürdig. Eine Tragödientheorie von Rang, die
mit dem Begriff der Nemesis operiert, ist mir jedenfalls nicht bekannt.
Der zweite Aufsatz geht im Verständnis des tragischen Geschehens über den ersten insofern
hinaus, als er die Wirkung auf den Zuschauer in stärkerem Maße akzentuiert und den »An-
schluß« an die sophokleische Tragödie neu durchdenkt. Der Begriff der tragischen Analysis gibt
hierzu in besonderer Weise Anlaß - ein ungewöhnlich glücklicher Begriff, weil mit ihm ein
Phänomen der alten Welt in einem sehr modernen Sinn aktualisiert wird; und auch von der
tragischen Analysis muß gesagt werden, daß man über sie nicht sprechen kann, wenn nicht
zugleich über die allaetLa der griechischen Tragödie gesprochen wird, über tragische Schuld im
Sinne der Antike wie der Moderne (um 1800). Modern ist Schillers Begriff, weil er an Formen
der Verinnerung denken läßt, wie sie deutlicher erst in der Literatur der Moderne (um 1900) in
Erscheinung treten - in Drama wie Erzählung gleichermaßen. Damit geht es um verschiedene
Formen der inneren Wirklichkeit des Menschen: um Unbewußtes, Nichtwissen und Nichtwis-
senkönnen. Auf den Zusammenhang von tragischer Analysis am Beispiel des Sophokles und
von Psychoanalysis am Beispiel desselben Autors im Denken Sigmund Freuds ist hier nur zu
verweisen. Beide Formen der Analyse nähern sich in der Erforschung von Trieben und Verhal-
tensweisen an, die als Machttriebe, als »Wille zur Macht« (nicht unbedingt im Verständnis
Nietzsches) auch geschichtliches Leben und weltgeschichtliche Verläufe bestimmen, indem sie
etwas weithin Verborgenes aus dem Dunkel in das Licht der Erkennbarkeit bringen. Daß es in
Schillers »Wallenstein« nicht um eine moderne Schicksalstragödie, noch weniger um eine Neme-
sistragödie geht, was immer diese auch sei, sollte deutlich werden. Das Geschichtsdrama als
Tragödie erledigt sich damit keineswegs. Aber Geschichtliches verlagert sich anders nach innen
als in den vorausgegangenen Dramen. Geschichte erscheint in solchen Auffassungen und Ein-
sichten nicht ablösbar von der Natur des Menschen und seinen Verhaltensweisen. Die Kollision
im Schema von Spiel und Gegenspiel tritt zurück hinter einen Konflikt, der lange Zeit von der
tragischen Person des Dramas - von Wallenstein selbstverständlich! .- nicht wahrgenommen
wird und den die tragische Analyse mehr und mehr zum Bewußtsein bringt. Dieser Konflikt hat
sein Zentrum in der Macht als einem triebhaften Geschehen. Aber mit Macht ist beim besten
Willen und im wörtlichen Sinne kein Staat zu machen, wenn man sie im vorhinein als böse erklärt
oder den ein für allemal Etablierten in alle Ewigkeit zugesteht. Macht ist etwas, das man in der
Geschichte braucht; und so realistisch ist der Wallenstein Schillers allemal, daß er das weiß.
Aber wenig scheint er zu wissen von den Verführungen der Macht, die im Triebgeschehen des
Menschen - jedes Menschen! - angelegt sind, von jenem »Es« also, wie man es in der Sprache
Freuds zu bezeichnen hätte, wenn man sich ihrer bedienen wollte. Freud selbst hätte sich im
Verfahren seiner eigenen Analyse jede ethische Beurteilung doch wohl versagt; er hätte sich,
wenn und weil es sich um Krankhaftes handelt, Schuldzuweisungen verbeten. Die Tragödie kann
das nicht, zumal wir es hinsichtlich des Triebgeschehens (in der Person Wallensteins) nicht
einfach mit einem Krankheitsgeschehen zu tun haben. Aber doch mit Formen des Nichtwissens
und der mangelnden Selbsterkenntnis, die das Maß an Schuld differenzieren und eben jene
tragische Schuld mit sich bringen, in der sich Schuldlosigkeit als Nichtwissenkönnen und schuld-
haftes Handeln, für das man verantwortlich ist, die Waage halten. Ein Geschehen, mit anderen
Worten, für das man verantwortlich bleibt, auch wenn es anders gewollt war. Daß der Wallen-
stein der Schlußszenen hinsichtlich solcher Fragen anders ein Erkennender ist als zuvor, wird
nicht dadurch widerlegt, daß er den schäbigen Mord verkennt, der ihm bevorsteht. So jedenfalls
scheint Goethe den Schluß des großen Dramas aufgefaßt zu haben, wenn er im Brief an Schiller
vom 18. März 1799 schreibt: »daß alles aufhört, politisch zu sein und bloß menschlich wird«. Wir
wollen uns wünschen, daß dieses verstehende Wort, erweitert und übertragen in den Streit der
Meinungen über Schillers »Wallenstein« hineinwirken möge, wo immer es ihn künftig geben
mag.
1 Für die Unterschiede zwischen französischer und deutscher Klassik im Zeichen des Aristote-
les ist noch immer auf Max Kommerells fundamentale und bis heute nicht überholte Unter-
suchungen zu verweisen: Lessing und Aristoteles. Untersuchungen-über die Theorie der
Tragödie, 2. Aufl., FrankfurtIM. 1957.
318 Anmerkungen

2 Jean-Paul Sartre: Die Wörter. Aus dem Französischen mit einer Nachbemerkung v. Hans
Mayer, Hamburg 1965, S. 91.
3 Peter von Matt: Das literarische Gespenst »klassiches Drama«, in: Merkur, Jg. 30 (1976), S.
732-733. Der eigene Beitrag war weithin abgeschlossen, als der angeführte Aufsatz er-
schien, der meinen Gedankengang von anderen Überlegungen her bestätigt. Inwiefern das
Drama der deutschen Klassik gerade nicht das ist, was Realisten vom Schlage Gustav
Freytags daraus gemacht haben, wird nicht gesagt.
4 VgI. Bertolt Brecht: Das epische Theater (Gesammelte Werke in 8 Bdn., FrankfurtlM.
1967, Bd. 7, S. 263): »Es soll hier nicht auseinandergesetzt werden, wodurch die lange für
unüberbrückbar angesehenen Gegensätze zwischen Epik und Dramatik ihre Starre verlo-
ren«. Die Gegensätze beziehen sich hier auf Epik und Dramatik, und sie werden von Brecht
gerade nicht für unüberbrückbar gehalten. An der schroffen Gegensätzlichkeit zwischen
klassischer Tragödie und epischem Theater im Verständnis der modemen Kritik ändert
diese Aussage nichts.
5 Zur Kritik an diesen Begriffen in der Verwendung Lessings vgI. Wolfgang Schadewaldt:
Furcht und Mitleid? Zu Lessings Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes, in: DVJS 30
(1956), S. 137.
6 G. E. Lessing: Gesammelte Werke, Berlin: Aufbau-VerI., 1957, Bd. 9, S. 75-76.
7 »Die Einfühlung ist ein Grundpfeiler der herrschenden Ästhetik.« (Ges. Werke, ebda,
S.298).
8 Den Abhandlungen über eine nichtaristotelische Dramatik werden Sätze wie diese vorange-
stellt: »Von den Tempelhütern der Kunst wird für gewöhnlich peinlich darüber gewacht,
daß die dämmrige Unbestimmtheit der künstlerischen Sphäre gewahrt bleibt« (Ges. Werke,
S. 228). Und weil dem so ist, hat das epische Theater anders zu sein: »Solang man der Kunst
als Bereich die Sphäre des Unbewußten, Halbbewußten oder >Unterbewußten< zuteilt,
bleibt der Vernunft nur die Rolle eines Kontrolleurs« (ebda, S. 228).
9 Ebda, S. 240.
10 »Es ist heute üblich, sich auf den Standpunkt zu stellen [... ] daß man sich im Theater naiv
einstellen muß« (ebda, S. 211). Statt Kenntnissen würden >Erlebnisse< vermittelt, »so daß
die >Natur< zu einem Gegenstand des Genusses wurde« (ebda, S. 215).
11 Ebda, S. 221.
12 Ebda, S. 219.
13 »Das Theater muß also eine Form finden, diese Unklarheit in möglichst klassischer Form,
das heißt in epischer Ruhe darzustellen« (ebda, S. 221).
14 Brechts »Dreigespräch über das Tragische« beginnt mit dem bezeichnenden Einwand:
»Wenn ich dich reden höre über eure Art, Theater zu machen, dann kommt es mir vor, als
hättet ihr einfach aus der Komödie soundso viele Elemente genommen und sie in das ernste
Stück gesteckt« (ebda, S. 309).
15 Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960. Peter von
Matt wirft ihm - wie Peter Szondi - vor, daß beide die geschichtliche Mystifikation weitge-
hend mit betrieben haben (ebda, S. 733). Daran ist richtig, daß beide von der Gegebenheit
des epischen Theaters ausgehen - und eben damit auch zu vielfach neuen Einsichten gelan-
gen. Sie unterscheiden sich in der Art ihres Vorgehens. Volker Klotz tendiert zur Typologie.
Das ist sein gutes Recht; und daß die »Wirklichkeit« des klassischen Dramas - das bürgerli-
che Trauerspiel! - oft anders aussieht als die Theorie, ist bei solchem Vorhaben in Kauf zu
nehmen. Bei Peter Szondi (Theorie des modemen Dramas, FrankfurtIM. 1963) liegt eine
klassizistische Befangenheit vor: die Befangenheit im hoffnungslosen Klassizismus Hegels,
von dem manche sehr fortschrittlich denkende »Analytiker« zu glauben scheinen, es sei dies
die modeme Ästhetik schlechthin. Sie ist es mitnichten.
16 Hierzu Melitta Gerhard: Schiller und die griechische Tragödie, Weimar 1919; Florian Pra-
der: Schiller und Sophokles, Zürich 1954; Wolfgang Schadewaldt: Schillers Griechentum.
In: Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959, hg. von Bernhard Zeller, Stuttgart 1961,
S. 25S-270. Ferner Wolfgang Binder: Hölderlin und Sophokles, in: Hölderlin-Jahrb. 1969/
70, S. 19-37; jetzt in: Aufschlüsse. Zürich 1976, S. 261-280.
Anmerkungen 319

17 An Goethe vom 5. V. 1797 (NA 29. Bd. S. 73. - GA XXl345).


18 NA 30. Bd. S. 177.
19 So in demselben Brief an Goethe vom 5. V. 1797, der die eingehende Würdigung der
»Poetik« enthält; so ferner gegenüber Körner vom 3. VI. 1797, in dem der »unvertilgbare
Unterschied der neuen von der alten Tragödie« betont wird (NA 29. Bd. S. 82). Solche
Vorbehalte sind Gerhard Storz wichtig: »Schiller teilt Goethes Enthusiasmus für die Schrift
keineswegs« (Der Dichter Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 264); und deutlicher noch an
anderer Stelle: »aber die Direktiven dafür wurden nicht aus der Dramaturgie Lessings oder
des Aristoteles gewonnen« (ebda, S. 269).
20 Darauf hat Emil Staiger in seinem Agrippina-Aufsatz mit Nachdruck aufmerksam gemacht
(jetzt in: Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955, S. 132-160); vor ihm Wilhelm Spengler
(Das Drama Schillers. Seine Genesis. Leipzig 1932). - Vgl. auch Wolfgang Wittkowski:
Octavio Piccolomini. Zur Schaffensweise des >Wallenstein<-Dichters (1961), jetzt in: Schil-
ler, hg. v. K. L. Berghahn u. R. Grimm. Darmstadt 1972, S. 407.
21 Vgl. V. Klotz: Geschlossene und offene Form, S. 69ff.: »Betonung des Aktes [ ... ] Gerin-
ges Gewicht der Szene ... «.
22 An Goethe vom 8. XII. 1797. NA 29. Bd. S. 165. - GA XXl463.
23 Hierzu der Beitrag des Verfassers: Komik und Komödie in Goethes »Faust«. In: Das
deutsche Lustspiel I, hg. von H. Steifen. Göttingen 1968, S. 94-119; hier S. 173-174.
24 Hierzu Gert Sautermeister: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum ge-
schichtlichen Ort seiner klassischen Dramen, Stuttgart 1971. - Die scharfsinnige Rezension,
die Gerhard Kaiser diesem Buch gewidmet hat, macht berechtigte Einwände zum Gegen-
stand geltend. Aber sie wird ihm nicht gerecht. Es ist sehr die Frage, ob ein so eindeutig
definierter Indyllenbegriff, wie ihn Kaiser expliziert, auf die Dramenpraxis anwendbar ist.
Daß Dramatik und Idyllik nicht antagonistisch gesehen werden dürfen, leuchtet keineswegs
ein. Der Verfasser des genannten Buches (G. Sautermeister) habe seiner Interpretation die
These von der Unversöhnlichkeit von Idee und Tat im Sinne Max Kommerells zugrundege-
legt. Das sei nicht unbedenklich; darüber ließe sich streiten. Mag sein. Ich wüßte freilich
kein Drama Schillers zu nennen, in dem eine solche Unversöhnlichkeit nicht dargestellt
wäre. Man gewinnt den Eindruck, als sei Gerhard Kaiser vordringlich an Idylle, übertragi-
scher Versöhnung und »Vergötterung« interessiert - auf Kosten einer Tragik, deren »Unbe-
dingtheit« es doch erst einmal sichtbar zu machen gilt (Von Arkadien nach Elysium. In: Zs.
f. dt. Philologie, Bd. 91, 1972, S. 172-181).
25 Hierzu abermals V. Klotz: Geschlossene und offene Form. S. 203, Exkurs: Lied im Drama.
Behandelt werden Lieder in Dramen von Lenz und Büchner. Die Lieder im klassischen
Drama zählen - wohl oder übel - zu den seltenen Fällen!
26 Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 3. Aufl., Hamburg 1955,
S. 221.
27 Soweit ich sehe, ist der »Strukturalist« Gerhard Storz der einzige, der in einer Schiller-
Monographie über epische Strukturen in der »Wallenstein«-Dichtung handelt (Der epische
Geist, S. 308ff.). Es ist eines der lesenswertesten Kapitel dieses noch immer lesenswerten
Buches.
28 Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie, S. 243.
29 Hermann August Korlf: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der
klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 2, Leipzig 1930, S. 249.
30 Vgl. G. Storz: Der Dichter, S. 265.
31 Jon. III, S. 171.
32 Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Mit einer Einleitung v. Ludwig Geiger, Bd. 2,
Stuttgart o. J., S. 211.
33 NA 29. Bd., S. 60.
33a An Goethe vom 1. XII. 1797 (NA 29. Bd., S. 162. - GA XXl458).
34 So auch sieht es Fritz Martini, der den bekannten Passus in seiner »Tell«-Studie interpretiert
(Schiller, hg. v. Berghahn/Grimm, S. 379).
34a An Goethe vom 26. XII. 1797 (NA 29. Bd., S. 177. - GA XXl476). - Vgl. hierzu G. Storz:
320 Anmerkungen

Der Dichter, S. 313. - Dieter Borchmeyer: Tragödie und Öffentlichkeit - Schillers Drama-
turgie. München 1973, S. 218.
35 An Goethe vom 2. X. 1797 (NA 29. Bd., S. 141. - GA XXl435). Gute Beobachtungen zum
Retardieren des Hauptcharakters bei Oskar Seidlin (Wallenstein. Sein und Zeit. In: O.
Seidlin: Von Goethe zu Thomas Mann. Zwölf Versuche. 2. Auf!., Göttingen 1969, S. 124).
36 An Schiller vom 19. IV. 1797 (GA XXl333).
37 An Goethe vom 21. IV. 1797 (NA 27. Bd. S. 66. - GA XXl334).
38 GA XXl332.
39 Jon. V. S. 180.
40 Vgl. W. Wittkowski (Octavio Piccolomini, S. 420): »Dessen ganze Stellung wird so fest und
genau mitberechnet, den Erfordernissen, die vom Zuschauer aus an den Aufbau des Gan-
zen gemacht werden, ebenso Rechnung getragen, als handle es sich um eine Person inner-
halb des Dramas selbst. Der Zuschauer gehört für Schiller gleichsam zum eisernen Bestand
eines jeden Personenverzeichnisses ... «.
41 Vgl. Henning Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. In: Wir-
kendes Wort, Jg. 14 (1964), S. 1-21.
42 Gesammelte Werke. Bd. 2, S. 909.
43 Vgl. Friedrich Sengle: Die Braut von Messina. Jetzt in: Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm,
bes. S. 249 u. 258.
44 Vom Wortverständnis her wird man bei einem Vorspiel im allgemeinen an einen Dialog
denken, beim Prolog an ein von einem Sprecher vorgetragenes Gedicht. Die deutsche
Klassik kennt eine solche Unterscheidung nicht. »Wallensteins Lager« wird erst als Prolog,
später als Vorspiel bezeichnet; und Goethes »Prolog im Himmel« müßte diesem Wortver-
ständnis entsprechend ein Vorspiel genannt werden. Dieser Begriff wird hingegen im
»Faust« für das Vorspiel auf dem Theater gebraucht.
45 Daß der Prolog mehr als nur ein Prolog zum »Lager« sei, betont zutreffend Reinhard
Buchwald (Schiller. Bd. 2, Wiesbaden 1954, S. 342); ähnlich G. Storz: Der Dichter, S. 312.
46 Zitiert nach NA, 8. Bd., hg. v. Hermann Schneider u. Lieselotte BlumenthaI. Weimar 1949.
(Die Verszahl jeweils in Klammern; die Buchstaben vor der Verszahl bezeichnen die Teile:
Pr = Prolog; L = Wallensteins Lager; P = Die Piccolomini; T = Wallensteins Tod).
47 Diesen Unterschied in der Struktur betont mit Nachdruck G. Storz: »Sichtbar setzt sich vom
Ganzen der Trilogie das Vorspiel ab« (Der Dichter, S. 271). Zwar unterbleibt eine nähere
Kennzeichnung der Struktur. Doch heißt es bezeichnend: »Solche Vereinigung offener und
geschlossener Form [... ] ist über die von Schiller so bewunderten Vorbilder- die Volkssze-
nen im >Egmont< und im >Julius Cäsar< - hinausgedrungen« (ebda, S. 272-273).
48 Gerhard Kaiser: Wallensteins Lager. Schiller als Dichter und Theoretiker der Komödie. In:
Jahrb. d. Dt. Schillergesellsch., Jg. 14, 1970, S. 323-346.
49 Weimarischer Neudecorirter Theatersaal. Dramatische Bearbeitung der Wallensteinischen
Geschichte durch Schiller, in: WA 1. Hb. 40/5; von G. Kaiser S. 323 zitiert.
50 Ein solcherart immanentes Verständnis des »Lagers« ist im Verständnis der »Wallenstein«-
Dichtung das übliche; vgl. Benno von Wiese (Die deutsche Tragödie, S. 228): »In >Wallen-
steins Lager< sind daher schon die Voraussetzungen entwickelt, die zu Wallensteins Sturz und
Tod führen.« Daß dem »Lager« eine solche Funktion zukommt, ist keine Frage; nur er-
schöpft es sich eben nicht darin, lediglich die Handlung zu exponieren; anders gesagt: die
Art, wie die Einstellung des Zuschauers exponiert wird, ist ihrerseits Exposition.
51 Kar! Berger: Schiller. Sein Leben und seine Werke (hier nach der 7. Auf!. zitiert), Bd. 2,
München 1914. S. 403.
52 Eugen Kühnemann: Schiller, 4. Auf!., München 1911. S. 446-449.
53 Reinhard Buchwald: Schiller. Neue, bearb. Ausg., Bd. 2, Wiesbaden 1954. S. 359.
54 G. Kaiser: ebda, S. 334; vgl. auch S. 323: »es gibt zugleich die Basis der Idee, die noch den
düster-banalen Tragödienausgang trägt mit der Heiterkeit und Leichtigkeit der Komödie
. .. «.
55 G. Kaiser räumt ein, daß die Schlußsentenz im Prolog nicht nur dem dramatischen Eingang
des »Lagers« diene. Dennoch wird sie dem »Lager« auf besondere Weise zugeordnet:
Anmerkungen 321
»wenn das Wort berechtigt ist, hat es seinen festesten Grund im ersten Teil der Trilogie«
(ebda, S. 323).
56 Zur Fremde des Lebens vgl. das Kapitel in Emil Staigers Schillerbuch (Friedrich Schiller.
Zürich 1967, dort S. llff.). - G. Kaiser: ebda, S. 328--329.
57 Zur Rollenexistenz der Soldaten ist auf die Bemerkungen G. Kaisers (ebda, S. 338) zu
verweisen.
58 Mit Bezugnahme auf einen Passus in der Untersuchung G. Kaisers, ebda, S. 324, Vers 309
des »Lagers« wird zitiert: »Und der Geist, der im ganzen Korps tut leben«. Hierzu heißt es:
»dann hat das Wort Geist einen faszinosen Beiklang und erinnert an die biblische Metapher
vom Wehen des göttlichen Schöpfergeistes«. Dem kann ich nicht folgen.
59 Den Begriff von der kriegerischen Idylle gebraucht G. Kaiser in der oben erwähnten Rezen-
, sion. Ebda, S. 177. Aber er gebraucht ihn sozusagen »naiv«, im Sinne einer »Verklärung«
des »Lagers<<. Eine solche Verklärung halte ich nicht für gerechtfertigt.
60 Ähnlich Clemens Heselhaus: »der Zuschauer wird im Für und Wider der Diskussion und im
zweideutigen Sinn der Soldaten - zur Freiheit einer Parteinahme und Bedenkung der Situa-
tion gezwungen« (Wallensteinisches Welttheater. In: DU, Heft 2,1960, S. 56). Hierzu W.
Wittkowski, S. 418: »Die genannten Züge ließen sich vielleicht als solche des epischen
Theaters deuten ... «
61 Zur Überlegenheit in der Ironie vgl. die Ausführungen Beda Allemanns, der darin den
Typus der KierkegaardschenIronie erkennen will (Ironie und Dichtung. Pfullingen 1956, S. 10).
62 1. Buch, Kapitel 8. GA XIII35, - HA VIII33.
63 B. Allemann befaßt sich mit ihr in seinem oben genannten Buch; vgl. besonders S. 21; am
ausführlichsten Ernst Behler: Klassische Ironie / Romantische Ironie / Tragische Ironie.
Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972; über tragische Ironie S. 134ff.
64 Wilhelm Dilthey: Von deutscher Dichtung und Musik, Aus den Studien zur Geschichte des
deutschen Geistes, 2. Aufl., Stuttgart 1957. S. 411.
65 Heinrich Weinstock: Die griechische Schaubühne als eine religiöse Anstalt betrachtet, in:
Das Innere Reich, Jg. 8 (1941), S. 24.
66 Ebda, S. 27.
67 B. Allemann: Ironie und Dichtung, S. 21.
68 H. Weinstock, S. 27.
69 Der Dichter, S. 299.
70 Auf den Schein der Rede macht Paul Bäckmann aufmerksam: »Der durch Worte erregte
Schein wird zur Voraussetzung der tragischen Ironie« (Gedanke, Wort und Tat in Schillers
Dramen, 1960; wieder abgedruckt in: Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm, S. 301), Auch auf
W. Wittkowskis Erläuterungen dieser Ironie ist zu verweisen: »Worte, die derartiges enthal-
ten, reichen oft über das Wissen und den geistigen Rang ihres Sprechers [... ] hinaus«
(ebda, S. 426).
71 NA 30. Bd., S. 9. - GA XXJ657.
72 Vgl. hierzu G. Storz: >>Von der ursprünglich in Aussicht genommenen satirisch-komischen
Darstellungsweise zeugt die erste Szene des zweiten Aktes der> Piccolomini< « (Der Dichter,
S.284).
73 An Schiller vom 8. XII. 1798 (GA XXJ660; NA Bd. 38/1, S. 14).
74 Von Symbol des Sternenglaubens ist in der neueren Schiller-Forschung wiederholt die
Rede; vgl. E. Kühnemann: »Durch die Symbolsprache der Sterne erhöht sich geradezu das
dichterische Interesse an der Grundauffassung Wallensteins« (Schiller, S. 442). Als »Sym-
bol« der Zweideutigkeit (ist das nicht eigentlich eine contradictio in adiecto?) versteht sie
G. Storz (Der Dichter, S. 283). - Bei O. Seidlin heißt es: »daß Wallensteins Gestirn der
Jupiter ist, nicht nur Symbol erhabenster Macht« (Wallenstein: Sein und Zeit, S, 123).
Unnötig zu betonen, was die Sterne für einen Symboldenker wie Hermann Pongs bedeuten!
Da ihm alles unter der Hand zu Symbolen wird, muß ihm auch Wallensteins Sternenglaube
zum gläubig hingenommenen Symbol werden - zur Sinnmitte des Ganzen (Das Bild in der
Dichtung, MarburglLahn 1939, Bd. 2, S. 528--583); vgl. hierzu auch die kritischen Bemer-
kungen bei Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie, S. 694.
322 Anmerkungen

75 Fünftes Buch, Kapitel 7 GA VIII331. - HA VIII308.


76 NA 21. Bd., S. 52.
77 Vgl. F. Sengle (Die Braut von Messina, S. 255): »Ein Zentralbegriff der >Braut von Messi-
na< ist das Schicksal, und zwar [ .. ] vor allem im Sinne eines >Unglücks«<; vgl. auch S. 261.
78 NA 29. Bd., S. 15. - GA XX1280.
79 An Goethe vom 2. X. 1797 (NA 29. Bd., S. 141. - GA XX1435).
80 G. Storz: Der Dichter, S. 300. - Ähnlich Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie, S. 239.
- Dagegen spricht W. Wittkowski von Schicksalsmächten, als sei die Redeweise Wallen-
steins mit der Optik der Dichtung identisch. Vgl. besonders S. 408 des mehrfach erwähnten
Beitrags.
81 Vgl. H. A. Korff: »Ein vollkommenes Mißverständnis aber wäre es, das Schicksalsdrama in
diesem Sinne dem antiken Schicksalsdrama gleichzusetzen« (Geist der Goethezeit. Bd. 2, S.
249).
82 Die Diskussion zur »Nemesis« im Verständnis des Wallenstein-Dramas referiert Helmut
Koopmann (Friedrich Schiller. Stuttgart 1966, S. 44-45). Diese Diskussion wurde vor allem
durch Clemens Heselhaus gefördert, der ihr eine Fülle von Belegmaterial zugeführt hat (Die
Nemesis-Tragödie, in: DU, Heft 5, 1952, S. 40-59). Daß diese Deutung von ihrem Verfas-
ser später widerrufen worden sei, wird von Koopmann vermerkt. Am nachhaltigsten hat sie
Benno von Wiese vertreten: sowohl in seinem Tragödienbuch wie in seiner Schiller-Mono-
graphie. Der Eindruck könnte entstehen, als handle es sich um Einsichten der neueren
Forschung. Das ist nicht der Fall. Schon in Eugen Kühnemanns längst antiquiertem Werk
findet man sie belegt: »Auch die Wallensteintragödie ist ein einziges Gericht der Nemesis,
wie Buttler gelegentlich fast zu bewußt es ausspricht« (Schiller, S. 435). H. A. Korf! hat
diesen Begriff wieder aufgenommen: »Und diese Krankhaftigkeit [... ] ist durchaus kein
Versehen des Dichters, sondern die tragische Nemesis, die Wallenstein ereilt« (Bd. 2, S.
259). Ein rigoroser Verteidiger dieser Theorie ist W. Wittkowski, dem es wie anderen kaum
gelingt, den Begriff aus der Moralsphäre herauszuhalten. Er will es wohl auch nicht (Octa-
vio Piccolomini, S. 408ff.). Wittkowski argumentiert gegen Staiger mit der Auffassung:
»Der Nemesiszusammenhang verlangt keineswegs, daß der Gute belohnt [... ], sondern
lediglich, daß der Schuldige bestraft wird« (ebda, S. 411). Aber bestraft wird in der Komö-
die. Das Scheitern des tragischen Helden hat nichts mit Strafe zu tun - es sei denn mit
Schuld und Sühne! Strafe impliziert moralische Schuld. Die tragische Schuld verträgt sich
damit mehr schlecht als recht! Wie wenig die Nemesis eine tragische Nemesis ist, wurde
wieder und wieder offenkundig; denn es zeigte sich fast unvermeidlich, daß eine solche
Deutung dem Schema von Schuld und Sühne verhaftet bleibt: »so ist an diese erste Tragik
eine weitere sogleich gebunden: die innerlich ebenso notwendige Verknüpfung von Schuld
und Sühne«, heißt es bei Korf! (ebda, S. 256). Auch bei R. Buchwald (Schiller. Bd. 2, S.
342) findet sich der Begriff. Zur Kritik ist auf G. Storz zu verweisen: »Von der Übernahme
einer vorgegebenen Dramenform (etwa einer solchen, in der Schicksal und Nemesis konsti-
tuierende Kraft haben), kann also nicht im mindesten die Rede sein« (Der Dichter, S. 302).
Ähnlich Emil Staiger (Die Kunst der Interpretation, S. 145): »Wann hätte er [Schiller] aber
seit seiner Begegnung mit Kant im Ernst an dergleichen geglaubt?« - Daß es den Begriff
selbst im Text nicht gibt, ist so nebensächlich nicht. Allenfalls von Rache oder Rachegöttin-
nen ist die Rede. Zwischen Schillers »Meinung« und dem Glauben Wallensteins aber zu
unterscheiden, ist ein Leitmotiv dieser Betrachtung.
83 Ges. Werke. Bd. 7, S. 220.
84 An Goethe vom 2. X. 1797 (NA 29. Bd., S. 140. - GA XX1435).
85 Benno von Wiese spricht (im Anschluß an einen Terminus Emil Staigers) von der »reißen-
den Zeit« der ersten Akte (Schiller, S. 638).
86 Vgl. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung, Göttingen 1970,
S. 42: »Sowohl die vom Schicksal vorgezeichneten als auch die von Menschen entworfenen
Pläne bewirken mehr als bloßes zeitliches Nacheinander von Vorbereitung und Tat<<.
87 Ausgezeichnete Hinweise hierzu bei Paul Bäckmann (Schillers Don Karlos, Edition der
ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar. Stuttgart 1974), hier
Anmerkungen 323

vor allem in dem Kapitel »Zu den Quellen des Don Karlos«, S. 407ff. Die auf Sallust
zurückgehende Tradition wird eingehend beschrieben. Für Schillers Umgang mit den histo-
riographischen Werken dieser Richtung ist bezeichnend, wie das moralische Urteil zurück-
tritt gegenüber dem Versuch, in die Seele der Verschwörer einzudringen und ihre Motive zu
ermitteln.
88 Vgl. Paul Böckmann: Politik und Dichtung im Werk Friedrich Schillers. In: P. B.: Formen-
sprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation. Harnburg 1966, S.
268-282.
89 Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. 3. Aufl., FrankfurtlM. 1944. S. 138.
90 Die Einschränkungen, die gegenüber diesen und verwandten Etikettierungen zu machen
sind, habe ich in dem Beitrag über die Idee des neuen Lebens in Schillers »Wallenstein«
erörtert: The Discontinuous Tradition. Studies in German Literature in honor of Ernest
Ludwig Stahl. Ed. by G. F. Ganz. Oxford 1971, S. 79-99.
91 So O. Seidlin, S. 129: »Das ist das Ende der Wallensteinsehen Hybris<<.
92 Der Dichter, S. 285.
93 Geist der Goethezeit. Bd. 2, S. 242.
94 Ebda, S. 243.
95 Die Problematik des Tragischen im Drama Schillers hat Gerhard Fricke seinerzeit auch
damit begründet, daß es einen Konflikt im »Wallenstein« nicht gebe. Das entspricht einer
klassizistischen Theorie vorn Drama, die danach fragen läßt, welche Werke der deutschen
Klassik ihr eigentlich entsprechen. Schillers »Wallenstein« sicher nicht! Also ist das Werk
auch nicht nach Maßstäben zu beurteilen, die es nicht tangieren. Denn wo steht eigentlich
geschrieben, daß eine »richtige« Tragödie nur diejenige ist, die einen »richtigen« Konflikt
zur Grundlage hat? Nirgends und so nicht einmal im aristotelischen Regelbuch, kann die
Antwort nur lauten. - Wie sehr diese damals in Gang gesetzte Problematik aus deutschem
Klassizismus und Kierkegaardschem »Existenzialismus« deduziert worden ist, kommt uns
heute im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick auf. diese Diskussion zum Bewußtsein
(JbdFrDt. Hochstifts 1930, S. 3-69).
96 So auch G. Storz: »Wallenstein ist nurmehr Objekt des dramatisch-tragischen Vollzuges«
(Der Dichter, S. 275).
97 Vgl. B. v. Wiese (Deutsche Tragödie, S. 241): »das Erhabene des vorn Schicksal geschlage-
nen Menschen ... «
98 NA Xl8.
99 Hierzu J. M. R. Lenz: Anmerkungen übers Theater (Ges. Schriften, Bd. 4, Berlin 1909. S.
251): »Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart
... «
100 Vgl. Kurt Wölfet: Pathos und Problem, S. 166 (Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm): »Diese
Teilnahme geht bis zur offenbaren, wenn auch eventuell unbewußten Identifikation«.
101 NA 23. Bd., S. 79/80.
102 An Goethe vorn 28. Nov. 1796 (NA 29. Bd., S. 15. - GA XXl279f.).
103 Vgl. Gerhard Fricke: Schiller und die geschichtliche Welt. Straßburg 1943, S. 20.
104 Die aus der Theorie des epischen Theaters übernommene Diskreditierung der »Einfüh-
lung« macht sich Klaus L. Berghahn zu eigen, wenn er im pejorativen Sinne von »Einfüh-
lungsästhetik« spricht. Als ob es sie in der undifferenzierten Weise, wie sie beschrieben
wurde, je gegeben hätte! (Das Pathetischerhabene. In: Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm,
S.508).
105 Vgl. Wolfgang Binder: Aesthetik und Dichtung in Schillers Werk (Schiller. Hg. v. Berg-
hahn/Grimm, S. 228): »Er wird als zupackender Tatmensch angekündigt und tritt uns als ein
Schwankender und Unentschiedener entgegen«.
106 An Schiller vorn 18. III. 1799 (GA XXl691).
107 Sehr im Gegensatz zu W. Wittkowski (Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm, S. 459): »Dieser
höchsten Stufe des Tragischen kommen die beiden Piccolomini zumindest nahe, während
Wallenstein der untersten Stufe zuzuordnen ist«. Für diese These gibt es keine Begründung.
Die ironische Erhöhung zum Fürsten ist doch wohl nicht tragisch, und unser Interesse für
324 Anmerkungen

Max, unsere fühlende Anteilnahme, läßt eher nach, als daß sie zunimmt. So unbedingt, wie
er es meint, nimmt sich sein Verhalten sowohl aus der Sicht Octavios wie Wallensteins
wenigstens naiv aus. Im übrigen hat Schiller wohlweislich seine Trilogie nach derjenigen
Person benannt, die die einzige tragische Person des Dramas ist. Keine andere als Wallen-
stein!
108 Auf diese Stelle verweist vergleichend Fritz Martini in seiner Untersuchung über Wilhe1m
Tell und den aesthetischen Staat (Schiller. Hg. v. Berghahn/Grimm, S. 395).
109 Briefe über die aesthetische Erziehung (NA 20. Bd., S. 353).
110 Auf diese Aufhebung der Zeit macht O. Seidlin aufmerksam (Sein und Zeit, S. 130).
111 Weitere Belege bei I1se Graham: Schiller, ein Meister der tragischen Form. Darmstadt
1974, S. 108 ff.
112 Zur pädagogischen Bedeutung der Schönheit und aller ästhetischen Erziehung vgl. Gert
Ueding: Rhetorik und Ästhetik in Schillers theoretischen Abhandlungen. In: Friedrich
Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes. Hg. v. K. L. Berghahn, Kronberg 1975, S.
160.
113 Hierzu der aufschlußreiche Brief an Goethe vom 2. X. 1797. Schiller spricht von seiner
Rückkehr zur Arbeit am »Wallenstein« und von einer gewissen Trockenheit in der Behand-
lung des Stoffes. Er erklärt sie aus Furcht, »in meine ehemalige rhetorische Manier zu
fallen<<. Danach der Satz: »es ist daher hier nöthiger als irgendwo, wenn beide Abwege, das
Prosaische und das Rhetorische, gleich sorgfältig vermeiden werden sollen, eine recht reine
poetische Stimmung zu erwarten« (NA 29. Bd., S. 141).
114 NA 20. Bd., S. 134.
115 Ebda, S. 135.
116 G. W. F. Hege!: Über Wallenstein (Sämtl. Werke. Hg. v. H. G!ockner, Stuttgart 1930, Bd.
20, S. 456-458).
117 NA Xl8.
118 G. W. F. Hege!: Aesthetik. Hg. von F. Bassenge. Berlin 1955. S. 1038.
119 NA 20. Bd., S. 157.
120 Vorrede zur »Braut von Messina« (NA Xl13; der Begriff »Besonnenheit« wird S. 14 dieser
Ausgabe gebraucht).
121 An Schiller vom 9.111.1802 (GA XX1885).
122 Ähnlich F. Martini: »Denn dies meint doch das Tragische in Schillers Dichtung, daß der
Mensch in einer unauflöslich erscheinenden Paradoxie dann, wenn er handelt, um seine
Identität mit sich selbst zu bewahren und um seine Freiheit und Harmonie zu behaupten,
diese verlieren muß« (Wilhelm Tell: Der aesthetische Staat. In: Schiller, hg. v. Berghahn/
Grimm, S. 397).
123 Vgl. Gerhard Fricke: Die Problematik des Tragischen im Drama Schillers. In: Jahrb. d.
Freien Dt. Hochstifts. 1930, S. 3-Q9.
124 Im Hinblick auf die von Brecht für unüberbrückbar angesehenen Gegensätze, die erst im
epischen Theater ihre Starre verloren hätten; vgl. Anm. 4 dieser Arbeit.
125 Den Begriff »ästhetische Bildung« verwendet Schiller im Brief an den Herzog von Augu-
stenburg vom 11. XI. 1793 (Jon. 111, S. 378). Das abschließende Zitat aus der Vorrede zur
»Braut von Messina«: NA Xl8 (die Hervorhebung im Zitat zur Verdeutlichung des Gemein-
ten vom Verfasser).

Komik und Komödie in Goethes »Faust«

Die Entstehung dieses Beitrags ist einem Theatererlebnis zu danken: einer Aufführung des
»Faust« in Hamburg, hier in der denkwürdigen Inszenierung von Gustaf Gründgens. Der Beitrag
ist zuerst in dem von Hans Steffen herausgegebenen Band »Das deutsche Lustspiel« erschienen:
Erster Teil. Göttingen 1968, S. 94-119. Daß er hier erscheinen konnte, ist der großzügigen
Denkweise des Herausgebers zu danken, dem Tenor des eigenen Beitrags entsprechend, der
dahin zielt, jedem starren Begriff von Klassik entgegenzuwirken. Eben darum ist es auch Werner
Anmerkungen 325

Keller in seinem Weimarer Vortrag zu tun: Der klassische Goethe und sein nicht-klassischer
Faust (Goethe-Jahrbuch. Bd. 95, 1978, S. 9-28). Die Kapitelüberschrift, die sich auf die hier
versammelten Studien über »Wallenstein« und »Faust« bezieht, wurde absichtlich und in Über-
einstimmung mit der Formulierung Werner Kellers gewählt. Im übrigen wäre es ein aussichtslo-
ses Unterfangen, neuere Faustliteratur aus Anlaß dieses Wiederabdrucks anzuführen oder gar
einzuarbeiten. Nur weniges sei genannt. Voran der höchst anregende Aufsatz Hans Mayers, der
es mit der zentralen Szene der hier in Frage stehenden Thematik zu tun hat: Der Famulus Wagner
und die moderne Wissenschaft (Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, hg. von
H. Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 176-2(0); hier findet sich (S. 181) der bedenkenswerte Hinweis:
»Auch an der Figur des Famulus läßt sich der Hinweis von Karl Marx demonstrieren, daß alle
Erscheinungen der Geschichte in doppelter Gestalt auftreten: Zunächst ernsthaft verstanden,
als Tragödie, dann aber, nach Zeitablauf als Anachronismus, in komischer Verzerrung«; und
genannt sei aus gegebenem Anlaß ferner die 1970 erschienene Studie zu Faust 11 mit dem aus der
Dichtung entlehnten Titel »Diese sehr ernsten Scherze« von Herman Meyer (Heidelberg 1970).
Auch im Buch von Ehrhard Bahr. (Die Ironie im Spätwerk Goethes »und diese sehr ernsten
Scherze ... «. Studien zum West-östlichen Divan, zu den »Wanderjahren« und zu »Faust 11«.
Berlin 1972) wird er verwandt. Hier wird sehr nachdrücklich die Ironie betont - als ein Interpre-
tationsmedium, das dazu dient, die Einheit des Werkes auf höherer Ebene wiederherzustellen.
Ausschließlich dem ersten Teil sind die umfassenden Untersuchungen Paul Requadts gewid-
met, der den eigenen Beitrag in dem Kapitel über die verschiedenen Vorspiele zur Faustdichtung
nennt (Goethes Faust I. Leitmotivik und Architektur. München 1972). Auch Hans Joachim
Schrimpf tut dies in seiner vorzüglich einführenden Interpretation (in dem von Harro Müller-
Michaels herausgegebenen Band »Deutsche Dramen« Bd. 1. Königstein 1981, S. 87-127).
Schließlich sei auf zwei Bücher neuesten Datums hingewiesen: auf Albrecht Schönes »Neue
Einblicke in alte Goethe-Texte«, wie der Untertitel seines Buches »Götterzeichen, Liebeszauber ,
Satanskult« lautet (München 1982). Hier geht es im zweiten Teil (des Buches) um die Walpurgis-
nachtszenen vor allem, die überraschend neu gesehen und gedeutet werden. Das zweite Buch,
gleichfalls neuesten Datums, ist dasjenige von Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil. Die Allegorie
des 19. Jahrhunderts (Stuttgart 1981). Von seinem Thema her geht es dem Vf. um die zentrale
Stellung der Allegorie - nicht der Symbolik! Daß in der Geschichte allegorischer Dichtung
komische Züge zugelassen werden, wird als neuartig angesehen. Eine Auseinandersetzung mit:
der großzügig gefaßten Deutung der Allegorie als Darstellung umfassend verstandener Waren--
und Geldbeziehungen würde, vereinfachend gesagt, einfach zu weit führen. - Der vorliegende
Aufsatz erscheint, von geringfügigen Veränderungen abgesehen, unverändert.

1 Johannes Pfeiffer: Goethes Faust. Eine Einführung, Bremen 1946, S. 7. - Ähnlich Benno
von Wiese (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 3. Aufl., Hamburg 1955, S.
128): »Noch 1808 - der versöhnliche Ausgang des >Faust< stand längst eindeutig fest - hat
Goethe seine Dichtung ausdrücklich eine Tragödie genannt. Wir haben keinen Grund, an
dem Ernst dieser Bezeichnung zu zweifeln.«
2 Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962,
S.9.
3 Henning Brinkmann: Zwischen Prometheus und Luzifer. Über den Sinn der faustischen
Existenz. In: Goethe' yi anma yazilari, Istanbul 1950, S. 186 (zitiert bei H. Schwerte, S. 10).
4 Die deutsche Tragödie, S. 128.
5 Vgl. neuerdings über den »GroB-Kophta« besonders Fritz Martinis Untersuchung »Goethes
>verfehlte< Lustspiele« »Die Mitschuldigen« und »Der GroB-Cophta«. In: Natur und Idee.
Andreas Bruno Wachsmuth zugeeignet. Weimar 1966, S. 164/200.
60skar Seidlin: Ist das »Vorspiel auf dem Theater« ein Vorspiel zum »Faust«? In: Von
Goethe zu Thomas Mann, Göttingen 1963, S. 57.
7 Vgl. Max KommereIl (Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt/M. 1943, S. 19): »Der
Prolog im Himmel setzte Gott und Teufel verblüffend derb in einer Art himmlischem
Haushalt gegeneinander ... «
7a Vgl. E. Staiger (Goethe, 1. Bd., S. 222): »Kein Zweifel, etwas von diesem Teufel gehört in
326 Anmerkungen

die komische Tradition, die von den Fruchtbarkeitsdämonen, den animalisch-geilen Gesellen
der vorliterarischen Komödie bis zum Hanswurst und Arlecchino reicht. Goethe hat denn
auch später Mephisto, mit vollem historischen Recht, als den Narren in seiner Tragödie
aufgefaßt. Er ist die komische Figur mit allem Zubehör ... «
8 Geist und Buchstabe, S. 45.
9 Ebda.
10 Zur Stoffgeschichte vgl. Charles Dedeyan: Le theme de Faust dans la litterature europeen-
ne, 3. Bd. Paris 1954/56.
10a »Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute, am Sonntagabend, alles
besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf Schuh hoch über dem Fußboden, auf dem Doppeltschil-
lingsplatze. Die Talglichter brannten in den Blechlampetten, der Stadtmusicus und seine
Gesellen fiedelten; der Vorhang rollte in die Höhe.
Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen Folianten saß
im langen schwarzen Talar der Doktor Faust und klagte bitter, daß ihm alle seine Gelehr-
samkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe, und vor Schulden
wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er denn jetzo mit der Hölle sich verbinden - >Wer ruft
nach mir?< ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme von der Wölbung des Gema-
ches herab. - >Faust, Faust, folge nicht!< kam eine andere feine Stimme von der Rechten.-
Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. - >Weh, weh deiner armen Seele!< Wie
ein seufzender Windeshauch klang es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte
eine gellende Lache durchs Gemach. - - Da klopfte es an die Tür. >Verzeihung, Euere
Magnifizenz?< Fausts Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die grobe Hausar-
beit die Annahme eines Gehülfen zu gestatten, damit er sich besser aufs Studieren legen
könne. >Es hat sich<, sagte er, >ein junger Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heißt
und gar fürtreffliche Qualitäten zu besitzen scheint<. - Faust nickte gnädig mit dem Kopfe
und sagte: >Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei Euch gewährt<. Dann gingen beide mit
einander fort. - -
>Pardauz!< rief es; und da war er. Mit einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, daß ihm
das Felleisen auf dem Buckel hüpfte.
-- >Gott sei gelobt!< dachte ich; >er ist noch ganz gesund; er springt noch ebenso wie vorigen
Sonntag in der Burg der schönen Genoveva!< Und seltsam, so sehr ich ihn am Vormittage in
meinen Gedanken nur für eine schmähliche HoIzpuppe erklärt hatte, mit seinen ersten
Worten war der ganze Zauber wieder da« (Theodor Storm, Sämtliche Werke, Leipzig 1924,
Vierter Band. S. 49150).
11 »Dem alten, auf die ältere von Faust umgehende Fabel gegründeten Puppenspiel gemäß«
HA 111/435.
12 GA VII1/526. - HA VII1/488.
13 Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil, zehntes Buch (GA X/453). - HA IX/413.
14 Hierzu Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960.
15 Vgl. Hanna Fischer-Lamberg: Zur Datierung der ältesten Szenen des Urfaust. In: ZfdtPh 76
(1957), S. 379-406.
16 Emil Staiger: Goethe, Zürich I, 1952, S. 243.
17 Jacob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte Schriften. Berlin 1909. 4. Bd., S. 380.
18 Hierzu Fritz Martinis Hinweise zum »Groß-Kophta« als einem ursprünglich geplanten
Opernlibretto; vgl. Anm. 5.
19 »Wenn wir es unternehmen wollen, Lustspiel und Trauerspiel nach dem Maas der erreich-
ten Wirkung zu schätzen, so würde vielleicht die Erfahrung dem ersten den Vorrang geben«
(Schillers Werke. Nationalausgabe, 20. Bd., Weimar 1962, S. 94/95).
20 Ebda, S. 446.
21 21. Bd., S. 92/93.
22 GA XIV/61.
23 Fritz Martini: Goethes »verfehlte« Lustspiele, S. 198.
24 In dem Beitrag: »Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort« (GA XVII
881). - HA XI1I/39.
Anmerkungen 327

25 GA X1/84. - HA XIl77.
26 »Und nun von den Umständen, und wie artig, ohne Prunk, wie natürlich alles zugeht ... «
(GA XI/82. - HA XIl75).
27 GA XI/I03. - HA XI/95.
28 GA Xl/81. - HA XI175.
29 Hierzu Oskar Seidlin: Goethes Zauberflöte, in: Von Goethe zu Thomas Mann. Göttingen
1963. S. 38--55.
30 Die Frage, wie Goethes »Faust« beginnt, ist noch weithin kontrovers. Daß sie zugunsten des
Gedichts »Zueignung« beantwortet werden kann, soll in anderem Zusammenhang ausführ-
lich begründet werden, zum Teil in Übereinstimmung mit Stuart Atkins und Paul Stöcklein,
die sich an dieser Diskussion beteiligt haben: O. Seidlin: Ist das >>Vorspiel auf dem Theater«
ein Vorspiel zum »Faust«? Zuerst erschienen in englischer Sprache: PMLA 64 (1948), S.
462-470; St. Atkins: A reconsideration of some unpreciated aspects of the prologues and
early scenes in Goethes Faust. In: MLRev. 47 (1952), S. 362-373. - D. J. Enright: The
prologues to Goethe's Faust, and the question of unity. Ebda 48 (1953), S. 189-193. -
St. Atkins: The prologues to Goethe's Faust, and the question of unity: a partial reply. In:
ebda, S. 193ff. - P. Stöcklein: Wie beginnt und wie endet Goethes »Faust«? In: Literatur-
wiss. Jahrbuch. Im Auftrage der GÖrres-Gesellschaft. NF III, 1962, S. 29-52.
31 Goethe, 2. Bd., Zürich 1956, S. 325.
32 Geist und Buchstabe, S. 19.
33 Die Symbolik von Faust 11. Sinn und Vorformen. 2. Auf!. Bonn 1957.
34 Für Emrich stellt sich das Erlebnis des Römischen Karnevals als eines höchsten Symbols in
der Rangordnung der Kunst- und Natursphären als ein Erlebnis dieser spätesten Zeit, um
1820, dar. Dagegen sprechen die Niederschriften der »Italienischen Reise«, die wir zitierten.
35 WA 11, 6. Bd., S. 132. - GA XVII/85.
36 Ebda, S. 131. GA XVII/85. - Vgl. hierzu auch W. Emrich, S. 141.
37 Geist und Buchstabe, S. 24 f.
38 Hugo von Hofmannsthai, Prosa IV, S. 43.

Hölderlins Ode »Dichterberuf«


Zum schriftstellerischen Selbstverständnis um 1800

Der vorliegende unveröffentlichte Beitrag stellt die erste in dieser Form konzipierte Ausarbei-
tung des behandelten Themas dar, von der nachträglich eine erheblich kürzere Fassung für die
im Redam-Verlag von Wulf Segebrecht herausgegebene Sammlung von Interpretationen zur
Lyrik im Zeitalter der deutschen Klassik hergestellt wurde. Auf den Anmerkungsteil war in der
kürzeren Fassung zu verzichten. Die Zahlen in Klammern bezeichnen Band und Seitenzahl der
Stuttgarter Ausgabe.
1 Walter F. Otto: Die Berufung des Dichters. In: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100.
Todestag. Hg. von Paul Kluckhohn. Tübingen 1944, S. 203.
2 Man vergleiche die in die Vorrede zum 6. Band aufgenommenen Sätze: »mit der innigeren
und einseitigeren leidenschaftlicheren Hingabe [... ] ist er ausschließlicher als Pindar oder
Sappho, menschlicher und erfüllter als irgendein Prophet, Platoniker oder Gnostiker, ganz
und nur Verkünder, Träger, Gefäss der Götter. Er bekleidet ein Amt, das sie ihm auferlegt
haben, eine Gesandtschaft, und das ist alles, ist das Ganze: Amt, Gesandtschaft, Botschaft«
(6. Bd. Berlin 1923, S. XIII).
3 Guido Schmidlin (Hölderlins Ode: Dichterberuf. Eine Interpretation, Berlin 1958, S. 42):
»Nichts scheint gegenwärtig dringender, als daß die Hölderlindiskussion sich entschieden
von der religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Ebene weg und zur literatur-
wissenschaftlichen hinwende.«
4 Das auf Klopstock zurückgehende Dichterideal von Hölderlin bis Rilke behandelt Walther
Rehm in seinem umfassenden Buch: Orpheus. Der Dichter und die Toten. Düsseldorf 1950,
S. 153/54.
328 Anmerkungen

5 Diese zweifache Bedeutung hat W. Rehm erfaßt und beschrieben; vgl. S. 162: »Beruf wird
zur Berufung, die bei allem Wandersinn [... ] bei aller Beruflosigkeit im Irdischen selbst den
Angerufenen und vom Ruf Betroffenen in die Mitte seines Daseins fordert«. - Adelungs
»Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart« (Hildesheim 1970, Bd.
I, Sp. 880) führt unter Beruf als erstes die Handlung des Berufens an: »Eigentlich, in
welcher Bedeutung dieses Wort aber nur von dem feyerlichen Rufe zu einem Amte ge-
braucht wird«; danach dann die »alltäglichen« Bedeutungen. Das Wort »Dichterberuf« ist
noch nicht registriert.
6 Schillers Werke. Nationalausgabe. 20. Bd. Weimar 1962, S. 448.
7 Den glücklichen Begriff des Hintergrundwissens im Auslegen literarischer Texte hat Wolf-
gang Stegmüller gebraucht. Der Zirkel des Verstehens. In: Natur und Geschichte. X. Kon-
greß für Philosophie. Hg. von K. Hübner und A. Menne. Hamburg 1973, S. 39.
8 So auch sieht es Lawrence Ryan: »Hölderlins Auseinandersetzung mit Sinclair ist auch in
den Roman eingegangen: in der Ode >An Eduard< wird Sinclair als zu kühnen Taten hinrei-
ßender Bruder angeredet« (Hölderlin und die Französische Revolution. In: Deutsche Lite-
ratur und Französische Revolution. Göttingen 1974, S. 131).
9 Werner Kirchner: Hölderlin. Aufsätze zu seiner Homburger Zeit. Göttingen 1967, S. 32. Die
Sicherheit, mit der Kirchner das Kriegsgeschehen auf Napoleon bezieht und durch ihn
gerechtfertigt sieht, ist bestreitbar und umstritten. Er schließt in das, was nicht zweifelhaft
sei, den Krieg des ersten Konsuls ein und fährt fort: »Wir denken an den überwältigenden
und entscheidenden Sieg Bonapartes bei Marengo im Juni 1800 ... «
10 So gleich im einleitenden Satz seines ohne Frage wichtigen Beitrags: ebda, S. 7.
11 Ebda, S. 9.
12 Vgl. hierzu Erik Wolf" Vom Wesen des Rechts in deutscher Dichtung. Frankfurt 1946,
S. 9--60.
13 Aufschlußreiche Erläuterungen Adolf Becks zu diesem Brief (vom 14. März 1798) in VIJ
867.
14 Darauf verweist überzeugend Gregor Thurmair: Einfalt und einfaches Leben. Der Motivbe-
reich des Idyllischen im Werk Hölderlins. München 1980, S. 196.
15 Pau! de Man: Hölderlins Rousseaubild. In: HJb 1967/68, S. 19l.
16 So Friedrich Beißner in seiner Auslegung der Ode »Dichterberuf«: »Ein hoher Anspruch
wird hier an den Dichter gestellt. Sein Tun wird verglichen mit dem Siegeszug des Freuden-
gotts nach Indien [... ] nur dem Dichter wird das nämliche Recht auf Eroberung zugestan-
den« (HJb 1951, S. 9). Aber in welchem Sinne können denn wohl Dichter Eroberer sein?
Das bleibt unaufgeklärt; daher muß sich Beißner gegen Ende des Gedichts über Einfalt und
Demut des Dichters wundern: »So gar nicht als Eroberer gibt sich der Dichter hier« (S. 13).
Auch J. Rosteutscher läßt es in diesem Punkt an Aufklärung und Erklärung fehlen (Hölder-
lins Ode »Dichterberuf« und die Frage der Auffassung vom Beruf des Dichters überhaupt.
In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt Jb. 1962, 62-75).
17 Walther Rehm: Orpheus, S. 226.
18 So Momme Mommsen: »Der Eroberungszug des Dionysos, der den Gott in fernste Länder
führte, wurde für Hölderlin von nun ab das bevorzugte Sinnbild überhaupt für das Wesen
entscheidender geistiger Revolutionen« (Dionysos in der Dichtung Hölderlins. In: GRM.
NF XIII (1963), S. 348).
19 Vgl. den Brief vom 12. FebL 1798. »Die Cisrhenaner werden nächstens, wie man hofft,
lebendiger und reeller republikanisch seyn. Besonders soll in Mainz dem militärischen Des-
potismus [... ] nun bald gesteuert werden« (VI/265).
20 Werner Kirchner ist überzeugt, diese Wendung besage keineswegs, »daß Hölderlin in dem
Ereignis des 18. Brumaire einen niederschmetternden Eindruck empfing« (Hölderlin, S.
126); der Ausdruck »Dictator« sei nicht unbedingt pejorativ aufzufassen. Ähnlich Adolf
Beck in seinen Erläuterungen (VI/993). Anders Friedrich Beißner in seinem Vortrag über
die Ode »Der Frieden« (Hölderlin Reden und Aufsätze. Weimar 1961, S. 96 und S. 195).
Gerhard Kurz läßt nicht die geringsten Zweifel daran, daß mit dem Postscripturn Abstand-
nahme ausgedrückt ist: »In einer Lakonie, deren Kälte die Verzweiflung schon hinter sich zu
Anmerkungen 329

haben scheint, zieht Hölderlin das Fazit der Hoffnungen«; es folgt das in Frage stehende
Zitat (Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolu-
tion bei Hölderlin. Stuttgart 1975, S. 132).
21 Mittelbarkeit und Vereinigung. S. 132/33.
22 An dieser Stelle ApolIon, den Gott der Dichter, ins Spiel zu bringen, wie Walther Rehm
(Orpheus, S. 226) es tut, ist nicht anzuraten, weil ihn Hölderlin nicht nennt und weil zum
Gott der Freude eine zweite griechische Gottheit hinzukäme, auf die es nicht ankommt.
23 Vgl. die Deutung M. Heideggers: »Heimkunft«. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung.
Frankfurt 1951, S. 28f.
24 Vgl. Adolf Beck: Hölderlin und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Die Anfänge des
hymnischen Stiles bei Hölderlin. Iduna. Jahrbuch der H.-Gesellschaft 1944, S. 88-113.
25 Hierzu M. Mommsen: Dionysos. S. 349.
26 Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk. In: HJb 1967/68, S. 129.
27 Ebda, S. 156.
28 Ebda, S. 133.
29 Ebda, S. 133. - Die Wendung von den Titanenkämpfen in Friedrich Beißners Erläuterun-
gen zum Entwurf: II/861.
30 Der Begriff des Zorns (S. 131) über Kreon, der die Edikte absolut setze.
31 Daß jetzt von einer bestimmten Art von Dichtern gesprochen wird, muß nicht ausschließen,
daß es sie im Verständnis Hölderlins seit je gibt, wie es die Kurzode »Die scheinheiligen
Dichter« bezeugt.
32 Klopstock's Ges. Wk. hg. von F. Muncker, München und Stuttgart o.J. IV/314. - Walther
Rehm hat auf diese Verse aufmerksam gemacht und sie zitiert: Orpheus, S. 172: desgleichen
A. Beck in den Erläuterungen zum Neujahrsbrief: VI/913 - hier mit dem Hinweis, die
Bemerkung richte sich gegen die Tabuierung des Spieltriebs als Grundlage künstlerischen
Schaffens in Schillers Briefen: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Aber daß
Hölderlins Polemik gegen Schillers Ästhetik gerichtet sei, ist mehr als fraglich. Nicht nur
bezeichnet er das eigene dichterische Tun gelegentlich als süßes Spiel wie in der Ode »An
die Parzen« (1/241). Auch im Brief selbst wird ja nicht geleugnet, daß die Poesie als Spiel
erscheint, ohne es freilich zu sein. Im übrigen dürfte Hölderlin Schillers Ernst im Verständ-
nis von Dichtung kaum entgangen sein: das Wort Dichterberuf wird mit Beziehung auf
Voltaire gebraucht, weil dieser es am Ernst des wahren Dichters fehlen ließ; vgl. Anm. 6.
33 Hölderlin, S. 19f.
34 An der Wissenschaftskritik der Ode »Dichterberuf« sind die Interpreten der »älteren Schu-
le« vielfach vorbeigegangen. Walter F. Otto und Friedrich Beißner sparen sie nahezu völlig
aus. Nicht so Gisela Schneider-Herrmann, wenn sie S. 16 ihrer Schrift bemerkt, daß Hölder-
lin in diesen Strophen den wissenschaftlichen Empirismus seiner Zeit angreife. Ausführlich
befaßt sich Jochen Schmidt mit der auf die Astronomie bezogenen Aussage in ihrer wissen-
schaftsgeschichtlichen Bedeutung (Hölderlins später Widerruf. Tübingen 1978, S. 49). Er
führt aus: »Die Verurteilung des non religiose quaerere ist genau der Kern von Hölderlins
Versen in der Ode >Dichterberuf<, die hier allerdings auf dem Hintergrund der heraufkom-
menden modernen Wissenschaft einen anderen historischen Stellenwert gewinnt.« Wolf-
gang Binder sieht in dem Vers, der vom Zählen und Nennen der Sterne handelt, eine
Anspielung auf Psalm 147,4: »Hölderlins Namenssymbolik« in seinem Buch: Hölderlin-
Aufsätze. Frankfurt 1970, S. 147. - Für Hinweise danke ich Jochen Schmidt.
35 Hier zitiert nach der Ausgabe von Max Hecker mit einem Nachwort von Isabella Kuhn:
Insel-Taschenbuch, Frankfurt 1970, S. 89.
36 GA XXIV/190.
37 Auf die Astronomie und auf Sternbilder in Hölderlins Dichten und Denken geht Paul
Bäckmann in seinem frühere Studien zusammenfassenden Vortrag ein: »Über eine Frage
Hölderlins: >Saget, wie bring ich den Dank?< In: Jahrb. d. dt. Schillergesellschaft. Jg. XXIV
(1980), S. 189. - Über Hölderlins Bekanntschaft mit der Astronomie im Tübinger Stift und
über das Bild der exzentrischen Bahn. Vgl. die Erläuterungen Adolf Becks zum erwähnten
Brief (VI/594).
330 Anmerkungen

38 Der Vers ist schon in den Schlußstrophen der ersten Fassung vorhanden, aber mit Verände-
rungen und in einem anderen Kontext als jetzt. Von Listen ist nicht die Rede. Es wurde nur
gesagt, daß es keiner Würden und keiner Waffen bedarf, so lange der Gott uns nahe bleibt.
Das kann auf den erwarteten Frieden bezogen werden. Eine Kritik ist es nicht (II/485).
39 In seiner Kritik an B. Allemanns These vom Widerruf des MittIeramtes geht Walter Hof auf
die umstrittene Schlußwendung ein. Er versteht Fehl als Schwinden und Ausbleiben der
Götter (HJb 1958/60), so auch DetIev Lüders in seinem Kommentar. Diese Fassung mache
Ernst damit, daß der Gott fehle. »Dennoch hilft sein Fehlen, da die eherne Wiege der
götterlosen Zeit, die Not, stark machet« (Sämtl. Ged. Bd. I, S. 213). Ganz anders F. Beiß-
ner!
40 HJb 1951, S. 15.
41 So von Paul Bäckmann (Hölderlin und seine Götter, S. 325): »Das Göttliche kann auch die
Götterferne zulassen«.
42 Das tut Walter Hofin einer reichlich unbestimmten Art: »Fehlt aber diese schützende, die
Begegnung mildernde, die göttliche Kraft verteilende Gemeinschaft, so soll man sich auch
nicht vor der einsamen Begegnung mit der Gottheit fürchten. Man braucht sich weder
gegen sie zu wappnen, noch listig ihr auszuweichen.« (ebda, S. 157).
43 Hölderlin zu entsprechen, S. 6.
44 Friedrich Beißner in: HJb (1951), S. 16.
45 Vgl. Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Dichtung/Sprache/Gesellschaft. Akten des
IV. Internationalen Germanistenkongresses 1970 in Princeton. Hg. von Victor Lange und
Hans-Gert Roloff, Frankfurt 1970, S. 439-455.
46 Hugo von HofmannsthaI: Prosa 11. Hg. von H. Steiner (1951), S. 280.
47 Walther Rehm: Wirklichkeitsdemut und Dingmystik. In: Der Dichter und die neue Einsam-
keit. Göttingen 1969, S. 78-152.
48 Gisela Schneider-Herrmann, S. 19.
49 Vgl. Jochen Schmidt im 3. Kap. seiner oben genannten Arbeit: ebda, S. 153 f.
50 »Dariiber hinaus offenbart das Bekenntnis wieder die tief tragisch gewordene Situation
Hölderlins in Frankfurt« (VI/867). Guido Schmidlin handelt in seiner Schrift »Dichterbe-
ruf« über Hölderlins Konzeption des Dichterberufs als ein Beitrag zur Theorie der Tragö-
die.
51 Wolfgang Binder: Hölderlin und Sophokles. In: HJb 16 (1969170), S. 21. Jetzt in der Aufsatz-
sammlung des Verfassers: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur. Zürich und Mün-
chen 1976, S. 263.

Kleists »Penthesilea« im Kontext der deutschen Klassik

Zuerst veröffentlicht in: Kleists Dramen, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1981, S. 114--171.
1 Heinrich von Kleist, Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, hg. von
Helmut Sembdner. Bremen 1957, S. 184.
2 Lebensspuren, S. 211.
3 Ebda, S. 117.
4 Ebda, S. 187.
5 GA XIX/536.
6 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, hier zitiert
nach der dritten, vermehrten und revidierten Auflage. München 1964. Bd. 11, S. 805.
7 Die Unterschiede der Alterskunst zur »Dichtung seiner antik-klassischen Epoche« hat Paul
Hankamer als einer der ersten in der neueren Forschung herausgearbeitet: Spiel der Mäch-
te. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1947; die oben zitierte
Wendung auf S. 63.
8 Den Begriff gegenklassische Wandlung gebraucht Hans Pyritz im Vorwort zu seiner biogra-
phischen Studie über Marianne von Willemer (Stuttgart 1943, S. 1).
Anmerkungen 331
9 Hierzu Katharina Mommsen (Kleists Kampf mit Goethe. Heidelberg 1974, S. 29): »Seine
Winckelmann-Schrift von 1805 hatte den Künstlern einen ganz anderen Weg gewiesen: den
der reinen Klassik. Die romantische Bewegung stellte Goethe jetzt - so schien es - in Kleists
neuem Werk eine scharfe Antithese gegenüber. Zum Verhältnis Kleists zu Goethe vgl. auch
Bernhard Blumes Aufsatz, jetzt in: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, hg. von
W. Müller-Seidel. Darmstadt 1967, S. 130--185.
10 GA XII1!417. - HA XI1!98.
11 Lebensspuren, S. 160ff. - Die Frage, wie antik oder unantik Kleists Tragödie sei, ist in
neuerer Zeit sehr unterschiedlich beurteilt worden, und nicht in jedem Fall wurde Goethe
in solchen Vergleichen die Krone zuerkannt; vgl. das Urteil des klassischen Philologen Kar!
Heinemann in seinem Buch »Die tragischen Gestalten der Griechen in der Weltliteratur«.
Leipzig 1920, Bd. I, S. 89: »Noch eher dürfte Kleists Penthesilea griechischen Geist atmen,
als Goethes Iphigenie oder seine Pandora«.
12 Unter den Zeitgenossen hatte der schon genannte Friedrich von Gentz das Unantike des
Werkes betont; vgl. Lebensspuren, S. 161. Aber noch für Gundolfsteht das Drama außer-
halb jeder Norm - »ohne Anteil an den Gesetzen und Ideen des bisherigen Menschentums«
(Heinrich von Kleist. Berlin 1924, S. 108).
13 Davon handelt Bernhard Bäschenstein in seinem Beitrag »Die Bakchen des Euripides in der
Umgestaltung Hölderlins und Kleists«. (Aspekte der Goethezeit, hg. von Stanley A. Corn-
gold, M. Curschmann und Tb. J. Ziolkowski. Göttingen 1977, S. 240--254); ausgezeichnete
Hinweise bei Jochen Schmidt (Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfah-
rensweise. Tübingen 1974), vor allem in dem Kapitel ,>Entscheidende Wirkung des Euripi-
des auf die Penthesilea. Kleist und Euripides. S. 234-241. - Ferner Volker Klotz: Tragödie
der Jagd. In V. K.: Kurze Kommentare zu Stücken und Gedichten. Darmstadt 1962,
S. 14-21. Zu den »Bakchen« des Euripides vgl. den Beitrag von Kjeld Matthiessen in dem
von G. A. Seeck herausgegebenen Band »Das griechische Drama« (Darmstadt 1979, S.
141): »Diese Szenen bilden die in ihrer Unmittelbarkeit grauenvollste Vergegenwärtigung
des Geschehenen. Als Agaue auftritt, ist sie noch von dionysischem Wahnsinn erfüllt. Sie
glaubt mit eigenen Händen einem Löwen das Haupt abgeschlagen zu haben und rühmt sich
dieser Tat vor dem Chor.«
14 Worauf vor allem J. Schmidt, S. 235, aufmerksam macht: »Die mit Abstand wichtigste
>Quelle< der Penthesilea ist der Hippolytos des Euripides.«
15 Zur Metaphorik der Jagd vgl. Robert Labhardt: Metapher und Geschichte. Kleists dramati-
sche Metaphorik bis zur ,Penthesilea< als Widerspiegelung seiner geschichtlichen Position.
Kronberg 1976, S. 235 ff. - Albrecht Sieck: Kleists Penthesilea. Versuch einer neuen Inter-
pretation. Bonn 1976; vor allem S. 52ff: »Das Bild von der entkoppelten Dogge«. Der
mänadische und dionysische Charakter der »Penthesilea« wird im Sinne der »Bakchen«
S. 217 betont.
16 In Übereinstimmung mit Bernhard Bäschenstein, S. 250: »Seine Form der Ekstase fand
Kleist in den Bakchen verwirklicht. Aber er handelt nie explizit von Dionysos als einer
faßbaren, vom Menschen unterschiedenen Gottheit«.
17 Schiller an den Herzog von Augustenburg vom 13. Juli 1793: »Die Aufklärung, deren sich
die höhern Stände unsers Zeitalters nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur
und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung,
daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbniß in ein System zu bringen, und unheilbarer zu
machen« (Schillers Briefe, hg. von F. Jonas, Bd. I1I, S. 334).
18 »Und sieh, was deine rednerische Kunst [... ] bei ihm vermag« (V. 228f), sagt bezeichnen-
derweise Odysseus; wie er es denn auch ist, der sie an anderer Stelle erneut ins Spiel bringt:
»Nun, so versuch doch / Jetzt deine Rednerkunst, 0 Antiloch!« (V. 623/4). Es ist keine
Frage, daß sich hier aus Kleists Sicht Rhetorik als Kritik der Rhetorik versteht, wie es auch
sonst in der Goethezeit der Fall ist.
19 Vgl. hierzu vor allem die wichtige Studie Gerhard Kaisers, sicher die bedeutendste, die
Kleists Text in neuerer Zeit gewidmet wurde: Mythos und Person in Kleists Penthesilea, in:
G. K.: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen
332 Anmerkungen

Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 209-239. Hier geht es unver-
kennbar um eine Herabstufung des Griechenstaates gegenüber dem Staat der Amazonen.
Wenn K. freilich den Krieg der Griechen »ein sinn- und zielloses Gemetzel« nennt, so bleibt
hinzuzufügen, daß es im Staat der Amazonen nicht viel sinnvoller zugeht.
20 Vgi. V. 1957-1961: »Ein Staat, ein mündiger sei aufgestellt,
Ein Frauenstaat, den fürder keine andre
Herrschsüchtige Männerstimme mehr durchtrotzt,
Der das Gesetz sich würdig selber gebe,
Sich selbst gehorche, selber auch beschütze ... «
Die Stellung der Frau im Sinne einer sich anbahnenden Emanzipation ist von Kleists »Pen-
thesilea« her nur mit Vorsicht und Vorbehalt begründbar. Sicher sind die mehr als traditio-
nellen Auffassungen des jungen Kleist in diesem Zusammenhang unerheblich, wenn es in
einem Brief vor der Kantkrise heißt: »Der Mann ist nicht bloß der Mann seiner Frau, er ist
auch ein Bürger des Staates ... die Frau hingegen hat keine andern Verpflichtungen, als
Verpflichtungen gegen ihren Mann« (I1/507). Auffassungen wie diese sind für den Dichter
kaum noch relevant. Andererseits bestätigen die aus der »Penthesilea« interpretierbaren
Begriffe von Weiblichkeit und Mutterschaft eher die traditionellen Rollen der Geschlech-
ter, als daß sie widerlegt würden; und die Äußerungen gegenüber Marie von Kleist vom
Spätherbst 1807 hören sich nicht gerade frauenfreundlich an: »Für Frauen scheint es [das
Drama] im Durchschnitt weniger gemacht als für Männer [... ] Wenn man es recht unter-
sucht, so sind zuletzt die Frauen an dem ganzen Verfall unsrer Bühne schuld, und sie sollten
entweder gar nicht ins Schauspiel gehen, oder es müßten eigne Bühnen für sie, abgesondert
von den Männern, errichtet werden« (IIn96). Doch bleibt anzumerken, daß Kleist den
Mythos umfunktioniert: nicht Penthesilea wird getötet, sondern AchilI, so daß sie zur
tragischen Person erhöht werden kann. - Zur Stellung der Frau bei Kleist und in der
Literatur um 1800 ist auf den Beitrag Helmut Kreuzers zu verweisen: Die Jungfrau in
Waffen. Hebbels ludith und ihre Geschwister von Schiller bis Sartre, in: Untersuchungen
zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, hg. von V. Günther u. a.
Berlin 1973, S. 363-384.
21 G. Kaiser leitet seinen schon genannten Aufsatz mit Sätzen Bachofens ganz in dessen Sinne
ein. Aber zur Begründung des qualitativ höheren Staates der Amazonen sollte man schon
aus Gründen der Chronologie mit Bachofens mutterrechtlichen Ideen nicht argumentieren,
weil sehr zweifelhaft bleiben muß, ob sie Kleists Denken wirklich entsprechen.
22 So vor allem Gerhard Fricke: sowohl in seinem grundlegenden Buch (Gefühl und Schicksal
bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des
Dichters. Berlin 1929) wie in dem späteren Beitrag mit z. T. revidierten Auffassungen (in
dem von Benno von Wiese herausgegebenen Sammelband »Das deutsche Drama. Düssel-
dorf 1958. Bd. I, S. 363-384). Daß es sich um einen Konflikt dieser Art nicht handelt, habe
ich in meinem eigenen Buch (Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von
Kleist. Köln 1961). zu zeigen versucht. Wenn dabei die Begriffe des Heiligen oder der
Heiligkeit gebraucht werden, so als Zitate und in kritischer Abgrenzung gegenüber dem
Wortschatz Gerhard Frickes. Zum Teil wurde der zitathafte Gebrauch durch Anführungszei-
chen verdeutlicht. Gerhard Kaiser meint (S. 211, Anm. 4), nach meinem Verständnis
gelange Penthesilea vom Scheinheiligen zum Heiligen. Aber das habe ich nirgends gesagt.
Daß hingegen die Gesetze des Amazonenstaates in ihrer »Schein-Heiligkeit« erkannt wer-
den sollen - dabei bleibe ich.
23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Aesthetik. Berlin 1955, S. 1085.
24 Hans M. Wolff: Heinrich von Kleist als politischer Dichter. University of California Press.
Berkeley und Los Angeles 1947, S. 450.
25 Wandrer und Idylle, S. 227.
26 Eine solche Dialektik in der Argumentation ist am deutlichsten in dem Satz ausgesprochen:
»Wenn die Feststellung richtig ist, daß im Staatsvertrag des Amazonenstaates ein Aufklä-
rungsmoment wohnt, bietet sich hier die nur scheinbar absurde Zuspitzung an, daß bei
Anmerkungen 333

Kleist im vorrationalen Medium Aufklärung als Richtung auf Personalität und Kommuni-
kation überwintert« (S. 226).
27 Gerhard Kaiser spricht - gemäß seiner These von der relativen Fortschrittlichkeit des
Amazonenstaates - von der im Mythos angelegten Aufklärung: »Hier ist die letzte Begrün-
dung dafür, daß Kleist Aufklärung vorab im Mythos formuliert« (S. 226).
28 Dieser Begriff findet sich in dem oben angeführten Buch von Robert Labhardt.
29 In Übereinstimmung mit Jochen Schmidt (Heinrich von Kleist. S. 42), der hierzu ausführt:
»Die Mutter Otrere schon hat Penthesilea dem AchilI bestimmt. Ihre individuelle Wahl
bedeutet einen Ansatz dessen, wozu Penthesilea ganz durchbricht: zum vollen Recht des
Herzens. Otreres Verhalten ist insofern ein erster, entwicklungsträchtiger Durchbruch.«
Allerdings bleibt anzumerken bzw. einzuwenden, daß der Name Achills eben noch nicht
genannt wird. Die Mutter Penthesileas hat nur den Pelei'den benannt, so daß Prothoe sofort
nachfragt: »So nannte sie den Namen dir, Otrere?« (V. 2141).
30 Auch G. Kaiser nimmt im Verhalten der Mutter ein Durchbrechen der Amazonengesetze
wahr, sieht darin aber gemäß seiner dialektischen Denkweise eine aus dem Amazonentum
sich herleitende Intention: »Das pragmatische Zeichen dieser Intention liegt darin, daß die
sterbende Königin Otrere, Penthesileas Mutter, der Tochter und Nachfolgerin den Peleiden
als den im Krieg zu erstreitenden Liebespartner verheißt und damit das Gesetz des Amazo-
nenstaates zugunsten eines Vorgriffs auf den personalen Bezug unterläuft« (S. 224).
31 GA XVII, S. 85. - HA XIII, S. 102.
32 WK. hg. von P. Kluckhohn und R. Samuel. Stuttgart 1965, Bd. 11, S. 666.
33 Die Frage der Ebenbürtigkeit ist eine viel diskutierte, eine fast zentrale Frage im Verständ-
nis des Dramas. Gerhard Fricke hatte im »Penthesilea«-Kapitel seines Buches nicht die
geringsten Zweifel gelassen, wie er in dieser Frage denkt: er sieht eine solche Ebenbürtig-
keit als nicht gegeben an und geht davon aus, daß AchilI an menschlichen Qualitäten
Penthesilea unterlegen ist: »auch AchilI ahnt kaum etwas von dem, was in Penthesileas
Seele vorgeht [... ] Für ihn ist das Gesetz der Tanais reine Willkür und eine bloße äußere
Absurdität« (Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Berlin 1929, S. 116). In dem
späteren Aufsatz, veröffentlicht in dem von Benno von Wiese herausgegebenen Sammel-
band (Das deutsche Drama. Düsseldorf 1958, Bd. 11, S. 381), hat er diese Auffassung
korrigiert. Es heißt nunmehr: Kleist habe alles getan, AchilI an Hoheit und Rang zu heben,
um ihn in der Unbedingtheit des Gefühls »ebenbürtig erscheinen zu lassen«. Ähnlich hatte
schon Wolfgang von Einsiedel in seiner noch immer wichtigen Untersuchung argumentiert.
Von der immer deutlicher zutage tretenden Ähnlichkeit zwischen beiden Gestalten ist hier
die Rede (Die dramatische Charaktergestaltung bei Heinrich von Kleist, besonders in
seiner Penthesilea«. Berlin 1931, S. 61). Die zahlreichen Übereinstimmungen in der »cha-
rakterlichen Gleichheit« verzeichnet A. Sieck (Kleists »Penthesilea«, S. 91). Dagegen neu-
erdings Gerhard Kaiser, der von den Prämissen seiner Deutung dahin gelangt, jede Eben-
bürtigkeit Achills mit Penthesilea in Frage zu stellen und ihn gehörig zurückzustufen. Penthe-
sileas Offenbarung über Ursprung und Sinn des Amazonenstaates quittiere Achill »auf dem
Niveau eines Gardeleutnants« (Wandrer und Idylle, S. 217). Zur Versachlichung der Dis-
kussion trägt es bei, wenn weniger personalisiert wird, als es vielfach geschehen ist. Das
zeigt sich an Begriffen wie »Charaktergestaltung« oder »charakterliche Gleichheit«. Es geht
aber nicht ausschließlich um Personen, sondern gleichermaßen um Staatsformen und Denk-
formen; und bezüglich solcher Formen ist nun in der Tat sehr viel Ebenbürtiges auszuma-
chen. Aber der »Charakter« der tragischen Person wird ausschließlich Penthesilea vorbe-
halten, wie nicht zweifelhaft sein kann.
34 Kleist an Collin vom 8. Dez. 1808: »Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea
nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und - der Algebra zusammen« (SW
11, S. 818).
35 Das Besondere dieser Gestalt ist in der Forschung wiederholt hervorgehoben worden, so
von Friedrich Gundolf' »Die einzige Nebengestalt, die über die unumgängliche szenische
Funktion hinaus einem seelischen Schwingen Kleists ihr Dasein dankt, ist Prothoe« (S. 1011
2). Gerhard Kaiser nennt sie eine »Figur zartester Sensibilität« (S. 213), und das ist sie mit
334 Anmerkungen

Gewißheit. Aber nicht schon deshalb, weil sie es ist, muß man daraus folgern, daß der
Amazonenstaat ein anderer und besserer sei als der Staat der Griechen. Mir scheint, daß
diese Gestalt als die Vertraute der Amazonenkönigin eine ganz andere Funktion hat. Wie-
derholt sagt sie, was Kleist gesagt haben könnte - und gesagt hat; so vor allem in den
Briefen, in denen er die Würzburger Erlebnisse beschreibt. Die Sinnbilder der Eiche und
des Gewölbes, des Stürzens und Stehens sind Bilder, die Prothoe in völliger Übereinstim-
mung mit Kleist gebraucht - als sein Sprachrohr gewissermaßen. Der autobiographische
Bezug zur Hauptperson des Dramas ist von Kleist selbst bezeugt. Prothoe, wie kaum zweifel-
haft sein kann, hat teil an solchen Bezügen.
36 So auch sieht es Friedrich Gundolf(Ebda, S. 97): Ȇberhaupt ist die Handlung hier weniger
Selbstzweck, weniger unmittelbarer Ausdruck der Kleistischen Erregung als sonst: sie ist
hier nur die Inszenierung und die Orchestrierung der süßwilden Seelenmusik Kleists ... «
37 Auf die seinerzeitige Diskussion über diese Verse und das Ende des Dramas, auf die
Beiträge von Friedrich Sengle und Wolfdietrich Rasch, bin ich in meinem Buch (Versehen
und Erkennen. Köln 1961, S. 143) eingegangen.
38 Ähnlich V. 624/5: »Nun, so versuch doch 1 Jetzt deine Rednerkunst, 0 Antiloch«. Daß
Griechenstaat und Amazonenstaat auch in diesem Punkt sich nichts nehmen, belegt sehr
schön ein Wort der Hauptmännin mit Beziehung auf Penthesilea: »Jedwede Kunst der Rede
ward erschöpft« (V. 1072).
39 Zum Begriff der geschlossenen Form vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im
Drama. München 1960.
40 Erich von Kahler: Untergang und Übergang der epischen Kunstform, in: E. v. K.: Unter-
gang und Übergang. München 1970, S. 13.
41 August Strindberg: Ein Traumspiel. Deutsch von Peter Weiss (Bibliothek Suhrkamp)
Frankfurt 1977, S. 7.
42 »Kleist hat zum erstenmal gewagt das was Goethe pathologische Zustände nannte, hem-
mungslose Besessenheiten gesondert darzustellen als Ausdruck eines vernunftlosen, aber
herrlich bewegten Menschentums«, bemerkt Gundolf in seinem Kleistbuch (S. 101) und
bezeichnet damit die Ambivalenz von hemmungsloser Besessenheit und herrlich bewegtem
Menschentum nicht schlecht. Daß man sich modernen psychopathologischen Einsichten
nur mit Vorsicht anvertrauen solle, ist G. Fricke wichtig (Das deutsche Drama I, S. 364). A.
Sieck ist partiell zuzustimmen, wenn er feststellt: »Interpreten haben bisher den Wahnsinn
Penthesileas, der sich allerorten bemerkbar macht, nicht genügend ernst genommen [... ].«
(Kleists »Penthesilea«, S. 122). Die Art, wie er selbst über ihn handelt, läßt freilich Vorein-
genommenheit befürchten: gegenüber dem Phänomen wie gegenüber der im Wahnsinn
handelnden Person - als hätte es solche Einbrüche des Irrationalen in unseren aufgeklärten
Zeiten nicht zu geben!
43 Heinrich von Kleist, S. 109.
44 Vgl. K. Matthiessen (Das griechische Drama, S. 141): »Er [Kadmos] hat die schwere Aufga-
be, Agaue, die langsam aus ihrem Wahnsinn erwacht, erst zum Bewußtsein ihrer selbst
hinzuführen, dann zum Bewußtsein ihrer Tat und schließlich dahin, daß sie diese Tat als
Strafe des Gottes erkennt«.
45 G. Fricke, in: Das deutsche Drama, I, S. 369; S. 372.
46 Die Wendung von der Spaltung der Identität findet sich bei J. Schmidt, dort S. 75; von
tragisch gespaltener Wirklichkeit spricht Gerhard Kaiser, dort S. 215; von der tiefen Ge-
spaltenheit des Amazonenwesens wiederum Jochen Schmidt, S. 84.
47 Benno v. Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 3. Auf!. Hamburg 1955, S. 325.
48 Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist, S. 84.
49 Vgl. hierzu vor allem R. Labhardts schon genanntes Buch und die bei ihm verzeichnete
Literatur; ferner Hans Albrecht: Die Bilder in den Dramen Heinrich von Kleists. Ihr Wesen
und ihre Bedeutung. Diss. Freiburg 1955.
50 Im Sinne Gerhard Frickes, der den Vorgang ebenso versteht und beschreibt: »Sie ist nicht
mehr >bei sich<, sondern eher außer sich, ihres Einsseins mit sich selbst, ihres inneren
Schwerpunktes beraubt« (Das deutsche Drama, II, S. 369).
Anmerkungen 335

51 Hans Henny Jahnn: Werke und Tagebücher. Dramen 1. Hamburg 1974. Bd. IV, S. 463; 499.
52 Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Aufzeichnungen. Frankfurt 1959, S. 106.
53 Das deutsche Drama I, S. 363.
54 Daß Gesellschaftskritik innerhalb des Dramas in eine jede Interpretation einzugehen hätte,
wird in den Kleist-Studien Jochen Schmidts überzeugend belegt. In dem Kapitel »Die Ver-
tiefung des gesellschaftskritischen Ansatzes in der Penthesilea« führt er aus: »Es läßt sich
kaum eine schmerzlichere Klage, kaum eine bitterere Anklage denken als die Vision einer
Welt, in der das wahrhaft Menschliche zu Betrug und Verstellung seine Zuflucht nehmen
muß« (S. 42).
55 Das meint wohl Jochen Schmidt, wenn er an anderer Stelle seines Buches von der allgemei-
neren Möglichkeit spricht - im Sinne eines Andersseins nach dem Untergang der tragischen
Person: »Kleist macht objektive Mißstände gesellschaftlicher Art verantwortlich. Deren
Aufhebung, wie sie sich am Schluß der ,Penthesilea< vollzieht, wäre die Lösung: eine Lö-
sung, die zwar für den tragisch untergehenden einzelnen zu spät kommt, aber eben in diesem
Untergang als allgemeinere Möglichkeit erscheint« (S. 240/41).
56 Der Begriff »versöhnende Schicht« wird hier im Sinne Friedrich Sengles gebraucht. Über
die Bedeutung seines Diskussionsbeitrags vgl. Albin Lesky (Die griechische Tragödie.
Stuttgart 1958, S. 42): »Als das Gespräch so weit gekommen war, griff in seinen Gang
Friedrich Sengie mit einem Aufsatz >Vom Absoluten in der Tragödie< (DVjs. 1942) ein, der
zum Wichtigsten gehört, was über den Gegenstand geschrieben wurde«.
57 Zum Sinnbild der Eiche bei Kleist ist auf den grundlegenden Aufsatz von Martin Stern zu
verweisen: Die Eiche als Sinnbild bei Heinrich von Kleist, in: Jahrbuch der deutschen
Schillergesellschaft VIII (1964), S. 199-225.
58 Hierzu J. Schmidt, S. 40: »Und je kraftvoller er [der Mensch] lebt, desto notwendiger ist
sein tödliches Zerbrechen«.
59 Hier zitiert nach dem von H. Sembdner hg. Band »Penthesilea. Dokumente und Zeugnis-
se«. Frankfurt 1967, S. 18/19.
60 Dieser Zusammenhang von Biographie und dramatischem Werk wird auch in neueren
Arbeiten betont; vgl. Sieck (Anm. 15) S. 82: »Kleist sah in der Amazone sein (eigenes
männliches!) innerstes Wesen«; und Labhardt (Anm. 15) S. 234: »... darf also die ,Penthe-
silea< als eine unmittelbare Selbstdarstellung Kleists verstanden werden«; ähnlich S. 282:
»Die Auffassung der >Penthesilea< als der persönlichen dichterischen Selbstaussage ist in
der Forschung unbestritten<<.
61 Die Debatte über Schmerz oder Schmutz in der gebotenen Ausführlichkeit aufzunehmen, ist
hier nicht der Ort. Aber daß sie früher oder später wieder aufgenommen und fortgeführt
wird, ist zu wünschen, damit eine am Werk Kleists interessierte Öffentlichkeit nicht in der
möglicherweise verbreiteten Auffassung bestärkt wird, man hätte es, was die Lesart
Schmutz angeht, mit unwiderlegbaren handschriftlichen Befunden zu tun. Davon kann keine
Rede sein. Man hat es mit der Abschrift eines vielfach unzuverlässigen Schreibers (Wilhe1m
von Schütz) zu tun, dem ein Fehler beim Abschreiben ohne weiteres unterstellt werden
kann. Daß die Lesart »Schmerz«, die wir Ludwig Tieck verdanken, eine Konjektur darstel-
le, ist so gut eine Hypothese wie die Annahme, es handele sich bezüglich der Abschrift um
eine in jedem Fall fehlerfreie Überlieferung. Der Feststellung Helmut Sembdners,
»Schmerz oder Schmutz sind nicht zwei verschiedene Textüberlieferungen, zwischen denen
ein Herausgeber zu entscheiden hat, sondern es handelt sich bei Schmutz um die uns
ausschließlich überlieferte Lesart und bei Schmerz um eine der üblichen Emendationen
oder Konjekturen Tiecks« (H. Sembdner: In Sachen Kleist. München 1974, S. 78), möchte
ich nachdrücklich widersprechen. Der Widerspruch wird noch ausführlich zu begründen
sein. Das soll andernorts geschehen. Hier nur einige stichworthafte Überlegungen, die sich
in stärkerem Maße auf den Geist als auf den Buchstaben der Dichtung beziehen.
1. Die Deutung Schmutz im Sinne von Schmutzfarbe und als Antithese zur Glanzfarbe ist das,
was man in der heutigen Theoriesprache ein »Konstrukt« nennt. Man mag sie überzeugend
finden; mich überzeugt sie nicht; und die Vielzahl der Belege aus neueren und neuesten
Wörterbüchern kann daran nichts ändern.
336 Anmerkungen

2. Schmerz und Glanz sind zentrale Wortfelder im Text des Dramas, auf den der Brief Bezug
nimmt; und welche Bedeutung dem Schmerz im Drama Kleists und in den Vorstellungen
seines Freundes Adam Müller zukommt, verdeutlicht - u. a. - dessen Brief an Gentz: »Wir
dagegen wollen, es soll eine Zeit kommen, wo der Schmerz und die gewaltigsten tragischen
Empfindungen [... ] den Menschen gerüstet finden«.
3. Ob die Erforschung der Beziehungen zwischen Tieck und Marie von Kleist noch Neues
erbringen kann, muß offenbleiben. Hinreichend diskutiert sind diese Beziehungen jeden-
falls nicht. Ihr Brief an Tieck bedürfte genauerer Erläuterungen, wenn sie ihm, in einer sehr
gehobenen Sprache, mitteilt: »Auch abschreiben kann ich diesen Brief nicht; auch das
würde mich Ihnen entfremden« (Briefe an Ludwig Tieck. Ausgew. und hrsg. von Kar! von
Holtei. Ber!in 1864. Bd. 2 S. 174).
4. Kleists Brief ist so abgefaßt, daß er wenigstens partiell wiedergibt, was Marie von Kleist
ihm geschrieben hat. Daß sie so schreibt, wie es die Lesart oder »Verlesart« des Herrn von
Schütz überliefert, ist äußerst unwahrscheinlich. Auch dagegen spricht der zumeist hohe Ton
ihrer Briefe. Er gilt auch für Kleist: »Sie haben es wie eine Seherin aufgefaßt«.
5. Wenn Kleist von Seele spricht, so hat er es mit einem Sinnbezirk zu tun, den er fast wie ein
Heiligtum behandelt, es sei im Brief oder im dichterischen Werk. Es ist fast stets ein
poetischer oder hochpoetischer Kontext, in dem er das Wort gebraucht. Seine Sprache
beginnt zu blühen, wenn er Seele sagt - falls es nicht der Schmerz ist, der den hohen Ton
dämpft: »[ ... ] eh würdest du / Den Strom [... ] / Als meiner Seele Donnersturz regieren«,
sagt Penthesilea (635-637); Prothoe zu Penthesilea: »Um eines Siegs, / Der deine junge
Seele flüchtig reizt« (665 f.). Penthesilea: >>- Und Trotz ist, Widerspruch, die Seele mir!«
(680). Prothoe: »Die Schar, die deine Seele seltsam fürchtet« (725); Penthesilea: »Und fei'r
es gleich, du Lüsterne, das Fest, / Das deine Seele nicht erwarten kann« (829 f.). Penthesi-
lea: »Ach, meine Seel ist matt bis in den Tod!« (1237). Prothoe: »der ganze Reichtum, / Den
deine Seele aufzubieten hat?« (1314 f. ). Prothoe: »Seis der verletzten Seele Schmerz« (1483).
Prothoe: »Es läßt sich ihre Seele nicht berechnen« (1536). Prothoe: »Der Hohn / Ist seiner
großmutsvollen Seele fremd« (1573 f.). Und dann die Verse, die in ihrem hochpoetischen
Sprachton kaum noch zu übertreffen sind: »0 du, die eine Glanzerscheinung mir, / Als hätte
sich das Ätherreich eröffnet, / Herabsteigst, Unbegreifliche, wer bist du? / Wie nenn ich
dich, wenn meine eigne Seele / Sich, die entzückte, fragt, wem sie gehört?« (1809-13).
Glanzerscheinung und Seele: das ist häufig das, was sich in diesem dichterischen Weltbild
mühelos zusammenfindet. Die Pathosformen sind nicht zu übersehen; das gilt auch für den
oft berufenen Schmerz. »Schmutz der Seele«: das ist von Kleists Verständnis der Seelenwelt
her so undenkbar, wie etwas nur undenkbar ist. Nächstens (hoffentlich) mehr!
62 Vgl. Fricke: Das deutsche Drama, (Anm. 22) S. 364.
63 Siegfried StreUer: Das dramatische Werk Heinrich von Kleists. Berlin 1966. S. 110.
64 Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (Werke 2, 320f.). »>Ja<,
antwortete Mirabeau, >wir haben des Königs Befehl vernommen< - ich bin gewiß, daß er bei
diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte ... «

Brentanos naive und sentimentalische Poesie

Zuerst veröffentlicht im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, XVIII/1974, S. 441-465,


hier mit der Widmung: »Paul Böckmann zum 75. Geburtstag«. Es folgt der die Widmung
erläuternde Text, damals wie jetzt in der ersten Fußnote angeführt. Neuere Literatur wurde in
einige Anmerkungen eingearbeitet.
1 Die Lyrik hat im wissenschaftlichen opus Paul Bäckmanns ihren zentralen Ort von Anfang
an gehabt und bis zum heutigen Tag behalten. Dafür wollen wir danken; umso mehr, als
verwirrte Begriffe von Literatur zu Ansehen gelangt sind, die der Lyrik das Lebensrecht zu
verweigern scheinen - falls es nicht politische Lyrik ist, die man noch allenfalls gelten läßt.
Hölderlin, seine Gedichte und deren Deutung waren im Falle Paul Böckmanns der Aus-
gangspunkt. Die wiederholte Beschäftigung mit Brentanos Lyrik war damit keineswegs
Anmerkungen 337

ausgeschlossen. Einer der noch heute maßgeblichen Beiträge ist derjenige über »Die ro-
mantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck«, 19341
35 zuerst im Jahrb. d. Freien Dt. Hochstifts veröffentlicht. Die hier dem verehrten Lehrer
dargebrachte Studie weiß sich diesem vor nunmehr vierzig Jahren erschienenen Aufsatz
dankbar verpflichtet, wie der »Beweisführung« unschwer zu entnehmen ist.
Der eigene Gedankengang wurde zuerst in einem im Sommer 1965 gehaltenen Seminar
entwickelt. In verschiedenen Vorträgen wurden die Ergebnisse dieser Interpretation seit
1967 behandelt; so in Bremen, Freiburg i. Br., Wien, Bristol und an verschiedenen ameri-
kanischen Universitäten. Die Notiz zur Entstehung ist deshalb nicht ganz nebensächlich, weil
wesentliche Teile formuliert vorlagen, ehe verwandte und gleichgerichtete Interpretatio-
nen, besonders zum Lied der Spinnerin, veröffentlicht wurden. Es kommt mir dabei nicht
auf Prioritäten an, weit mehr auf die Feststellung, daß zu bestimmten Zeiten an verschiede-
nen Orten Gleiches gesehen wird. - Hinsichtlich der Überschrift ist auf den im Gedanken-
gang verwandten Titel des Aufsatzes zu verweisen, den Friedrich Sengle um dieselbe Zeit in
der Festschrift für Benno von Wiese veröffentlicht hat: Mörikes sentimentalischer Weg zum
Naiven (Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Fs. f. Benno von Wiese. Berlin 1973,
S.249-258.
2 Schillers Werke. Nationalausg. (= NA), Bd. XXII, hrsg. v. H. Meyer, Weimar 1958, S. 246.
3 NA, Bd. XX, hrsg. v. B. v. Wiese, Weimar 1962, S. 433.
4 Hermann Schneider: Geschichte der deutschen Dichtung. Nach ihren Epochen dargestellt.
Bochum o. J., dort S. 527: »Seine Extravaganzen verunzieren sein Leben, wie sie seinem
Dichten verhängnisvoll werden können; am schlimmsten war seine Unart, allem, was er in
die Hände nahm, in Eile den eigenen Stempel aufzudrücken«. Ähnlich Hans Jaeger am
Ende seines Buches (Clemens Brentanos Frühlyrik. Chronologie und Entwicklung. Frank-
furt 1926, S. 206): »Daß dieses [das Lied] nicht in derselben Weise fortlebt wie das Goethes,
Heines oder Eichendorffs, liegt daran, daß nur wenige Gedichte Brentanos völlig organisch
und geschlossen sind. Die Fülle von Einzelschönheiten vergiBt man vielfach über dem
Ganzen eines Brentanoschen Gedichts, das nur zu oft wie ein Symbol der inneren Zerissen-
heit seines Dichters anmutet«.
5 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit, Teil IV, Leipzig 1953, S. 206.
6 Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von
Brentano, Goethe und Keller. Zürich 1939, S. 30: »Diese Rangordnung der Laute finden
wir überall bestätigt bei Brentano, der nach Nietzsches Wort von allen deutschen Dichtern
am meisten Musik im Leibe hat ... «
7 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, S. 84.
8 Die Zeit als Einbildungskraft, S. 29.
9 Ebda, S. 40.
10 Ebda, S. 39.
11 Ebda, S. 49.
12 Grundbegriffe, S. 75f.
13 Walter Killy: Wandlungen des lyrischen Bildes, Göttingen 1956, S. 62. - Über Killys Nähe
zu Staigers Brentano-Bild vgl. jetzt auch Wolfgang Frühwald: Stationen der Brentano-For-
schung 1924--1972, in: DVJS, Sonderheft, 1973, S. 230131.
14 Richard Alewyn: Clemens Brentano: »Der Spinnerin Lied«, jetzt in: Interpretationen.
Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn, hrsg. v. J. Schillemeit. Frankfurt a. M. 1965
(Fischer-Bücherei), S. 155.
15 Von dem Beitrag Karl Tobers (Das Romantische Gedicht. Gedanken zu Clemens Brentanos
Lyrik, in: Coll. Germ. 1968, S. 137/51) kann das nur mit Einschränkung gesagt werden.
Von der Revision des Brentano-Bildes ist wenig erfaßt.
16 Die romantische Poesie Brentanos; vgl. Anm. l.
17 Hans Magnus Enzensberger: Brentanos Poetik, München 1961; über Böckmanns Aufsatz:
S. 17, S. 145 und andernorts.
18 Ebda, S. 9: »ein Sohn aus bester Familie, der keine Brotsorgen kannte, behaftet mit allen
Vorurteilen seiner Klasse, politisch unzurechnungsfähig, den Katastrophen der Geschichte
338 Anmerkungen

gegenüber ahnungslos; ein sorgfältiger und genialer Sammler wunderbarer alter Geistes-
schätze, aber auch ein radikaler Artist«. Der Herausgeber der Reihe (Walter HöHerer) griff
die Wendung bereitwillig auf. Seitdem ist sie verbreitet. Auch Karl Krolow hat sie in seiner
Frankfurter Poetik-Vorlesung 1964 gebraucht. In einem Bericht über neuere Brentano-
Forschung (in: Literaturwissenschaftl. Jahrb. NP, Bd. 5, 1964, S. 368) hat Wolfgang Früh-
wald »das rasch verbreitete, aber verführerische, weil nicht erläuterte Schlagwort vom
radikalen Artisten« kritisiert.
19 Achim von Arnim und Clemens Brentano, bearb. von Reinhold Steig, Stuttgart 1894,
S. 100/101. Eine neuere Interpretation hat inzwischen Oskar Seidlin veröffentlicht: Brenta-
nos Jägerlied. In: Euph. (1968), S. 117-128. Oskar Seidlins Interpretation berührt sich in
mehreren Punkten mit der hier vorgetragenen Deutung. Im Zentrum seiner Darlegungen
steht die »doppelte Optik«, die Perspektive und Bildlichkeit des Gedichts bestimme. Diese
»Zweigleisigkeit«, so wird ausgeführt, äußert sich in der Gerichtetheit auf das Du, die im
poetischen Prozeß am Gedichtende die »Zweiheit als Einheit« herstellt; und in der gebro-
chenen Sicht, dem »In-sich-Zerfallensein« des Sprecher-Ichs. Solche »Doppelgleisigkeit«
wird in der Sprache verankert gesehen, in den Ambivalenzen der Metaphern (»Jedes Bild
ruft sein Gegenbild«, S. 121) und besonders in der Reflexion im Lied auf das poetische Tun
(»während ich dies Lied gesungen«, S. 123).
20 Vgl. neuerdings Hans Peter Neureuter, Das Spiegelmotiv bei Clemens Brentano, Frankfurt
a. M. 1972, S. 77/80. Über sehr allgemeine Umschreibungen gelangt der Verfasser nicht
recht hinaus.
21 Thomas Mann: Gesammelte Werke, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1960, S. 243. Über die
Brentano-Gesänge im »Doktor Faustus« hat John Fetzer in einem Vortrag während des
Brentano-Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift, im Sept. 1978, gehandelt. Vgl. J. F.
Fetzer: Nachklänge Brentanoscher Musik in Thomas Manns »Doktor Faustus«, in: Clemens
Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978, hrsg. v. Detlev
Lüders, Tübingen 1980, S. 33--47.
22 Als eine Zeit voll sprühenden Lebens bezeichnet Siegfried Sudhof den Weimarer Aufent-
halt dieser Jahre (Brentano in Weimar, in: Zeitschr. f. dt. Philol., 1968, Bd. 87, S. 207); vgl.
auch S. 214: »Die ersten Monate des gemeinsamen Lebens in Marburg zählen gewiß zu den
glücklichsten seines ganzen Lebens ... «
23 »Frühlingskranz«, in: Bettina von Arnims sämtl. Werke, hg. v. W. Oehlke, Bd. I, Berlin
1920, S. 419/21.
24 Achim von Arnim ... , hg. von R. Steig, S. 98.
25 Ebda, S. 103 f.
26 Die von W. Früh wald, B. Gajek und F. Kemp herausgegebene Ausgabe der Gedichte
Brentanos bringt die Fassung der Einsiedler-Zeitung zum Abdruck (Clemens Brentano.
Werke, München 1968, S. 165; Anm. S. 1072174).
27 Rudolf Borchardt (Hrsg.), Ewiger Vorrat deutscher Poesie, München 1926. Darin: »Der
Jäger an den Hirten«, S. 322-327, hier unter dem Titel »Schicksalslied«. - Brentanos
Gedichte, hg. v. Werner Vordtriede, Frankfurt a. M. 1963 (Insel-Bücherei).
28 Vgl. vor allem Bernhard Gajek: Homo Poeta. Zur Kontinuität der Problematik bei Cle-
mens Brentano, Frankfurt a. M. 1971- Hierzu auch W. Frühwald, in: DVJS 1973, S. 217.
29 Karl Viiitor: Der alte Brentano, in: DVjs. II (1924), S. 556ff.
30 Novalis: Briefe und Werke, hg. v. E. Wasmuth, Heidelberg 1963, Bd. III, S. 628.
31 Briefe aus dem Brentanokreis, in: Jahrb. d. Freien Dt. Hochstifts, 1934/35, S. 368.
32 Heinz Politzer: Das Schweigen der Sirenen, in: DVjs. Jg. 41, 1967. Jetzt in: H. P.: Das
Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur, Stuttgart
1968, S. 13/41. - Über Brentanos »Sirenenlyrik«: S. 24/25.
33 Ernst Beutler: »Der König in ThuJe« und die Dichtungen von der Loreley, in: Essays um
Goethe, Band 2, Wiesbaden 1947, S. 327.
34 Achim von Arnim ... , hg. v. R. Steig, S. 22.
35 S. Sudhof, a.a.O., S. 210, hat auf eine unveröffentlichte Parodie Brentanos aufmerksam
gemacht. Sie ist inzwischen in der Ausgabe des Hanser-Verlages - dort S. 164f. - abge-
Anmerkungen 339

druckt. Entstanden ist sie im Sommer 1803. Über eine Zurücknahme des geliebten Ge-
dichts sagt diese Parodie nichts. Man wird an die Möglichkeit zu denken haben, daß man
auch und gerade das parodiert, was einem besonders teuer ist - in einer Art Selbstparodie
gewissermaßen. Auf keinen Fall ist von solchen Versen auf eine Goethe-Feindschaft Bren-
tanos zu schließen. Nichts hätte ihm um diese Zeit ferner gelegen. - Eine Parodie Arnims
wurde 1808 in die Einsiedler-Zeitung eingerückt. Sie ist in den Anmerkungen der Hanser-
Ausg. - dort S. 1071 - abgedruckt.
36 Wolfgang Frühwald sieht in Thule ein Sinnbild des verlorenen Paradieses (Deutsche Dich-
ter der Romantik, hg. v. B. von Wiese, Berlin 1971, S. 286). Daß der Jäger unseres Gedichts
den Becher in Thule wiederzufinden hofft, deutet zugleich darauf hin, daß die im Becher zum
Symbol gewordene Einheit nicht mehr fraglos gegeben ist. Die hier aufgezeigte Umkehr vom
Todesdunkel ins Lebensfreundliche hat auch S. Sudhoj hervorgehoben. Er spricht von
einer Abwandlung und Umdeutung des Goetheschen Liedes (S. 208). Dort auch der Hin-
weis, daß die Thule-Verse des Gedichts als Verseinlage in die »Chronika« eingegangen sind
(ebda, S. 209).
37 Das unsterbliche Leben. Unbekannte Briefe von Clemens Brentano, hrsg. v. W. Schellberg
u. F. Fuchs, Jena 1939, S. 305.
38 Ebda, S. 308.
39 Die Handschrift befindet sich im Freien Deutschen Hochstift; das Zitat nach einer dankens-
werterweise übersandten Photokopie.
40 Unter dem Stichwort »Edomiter« wird in »Die Religion in Geschichte und Gegenwart«, 3.
Aufl., hg. v. K. Galling. 2. Bd. Sp. 309/310 ausgeführt: >>Von hier aus erklärt sich die
Auffassung, daß Israel und E. >Brüder< seien [ ... ] Im Zusammenhang damit hat die in der
ostjordanischen Jakob-Überlieferung beheimatete NebeneinandersteIlung der >Brüder< Ja-
kob und Esau (Typus des rauhen Jägers neben dem friedlichen Kleinviehhirten [... ]) zu der
sekundären, allerdings schon sehr alten Gleichsetzung E. = Esau geführt ... «
41 Über Brentanos Schiller-Kenntnis vg!. Hans Peter Neureuter: Das Spiegelbild, S. 29; ferner
S. 44/46. Über Anklänge an Schillers Lyrik in den frühen Gedichten handelt B. Gajek:
Homo Poeta, S. 86; vg!. ferner E. Staiger: Die Zeit, S. 64.
42 Schellberg, S. 126.
43 NA, Bd. XX, S. 473.
44 Schelling, Werke I, Abt. IV, Stuttgart 1856/61, S. 77 (Ausg. v. M. Schröter, Bd. II, S. 711).
45 Wilhelm Schellberg: Clemens Brentano und Philipp Dtto Runge, in: Literaturwiss. Jahrb.
d. GÖrres-Gesellsch. 8 (1936), S. 166/215.
46 Zum Thema des verlorenen Paradieses vg!. den grundlegenden Beitrag von Wolfgang
Frühwald in: Literaturwissenschaft!. Jahrb. NF, Bd. 3, 1962, S. 113/192.
47 Der Spinnerin Lied, in: Interpretationen I, S. 158. Inzwischen mehrfach behandelt und
interpretiert: von Hans-Joachim Schrimpjin der Festschrift f. Herman Meyer. Heidelberg
1976, S. 392; von Wolfgang Frühwald in dessen Buch »Das Spätwerk Clemens Brentanos
(1815-1842). Romantik im Zeitalter der Mettemichsehen Restauration<<. Tübingen 1977, S.
229 ff. - Zusammenfassend Heinrich Henel in dem Aufsatz »Erfüllte Form« (Jahrb. der dt.
Schillerges. 1978, S. 449).
48 Zur Scheidung zwischen Traum und Wachen vg!. E. Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft,
S.71.
49 »Wenn du vor den Antiken stehst, und den Gemälden, und in der Bibliothek, so ärgere
Dich um Gotteswillen, daß sie Anstalten der Kunst sind [ ... ] Die Goldene Zeit wohnt dicht
am Herzen der Erde ... « (Briefe aus dem Brentanokreis, S. 389/90). - Zum Problembereich
der goldenen Zeit bei Novalis und in der Romantik ist auf Hans-Joachim Mähls Buch zu
verweisen: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, Heidelberg 1965.
50 Erich von Kahler: Verantwortung des Geistes, Frankfurt a. M. 1952, S. 196.
51 Vg!. H. M. Enzensberger (Brentanos Poetik, München 1961, S. 115): »Daß der Anschein
der >Naturpoesie< durchaus trügt, ist allerdings unschwer zu erkennen ... «
52 Ähnlich H. M. Enzensberger, ebda, S. 116: »Ein solchermaßen raffinierter Aufbau hat mit
der Kunst des Volkslieds natürlich nichts zu tun.«
340 Anmerkungen

53 Vgl. Johannes Pfeiifer: Wege zur Dichtung. Eine Einführung in die Kunst des Lesens,
Hamburg 1952, S. 48f. über »Der Spinnerin Lied.« Betont werden die Tongestalt, der
Grundklang, das Suggestive. Auf die Klangfiguren der Monotonie geht Pfeiffer nicht ein.
54 H. M. Enzensberger: Brentanos Poetik, S. 47: »Das Wort >Schmerz-Schallmeien< bietet
sogar das sehr seltene Beispiel einer Synästhesie von Schmerz- und Tonempfindung.«
55 Ausg. des Hanser-Verlags, Bd. II, S. 597ff., die Urfassung ebda, S. 597ff. - Über das
Verhältnis der Fassungen zueinander vgl. Anm. S. 1188ff.
56 Briefe aus dem Brentanokreis, S. 390. - Vgl. ferner Hanser-Ausg., Bd. I und die Erläute-
rungen dort S. 1058 f.
57 Elisabeth Stopp hat das mit gebührendem Nachdruck betont: Die Chronika des fahrenden
Schülers (RecIam UniversalbibI. Nr. 9312/3); ferner: Brentano's >Chronika< and its Revi-
sion, in: Sprache und Bekenntnis. H. Kunisch zum 70. Geburtstag, hg. v. W. Frühwald u.
G. Niggl, Berlin 1971, S. 171 ff. Vgl. auch Michael Huber: Die Chronika des fahrenden
Schülers. Eine Analyse der Figurenkonstellation und der kompensatorischen Prinzipien der
Urfassung. BernlMünchen 1976.
58 Text der Urfassung: Hanser-Ausg., Bd. II, S. 527.
59 Ebda, S. 530.
60 Ebda, S. 550.
61 So verdeutlichend in der Fassung von 1818, Bd. 11, S. 614; in der Urfassung heißt es:
»Besonders traurig aber kam es mir vor, daß der Vogel und meine Mutter zugleich sangen«
(S. 526).
62 Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. v. F. Beißner, Stuttgart 1957, S. 537.
63 Ebda, Bd. 6, hg. v. A. Beck, Stuttgart 1954, S. 413.
64 NA Bd. XX, S. 413.
65 Ebda, S. 427.
66 GA XXl1011.
67 Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung, hg. v. M. lolles, Bern 1961, Vierter Bd., S.
131ff.
68 Ebda, S. 15l.
69 Ebda, S. 169 f.
70 Heinrich Henel Erlebnisdichtung und Symbolismus, in: DVjs. 32 (1958). S. 82.
71 Claude David: Clemens Brentano, in: Die deutsche Romantik, hg. v. H. Steifen. Göttingen
1967, S. 174. - Vgl. ferner das instruktive Kapitel »Das Naturverhältnis« bei H. P. Neureu-
ter, dort S. 37 ff.
72 Hans Mayer: Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963, S. 266.
73 Die Wendung von der »Amfortas-Wunde des Intellektes« bei K. Schmid (Einführung zum
Briefwechsel) S. 1011, wo es heißt: »Gleichsam archetypisch steht Schiller vor und in allen
Nachfahren, die an der Amfortas-Wunde des Intellektses leiden« (GA Bd. XX).
74 Vgl. Emil Staiger: Clemens Brentano: >Die Abendwinde wehen<, in: Interpretation I, hg. v.
J. Schil/emeit, S. 169.
75 Zum Privaten lyrischer Poesie vgl. E. Staiger (Grundbegriffe, S. 54): »Denn ein unerklärli-
ches Wunder ist jeder echte lyrische Vers [ .. ] Er ist das Privateste, Allerbesonderste, was
sich auf Erden finden läßt.« - Das Zitat G. Benns in: Ein Briefwechsel zwischen Alexander
Lernet-Holenia und G. Benn, Wiesbaden 1954, S. 2l.
76 GA XIV/839.

Goethe und das Problem seiner Alterslyrik

Über Entstehung und Vortrag gibt die erste Fußnote der ursprünglichen Veröffentlichung Aus-
kunft: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag
27. Oktober 1961, hg. von Klaus Lazarowicz und Wolfgang Kron. Berlin 1961, S. 26(}"'276.
Neuere Literatur seit Erscheinen des Beitrags wurde nicht eingearbeitet. Sie hätte ihn in seiner
bisherigen Gestalt gesprengt und etwas Neues ergeben müssen. Der Text selbst wurde geringfü-
Anmerkungen 341
gig verändert - auch in Hinsicht auf sich wiederholende Zitate in anderen Beiträgen des vorlie-
genden Bandes.

1 Der vorliegende Aufsatz wurde als Vortrag am 15. Mai 1961 in der Ostvereinigung der
Goethe-Gesellschaft in München gehalten.
2 Die Sammlung, 4. Jg. 1949, S. 640.
3 Der Brief mit den oben zitierten Sätzen trägt das Datum des 23.10. 1949.
4 Spiel der Mächte. Paul Hankamer zum Gedächtnis. In: Die Sammlung, 5. Jg. 1950, S.
202-208.
5 P. Hankamer: Spiel der Mächte, Tübingen und Stuttgart. 1947 S. 9-10.
6 Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. von M. Hecker, Leipzig 1913, I, S. 107.
7 P. Hankamer, a.a.O., S. 12.
8 Ebda, S. 76.
9 Goethe-Handbuch. Hg. von A. Zastrau. 2. Auf!. 2. Lieferung, Sp. 169-188.
10 Ebda, Sp. 179-180.
11 Symptomatisch ist das Buch von C. Wandrey: Theodor Fontane, München 1919.
12 P. Hankamer, a.a.O., S. 37.
13 Goethe-Handbuch, Sp. 172.
14 Ebda, Sp. 177.
15 GA 111/413. - HA 11/126.
16 Goethe-Handbuch, Sp. 18l.
17 Ebda, Sp. 177.
18 GA 111/456. - HA 11/165.
19 K. Viiitor: Goethes Altersgedichte. In: Euph. 33. Bd. Jetzt in: Geist und Form. Aufsätze zur
deutschen Literaturgeschichte, Bern 1952, S. 144-193.
20 Ebda, S. 154.
21 Ebda, S. 144.
22 Goethe-Handbuch, Sp. 17l.
23 P. Hankamer, a.a.O., S. 60.
24 Ebda, S. 74.
25 W. Flitner: Goethe im Spätwerk. Hamburg. 1947, S. 164.
26 Vgl. hierzu: A. Henkel: Entsagung, Tübingen 1956.
27 Im Sinne von W. Schadewaldt: Goethes Begriff der Realität. In: Goethe. NF XVIII. Bd.
1956, S. 44-88.
28 GA XVI/H. - HA XIII/317.
29 GA X1/12. - HA XIl12.
30 GA X1/18. - HA XIl17.
31 GA XI/55. - HA X1/5l.
32 GA XI/68. - HA XI/63.
33 GA III/493. - HA 11/197.
34 GA 1/205. - HA I/2oo.
35 Hierzu W. Preisendanz: Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorge-
schichte seit Opitz. Heidelberg 1952.
36 C. Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Düsseldorf 1961.
37 GA III/303. - HA 11/23.
38 Goethes Briefwechsel mit Zelter, 11, S. 59-60.
39 GA 1/200. - HA 1/194.
40 GA 11167. - HA I/16O.
41 GA I/269. - HA 1/294.
42 Vgl. besonders Sonett XVI, das Petrarca namentlich erwähnt.
43 GA I1I/296. - HA 11/16.
44 GA I1I/350. - HA 11/68.
45 H. G. Gräf" Goethe über seine Dichtungen (Lyrische Dichtungen, I1I/1, S. 447).
46 GA XXIV/677.
342 Anmerkungen

47 Vgl. K. Friederichs: Lebensdauer, Altern und Tod in der Natur und im Menschenleben (mit
umfangreichem Literaturverzeichnis). Frankfurt 1959.
48 Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. XXII. Vermischte Schriften. Hg. von H. Meyer.
Weimar 1958.
49 Ebda, S. 246.
50 GA XI/137. - HA XI/126.
51 GA XII160. - HA XI/147.
52 Die Fragen habe ich behandelt in dem Beitrag: Goethes Verhältnis zu Johann Heinrich
Voß. In: Goethe und Heidelberg. 1949, S. 240-263.
53 Arnims Trösteinsamkeit, hg. von Pfaf!, 1883, S. 252f.
54 Vgl. die ansprechende Einleitung von M. Rychner in der Divan-Ausgabe des Manesse-
Verlags. Zürich 1952.
55 GA I1I/287. - HA 11/7.
56 GA XIII59. - HA XII146.
57 Goethe: West-östlicher Divan. Hg. von E. Grumach. Akademie-Verlag. Berlin 1952, S. 7.
58 GA I1I/293. - HA 11/13.
59 GA I1I/356. - HA 11/74.
60 Die Geselligkeit dieser Verse betont P. Bäckmann in seiner Interpretation der Heidelber-
ger Divan-Gedichte mehrfach: Goethe und Heidelberg. Heidelberg 1949, S. 240-268.
61 P. Hankamer: Spiel der Mächte, S. 76.

Goethes Gedicht Der Bräutigam


Ein Beitrag zur Form seiner Alterslyrik
In der ersten Veröffentlichung (Goethe. NF des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. 20. Bd.
1958, S. 6-27) ist vermerkt: »Diskussionsvortrag, gehalten auf der Hauptversammlung der
Goethe-Gesellschaft in Weimar am 31. Mai 1958«. Einen zweiten Vortrag anläßlich dieser
Veranstaltung hatte Hans-Günther Thalheim übernommen - nicht über den Bräutigam, sondern
über die Braut: Goethes Ballade »Die Braut von Korinth«, ebda, S. 28-44. Über beide Vorträge
gibt es einen Diskussionsbericht von Andreas B. Wachsmuth in demselben Band: S. 307-308.
Die Diskussion um das Gedicht, über das Gedicht ist nicht verstummt. Schon fünf Jahre später
wird sie mit einem Beitrag von Detlev W. Schumann fortgesetzt: Bemerkungen zu zwei Goethe-
sehen Gedichten. In: Goethe. NF des Jahrbuchs, 25. Bd. 1963, S. 182-205; die auf den »Bräuti-
gam« bezogenen Teile S. 192ff. Die Argumente der Interpreten werden gemustert. W. Hofs
Reduktion auf Charlotte von Stein, die Festlegung der Schwelle als Schwelle zum Grab erschei-
nen dem Vf. nicht überzeugend. Eine Annäherung an die Gestalt der Ulrike von Levetzow im
Sinne Lieselotte Blumenthals ist unverkennbar, aber die Bezugnahme auf die Situation der
Verlobungszeit, auf Lili Schönemann mit den Verweisen auf »Dichtung und Wahrheit« wird
deswegen nicht preisgegeben. Es kommt zu einer Symbiose, zu einer Zusammenführung beider
Frauengestalten mit der Frage: »Sollte nicht vielmehr Ulrike als eine Art Lili rediviva erlebt
worden sein?« (S. 203). Die Orientierung am erlebten Leben bleibt jedenfalls bestimmend. In
dem Beitrag Werner Kellers - wiederum fünf Jahre später erschienen - ist dies nicht in gleicher
Weise der Fall. Diese überaus ansprechende Interpretation, die Farbenlehre und Naturfor-
schung Vers für Vers sehr kenntnisreich heranzieht, liest sich spannend; auch deshalb, weil erst
spät verraten wird, welche Bewandtnis es mit dem Titel des Beitrags hat. Er lautet: Goethes
Gedicht »Der Bräutigam« und die »Aldobrandinische Hochzeit«. In: GRM. NF 18 (1968),
S. 152-171. Es wird wahrscheinlich gemacht, daß die lyrische Situation der dritten und vierten
Strophe in einer bildlichen Darstellung ihr Vorbild gehabt haben kann: in eben jenem Wandge-
mälde aus der augustinischen Zeit, die Goethe in einer Kopie zur Verfügung stand. Damit drängt
die Argumentation über das konkrete Liebeserlebnis hinaus auf vorgeprägte Bilder, typische
Situationen und sich wiederholende Motive hin. Es bleibt bemerkenswert, daß neue »Quellen«,
wenn man das so bezeichnen will, Vorstellungen anderer Art nicht ausschließen. Die Situation
der Erinnerung wird auch hier vorausgesetzt, wie erst recht in dem obengenannten Beitrag
Detlev W. Schumanns.
Anmerkungen 343

Mit ganz anderer Blickrichtung und mit ganz anderen Erkenntnisinteressen - Theodor W.
Adorno und Jürgen Habermas werden gebührend genannt - hat sich Heinz Schlaffer mit dem
Gedicht befaßt: Poesie und Prosa. Liebe und Arbeit. Goethes »Bräutigam«. In: Der Bürger als
Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche (edition Suhrkamp. Frank-
furt 1973, S. 51-85). Daß Goethes Altersgedicht das Verhältnis von Liebe und Arbeit zum
Vorwurf habe, ist die These des Verfassers. Erstaunlich, was alles an Antagonismen, Wider-
sprüchen und Ungereimtheiten im Prozeß der Arbeitsteilung innerhalb der bürgerlichen Gesell-
schaft zum Vorschein kommt - so daß gefolgert werden kann: »Aus der Erinnerung ans Miß-
glückte schreibt der alte Goethe den Bräutigam als Gedicht einer >Hoffnung im Vergangenen<,
einer Hoffnung, die von der Wirklichkeit nicht eingelöst werden konnte, aber als Postulat gegen
die Wirklichkeit im Gedicht selbst eine andere Wirklichkeit wird« (S. 82). Auf Adornos Rede
über Lyrik und Gesellschaft wird auf derselben Seite in einer Fußnote verwiesen. Mit allen hier
genannten Interpreten hat sich Walter Hof, kurz vor seinem Tode, noch einmal auseinanderge-
setzt, ohne seine Deutung preiszugeben. Die noble Form, in der das geschieht, wirkt wohltuend,
und was ihm persönlich das Gedicht bedeutet hat, kann kaum zweifelhaft sein. Der Beitrag, wohl
sein letzter, findet sich in GRM, NF Bd. 29 (1979), S. 373-389, dort unter dem Titel: Behutsam-
keit und Wortlaut. Betrachtungen zum Verständnis des Gedichts »Der Bräutigam« von Goethe.
Abschließend sei noch auf eine Befassung mit unserem Gedicht aufmerksam gemacht, die
zweifellos beanspruchen darf, etwas Besonderes zu sein: eine Gruppe junger Wissenschaftler um
Eike von Savigny hat die Argumentationsmuster in germanistischen Interpretationen untersucht
und sortiert; und dabei wurden auch die dem »Bräutigam« gewidmeten Interpretationen zum
Untersuchungsgegenstand erklärt. Georg MegglelManfred Beetz: Interpretationstheorie und
Interpretationspraxis. Kronberg 1976, S. 119-158. Die Teile über die Interpretationen des
»Bräutigam«-Gedichts werden mit der Überschrift »Blockierte Diskussion« versehen - offen-
sichtlich in dem Sinn, daß die Diskutanten zu wenig aufeinander eingehen, ihre Position nicht
ändern, sich also gegenseitig blockieren. Ich habe rückblickend nicht den Eindruck, daß dem so
ist. Man könnte sehr genau angeben, was alles der eine dem andern verdankt, daß es so etwas
wie eine Entwicklung in der Aufeinanderfolge der Beiträge gibt - und vor allem: daß die Zahl
möglicher neuer Deutungen geringer geworden ist. - Zur Argumentationsforschung ist auf Eike
von Savigny, der sie angeregt hat, vor allem zu verweisen: Argumentation in der Literaturwis-
senschaft. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu Lyrikinterpretationen. München 1976.
Der Text des Beitrags erscheint unverändert, die Anmerkungen wurden dem Darbietungsstil
des vorliegenden Bandes angeglichen. Die erste Anmerkung entspricht der Veröffentlichung
von 1958.
1 Gelegentlichen Unterhaltungen im Anschluß an den Vortrag war zu entnehmen, daß das
Gespräch über Goethes Gedicht »Der Bräutigam« fortgesetzt wird, daß neue Untersuchun-
gen in Aussicht stehen und daß zumal der philologische Teil Gegenstand weiterer Erörte-
rungen sein wird. Im Bewußtsein der Vorläufigkeit schien es mir daher angebracht, mich an
den Wortlaut zu halten, von geringfügigen stilistischen Änderungen abgesehen. Gegenüber
einem schon vor Jahren abgefaßten Manuskript ergaben sich für die Form des Vortrags
manche Kürzungen, die der Deutlichkeit des Gemeinten nicht unbedingt zugute gekommen
sind. Die für die Zwecke des Vortrags gestrichenen Teile wurden, soweit notwendig, in die
Anmerkungen verwiesen. Sie sind auch aus diesen Gründen über Gebühr ausführlich gehal-
ten.
2 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek 1956, S. 8.
3 Ebda, S. 202.
4 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. 12. Aufl. Göttingen 1921, zuerst 1905
erschienen. Der Abschnitt »Erlebnis und Dichtung« im Goethe-Kapitel des genannten
Buches, dort S. 125-128.
5 Vgl. Hermann August Korff: »Und so kann große Dichtung nie etwas anderes als Erlebnis-
dichtung sein« (Goethe im Bildwandel seiner Lyrik. Leipzig 1958, I, S. 14).
6 Das bezieht sich vor allem auf die subtile und musische Auslegung des Gedichts, die Paul
Stöcklein zuerst in der DVjs, XXII (1944), S. 382-411, gab; sie ist wieder abgedruckt in:
Wege zum späten Goethe. Hamburg 1949, S. 125-156.
344 Anmerkungen

7 Wir nennen in zeitlicher Folge die neueren Beiträge der letzten Jahrzehnte. G. W. Hertz:
Goethes Gedicht »Der Bräutigam«, in: GRM, XIX (1931), S. 221-224; Karl Vüftor: Goe-
thes Altersgedichte, in: Euph. XXXIII (1932), in umgearbeiteter Form wieder abgedruckt
in: Geist und Form. Bern 1952, S. 144-193; Paul Stöckleins zuerst veröffentlichter Beitrag
(siehe Anm. 6); Max KommereIl: Gedanken über Gedichte. Frankfurt 1944, S. 136--140;
Ernst Beutler: Lili. Wiederholte Spiegelungen, in: Essays um Goethe. Wiesbaden 1947. Bd.
11, S. 77-81; Erich Trunz: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe), HA 1/590. Walter Hof:
Um Mitternacht, in: Euph. XLV (1950), S. 50-82; Walter Hof: Zu Goethes Gedicht »Der
Bräutigam«, in Euph. XLVI (1952), S. 301-306; Lieselotte Blumenthai: Goethes Gedicht
»Der Bräutigam«, in: Goethe NF des Jahrbuchs der Goethe-Ges. XlVIXV (1952/53), S.
108--135; Walter Hof: Wo sich der Weg im Kreise schließt. Goethe und Charlotte von Stein.
Stuttgart 1957, S. 303-324; Hermann August Korff: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik,
Leipzig 1958, 11, S. 325-330.
8 H. A. Korff: Bildwandel 11, S. 325.
9 Vgl. Goethes Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe) 11, S. 229. In Überschreitung der edito-
rischen Grenzen ist dort das Gedicht »Der Bräutigam« mit den Gedichten »Dem aufgehen-
den Vollmonde« und »Früh, wenn Tal ... « ausdrücklich zu einer Trilogie vereinigt. Im
Hinblick auf die Nähe des »Bräutigams« zur Marienbader »Elegie«, wie sie in neueren
Arbeiten geltend gemacht wurde, verdient der Hinweis Beachtung: »Alle drei Gedichte
atmen, im Gegensatz zur >Trilogie der Leidenschaft<, die reinste Ruhe des befriedeten
Alters.« - In der Artemis-Gedenkausgabe GA 11/50, hg. von Emil Staiger, ist im alphabeti-
schen Verzeichnis vermerkt: »Aug. 1828«.
10 Vgl. vor allem die unter Anm. 7 aufgeführten Beiträge von G. W. Hertz, W. Hof und
Lieselotte Blumenthai.
11 W. Hof (Euph. 1952, S. 306): »Aber dies bleibt zu sagen, daß man entweder den von mir
geführten Beweis als einen Indizienbeweis anerkennen oder auf das vollkommene Verständ-
nis eines der schönsten und erschütterndsten Gedichte in deutscher Sprache verzichten
muß.«
12 Vgl. Verzeichnis von Salomon Hirzels Goethe-Sammlung, hg. von ReinhardFink, 1932, S. 50.
13 a.a.O., S. 117.
14 Die Überschrift sei »irreleitend«, meinte Eduard von der Hellen (JA 11, S. 229); und gar
Franz Koch (Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Weimar 1932, S. 229): »Besser
hieße es >Der Witwer«<.
15 WA, I. Abt. 5111, S. 76.
16 Was als Vorderseite und was als Rückseite zu gelten hat, wird zunächst bestimmt. Die
Datierung selbst geht von den vier Strophen des Lynkeusliedes (Verse 9289-9304) aus -
unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um die Rückseite handelt. Die Reinschrift des
Lynkeusliedes trägt das Datum des 31. März 1826. Daß die Verse auch an diesem Tage
entstanden seien, wird nicht angenommen, weil eine für die Arbeit am »Faust« unfruchtba-
re Zeit vorausgeht, die etwa Anfang April 1825 einsetzt. Da Goethe am 14. März 1826 sich
die alten Papiere vornimmt, um sie »gehörig zu redigieren« (WA 111. Abt. 10, S. 171), wird
angenommen, daß die Lynkeusverse im Entwurf schon vorlagen und im März 1826 nur
abgeschrieben wurden. Die Entstehungszeit der Verse weist somit in die Monate März und
April des Jahres 1825, so wird weiter gefolgert. Nach fünfundzwanzigjähriger Pause wandte
sich Goethe zunächst dem fünften Akt zu, aber am 14. März 1825 wird im Tagebuch ver-
merkt: »Helena vorgenommen« (WA, III. Abt. 10, S. 29). In diese Zeit setzt Lieselotte
Blumenthai die Entstehung des Lynkeusliedes aus dem dritten Akt und schließt, daß eben
damals der »Bräutigam« abgeschrieben wurde, so daß die Rückseite zu anderer Verwen-
dung zur Verfügung stand. Wörtlich heißt es: »und damit läge als seine vermutliche Entste-
hungszeit die ganze Weite des Jahres 1824 vor uns« (a.a.O. S. 121). Die höchst scharfsinnige
Datierung, die für sich beanspruchen darf, neue Materialien gefunden und herangezogen zu
haben, enthält gleichwohl einige Unsicherheitskoeffizienten. Erstens: von der Bestimmung
der Rückseite hängt alles ab. Walter Hof, (Wo sich der Weg ... S. 347) bestreitet diese
Bestimmung - mir scheint aus einer nicht unbedingt günstigen Position heraus. Zwar ist
Anmerkungen 345

auch er in seinem 1950 veröffentlichten Datierungsversuch auf die Fausthandschrift einge-


gangen, ohne sie freilich im Original überprüft zu haben, wie es Liese10tte Blumenthai getan
hat. Er sieht sich in der Lage, seine Datierung um jeden Preis zu verteidigen und argumen-
tiert dabei - durchaus mit Scharfsinn - gegen Materialien, die er selbst zuvor nicht kannte.
Der Eindruck, Recht behalten zu wollen, ist unvermeidlich; und die Beweisführung ist alles
andere als evident. Sie ist voll der Deutungen, und man hüte sich, den Interpreten die
»Vergänglichkeit« der Deutungen vorzuhalten, um das ,>Unvergängliche« für den Philolo-
gen ~ beanspruchen. Die Trennung von Philologie und Interpretation wird gerade im
vorliegenden Fall ad absurdum geführt. Im übrigen gelingt es Hof nicht, die Bestimmung
der Rückseite auch nur annähernd zu seinen Gunsten zu entscheiden. Die Verringerung des
Zeilenabstandes in der handschriftlichen Fassung fällt m. E. wenig ins Gewicht. Sie trifft am
ehesten für die vierte Strophe zu. Die aber nimmt ohnehin eine Sonderstellung ein: sie
wurde in dieser Form nicht niedergeschrieben, sondern nachträglich verändert. - Ein weite-
rer Unsicherheitskoeffizient liegt zweitens in der zeitlichen Trennung der Reinschrift des
Lynkeusliedes von der Niederschrift unseres Gedichts. Die Möglichkeit ist nicht auszu-
schließen, daß das Gedicht eben entstanden war, als die Reinschrift des Lynkeusliedes mit
dem Datum des 31. März 1826 bezeichnet wurde. - Drittens - und dieser Punkt scheint mir
der wichtigste - ist es nicht unbedingt erforderlich, die Entstehung des Gedichts von der
Anfertigung der Reinschrift, wenn sie denn Anfang 1825 vorgenommen wurde, so weit zu
trennen. Warum eigentlich? Der Satz, daß die ganze Weite des Jahres 1824 vor uns liege,
könnte als entbehrlich gedacht werden, und die Möglichkeit wäre denkbar, daß unser
Gedicht eben Anfang 1825 auch entstand. Nichts spricht, mit anderen Worten, gegen die
Möglichkeit, den schöpferischen Augenblick näher an diesen Zeitpunkt heranzurücken.
17 Auch sonst fehlt es dieser Deutung nicht an Gewaltsamkeiten. Sie beruhen in einer offen-
kundigen Tendenz zum Eindeutigen, in einem mangelnden Sinn für »ambiguity«. Darüber
ist noch zu sprechen.
18 Was wesentlich dem Umstand zuzuschreiben ist, daß mit der vermutlichen Abschrift des
Gedichts die ganze Weite des Jahres 1824 vor uns liegen soll.
19 S. 122ff.
20 S. 130: ,>So eng sind beide innerlich miteinander verbunden, daß das spätere Gedicht über
keinen neuen Ton verfügt [... ] in der seelischen Verfassung ist es der ,Elegie< näher
verwandt«. Man wird einwenden dürfen, daß innerhalb der Alterslyrik Goethes von Ge-
dicht zu Gedicht nicht jedesmal ein neuer Ton zu erwarten ist. Der Aitersstil ist der neue
Ton - gemessen an der reinen Erlebnislyrik des jungen Goethe. Dieser Altersstil ist dem
»Bräutigam« ebenso eigen wie der ,>Elegie«. Weit mehr könnte von der Marienbader
>,Elegie« gesagt werden, daß sie noch einmal in die alten Formen der Erlebnisunmittelbar-
keit zurücklenkt; was sich freilich bei näherer Betrachtung kaum bestätigt. Aber ein »Wech-
sel der Töne« zwischen beiden Gedichten, ungeachtet der im Altersstil beruhenden Ge-
meinsamkeiten, ist dennoch spürbar. Mir will scheinen, als habe Eduard von der Hellen so
unrecht nicht, wenn er - im Gegensatz zur ,>Trilogie der Leidenschaft« - von der »reinsten
Ruhe des befriedeten Alters« spricht - trotz allem und allem.
21 Im Sinne Eduard Mörikes und seinen Interpreten (»Auf eine Lampe«).
22 Karl Vi€tor (Geist und Form, S. 165) spricht vom ideellen Bräutigamsstand, ohne die Frage
nach den biographischen Bezügen zu stellen. Ein bestimmter Zustand, so meint er, werde
erinnernd in das Licht des gegenwärtigen Augenblicks zurückgerufen. - Ähnlich Paul Stöck-
lein (Wege zum späten Goethe, S. 126): Die Gewißheit des letzten Verses keime aus dem
>,erinnerten tiefen Augenblick« auf.
23 S. 129.
24 Vgl. K. Vi€tor (ebda, S. 165): >,In jener Zeit war die Nacht, der Schlaf selbst mehr als der
Tag mit seinem Licht, war Traum mehr als das Bewußtsein wachen Lebens«.
25 P. Stöcklein: Wege zum späten Goethe, S. 148.
26 Ebda, S. 148: >,In der >Braut von Korinth< ist die Mitternacht die Stunde der Wiederbele-
bung«. Dort auch der Hinweis: »Und die Mitternacht ist der Todesaugenblick Fausts, in
dem seine Entelechie aus dieser Daseinsform in eine andere hinübertritt«.
346 Anmerkungen

27 Vgl. Euph. 1952, S. 304: »Dann kann mit der Schwelle, wo sie ruht, nicht die Schlafkammer
der >Braut< gemeint sein. Was aber bleibt dann allein übrig? Ihr Grab« Sic! Desgleichen
neuerdings (Wo sich der Weg, S. 30): »Nun geleitet ihn der Traum zum Grab der Geliebten
... « Wenn alles so eindeutig ist, muß man fragen, warum Goethe nicht von vornherein das
Wort Schwelle durch das Wort Grab ersetzt hat. Er wäre genauer gewesen.
28 Wege zum späten Goethe, S. 126.
29 Euph. 1950, S. 73.
30 Essays um Goethe, I1, S. 1 ff.
31 Meine Bemühungen, den »Bräutigam« als ursprünglich gedachte Verseinlage im »Faust« zu
lokalisieren, blieben ohne Erfolg. Wenigstens seit 1953 war ich bemüht, diese Vermutung zu
erhärten, die durch den Datierungsversuch Lieselotte Blumenthais eher an Wahrscheinlich-
keit gewann. Für die Vermutung gibt es einige Anhaltspunkte. Daß die Niederschrift, des
ganzen Gedichts oder eines einzelnen Verses, jeweils mit Fausthandschriften in Verbindung
steht, ist zu auffällig, als daß man völlig darüber hinwegsehen kann. Lieselotte Blumenthai
erwägt einen inneren Zusammenhang zwischen Vorder- und Rückseite, also zwischen den
Versen unseres Gedichts und den Versen aus »Faust I1«, nicht. Dagegen wird ein innerer
Zusammenhang zwischen den Versen 4 und 5 und der auf der Rückseite vermerkten Maxi-
me über die Spannung angenommen, der wiederum mich, um es offen zu gestehen, wenig
überzeugt. Davon abgesehen, gibt es manche Beziehungen thematischer Art: die Nähe
unseres Gedichts zum Lynkeuslied des fünften Akts vor allem. Aber womöglich besteht
auch zwischen den Lynkeusversen des dritten Akts und unserem Gedicht nicht eine völlige
Beziehungslosigkeit:
Harrend auf des Morgens Wonne,
Östlich spähend ihren Lauf,
Ging auf einmal mir die Sonne
Wunderbar im Süden auf.
Erich Trunz trifft die für unsere Überlegungen nicht ganz nebensächliche Feststellung:
»Lynkeus spricht in strophischen Reimversen von hinreißendem Schwung; zum ersten Male
tritt hier in die He1ena-Welt diese Versform ein« (HA III/590). - Stöcklein erinnert daran,
daß die Mitternacht zugleich der Todesaugenblick Fausts sei, und in der Tat singt Lynkeus
sein Lied in tiefer Nacht. Hier wie dort haben wir es mit dem dritten oder dem fünften Akt
zu tun, die nacheinander Anfang 1825 vorgenommen wurden. Auch wenn sich die Vermu-
tung nicht erhärten läßt - und vorerst fehlt es an stichhaltigen Belegen -, sind damit
immerhin Möglichkeiten gegeben, die manche rätselhaften Züge erläutern könnten, für die
es bisher Erklärungen kaum gab. Hierher gehört vor allem die Frage, warum Goethe das
Gedicht »Der Bräutigam« nicht in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen hat. Daß hier
etwas zu verbergen war, verfängt nicht; das zu tun, hätte für die Marienbader »Elegie« weit
näher gelegen. Aber die Vorstellung, daß noch nach 1829 an eine Verseinlage im dritten
oder fünften Akt des zweiten Teils der Faustdichtung gedacht war, ist so völlig abwegig doch
wohl nicht. Auch die Argumentation W. Hofs (S. 348 letzter Abschnitt seines Buches)
verliert an Gewicht, wenn man einen inneren Zusamenhang, wie es hier angedeutet wurde,
in Rechnung stellt. Das Gedicht »Der Bräutigam« hat im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zu
oft kühnen und gewagten Spekulationen Anlaß gegeben. Daher wird es erlaubt sein, wenig-
stens in Anmerkungen von solchen Möglichkeiten zu sprechen.
32 Geist und Form, S. 164.
33 Worauf vor allem Ernst Beutler hingewiesen hat. - Vgl. auch die Notizen in den Schemata
zum siebzehnten Buch: »Man fühlt wie es ernst sey, daß es Ernst bleiben müsse. Man
verspricht sich die Hand. Bräutigams Stand« (WA, I. Abt. 29, S. 215).
34 GA X/764. - HA X/107.
35 Ebda, S. 567. - S. 107f.
36 Mit 1. Abb. 29/215; vgl. auch S. 212: »Zustand des Bräutigams hervorgehoben. Ganz im
ideellen«.
37 Zitiert bei Karl Hofmann: Heinrich Mühlpfort und der Einfluß des Hohen Liedes auf die
zweite schlesische Schule. Heidelberg 1893, S. 58. .
Anmerkungen 347
38 Ebda, S. 65.
39 Herders Sämmtliche Werke, hg. von B. Suphan, Bd. VIII. Berlin 1892, S. 513.
40 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist Emil Staigers Auffassung, daß ein nichts von
Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines Kunstwerks ersten Ranges gewinnen könne. Das
mag möglich sein. Nur läßt sich damit Goethes hohe Einschätzung der Motive in einem
Gedicht nicht weginterpretieren. Staiger verweist (Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946,
S. 20/21) auf Goethes Lied »An den Mond« und fragt, ob es nicht das schroffe Urteil über
die Wichtigkeit der Motive widerlege: »Seit über hundert Jahren wissen sich die Kenner
nicht zu einigen über die Situation, die dem Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau
gerichtet, an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist, ist es ein Rollengedicht? [ ... ]
Alles wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine nicht, daß dieses unverständliche
Lied zum Schönsten der Weltliteratur gehöre«. Durchaus im Sinne von Goethes Hochschät-
zung der Motive darf man hinzufügen, daß das Lied »An den Mond« nicht zuletzt um der
Schönheit des Motivs willen zum »Schönsten der Weltliteratur« gehört. Die nächtliche
Situation, die Gegenwart des Mondes, die befreiende und lösende Wirkung, die von ihm
ausgeht: das ist ein sehr bestimmtes Motiv. Wir kennen es nicht nur von Goethes Lyrik her.
Nur wird man sich verständigen müssen, was wir in lyrischen Gedichten als Motive bezeich-
nen wollen. Es sollte möglich sein, sich auf die Bestimmung zu einigen, die Wolfgang Kayser
(Das sprachliche Kunstwerk. Bern 2. Aufl.) 1951, S. 65) vorgeschlagen hat. Die Frage des
Rollengedichts ist dann nicht mehr so entscheidend. - Wir haben in besonderer Weise
Anlaß, auf Staigers Bemerkungen über die Motive einzugehen. Er führt das Wort Goethes
an, um es einzuschränken. Eben dieses Wort aber steht in inniger Beziehung zu unserem
Gedicht, wie noch zu zeigen ist.
41 GA XXIV/138.
42 Über Therese Louise Albertine von Jakob (1797-1870, die später den amerikanischen
Gelehrten E. Robinson heiratete, mit ihm 1830 nach Amerika ging und im Alter (1864)
nach Deutschland zurückkehrte, vgl. ADB, XXVIII, S. 724 f. - Den Briefwechsel zwischen
ihr und Goethe veröffentlichte Reinhold Steig im Goethe-Jahrbuch, XII (1891), S. 33-77.
Der Publikation ist deutlich zu entnehmen, wie rege der Briefwechsel in den Jahren 1824
und 1825 geführt wurde. - Der Vermittler zwischen Goethe und Talvj war vermutlich der
unten genannte Vuk Karacffic.
43 S. 120.
44 WA, I. Abt. 41 2, S. 144. GA XIV/535f.
45 Ebda, S. 144. - Das bezeichnete Gedicht wird im Briefwechsel zwischen Fräulein von Jakob
und Goethe mehrfach erwähnt und lautet:
Uebers Feld hin trug der Wind die Rose
Trug sie nach dem Zelte hin des Ranko.
Ranko war darinnen und Militza,
Ranko schreibend, und Militza stickend.
Vollgeschrieben waren alle Blätter,
Alle das gebrannte Gold vernähet;
Da sprach Ranko also zu Militza:
»Sage, liebe Seele, mir Militza,
Sage mir, ist lieb Dir meine Seele,
Oder dünket hart Dich meine Rechte?«
Aber ihm entgegnete Militza:
»Glaub' es, Du, mein Herz und meine Seele,
Theurer ist mir, Ranko, Deine Seele,
Als die Briider, wären's alle Viere,
Weicher, Liebster, dünkt mich deine Rechte,
Als vier Kissen, wären's auch die weichsten.
Volkslieder der Serben, metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Halle 1825,
I, S. 46.
348 Anmerkungen

46 GA XXVll136.
47 An T. L. A. von Jakob vom 2. August 1824 (WA, IV. Abt. 38, S. 211/12).
48 Vgl. hierzu: M. Curcin: Das serbische Volkslied in der deutschen Literatur. Leipzig 1905;
M. Trivunac: Das Goethejahr in Jugoslavien, in: Germanoslavia, 1932/33, S. 153; H. Wen-
del: Die Welt der Südslawen im Spiegel Goethes, in: Jahrb. des freien deutschen Hochstifts,
1926; M. Murko: Die serbokroatische Volkspoesie, in: Anz. f. slav. Philologie, 1906;
J. M. Milovic: Talvjs erste Übertragung für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig
1941; J. M. Milovic: Goethe, seine Zeitgenossen und die serbokroatische Volkspoesie.
Leipzig 1941; M. Vasmer: B. Kopitars Briefwechsel mit Jacob Grimm. Berlin 1938;
H. Schmaus: Südslawisch-deutsche Literaturbeziehungen, in: Deutsche Philologie im Auf-
riß, hg. von W. Stammler, III (1957): Sp. 405 ff.
49 Kleine Schriften, IV, S. 419.
50 Goethe und die Romantik. Briefe mit Erläuterungen. Hg. von Carl Schüddekopjund Oskar
Walzei. Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 13/14. Das hier angeführte Zitat im 2. Teil
Bd. 14 (1899), S. 225.
51 KleineSchriften, IV, S. 433/44.
52 In seinem Beitrag »Serbische Lieder«, 1825 im zweiten Heft der Zeitschrift »Über Kunst
und Alterthum« veröffentlicht, betont er das »allgemein Menschliche«, das sich in allen
Völkern wiederholt. Aber am barbarischen Menschenopfer nimmt er Anstoß: »es finden
sich Menschenopfer und zwar von der widerwärtigsten Art« (WA, I. Abt. 41 2 , S. 141).
Marko sei wohl ein Held, »aber freilich in skythisch höchst barbarischer Weise«. Dagegen -,
immer wieder wird es hervorgehoben - seien die Liebeslieder »von größter Schönheit«
(ebda, S. 143).
53 Ebda, S. 218.
54 GA XXIV/228.
55 Vgl. über diese Zusammenhänge die ungedruckte Heidelberger Dissertation von Elfriede
Angeli: Die Entstehung der religiösen Schäferlyrik von Petrarca bis Spee, 1956.
56 Salomons Des Hebreischen Königes Hohes Lied, in: Martini Opitii Poematum, Erster
Theil, 1627, S. 345.
57 Ebda, S. 353/54.
58 Sämmtl. Werke, VIII, S. 485 ff.
59 »Lieder der Liebe. Ein Biblisches Buch. Nebst zwo Zugaben.« Sämmtl. Werke. VIII, S.
589ff.
60 Goethe an Frau von Stein [20. April 1777] und auch Ende Oktober 1778 (WA, IV. Abt. 3,
S. 149 und 251).
61 Sämmtl. Werke. VIII, S. 605.
62 Ebda, S. 605.
63 Vgl. VIII, S. 497: »0 ihr Bräute jugendlicher Unschuld [... ] Träumt ihn lange den seligen
Traum [... ]«; VIII, S. 601: »Da sitzt sie, unwißende, hoffende Braut der Unschuld«.
64 Ebda, S. 625.
64a VIII, S. 619.
65 VIII, S. 500/501.
66 S. 117.
67 Bruno Badt hebt die Sorgfalt der Goetheschen Übersetzung und ihre Selbständigkeit hervor
(Goethe als Übersetzer des Hohenliedes, in: Neue Jahrbücher f. Philologie und Pädagogik.
1881, S. 346ff). - Vgl. ferner Hans Heinrich Schaeder: Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig
1938, S. 31.
67a Auf die entsprechenden Motivanklänge in der »Pandora« und in »Dichtung und Wahr-
heit« wurde verwiesen. In den Aufzeichnungen zu einer »Cantate zum Reformations-Jubi-
läum« von 1817 ist verzeichnet: »Sulamith, die Geliebteste in der Ferne« (WA, I. Abt. 26,
S.575).
68 West-östlicher Divan, 2. Band. Noten und Abhandlungen. Bearbeitet von Ernst Grumach
(Akademie-Ausgabe) Berlin 1952, S. 6. - »Ich weiß nicht, wer den Perser Hafiz läse, ohne
daß ihm Salomo einfiele«, hatte Herder schon 1776 geschrieben (Sämmtl. Werke, VIII, S.
591).
Anmerkungen 349

69 Akademie-Ausgabe, S. 6.
70 WA, I. Abt. 422 , S. 41.
71 VIII, S. 641: »Liebe, die Christus lehrte [... ] Sie kam vom Ende der Erde Salomo zu hören
und siehe mehr als Salomon, Christus«.
72 Einen Überblick über neuere Literatur zum Hohenlied gibt Karl Kuhl in: Theol. Rund-
schau, NF, IX (1937), S. 137-167.
73 »Ich ging nochmals zum Buche, zu sehen, was da war, zog die ältesten und neuesten Ausleger
zu Rath, nur keiner war mir lieber, als der von allen beleidigte klare Wortverstand, der
Ausleger aller Ausleger« (Sämmtl. Werke, VIII, S. 538).
74 WA, IV. Abt. 46, S. 224.
75 Den ideellen symbolischen Sinn hat vor allem K. Vietor betont. Die hier verfolgten Bezie-
hungen zum Hohenlied und die damit verbundene religiöse Symbolik wäre erst recht geeig-
net, vor Fehldeutungen der Überschrift zu bewahren.
76 Das gilt ähnlich für die Marienbader »Elegie«, ohne daß es nötig ist, die Nachweise Strophe
für Strophe anzuführen.
77 Vgl. die verwandten Bilder der »Elegie«:
V. 23/24: Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.
V.49: Wie zum Empfang sie an den Pforten weilte.
V.71I72: Nun dämmert von bekannter Schwelle
Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.
Vom Doppelsinn der Sprache und Bilder ist das ganze Gedicht geprägt. Im Tiefsinn der
Ambiguität beruht nicht zum geringsten der eigentümliche Reiz dieser Verse. Befremdlich
ist daher das gedichtferne Verfahren, mit dem Walter Hof jene vertraute Vorstellung vom
Raum der Geliebten, die auch mitschwingt, abwehren zu müssen meint, um nur ja das
Gedicht uneingeschränkt für Charlotte von Stein zu beanspruchen. Man verzeihe die Pole-
mik, aber die Eindeutigkeit, die spürbar wird, ist um des Gedichtes willen kaum verzeihlich:
es bleibe nichts übrig als dies, daß mit der Schwelle nur das Grab - ihr Grab - gemeint sein
könne. Es ist diese Apodiktik der Alternative, die so wenig Raum für Differenzierungen
läßt.
78 Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner. 11/1, S. 167.
79 Ebda III, S. 197.
80 WA, I. Abt. 113' S. 122.
80a WA, IV. Abt. 2, S. 299.
81 Vgl. auch Otto Pniower: Goethes Faust und das Hohe Lied, in: Goethe-Jahrbuch, XIII
(1892), S. 181 ff.
82 An Ludwig Friedrich Schultz (WA, IV. Abt. 38, S. 181).
83 In Erinnerung, daß »jene neu belebten Ruinengärten [... ] unwandelbar vor den Augen
stehen« (6. Okt. 1824. In: Goethes Briefwechsel mit Marianne von Willemer. Hg. von
M. Hecker. Leipzig 1922, S. 126).
84 Grundbegriffe der Poetik, 1946.
85 Heinrich Henel: Erlebnisdichtung und Symbolismus, in: DVjs, XXXII (1958), S. 77.
86 Die Erinnerung, die Anredeformen, die religiöse Symbolik, der Versuch, die Leidenschaf-
ten vom Geist her zu bewältigen, auch wenn er scheitert, der Überblick über das gelebte
Leben (Werther, Tasso, Pandora) und schließlich die Verwandlung des unmittelbar Erleb-
ten ins Gedankliche: die Wendung zum Tragischen. Vgl. auch Elizabeth Wilkinson: Goethes
»Trilogie der Leidenschaft«. Ein Beitrag zur Katharsis, in: Veröffentl. des Freien Deutschen
Hochstifts, 1958.
87 Was freilich schon in der »Elegie« selbst zum Ausdruck kommt. Das vorangestellte und
leicht veränderte »Tasso«-Wort deutet darauf hin.
88 Vgl. Paul Böckmann: Die Heidelberger Divan-Gedichte, in: Goethe und Heidelberg. Hg.
von G. Poensgen. Heidelberg 1949, S. 204-239.
89 Ebda, S. 129.
350 Anmerkungen

90 Wege zum späten Goethe, S. 140/41.


91 E. Staiger: Das Spätboot, in: Festschrift für Fritz Strich. Bern 1952, S. 129.
92 DVjs, 1958, S. 84.
93 Grundbegriffe der Poetik, S. 62.

Goethes Maximen und Reflexionen


Denkformen und Bewußtseinskritik

1 Mit dem Titel »Der Aphorismus als eine Form der Bewußtseins- und Kulturkritik« wurde
der folgende Beitrag als ein Thesenpapier den Teilnehmern an der Veranstaltung der
Goethe-Gesellschaft zugesandt und in einer der Sektionen erläutert. Von dem Begriff der
Kulturkritik habe ich gemeint, in der erweiterten Fassung absehen zu sollen. Goethes Maxi-
men und Reflexionen liegen heute in zahlreichen Ausgaben vor. Im folgenden Beitrag wird
nach der Ausgabe Max Heckers zitiert, die in neuer Auflage und mit Erweiterungen als
Insel-Taschenbuch Nr. 200 (Frankfurt 1976) erschienen ist. Die Zahlen in Klammem be-
zeichnen die Seitenzahl dieser Ausgabe. Die rühmenden Worte Max Frischs über das »Wirk-
lichsein« dieser Texte aus dessen Tagebuch 1946-1949 sind der Ausgabe vorangesetzt. - Die
Literaturangaben beschränken sich auf das Notwendige. Das sehr umsichtige Buch von
Gerhard Neumann (Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, No-
valis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976) nenne ich dankbar schon an dieser
Stelle.
2 Von Vorahnungen hatte schon Hermann Helmholtz seinerzeit in seinem Vortrag vor den
Mitgliedern der Goethe-Gesellschaft gesprochen (Goethe's Vorahnung kommender natur-
wissenschaftlicher Ideen, in: Deutsche Rundschau, 18. Jg. 1892, S. 115-132). Von dem, was
alles Goethe gedanklich vorwegnimmt, handelt G. Neumann in seinem obengenannten
Buch wiederholt; vgl. S. 616, S. 658 u. a.
3 Robert Musil: Gesammelte Werke, Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf
Frise. Reinbek bei Hamburg 1952, S. 1040.
4 Gonthier-Louis Fink verweist hinsichtlich der sittlichen Bezüge auf die Tüchtigkeit des
einzelnen und auf die Resultate des Lebens (Die Tradition in Wilhelm Meisters Wanderjah-
ren, in: Recherches Germ. 1975, S. 93). - Hierzu auch Hans Joachim Schrimpf: Das Welt-
bild des späten Goethe. Überlieferung und Bewahrung in Goethes Alterswerk. Stuttgart
1956.
5 Wilhelm Flitner: Aus Makariens Archiv. Ein Beispiel Goethescher Spruchkomposition. In:
Goethe-Kalender 36 (1943), S. 122: »Er bildet den Aphorismus bei seiner Arbeit am
Wilhe1m Meister in den neunziger Jahren bewußt aus und erfand die ihm eigentümliche Art,
Aphorismen zu Reihen kunstvoll zu komponieren.«
6 Über diese Umorientierung im Denken habe ich in einem Aufsatz über Auswanderungen in
Goethes dichterischer Welt gehandelt (Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, 1977179, S.
159-183).
7 Hierzu G. Neumann, S. 19.
8 Aufgabe und Wert der Naturwissenschaft im Urteil Goethes. Festvortrag auf der Hauptver-
sammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar am 25. Mai 1956, in: Goethe NF des Jahr-
buchs. 18. Bd. (1956), S. 15.
9 Werner Heisenberg: Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der mo-
demen Physik. In: Geist und Zeit. 19. Jg. (1941), S. 261-275; das angeführte Zitat S. 266.
Der Vortrag, zuerst am 5. Mai 1941 in Budapest gehalten, ist wieder abgedruckt in dem
Aufsatzband Werner Heisenbergs: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft.
Zehn Vorträge Stuttgart 1959, S. 85-106.
10 Zitiert von W. Gerlach, S. 5. - Brief an C. F. Naumann vom 24.1. 1826 (WA, Bd. 40, S.
264).
11 Hierzu Martin Dyck: Goethes Verhältnis zur Mathematik. In: Goethe. NF des Jahrbuchs,
23. Bd. (1961), S. 49-71. - W. Heisenberg: S. 91 f.
12 Ebda, S. 270. Wandlungen, S. 29.
Anmerkungen 351
13 »Da es aber einmal geschehen war und die Wissenschaften sich als ein Staatsglied im
Staatskörper fühlten, einen Rang bei Processionen und andern Feierlichkeiten erhielten,
war bald der höhere Zweck aus den Augen verloren; man stellte seine Person vor, und die
Wissenschaften hatten auch Mäntelchen und Käppchen auf« (91).
14 Es sind die Maximen Nr. 1112 (»Die Allegorie verwandelt die Erscheinungen in einen
Begriff ... «) und Nr. 1113 (»Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee ... «), bei
Hecker, S. 192. Die bekannteste Definition des Symbols im Kontext naturwissenschaftli-
cher Schriften findet sich im Versuch einer Witterungslehre (1825). Hier heißt es: »Das
Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen: wir
schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinun-
gen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsa-
gen, es dennoch zu begreifen« (GA XVII/639).
15 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolution (deutsche Ausgabe seines
obengenannten Buches, das in englischer Sprache zuerst 1962 erschien). Frankfurt 1967,
S.31.
16 Hierzu die Ausführungen G.Neumanns, S. 662ff.
17 »Mit Bedacht setzt Goethe seine Geschichtsdeutung in Analogie zur Pflanzenentwicklung:
Das Gleichnis vom Samen, aus dem die Pflanze bis zu voller Größe emporwächst, deutet auf
die besondere >Organisationsform< organischer Betrachtung hin, die sich der starr-systema-
tischen entgegengesetzt; kein Begriffsgebäude, sondern ein Verstehensorganismus«
(G. Neumann: ebda, S. 668).
19 Die Grenzsituation als aphoristischer Anlaß wird für G. Neumann zu einer zentralen Katego-
rie, nicht nur bei Goethe; vgl. S. 96, S. 101, S. 114 und andernorts.
20 Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Hg. von MaxHecker. Leipzig 1918, 3. Bd., S.
289-290.
21 GA 1/460. - HA 1/909.
22 GA 1/427. - HA 1/910.
23 Weimarer Ausgabe, 4. Abtlg., Bd. 49, S. 191f.
24 Friedrich Theodor Vischer: Goethes Faust. 2. Aufl. 1920, von Erich Trunz in dessen Artikel
»Altersstii« zitiert. (Goethe-Handbuch. 2. Aufl. Stuttgart 1961, S. 178).
25 Hierzu die Artikel »Altersstil« und »Alterslyrik« im genannten Handbuch (dort:
S. 169-188). Karl Vietor ist einer der ersten gewesen, der im Prozeß dieser Umwertung
vorangegangen ist: Goethes Altersgedichte, in: Euph. 33 (1932), S. 105-152.
26 Wolfgang Preisendanz: Die Spruchform in der Lyrik des alten Goethe und ihre Vorge-
schichte seit Opitz. Heidelberg 1952, S. 35.
27 An Rochlitz vom 29.3.1801 (Weimarer Ausgabe, 4. Abtlg., Bd. 15, S. 208).
28 An Friedrich Ludwig Schultz (GA XXI, S. 145).
29 GA VII, S. 532.
30 Franz Mautner: Aphorismen, in: Literatur. Fischer-Lexikon. Frankfurt 1965. I1/1, S. 44:
»Im Merkmal des Persönlichen liegt ein Hauptunterschied gegenüber dem Sprichwort«.
Werkregister
Von einem Verzeichnis aller Namen wird abgesehen, da einige fast Seite für Seite
aufzuführen wären. Das Register enthält alle im Hauptteil erwähnten Werke, ein-
schließlich der Aufsätze; Zeitschriften wurden nicht einbezogen. Für die Erstellung
des Registers danke ich Dr. Ilse Müller-Seidel, Dr. Ingeborg Kluge, Dr. Thomas Anz,
Dr. Adalbert Wichert und Joseph VogI.

Apelt, Willibalt, Geschichte der Weimarer klassischen Weimar (Culture and Society in
Verfassung 3 Ciassical Weimar) 37
Arnim, Achim von, Der Wilddieb 235 f. Bürger, Gottfried August, Daniei Wunder-
Aristoteles, Poetik 140 ff., 151 lichs Buch 92ff.
- Elegie, als Molly sich losreißen wollte 100
Bäuerle, Adolf, Doktor Fausts Mantel 178 - Lenore 88, 91, 93, 119
Benn, Gottfried, Doppelleben 26
- Goethe und die Naturwissenschaften 23, 24 Dante Alighieri, Vita nuova 259
- Der neue Staat und die Intellektuellen 24 David, Claude, Stefan George 15
Beutler, Ernst, Wiederholte Spiegelungen 268 Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dich-
Borchardt, Rudolf, Ewiger Vorrat deutscher tung 266
Poesie 236 - Die Einbildungskraft des Dichters (Gesam-
Brecht, Bertolt, Furcht und Elend des Dritten melte Schriften VI) 26
Reiches 146 Döblin, Alfred, Berlin Alexanderplatz 8
- Herr Puntila und sein Knecht Matti 164 - Schicksalsreise 18
- Der gute Mensch von Sezuan 146 - Wallenstein 121
- Die Rundköpfe und die Spitzköpfe 146 Du Bois-Reymond, Emil, Goethe und kein
- Schriften zum Theater 7, 8, 9 Ende 27
- Das Verhör des Lukullus 146
Brentano, Clemens, Die Chronika eines fah- Ebeling, Christoph Danie1, Erdbeschreibung
renden Schülers 237, 243, 247 und Geschichte von Amerika 77
- Gockel Hinkel Gakeleja 237 Ebert, Friedrich, Rede zur Eröffnung der Ver-
- Jakob und Esau oder der sentimentale Jä- fassunggebenden Deutschen Nationalver-
ger und der naive Hirte 239 sammlung 3, 11
- Der Jäger an den Hirten 233-240, 246 Ernst, Paul, Brunhild 9
- Klinge und Heft 239 Eucken, Rudolf, Zur Sammlung der Geister 6
- Lore Lay 237 Euripides, Die Bakchen 210, 221
- Auf dem Rhein 232, 237 - Hippolytos 211
- Romanzen vom Rosenkranz 237 - Jon 22
- Der Schiffer im Kahne 237
- Es ist ein Schnitter, der heißt Tod 242 Fichte, Johann Gottlieb, Die Bestimmung des
- Der Spinnerin Nachtlied 241 ff. Menschen 123
- Wenn der lahme Weber träumt 243 - Grundlage der gesammten Wissenschafts-
- Die Welt geht im Springen 242 lehre 41,89
Brinckmann, A. E., Spätwerke großer Mei-
ster 253 George, Stefan, Goethes letzte Nacht in Ita-
Bruford, W. H., Kultur und Gesellschaft im lien 15
354 Werkregister

- Das Jahrhundert Goethes 15, 19 - Das Mädchen von Oberkirch 70 f.


- Sieh mein Kind, ich gehe 242 - Maximen und Reflexionen 73, 204, 278-290
- Tage und Taten (Hölderlin) 17 - Die Metamorphose der Pflanzen 40,54,255,
Gobineau, Joseph Arthur, Comte de, Ver- 256
such über die Ungleichheit der menschli- - Zur Morphologie 114
chen Rassen (Essai sur l'inegalite des races - Einfache Nachahmung der Natur, Manier,
humaines) 5 Stil 39 f.
Goethe, Johann Wolfgang von, Alexis und - Reise der Söhne Megaprazons 70
Dora 255 - Italienische Reise 40, 53, 138 f., 182, 256, 263
- Amerika, du hast es besser 80 - Pandora 210
- Die Aufgeregten 38, 46 f., 53 - Der Schatzgräber 237
- Erste Bekanntschaft mit Schiller 105 ~ Schicksal der Handschrift 54, 215
- Belagerung von Mainz 84 - Tag- und Jahreshefte 39,40,60,67, 114
- Der Bräutigam 266-277 - Torquato Tasso 142
- Die Braut von Korinth 119-124, 268 - Die natürliche Tochter 46,62,67, 171, 181,
- Der Bürgergeneral 53 238,255
- Dichtung und Wahrheit 46,58,62,67,77, - Trilogie der Leidenschaft 183, 267, 268, 275
89, 179, 269, 274, 275 - Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten
- West-östlicher Divan 251, 253, 254ff., 257, 22,38, 70ff., 84, 120f., 170,289
258, 259, 260, 263, 265, 273, 276, 284 - Der Verfasser teilt die Geschichte seiner
- Egmont 46, 164 botanischen Studien mit 117
- Römische Elegien 102, 119, 255, 257, 258, - Wahlverwandtschaften 13, 16,46,171,251,
262 255,289
- Venezianische Epigramme 257 - Wilhe1m Meisters Lehrjahre 4, 23, 41, 43,
- Glückliches Ereignis 106ff. 54,66,69,73,76, 78ff., 96, 151, 156, 169,
- Erlkönig 101, 123 179, 278 ff.
- Euphrosyne 255, 256, 258 - Wilhelm Meisters Wanderjahre 4, 23, 251,
- Faust 4, 7, 8, 55, 58, 67, 75, 143, 146, 255, 278ff., 283
173-188,229,267,269,275, 278 - Winckelmann und sein Jahrhundert 210,
- Der Fischer 101, 123, 237 211,225
- Bedeutende Fördernis durch ein einziges - Xenien 257
geistreiches Wort 46 - Zahme Xenien 257
- Die Geheimnisse 61 - Der Zauberflöte zweiter Teil 183
- Geschichte der Farbenlehre 58, 255, 256 Grimm, Reinhold, Die Klassik-Legende 7
- Gespräche mit Eckermann 38, 61, 204, 260, Gundolf, Friedrich, Goethe 16-19, 22, 27
270 - Heinrich v. Kleist 19
- Götz von Berlichingen 179 - Romantiker 19
- Über den Granit 60 f.
- Der Groß-Kophta 47, 53ff., 63, 181 Hankamer, Paul, Spiel der Mächte 251 f.
- Hermann und Dorothea 74ff., 82, 143 Hauptmann, Gerhart, Goethe und die Volks-
- Heideröslein 237 seele 12
- In wiefern die Idee: Schönheit sey Vollkom- - Griechischer Frühling 11
menheit mit Freyheit, auf organische Natu- - Die Ratten 11
ren angewendet werden könne 109 f. - Vor Sonnenaufgang 12
- Ilmenau 82 - Vor Sonnenuntergang 12
- Iphigenie auf Tauris 7, 16, 20, 49, 116, - Die Weber 11
122f., 210, 229 - Deutsche Wiedergeburt 11
- Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszei- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik
ten 253 170,212
- Des Joseph Balsamo, genannt Cagliostro, - Phänomenologie des Geistes 42
Stammbaum 52 Heinse, Wilhelm, Ardinghello und die glück-
- Kampagne in Frankreich 27,29,36, 45f., seeligen Inseln 194
~ ~ ~~ ~ ~ Hellingrath, Norbert von, Hölderlin. Zwei
- Der König in Thule 237 Vorträge 17, 18
Werkregister 355

Herder, lohann Gottfried von, Auszug aus ei- - Die Familie Schroffenstein 214
nem Briefwechsel über Ossian und die Lie- - Das Käthchen von Heilbronn 220
der alter Völker 91 - Der zerbrochene Krug 162, 222
- Ideen zur Philosophie der Geschichte der - Über das Marionettentheater 109, 216, 217,
Menschheit 96 222
- Lieder der Liebe 272 - Michael Kohlhaas 229
- Abhandlung über den Ursprung der Spra- - Penthesilea 19, 209-230
che 93 f. - Prinz Friedrich von Homburg 213, 219
Hermand, lost, Die Klassik-Legende 7 - Von der Überlegung 226, 230
Herrmann-Neiße, Max, Literatur im Klassen- - Die Verlobung in St. Domingo 229
kampf 25 Knigge, Adolph Freiherr, Über den Umgang
Heselhaus, Clemens, Deutsche Lyrik der Mo- mit Menschen 64
deme 257 KommereII, Max, Geist und Buchstabe der
Hölderlin, Friedrich, Brod und Wein 194 Dichtung 21
- Buonaparte 197 Korff, Hermann August, Geist der Goethezeit
- An unsre großen Dichter 195,198,200,201, 21,22,27
205 Kotzebue, August von, Die Corsen 147
- Dichterberuf 191-208 Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaft-
- Wie wenn am Feiertage 191, 195,207 licher Revolutionen (The Structure of
- Die Friedensfeier 195, 205, 245 Scientific Revolutions) 193, 283
- Grund zum Empedokles 207 Kunert, Günter, Pamphlet für K. 21
- Hälfte des Lebens 18
- Heimkunft 194, 199 Laing, Ronald, Das geteilte Selbst (The Devi-
- Hyperion 18, 274 ded Self) 63
- Ödipus 201 Langbehn, Julius, Rembrandt als Erzieher 4
- Patmos 274 Laqueur, Walter, Weimar. Die Kultur der
- Der Rhein 196 Republik 25
- Rousseau 196 Lavater, Johann Caspar, Physiognomische
- Der Tod fürs Vaterland 70 Fragmente zur Beförderung der Menschen-
- Dem Unbekannten 197 kenntniß und Liebe 56, 58
- An eine Verlobte 207 - Pontius Pilatus oder der Mensch in allen
- Die Völker schwiegen, schlummerten 195 Gestalten 57
HofmannsthaI, Hugo von, Die Beiden 242 Lenz, Jakob Michael Reinhold, Der Hofmei-
- Ein Brief 56 ster oder Vortheile der Privaterziehung 179
- Elektra 19, 20, 220 - Der neue Menoza 180
Homer, Odyssee 145, 211 - Die Soldaten 179
Humboldt, Wilhelm von, Tagebuch 110f. Leyen, Friedrich von der, Deutsche Dichtung
in neuer Zeit 20
lahnn, Hans Henny, Medea 225 Lienhard, Friedrich, Berliner Anfänge 4
laspers, Karl, Unsere Zukunft und Goethe 27 - Neue Ideale 5
lauß, Hans Robert, Racines und Goethes - Wege nach Weimar 4-6
Iphigenie 7 - Weltrevolution 4
Lohner, Edgar, Schillers Begriff des Scheins
Kant, Immanuel, Grundlegung zur Methaphy- und die modeme Lyrik 245
sik der Sitten 123 Lukacs, Georg, Entwicklungsgeschichte des
- Kritik der U rtheilskraft 89 modemen Dramas 35
- Kritik der praktischen Vernunft 89, 123 - Deutsche Realisten 20
- Kritik der reinen Vernunft 58, 89 - Reportage oder Gestaltung? 8
Kierkegaard, Sören, Über den Begriff der Iro- - Die Seele und die Formen 9
nie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates - Tendenz oder Parteilichkeit? 8
151
Kisch, Egon Erwin, Der Naturschutzpark der Mann, Thomas, Betrachtungen eines Unpoli-
Geistigkeit (Ges. WK. V) 7 tischen 13 f.
K1eist, Heinrich von, Amphitryon 162, 209 - Briefwechsel mit Bonn 13
356 Werkregister

- Doktor Faustus 14, 234, 247 - Ueber naive und sentimentalische Dichtung
- Goethe als Repräsentant des bürgerlichen 23, 47f., 64, 131, 181, 192,231,239,244,
Zeitalters 13, 23 245
- Königliche Hoheit 13 - Don Karlos 102, 106, 132, 137, 164, 218
- Über die Kunst Richard Wagners 13 - Ueber das Erhabene 156
- Lotte in Weimar 15 - Ueber die aesthetische Erziehung des Men-
- Schwere Stunde 13 schen in einer Reihe von Briefen 41,44,89,
- Der Tod in Venedig 13 169,228
- Der Zauberberg 14 - Über den Gebrauch des Chors in der Tragö-
Marlowe, Christopher, Die tragische Ge- die 170
schichte vom Doktor Faustus (The Tragi- - Der Geisterseher 63,64
call History of D. Faustus) 178 - Geschichte des Abfalls der vereinigten Nie-
Marcuse, Ludwig, Mein ~a i s s Jahrhun- derlande von der spanischen Regierung 44
dert 22 - Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
Messer, August, Goethe und der Nationalso- 131, 165
zialismus 24, 25 - Über den Grund des Vergnügens an tragi-
Mayer, Hans, Schillers Gedichte und die Tra- schen Gegenständen 169
dition deutscher Lyrik 87 - Das Ideal und das Leben 99
Minor, Jakob, Zum Jubiläum des Bundes zwi- - Die Jungfrau von Orleans 143
schen Goethe und Schiller 105 - Kabale und Liebe 34, 137
Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften - Kallios 109, 110, 111, 115, 117
278 - Die Malteser 142
- Die Räuber 164
Nordau, Max, Entartung 20f. - Was kann eine gute stehende Schaubühne
Novalis (Friedrich von Hardenberg), Hymnen eigentlich wirken? 181
an die Nacht 101, 102 - Vermischte poetische Stücke von Stäudlin
- Geistliche Lieder 101 97
- Die Verschwörung des Fiesco zu Genua 159
Opitz, Martin, Cantica canticorum 272 - Tragödie und Comödie 181
Ottwalt, Ernst, Denn sie wissen, was sie tun 8 - Wallenstein 44f., 61, 142-172, 165,218
- Wilhe1m Tell 143, 238
Platon, Phaidros 18 Scholz, Wilhelm von, An Ilm und Isar 10
Politzer, Heinz, Das Schweigen der Sirenen Schwerte, Hans, Faust und das Faustische.
237 Ein Kapitel deutscher Ideologie 7, 173
Praetorius, Johannes, Anthropodemus Pluto- Simmel, Georg, Zur Philosophie der Kunst 15
nicus 120 Sophokles, Antigone 212
- Ödipus 15lf., 158, 162
Recke, Elisa von der, Nachricht von des be- Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik 232,
rüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau 277
50,57f. - Stilwandel 34
Rehm, Walter, Griechentum und Goethezeit - Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters
115 232
Reinhold, Karl Leonhard, Briefe über die Storm, Theodor, Pole Poppenspäler 178f.
Kantische Philosophie 42 Stranitzky, Joseph, Leben und Tod Fausts 178
Strindberg, August, Ein Traumspiel (Ett
Sartre, Jean Paul, Die Wörter (Les mots) 140 drömspel) 220
Schikaneder, Emanuel, Die Zauberflöte 76 Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphiloso-
Schiller, Johann Freidrich von, Der Alpenjä-. phie 21
ger 238
- Ueber Anmut und Würde 106 f. Toller, Ernst, Eine Jugend in Deutschland 11
- Brief eines reisenden Dänen 98
- Die Braut von Messina 146, 156, 164, 169f. Vietor, Karl, Goethe 27
- Über Bürgers Gedichte 64, 87-104, 117, - Goethes Altersgedichte 23
138,261
Werkregister 357

Weber, Max, Wissenschaft als Beruf 87 Wolfskehl, Karl, Das Jahrhundert Goethes
Wieland, Christoph Martin, Agathodämon 15,19
54f. Wolters, Friedrich, Stefan George und die
Wiese, Benno von, Die deutsche Tragödie Blätter für die Kunst 15 f.
von Lessing bis Hebbel 143
Wolf, Christa, Karotine von GÜnderrode. Der Zimmermann, E. A. W., Frankreich und die
Schatten eines Traumes 28 Freistaaten von Nordamerika 77

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