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GS 20.

1 Ad Lukács 251

Ad Lukács

Der Aufsatz »Heidegger redivivus«, den Lukács


jüngst in »Sinn und Form« hat erscheinen lassen
(1949, 3. Heft, S. 37ff.), ist ein Schulfall der Unzu-
länglichkeit transzendenter Kritik. Heideggers Schrift
über Platons Lehre von der Wahrheit wird mit einem
dialektischen Materialismus konfrontiert, den Lukács
definiert als den »Standpunkt der Priorität des Seins
dem Bewußtsein gegenüber«, während Idealist sei,
wer »das Sein vom Bewußtsein hervorgebracht«
denke (44). Im Sinn dieser Alternative wird Heideg-
ger verworfen, die Differenz von Lukács vorweg zum
Kriterium des Urteils erhoben, anstatt daß in die Ar-
gumentation eingegangen wäre und aus deren eigener
Kraft der Standpunkt Lukács' als der überlegene sich
erhärtete. Darum bleibt die ganze Kontroverse un-
fruchtbar. Lukács bestätigt Heidegger, »daß ›Sein und
Zeit‹ in bestimmtem Sinne eine große Auseinander-
setzung mit dem von Marx wissenschaftlich entdeck-
ten und auf seine Gesetzmäßigkeit gebrachten Phäno-
men des Fetischismus bildet« (40). Mit anderen Wor-
ten, der Heideggersche ›Rückgriff‹ hinter die Subjekt-
Objekt-Beziehung, wie sie das Thema der traditionel-
len Philosophie bildet, wird angesehen als ein Ver-
such zum Ausbruch aus eben jenem verdinglichten
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Denken, dem Lukács seinerzeit in »Geschichte und


Klassenbewußtsein« so eindringliche Analysen ge-
widmet hat. Es wäre nun die kritische Aufgabe gewe-
sen zu zeigen, daß solcher Ausbruchsversuch, indem
er Abstrakta höherer Ordnung wie Sein und Dasein
hypostasiert und in gewissem Sinn eine Kant gegen-
über vorkritische, ontologische Position bezieht, in
Widersprüche sich verwickelt, die durch die Bewe-
gung des Begriffs zu leistende Konkretion durch
schillernde, sowohl ontologisch wie ›ontisch‹ aufzu-
fassende Kategorien erschleicht, und damit endlich
selber in Verdinglichung, die vorsokratische Mytholo-
gisierung des Begriffs zurückfällt. Dabei wäre zu-
gleich eine Kritik der ›Anfänglichkeit‹ zu leisten, des
Aberglaubens an eine Rangordnung der Wahrheit im
Sinn von Prioritäten, wie Heidegger sie gerade mit der
traditionellen Philosophie, zumal der Aristotelischen
prima philosophia, gemeinsam hat. Die politisch-ge-
sellschaftlichen Implikationen des faschistischen
Seinskults, die Hierarchie nach ›Ursprünglichkeiten‹,
wäre aus der Bestimmung von deren eigener Inkonsi-
stenz zu entwickeln. Statt dessen vergißt Lukács so-
gleich an die Problematik der Verdinglichung, an die
eine solche Analyse anzuschließen wäre, und bezieht
selber einen verdinglichten Standpunkt, in dem die
Kategorien Sein und Bewußtsein unvermittelt, vorge-
geben erscheinen, als wäre die Rede von Dialektik im
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Marxismus überhaupt nicht ernst gemeint. Ja, jeder


Versuch einer dialektischen Ansicht vom Verhältnis
von Subjekt und Objekt – die einzig mögliche Metho-
de, theoretisch über die philosophische Verdingli-
chung hinauszugehen – verfällt dem Bannspruch. Die
marxistische Einsicht vom Vorrang der objektiven ge-
sellschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem subjekti-
ven Bewußtsein wird in einen statischen Dualismus
pervertiert, der, paradox genug, vermöge des Choris-
mos von Sein und Bewußtsein in der Konsequenz
nicht weniger ontologisch sich anläßt als die Heideg-
gersche Metaphysik. Der Versuch der Vermittlung
von Subjekt und Objekt, das Kernstück einer jegli-
chen Dialektik, das in der Marxischen Theorie sehr
wohl aufgehoben ist, wird diffamiert, als handle es
sich dabei um einen bürgerlichen Kompromiß und
nicht um eine Konsequenz des Gedankens, die mit
dem Subjekt der Erkenntnis schließlich auch dem der
spontanen Praxis ans Leben geht und notwendig zum
konformistischen Einverständnis mit jener objektiven
Tendenz entartet, auf welche die je herrschende Praxis
so leicht sich berufen kann. So legitim Lukács' Wi-
derwille gegen einen ›dritten Weg‹ ist, der einerseits
idealistisch, andererseits materialistisch sich rechtfer-
tigen möchte, so absurd ist es, als solchen akademi-
schen Ausweg das dialektische Prinzip selber zu ver-
spotten, da ohne Subjekt, ohne das Moment der Re-
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flexion und Negativität die Rede vom dialektischen


Prozeß sich hoffnungslos verfängt. Das ist keine ge-
netische sondern eine logische Frage: dem nicht re-
flektierten, nicht durchs Bewußtsein hindurchgegan-
genen und dadurch in seiner Bedürftigkeit bestimmten
Sein eine Dialektik zuzuschreiben, wäre so dogma-
tisch wie nur irgendeine der Aussagen über das Sein
als solches, mit denen Heideggers Philosophie auf-
wartet. Die Marxische Lehre von der Priorität des
Seins übers Bewußtsein will aber gerade nicht ontolo-
gisch verstanden werden, sondern als Ausdruck eines
Negativen, nämlich eben der Vorherrschaft der Ver-
dinglichung, der Produktionsverhältnisse, in welche
die Menschen »unfreiwillig eintreten«. Aus solcher
Priorität ein philosophisches Prinzip zu machen, heißt
unweigerlich apologetisch dem Seienden absoluten
Vorrang zu erteilen, endlich auch gegenüber der Pra-
xis, die im Ernst mit einer Verdinglichung aufräumen
möchte, wie sie im Abbruch der Dialektik bei Lukács
theoretisch zum zweiten Mal etabliert wird. In der Tat
zeigt Lukács' Aufsatz mehr als bloß die Möglichkeit
solcher Wendung. Während Heidegger vors Tribunal
gefordert wird, widerfährt der von Lukács gut charak-
terisierten »Theologie ohne Gott« (46) ein Respekt,
der in der Disziplin der Sache selbst rasch zerginge.
Es ergibt sich die einigermaßen groteske Situation,
daß, während der bürgerliche Heidegger, wie sehr
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auch mit verschobenen Akzenten, die Kategorie der


Verdinglichung kritisch auf die sogenannten großen
Denker, das ›Erbe‹ von Platon und Aristoteles anwen-
det, der Marxist Lukács eine solche Kritik perhorres-
ziert, weil sie der Geschichte des Geistes und schließ-
lich der realen Menschheit zu wenig Ehre antue. So
verdächtig nun das mythologisierende ›Zu den Ur-
sprüngen‹ Heideggers, das er übrigens mit der gesam-
ten Phänomenologie teilt, bleibt, so fraglos ist doch
gerade in seiner Kritik an der großen Philosophie ein
Moment von Wahrheit, das Lukács am letzten verken-
nen dürfte: daß nämlich jene Denker, Exponenten
bürgerlichstädtischer Zivilisation, durchaus schon
Momente jener in den Produktionsverhältnissen grün-
denden Verdinglichung des Bewußtseins und seiner
Zurichtung zu Herrschaftszwecken zeigen, die nur
eine stur historistische Betrachtungsweise erst aufs
17. Jahrhundert zurückdatiert. Der Nihilist Heideg-
ger – sein Nihilismus wird von Lukács' Geschichts-
freudigkeit unbesehen als Schimpfwort verwandt –
steht in gewisser Weise der bürgerlichen Vergangen-
heit freier gegenüber als sein Klassengegner, mag
auch diese Freiheit, als Überspannung dessen, was
dem philosophischen Geist zu leisten obliegt, schließ-
lich auf die Sabotage am Bewußtsein selber heraus-
kommen. – Wenn schließlich Lukács Heidegger vor-
wirft, was abermals gegen alle Phänomenologie gilt,
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daß er nämlich von der subjektiven Intention ausgehe,


so verschränkt in solchem Vorwurf Recht sich mit
Unrecht. Daß es bloße Ideologie sei, den Grund des
Unheils etwa in einem Bewußtseinsphänomen wie der
ursprünglich von Lukács selber als philosophische
Kategorie eingeführten ›Heimatlosigkeit‹ zu suchen,
ist unbestritten und ebenso, daß alle die als Befind-
lichkeiten des Daseins von Heidegger urgierten Typen
subjektiver Erfahrung nicht den Grund des perennie-
renden Unheils, sondern bloße Reflexionsformen der
gesellschaftlichen Objektivität bezeichnen. Lukács
schreibt mit Recht die Erkenntnis jener tragenden Ob-
jektivität der politischen Ökonomie dem Marxismus
zu. Aber es gehört wesentlich zu der Totalität zumal
der spätbürgerlichen Gesellschaft, daß die objektive
Negativität als subjektives Leiden, und zwar über die
Klassengrenzen hinweg, erfahren wird und daß eine
Erkenntnis, die sich beim Wertgesetz und der Überak-
kumulation bescheidet und von jenem Leiden absieht,
kaum weniger der Inhumanität schuldig wird als Hei-
degger, dem Lukács mit Grund vorhält, daß er die
»jungen Deutschen« im Zweiten Krieg »angesichts
des Todes«, also in einer reinen Befindlichkeit, von
dem Grauen ausnimmt, das sie über die Welt brachten
(vgl. 39). So wenig dem Leiden der genetische Vor-
rang vor der Unmenschlichkeit der Welt zuzuschrei-
ben ist, so wenig hilft eine Erkenntnis, die das Grauen
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der Welt unter Abstraktion von jenen subjektiven Er-


fahrungen nimmt, in denen es erst zum Grauen wird,
und unter den Versuchen, der Höllenmaschine des
Monopolismus sich zu erwehren, ist theoretisch nicht
der schlechteste, sich auf den Niederschlag zu besin-
nen, den das Grauen im Subjekt findet, in solcher Be-
sinnung aber der Subjektivität mächtig zu bleiben und
damit zur objektiven Voraussetzung des Widerstands
beizutragen. In der von der Spätindustrie zusammen-
geschlossenen Gesellschaft vermag sehr wohl, was
Lukács als ›bloße Intention‹ verächtlich beiseite
schiebt, des in der Theorie Erkannten angemessen
habhaft zu werden und ihm durch Zueignung und Er-
fahrung etwas von eben jener Autorität zu rauben, die
es als bloßer Gegenstand der Erkenntnis behält. Er-
kenntnis, die solchen Momentes von Erfahrung sich
entschlägt, geht dadurch nicht ohne weiteres in höhere
Objektivität über, sondern viel eher in Fachwissen-
schaft, Verdinglichung, Desinteressement an den
Menschen, deren Emanzipation von der »unfruchtba-
ren Gewalt des bloß Seienden« allein den marxisti-
schen Materialismus gegenüber dem Idealismus legi-
timiert. Lukács glorifiziert die historische Objektivität
nicht bloß zur Entzauberung der Lüge vom subjekti-
ven An sich Sein der in Wahrheit unter gesellschaftli-
chem Zwang verinnerlichten Antagonismen, sondern
weil er, nach alter Philosophenweise, im Blick auf die
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Totalität über das Leiden rasch sich beruhigt: »Alle


Widersprüche des kapitalistischen Systems werden
dabei ans Licht gebracht, aber mag das so Erhellte
noch so fürchterlich, noch so antihuman, noch so be-
kämpfenswert sein, diese Eigenschaften des Kapitalis-
mus sind doch immer nur als Momente seiner objekti-
ven Existenz in der Totalität der Weltgeschichte ge-
faßt, und das Problem seiner Fortschrittlichkeit kann
nur in diesem Gesamtzusammenhang geklärt wer-
den.« (43) Materialistisch interpretiert besagt aber ein
solcher Satz nichts anderes, als daß das Leiden unge-
mindert fortwährt unter der neuen Gestalt der Herr-
schaft, die Lukács mit deren Abschaffung verwech-
selt.
Die Behauptung, daß Lukács aus Angst vor der
Ontologie ins verdinglichte Bewußtsein zurückfällt,
ist zu erhärten an der Sprache. Diese verbleibt im
akademischen Jargon, im ›Gespräch‹ der offiziellen
zeitgenössischen Philosophie, und hebt davon sich ab
nicht durch verantwortlichere, aus der Beziehung auf
den Gegenstand geschöpfte Gestalt, sondern durch
eine Schlamperei, wie sie der behaglich-hochtraben-
den Sprachverwilderung deutscher Professoren um die
Jahrhundertwende entspricht. Während der Inhalt dem
herrschenden Denken opponiert, bezeugt die Form
unmäßigen Respekt vor dem Betrieb; während etwa
Sartre vorgeworfen wird, daß er »alle alten und bana-
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len Privatdozentenargumente gegen den Marxismus


erneuert« (41), wird von Heidegger gesagt, daß er
»direkt Bezug auf Marx« nehme »und dabei zu äu-
ßerst interessanten Ergebnissen« komme (40). Über-
haupt ist das Wort ›interessant‹, Siegel des saloppen
Journalismus, ein Favorit der Lukácsschen Termino-
logie und erscheint schon im ersten Satz, in positiver
Verbindung mit der »philosophischen Öffentlichkeit«
(37), deren ohne die leiseste Ironie gedacht wird. Lu-
kács bringt es über sich, von den »besten Traditionen
des Humanismus« (38) zu reden, und ex cathedra zu
verkünden: »Kehren wir zur Frage des ›Anfänglichen‹
zurück« (40). Marx wird nachgerühmt, er habe die
Grundintention der Menschen der kapitalistischen Ge-
sellschaft in ihrer »wirklichen, objektiven Gegen-
ständlichkeit aufgedeckt« (42) – als ob es eine un-
wirkliche und unobjektive Gegenständlichkeit gäbe.
Der Begriff der Mystik erscheint als Schimpfwort bei
dem gleichen Autor, der einmal die Ironie als negative
Mystik bestimmte. Der Dialektiker sagt entschuldi-
gend: »Es klingt vielleicht im ersten Augenblick para-
dox« (40). Er scheint durchaus zu verkennen, daß die
Kritik des Irrationalismus nicht identisch ist mit einer
Annahme der herrschenden Wissenschaft als solcher,
die sich im Sprachgestus des Einverständnisses aus-
drückt, und daß die Deformation des Bewußtseins
unter der herrschenden szientifischen Arbeitsteilung
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nicht minder zur Kritik steht als die Verleugnung des


Bewußtseins durch jene, die dem arbeitsteiligen Den-
ken entrinnen wollen, ohne das Moment der objekti-
ven Notwendigkeit daran miteinzusetzen. Die hemds-
ärmelige Autorität der bürgerlichen Wissenschaft,
deren Agenten unter sich einig sind, wird als ›Erbe‹
übernommen, um dem zur Staatsphilosophie verkehr-
ten Marxismus die Färbung zu verleihen, vernünftige
und einflußreiche Männer und Organisationen stün-
den dahinter. Dabei aber benimmt sich die Sprache in
einer Weise, die zwar wenig mit den »besten Traditio-
nen des Humanismus«, um so mehr aber mit der kalt-
schnäuzigen Nomenklatur von Verwaltungsfunktionä-
ren zu tun hat. Wenn Lukács, mit allem Grund, gegen
die verblasene Lüge von der Eigentlichkeit der Jugend
angeht, die als abscheuliches Residuum der Jugendbe-
wegung immer noch in Heideggers weihevollen Ex-
pektorationen herumgeistert, so sagt er von den jun-
gen Deutschen, die an Hitlers Feldzügen teilnahmen,
daß sie »beiläufig gesagt, ... im besten Fall, Zeugen,
passive Teilnehmer der Raub- und Mordtaten, der
Vergewaltigungen von Frauen und Kindern etc. sei-
tens der Hitlerarmee waren« (39). Der »beste Fall« ist
ein blutiger Witz, das Etc. nach den Vergewaltigun-
gen aber, gefolgt von dem bürokratischen »seitens«,
tut durch die Unmenschlichkeit der Rede den Opfern
im Begriff nochmals an, was die Faschistenhorden in
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der Realität verübten. Es steht dahin, ob die Greuel,


welche die deutsche Armee beging, übertrafen, was
der Militarismus überall anrichtet, solange nicht der
letzte Marschall geköpft ward; aber es ist bezeich-
nend, daß die Empörung Lukács' sich auf die Armee
beschränkt, ohne daß von der SS die Rede wäre, wel-
che die grausamste Arbeit leistete, und von den Ver-
nichtungslagern. Gegen die Wehrmacht darf er eben
noch reden, weil sie der Feind der roten Armee war;
der Sicherheitsdienst aber ist tabu, damit man nicht
auf subversive Analogien verfällt.
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