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Belles Lettres – Deutsch für Dichter und Denker Belles Lettres ist ein

Webmagazin und Podcast für deutsche Sprache, Grammatik und Stilistik.

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Perfekt oder Präteritum?

verb Die deutsche Sprache kennt drei Tempussysteme, eines fürs Sprechen,
ein anderes für fiktionale Texte und schließlich eines für
nichtfiktionale Texte. Sie machen unterschiedliche Gebrauch von den
Vergangenheitsformen Präteritum (Imperfekt) und Perfekt. In diesem
Tutorial sehen wir uns an, wie die Vergangenheitsformen entstanden
sind, wie sie gebraucht werden und was sie vom englischen Simple past
und Present perfect unterscheidet. Außerdem ergründen wir, welche Rolle
die Vorsilbe ›ge∙‹ im deutschen Zeitengebrauch spielt.
Dauer: 106 Minuten.

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Perfekt oder Präteritum?: Die Vergangenheitsformen der deutschen Sprache


Perfekt oder Präteritum?: Die Vergangenheitsformen der deutschen Sprache

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1. 00:00:00 Regeln für die Verwendung von Perfekt und Präteritum im


Deutschen
2. 00:08:05 Stellung des Adjektivs
3. 00:15:35 Tempussystem im Urgermanischen
4. 00:22:50 "saß" versus "gesaß": Imperfektives und perfektives
Präteritum im Mittelhochdeutschen
5. 00:30:08 Das Perfektivpräfix "ge∙" im Deutschen
6. 00:32:35 Verbalaspekt: Perfektiv versus imperfektiv
7. 00:40:45 Tempussystem im älteren Deutsch
8. 00:41:32 Imperfekt oder Präteritum? Warum hat die einfache
Vergangenheit zwei Namen?
9. 00:44:24 Entstehung des Perfekts mit dem Hilfsverb "haben" im Deutschen
10. 00:53:10 Perfektbildung mit dem Hilfsverb "sein"
11. 00:58:55 Welches Hilfsverb bei "setzen, stellen, legen"?
12. 01:03:10 Entstehung des heutigen Tempussystems mit Präteritum und
Perfekt
13. 01:13:14 Vergangenheit in klassischen literarischen Texten
14. 01:14:30 Vergangenheit in modernen literarischen Texten
15. 01:17:11 Vergangenheit in der gesprochenen Sprache
16. 01:19:15 Vergangenheit in nichtliterarischen Texten

Video veröffentlicht am 18.08.2011 (133.85 MB).

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Perfekt oder Präteritum?


Inhaltsverzeichnis
Tempussystem des Deutschen <#intro>
Gesprochenes Deutsch <#mdl>
Literarisches Deutsch <#lit>
Nichtliterarisches Deutsch <#nlt>
Deutsches Perfekt und englischen present perfect <#pp>
Entstehung des Perfekts <#gen>
Das Tempussystem im Urgermanischen <#ug>
Entwicklung des Perfekts <#perf>
Perfekt mit "haben" oder "sein"? <#hv>
Ist oder hat gestanden, gelegen, gesessen? <#gestanden>
Weg zum heutigen Perfekt <#hp>
Terminologie: Imperfekt oder Präteritum? <#term>
Publikation:
Erschienen: 18.08.2011
Letzte Bearbeitung: 06.11.2016

Tempussystem im Deutschen

In den germanischen Sprachen wie dem Englischen, dem Schwedischen


und dem Isländischen gilt ein Tempussystem für alle Sprech- und
Textarten. Nur das Deutsche hat drei verschiedene Tempussysteme:

* Gesprochenes Deutsch <#mdl>


* Literarisches Schriftdeutsch <#lit>
* Nichtliterarisches Schriftdeutsch <#nlt>

Perfekt und Präteritum


im gesprochenen Deutsch

Im gesprochenen Deutsch werden alle Handlungen und Zustände, die in der


Vergangenheit endeten, durch das Perfekt ausgedrückt:

* Ich habe abgewaschen.


* Ich bin krank gewesen.

Was nicht eindeutig vergangen ist, steht im Präsens


(Nichtvergangenheit als Gegenmenge zum Perfekt). Das umfaßt alles,
was sich gerade jetzt ereignet "ich wasche gerade ab", was
grundsätzlich oder zeitunabhängig gilt "Deutschland liegt in
Europa, Jogi Löw ist Bundestrainer, Kriemhilt ist hübsch" sowie
alles, was sich noch ereignen wird "morgen gehe ich ins Kino".

Das Perfekt als Vergangenheitstempus der gesprochenen Sprache wurde


von den Sprechern des Kernhochdeutschen (südlich der Benrather
Linie) erschaffen. Im niederdeutschen Sprachraum hat es sich erst
in den letzten fünfzig Jahren, also dem Zeitalter der
Massenkommunikation, durchgesetzt. Dort galt zuvor das
Tempussystem nichtliterarischer Texte (siehe unten <#nlt>).

Dieses niederdeutsche System ähnelte dem System in den anderen


germanischen Sprachen (protestantischer Lebensraum), während
das hochdeutsche System im Süden den Tempussystemen im
katholischen Lebensraum entspricht (was Bismarck als "ultramontan"
bezeichnete). So entwickelte sich auch in den romanischen
Sprachen das zusammengesetzte Perfekt zum
Vergangenheitstempus im Mündlichen, im Französischen zum
Beispiel das passé composé:

* J’ai ecrit une lettre.


* Ich habe einen Brief geschrieben.

Die eher protestantische Nordhälfte Europas erzählt Vergangenes


also im Präteritum, die katholische Südhälfte im Perfekt. Ein
Motiv für die Aufteilung zwischen Nord und Süd könnte im
Lateinischen liegen. Dort ist das Perfekt das Tempus, in dem
Vergangenes erzählt wird. Sogar das Tempussystem des Irischen ähnelt
eher dem Lateinischen als dem Englischen, was aufgrund der Geschichte
Irlands kein Wunder ist.
Perfekt und Präteritum in literarischem Deutsch

Literarisches Deutsch ist heute in der Masse das Deutsch des Romans.
Dort spricht die Erzählstimme grundsätzlich im Präteritum. Dieses
Präteritum ist hier kein Vergangenheitstempus, sondern
verrichtet dieselbe Aufgabe wie das Präsens in der gesprochenen
Sprache.

Das Präteritum als Erzählzeit des Romans berichtet nicht von


Vergangenem, sondern schildert die erzählte Zeit als Gegenwart
und Wirklichkeit der Geschichte. Die Handlung spielt sich
unmittelbar vor den Augen des Lesers ab. Spielt der Roman im 14.
Jahrhundert, wird nicht dem Leser von einer fernen Vergangenheit
berichtet. Es ist umgekehrt: Der Leser steht mitten im 14.
Jahrhundert und betrachtet die Vorgänge, die sich um ihn herum
abspielen. Daß es so und nicht umgekehrt ist, wird bei Romanen
deutlich, die in der Zukunft spielen. Auch sie werden im
Präteritum erzählt.

Das Vergangenheitstempus des Romans ist heutzutage das


Plusquamperfekt (oft unzutreffend als Vorvergangenheit
bezeichnet). Was relativ zur erzählten Zeit in der Vergangenheit
liegt, steht in diesem Tempus:

* Nachdem er gefrühstückt hatte, zog er sich an.


* Kurz nachdem er eingeschlafen war, erwachte er durch einen Knall.

Das Plusquamperfekt kann wie das Perfekt in der gesprochenen Sprache


nur ausdrücken, was Vergangenheit ist. Ist der Vorgang in der
erzählten Zeit noch nicht abgeschlossen, steht das Präteritum:

* Richtig: Er lebte seit zehn Jahren in Berlin.


* Falsch: Er hatte seit zehn Jahren in Berlin gelebt.

Dies betrifft aus sachlichen Gründen nur imperfektive Verben, also


Handlungen und Zustände, die in kein Ergebnis münden. Man verwendet
das Plusquamperfekt, wenn die Handlung verneint ist (eine noch
junge Entlehnung des Perfekts in nichtliterarischen Texten,
siehe unten):

* Der Kommissar blickte ratlos auf den Stadtplan von Berlin. Er war
sein ganzes Leben noch nie dort gewesen.

Das Plusquamperfekt als Tempus der Vergangenheit ist eine recht neue
Errungenschaft. In der klassischen Dichtung herrscht allein das
Präteritum:

O mein Sohn, mein Sohn! Du brichst dir selbst den Stab. Sehr
reizend malst du ein Glück, das — du mir nie gewährtest.

Friedrich Schiller: Don Karlos. 1787, 2. Akt, 2. Auftritt.

Das Präteritum schildert in klassischer und moderner Literatur auch,


was grundsätzlich und zeitunabhängig gilt.

* Am Morgen rasierte er sich, wie es Männer eben taten.


Falsch wäre das Präsens "… wie es Männer eben tun". Das Präsens
existiert in einem Roman nicht, denn grundsätzlich kennt die
Erzählstimme eines Romans nur Präteritum und Plusquamperfekt.
Präsens und Perfekt kommen nur in wörtlicher Rede der Figuren vor,
wenn die Figuren wie in gesprochener Sprache sprechen (in
Unterhaltungsliteratur gängig).

In höherer Literatur läßt die Erzählstimme die Figuren nicht so


ungefiltert sprechen. In der Figurenrede kann hier das
Zeitensystem literarischer Texte (ohne Perfekt) oder
nichtliterarischer Texte (mit Perfekt) auftreten. Im äußersten
Fall verweigert der Erzähler den Figuren gänzlich, zu Wort zu
kommen. Er berichtet dann im Konjunktiv 1, was die Figuren im
Wortlaut gesagt haben (indirekte Rede), oder kann noch weiter
gehen und das Gesagte in anderen Worten wiedergeben.

Ein Roman ist eine Erzählung. Die Ereignisse werden von der
Erzählstimme aufgezählt. Sie blickt dabei grundsätzlich nicht in
die Zukunft, weswegen der Roman (bis auf wörtliche Rede im Dialog)
kein äußerliches Futur kennt.

Nur die Figuren selbst können sich Zukünftiges ausmalen oder


vornehmen. Ihre Gedanken werden von der Erzählstimme
vorgetragen. Sie sind deshalb innerlich abhängig und stehen im
Konjunktiv der innerlichen AbhängigkeitInterner Link: Wann
verwendet man den Konjunktiv 1? Was ist innerliche Abhängigkeit?
<http://www.belleslettres.eu/content/konjunktiv/konjunktiv.php>, der
hier allerdings nicht wie sonst "werde machen" lautet, sondern
"würde machen", weil das Grundtempus (die Gegenwart der Erzählung)
das Präteritum ist: Zum innerlichen Futur im Roman gibt es ein
eigenes Tutorial. Tempus im Roman
<http://www.belleslettres.eu/content/schriftstellerei/ruckblende-tempus-roman.php>.

* Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus. Am Nachmittag


würde er ins Kino gehen.

Auch eine äußerliche Beschreibung mit einer Modalkonstruktion ist möglich:

* Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus. Am Nachmittag


wollte/mußte er ins Kino gehen.

Eine kleine Änderung macht daraus erlebte Rede:

* Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus. Am Nachmittag


konnte er ins Kino gehen.

Diese Beschränkungen sind oft Quell für Perspektivfehler. Wenn in


einem Unterhaltungsroman keine Spannung entsteht, greifen
schlechte Autoren oft auf das böse Omen als mißverstandenes
ForeshadowingExterner Link zu Wikipedia: Foreshadowing
<http://en.wikipedia.org/wiki/Foreshadowing> zurück, statt die
Prämisse der Geschichte zu verändern.

* Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus. Aber das sollte


er noch bitter bereuen.

Das ist nur bei einem allwissenden Erzähler möglich. In modernen


Unterhaltungsromanen folgt der Erzähler dem Protagonisten aber
meist wie ein Kameramann hintendrein oder ist sogar der
Protagonist (Ich-Erzähler). Solche Erzählstimmen kennen die
Zukunft nicht.

Foreshadowing ist nur mit dem Modalverb "sollen" möglich, das hier keine
Verpflichtung beschreibt, sondern wie im Mittelalter die Zukunft
"ich sol si mīden beide — Nibelungenlied, Str. 16.4: ich werde beide
meiden". Die folgende Konstruktion ist falsch:

* Nachdem er gefrühstückt hatte, verließ er das Haus. Aber das würde


er noch bitter bereuen.

Der Konjunktiv macht die Vorausschau innerlich abhängig und zum


Gedanken der Figur. Die kann von diesem Schicksalsschlag in der
Zukunft allerdings nichts ahnen.

Romane im Präsens

Neben dem Präteritum kommt auch das Präsens als Erzähltempus vor.
In diesem Fall steht die Vergangenheit statt im Plusquamperfekt im
Perfekt:

* Nachdem er gefrühstückt hat, verläßt er das Haus.

Zum Tempussystem im Roman, zum Gebrauch der Zeiten in Rückblenden und


Vorausschauen, gibt es ein eigenes Video-TutorialVideo-Tutorial:
Rückblende und Vorausschau: Das Tempussystem im Roman
<http://www.belleslettres.eu/content/schriftstellerei/ruckblende-tempus-roman.php>.

Perfekt und Präteritum in nichtliterarischen Texten

Als dritte Gattung bleiben nichtliterarische Texte. Darin fallen alle


Sachtexte, Alltagstexte, Wissenschaftstexte und der
Journalismus. Das Vergangenheitstempus ist hier das
Präteritum; die Zukunft steht im Futur. Zeitunabhängiges oder
Gegenwärtiges berichten Präsens und Perfekt. Das Präsens kann
alle Vorgänge schildern, sowohl imperfektive als auch perfektive.

Imperfektiv ist ein Vorgang, der nicht in ein Resultat mündet, das
sich vom Anfang unterscheidet, sondern einfach endet, wie er
begonnen hat: "schlafen, leben, wachen, betrachten."

Perfektive Vorgänge verändern sich dauernd und münden in ein


Ergebnis: "einschlafen, sterben, erwachen, erblicken".

Die Unterscheidung ist im modernen Deutsch lexikalisch. Viele Verben


sind entweder imperfektiv oder perfektiv. Diese tragen oft
perfektive Vorsilben wie:

* er∙ "erblicken, erlernen, erkennen" vs. "blicken, lernen, kennen"


* ver∙ "vergessen, verkennen, verlernen"
* ge∙ "geraten, gedenken" vs. "raten, denken"

Im älteren Deutsch gab es dagegen zwei Konjugationen. Die Formen


imperfektiver Verben konnten durch das Präfix ge∙ perfektiviert
werden: "ich sah" (dauerhaftes Sehen) versus "ich gesah" "ich
erblickte", "ich saß" versus "ich gesaß" (heute: "setzte mich").
So dichtet Walter von der Vogelweide:

Walthēr von der Vogelweide


Original Übersetzung
Ich saz ūf einem grüenen lē Ich saß auf einem grünen Hügel,
dā entsprungen bluomen unde klē wo Blumen und Klee sproßen,
zwischen mir und jenem sē zwischen mir und dem See.
der ougenweide was dā mē Der Augenweide gab es noch viel mehr,
dā wir schapel brāchen ē wo wir einst Blumenkränze machten,
dā līt nū rīfe und ouch der snē wo jetzt Reif und Schnee liegt.
daz tuot den vogellīnen wē Das tut den Vögellein weh.

Dieses Sitzen verstehen wir auf Anhieb. Nicht jedoch das hier:

Walthēr von der Vogelweide


Original Übersetzung
Dō der sumer komen was Als der Sommer da war
und die bluomen dur daz gras und die Blumen durch das Gras
wünneclichen sprungen wonniglich sprossen
aldā die vogele sungen überall sangen die Vögel.
dō kom ich gegangen Da kam ich gegangen
an einen anger langen an einen langen Anger,
dā ein lūter brunne entspranc wo ein klarer Bach entsprang.
vor dem walde was sin ganc, Vor dem Walde verlief er,
dā diu nahtegale sanc wo die Nachtigall sang.
Bī dem brunnen stuont ein boum Bei dem Bach stand ein Baum,
dā gesach ich einen troum: da gesah (= erblickte) ich einen Traum:
ich was von der sunnen Ich war aus der prallen Sonne
entwichen zuo dem brunnen gegangen zu dem Bach,
daz diu linde maere damit mit die besagte Linde
mir küelen schaten bære kühlen Schatten spende
Bī dem brunnen ich gesaz Bei dem Bach gesaß ich (= setzte ich mich),
mīner sorgen ich vergaz vergaß meine Sorgen
schier entslief ich umbe daz. (und) schlief dabei sogleich ein.

Hier unterscheidet sich das Mittelhochdeutsche deutlich von unserem


Deutsch: Man gesaß, wo man sich heute setzt. Man gesah, wo man heute
erblickt.

Dieses System ist aber kein Merkmal des höfischen


Mittelhochdeutschen; es reicht weit in die Vergangenheit der
deutschen Sprache zurück. Man findet es auch im ältesten Deutsch:

Althochdeutsch
Original Übersetzung
Sō mi thes uundar thunkit huuō it sō giuuordan mugi So dünkt es mich
wunder, wie es so werden möge,
sō thu mid thīnun uuodun gisprikis wie du es mit deinen Worten
ge∙sprichst (= aussprichst).

Das ging in allen Tempora, von denen es damals nur zwei gab: Präsens und
Präteritum. Perfektivierte Präsensformen haben
Zukunftsbedeutung, weil sie ja gesagt werden, während der
Vorgang sich vollzieht. Dabei muß das Resultat am Ende
zwangsläufig in der Zukunft liegen.

Nibelungenlied
Original Übersetzung
Sīt mir vrou Kriemhilt nimmer wirdet holt Da mir Frau Kriemhilt ohnehin
nie mehr holt werden wird,
sō muoz ouch hie belīben daz Sīfrides golt. deshalb muß auch Sigfrieds
Gold hierbleiben.
Zwiu sold ich mīnen fīnden lān sō michel guot Wozu sollte ich meinen
Feinden ein so großes Vermögen leihen?
Ich weiz vil wol, waz Kriemhilt mit disem schatze getuot. Ich weiß ganz
genau, was Kriemhilt damit anstellen wird (damit vorhat, damit tun wird).

Das Perfekt ist das Gegenteil zum Präfix "ge∙": Es imperfektiviert


perfektive Verben und ist deshalb nur bei solchen Verben möglich.
Grundsätzlich können perfektivierte Verben nur unter einer
Bedingung imperfektiviert werden: Der Vorgang selbst muß
zurückliegen, also vollendet sein. Das Resultat gilt dagegen in
der Nichtvergangenheit:

* Ich habe die englische Sprache erlernt.

Hier ist der Vorgang des Erlernens vollbracht. Das Perfekt sagt als
Tempus der Nichtvergangenheit, daß man die englische Sprache jetzt
oder grundsätzlich beherrscht.

Viele Grammatiken und Sprachratgeber wie Wolf Schneider bringen


bedauerlicherweise ein Pseudoperfekt als Beispiel. Ein unechtes
Perfekt liegt vor, wenn Vorgang und Resultat lexikalisch nicht
identisch sind:

* Er spricht fließend englisch. Kein Wunder, denn er hat zehn Jahre in


London gelebt.

Sachlich ist dagegen nichts einzuwenden: Wer zehn Jahre in London lebt,
lernt bestimmt Englisch. Lexikalisch ist das Beherrschen der
englischen Sprache jedoch nicht das Ergebnis des Lebens identisch
(anderes Wort).

Das Beispiel ist kein Beispiel für das Perfekt. Denn es kann auch das
Präsens begründen. Lebt man noch in London, heißt es:

* Er spricht fließend englisch. Kein Wunder, denn er lebt seit zehn


Jahren in London.

Das Perfekt im ersten Fall ist also in Wahrheit kein Schriftperfekt,


sondern ein eingeschlepptes Perfekt aus dem gesprochenen Deutsch.
Denn nur in gesprochenem Deutsch ist das Perfekt wie in diesem
Beispiel ein Vergangenheitstempus. Genau das ist das
Schriftperfekt jedoch nicht: Es schildert einen Zustand als
imperfektive Handlung in der Gegenwart.

Deutsches Perfekt
und englisches present perfect

Worin unterscheidet sich das Perfekt im Deutschen vom present


perfect im Englischen?

Oft heißt es, das Englische wäre bei der Verwendung der Zeiten
sorgfältiger oder präziser als das Deutsche. Wie oben gezeigt
wurde, ist diese Annahme falsch. Die Zeiten sind in den beiden
Sprachen unterschiedlich definiert.
Einzig das Perfekt in nichtliterarischen Texten <#nlt> läßt sich
mit dem present perfect vergleichen.

Im Englischen kann jedes Verb das present perfect bilden:

Bei perfektiven Verben wurde das Ergebnis der Handlung in der


Vergangenheit erreicht, und das present perfect berichtet
darüber, daß dieses Ergebnis in der Gegenwart oder grundsätzlich
gilt:

* I have finished my homework. Now, I am going to eat a sandwich.

Dieser Gebrauch entspricht dem deutschen Perfekt in


nichtliterarischen Texten. Darüber hinaus können im Englischen auch
imperfektive Verben ein present perfect bilden:

* I have always liked Jennifer.


* I have lived in London for ten years.

Imperfektive Verben münden in kein Ergebnis. Da das present perfect


aber grundsätzlich nur von der Nichtvergangenheit spricht, bedeutet
es bei diesen Verben, daß die Handlung zum Zeitpunkt des Sprechens
noch andauert.

Dies kann das Perfekt des Deutschen in keiner der drei


Sprechgattungen ausdrücken. Hier verwendet das Deutsche das Präsens:

* Ich mag Jennifer seit jeher.


* Ich lebe seit zehn Jahren in London.

Das oben gezeigte Pseudoperfekt ergibt sich nur aus der Konstruktion
zweier Sätze mit verschiedenen Verben:

* Er spricht fließend englisch. Kein Wunder, denn er lebt seit zehn


Jahren in London.

Oder als Dialog:

* A: "Woher kannst du so gut Englisch?"


* B: "Ich habe zehn Jahre in London gelebt."

Die Annahme, das Perfekt in diesem Beispiel wäre ein echtes deutsches
Schriftperfekt, ist ein Anglizismus. Es ist ein mündliches
Perfekt <#mdl>.

Der Grund für diesen Unterschied ist darin zu suchen, daß das
Englische das Perfektivpräfix "ge-" schon im frühen Mittelalter
abgestoßen hat. Das System mit zusammengesetzten Zeiten hat
sich zu einer Zeit etabliert, als das Deutsche noch mit dem Präfix
"ge-" operiert hat.

Entstehung des Perfekts

Wie ist das Perfekt entstanden? Warum bildet man es einmal mit dem
Hilfsverb "haben", ein andermal mit "sein"?
Vom Urgermanischen zum Deutschen

Das UrgermanischeTutorial: Wer sind die Germanen? Wie ist das


Germanische und das Deutsche entstanden?
<http://www.belleslettres.eu/content/sprache/deutsch-germanisch-fruhgeschichte.php>
kannte kein Perfekt. Das Perfekt der germanischen Sprachen ist also
nicht mit dem Perfekt der anderen Zweige der indogermanischen
Sprachgruppe verwandt, zum Beispiel dem nichtzusammengesetzten
Perfekt im Lateinischen, im Griechischen oder im Altindischen.
Tatsächlich ist das indogermanische Perfekt der Vorläufer des
germanischen Präteritums. Zudem hat sich das Germanische in
seine Einzelsprachen aufgeteilt, bevor das Perfekt entstand. Das
zeigt das Gotische als die am frühesten belegte Sprache des
Germanischen (4. Jahrhundert nach Christus), wo es kein Perfekt gibt.

Das urgermanische Tempussystem bestand aus dem Präteritum für


Vergangenes und dem Präsens als Gegenmenge, die Gegenwärtiges,
Faktisches, Immergültiges und Zeitunabhängiges (Gnomisches)
sowie Zukünftiges umfaßte.

Entwicklung des Perfekts

Das zusammengesetzte Perfekt entstand aus einer Konstruktion, die


zunächst einen ganz anderen Sinn hatte. Die erste Stufe bestand aus
Sätzen wie diesen:

* Ich habe einen großen Baum.


* Ich habe einen gepflanzten Baum.

"Haben" ist hier kein Hilfsverb, sondern ein Vollverb, das "besitzen"
bedeutet. Deshalb hat man auch lange das Verbum "eigen"
verwendet. Das Objekt des Besitzens ist der Baum. Er hat ein
Adjektivattribut, aber kein normales Adjektiv, sondern ein
Partizip. Partizipien sind Adjektive und keine Verbalformen, wie
oft in germanistischen Grammatiken behauptet. Das ist sowohl
syntaktisch als auch sprachgeschichtlich falsch.

In der zweiten Stufe wurde schlicht die Reihenfolge der Wörter


vertauscht, ohne daß sich die Bedeutung des Satzes zunächst
verändert hätte:

* Ich habe einen Baum gepflanzten.

Das Attribut steht jetzt jedoch an letzter Stelle im Satz. Diese Stelle
ist prominent. In anderen Sätzen steht hier das Prädikat:

* Der Baum ist groß.

So wurde das Partizip umgedeutet. Aus einem Attribut wurde ein


Prädikat. Von hier an wird aus dem Vollverb "haben/eigen" ein
Hilfsverb. Der Baum ist nun nicht mehr Objekt zu haben, sondern
Objekt zu dem Verb, das im Partizip steckt: "einen Baum pflanzen".

Diese Stufe erreicht das Deutsche in althochdeutscher Zeit. Wegen der


Entstehung konnten zunächst nur transitive Verben verwendet
werden, denn ohne Objekt ist die Konstruktion nicht möglich, wie
dieses Beispiel von Otfried von WeißenburgExterner Link: Otfried bei
Wikipedia <http://de.wikipedia.org/wiki/Otfrid_von_Wei%C3%9Fenburg>
zeigt: Otfried lebte im 9. Jahrhundert und ist der älteste Dichter
deutscher Sprache, der uns mit Namen bekannt ist.

Otfrid
Original Übersetzung
thaz eigut ir gihorit das habt ihr gehört

Das Niederdeutsche im Norden begann früher als das Hochdeutsche im


Süden, auch intransitive Verben zuzulassen. So liest man im
HeliandExterner Link: Der Heliand bei Wikipedia
<http://de.wikipedia.org/wiki/Heliand>: Heliand ist der Name eines der
großen Epen in deutscher Sprache. Diese Sprache ist Altsächsisch
(vergleiche das heutige Bundesland Niedersachsen), der größte
Dialekt des Altniederdeutschen. Der Heliand erzählt vom Leben
Jesu und gehört sprachlich bis heute zum Vorzüglichsten, was die
deutsche Sprache zu bieten hat.

Altsächsisches Beispiel aus dem Heliand


Original Übersetzung
sie habde ira drohtine wel gethionod sie hatten ihrem Herrn wohl gedient

"Dienen" ist ein intransitives Verb. Es hat kein Objekt (Akkusativ),


sondern ein Adverbiale im Dativ "drohtine". Das Hochdeutsche
erreicht diese Stufe erst im späteren Althochdeutschen. Dort schreibt
NotkerExterner Link: Notker bei Wikipedia
<http://de.wikipedia.org/wiki/Notker_III.>: Notker ist ein bekannter
althochdeutscher Dichter. Der Benediktinermönch lebte um die
Jahrtausendwende herum(950 bis 1022).

Notker
Original Übersetzung
habe ih keweinōt ihr habt geweint
wir eigen gesundōt wir sind gesund geworden

Das Hochdeutsche, das später die Sprache aller Deutschen werden


sollte, zögerte jedoch lange, perfektive intransitive Verben
zuzulassen und verwendete für sie eine andere Konstruktion: Statt
"ich habe gefallen" verwendete man "er ist ein Gefallener",
woraus "er ist gefallen" wurde. Hochdeutsch sind die süd- und
mitteldeutschen Dialekte, die die zweite Lautverschiebung
durchgeführt haben. Das Hochdeutsche trifft im Norden an der Benrather
Linie auf das Niederdeutsche. Dazu zählen Dialekte, die die zweite
Lautverschiebung nicht durchgeführt haben, zum Beispiel
Niedersächsisch und Fälisch.

Dieses Zögern ist der Grund, warum im heutigen Perfekt zwei ganz
verschiedene Konstruktionen stecken und einige Verben das
Hilfsverb "sein" verwenden.

In anderen germanischen Sprachen wurde nicht gezögert. Deshalb wird das


Perfekt im Englischen, Schwedischen, Isländischen usw. immer
mit "haben" gebildet:

* Englisch: I have come.


* Schwedisch: Jag har kommit.
* Isländisch: Ég hef komið.

Perfekt mit "haben" oder "sein"


Im Deutschen gilt ein scharfes System, das Ausländern nicht so leicht
zugänglich ist. Man sagt:

* Nach all dem Bier habe ich ziemlich gewankt.


* Ich bin nach Hause gewankt.

Oder:

* Ich habe heute morgen geschwommen/gesegelt.


* Ich bin zum anderen Ufer des Sees geschwommen.
* Ich bin zur Insel gesegelt.

Oder:

* Peter hat für Johanna geschwärmt.


* Die Polizisten sind ausgeschwärmt.

Nur wenn das Verb intransitive, perfektive Bedeutung hat, wird


"sein" als Hilfsverb verwendet. Dies betrifft vor allem Verben der
Bewegung (verba movendi).

"Wanken" und dergleichen bilden also das Perfekt mit "haben", wenn der
Vorgang imperfektiv ist: Man wankt hin und her, ohne daß am Ende ein
Resultat erreicht wird. Der Vorgang ist in allen Phasen derselbe.
"Wanken" ist perfektiv, wenn es die Bewegung zu einem Ziel ist.
Schwimmen ist imperfektiv, wenn man herumschwimmt, aber
perfektiv, wenn man zu einem Ziel schwimmt. Das Schwärmen für einen
anderen endet, wie es begonnen hat (jedenfalls grammatikalisch).
Beim Ausschwärmen ist man zu Beginn an einem Punkt versammelt und
am Ende in der Gegend verteilt.

Aber auch andere Verben bilden das Perfekt mit "sein", wenn die
perfektiv sind:

* Imperfektiv: Die Blume hat geblüht.


* Perfektiv: Petra ist richtig aufgeblüht.

Diese Vorgänge sind perfektiv, wenn man sie als Fortbewegung


benutzt, um ein Ziel zu erreichen. Dann bilden sie das Perfekt mit
"sein".

Zudem muß der Vorgang aber auch intransitiv sein, was die Menge der
Verben erheblich einschränkt. Denn bei transitiven Verben
bildet das Hilfsverb "sein" mit dem Partizip das Passiv. Nicht nur
das, die Partizipien transitiver Verben haben auch als Attribut
passivische Bedeutung:

* Die umschwärmte Frau, der gefällte Baum, das erbaute Haus.

Verben wie "erblicken, erkennen, vergessen, vernichten, einschläfern"


sind perfektiv. Da sie aber transitiv sind, bilden sie das Perfekt
mit "haben". Mit "sein" bilden sie das Passiv.

Verben wie "gehen, reisen, sterben" sind auch perfektiv. Da sie


intransitiv sind, bilden sie das Perfekt mit "sein". Ein Passiv
können sie nicht bilden. Jedenfalls kein Zustandspassiv mit
"sein". Ein Vorgangspassiv mit "werden" können sie mit einem
Augenzwinkern bilden:
* Der Ministerpräsident wurde gegangen.

Verben mit Perfekt mit "sein"

Einheitlich bilden alle Verben der Fortbewegung und räumlichen


Veränderung das Perfekt mit dem Hilfsverb "sein":

* abbiegen: Das Auto ist rechts abgebogen.


* gehen: Er ist in die Schule gegangen.
* laufen: Er ist als erster ins Ziel gelaufen.
* rennen: Sie ist weggerannt.
* rinnen: Das Wasser ist über das Ufer geronnen.
* schreiten: Das Brautpaar ist zum Altar geschritten.
* springen: Sie ist über den Zaun gesprungen. Aber auch: Die Schüssel
ist gesprungen.
* steigen: Er ist auf die Leiter gestiegen. Die Temperaturen sind
deutlich gestiegen.
* weichen: Der Feind ist gewichen.
* gleiten: Er ist übers Eis geglitten.
* fließen: Der Fluß ist ins Tal geflossen.

Zu dieser Gruppe gehört auch "reisen", obwohl es imperfektiv ist: "Er


ist durch ganz Europa gereist."

Einige Verben können eine Bewegung ausdrücken oder auch nicht. In jenem
Fall bilden sie das Perfekt mit "sein":

* schießen: Schorsch hat auf einen Saupreußen geschossen. Der Hackl


Schorsch ist auf dem Schlitten über die Zeillinie geschossen.
Die Vermutungen sind ins Kraut geschossen. Die Rakete ist zum
Himmel geschossen.
* schleichen: Er hat sich von hinten angeschlichen. Er ist durch den
Garten geschlichen.
* schwimmen: Er hat am Morgen eine Stunde lang geschwommen. Er ist
hinüber zum anderen Ufer geschwommen.
* segeln: Er hat in seiner Jugend gesegelt. Er ist zur Insel gesegelt.
* streben: Er hat in der Schule eifrig gestrebt. Er ist zum Gipfel
gestrebt.
* stoßen: Ich habe ihn in den Abgrund gestoßen. Ich bin zu den
anderen gestoßen.
* treten: Ich habe ihn in den Hintern getreten. Ich bin in eine
Pfütze getreten.
* wanken: Nach dem dritten Bier hat er gewankt. Ich bin betrunken
nach Hause gewankt.
* schwärmen: Ute hat für die Beatles geschwärmt. Die Hummeln sind
ausgeschwärmt.

Echte intransitive Perfektiva bilden das Perfekt mit dem Hilfsverb "sein":

* sprießen: Die Blumen sind gesprossen.


* werden: Ich bin krank geworden.
* kommen: Nun ist er ins Haus gekommen.
* schwinden: Die Gewinne sind geschwunden.
* sterben: Er ist gestorben.
* wachsen und erwachsen: Der Baum ist in diesem Sommer stark
gewachsen. Er ist jetzt erwachsen. Er ist seinem Umfeld
entwachsen.
Ebenso machen es Verben, die mit einem Präfix perfektiviert sind. Sie
müssen intransitiv sein.

* ersaufen: Ralf ist im Rhein ersoffen. Aber: Davor hatte er in


jedem Lokal der Düsseldorfer Altstadt ein Alt gesoffen.
* einschlafen, erwachen und aufwachen: Ich bin erst nach Mitternacht
eingeschlafen, aber dann habe ich bis zum Morgen geschlafen.
Ich bin beim ersten Sonnenstrahl erwacht/aufgewacht. Der
Soldat hat die ganze Nacht gewacht.
* gedeihen: Die Sache ist weit gediehen.
* gelingen und mißlingen: Der Plan ist gelungen/mißlungen.
* gerinnen: Die Milch ist geronnen.
* verderben: Die Pornografie hat uns verdorben. Die Milch ist verdorben.
* verlieren: Wir sind verloren. Ich habe meinen Schlüssel verloren.
* erlöschen und verlöschen: Das Licht ist erloschen. Unsere Hoffnung
ist verloschen. Aber: Ich habe das Licht gelöscht.
* erbleichen: Er ist bei ihrem Anblick erblichen (siehe auch unten).

Zu dieser Gruppe gehört auch das Verbum "bleiben". Das Perfekt "ist
geblieben" verwundert einen, da Bleiben ja eine ausgesprochen
nichtperfektive Handlung ist. Historisch ist bleiben jedoch eine
Verkürzung aus "be-leib-en", wobei der Wortstamm "kleben"
bedeutet (daher "kleben bleiben").

Einige Verben treten sowohl als verba movendi als auch als transitive
oder intransitive Verben ohne räumliche Veränderung auf. Hier
bilden sie das Perfekt mit "haben", dort mit "sein":

* ziehen: Die Lok hat den Wagon aufs Abstellgleis gezogen. Er hat an
der Pfeife gezogen. Johannes ist nach Frankfurt gezogen.
* fliegen und auffliegen: Er ist nach Berlin geflogen. Er hat mich in
den Dschungel geflogen. Die Krähen sind zum Himmel
aufgeflogen. Die Verschwörung ist aufgeflogen.
* fahren: Er ist im Zug nach Köln gefahren. Jürgen hat einen
Mercedes gefahren.
* gären: Der Wein hat lange gegoren. Er hat Trauben zu Wein gegoren.
* dringen: Er hat auf schärfere Maßnahmen gedrungen. Der
Einbrecher ist in den Garten eingedrungen. Sein Körper ist
gedrungen.
* treiben: Die Baumstämme sind auf dem Fluß hinabgetrieben. Seine Frau
hat ihn ins Verderben getrieben. Petra und Knut haben es die ganze
Nacht getrieben.

Nicht dazu gehört "ist geboren" (Passiv). "Gebären" ist ein


Transitivum: "Sie hat ein Kind geboren. Das Kind wurde am frühen
Morgen geboren. Er ist in Hamburg geboren." In der Bedeutung
"sich gebärden, sich betragen", zum Beispiel: "er gebärt sich
schlecht," verwendet man heute eher die Ableitung "sich gebärden:
er hat sich schlecht gebärdet."

Das Perfekt unterscheidet stark gebeugte intransitive Perfektiva von


schwachen Transitiva und starken Intransitiva. Hier ist der
Infinitiv gleich, das Partizip des Intransitivums jedoch stark,
das des Transitivums schwach:

* schrecken/erschrecken: Er ist durch den Knall erschrocken. Ich habe


ihn ganz schön erschreckt.
* brechen: Das Eis ist gebrochen. Das Kind hat die ganze Nacht
gebrochen.
* schmelzen: Das Eis ist geschmolzen. Er hat das Eis im Topf geschmelzt.
* bleichen: Die Wäsche ist geblichen. Sie hat die Wäsche gebleicht.

Er ist oder er hat gelegen?

Wür Muttersprachler ist es kein Problem, das richtige Hilfsverb zu


finden. Nur bei drei Verben versagt das Sprachgefühl: Heißt es richtig
"er ist gelegen" oder "er hat gelegen", "er ist gesessen" oder "er hat
gesessen", "er ist gestanden" oder "er hat gestanden"?

Beide Bildungen sind richtig. Und beide sind mundartlich.

In der Zeit, als das Hochdeutsche allein von den Deutschen im Süden,
den Schweizern und Österreichern gesprochen wurde, konnten die
Verben "sitzen, stehen, liegen" perfektiv und imperfektiv gebraucht
werden. Mit der Vorsilbe "ge-" waren sie perfektiv, ohne dagegen
imperfektiv: Hochdeutsch im Süden (weiter unterteilt in
Mitteldeutsch, das vor allem Fränkisch und Obersächsisch ist, und
Oberdeutsch, bestehend aus dem Bairischen und dem
Alemannischen), Niederdeutsch im Norden. So ist es bis heute in
der Mundart. In gehobener gesprochener Sprache und im
Schriftdeutschen ist das Hochdeutsche des Südens aber
mittlerweile die Standardsprache aller Deutschen.

* Ich gesaß mich auf einen Hügel.


* Ich saß auf einem Hügel.

Heute sind sie stets imperfektiv. Die perfektive Bedeutung wird


durch neue Verben ausgedrückt, die es damals noch nicht gab: "ich setze
mich, ich lege mich, ich stelle mich".

Diese Verben sind reflexiv, also transitiv. Damit bilden sie


systematisch das Perfekt mit "haben". Systematisch ja, aber nicht
historisch. Zu Beginn der Neuzeit mußten sich die
Kernhochdeutschen entscheiden, ob sie diese Verben als
grundsätzlich perfektiv oder imperfektiv deuteten. Sie entschieden
sich für perfektiv.

Als später auch die Menschen in Norddeutschland das Hochdeutsche


übernahmen, haben sie diese Entscheidung nicht mehr verstanden, da
die zweigeteilte Konjugation bereits abgeschafft war. Sie
bildeten das Perfekt daher systematisch mit "haben".

So wird das Perfekt dieser Verben auch heute noch im Süden mit "sein",
im Norden mit "haben" gebildet. Keine dieser Bildungen ist richtiger
oder besser als die andere. Es besteht auch keine Not, eine Form zum
Standard für alle Deutschsprecher zu machen.

Dies versuchen gerade Sprachratgeberbücher. Da die Verfasser allesamt


aus dem Norden stammen, wollen sie ihren Lesern natürlich die
norddeutsche Variante als Standard verkaufen. Die Verfasser
haben eine weitere Gemeinsamkeit: Keiner von ihnen besitzt tiefere
Einsichten in Grammatik und Sprachgeschichte.

Sprachwissenschaftlich die einzige gültige Regel ist jedoch: Wer aus dem
Süden kommt, bildet das Perfekt mit "sein", wer aus dem Norden
kommt, mit "haben". Aber auch eine persönliche Präferenz ist in
Ordnung: Wer aus dem Süden kommt, es aber lieber systematisch mag,
sagt "hat gesessen". Wer aus Hamburg stammt und gerne Lederhosen
trägt, sagt "bin gelegen".

Weg zum heutigen Perfekt

Wie alle Menschen aus den katholischen Gefilden Europas haben die
süddeutschen Sprecher das Perfekt zum Vergangenheitstempus der
gesprochenen Sprache gemacht. Vorbild dürfte das Lateinische
gewesen sein. Zudem bietet das Perfekt gewisse Vorteile: Die
Vergangenheit ist zusammengesetzt, während die
Nichtvergangenheit (Präsens) nicht zusammengesetzt ist. Das
bietet einen guten Kontrast. Zudem ist das Perfekt länger als
Präteritum und verschafft dem Sprecher Zeit zu überlegen, was er
als nächstes sagen wird.

Die Menschen in Norddeutschland haben jedoch zunächst das


germanische System beibehalten. Bei ihnen blieb das Präteritum
die Form der Vergangenheit. So ist es auch im Englischen (simple
past) und in den skandinavischen Sprachen. Erst in den letzten
Jahrzehnten kollidierten die beiden Systeme zum erstenmal durch
die Massenkommunikation. Das führte dazu, daß sich das System des
Südens heute als Standard durchgesetzt hat.

Norddeutsche sollten sich davon nicht beirren lassen und das


niederdeutsche Tempussystem pflegen.

Präteritum oder Imperfekt?

Warum gibt es für die einfache Vergangenheit zwei Namen: Imperfekt


und Präteritum?

Das Lateinische erzählt im Perfekt. Wenn erst das eine getan wird,
danach das nächste, dann steht im Lateinischen das Perfekt. Es
schildert die Vollendung von Handlungen. Dagegen verwendet man
das Imperfekt für unvollendete Handlungen:

* Marcus librum legebat, tum Claudia intravit.


* Marcus war gerade dabei, ein Buch zu lesen, da kam Claudia herein.

Das Imperfekt zeigt also Unvollendetes, Andauerndes oder auch den


ständigen Versuch, etwas zu vollbringen imperfectum dē cōnātu.

So bilden die Bezeichnungen "Perfekt" und "Imperfekt" das Lateinische


Tempussystem korrekt ab.

Das deutsche Präteritum ist jedoch kein Imperfekt. Es ist ja das


Tempus für Vergangenes. Was vergangen ist, ist abgeschlossen.
Deshalb hat man für das Germanische die Bezeichnung Präteritum
(wörtlich: Vergangenes) geschaffen.

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